Religionssoziologie: Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen [Reprint 2017 ed.] 9783486787788, 9783486232042

Die Vorstellungen vom Heiligen sind nachprüfbare Daten, anhand derer sich hier die Soziologie mit Religionen befasst.

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German Pages 190 [180] Year 1996

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Α. Allgemeiner Teil
B. Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen
Literaturverzeichnis
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Religionssoziologie: Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen [Reprint 2017 ed.]
 9783486787788, 9783486232042

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Religionssoziologie Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen

Von Universitätsprofessor

Dr. Horst Jürgen Helle

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Helle, Horst Jürgen: Religionssoziologie : Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen / von Horst Jürgen Helle. - München ; Wien : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-23204-5

© 1997 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-23204-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort

Α. ALLGEMEINER TEIL I. Religion und Religionssoziologie 1. Religiöse Überbrückung der Gegensätze des Lebens

IX

1 1 1

a) Das Abstrakte und das Personale

1

b) Das Mögliche und das Wirkliche

2

c) Das Zeitliche und das Ewige

3

d) Gleichheit und Gerechtigkeit

4

e) Der Einzelne und das Allgemeine

5

2. Begriff und Methoden der Religionssoziologie

6

a) Der Begriff Religion

6

b) Der objektivistische Ansatz

7

c) Der marxistische Ansatz d) Der funktionalistische Ansatz

8 8

e) Der verstehende Ansatz

9

Π. Ausgewählte "Klassiker" der Religionssoziologie

11

1. Auguste Comte

11

2. Karl Marx

18

3. Emile Dürkheim

26

4. Georg Simmel

34

5. Max Weber

44

ΠΙ. Thesen zur neueren Religionssoziologie

59

IV. Probleme einer evolutionistischen Religionssoziologie

67

1. Vorbereitung evolutionistischen Denkens durch Spinoza

67

2. Evolution der Vorstellungen vom Heiligen

73

B. ENTWICKLUNG DER VORSTELLUNGEN VOM HEILIGEN L Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres 1. Auf den Spuren der Religion der Jäger

75 75 75

a) Biblische Hinweise auf das Tieropfer

75

b) Die Jägerhypothese

77

VI

Inhaltsverzeichnis

2. Religion in der Vor- und Frühgeschichtsforschung

a) Funde aus der Zeit des Magdalenien b) Exkurs: Alter der Menschheit 3. Das Tieropfer bei rezenten Jägern

4. Spuren der Urreligion in der antik-griechischen Kultur

a) Religiöse Konservierung der Tiertötung b) Vergleich mit anderen Hochkulturen 5. Rituelle Tötung von Menschen

83 84 86

86 88 90

a) Kopfjagd als Übergangskrise b) Das Jungfrauenopfer der griechischen Antike 6. Schamanismus

90 101 103

a) Der Schamane als ritueller Nachfolger des Nahrungstieres b) Schamanismus in der Mythologie c) Schamanismus in der Archäologie d) Ekstase und Enthusiasmus Π. Heiligung von Mutterschaft

103 106 108 111 115

1. Empfängnis als Begegnung mit dem Heiligen

a) Einleitung b) Empfängnisglaube der Trobriander nach Malinowski c) Fruchtbarkeit als Segnung durch die Göttin d) Irreguläre Mutterschaft im patrilinearen Kontext 2. Spuren des Mutterkults in Hochreligionen des Altertums

a) Ägypten: Isis und Osiris b) Sumer: Enki und Uttu c) Akkad: Tiamats tödlicher Konflikt d) Israel: Adam, Eva und die Schlange im Monotheismus

1. Abraham, Sara und der Bund der Beschneidung

a) Fruchtbarkeit und Jungfräulichkeit b) Zur Deutung des Namens 'Sara'

78 80 83

a) Kontinuität und Wandel der Religion der Jäger b) Behandlung des Skeletts beim Opfermahl

ΙΠ. Heiligung männlicher Fruchtbarkeit

78

115

115 117 121 122 124

124 128 133 137 141 141

141 142

Inhaltsverzeichnis 2. Ausbildung des Monotheismus im Volk Israel a) Abraham, seine Familie und sein Gott b) Fruchtbarkeit als Thema der Vorstellung vom Heiligen

IV. Christentum als Ergebnis religiöser Evolution

VII 143 143 146

149

1. Mose, Elija und Jesus als Repräsentanten eines Typus 2. Magische Eingriffe in die Natur a) Mose

149 151 151

b) Elija c) Jesus 3. Kultische Handlungen der Errettung

153 154 157

a) Mose b) Elija

157 159

c) Jesus

160

Literaturverzeichnis

165

VORWORT Weil Soziologen das Handeln als sinnhafte Aktivität verständlich machen sollen, und weil menschliches Tun seinen Sinngehalt und seine Motivation oft auf religiöse Weise erhält, liegt es für sie nahe, Religionssoziologie zu betreiben. Die "Klassiker" der Soziologie, die in den neun Jahrzehnten zwischen 1830 und 1920 das Fach vorbereitet und grundgelegt haben, berücksichtigen das in ihren Schriften, wie hier in Kapitel A II. gezeigt wird. Es ist aber nicht meine Absicht, mit diesem Buch neue Sekundärliteratur zu schaffen. Darum haben die ersten drei Kapitel nur die Aufgabe einer Einführung und einer Zusammenfassung. Mit Kapitel A IV über "Probleme einer evolutionistischen Religionssoziologie" beginnt, was hier vor allem zur Diskussion gestellt werden soll und was vielleicht über schon Bekanntes ein wenig hinausführt. Thema der verbleibenden Kapitel Β I bis Β IV ist, wie die Überschrift über Teil Β des Buches andeutet, die "Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen". Im Unterschied zum Theologen, der sich das Heilige oder das Göttliche unmittelbar zum Gegenstand seiner Bemühungen machen kann, bleibt dem Soziologen vom Selbstverständnis seiner Disziplin als Erfahrungswissenschaft her nur ein Gegenstand, zu dem er in der Wirklichkeit des hier auf Erden gelebten Lebens Daten auffinden kann. Das trifft zu für die Vorstellungen, die Menschen sich zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen von dem Heiligen machen. Dabei wäre es ein ganz sinnloses Mißverständnis, wollte man in dieser Vorgehensweise eine Verleugnung etwaiger göttlicher Wirklichkeiten sehen. Deren Existenz zu beweisen oder zu widerlegen ist sicher nicht Aufgabe der Soziologie und wird gewiß in diesem Buch nicht versucht. Von Leserin und Leser dieser Seiten - mögen sie nun Soziologen oder in anderer Weise an Religion interessiert sein - wird daher die Bereitschaft erbeten, zu unterscheiden zwischen dem (im erfahrungswissenschaftlichen Sinne) Unbeweisbaren, an das Menschen glauben oder dessen Vorhandensein sie bezweifeln können einerseits - denn davon handelt dieses Buch nicht - und andererseits den Vorstellungen, den Gedanken, den Bildern etc. die sterbliche Menschen sich von unsterblichen Personen oder Mächten machen - und die Entwicklung solchen Vorstellens soll hier Thema sein. Ich danke meinen Assistenten und Studenten, die als glaubende, zweifelnde oder ungläubige Frauen und Männer mit bohrenden Fragen zu Vorlesungen und Seminarsitzungen dieses Buch provoziert haben. Ich bitte Leserinnen und Leser um Nachsicht, daß hier mehr eine Methode entworfen wird, wie man Religionen bearbeiten kann, als daß alle wichtigen Weltreligionen auch ihrer Bedeutung gemäß zur Sprache kämen. Weil die Methode eine

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Vorwort

Evolution der Kultur voraussetzt, wird von den religiösen Vorstellungen bei Jägerkulturen ausgegangen. Der Schamanismus erweist sich als wichtiger Übergang zu den frühen Hochkulturen in Ägypten, Sumer, Akkad und Israel. Das Schlußkapitel über das Christentum zeigt die Kontinuität der Vorstellungen vom Heiligen im mosaischen und christlichen Kontext und deutet selbst in den Propheten- und Heilandsgestalten des Mose, des Elija und des Jesus Komponenten an, die schon auf der Stufe des Schamanismus zu erkennen sind. Ich hoffe, an diesem Projekt in Zukunft weiterarbeiten zu können, und bin für jede kritische oder ermutigende Zuschrift dankbar. München. Horst Jürgen Helle

Α. Allgemeiner Teil I. Religion und Religionssoziologie 1. Religiöse Überbrückung der Gegensätze des Lebens Die Gewaltherrschaft im Osten Deutschlands ist vorüber, doch der Kommunismus hat dort eine breite Spur der Entchristlichung zurückgelassen. Bei den Deutschen, die seit 1945 in Freiheit leben durften, sorgen sich die Kirchenleitungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung um eine Austrittstendenz, die sich ganz ohne staatlichen Atheismus eingestellt hat. Zugleich nimmt die Zahl der therapiebedürftigen Wohlstandsbürger kontinuierlich zu, so daß angesichts verbreiteter Ratlosigkeit im Zeitalter hochgradiger Individualisierung die Frage naheliegt, ob nicht Religion in der einen oder anderen Form gerade dringend gebraucht wird. Um für oder gegen die These, Religion werde gebraucht, argumentieren zu können, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was Religion für den modernen Menschen leisten kann. a) Das Abstrakte und das Personale In welchen Zusammenhängen hat Religion im Leben eine Bedeutung und welche Bedeutung kann das sein? Wenn meine Mutter mich als Kind veranlassen wollte, spontane Handlungsabsichten zurückzustellen, um mich oder die Adressaten meines Tuns vor Schaden zu bewahren, dann sagte sie manchmal: Wenn das jeder machen wollte, wo kämen wir da hin! Obwohl ohne Abitur oder Studium aufgewachsen, stand sie den bürgerlichen Wertvorstellungen nahe und hat, ohne es zu ahnen, von mir die Unterwerfung unter den 'Kategorischen Imperativ' Immanuel Kants verlangt. Die abstrakte Forderung dieses bekannten ethischen Postulats besagt ja, jeder solle seinem Handeln die Maxime zugrunde legen, von der er sich wünscht, daß alle anderen sich ebenfalls danach richteten. Das ist zunächst ein Appell an die Vernunft. Wenn ich als Kind in dem Beispiel das von meiner Mutter Erbetene und Geforderte tatsächlich befolgt habe, dann geschah das vorwiegend sicher nicht aus kluger Einsicht, sondern einfach, weil ich meine Mutter nicht traurig machen wollte. Was in der Beziehung zwischen Mutter und Kind im günstigen Fall geschieht, ist das Aufladen vernunftgesteuerter Handlungsanweisungen mit positiven Emotionen, und genau das kann auch religiös geleistet werden. Religionen bieten ihren Anhängern die Möglichkeit liebevoller, haßerfiillter, schwärmerischer oder furchtsamer Dialoge mit Göttern, Geistern und

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Dämonen. Man kann eine der Leistungen von Religion daher in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Balance zwischen sachbezogen analytischem Denken einerseits und personenbezogen emotionalem Empfinden andererseits sehen. Dazu gehört, wie an dem Mutter-Kind-Beispiel gezeigt werden sollte, die Transformation von abstrakt-vernünftigen, d.h. intellektuell-einsehbaren Prinzipien in die erlebte Wirklichkeit personaler Nähe oder Ferne. Diese Wirkung von Religion ist wichtig; denn sonst wäre sozial wertvolles Verhalten in den Industrienationen westlich-moderner Kulturen nur noch eine Frage des Intelligenzquotienten, und der Unwillige könnte sich verweigern mit dem Argument: Das sehe ich gar nicht ein! Umgekehrt gibt es freilich Beispiele fur rein emotional gesteuertes Agieren unter Berufung auf göttlichen Willen, dem reflektierende Distanz und nüchterne Abwägung langfristiger Handlungsfolgen als Ergänzung guttun würde. Die Konfrontation zwischen Plausibilität aufgrund von Vernunft und personaler Plausibilitüt aus Zuneigung, ist eine der Widersprüchlichkeiten, die das Menschsein kennzeichnen, und für deren Überbrückung Religion bedeutsam sein kann. b) Das Mögliche und das Wirkliche Eine zweite Leistung von Religion kann man in ihrem Beitrag zur Bewältigung der Widersprüche zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen sehen. Jeder, der sein Handeln auch nur ein wenig reflektiert und sich von der erfahrbaren Tatsächlichkeit seiner eigenen Existenz distanzieren kann, spürt immer wieder, daß das, was sie oder er im Lebensalltag verwirklicht, hinter dem zurückbleibt, was möglich wäre. Wenn wir erwartungsvoll sind, und dazu neigen, hohe Ansprüche an unsere Mitmenschen und an uns selbst zu stellen, haben wir ein hohes, hehres Bild von dem Möglichen. Das mag man auch das Ideal, oder die Ideale einer Person nennen. Aber uns begegnet im Leben immer wieder der typische Versuch, das Ideal herunter zu nivellieren auf das Empirische, auf das Verwirklichte, und zu fragen: Wo findet man denn das, was hier als möglich unterstellt wird? Das gibt es doch gar nicht, kein Mensch verwirklicht das, also vergiß es: das sind Illusionen! Ständig stehen wir unter dem Druck, daß gut meinende Zeitgenossen uns dadurch behilflich sein möchten, daß sie uns unsere Ideale zu Illusionen umdefinieren. Durch diese freundliche Hilfsbereitschaft wird etwas, von dem wir meinten, es sei wertvoll und wegweisend, zu etwas, von dem man dann zugestehen muß, daß es irrig und abwegig, weil realitätsfern, ist. Die zweite hier aufgezählte Leistung von Religion besteht darin, daß sie diesen Widerspruch, zwischen dem, was wir fur möglich und dem, was wir für wirklich halten, lösen hilft. Bei Gott ist alles möglich, sagt der Fromme. Oder, das Prinzip des Göttlichen besteht gerade

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darin, daß Mögliches und Wirkliches zusammenfallen, daß es daher den Konflikt nicht mehr gibt: Die vom Glauben gestützte Hoffnung hilft, das Warten auf die Verwirklichung des Möglichen auszuhalten. Und der religiöse Mensch gewinnt Kraft daraus, daß er in der von ihm verehrten oder geliebten Person die Aufhebung dieses Widerspruchs erlebt. c) Das Zeitliche und das Ewige Parallel zur fortschreitenden Individualisierung des modernen Menschen in westlichen Industriegesellschaften hat sich - besonders bei jungen Erwachsenen - eine deutliche Verkürzung der Zeitperspektive ergeben. Immer mehr Personen rechnen damit, daß die Menschen sich zunehmend voneinander isolieren werden. Eine so qualifizierte Zukunft ist ambivalent; sie macht vielen Angst; denn je länger der Zeitabschnitt, innerhalb dessen sich der einzelne orientiert, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß sie oder er eine soziale Bindung, die jetzt noch stützend da ist, verlieren wird. Bei rasanter Dynamik im sozialen Umfeld liegt die Chance einer relativen Enttäuschungsfestigkeit nur in einer möglichst kurzfristigen Perspektive. So hat das späte zwanzigste Jahrhundert die Zukunft disqualifiziert; das dritte Jahrtausend wird mit Zukunftslosigkeit beginnen. Gemessen an den religiösen Traditionen aller Kulturen, die ihre Gläubigen lehren, unvorstellbar lange Zeiten in Vergangenheit und Zukunft mit religiösem Sinn anzufüllen, ist in der Gegenwart, in der wir leben, die Perspektive, an der wir uns orientieren, außerordentlich kurz. In Sprechstundengesprächen habe ich seit Beginn meiner Tätigkeit als Hochschullehrer die betreffende Studentin oder den betreffenden Studenten vor einer gründlichen Beratung oft gefragt: Was wollen Sie in zehn Jahren erreicht haben? Schildern Sie mir das, bitte, möglichst konkret. Vielleicht kann ich Ihnen dann helfen, einen Weg zu finden, auf dem Sie dieses Ziel realisieren können. - Ich habe tatsächlich zu Beginn nach zehn Jahren gefragt. Dann habe ich, vorsichtiger geworden, nach fünf Jahren gefragt. Neuerdings frage ich, was im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre erreicht werden soll, aber immer häufiger bekomme ich die Antwort: Ich bin schon froh, wenn ich die nächsten sechs Monate überschauen kann! Wir sind dazu geneigt, den Zeithorizont immer mehr zurückzunehmen, ihn immer mehr zusammenschrumpfen zu lassen, wie ein Stück Wollstoff, das einläuft, weil es naß geworden ist. Warum tun wir das? Weil wir den Konflikt zwischen Zeit und Ewigkeit nicht aushalten. Weil wir genau wissen: wenn wir uns diesen Konflikt bewußt machen, tauchen all die Aporien (Ausweglosigkeiten) auf, mit denen wir weder intellektuell noch emotional umzugehen verstehen. Die Tatsache des Sterbenmüssens blenden wir aus: Es wird in vielen Lebenssituationen als grobe Unhöflichkeit, als Taktlosigkeit verstanden, jemandem zu sagen: Du mußt sterben.

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Vielfach kann man sich damit herausreden, der Tod sei so selbstverständlich, daß man darauf nicht besonders hinzuweisen braucht. Das mag als intellektuelles Argument zutreffen, aber die Endlichkeit unseres Lebens ist uns gerade emotional zumeist nicht präsent. Wir versuchen nämlich die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit zu lösen, indem wir den Zeithorizont so kurz wählen, daß sich innerhalb der überschauten Periode nicht viel verändern kann, indem wir ihn so kurz wählen, daß wir insbesondere unseren Tod nicht zu befurchten brauchen. Auch hier übernimmt Religion eine Aufgabe, die sich anders wohl nicht lösen läßt: Religiöse Menschen verehren Personen, die ewig sind. Entweder ist ihr Leben längst abgeschlossen, und wenn man schon gestorben ist, unterliegt man nicht mehr den Unwägbarkeiten der Zeit. Wenn ich also meine eigenen verstorbenen Vorfahren verehre, habe ich in ihnen etwas Ewiges vor mir. Oder die Verehrung gilt einer göttlichen Person, und es ist das Merkmal jeder Gottheit, ewig zu sein. So wird in der göttlichen wie in der heiligen Person der Konflikt zwischen zeitlich und ewig aufgehoben. d) Gleichheit und Gerechtigkeit Gleichheit und Gerechtigkeit sind in erster Linie politische Begriffe. Auf dem Höhepunkt der Universitätsreform der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gab es in Deutschland Universitätslehrer, die allen, die überhaupt an einer Lehrveranstaltung teilgenommen hatten, die gleiche gute Note gaben. Das traf bei einigen Studierenden damals auf lebhaften Beifall, weil so alle gleich behandelt wurden. Aber es gab unter ihnen einige, die hart gearbeitet und viel Kraft investiert hatten, und andere, die nur am Rande des Lehrbetriebs mitliefen und die fleißigeren Kommilitonen aushorchten oder sich sogar direkt von ihnen helfen ließen. So breitete sich nach und nach doch wieder das Empfinden aus, daß die Benotungspraxis der progressiven Hochschullehrer zwar Gleichheit, aber auch Ungerechtigkeit herbeiführte. Und diese Antinomie, dieser Widerspruch zwischen gleich und gerecht durchzieht das Menschsein. Ralf Dahrendorf hat den Satz formuliert: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, nach dem Gesetz aber nicht mehr. Mit dieser witzigen Formel hat er den Widerspruch zwischen gleich und gerecht andeuten wollen; denn wenn die Polizei, das Gericht, das Gesetz alle permanent gleich behandelten, führte das zu unerträglicher Ungerechtigkeit. Diese alltagspraktisch leicht einsehbare Problematik fuhrt im Kontext der Religion zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, der Theodizee: Wie kann eine Gottheit, von der ich mir vorstellen muß, daß sie gütig, allmächtig, allwissend und gerecht ist, zulassen, daß das Geschick der Menschen so extrem unterschiedlich verläuft? Wie kann diese Gottheit zulassen, daß es dem einen unverdient gut geht und dem anderen - wie es scheint - unverdient weit schlech-

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ter? Entweder ist die Gottheit zu schwach, etwas an den offenkundigen Mißständen zu ändern: dann ist sie nicht allmächtig. Oder Gott liebt diesen oder jenen einzelnen - oder sogar ganze Völker - nicht, dann wäre er ein höchst problematischer Gott. Oder er weiß gar nicht von all dem Unheil, das auf dieser Welt geschieht, dann ist er allerdings nicht allwissend. Das Problem der Theodizee stellt sich demnach als unlösbar dar: Wie können die gewünschten Qualitäten der Gottheit - Güte, Allmacht, etc. - miteinander kombiniert und der ewigen göttlichen Person zugeschrieben werden, und wie kann zugleich eine vernünftige Erklärung fur das Unfaßbare gefunden werden, das im Lebensalltag passiert? Irgendwo auf der Welt geschieht immer Unerträgliches. Aber selbst wenn von den schlimmsten Beispielen der Grausamkeit abgesehen wird, stets stellt sich überall die Frage nach dem Sinn der Ungleichheit, und gerade die Soziologie ist im Umkreis der Frage nach sozialer Gleichheit entstanden. Religiöse Konzepte haben eine Milderung des Widerspruchs herbeiführen können, weil durch sie den Gläubigen nahegelegt wurde, sich zu sagen: denen es jetzt schlecht geht, wird es später gut gehen; oder: das erfahrene Leid ist eine gerechte Strafe; oder: Leid schafft eine besondere Nähe zu der ebenfalls leidgeprüften Gottheit und läßt den Leidenden reifen etc. Die jeweilige Abfederung des Widerspruchs hängt von der Theodizee ab, die flir die betreffende Religion charakteristisch ist. Max Weber hat sich mit dem Theodizee-Problem auseinandergesetzt (Weber, 1920, Bd.I: 571f ): Wieso ist Gott gerecht, wenn er die Menschen

doch so ungleich leben läßt? e) Der Einzelne und das Allgemeine Wir Menschen möchten als Personen unvergleichlich sein. Jeder von uns will diesen Anspruch an die Wirklichkeit menschlichen Lebens erheben dürfen: niemand ist so wie ich, niemand kann so sein wie ich, und weil ich das denken darf, kann ich mich als unersetzlich, als einzig fühlen! So schön das ist, und so sehr es in der Gegenwart westlicher Wohlstandsnationen auch möglich ist, so zu leben: wir möchten andererseits nicht, daß man hinter unserem Rücken von uns sagt: merkwürdiger Mensch, völlig anders als alle anderen, Einzelgänger, irgendwie doch recht versponnen! Das Einzigartigsein kann soweit gehen, daß wir uns isoliert fühlen, und daß wir fürchten, das Eingebundensein in die allgemeine Menschlichkeit vermissen zu müssen. Das wollen wir jedoch in aller Regel nicht. Viele nicht-religiöse Veranstaltungen vermitteln den Teilnehmern die Empfindung des Eingebundenseins in das menschlich Allgemeine: Das gilt für das Gefühl des "so sind wir nun mal alle", das sich im bayerischen Biergarten ganz zuverlässig ergibt. Menschen erleben dort das Bewußtsein des Allgemeinen als Gemeinsamkeit und Wohlgefühl, das vor allem natürlich auf dem emotionalen Kanal als Nähe zu jedermann so erfahren wird: Wir wollen trotz

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unseres unverwechselbaren Andersseins, daß die Schranken fallen, die durch Ausländerstatus oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion entstanden sein könnten. Das leistet mit oder ohne Biergarten eine Religion mit universalistischem Anspruch, also ein Glaube an eine Gottheit, die z.B. als Vater aller Menschen vorgestellt wird. Bezogen auf den einen Vater dürfen sich dann alle Menschen, gleich wer sie konkret sind, untereinander als "Geschwister" verstehen. Wie in den vier anderen Fällen handelt es sich auch hier um eine religiöse Überbrückung von Gegensätzen des Lebens: Primär leiden wir an dem Widerspruch zwischen unserer Hoffnung, einzigartig zu sein und unserem Bedürfnis nach Einbindung. Unsere Individualität möchten wir entwickeln dürfen und doch möchten wir etwas teilen können mit allen anderen Menschen. Auch zu diesem Widerspruch, auch zu dieser Problemerfahrung bieten Religionen Lösungen. Was ich hier zunächst vorgelegt habe, ist der Versuch, Problemfelder zu zeigen, auf denen die unterschiedlichen Religionen Antworten geben. Man kann die Prognose wagen, daß die Menschheit ohne Religion nicht auskommen wird. Religionen werden sich wandeln. Es gibt unterschiedliche Arten von Religionen zu unterschiedlichen Zeiten, aber daß der in sich so vielfältige Gegenstandsbereich, den die Religionssoziologie bearbeitet, irgendwann völlig verschwindet, ist nicht gut vorstellbar.

2. Begriff und Methoden der Religionssoziologie a) Der Begriff Religion Was Religion für den Soziologen sei, kann erst im Laufe dieser Arbeit geklärt werden. Hier folgen nur einige einfuhrende Hinweise über den Begriff Religion und über die Vielfalt der Methoden, die man von Religionssoziologen angewendet findet. Cicero hat das lateinische Wort relegere, sorgsam beachten, in seiner Schrift Vom Wesen der Götter, De natura deorum, speziell auf die sorgsame Beachtung all dessen bezogen, was zum Kult der Götter gehörte. Religion ist das dazugehörige Substantiv. Spätere Autoren leiten das Wort von einem anderen Verbum ab, von religare, binden, wieder verbinden, in der naheliegenden Bedeutung, daß der Mensch sich durch seine Religion mit den Göttern verbindet oder, falls das nötig sein sollte, nach Verlust der Beziehung zum Jenseits, solche Bindung wiederherstellt, sich also wieder mit Gott oder den Göttern verbindet. Mit Hinweisen auf Ursprünge des Begriffs Religion, ist aber über die Aufgaben der Religionssoziologie noch wenig ausgesagt.

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Georg Simmel unterscheidet "partikularistische Religionen" (Simmel 1989: 163) mit gruppenspezifischen Gottheiten von religiösem Universalismus, zu dem "die Gottheit alles Daseins" (ebd.: 161) gehört. Die weltumgreifende Religion identifiziert er mit dem Christentum: "Sein Gott ist nicht nur der Gott seiner Gläubigen, sondern des Seins überhaupt" (ebd: 162). Simmel denkt evolutionistisch und schreibt über den weltweiten Einheitsgott: "Diesen Gott der höchsten religiösen Stufe präformieren die Götter, die uns als Repräsentanten der Gruppenkräfte begegnen" (ebd.: 160). b) Der objektivistische Ansatz Je nach der Methode, die ein Religionssoziologe bevorzugt, variieren seine Vorstellungen von dem, was sein Gegenstand ist: Aus der Perspektive eines objektivistischen Ansatzes ist Religion das, was sich dinglich materiell vorfinden läßt. Man kann in einem Land die Zahl und die Größe der Tempel, Pagoden, Synagogen oder Kirchen zählen, man kann die Zahl der Personen ermitteln, die diese Bauwerke aufsuchen, man kann feststellen, mit welcher Häufigkeit und auch in welcher Kleidung sie das tun, ob nur Männer teilnehmen oder auch Frauen, ob Kinder zugelassen sind, ob das religiöse Geschehen hinter verschlossenen Türen oder öffentlich stattfindet, wie man das Mitglied der Gemeinde vom Außenseiter unterscheiden kann, u.s.w. Alle auf solche Weise gewonnenen Fakten sind wichtig und für religionssoziologische Forschung unentbehrlich, und doch bergen sie ein ungelöstes Problem in sich. Was nämlich Religion inhaltlich ist, bleibt ungeklärt, und so können keine Antworten auf die folgenden Fragen gegeben werden: Das Freitagsgebet in einem islamischen Gotteshaus mag den nicht teilnehmenden Betrachter eher durch seine politische als durch seine religiöse Qualität beeindrucken. Wie läßt sich beides gegeneinander abgrenzen? Oder, bis zu welchem Punkt der Überlegung war ein bestimmter Kreuzzug eine religiöse Unternehmung, und wann wurde daraus eine militärische Expedition? Oder, wenn in Deutschland die Männer, die in einer Freimaurerloge zusammengeschlossen sind und einander als Brüder anreden, hinter verschlossenen Türen ihr maurerisches Ritual vollziehen, geschieht dann Religion? Die Antwort auf solche Frage wird noch dadurch erschwert, daß in Deutschland - im Unterschied zu anderen Ländern - nur Logen existieren, die eine höchste Gottheit anerkennen. Man kann also hier Freimaurer nur werden, wenn man zugleich Christ, Moslem oder Jude ist. Wenn aber das, was in der Loge geschieht, nicht Religion ist, warum ist es das dann nicht, und was ist es statt dessen? Den Gegenstand der Religionssoziologie nur an seiner Fassade erkennen zu wollen, wäre also ungenügend. Ein wenig auch hinter die Kulissen der 'Bühne' eines Altarraums oder eines Sakralbaus nicht-christlicher Obödienz zu schauen, ist darum erforderlich.

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c) Der marxistische Ansatz In der marxistischen Religionssoziologie wird Religion zur Verschleierung der Wirklichkeit als Produkt eines falschen Bewußtseins. Die Inhalte ernst zu nehmen, ist schon darum überflüssig, weil es sie ja nur als Ausdruck einer verkehrten Welt gibt. So sehr das Programm des Positivismus August Comtes den politischen Intentionen von Marx entgegensteht, in der Einschätzung von Religion als einer überholten Denkform, die keine Zukunft haben kann, stimmen beide Männer und manche Vertreter der von ihnen begründeten Richtungen (positivistische bzw. marxistische Soziologie) überein. Die Tatsache, daß irgendwo eine Religion Zustimmung findet, ist für Marx ein Symptom, das auf das Vorhandensein einer Krankheit der Gesellschaft hinweist, das aber nicht selbst die Ursache der Krankheit ist. Das bedeutet für ihn wie für die marxistische Religionssoziologie im Kern dies: Religion bewirkt nichts, sie kann den Menschen nicht motivieren, sie macht ihn nur beschränkt, borniert, passiv und insbesondere unfähig zur kritischen Aktivität. Daher ist Religion auch nicht Bedingung für das Gelingen oder Scheitern der Emanzipation. Ihr Vorhandensein weist schlicht auf Mißstände hin, die ganz andere, von der Religion unabhängige Gründe haben. Das wird im nächsten Kapitel ausfuhrlicher dargestellt. d) Der funktionalistische Ansatz Die Religionssoziologen, die einem funktionalistischen Ansatz nahestehen, fragen, was Religion denn in der Gesellschaft bewirkt, welche Aufgaben im Dienste des Ganzen sie kontinuierlich wahrnimmt. In den religionssoziologischen Arbeiten von Emile Dürkheim, Talcott Parsons (Parsons, 1966) und Thomas Luckmann (Luckmann, 1991) begegnet der Leser der funktionalistischen Fragerichtung. Sie hat den großen Vorteil, daß sie die Makroperspektive ins Zentrum rückt, also ausdrücklich die Gesellschaft als Adressatin religiöser Wirkungen untersucht. Sie bringt aber ähnliche Schwächen mit sich wie der objektivistische Ansatz, von dem schon die Rede war. Der Gegenstand kann auch hier nicht von seinem eigenen inneren Wesen her untersucht werden. Der Funktionalismus gelangt zu Einsichten wie dieser: Keine Gesellschaft ohne Religion. Staatskommunismus und Nationalsozialismus treten in dieser Sicht als funktionale Äquivalente von echter Religion auf, und man hilft sich aus dieser Verlegenheit mit Begriffen wie Sozialreligion oder Ersatzreligion. Der objektivistische Ansatz, also z.B. das Zählen der Kirchenbesucher, auch 'Kirchensoziologie' genannt, und funktionalistischer Ansatz, also z.B. die Frage nach der Bedeutung einer Religion für die Stützung einer bestimmten Regierung, leiden beide darunter, daß sie von den dogmatischen Inhalten der untersuchten Religion absehen. Nur so kann Dürkheim die

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Elementarformen des religiösen Lebens untersuchen, weil er hofft, Bewußtseins- und Handlungsstrukturen herausarbeiten zu können, die allen Religionen aller Zeiten und Kulturen gemeinsam sind. Was dabei jeweils inhaltlich geglaubt, also für unbezweifelbar wahr gehalten wird, erscheint nahezu beliebig austauschbar. Diese Position galt in der Tradition der Aufklärung auch außerhalb der Religionssoziologie bei gebildeten Bürgern generell als fortschrittlich, weil sie der Haltung entsprach, nach der ein progressiver Mensch ein wenig herablassend auf den Frommen niederschaute und zugleich großzügig die Meinung vertrat, jeder möge nach seiner Fa?on selig werden, wie Friedrich der Große das von seinen katholischen Gardisten gesagt hat.

e) Der verstehende Ansatz Als vierter Weg zum Gegenstand der Religionssoziologie bietet sich der verstehende Ansatz in der Tradition Georg Simmeis und Max Webers an. Für Simmel steht fest, daß die Ebene des persönlichen Erlebens, die Simmel Religiosität nennt, zum Religiösen notwendig hinzugehört. Nicht die Religion schafft "die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion" (Simmel, 1989: 120). Das bedeutet, daß man von dem Deutungsprozeß nicht absehen darf, den der Einzelne aufgrund seiner emotionalen Befindlichkeit vornimmt. Immerhin geht es in den meisten Religionen um personale Beziehungen zu jenseitigen Personen, im Christentum sind es wegen des trinitarischen Gottes potentiell drei, und es wäre abwegig, personale Beziehungen nicht auch unter dem Gesichtspunkt ihrer emotionalen Komponenten zu erforschen. Dem Gläubigen begegnen in seinem jeweiligen Jenseits Väter, Mütter, Vorfahren, bewunderte Vorbilder, verehrte Angehörige des anderen Geschlechts. Solche 'transzendenten Sozialbeziehungen' haben für den Gläubigen entweder den Charakter unverbrüchlicher Realität aufgrund seiner Religiosität, oder sie existieren für ihn nur als irrige Vorstellungen, die man leider im Denken anderer Menschen antreffen kann, aber eben nur dort. Im ersten Fall sind sie für Simmel tatsächlich Religion, und zwar aufgrund der Religiosität, die sie zur Religion macht; im zweiten Fall sind sie vom Standpunkt des Betrachters aus gesehen gerade nicht Religion, sondern nichts als die Ideologie anderer Leute. Im Rückblick liegt es nahe, die religionssoziologische Fragestellung eng an die personalen Beziehungen zu jenseitigen Personen, also zu Göttern, Heiligen, Dämonen und Seelen Verstorbener, anzulehnen. Die Unterscheidung zwischen objektivistischem, marxistischem, funktionalistischem und verstehendem Ansatz dient der Orientierung bei der Lektüre religionssoziologischer Fachliteratur. Diese Einteilung ist - im Sinne der Methode Max Webers idealtypisch. Daher darf nicht erwartet werden, daß die Hauptvertreter des Faches konse-

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quent nur mit der einen oder der anderen Methode gearbeitet haben. Wie wir sehen werden, liegen die Vorgehensweisen von Comte, Marx, Dürkheim, Simmel und Weber weitgehend "quer" zu dieser Einteilung.

Ausgewählte "Klassiker" der Religionssoziologie

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II. Ausgewählte "Klassiker" der Religionssoziologie 1. Auguste Comte Auguste Comte greift die alte Idee auf, nach der es sinnvoll sei, den Ablauf der Geschichte in drei verschiedene Stadien zu unterteilen. Was sich innerhalb der drei Perioden verändert, ist für Comte das Denken des Menschen. Er glaubt, es sei in der ältesten Epoche menschlicher Kultur theologisch orientiert gewesen, wandele sich dann in einer mittleren Phase zum metaphysischen Denken und werde endlich in das Stadium des positiven Denkens übergehen. Die Zeit theologischen Denkens sei so vielfältig gewesen, daß Comte es für richtig hält, sie nochmals in drei Unter-Stadien zu teilen: den Fetischismus, den Polytheismus und schließlich den Monotheismus, der zugleich Reife und Untergang der Religion signalisiert. Für unsere evolutionstheoretisch konzipierte Religionssoziologie ist es bemerkenswert, daß Comte in der Entwicklung dieser drei Unterstadien auseinander sowohl den Reifungsprozeß als auch den Tod der Religion abliest: Fetischismus wird zu Polytheismus, der wird zu Monotheismus, und der bringt mit sich seine eigene Überwindung und damit den Untergang der Religion. Die Gedanken, die hier ausgewählt und kommentiert wurden, hat Auguste Comte in der Zeit zwischen 1830 und 1842 in den sechs Bänden seines "Cours de philosophie positive" (Comte, 1974 [1830-1842]) veröffentlicht. Zunächst will Comte seinem Leser vor Augen fuhren, was er mit Fetischismus meint. Fetischismus ist die Vorstellung, ein materielles Objekt sei unmittelbar belebt und habe entsprechende Fähigkeiten. Man kann das bei Kindern beobachten oder bei Erwachsenen, die kindische Neigungen nicht ganz haben untergehen lassen: Sie stoßen sich an einem Stuhl und treten in einen zornigen Dialog mit dem tückischen Sitzmöbel ein. Das ist Fetischismus: Man traut dem Ding zu, lebendig zu sein. "Wenn hervorragende Denker das Geheimnis für Vorgänge zu ermitteln suchen, deren Gesetz sie nicht kennen, werden sie sich in das Bestreben finden, die Erzeugung unbekannter Wirkungen nach den Leidenschaften und Gefühlen des betreffenden Gegenstandes aufzufassen, den man sich als lebend vorstellt. Dies ist nichts anderes als das philosophische Prinzip des Fetischglaubens" (Comte, 1974: 176). Wie später Max Weber, so untersuchte schon Comte die Wirkungen eines bestimmten Typus von Religion auf das Handeln des Menschen in verschiedenen Lebensbereichen, auch in dem der Wirtschaft. "Auf Grund der Heiligung der meisten äußeren Dinge verbietet der Fetischglaube gleichsam jeden Einfluß auf die den Menschen umgebende Welt; in diesem Sinne bietet er ein großes Hindernis für die industrielle Entwicklung;..." (Comte, 1974: 183). Dieses Comte-Zitat könnte eine Erläuterung dazu sein, daß viele Entwicklungshilfe-Projekte der

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Gegenwart scheitern. Wenn Flüsse, Bäume, Landschaften, Berge mit religiösen Tabus belegt sind, dann kann man keinen Damm bauen, dann kann man keine Fabrik errichten, dann fehlt vor allem - um das nicht rein materiell zu sehen - die nötige Mentalität als Voraussetzung für die Entstehung von Kapitalismus und Industrialismus. Aber abgesehen von dieser Parallele zur Gegenwart liest sich der Text von Comte wie eine Vorwegnahme der Rationalisierungsthese von Max Weber. Weber hat behauptet, daß die "Entzauberung der Welt" Voraussetzung für die Entstehung der modernen Industrie sei, daß also nicht mehr in dem Baum die Nymphe und in dem Fluß irgend ein Flußgeist lebt, sondern daß die Welt nüchtern und sachlich gesehen nur noch aus Dingen besteht. Das muß im Denken der Menschen erreicht sein, bevor sie sich daran machen, den Lebensstandard aufzubauen, den andere so bewundern. Solange jede Pflanze, jeder Bach und jeder Fels ein Sitz geheimnisvoller Mächte ist, kann dies nicht geschehen und können wirtschaftliche Bedürfnisse religiösen nicht übergeordnet werden. Erst die Entzauberung der diesseitigen Welt und die Verlagerung aller heiligen Dinge ins Jenseits schafft die Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung, die Max Weber mit der protestantischen Ethik (also nicht mit jeder beliebigen christlichen, sondern mit der puritanisch-kalvinistisch-protestantischen Ethik) in Verbindung bringt. Der extrem negativen Vorstellung Comtes von der Herkunft aller Kultur aus dem Kannibalismus entspricht es, wenn er sich den Menschen der Urkultur als einen Wüstling denkt, der alles um sich her zerstört. Aus der Sicht des Industriezeitalters - jedenfalls vor dem Aufschwung der ökologischen Bewegung - mag der Fetischismus ein irrationales Hemmnis der Entwicklung gewesen sein. Aber aus der Perspektive Comtes, die den Urmenschen als einen Berserker erscheinen läßt, hat derselbe Fetischismus disziplinierend und hemmend gewirkt in einer Weise, die Comte positiv einschätzt. "Das Tun des Menschen in der Welt hat mit dem Verwüsten begonnen; diese starke Neigung bedrohte alle Rassen ohne Unterschied. Die vorzüglichsten organischen Arten namentlich im Tierreiche wären einem unvermeidlichen Untergange geweiht gewesen, wenn die geistige und moralische Entwicklung diesem blinden Eifer nicht einen Zügel angelegt hätte. Dies ist eine der Eigentümlichkeiten des Fetischglaubens. Der Polytheismus hat dann dasselbe auf eine andere Weise getan, indem er verschiedene Wesen unter den Schutz der entsprechenden Gottheiten stellte" (ebd.: 187). Comte interessiert sich besonders lebhaft für die Übergänge von einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Er beendet die Überlegungen zur fetischistischen Form der Religion mit der Bemerkung, daß der Schritt von dort zum Polytheismus ein weit größerer und bedeutenderer gewesen sei, als der Schritt vom Polytheismus zum Monotheismus. "Für die philosophische Erörterung ist diese Umgestaltung eine der wichtigsten, die die Religion jemals erfahren hat.

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Der Übergang des Polytheismus zum Monotheismus ist kein so großer geistiger Sprung. Der Fetischglaube betrachtete die Materie wirklich als lebendig wie ein wahrhaftes Lebewesen; dagegen verurteilte sie der Polytheismus zu einer beinahe unbedingten Trägheit, da er sie als vollständig abhängig von dem beliebigen Willen der göttlichen Persönlichkeiten ansah" (ebd.: 189). Was Comte am Übergang vom Fetischismus zum Polytheismus untersucht, ist die Frage, welche Chance das naturwissenschaftliche Denken jeweils erhält. Der Gedanke fortschreitender Rationalisierung taucht dabei wieder auf. Solange die Materie selbst als belebt und undurchschaubar gedeutet wurde, wie das im Fetischismus der Fall war, mußte im Verhalten materieller Objekte mit spontaner Tücke gerechnet werden. Der Polytheismus stellt für Comte einen bedeutenden Schritt in Richtung auf Berechenbarkeit dar, weil nun die Dinge zwar dem Wollen zahlreicher Gottheiten, aber wenigstens nicht mehr eigener, dem Objekt innewohnender, undurchschaubarer Lebendigkeit unterliegen. So sieht der fortschrittsgläubige Comte die Entzauberung einseitig positiv. "Der Übergang vom Fetischglauben zum Polytheismus bildet den ersten allgemeinen Übergang des Geistes zur Beobachtung und Induktion, der sich zunächst bei den begabteren Menschen und später bei der Menge entwickelt hat" (ebd.). Der Polytheismus stellt dem Fetischismus gegenüber außerdem deshalb einen Fortschritt im Denken des Menschen dar, weil der Glaube an personale Götter, wie Comte meint, die Fähigkeit fördert, von erlebten Einzeltatsachen zu abstrahieren und größere Zusammenhänge zu sehen. Als Fetisch wird stets die magische Kraft eines konkreten Gegenstandes erhofft oder gefurchtet, ein Gott oder eine Göttin des polytheistischen Jenseits dagegen hat einen vergleichsweise weiten Zuständigkeitsbereich, in dem sich immer wieder bei den unterschiedlichsten Anlässen und zu weit auseinanderliegenden Terminen das machtvolle Wirken dieser einen Gottheit manifestiert. Jeder Kulturwandel bringt Schwierigkeiten mit sich, zumal wenn es sich um so einen entscheidenden Schritt der Veränderung im Denken handelt, wie im Übergang vom Fetischismus zu Polytheismus. Darum überlegt Comte, welche Verhältnisse den eher unwahrscheinlichen Wandel erleichtert und ermöglicht haben könnten. Er verweist dazu auf die Himmelskörper, vor allem die Sonne und den Mond, die schon als Fetische durch die große Distanz zur Alltagserfahrung nahezu göttliche Qualitäten haben konnten. "Der Unterschied zwischen dem Begriff eines Fetischs und eines Gottes mußte bei einem Gestirn geringer sein; so konnte die Gestirnanbetung als Vermittlerin zwischen dem Fetischglauben und dem Polythe

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ismus auftreten. Mit anderen Worten: Die Verehrung der Gestirne war der einzige Zweig des Fetischdienstes, der sich dem Polytheismus ohne tiefe Veränderung einfügen konnte" (ebd.: 192). So sehr die Überwindung der Stufe des Fetischismus als Fortschritt gefeiert werden muß, so eindeutig stellt sie bei Comte zugleich auch eine Minderung menschlicher Religiosität überhaupt dar. Beim Übergang zum Polytheismus handelt es sich also nicht etwa nur um eine Veränderung der Qualität des religiösen Denkens, sondern darüber hinaus auch um eine unwiderrufliche Minderung seiner Intensität und Relevanz. "Der Fetischglaube gilt in geistiger Beziehung als die umfassendste Verschmelzung des religiösen Geistes in das menschliche Denken; daher stellt seine Umgestaltung in den Polytheismus die erste Abnahme jenes Geistes dar" (ebd.: 194). So klar Comte als Prophet des Positivismus die Überwindung des theologischen Denkens in allen seinen Formen voraussagt, so eindeutig erkennt er doch auch dem religiösen Bewußtsein jene dynamischen Kräfte zu, aus denen der Fortschritt seine Energie erhält. Damit antizipiert er Max Weber, der genau auf diesem Gedanken seine Religionssoziologie aufbaut. Denkt man das zu Ende, so müßte mit der Überwindung der Religion in jeder Form auch der Antrieb zum Wandel verlorengehen. Jedenfalls ist es nach Comtes Meinung der Entfaltung spekulativen Denkens zu danken, daß der Mensch sich Götter gestaltete, von denen er sich aus der Niedrigkeit des Fetischismus herausgehoben fühlen konnte. Die polytheistische Religion schafft für den im Krieg besiegten Gläubigen die politischen Voraussetzungen für die Einordnung in die Gesellschaft derer, die sein Volk unterworfen haben: "Wenn der Polytheismus den Geist der Eroberung anregte, so sicherte er auch dessen soziale Bestimmung, indem er die Einfügung der besiegten Nationen erleichterte, denn diese konnten sich der starken Nation anschließen, ohne ihrem Glauben und ihren religiösen Gebräuchen, die ihnen teuer waren, zu entsagen, sofern sie nur die Oberhoheit der siegenden Götter anerkannten" (ebd.: 207). Das genau war das Problem der Israeliten, von denen Comte jedoch in diesem Zusammenhang nicht schreibt. Sie waren als monotheistisches Volk nicht in der Lage, sich in die Gesellschaft zu integrieren, von deren Militär sie besiegt und versklavt worden waren. Für die Geschichte der polytheistischen Großreiche, z.B. Ägypten, dürfte aber die Beobachtung Comtes zutreffend sein: Der Polytheismus erleichterte die politische Eingemeindung unterworfener Völker. Die Implikationen der Sklaverei sind neben wirtschaftlichen auch moralische. Comte zeigt, wie eng diese Ebenen ineinander verschlungen sind. Er schreibt über die Institution der Sklaverei: "Eine solche Einrichtung war für die Führung des Krieges unentbehrlich; dieser wäre im gleichen Grade unmöglich gewesen, wenn die friedlichen Arbeiten nicht hätten

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Sklaven anvertraut werden können. So diente die Sklaverei, das erste Ergebnis des Krieges, zu dessen Erhaltung, indem sie den Besiegten, trotz der ursprünglichen Abneigung, zur industriellen Tätigkeit führte" (ebd.: 208). In der Tatsache, daß Sklaverei in einer Gesellschaft besteht, sieht Comte einen schwerwiegenden Defekt der Moral, der durch nichts anderes ausgeglichen werden kann. Zu Beginn seiner Überlegungen zur Stufe des Monotheismus untersucht Comte die Bedingungen des Übergangs vom Polytheismus zum Monotheismus. Er meint, daß sich im Denken der Menschen, das ja der Ort ist, an dem sich in Comtes Darstellung empirisch die Evolution tatsächlich vollzieht, die Vorstellung von einem einheitlichen Schicksal oder Weltgesetz durchsetzte, dem alle Götter trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsam unterworfen waren. Aus diesem alles Geschehen umgreifenden und bestimmenden Gesetz sei allmählich, so meine Comte, der Glaube an eine einzige Gottheit entstanden. "Das polytheistische Dogma vom Schicksal konnte diesen Übergang erleichtern. Das Schicksal galt als der Gott der Unveränderlichkeit; sein Bereich mußte stetig auf Kosten der anderen Gottheiten in dem Maße anwachsen, als die Erfahrung die stete Dauer der natürlichen Verhältnisse entschleierte. Die Vorsehung der Monotheisten ist nichts anderes als das Schicksal der Polytheisten, das nach und nach die Eigenschaften der anderen Gottheiten geerbt hatte" (ebd.: 227). Comte sieht also einen Entwicklungsprozeß vor Augen, in dessen Verlauf die vielfältigen Merkmale der zahlreichen Götter des Polytheismus ihrer personalen Qualitäten entkleidet und zu Bestandteilen des unerbittlichen Fatums oder Schicksals werden. Dieser Trend ist bis in die Neuzeit hinein gut nachvollziehbar: Im Deismus zieht sich der Schöpfergott aus dem Weltgeschehen zurück, nachdem er es in Gang gesetzt und in seinen gesetzmäßigen Abläufen determiniert hat, und im atheistisch naturwissenschaftlichen Weltbild bleiben allein die Naturgesetze übrig, hinter denen keine personale Macht mehr steht. Comte verlegt diesen Prozeß der Entpersönlichung, der ihm aus dem Übergang vom Monotheismus zum Atheismus gut vertraut ist, nach vorn in jenen Übergang hinein, aus dem der Monotheismus hervorgegangen ist. Genau nach dem Entwicklungsmuster, nach dem der einzig verbliebene Gott schließlich verschwindet, sind schon am Ende des Polytheismus die vielen konkurrierenden Götter untergegangen. "Die ganze Umgestaltung bestand nur darin, daß die Menge der Gottheiten zum Gehorsam und zur Moral gezwungen wurde, indem man sie dem Übergewicht einer einzigen Gottheit unterordnete. In diesem Sinne verstehen die Massen den Monotheismus, und so hat sich offenbar der Übergang gemäß dem Dogma vom Schicksal vollzogen, das allmählich unter dem Einfluß des metaphysischen Geistes in eine Vorsehung umgestaltet wurde" (ebd.: 227f ).

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Als die wichtigste historische Verwirklichung der Prinzipien, durch die Comte die Stufe des Monotheismus charakterisiert sieht, stellt er seinen Lesern den Katholizismus vor. Dabei wird eine kaum verdeckte Bewunderung Comtes für die organisatorischen und moralischen Merkmale der Kirche von Rom deutlich. Er weist darauf hin, daß diese Religionsgemeinschaft nach seiner Meinung von einer Hierarchie geleitet werde, die sich zur Legitimierung ihrer Autorität "auf geistige und moralische Verdienste" (ebd.: 236) stützen könne. Sie sei dadurch politischen Hierarchien überlegen, die dagegen darauf angewiesen sind, sich auf Geburt, Vermögen oder Kriegstüchtigkeit zu berufen (ebd.). Comte fragt nach den geistigen Quellen, aus denen der Katholizismus bei seiner Entstehung schöpfen konnte. "Der Katholizismus knüpfte auf der einen Seite an die Römerherrschaft an, auf der anderen Seite an die griechische Philosophie und durch den Judaismus an die ältesten Theokratien. Seit seinem Entstehen hat er stetig an den wichtigsten Angelegenheiten der Menschen teilgenommen. Die Geschichte dieser Kirche bildet daher eine Art Geschichte der Menschheit vom sozialen Standpunkt aus" (ebd.: 237f.). Comtes Zustimmung zum Katholizismus bezieht sich auf die organisatorische Kraft und die Rationalität des institutionellen Instrumentariums, nicht jedoch auf den dogmatischen Gehalt der Lehre. Die Geschichte der katholischen Kirche ist für ihn Sozialgeschichte der Menschheit. Mit dieser Sicht wird sie von ihm sowohl über- als auch unterschätzt. Comte überschätzt die Kirche, indem er ihre Geschichte mit der Geschichte der ganzen Menschheit parallelisiert, er unterschätzt sie, indem er ihre religiöse Lehre nur als besonders wirksame Form des Monotheismus einordnet, alle weiteren Besonderheiten jedoch ignoriert. Wenn Comte z.B. der Ehelosigkeit des katholischen Priesters zustimmt, geschieht das ausschließlich unter sozialen und pragmatischen Gesichtspunkten. "Ohne das Zölibat hätte die katholische Hierarchie weder die soziale Unabhängigkeit noch die Freiheit des Geistes gewinnen können, die ihre Mission brauchte. Das Streben nach Erblichkeit aller Ämter hätte unzweifelhaft die Geistlichkeit erfüllt, wenn das Zölibat sie nicht davor geschützt hätte" (ebd.: 239). Ähnlich findet auch die Wirkung der Kirche als Bildungsinstitution die Bewunderung und Zustimmung Comtes unter rein weltlichen Aspekten. Aus der evolutionistischen Sicht Comtes mußte der Monotheismus sich in seiner höchsten und vollendeten Form entfalten, um dann von dort aus überwunden zu werden und in die nächste Stufe der Entwicklung menschlichen Denkens überzuleiten. Das ist der eigentlich Grund, warum dem Katholizismus so überraschend lebhaft applaudiert wird. Das wird auch sichtbar im Vergleich zu der - nach Comtes Meinung - weniger reifen Form des Monotheismus. "Der Islam bietet hierfür einen entscheidenden Beleg; seine Moral ist im Prinzip so rein, wie die des Christentums, der sie entnommen ist, und dennoch bietet sie weit entfernt

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nicht dieselben Ergebnisse bei einer so wenig fortgeschrittenen Bevölkerung, die ohne genügende Vorbereitung vorzeitig zu einem Monotheismus berufen wurde" (ebd.: 253f). Der Begriff "vorzeitig" unterstellt, daß bestimmte Voraussetzungen noch nicht erfüllt waren. Die sozialen und politischen Bedingungen waren noch nicht weit genug entwickelt, die Gesellschaft insgesamt entsprach in vielen Bereichen noch der polytheistischen Phase theologischen Denkens, und der dann erzwungene "vorzeitige" Übergang zum Monotheismus hatte nicht die moralischen Wirkungen in Richtung auf Disziplinierung und Rationalisierung des Menschen, die diese dritte und letzte Stufe der Religion eigentlich ermöglichen sollte. "Der rückschrittliche Instinkt des modernen Katholizismus kommt von der Auflösung der geistlichen Gewalt und seiner Unterwerfung unter die weltliche. Wie hätte da der Protestantismus, der diese Unterwerfüng zum Prinzip erhebt, den Folgen seines rechtmäßigen Triumphs entgehen können?" (ebd.: 287). So stellt sich dem Ex-Katholiken Comte der Protestantismus als Zerfallsprodukt dar, an dessen Geschichte die Auflösung der monotheistischen Bewußtseinsstufe manifest wird. "Das Luthertum hat nur unbedeutende Veränderungen in der Dogmatik eingeführt; es hat die Hierarchie behalten, allein es hat die politische Erniedrigung der Geistlichkeit geheiligt. Luther zerstörte die kirchliche Disziplin, um sie besser dieser erniedrigenden Umgestaltung anzupassen. Es ist dies die einzige Form, in welcher der Protestantismus sich zu einer Staatsreligion organisieren konnte, wenigstens bei den großen unabhängigen Nationen. Dann hat der Calvinismus, den der berühmte Pastor von Genf begründete, dieser ersten Zerstörung noch die der Hierarchie, die die Einheit im Katholizismus aufrecht erhielt, hinzugefügt" (ebd.: 297). Damit schlägt die Stunde der Religion: Dem Protestantismus, dem Katholizismus, dem Monotheismus nicht nur, sondern dem theologischen Denken überhaupt diagnostiziert Comte sein Ende im Übergang zur Bewußtseinsform des metaphysischen Denkens. Im 16. und vor allem während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter der Metaphysik, das Comte das Zeitalter der Kritik nennt (vgl. ebd.: 305). Die Philosophie übernimmt aus den Händen der Theologie die Führung menschlichen Denkens. Die spekulative Neigung der Philosophen geht mit den frühesten Formen positivistischen Denkens ein Bündnis ein, um die alte Theologie als überholt zu entlarven. Der Siegeszug des Stadiums, das auf das theologische folgt, wird eingeleitet durch das Wirken von Männern wie Descartes, Spinoza und Hobbes. Sie gelten Comte als die Exponenten des zweiten, also des metaphysischen Stadiums menschlichen Denkens. Es erscheint Comte in noch negativerem Licht als das erste, das theologische Stadium. Doch der Durchbruch zur Klarheit und Wahrheit wird nach Comtes Vorstellung dann im dritten und letzten Stadium, dem positiven, weitab von allem religiösen Denken erreicht.

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2. Karl Marx Häufig gewann die Soziologie ihren Gegenstand dadurch, daß ein ehemals selbstverständliches Phänomen fraglich wurde. Die Religion wurde im Laufe des 18. und dann vor allem des 19. Jahrhunderts problematisch, weil immer mehr Menschen die Frage stellten, ob es nicht ohne Religion auch, vielleicht sogar besser ginge. Der Verlust der Selbstverständlichkeit ergriff neben der religiösen Tradition die politische und die wirtschaftliche. Schon vor dem Manifest der Kommunistischen Partei, das er mit Friedrich Engels gemeinsam verfaßt hat, schreibt Marx 1845/46 "Die Deutsche Ideologie". In dieser Frühschrift setzt er sich mit Feuerbach auseinander. Fraglich geworden war die Zuverlässigkeit der Ideen und der Prozeß, in dem sie erneuert werden könnten. "Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen etc. etc., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß" (Marx, 1964: 348f). Die Religionskritik, die in dem vorstehenden Zitat von Karl Marx enthalten ist, beruht im wesentlichen darauf, daß er den Dualismus von Diesseits und Jenseits bestreitet. Die Gegenstände des religiösen Denkens existieren gar nicht, sie sind nicht eine real erlebbare Welt im Jenseits, sie sind nur phantastische Bewältigungsversuche für Probleme des Diesseits. Darum ist Karl Marx auch nicht mit den Thesen von Ludwig Feuerbach (1804-1872) zufrieden. Feuerbach, ein Schüler Hegels und wie Hegel selbst ehemaliger evangelischer Theologe, hatte den Dualismus von Diesseits und Jenseits im wesentlichen beibehalten und die Behauptung formuliert, die Gottheiten seien eine der Phantasie des Menschen entstammende eigene Realität, in die der Mensch all das hinein projiziere, was im Diesseits zu verwirklichen ihm versagt bleibe. Theologie ist daher fur Feuerbach ein Selbsterkenntnisprozeß des Menschen, und ihre Denkergebnisse fuhren schließlich dazu, daß der Mensch in die Lage gerät, sein eigenes Wesen zu durchschauen. Das Ergebnis des Feuerbach'schen Denkens ist demnach eine Anthropologisierung der Religion. Diese Feuerbach'sche Anthropologie wurde fur das Denken des frühen Marx und parallel dazu auch des Friedrich Engels bedeutsam.

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Marx wendet die theologisch-philosophische Reflexion Feuerbachs in Richtung auf wissenssoziologische Überlegungen an. Dabei lehnt er, wie wir schon sahen, den dualistischen Ansatz ab und schreibt in seiner vierten These über Feuerbach: "Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche, aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst (sie!) sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden..." (Marx, 1964: 340).

Für Marx sind die Vorstellungsinhalte, die sich als das Reich des Religiösen darbieten, nicht einer anderen Welt zuzurechnen, die von der erfahrbaren Welt des Diesseits getrennt ist, Religion ist vielmehr ein, noch dazu krankhafter, Aspekt des Diesseits selbst. Sieht man von dem revolutionär-kämpferischen Elan ab, der die Denkweise schon des jungen Marx kennzeichnete, so bleibt als nüchterner Ertrag seiner Formulierungen übrig, daß die Religion bekämpft werden muß, weil sie ein korrektes Bild von der Wirklichkeit verhindern hilft. Die Menschen können aber erst dann wirklichkeitsadäquat handeln, wenn sie zunächst die Wirklichkeit unverfälscht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist: als Wirklichkeit des Klassenkampfes. Die konfliktreiche Beziehung zwischen den Klassen ist typisch fur die historische Durchgangsphase des Kapitalismus, die so lange dauert, wie die Interessen der Klassen notwendig gegensätzlich sind. Die spannungsreiche Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erzeugt nicht nur die Klassenstruktur, sondern fuhrt auch zu ihrer Überwindung. Der Kapitalismus wird nach den Thesen des historischen Materialismus von Karl Marx um so schneller überwunden werden, je klarer die davon betroffenen Menschen ihn in seiner Unmenschlichkeit erkennen. Religion hat die Wirkung, die Einsicht in die Mängel der kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern. Sie verzögert oder verhindert die revolutionäre Überwindung dieser historischen Durchgangsphase. Daher ist es vornehmste Aufgabe der revolutionären Wissenschaft und Politik, die Religion zu bekämpfen. Das Religionsverständnis von Karl Marx fugt sich ein in die Ansichten der evolutionistischen Ethnologen des 19. Jahrhunderts, die in der Religion einen Lückenbüßer fur das Fehlen rationalen Denkens sahen. Im primitiven Denken war das Fehlen wissenschaftlicher Einsichten über astronomische, biologische und andere Zusammenhänge offenkundig. Um zu verhindern, daß solche Unwissenheit zu Erlebnissen der Handlungsunsicherheit und der Existenzangst führten, hatte religiöses Wissen einzutreten, mindestens solange, bis rationales und

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wissenschaftliches Wissen die religiöse Notlösung überflüssig machen würde. In den geistigen Kontext dieser Art zu denken, paßte das Marx'sche Konzept recht genau. Zu den Texten, die Marx in den Jahren 1843/44 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlichte, gehört die Arbeit "Zur Judenfrage". Sie entstand aus der Auseinandersetzung mit dem evangelischen Theologen Bruno Bauer, der von 1809 bis 1882 lebte und zeitweilig mit Marx befreundet war. Ende der dreißiger Jahre gehörte Bauer noch dem konservativen Lager der Rechtshegelianer an. Er wandelte sich jedoch zum atheistischen Religionskritiker und Linkshegelianer, und darum entzog ihm die theologische Fakultät der Universität Berlin im Jahre 1842 die venia legendi. Marx überschreibt seinen Text so: "Bruno Bauer: Die Judenfrage. Braunschweig 1843". In Bauers Abhandlung waren die deutschen Juden gemahnt worden, nicht für sich als Sondergruppe die Emanzipation zu fordern, da doch allen Deutschen die Voraussetzung der Emanzipation fehlte (vgl. Marx, 1964: 171). Marx interessiert sich angesichts dieses Aufrufs, den Bruno Bauer an die Juden Deutschlands richtet, für die Idee der Emanzipation und fur den Stellenwert, den die Religion dabei einnimmt. Er gibt zu Beginn eine Definition: "Alle Emanzipation ist Zuriickführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst" (ebd.: 199). Unter dem Eindruck der zweibändigen Schrift "De la democratic en Amerique", die der französische Jurist Alexis de Tocqueville (1805-1859) in den Jahren 1835-40 veröffentlichte, wunderte Marx sich darüber, daß anscheinend die Bevölkerung der U.S.A. sowohl emanzipiert als auch religiös sein konnte (ebd.: 177f). "Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist, so kann die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staates selbst gesucht werden" (ebd.: 178). Die Tatsache, daß irgendwo Religion auftaucht, ist fur Marx so etwas wie ein Symptom für das Vorhandensein von Mißständen (vgl. 8). "Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit" (Marx 1964: 178). Das bedeutet im Kern immer wieder dies: Religion bewirkt nichts, sie kann den Menschen nicht motivieren, sie macht ihn nur beschränkt, borniert, passiv und insbesondere unfähig zur kritischen Aktivität. Daher ist Religion aus der Sicht von Karl Marx nicht Ursache, sondern nur Wirkung, eben Symptom, das auf Mißstände hinweist, die ganz andere, von der Religion unabhängige Gründe haben. "Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der freien Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben. Wir behaupten, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht die weltlichen Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche. Nach-

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dem die Geschichte lange genug in Aberglauben aufgelöst worden ist, lösen wir den Aberglauben in Geschichte auf' (ebd.). Diese Deutung der Religion wendet Marx auf das Judentum an, aus dem seine eigene Familie hervorgegangen ist. Dabei unterscheidet er den religiösen Aspekt des Judentums von dem weltlich kulturellen Aspekt. Seinen Religionsbegriff kombiniert er mit seiner Vorstellung von Emanzipation und übersetzt gleichsam die theologischen Fragen Bruno Bauers in politische Fragen. "Bauer verwandelt also hier die Frage von der Judenemanzipation in eine rein religiöse Frage. Der theologische Skrupel, wer eher Aussicht hat, selig zu werden, Jude oder Christ, wiederholt sich in der aufgeklärten Form: wer von beiden ist emanzipationsfähiger? Es fragt sich zwar nicht mehr: macht Judentum oder Christentum frei? sondern vielmehr umgekehrt: was macht freier, die Negation des Judentums oder die Negation des Christentums?" (ebd.: 200) Ob auf ideeller Ebene eine religiöse Idee geglaubt wird, wie von dem frommen Juden oder Christen, oder ob sie mit ungläubiger Leidenschaft als Irrtum bestritten wird, das macht aus der Sicht des jungen Marx keinen bedeutsamen Unterschied. Es bleibt im einen wie im anderen Falle stets nur Bekenntnis, es bleibt fromme oder ungläubige ideelle Spinnerei. Darum lohnt es sich auch durchaus nicht, daß ein Jude zum Christentum übertritt, wie der Vater von Karl Marx es mit seiner ganzen Familie getan hatte. Und zu der Fragestellung des zum Atheisten gewordenen Bruno Bauer schreibt Marx: "Es handelt sich immer noch um ein Bekenntnis fur den Juden, aber nicht mehr um das Bekenntnis zum Christentum, sondern zum aufgelösten Christentum" (ebd.: 200). Marx geht es ja nicht um die Frage, welche Form des Idealismus richtig sei, sondern darum, daß jede Form des Idealismus aus seiner Sicht falsch ist, daß an die Stelle der idealistischen Betrachtung die materialistische treten müsse. Darum muß auch die Frage neu und anders gestellt werden, und zwar so, daß sie zu einer Frage wird, auf die der historische Materialismus eine Antwort geben kann. "Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondere gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben?" (ebd.: 201). Das Judentum ist in seiner weltlichen Form Ausdruck einer religiösen Idee, und beides zusammengenommen als weltliches und religiöses Judentum stellt für Marx das Symptom einer defekten Gesellschaft dar. Findet man den Schlüssel zur Heilung der Krankheit am sozialen Körper, dann verschwindet das Symptom der Krankheit von selbst. Und die Beseitigung der Krankheit ist das Anliegen, um das es Marx geht. "Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden. Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir

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das Geheimnis der Religion im wirklichen Judea Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit." (ebd.: 201). Die ursprünglich religiöse Überzeugung, daß sich die vollendete Form des Menschseins in der eigenen Glaubensgemeinschaft verwirkliche, taucht bei Marx in der verweltlichten Form auf, daß die Emanzipation als Menschheitsziel an den Lebensbedingungen der Juden orientiert werden müsse. Schacher und Geld werden als ursprünglich jüdisch, dann aber wieder als gesamtmenschlich dargestellt. Dies ist die Frühform einer Revolutionstheorie, in der später an die Stelle von Geld das Kapital und an die Stelle des Judentums das Proletariat als Subjekt der Emanzipation tritt. "Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andererseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung." (ebd.: 201 f.). Der von seiner religiösen Tradition abgelöste Jude, der sich dank verstandesmäßigen Bemühens aus der Abhängigkeit von Geld und Schacher befreit, bereitet als geistiger Führer die Befreiung der ganzen Menschheit vor. Das ist das in diesem Text von 1843/44 skizzierte Konzept, und es beschreibt zugleich die Person des Karl Marx selbst. Marx fährt fort, in den Begriffen der Religion wirtschaftliche Tatbestände zu erörtern. "Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse..." (ebd.: 204). Wie später in seiner Theorie des Kapitals als einer sich selbst bewegenden Macht in der Geschichte, erscheint das Geld schon in dieser Frühschrift als autonome Kraft mit gleichsam göttlichen Qualitäten. "Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an" (ebd.: 204). Das klingt ähnlich wie die Mahnungen des Frommen, der sich um das Heil der Seele dessen sorgt, der Gott und dem Mammon zugleich zu dienen versucht. Wenn man aber auf die fei-

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nen Obertöne des Textes lauscht, hört man gleichsam den zornigen Abgesang an die Religion der eigenen Väter, die Marx, der Enkel zweier Rabbiner, verlassen hat. Mit aller intellektueller Kraft sucht er die rationale Rechtfertigung seiner Abkehr von der jüdischen Religion. "Was in der jüdischen Religion abstrakt liegt, die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck, das ist der wirklich bewußte Standpunkt, die Tugend des Geldmenschen" (ebd.: 204). "Das Judentum konnte sich als Religion, es konnte sich theoretisch nicht weiter entwickeln, weil die Weltanschauung des praktischen Bedürfnisses ihrer Natur nach borniert und in wenigen Zügen erschöpft ist. Die Religion des praktischen Bedürfnisses konnte ihrem Wesen nach die Vollendung nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis finden, eben weil ihre Wahrheit die Praxis ist" (ebd.: 205). In diesen Sätzen setzt Marx Religion mit Theorie gleich und Wahrheit mit Praxis. Daß aber die Verachtung der Theorie Bestandteil der jüdischen Religion sei, hatte Marx gerade festgestellt. Und die für ihn typische Hochschätzung der Praxis läßt ihn die Wahrheit in das Tun hinein verlagern. „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung" lautet der Titel eines weiteren Werkes aus den Frühschriften von Marx; das Wort "Einleitung" hinter dem Punkt ist Teil des Titels. Wenn erst einmal deutlich geworden ist, aus welcher Sicht das Thema Religion bei Marx behandelt wird, erscheinen seine Formulierungen als Variationen über ein Leitmotiv. Die Schrift über die Judenfrage eignet sich gut dazu, an der einigermaßen konkreten Kritik am Judentum die Marx'sche Methode aufzuzeigen. Unabhängig davon ist seine Einschätzung der geistesgeschichtlichen Situation seiner Zeit dadurch gekennzeichnet, daß er ähnlich wie Comte, die Phase religiösen Bewußtseins fur abgeschlossen hält. "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" (ebd.: 207). Dieses Zitat stammt aus der Auseinandersetzung mit einem Aspekt der Philosophie Hegels. Religion wird auch hier als Symptom gesellschaftlicher Defekte gedeutet. "Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." (ebd.: 208) Die bekannt gewordene Formel von dem "Opium des Volks" faßt in aller Anschaulichkeit zusammen, daß Religion von der Praxis ablenkt, die zur Emanzipation des Menschen not tut. Der Gedanke, Religion könne etwa auch Praxis motivieren, kommt Marx nicht. Daß aber Praxis als entschiedenes politisches Handeln gefordert werden muß, daran kann es für ihn

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keinen Zweifel geben. Dazu muß aber ein klarer Kopf vorhanden sein, der sich nicht verwirren läßt, der die Dinge so sieht, wie sie von sich aus materiell sind, und der allen Phantastereien abschwört. "Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf

(ebd.: 208). Das ist frei-

lich mehr als nur ein Wortspiel: Es reicht für Marx unter gar keinen Umständen aus, eine Illusion aufzugeben, oder konkreter, einen religiösen Glauben abzulegen. Es kommt vielmehr darauf an, die materiellen Lebensbedingungen zu verändern, und zwar so, daß Illusionen jeder Art, also auch Religion, überflüssig werden. Dies rechtfertigt für Marx die Forderung nach Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. Wie wir gesehen haben, gehört dazu die Gleichsetzung von Theorie und Religion einerseits und von Praxis und Wahrheit andererseits. Die Worte des Mephisto an den jungen Studenten in Goethes Faust, nach denen alle Theorie grau ist, werden hier in vollem Ernst aufgegriffen. Das Jenseits ist nichts als graue Theorie. "Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren" (ebd.: 208f ). Die naheliegende Frage, wie das nach Marx zu geschehen habe, trifft den Philosophen nicht unvorbereitet. Die Wahrheit des Diesseits etabliert man nicht am Schreibtisch, sondern auf den Barrikaden. "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift" (ebd.: 216). Die aufwühlenden Ereignisse der großen Französischen Revolution lagen Marx und seinen Zeitgenossen noch nah. Sie hat Marx vor Augen, wenn er schreibt, daß die Theorie zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. Völlig inkonsequent ist es dabei, daß er die Frage nicht erörtert, ob nicht auch religiöse Ideen, die er doch zuvor mit Theorie gleichgesetzt hatte, die Massen ergreifen können. Was ist ein Philosoph wie Marx, der zur Feder greift, um die Welt zu verändern, denn anderes als jemand, der sich wünschen muß, daß sein Denken umschlägt in das Handeln der Vielen. Und daß diese Dimension des Umschlags in Praxis jeder Religion mindestens als Möglichkeit innewohnt, weiß Marx sehr wohl, doch er tut das ab als Schacher und als Gier nach Geld. Geblendet durch die eigene polemische Intention, übersieht Marx den geschichtsmächtigen Einfluß religiöser Bewegungen, und so hat er zur Reformation nichts zu sagen als Hohn und Spott, obwohl er genau weiß, daß der Dreißigjährige Krieg aus religiösen Antrieben geführt wurde. "Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren

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Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung war, so war er die wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eigenen inneren Pfaffen, s e i n e r p f ä f f i s c h e n Natur" (ebd.: 217). Wie wir gesehen haben, hat auch Comte keine hohe Meinung vom Protestantismus. Doch der differenziert genug, um die sozialen Wirkungen verschiedener Religionen voneinander unterscheiden zu können. Marx dagegen wendet sich so pauschal gegen Religionen jeder Art, daß die spezifischen Angriffe gegen Luther belanglos wirken. Das Phasenschema Comtes muß Marx wohl gekannt haben, denn er klagt darüber, daß Deutschland in der Entwicklung des Bewußtseins hinter dem übrigen Europa zurückliegt, und vergleicht das mit einem Fetischisten, der unter den historischen Problemen des Christentums leidet. "Deutschland wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat. Man wird es einem Fetischdiener vergleichen können, der an den Krankheiten des Christentums siecht" (ebd.: 218).

Der andere bedeutende evangelische Theologe, dem Marx neben Hegel und Bruno Bauer viel verdankt, ist Ludwig Feuerbach (1804-1872), der wie Bauer eine Karriere im Dienst seiner Kirche durch den Tenor seiner Publikationen unmöglich werden läßt. Marx bekennt sich in seiner Frühschrift "Nationalökonomie und Philosophie" geradezu begeistert zu den Leistungen Feuerbachs. "Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes und kritisches Verhältnis zur Hegeischen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist... Feuerbachs große Tat ist: 1. Der Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion; also ebenfalls zu verurteilen ist, eine andere Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens... (ebd.: 250f). Hier taucht der Begriff der Entfremdung auf. Der Mensch ist zwar Schöpfer seiner Ideen, aber das nützt ihm nichts; denn er verliert die Kontrolle über das, was er selbst hervorgebracht hat, und unterwirft sich dann seinen eigenen Kreationen als wären sie Götter. In seiner Frühschrift "Die deutsche Ideologie" schreibt Marx, daß ein religiöses "Reich in den Wolken" (vgl. hier S. 19) theoretisch als "Widerspruch verstanden" und "praktisch revolutioniert" werden muß (Marx 1964:340). Der Kreis schließt sich. Die Argumentation ist inzwischen vertraut: Religion ist nur Symptom, sie deutet auf Zerrissenheit und Widersprüche. Brächte man nur das Diesseits in Ordnung, so würde das Jenseits als Träumerei von selbst verschwinden, meint Marx, und zwar

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nun unter ausdrücklicher Berufung auf Feuerbach. "Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen usw., haben sie ihre Verhältnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, dem eingebildeten Wahn, unter deren Joch sie verkümmern" (ebd.: 341). Dieser Aufruf des jungen Marx hat viel Gehör gefunden. Im Laufe seines Wirkens hat er das, was hier als Religion noch "Ausgeburten" des Kopfes sind, zu Inhalten des Überbaus als Erzeugnisse der Praxis ausgeweitet. Das Modell des Zauberlehrlings findet Anwendung: Der Mensch ruft die Geister, die er selbst geschaffen hat, als seine Religion zu seinem Trost heran, und dann wird er sie nicht wieder los, verkümmert unter ihrem drückenden Joch, bis Marx ihn durch den historischen Materialismus zu sich selbst befreit. Das ist der Standpunkt der Emanzipation.

3. Emile Dürkheim Dürkheims einziges Buch, das ganz der Religion gewidmet ist, hat den Titel: Les formes elementaires de la vie religieuse (Dürkheim, 1981). Es erschien im Jahre 1912, fünf Jahre vor seinem Tod und trägt den Untertitel: Le systeme totemique en Australie. Das Werk entstand wohl aus dem starken Engagement eines Mannes, der zwar aus einer langen Familientradition tief religiöser Juden stammte, selbst aber den Glauben verloren hatte und offenbar aus diesem Bewußtsein heraus die Frage stellte: Was ist eigentlich das Wesen einer jeden Religion? Es geht bei Dürkheim daher nicht darum, speziell z.B. den Katholizismus zu untersuchen, oder allgemeiner das Christentum, oder den Buddhismus, den Islam oder sonst irgendeine historisch konkrete Religion, sondern es geht darum, die schwierige Frage zu beantworten: Was ist Religion? Was ist das Wesen jeder Religion? Das Buch ist überwiegend von Völkerkundlern beachtet, von Vertretern der Soziologie dagegen meist nur in Auszügen zitiert worden. Dürkheim knüpft in diesem Buch bei den Evolutionisten an, die als Völkerkundler und Soziologen des 19. Jahrhunderts dazu neigten, die Religion als Lückenbüßer fur das Fehlen rationalen Denkens anzusehen. Den Ursprung der Religion sahen die Evolutionisten in einem kollektiv vollzogenen Definitionsverfahren, durch das Tiere im Animismus oder Naturphänomene wie Sonne, Mond und Sterne und Wind im Naturismus mit Geistern identifiziert wurden, und so zum Ursprung der betreffenden Religion werden konnten. Die Behauptung,

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daß die Geister nicht der Phantasie des isolierten Einzelnen entstammen können, verbindet Dürkheim mit der These, hinter ihnen verberge sich nichts Geringeres als der Klan selbst. Der Klan ist die Gemeinschaft derer, die zusammen schlafen, essen, leben und trinken, - er nennt das an anderer Stelle auch Horde -, die alles gemeinsam haben und die unter dem Inzesttabu stehen, das heißt, die sich ihre Geschlechtspartner von außerhalb wählen müssen. Das ist die Definition von Klan als eine Urform von sowohl Familie als auch Gemeinde im religiösen Sinn. Dürkheim betont die Allmacht des Klans gegenüber dem Individuum, das ihm angehört. Sie personifiziert sich in der Gottheit, und sie ist nach Dürkheims Ansicht das Fundament der Religion. Es geht also in der Religion gar nicht um die Beziehung des Menschen zur Natur, die ihm gewaltig vorkommen könnte, oder um die Beziehungen des Menschen zu dem Problem des Geborenwerdens und des Sterbenmüssens, sondern um eine soziale Beziehung, um ein höchst soziales Phänomen, nämlich um die Frage: Wie steht der Einzelne zu seiner Gruppe. Glaube als konkreter Inhalt dessen was Religion lehrt, ist in Dürkheims Religionssoziologie die Widerspiegelung der Struktureigenschaften der jeweiligen Gesellschaft. Das bedeutet, daß Gesellschaften mit voneinander stark abweichender Sozialstruktur - etwa eine ständische Agrargesellschaft einerseits und eine hochmobile Industriegesellschaft andererseits - schwerlich im Glauben übereinstimmen können, weil ja, nach Dürkheim, der Glaube jeweils dies reflektiert: den strukturellen Zustand des Kollektivs, dessen einzelne Angehörige glauben. Während der Glaube als Form des Bewußtseins (die Dogmen also) durch die sozialen Gegebenheiten geprägt erscheint, dient das Handeln der religiösen Praxis ausdrücklich als Heiligung und Verherrlichung der sozialen Gegebenheiten, und das geschieht in Ritus und Zeremonie. Hier werden die Individuen miteinander verbunden: im rituellen Handeln, in dem Tanz, der um das Feuer herum aufgeführt wird. Da zeigt sich Zusammengehörigkeit, da agiert sozusagen das soziale Gebilde - der Klan - unmittelbar. Dürkheim glaubt, daß der Totemismus, den es ja auch bei den Indianern Nordamerikas - aber in viel komplizierterer Form - gibt, und den er in seiner Elementarform bei den Ureinwohnern Australiens studiert, die Grundform aller Religionen sei. Die Vergeistigung und Heiligung von Tieren, und in einigen wenigen Fällen auch von Pflanzen, zu Totems und damit sozusagen zum Mitgliedsabzeichen sozialer Gruppen oder Klans, sei die unverfälschteste und ursprünglichste Form der Religion. Alle späteren und anderen Formen der Religion seien nur komplexere Spielarten dieses einen Ursprungsphänomens. Diese Ansicht Dürkheims ist allerdings heute aufgrund von Arbeiten wie denen von Levi-Strauss umstritten: der Totemismus gilt nicht mehr ohne Vorbehalt als religiöse Denkweise.

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Entscheidend ist ftir uns in diesem umfassenden und wichtigen Werk des Jahres 1912 Dürkheims Nachweis, daß religiöse Phänomene ihre Verankerung im sozialen Miteinander haben. Damit bereitet er theoretisch die Frage vor, ob in dem Maße, in dem der Mensch sich immer weiter individualisiert und herauslöst aus sozialen Zusammenhängen, Religion an ihr Ende kommen muß. Das genau ist eine These, die wir auch bei Max Weber ausgeführt finden: Religion wird veranstaltet im engen Netz des sozialen Miteinanders. Indem der Einzelne sich daraus löst und sich auf eigene Faust stabilisiert, wie Arnold Gehlen das genannt hat, wird Religion - in dem Sinne, in dem Dürkheim sie definiert - unmöglich. Dürkheim kommt mit Hilfe ausfuhrlicher Illustration und sorgfältiger Argumentation zu dem Ergebnis, daß Gottheiten kein definierendes Merkmal von Religion seien, daß vielmehr der Buddhismus sowohl Atheismus als auch Religion sei. Maßgeblich fur das Vorhandensein einer Religion ist flir Dürkheim nicht die Anwesenheit von Göttern, sondern das Praktizieren von Riten. Es gibt in kulturellen Phänomenen, die nach Dürkheims Überzeugung Religionen sind, Riten ohne Götter, ja es gibt seiner Ansicht nach sogar Riten, die zur Entstehung von Göttern fuhren. Es trifft demnach nicht zu, daß alle religiösen Kräfte von göttlichen Persönlichkeiten ausgehen. Außerdem gibt es kultische Handlungen, die andere Zielsetzungen haben als die Herstellung einer Verbindung zwischen Menschen und Göttern. Religion ist demnach fur Dürkheim mehr als die Idee von Göttern und Geistern, und daher kann man sie nicht so definieren, daß deren Vorhandensein Voraussetzung flir das Existieren von Religion sei (Dürkheim, 1981: 60). Nach der Zurückweisung von, seiner Überzeugung nach, falschen Definitionsversuchen schlägt Dürkheim eine eigene Begriffsbestimmung von Religion vor. Er weist daraufhin, daß Religion nicht ein geheimnisvolles unteilbares Ganzes sei, sondern sich aus einigermaßen selbständigen Teilen zusammensetze, und daß sie ein mehr oder weniger komplexes System von Mythen, Dogmen, Riten und Zeremonien sei. Dürkheim bezeichnet bei der Entwicklung seines Definitionsvorschlags Religion ausdrücklich als System. Zur Definition von Religion gehört nach seiner Überzeugung notwendig eine Aussage über die Beziehung zwischen den Teilen, die in ihrer Gesamtheit das System konstituieren. Zentrale Bedeutung hat fur Dürkheim das Ritual. Man kann, so sagt er, an vielen weltlichen Ritualen wie der Beachtung des Maifeiertages, des Karnevals oder der Sommersonnenwende beobachten, daß es sich dabei um Reste religiöser Rituale handelt. Ob eine konkrete soziale Verhaltensform tatsächlich die Qualität des religiösen Rituals hat oder nicht, hängt von dem Sinngehalt ab, den die Handelnden damit verbinden. Darum ist es nicht möglich, einen Ritus als Bestandteil der Religion zu definieren, wenn nicht zuvor der Glaube definiert worden ist (ebd.: 61f ).

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Mit dieser Begründung wendet sich Dürkheim den Inhalten religiösen Bewußtseins zu und vertritt die Meinung, daß alle religiösen Glaubenssysteme dies eine gemeinsam haben: Sie alle schaffen im Bewußtsein des Menschen die klare Scheidung zwischen weltlich oder profan und heilig oder sakral (profane, sacre). Diese Zweiteilung der Welt in ein profanes und ein sakrales Teilgebiet konstituiert religiöses Denken. Sie ist übereinstimmendes Merkmal aller Mythen, Dogmen und Legenden, denen man die Qualität des Religiösen zuerkennen muß (ebd.: 62). Darum ist auch der Buddhismus fur Dürkheim eine Religion. Ihm fehlen zwar die Götter, aber der buddhistische Glaube enthält die vier heiligen Praktiken, die dem profanen Leben gegenüberstehen. Obschon dieses Buch die Vorstellungen der Menschen vom Heiligen behandelt, soll der Begriff hier nicht definiert werden. Was konkret als heilig gilt und was nicht, ist von Religion zu Religion ganz verschieden. Dürkheim weist daraufhin, daß es nicht immer Gottheiten oder personale Geistwesen sein müssen, die den Wesensgehalt des sakralen Bereichs ausmachen. Es kann sich um eine Pflanze, um einen Stein, um einen Fluß, oder eben, wie im Falle des Buddhismus, um eine bestimmte Verhaltensweise des Menschen handeln, die jeweils als heilig definiert werden. Entscheidend ist in allen Fällen, daß nur bestimmte ausgewählte Personen die Erlaubnis haben, sich mit dem Bereich des Heiligen in Verbindung zu bringen, ihm zu nahen, ihn zu vollziehen, während die große Mehrzahl der Gläubigen von dem Zugang zum Bereich des Heiligen ausgeschlossen ist (ebd.). Dürkheim weist darauf hin, daß es keine Kontinuität vom profanen zum sakralen Bereich gibt. Während in anderen Bereichen menschlichen Denkens verschiedene Ausprägungen derselben Variablen angetroffen werden können, so z.B. gut und böse als Dimensionen der Ethik oder krank und gesund als Dimensionen des körperlichen Wohlbefindens, verhält es sich mit der Konfrontation von profan und sakral völlig anders. Es handelt sich hier um eine Konfrontation zweier unvergleichlicher Denkweisen, die unterschiedlichen Begriffsklassen zugerechnet werden und nicht disparate Phänomene innerhalb einer Dimension darstellen (ebd.: 63f). Am Ende seines Buches über die Religion hält Dürkheim in einer "Zusammenfassung" Rückschau auf die Ergebnisse der Untersuchung. "Wie einfach auch das System war, das wir untersucht haben, wir haben darin alle großen Ideen und alle hauptsächlichsten Ritualhaltungen, die an der Basis selbst der fortgeschrittensten Religionen stehen, wiedergefunden: die Einteilung der Dinge in heilige und profane; den Begriff der Seele, des Geistes," [es sollte richtiger heißen 'der Geister'] "der mythischen Persönlichkeiten, der nationalen und sogar der übernationalen Gottheit... Unsere Hoffnung ist also begründet, daß die Ergebnisse,

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zu denen wir gekommen sind, nicht auf den Totemismus allein beschränkt sind, sondern uns zum Verständnis dessen verhelfen können, was die Religion im allgemeinen ist" (ebd.: 556). Der erste Absatz der Zusammenfassung liest sich wie eine abschließende Rechtfertigung dafür, nicht eine Hochreligion, sondern den Totemismus zum Gegenstand der Untersuchung gemacht zu haben. Das Ergebnis befriedigt Dürkheim: alle Elemente einer jeden Religion sind schon in der einfachsten Form, im Totemismus, vorhanden. Dann macht er eine Bemerkung, die für die Beurteilung seiner Methode wichtig ist. Den Kritikern, deren Einwendungen er sich vorstellt, und die ihn fragen könnten, welche Beweiskraft denn aus der Beschäftigung mit nur einem einzigen Religionstyp hervorgehen könnte, hält er entgegen, "daß ein Beweis allgemeingültig ist, wenn ein Gesetz durch ein richtig durchgeführtes Experiment bewiesen worden ist" (ebd.). Wie sehr er sich an den Methoden der Naturwissenschaften orientiert, wird gleich im nächsten Satz deutlich! "Wenn es einem Gelehrten, selbst in einem einzigen Fall, gelingt, das Geheimnis des Lebens zu erkunden, und wäre es beim einfachsten protoplasmatischen Wesen,... so könnten diese Wahrheiten auf alle, selbst die höchstentwickelten Lebewesen angewendet werden" (ebd.). Das liest sich wie das Forschungsdesign, mit dem Franz Boas seine Schülerin Margaret Mead nach Samoa geschickt hat, damit sie dort an einem einzelnen Fall einer Kultur nachweisen könne, daß eine permissive Sexualmoral agressionsmindernd wirken müsse (Freeman, 1983). Weiter schreibt Dürkheim ohne Übergang: "Wenn wir also bei den sehr primitiven Gesellschaften, die wir studiert haben, wirklich einige der Elemente entdeckt haben, aus denen die grundlegendsten religiösen Begriffe bestehen, dann gibt es keinen Grund, die allgemeinsten Ergebnisse unserer Untersuchung nicht auf die anderen Religionen anzuwenden" (ebd.). Dieser Ansicht können wir in diesem Buch freilich nicht zustimmen; denn Dürkheim bemüht sich um eine Erkenntnistheorie, die ohne die Zweiteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften auszukommen versucht: "Wenn der Wissenschaftler das Axiom aufstellt, daß die Eindrücke von Wärme und Licht, die die Menschen empfinden, einer objektiven Ursache entsprechen, so schließt er doch nicht, daß die Ursache so wäre, wie sie unseren Sinnen erscheint. Ebenso gilt: Wenn die Eindrücke, die die Gläubigen empfinden, nicht erdichtet sind, so bilden sie doch keine privilegierte Intuition. Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß sie uns besser über ihr Objekt belehren als die gewöhnlichen Empfindungen über die Natur der Körper und ihrer Eigenschaften" (ebd.: 559f). Das religiöse Bewußtsein kann zwar das Vorhandensein eines realen Objekts als Kraftquelle erkannt haben, doch daraus folgt noch nicht, daß es dieses Objekt richtig und fehlerfrei erkannt hat, also so wahrnimmt, wie es wirklich ist. "Um zu entdecken, woraus dieses Objekt

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besteht, muß man sie" [die Empfindungen der Menschen] "also einem Verfahren unterwerfen, das dem ähnlich ist, das an die Stelle einer nur sinnhaften Vorstellung von der Welt eine wissenschaftliche, begriffliche Vorstellung gesetzt hat. Genau das haben wir versucht zu tun, und wir haben gesehen, daß diese Wirklichkeit, die sich die Mythologien unter so vielen verschiedenen Formen vorgestellt haben, die aber die objektive, universale und ewige Ursache dieser Erfindungen sui generis ist, aus denen die religiöse Erfahrung besteht, die Gesellschaft ist" (ebd.: 560). Das religiöse Empfinden des Gläubigen erkennt also richtig die gewaltige Kraft, von der aus sein Leben gesteuert wird. Insoweit ist dieses Gefühl real. Doch es beruht auf einem Irrtum über das Wesen dieser Kraft: er hält es für einen Geist, einen Gott, eine ganze Mannschaft von Göttern, für Dämonen oder für sonst etwas spezifisch Religiöses. Aber Dürkheim als der Naturwissenschaftler der Religion zeigt, daß es sich in Wahrheit um die Gesellschaft handelt, die die wirkliche und einzige Quelle des Heiligen ist. Dies hält Dürkheim für die wichtigste Entdeckung seiner Untersuchung zur Religion: Es ist die Gesellschaft, die von den Gläubigen aller Religionen als Gottheit verehrt wird. "So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären, welche es auch seien. Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln" (ebd.). Dürkheim hatte schon im Laufe seiner Untersuchung gezeigt, daß die Grundkategorien des Denkens und damit auch die der Wissenschaft auf einen religiösen Ursprung zurückgeführt werden können. Das gilt nach seiner Meinung auch für Magie und die daraus abgeleiteten Techniken, es gilt für die Moral, für das Recht, und so kommt er zu dem Ergebnis: "Man kann also zusammenfassend sagen, daß fast alle großen sozialen Institutionen aus der Religion geboren wurden" (ebd.: 561). An diesen Satz knüpft Dürkheim eine Fußnote an, in der er sagt, nur die ökonomische Tätigkeit sei von ihm mit der Religion nicht in Verbindung gebracht worden, es bestünden aber Beziehungen zwischen dem ökonomischen Wert und dem religiösen Wert, doch sei noch nicht untersucht worden, "welches die Natur dieser Beziehungen ist" (ebd.). Das ist (im Jahre 1912) eine erstaunliche Feststellung angesichts der Tatsache, daß Max Webers Protestantismusstudie in den Jahren 1904 und 1905 erschienen war. Dürkheims Entdeckung, nach der die Gesellschaft in jeder Religion als Gottheit oder als das Heilige verehrt wird, führt ihn zu der Frage, um welche Gesellschaft es sich denn dabei handele. Angesichts der empirisch gegebenen sozialen Wirklichkeit kommen einem da hinsichtlich der heiligen Qualität notwendig manche Zweifel: "Aber sie ist doch voller Mängel und Unvollkommenheiten! Das Übel steht neben dem Guten, die Ungerechtigkeit herrscht oft ungestört, die Wahrheit wird jeden Augenblick durch den Irrtum verdunkelt. Wie konnte ein

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so grobes Gebilde die Gefühle der Liebe, des glühenden Enthusiasmus, des Geistes der Selbstverleugnung einflößen, die alle Religionen von ihren Gläubigen fordern. Die Götter, diese vollkommenen Wesen, können doch ihre Züge nicht von einer derart mittelmäßigen, manchmal sogar niedrigen Realität entnommen haben" (ebd.: 562). Hier wird ein fundamentaler Unterschied im Vergleich zu der Deutung von Religion bei Karl Marx sichtbar. Marx verurteilt Religion als falsches Bewußtsein, weil sie einen Schleier der Fälschung über die Mißstände der empirisch gegebenen Gesellschaft deckt, und den Gläubigen meinen läßt, alles sei gut und gerecht. Für Marx gibt es also in der Gesellschaft Widersprüche, im religiösen Bewußtsein, das jene verhüllt, jedoch nicht. Ganz anders bei Dürkheim: "Es hat Götter des Diebstahls und der List, der Unzucht und des Krieges, der Krankheit und des Todes gegeben. Wie hoch sich auch das Christentum die Gottheit vorgestellt hat, es war dennoch gezwungen, dem Geist des Bösen einen Platz in der Mythologie einzuräumen. Satan ist ein wesentlicher Teil des christlichen Systems. Zwar ist er ein unreines Wesen, aber er ist nicht profan. Der Gegengott ist ein Gott, niedrig und untergeordnet zwar, aber trotzdem mit großen Kräften begabt; er ist sogar Gegenstand von Riten, wenn sie auch negativ sind. Statt daß die Religion also die wirkliche Gesellschaft ignoriert und von ihr abstrahiert, ist sie ihr Ebenbild. Sie spiegelt alle Ansichten, selbst die gemeinsten und abstoßendsten wider" (ebd.: 563). Indem nun die Religion die Gesellschaft widerspiegelt, kopiert sie sie freilich nicht. Der Mensch schafft die Religion, (wie bei Feuerbach und bei Marx), doch er geht dabei vor, wie Kant es beschreibt: Er gibt sich mit den Unvollkommenheiten der empirischen Erfahrung nicht zufrieden (Helle, 1992: 15). Statt dessen denkt er über sie hinaus, verlängert ihre Linien, rundet ab, systematisiert, vervollkommnet und konzipiert so das Sakrale in seiner Dualität von Gott und Teufel. "Es ist, als ob man sagte: der Mensch hat die Religion erschaffen, weil er eine religiöse Natur hat. Das Tier jedoch kennt nur eine Welt: die Welt, die es durch innere wie äußere Erfahrung wahrnimmt. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, sich das Ideale vorzustellen und es dem Wirklichen hinzuzufügen" (Dürkheim, 1981: 564). "Um sich über diese außergewöhnlichen Eindrücke Rechenschaft zu geben, die er empfindet, verleiht er den Dingen, mit denen er in den engsten Beziehungen steht, Eigenschaften, die sie nicht haben, Ausnahmekräfte, Tugenden, die die Gegenstände der täglichen Erfahrungen nicht besitzen. Mit einem Wort: Der wirklichen Welt, in der er sein profanes Leben lebt, stülpt er eine andere über, die gewissermaßen nur in seinem Denken existiert, der er aber, gegenüber der ersteren, eine Art höherer Würde zumißt" (ebd.: 565). Diese Aussagen Dürkheims sind vom verstehenden Ansatz kaum noch zu unterscheiden. Der Prozeß, den Dürkheim beschreibt, kann als Definitionsakt, als Zuschreibung oder ähnlich in

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Kategorien der geisteswissenschaftlichen Methode benannt werden; denn einer Welt wird eine andere übergestülpt, der Welt der materiellen Realität die der Sinnsysteme. Doch Dürkheim unternimmt jede erdenkliche Anstrengung, um seinen eigenen methodischen Grundsätzen treu zu bleiben. Er fragt nach den beobachtbaren Ereignissen, die den bezeichneten Vorgang der Sinnzuschreibung empirisch erforschbar werden lassen. Wieder gelangt er zum Ritus, zum religiösen Kult als der entscheidenden Kollektivhandlung: "Damit die Gesellschaft sich ihrer bewußt werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muß sie versammelt und konzentriert sein. Dann bewirkt diese Konzentration eine Überschwenglichkeit des moralischen Lebens, die sich in einer Summe von idealen Vorstellungen äußert..." (ebd.: 565). Bei der Lektüre solcher Passagen entsteht der Eindruck, hier stehe das 'Auserwählte Volk' Modell für die Gesellschaft. Bei Marx wird es Vorbild für das Proletariat, bei Dürkheim für die ganze Gesellschaft als Sitz des Sakralen. Die Gesellschaft wird in einer Weise personalisiert und reifiziert, die den Empiriker, als dessen Verbündeter Dürkheim sich ja gerade eingeführt hat, befremden muß. "Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfüng ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert" (ebd.). "Denn eine Gesellschaft besteht nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, aus dem Boden, den sie besetzen, aus den Dingen, deren sie sich bedienen, aus den Bewegungen, die sie ausführen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht... Es ist keinesfalls zutreffend, daß das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt, durch irgendeine innewohnende Kraft des Individuums entsteht, vielmehr lernt das Individuum eher in der Schule des kollektiven Lebens zu idealisieren" (ebd.: 566). So kann man die Lehre Dürkheims zusammenfassen in die Aussagen: Zum Menschsein gehört die Einbettung in eine Gesellschaft, die Gesellschaft ist der Ort des Heiligen, keine Gesellschaft ohne Religion, und Soziologie als Lehre von der Gesellschaft ist immer auch Lehre von den Bedingungen der Entstehung und Erhaltung einer bestimmten Religion als Merkmal dieser oder jener Kultur. Dies ist die wissenschaftliche Aussage über Religion, die Dürkheim vertritt. Er warnt seine Leser sogleich eindringlich davor, seine Theorie mit der von Marx zu verwechseln: "Man muß sich also davor hüten, in dieser Theorie der Religion eine einfache Wiederaufnahme des historischen Materialismus zu sehen: Das hieße, unsere Gedanken völlig mißzuverstehen" (ebd.: 567).

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4. Georg Simmel Georg Simmel entwickelt seine Sicht der Religion zunächst in einzelnen Aufsätzen (Simmel, 1989; Simmel, 1996). Doch dann erscheint im Jahre 1906 in einer Schriftenreihe, die Martin Buber herausgibt, Simmeis Buch mit dem Titel "Die Religion". Religiosität ist flir ihn vor allem eine Perspektive, die der Mensch sich aneignen kann, um zu einer bestimmten Sicht der Wirklichkeit zu gelangen: "...der religiöse Mensch erlebt die Dinge von vornherein so, daß sie gar nicht anders können, als ihm die Güte gewähren, nach denen er als Religiöser begehrt" (Die Zitate sind der Ausgabe von 1906 entnommen; vgl. Simmel, 1989: 120). Dieser Satz enthält die Annahme, daß Menschen mit Hilfe eines Bildes der Realität leben und handeln, das sie selbst sich schaffen oder an dessen Gestaltung sie mindestens mitwirken. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit ist Grundlage von Simmeis Schriften zur Religion. Simmel konnte durch seine Arbeiten zur Religionssoziologie sowohl Max Weber als auch Emile Dürkheim beeinflußen, wenngleich in unterschiedlicher Weise. Dürkheim hat eine Zeit lang mit Simmel zusammengearbeitet, sich aber dann wegen unüberwindlicher methodischer Meinungsverschiedenheiten von ihm abgewandt. Max Weber hat bis 1905 manches von Simmeis Methode übernommen. Man kann fur Dürkheim und Weber übereinstimmend festhalten, daß sie sich abwenden von der naiven Religionskritik des Evolutionismus. Rationalität ist bei ihnen nicht wie dort einfach der Gegensatz zur Religiosität. Religion ist mehr als nur der Bereich des Irrationalen, aus dem die Hemmungen erklärbar werden, die dem Fortschritt im Wege stehen. Diese Neuorientierung der soziologischen Fragestellung gegenüber dem Gegenstand Religion hat Simmel eingeleitet. Für ihn sind Religiosität und Liebe Beispiele fur die Freiheit der Person, sich unabhängig von materiellen Fakten eine handlungsrelevante Realität zu konstruieren. Vor dem Hintergrund dieser Annahme fragt Simmel, wie Religion überhaupt möglich sei. Die Antwort gibt er von seiner Erkenntnistheorie aus so: Religion ist wie Gesellschaft darum möglich, weil die Inhalte des Bewußtseins nicht nur Reflexionen über etwas davon Unbeeinflußtes, sondern unmittelbar selbst Wirklichkeit sind. Religion ist im Vergleich zu Gesellschaft nicht etwas prinzipiell anderes; sie ist eine von mehreren möglichen Wirklichkeitskonstruktionen. Die Initiative zur Gestaltung religiöser Form kommt nicht aus dem Jenseits, sondern aus dem Erleben im sozialen Miteinander. Religion ist Wirklichkeit, weil sie als Form des Seins nicht widerlegbar ist. Simmel vergleicht den Religiösen mit dem Verliebten: "Es ist oft genug beobachtet, daß der Affekt der Liebe sich sein Objekt selbst schafft... als Gegenstand der Liebe bleibt der Geliebte immer eine Schöpfung des Liebenden. In der Liebe entsteht ein neues Gebilde, angeknüpft freilich an die Tatsache einer Persönlichkeit, aber seinem Wesen und seiner Idee nach in einer völlig anderen, für die an sich seiende Wirklichkeit dieses Menschen unberührbaren Welt

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lebend", (ebd.: 131). Die schöpferische Leistung des Liebenden, die erst die Liebe als neues Gebilde entstehen läßt, steht als Vergleich für die schöpferische Leistung des religiösen Menschen, der erst die Inhalte des Glaubens zu Tatsachen macht. Dabei wird freilich angeknüpft an konkrete Gegebenheiten, die für unterschiedliche Deutungen Raum bieten. Dies hat die beachtenswerte Konsequenz, daß religiöse Gefühle und Glaube sich niemals zwingend aus den Tatsachen folgern lassen, wie das etwa gedankliche Konstrukte nach dem Muster der Gottesbeweise nahelegen mögen, sondern daß es stets in die Freiheit des Gläubigen gestellt ist, ob er einen Glauben annehmen will oder nicht, ja daß es eine Frage seiner erlebten Gefühle ist, ob er ihn annehmen kann. Simmel beschreibt die Reaktion des menschlichen Gefühls auf das Schicksal: Hoffnung, Verzweiflung, Rebellion, Zufriedenheit, all dies sind Gefühlsreaktionen auf erlebte Ereignisse. Ob diese Reaktion eine religiöse Qualität hat oder nicht, ist eine Frage des kreativen Eigenbeitrags des Betrachters zur Deutung seiner Lebenswirklichkeit. Simmel sagt deshalb dazu, daß es sich um "eine besondere Qualität des Gefühls" (ebd.: 119) handelt. Der Gegenstand der Religion wird so als Gegenbild der Sinnesempfindung vom Subjekt selbst erzeugt. "Wie nun auch unser Gefühl sich zu dem Schicksal stellen möge: ergebend oder rebellierend, hoffend oder verzweifelnd, fordernd oder befriedigt - es kann völlig irreligiös, aber auch völlig religiös verlaufen. Es kommt hier darauf an, daß die religiöse Färbung nicht von einer geglaubten transzendenten Macht auf das Erleben ausstrahlt, sondern eine besondere Qualität des Gefühls selber ist, eine Konzentration oder ein Schwung, eine Weihe oder eine Zerknirschung, die in sich religiös ist; jenen Gegenstand der Religion erzeugt sie als ihre Objektivation oder ihr Gegenbild, wie die Sinnesempfindung ihr Objekt, das ihr doch gegenüber steht, aus sich entläßt" (ebd.). Religion hat mit Gesellschaft gemeinsam, daß sie nur als soziale Realität denkbar ist, weil sie eine aus Wechselwirkungen objektivierte Form ist. Simmel nennt Beispiele dafür, daß Formen ursprünglich rein sozialer

Normierung zu religiösen

Normen aufsteigen können.

"Überall entfalten sich hier Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft, die ohne ihre soziale Bedeutung niemals zu religiösen aufgestiegen wären und in diesem Aufsteigen entwickeln sie nun die Energien und Formen, zu denen sie durch ihre inneren, nicht erst vom Transzendenten entlehnten Gefühlsspannungen und Bedeutungen gestimmt sind. Sie würden dies Transzendente niemals zu sich herangerufen haben - wie unzählige andere ihnen vielfach koordinierte Normen es auch wirklich nicht getan haben - wenn nicht gerade ihr Gemütswert, ihre vereinigende Kraft, ihre Enge sie von sich aus zu der Projizierung auf die religiöse Ebene

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disponierte" (ebd.: 124). Hygienische Vorkehrungen im antiken Judentum gelten auf der religiösen Ebene als von Gott selbst angeordnet, Fürsten fordern Gehorsam, weil sie von Gottes Gnaden zu regieren beanspruchen etc. Soziales und Religiöses ermöglichen einander: ohne soziale Formung als Grundlage und Begleitprozeß ist religiöse Formung für Simmel nicht denkbar. Daraus zieht er die überraschende - und doch vor dem Hintergrund seiner Prämissen plausible - Konsequenz, daß man dem Buddhismus die Qualität einer Religion absprechen müsse. Der Buddhismus ist keine Religion aus diesem Grund: "Ihm fehlt völlig das soziale Moment... Er lehrt das völlige Zurückziehen von der gesellschaftlichen Welt. Das Sich-Erlösen ist ihm nur das Sich-Lösen von allem Dasein, dem sozialen nicht weniger wie dem natürlichen: er kennt nur Pflichten gegen sich selbst... Nun aber ist der Buddhismus auch keine Religion. Er ist die Lehre von dem Heil, das der Strebende absolut allein, durch sein eigenes Wollen und Denken gewinnen kann" (ebd.: 127). Die Voraussetzung, daß sich lebendige Wechselwirkung zu religiöser Form objektiviert, sieht Simmel hier nicht gegeben, weil er im Buddhismus keine soziale Dimension vermutet. Simmel zeigt, wie Religiöses und Soziales verbunden sind: "Sonst ist überall - am deutlichsten im alten Semitentum, Griechentum, Römertum - die religiöse Pflicht der Opfer, das Gebet, der gesamte Kultus keine persönliche Angelegenheit, sondern liegt dem Individuum als Mitglied einer bestimmten Gruppe ob, welche denn auch als ganze für die religiösen Verfehlungen des Einzelnen haftbar gedacht wird" (ebd.: 128). Hier konfrontiert er das religiöse Verhalten des konkreten Gruppengliedes mit der Haftung einer Gruppe für dessen Verfehlungen. Das religiöse Gefühl ist zwar kreativer Beitrag des einzelnen zur religiösen Weltdeutung, aber das Ritual, das Opfer, etc. sind Verantwortung der religiösen Gemeinschaft. Indem das Individuum sich in sie hineinstellt, kann es an dem Wechselwirkungsprozeß teilhaben, der seinem religiösem Gefühl Gegenstände gibt. Die Gegenüberstellung von Opfer, Gebet und Kultus als Angelegenheiten der Gruppe einerseits, und persönlicher Religiosität als Eigenbeitrag des Einzelnen andererseits, erinnert an den Satz, daß "nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion" (ebd.: 120) schafft. Religion ist Gruppenphänomen und Religiosität ist emotionale Befindlichkeit der Person. Für den beabsichtigten Zweck seiner Betrachtung des Themas Religion läßt Simmel die Initiative vom Individuum ausgehen. Die Person empfindet in einer bestimmten Situation religiös, sie hat den Eindruck, einem wichtigen Erlebnis der Freude oder der Trauer einen, wie Simmel schreibt, religiösen "Ton" oder eine religiöse "Färbung" verleihen zu müssen, und braucht zur Realisierung dieser Neigung die Gruppe, in der aus den Wechselwirkungen der Mitglieder zueinander Religion als gemeinschaftlich geschaffene anschauli-

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che Wirklichkeit entsteht. Nach dieser Begriffsbestimmung von Religion gehört eine Gottheit zur Gruppe hinzu, und zwar nicht als ein irgendwo fern im Jenseits gedachtes Wesen, sondern als Mitglied der Gemeinde selbst, die Trägerin der Religion ist. Wechselwirkung als soziale Realität braucht sich nicht auf empirische Personen im Diesseits zu beschränken. Das Religionsverständnis Simmeis schließt die lebendige Beziehung zwischen Gottheit und Gläubigem ein. Das zeigt sich an seinem Begriff des Glaubens. Dabei geht es nicht etwa nur um theoretische, in diesem Fall theologisch-dogmatisch Inhalte, sondern Glaube bedeutet vor allem ein Gefühl personaler Nähe. Simmel weist auf die Bedeutung des sozial-emotionalen Engagement des Menschen hin; denn wir fühlen, "daß, wenn der Religiöse sagt: ich glaube an Gott, damit noch etwas anderes gemeint ist als ein gewisses Fürwahrhalten seiner Existenz. Es sagt nicht nur, daß diese Existenz, obgleich nicht streng beweisbar, dennoch angenommen wird, sondern es bedeutet ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm, eine Hingebung des Gefühls an ihn, eine Dirigierung des Lebens auf ihn zu" (ebd.: 133f). Soziale Realität ergibt sich erst in lebendigen Beziehungen: In die Relation hat Simmel ja den Sitz der Wirklichkeit verlegt. Es geht deshalb für den Gläubigen nicht nur darum, ob es den Gott irgendwo gibt oder nicht, sondern vielmehr um die Frage, ob er selbst "ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm" (ebd.: 134) hat. Das Vorhandensein oder das Fehlen einer solchen lebendigen Beziehung des Gläubigen zu seiner Gottheit ist das entscheidende Kriterium für das Vorhandensein des Religiösen. Simmeis Verständnis von Glaube unterliegt genau der charakteristischen

erkenntnis-

theoretischen Wendung von intellektuell-theoretischem Reflektieren über etwas Äußerliches (im Falle der Gottheit: äußerlich dem Subjekt gegenüber) hin zur unmittelbaren Formgestaltung im inneren Erlebnisbereich. Ich kann nicht einem mir Nahestehenden - oder überhaupt einem Mitmenschen - gegenübersitzen und nur theoretische Reflexion über ihn (oder sie) pflegen. Einer als Mitglied des Gemeinwesens vorgestellten Gottheit gegenüber dürfte dies ebensowenig denkbar sein. "Der praktische Glaube ist ein Grundverhalten der Seele, das seinem Wesen nach soziologisch ist, d.h. als ein Verhältnis zu einem dem Ich gegenüberstehenden Wesen aktualisiert wird. Daß es dem Menschen auch sich selbst gegenüber möglich ist, ruht auf seiner Fähigkeit, sich in Subjekt und Objekt zu spalten, sich selbst wie einem dritten gegenüberzutreten, - einer Fähigkeit, die an keiner sonstigen Erscheinung der Welt, die wir kennen, eine Analogie besitzt und die unsere ganze Geistesart begründet" (ebd.: 136). Glaube ist nicht theoretischer Inhalt, sondern ein Verhalten, er ist "seinem Wesen nach soziologisch" (ebd.). Vergleichbar mit den Formulierungen Max Webers zur Legitimität von

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Herrschaft als im Glauben der Beherrschten begründet schreibt Simmel: "Das Gehorsamsverhältnis etwa beruht unzählige Male nicht auf dem bestimmten Wissen von Recht und Überlegenheit des anderen, auch nicht auf Liebe und Suggestion, sondern auf jenem 'Glauben' an die Macht, das Verdienst die Unwiderstehlichkeit und Güte des anderen, - einem Glauben, der eben keineswegs nur eine theoretische Annahme hypothetischer Art ist, sondern ein ganz eigenartiges zwischen den Menschen aufwachsendes seelisches Gebilde" (ebd.). Die Beziehung zwischen zwei Menschen wird bei Simmel als ein "seelisches Gebilde" beschrieben, sie ist eine aus Wechselwirkung hervorgehende Formung. Von gleicher relationaler Qualität stellt sich dann nicht nur der Glaube dar, sondern die Gottheit selbst. Keineswegs bestreitet Georg Simmel der Gottheit die Qualität, real zu sein. Nur ergibt sich die vom Menschen erlebte Wirklichkeit nicht aus Gott selbst, sondern eben als Folge der Beziehung zwischen Personen, zumal als Mitglieder einer Gruppe. "Nicht das einzelne Mitglied, sondern die Gruppe als solche steht unter einem bestimmten Gott, und diese eben weist darauf hin, daß es eine Einheit ist, die sich in dem Gott ausspricht, das, was über die Individuen hinübergreifend sie zusammenhält. Der Gott ist sozusagen der Name für die soziologische Einheit..." (ebd.: 140). Diese Formulierung findet sich bei Dürkheim fast wörtlich (Dürkheim, 1912). Der These, Religion sei eine soziale Form, entspricht das Bild von der Gottheit, die dem Gemeinwesen als Mitglied angehört. Simmel untersucht den Übergang von der Form empirisch soziologischer Einheit als sozialer Gruppe zur absoluten Einheit der Gottesidee: "Diese Skala hat noch eine Stufe, die die vorchristlichen Epochen vielfach charakterisiert. In ihnen nämlich steht die Gottheit dem Einzelnen und seinem Kreise nicht gegenüber, sondern sie ist in den letzteren einbezogen, ist ein Element der Lebenstotalität, auf die das Individuum angewiesen ist. Im alten Judentum z.B. nimmt der Gott gelegentlich des Schlachtopfers am Schmause teil, es ist nicht nur die Einrichtung eines Tributes. Allenthalben besteht ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Gott und seinen Verehrern. Und überall, wo er als Stammvater, wo er als König auftritt, ja, wo er der Gott eben dieses Stammes, eben dieser Stadt ist, während andere, in ihrer Existenz ebensowenig bezweifelte Götter anderen Gruppen eigen sind, - überall da ist der Gott das oberste Mitglied des Gemeinwesens" (ebd.: 144). Die Gottheit steht als "oberstes Mitglied des Gemeinwesens" potentiell in einer lebendigen Beziehung zu den Gläubigen, und sie muß dies tun, um fur sie ihren Realitätscharakter nicht zu verlieren. Ob sie dies tun kann, hängt freilich von den Gläubigen ab und davon, ob sie von ihrem Gott sagen können: Er ist einer von uns! Der Mitgliedschaft der Gottheiten im Gemeinwesen entspricht es, daß die soziale Gestalt des Olymps oder des jeweiligen Himmels der Verfassung der irdischen Gesellschaft adäquat ist.

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"In Griechenland und Rom, wo das Königtum früh der Aristokratie unterlag, behauptete sich auch eine aristokratische Verfassung des Religiösen, eine Vielheit gleichberechtigter Götter und eine Hierarchie derselben... in Asien dagegen, wo das Königtum sich viel länger behauptet hat, tendiert die Religionsbildung auf eine monarchische Machtstellung des Gottes. Ja, die bloße Stärke der Stammeseinheit, die bei den alten Arabern das soziale Leben beherrscht, hat in sich den Monotheismus präformiert" (ebd.: 145). Weil "die interindividuellen Formen des sozialen Lebens" (ebd.), zu Inhalten des Glaubens werden, können bestimmte Kulturen bestimmte Glaubensinhalte noch nicht (als Thema der Missionswissenschaften) oder nicht mehr (zur Entchristlichung von Industriegesellschaften) annehmen, wenn eine Mindestentsprechung zwischen ihren Sozialformen und den angebotenen Dogmen nicht besteht. Zu der Sonderstellung der christlichen Religion im Vergleich der verschiedenen Weltreligionen miteinander, trägt der Universalitätsanspruch bei. Er besagt, daß ein Gott geglaubt wird, der nicht Stammesgott oder Volksgott einer begrenzten Population ist, sondern von dem unterstellt wird, daß er für die gesamte Menschheit der ganzen Welt zuständig sei. "Erst der Christengott spannt seine Sphäre über die, die ihn glauben, und die ihn nicht glauben. Von allen Lebensmächten durchbricht er zuerst die Exklusivität der sozialen Gruppe, die bis dahin die gesamten Interessen ihrer Individuen in je einer raum-zeitlichen Einheit zusammenhielt. Deshalb ist es widerspruchsvoll, daß die Beziehung zu ihm indifferent neben der Beziehung anderer Menschen zu anderen Göttern stehen sollte. Dies ist vielmehr eine positive Verletzung des ideellen Anspruchs, den er durch seine absolute Allumfassung erhebt; an andere Götter zu glauben bedeutet: sich gegen ihn aufzulehnen, der ja doch in Wirklichkeit auch der Gott dieses Ungläubigen ist" (ebd.: 162f.). Simmel stellt die Besonderheiten der christlichen Religion als Endpunkt einer langen religionsgeschichtlichen Entwicklung heraus. Dazu gehört die Andeutung der Möglichkeit einer Auflösung von Religion in Individualismus, die sich auch im Spätwerk Max Webers findet. "So mag die soziologisch erwachsene Gottesvorstellung zu einem immer weiteren Umkreis seines Wesens aufwärts fuhren. Sobald dieser Prozeß aber mit dem absoluten Gott des Christentums seinen Endpunkt erreicht hat, schlägt sein Inhalt in das Gegenteil jenes soziologischen Charakters um, an dessen Exklusivität der Gott ursprünglich gebunden war" (ebd.: 164). Simmel bindet den Gottesglauben an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In weitgehender Vorwegnahme der Religionssoziologie Emile Dürkheims war für ihn Mitgliedschaft in der Gruppe identisch mit der Verehrung der gruppenspezifischen Gottheit. Indem jedoch durch die Universalisierung der Gottheit die Gruppenmitgliedschaft theoretisch ausgeweitet wird auf die gesamte lebende Menschheit der ganzen Welt, verflüchtigen sich die Gruppengrenzen und damit die Anschaulichkeit des Gottes als Repräsentant einer konkreten Gruppe.

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Ein anderes Merkmal neben dem Universalitätsanspruch, das Simmel als charakteristisch christlich bezeichnet, ist die ethische Hochbewertung der Askese. Darüber schreibt er schon 1892-93 in seinem zweibändigen Werk zur Ethik (Simmel, 1983). Er versteht unter Askese weniger den negativen Aspekt des sich Enthaltene als vielmehr positiv den einer ethischen Leistung: "Wie wir ein kriegerisches Verdienst dann nicht zugestehen, wenn der Feind schwach und kraftlos war, so [im Text fehlt das Wort 'ein'] sittliches nicht, wenn es keinen Feind zu überwinden gab" (ebd.: 215). Als solchen Feind bezeichnet Simmel die Versuchung. In der Geschichte von der Versuchung Jesu wird dem an seine göttliche Sendung glaubenden Menschen nahegelegt, sich diesseitige Macht und irdische Verehrung zu sichern: "Auch die Buddhisten lassen ihrem Heiland einen Versucher nahen, der ihn von seiner mühseligen Bekehrerlaufbahn in die selige Ruhe des Todes locken will, ein Mythus, den die Gläubigen selbst als bloße Symbolisierung eines inneren Vorgangs in seiner Seele deuten, wie sie denn auch hervorheben, daß die Trennung von seinem Weibe und seinem Sohn, die um seiner Mission willen nötig schien, ein Opfer war, das ihm keineswegs leicht wurde. Von Zarathustra, an dessen Person sich sonst so gut wie keine Mythen knüpfen, wird doch wenigstens diese überliefert, daß vor Beginn seiner Laufbahn Ahriman sich ihm genähert und ihn versucht habe, statt der reinen Lehre Ahuramazdas lieber irdisches Glück und die Herrschaft des Landes zu gewinnen. Und wenn Tertullian den Ruhm Gottes dadurch vermehrt glaubt, daß er sich bei der Schöpfung der Welt gemüht und angestrengt habe, so entspringt dies dem gleichen Gefühl" (ebd.: 215f.). Bei allen Beispielen, die Simmel zur Illustration anfuhrt, geht es übereinstimmend darum, daß die erreichte sittliche Leistung dem betreffenden Asketen keineswegs in den Schoß gefallen ist, sondern daß Schwierigkeiten unterschiedlicher Art zu überwinden waren. Dies ist zunächst noch ein Phänomen, das, wie Simmel schreibt, in den verschiedensten Religionen angetroffen werden kann. Simmel engt nun aber seine Argumentation in Richtung auf das Christentum ein mit dem Gedanken, "daß sich der Wert der positiven sittlichen Tat auch auf ihre so häufige Begleiterscheinung der Aufopferung und des Niederkämpfens entgegenstehender Unsittlichkeit übertragen hat, und daß diese schließlich die Vorstellung des wesentlichen sittlichen Wertes umso eher auf sich ziehen konnte, als es gerade die größten und bemerkenswertesten sittlichen Taten waren, mit denen diese Art und Ursache von Wert in hervorragendem Maße verbunden war" (ebd.: 216). Das spezifisch christliche Askesekonzept gewinnt Gestalt durch die Übertragung einer Bewertung von der positiven Tatsache des Überwindens einer Schwierigkeit auf die - ursprünglich negative - Schwierigkeit selbst: Zunächst sind die Erschwernisse als Behinderungen auf dem Weg zum Vollbringen positiver Taten negativ zu sehen. Da aber ihre

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Überwindung Voraussetzung fur die positive Beurteilung des Erfolges ist, wird so rückwirkend selbst das negative Hindernis positiv umbewertet. Auf der Grundlage dieses Vorgangs leistet - nach Georg Simmeis Meinung - das Christentum etwas Einzigartiges, das allen anderen Religionen fehlt: die Einführung der Askese in diesem spezifischen Sinne. "Das Lebensopfer Christi und die Märtyrerzeit der christlichen Kirche müssen ganz besonders dazu beigetragen haben, solchen Handlungen, zu denen persönliche Ueberwindung, schmerzensvoller Verzicht auf die Reizungen des Lebens gehörte, den höchsten Grad der Anerkennung einzutragen... Es war eine ganz neue Idee, die er [Christus] durch seine Lehre und sein Leben in die Welt setzte, daß das Leiden und die Erniedrigung notwendige Durchgangspunkte für die Gewinnung der höchsten Ziele, ja sogar für die Herstellung der Mittel wären, welche uns subjektiv erst zur Gewinnung dieser Ziele dienen sollen. Das Leiden wurde so die letzte auf Erden erklimmbare Staffel der Leiter, welche zum Höchsten führte" (ebd.: 217). Simmel vergewissert sich der Tragfähigkeit seiner These, daß in dem Askesekonzept eine neue und spezifisch christliche Kulturleistung kreiert wird. Er bringt den Vergleich mit der Stoa der griechischen Antike, auch mit dem Buche Hiob des Alten Testaments und kommt zu dem Ergebnis, daß ein hier zwar schon eingeleiteter Prozeß erst in der christlichen Ethik zu seiner abschließenden Form gelangt: "Der psychologische Prozeß geht dann in derselben Richtung weiter, indem Selbstüberwindung und Schmerz im sittlichen Werte immer höher und schließlich so hoch steigen, daß die positive Handlung, für die die Aufopferung ursprünglich nur Begleiterscheinung war, ganz zurücktritt und die Entsagung und Schmerzzufügung als sittlicher Selbstzweck, als für sich bestehendes Verdienst erscheint; dies ist der Standpunkt der Askese" (ebd.: 218). An seine These von 1892 von der Erstmaligkeit der Hochbewertung asketischen Tuns im christlichen Wertkontext knüpft Simmel Folgerungen für die Alltagsmoral. Er beobachtet, daß Opferbereitschaft dauerndes Engagement hervorbringt und nennt das Beispiel einer Mutter, die zwar große Entsagungen und Opfer für ihr Kind, zumal in dessen frühester Lebensphase, bringen muß, die sich aber gerade dadurch an das Kind besonders intensiv gebunden fühlt. "Je mehr Opfer wir für eine Sache gebracht, ein je größeres Kapital sozusagen wir in sie gesteckt haben, desto größer ist auch unser Interesse an ihr, indem wir unser Persönliches hier hingeben, schmelzen wir uns gewissermaßen in sie ein, negieren die Schranke zwischen uns und ihr" (ebd.: 219). Diese Formulierung ist spiegelbildliche Umkehrung der Argumentation, die in den siebziger Jahren als Aufruf zu emanzipatorischer Selbstverwirklichung bekannt wurde.

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Auf die Passagen aus seiner zweibändigen Ethik von 1892-93 bezieht Simmel sich zwar 1907 in seinem Vortragszyklus über Schopenhauer und Nietzsche (Simmel, 1907) nicht ausdrücklich, aber seine Argumentation steht dort in der Kontinuität des Ethikbuches (Helle, 1986: 103-112). In "Schopenhauer und Nietzsche" schreibt er, daß der Anhänger der Prädestinationslehre Calvins seine Berufsarbeit möglichst gut und tugendhaft ausfuhrt, nicht "weil dies an sich religiös wertvoll sei, sondern nur, weil er darin, daß er es tut, hier schon ein Erkenntnismittel fur seine religiöse Wertbestimmtheit besitze (Simmel, 1907: 202). Er hält es für charakteristisch christlich, daß die Arbeitsethik im Gegensatz steht "gegen alle im engeren Sinne bloß moralische und soziale Idealbildung: nicht in der altruistischen Handlung als solcher, sondern in der Heiligung und Seligkeit der Seele, die deren Innenseite bildet, liegt der abschließende Wert" (ebd.). Nietzsche hält er vor, er habe das charakteristisch Christliche gar nicht verstanden: Die Bewertung der "altruistischen Handlung" habe ihren Anknüpfungspunkt eben nicht bloß in dem Handlungseffekt, sondern in der genannten "Heiligung und Seligkeit der Seele" (ebd.) oder, wie Max Weber später schreiben wird, in dem Gewinn an Charisma, das sie dem Asketen bringt. Angesichts der traditionellen Hochbewertung von Askese und Selbstaufgabe im christlichen Kontext, muß man die Person nach Simmeis Überzeugung allerdings vor dem vollständigen Aufgehen ins Soziale bewahren. Das ist eine Forderung, die er 1908 als zweites Apriori zu der Frage "wie ist Gesellschaft möglich?" formuliert (Simmel, 1908: 36). Die christlichen Kirchen und Gemeinschaften haben besonders intensiv mit der Spannung zwischen Freiheit des Getauften und geforderter Hingabe an die Gemeinschaft gerungen. Vor dem Hintergrund dieser Tradition formuliert Simmel: "Wir begehren, daß die Peripherie unserer Existenz von ihrem Zentrum her und nicht von den äußeren Mächten bestimmt sei, in die sie verflochten ist, und die sich freilich in uns in innerlich eigene Impulse umsetzen; aber dabei fühlen wir oft genug, daß sie doch nicht zugleich aus dem Ich herauswachsen" (Simmel, 1989: 147). Freiheit des einzelnen bedeutet, daß er seine Existenz von seinem Zentrum her bestimmen kann und daß sie nicht den peripheren Einflüssen einer äußeren Macht unterworfen wird: Der Gottheit kann sich ein Mensch als einer machtvollen Gestalt murrend unterordnen, wenn ihre Einflüsse an der Peripherie der Existenz bleiben. In Freiheit angenommene Religion dagegen setzt nach diesem Konzept Simmeis die Hereinnahme der betreffenden Gottheit in die Mitte der eigenen Existenz voraus. Damit nimmt dann das Heilige im Inneren der Person seinen Sitz, ohne freilich seine geglaubte Präsenz im Jenseits verloren zu haben. Simmel konfrontiert die Alternative von Glaube an das Heilige im eigenen Inneren einerseits mit der Unterordnung eines als nur weltlich verstandenen Ich unter das transzendent Heilige

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andererseits so: "Die Würde der individuellen Freiheit, die Kraft oder der Trotz der Selbstverantwortlichkeit, die die vollen Folgen aus der Sünde auf sich nehmen will, kollidiert mit der Entlastung des Ich durch die göttliche Übermacht, mit der Bequemlichkeit oder auch dem ekstatischen Hinschmelzen in das Bewußtsein, ein Glied eines absoluten Ganzen und von seinen Kräften, in seinem Sinne unbedingt getragen und durchströmt zu sein" (ebd.). Im Zentrum seiner Existenz ist der Mensch einmalig und unverwechselbar, und folglich muß alles, was ihn in seinem Innersten anrühren soll, auf seine Individualität zugeschnitten sein. Das gilt auch und gerade für die Weise, auf die das Heilige ins Innere der Person hereingenommen und dort erlebt wird. Nach der Überzeugung Simmeis kann es auch zwischen Tatsachen, deren Existenz eine Religionsgemeinschaft als im Jenseits vorhanden lehrt, und religiösen Erfahrungen, die ein Einzelner macht, keine Spannungen geben: Die als objektiv gegebene Lehre und das subjektiv Erlebte liegen auf unterschiedlichen Ebenen und können daher konfliktfrei nebeneinander bestehen. So gesehen ist es nicht möglich, den Glauben einer Religionsgemeinschaft

dadurch

zu ermitteln, daß man einzelne Mitglieder interviewt und um Auskunft darüber bittet, was jeder einzelne persönlich für wahr hält. Religion läßt sich nach Simmel eben nicht dadurch bestimmen, daß man die Gegenstände aufzählt, die in ihrer Summe Religion ausmachen. Erst sobald eine Person eine andere Person oder einen Gegenstand aus religiöser Sicht anschaut, entsteht das, was Simmel für Religion hält. Die Gottesidee z.B. kann Inhalt entweder frommer Meditation oder intellektueller Reflexion werden. Nur falls die erste der beiden Alternativen zutrifft, ist das Ergebnis religiös. Im zweiten Fall wird zwar der Gegenstand der Religion entnommen, aber die Form des Umgangs damit entfernt ihn gerade aus dem Kontext religiöser Erfahrung. Simmel macht seine Zugangsweise weiter am Beispiel des Gebets um den rechten Glauben deutlich. Aus rationalistischer

Sicht ist es vollkommen widersinnig, um Glauben zu beten.

Dabei wird ja die Existenz eines Gottes, der den Beter hört und ihm helfen kann, schon vorausgesetzt. Entweder glaubt man das also schon, dann braucht man nicht mehr darum zu beten, oder Gott existiert nicht, dann ist das Gebet sinnlos und überflüssig. Simmel argumentiert so jedoch nicht. Glauben ist für ihn die Fähigkeit, die Welt aus der religiösen Perspektive zu sehen, und diese Fähigkeit kann man dadurch einüben und stärken, daß man betet (ebd.: 58). Simmeis Vortrag "Der Konflikt der modernen Kultur" enthält den Hinweis auf die allgemeine Enttäuschung über traditionelle religiöse Formen. Sie veranlaßt den modernen Menschen, sich von vorgeformter Religion ab- und dem Mystizismus zuzuwenden (ebd.: 172). Simmel beobachtet, "daß nicht wenige geistig fortgeschrittene Persönlichkeiten ihre religiösen Be-

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dürfnisse mit der Mystik" (ebd.) befriedigten. Er erkennt eine doppelte Motivation für diesen Zustand, zum einen, daß die objektiven, inhaltlich festgelegten Bildreihen, die das religiöse Leben bis dato bestimmt hatten, nicht mehr ausreichend waren, zum anderen, daß dadurch aber die Sehnsucht des Suchenden nicht etwa ihren Antrieb verlor, sondern nach anderen Zielen und Wegen Ausschau hielt. Hier betritt die Mystik die Bühne der Sinnsuche, denn sie scheint vorerst "die letzte Zuflucht der religiösen Naturen zu sein, die sich noch nicht von jeder transzendenten Formung lösen können, sondern - sozusagen vorläufig - nur von jeder bestimmten, inhaltlich festgelegten" (ebd.). So entwickelt sich eine allgemeine Frömmigkeit, die man, so sie Objekte hat, Glauben nennen muß, die jedoch bei Abwesenheit fester Formen den Lebensprozeß ungeformt dahinfließen läßt. (ebd.: 173). Simmel kritisiert das, weil er in einer Flucht in Formlosigkeit keine Lösung moderner Kulturprobleme sieht.

5. Max Weber In dem aus dem Nachlaß Max Webers 1921-22 herausgegebenen Buch "Wirtschaft und Gesellschaft" (Weber, 1964), das fälschlich als Webers Hauptwerk bezeichnet worden ist, findet man das Kapitel Religionssoziologie. Im Anschluß an ethnologisches und historisches Material legt Weber darin Thesen zur Entwicklung der Religion vor. Theoretisch fruchtbarer und in der Fachdiskussion wirksamer wurde aber seine Theorie zur Entstehung des Kapitalismus aus religiösen Motiven, die er zuerst in seinen berühmten Zeitschriftenartikeln im Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Weber, 1904; Weber; 1905) formuliert hat. In Wirtschaft und Gesellschaft sucht Weber, ähnlich wie Dürkheim, nach Urformen religiösen Handelns. Er meint, daß ursprünglich im Bewußtsein der beteiligten Subjekte keine Unterscheidung zwischen religiös und magisch motiviertem Handeln angetroffen wird. Beides werde als "relativ rationales Handeln" erfahren: "Wie das Quirlen den Funken aus dem Holz, so lockt die 'magische' Mimik des Kundigen den Regen aus dem Himmel" (Weber, 1964: 317). Das religiöse oder magische Handeln oder Denken sei aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns gar nicht auszusondern. Religion und Magie sind für Weber instrumentelle Maßnahmen zum Erreichen innerweltlicher, alltäglicher und nicht selten ökonomischer Ziele. Die Ausdifferenzierung in die Teilbereiche, die wir heute Religion, Magie oder Zauberei nennen, gibt es also unter den ursprünglichen Bedingungen noch nicht. Weber leitet die Entstehung religiösen Bewußtseins aus innerweltlichen Erfahrungen ab: a) Menschliches Gemeinschaftshandeln richtet sich auf diesseitige Alltagsbewältigung, b) Innerhalb solchen Handelns werden Erscheinungen von größerer und von geringerer Alltäglichkeit sichtbar, c) Als außeralltäglich erkannte Kräfte werden Dingen oder Personen zuge-

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schrieben und dann als deren Eigenschaften "Charisma" genannt, d) Unsichtbare Geister gelten als Quelle charismatischer Kräfte: so entsteht der Geisterglaube, der (ähnlich, wie bei Comte beschrieben), zum Glauben an Götter weiter entfaltet werden kann (Weber, 1964: 317f). Weber gesteht aber ein Kontinuum zu, entlang dessen "nach der größeren oder geringeren Alltäglichkeit der Erscheinungen" (ebd.: 317) unterschieden werden kann. Er meint, daß nicht jeder beliebige Stein die Eignung besitze, als Fetisch verwendet zu werden, und daß auch nicht jede beliebige Person in gleicher Weise die Fähigkeit habe, "in Ekstase zu geraten". Darum werden nun doch die "außeralltäglichen Kräfte" unterschieden und mit besonderen Namen versehen. Weber entschließt sich, sie mit dem Namen "Charisma" zu belegen. Über die Entstehung und Entwicklung des Geisterglaubens schreibt Weber: "Gefördert wird sie, wie alle Abstraktion auf diesem Gebiet, am stärksten dadurch, daß die von Menschen besessenen 'magischen' Charismata nur besonders Qualifizierten anhaften, und daß sie dadurch die Unterlage des ältesten aller 'Berufe' wird: des berufsmäßigen Zauberers" (ebd.: 318), in dem Weber anscheinend den Vorläufer des Priesters sieht. Die ungleiche Verteilung des Charismas in der Bevölkerung fuhrt zu sozialer Differenzierung in a) berufsmäßige Zauberer, die die "dauernd charismatisch qualifizierten Menschen" sind und b) Laien, denen das Charisma nur gelegentlich, z.B. anläßlich einer Orgie, zugänglich wird (ebd.: 319 u. 335f). Im Dialog zwischen Völkerkundlern und Soziologen hat sich die Einsicht ergeben, daß die Grundform sozialer Normierung, die an der Schwelle einer jeden Kultur steht, das religiös abgesicherte Tabu ist. Ein Tabu wäre mißverstanden, wollte man meinen, daß kein lebender Mensch den als heilig definierten Bereich berühren darf. Entscheidend ist vielmehr, daß nur wenige Erwählte, also Magier, Priester oder Heilige, Zugang haben, während die große Mehrzahl der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Das Tabu stellt so betrachtet den Ausgangspunkt fur die Errichtung sozialer Normen dar, die durch Bezug auf das Heilige als legitimiert gelten und für die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche soziale Gruppierungen entscheidend sind. Weber sieht als Kriterium der Einteilung die charismatische Qualifikation des einzelnen: Der Magier, Priester oder Zauberer hat dauernd Zugang zum Charisma und ist insofern Repräsentant der Transzendenz im Diesseits, weil er "die spezifisch das Charisma repräsentierende oder vermittelnde Zuständlichkeit" hat: "die Ekstase" (ebd.: 318). Von ihm geschieden ist der Laie, der normalerweise keinen Zugang zum Charisma hat, ihn jedoch in Ausnahmesituationen vorübergehend erlangen kann. Aufgrund des durch soziale Definition garantierten Dauerzugangs zu charismatischen Kräften ist der berufsmäßige Zauberer (Priester) in der

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Lage, Religion als 'Betrieb' zu veranstalten. Dem kontinuierlichen religiösen 'Betrieb' des Zauberers steht die diskontinuierliche Form religiöser Vergemeinschaftung der Laien als "Orgie" gegenüber (ebd.: 336f ). Während also der Zauberer bei Bedarf jederzeit in Ekstase geraten kann, wann immer das von ihm erwartet wird, steht dem Laien nur die Möglichkeit offen, sich in größeren zeitlichen Abständen in Ekstase versetzen zu lassen. Weber schreibt: "Die soziale Form, in der dies geschieht, die Orgie, als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, im Gegensatz zum rationalen Zaubern, ist ein Gelegenheitshandeln gegenüber dem kontinuierlichen 'Betrieb' des Zauberers, der für ihre Leitung unentbehrlich ist" (ebd.: 318). Im Dienst der Herbeiführung von Orgien werden, wie Weber schreibt, alkoholische Getränke, Tabak, Narkotika und "vor allem die Musik" eingesetzt (ebd.: 319). In Webers Formulierung fällt die Gegenüberstellung auf von "rationalem Zaubern" einerseits und "urwüchsiger Form religiöser Vergemeinschaftung" (s.o.) andererseits. Weber hält das orgiastische Element für urwüchsig, obwohl es freilich nicht kontinuierlich auftreten kann, sondern religiöse Erlebnisse in Ausnahmesituationen kennzeichnet. Die kontinuierliche Veranstaltung von Religion setzt Rationalität voraus. Verbetrieblichte und rationalisierte Religion sind für Weber das Ergebnis einer späteren Entwicklung. Viele Interpreten haben Weber unterstellt, das Thema seiner Soziologie sei das der fortlaufenden Rationalisierung im Abendland, und daß er diesen Prozeß affirmativ behandele als etwas, das man begrüßen und ohnehin nicht ändern könne. Tatsächlich durchzieht aber eine skeptische Sicht der Rationalisierung Max Webers Gesammelte(n) Aufsätze zur Religionssoziologie (Weber, 1920, Bd. I u. III; Weber, 1921); denn ihm war der Glaube an den dauerhaften Sieg der sich fortentwickelnden Rationalität früh in seiner Karriere fragwürdig geworden (Küenzlen, 1980: 17). Mit dieser Grundhaltung wendet er sich den asiatischen Weltreligionen zu. In einem unbegreiflichen Aufwand an Energie schreibt Weber in den auf die Protestantismusstudien von 1904 und 1905 folgenden Jahren ausführliche Abhandlungen über a) Konfuzianismus und Taoismus, b) Hinduismus und Buddhismus, und c) das antike Judentum. Man hat vielfach gemeint, es gehe Weber nur darum, die Entstehung des Kapitalismus zu erklären. Die Untersuchungen der anderen Weltreligionen nehmen sich dann als Kontrolluntersuchungen zu den Protestantismusstudien aus, um verständlich zu machen, warum es im asiatischen Raum nicht zur Entstehung des modernen, rationalen Kapitalismus gekommen sei. Tatsächlich hat Weber seine Fragestellung aber erweitert: Das Thema seiner

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religionssoziologischen Untersuchungen war kein geringeres als die Frage nach "der Herkunft und der Zukunft der gegenwärtigen Kultur als dem Gehäuse des modernen Menschen" (ebd.: 18). Nicht für die Ausbreitung, wohl aber für die Entstehung des modernen, rationalen Kapitalismus macht Weber den auf Calvin zurückgehenden Protestantismus verantwortlich. Er sprich von einer religiös motivierten Wirtschaftsethik als vom 'Geist des Kapitalismus'. Weber sieht in dem Puritaner den Träger jenes religiösen Bewußtseins, das als kalvinistischprotestantische Ethik seiner berühmt gewordenen These nach den Anstoß zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsform gegeben hat. Er stellt den Prozeß der Umwertung der traditionell christlichen Einstellung zur Arbeit und zum Reichtum in ein puritanisches Verständnis im Sinne Calvins so dar: "Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott Verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufsaskese liegt bei der puritanischen Berufsidee stets der Nachdruck, nicht, wie bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem einmal von Gott zugemessenen Los" (Weber, 1920, Bd. I: 174f ). Nicht der lutherische Protestantismus also, sondern der kalvinistische schuf die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus aus rastloser Berufsarbeit in Verbindung mit Askese und Investitionsgeio/. Dazu war vor allem eine Überwindung der traditionell christlichen Verdammung des Reichtums wichtig. Solange im Christentum die Meinung vorherrschte, daß Reichtum dem Seelenheil im Wege stehe, weil leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr denn ein Reicher in den Himmel käme, war die Entstehung von rationalem Kapitalismus kaum denkbar. Für den Puritaner dagegen ist "Reichtum...eben nur als Versuchung zu faulem Ausruhen und sündlichem Lebensgenuß bedenklich und das Streben danach nur dann, wenn es geschieht, um später sorglos und lustig leben zu können. Als Ausübung der Berufspflicht aber ist es sittlich nicht nur gestattet, sondern geradezu geboten" (ebd.: 176). So wurde das Streben nach Reichtum durch den Puritaner von einer sündhaften zu einer tugendhaften Neigung uminterpretiert. Zugleich erhält der Ausdruck von der Werkheiligkeit seine Berechtigung: Mit dieser Heiligung der Anhäufung von Produktionsmitteleigentum und rastloser Berufsarbeit, war - so meint Weber - die geistige Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus gegeben. Die Bedingungen seiner Entstehung sind freilich andere als die Bedingungen seiner Durchsetzung. Die Durchsetzung des Kapitalismus ist nicht auf religiöse Motive angewiesen. Weber stellt die Frage, welche spezifische Gestalt sozialer Beziehungen, oder wie wir zu sagen uns angewöhnt haben, welche Sozialstruktur denn dem kapitalistischen Geist entspricht. Bei der Suche nach diesem strukturellen Korrelat gelangt er zu dem Gebildetyp der protestantischen Sekte. Er unterscheidet Kirche und Sekte als zwei voneinander verschie-

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dene Strukturprinzipien der Gesellschaft und zwar so: "'Kirche' als Gnadenanstalt, oder 'Sekte', als Verein der religiös Qualifizierten..." (ebd.: 221). Während die Kirche unter einer hierarchischen Führung alle Menschen erfassen will und dabei in Kauf nimmt, eine Kirche auch der Sünder zu sein, versteht sich die Sekte als eine Elite der Erwählten, die selbst als Gemeinschaft persönlich bekannter Mitglieder die schwere Verantwortung für ihre eigene Reinhaltung trägt. So übt die Sekte eine unerbittlich scharfe Kontrolle über die Lebensführung ihrer Mitglieder aus. Sie treibt den einzelnen Puritaner zu rastloser Berufsarbeit an, denn Arbeit ist der sicherste Schutz vor Sündhaftigkeit, Reichtum aber ist der Erweis, rastlos gearbeitet und also nicht gesündigt zu haben. Dem entspricht die Redensart: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Die von den Puritanern neu geschaffene kalvinistisch-protestantische Ethik bringt demnach außer gewissen, den Kapitalismus begünstigenden Handlungsformen auch die Strukturform der Sekte hervor, die es im Gegensatz zur Kirche möglich macht, zwischen den Sektenmitgliedern als den erwählten Brüdern und den übrigen Menschen als den sündigen Fremden zu unterscheiden. Damit ist durch den Wechsel von Kirche zu Sekte als religiösem Strukturprinzip die Voraussetzung für ein doppeltes Recht entstanden, die Voraussetzung also dafür, daß im Umgang mit den Sektenbrüdern andere Regeln Gültigkeit haben können als für den Umgang mit den Nichtmitgliedern. Das im Deuteronomium, also im 5. Buch Mose des Alten Testaments in Kapitel 23, Vers 21 angedeutete Prinzip der exklusiven Werthaltung, die dem Angehörigen der Gruppe der Erwählten sowohl sein Sendungsbewußtsein als auch seine Bevorrechtigung im wirtschaftlichen Umgang garantiert, ist durch die Sektengestalt des Christentums im Puritanismus wieder möglich geworden. Auf diesen Zusammenhang hat auch Werner Sombart in seinem Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" (Sombart, 1911) hingewiesen. Mit der mosaischen Religion des jüdischen Volkes beschäftigt Max Weber sich innerhalb seiner Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen unter der Überschrift "Das antike Judentum". Sein Interesse an der Wirtschaftsethik verschiedener Kulturen legt es für ihn nahe, die Konfrontation zweier Kulturen zur Zeit des antiken Judentums auch unter dem Gesichtspunkt der Güterproduktion zu sehen. (Weber, 1920 Bd.III: 49ff.) So kommt es, daß er Viehzüchter und Bauern einander gegenüberstellt: "Abraham hält in der Sage außer Schafen auch Kamele und trinkt keinen Wein, sondern bewirtet die drei Männer der göttlichen Epiphanie mit Milch... Jakob gilt zwar, im Gegensatz zu dem Bauern Esau, wesentlich als in Zelten wohnender Viehzüchter, wird aber als ger in Sichern seßhaft und kauft Land" (ebd.: 49). Am Schluß seines Lebens will er als rituell Gemiedener gelten,

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um "ohne Vermischung mit den Ägyptern leben zu können. Er betreibt Ackerbau und bedarf Getreide zur Nahrung. Allen Erzvätern wird Rinderbesitz zugeschrieben" (ebd.). Doch daneben interessiert sich Weber eben für die religiösen Besonderheiten, die mit Ackerbau einerseits oder Viehzucht andererseits einhergehen. Er stellt den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als unbürokratisch dar und schreibt über den Gott der Viehzüchter: "Nachdrücklich weist er sein Volk darauf hin, daß in Israel nicht wie in Aegypten der Ackerertrag durch die Bewässerung bedingt werde - also, heißt das, ein Produkt der bürokratischen Verwaltung des irdischen Königs und der eigenen Arbeit des Bauern sei -, sondern durch den von ihm, Jahwe, nach seiner freien Gnade gespendeten Regen" (ebd.: 139). Zur Religion der seßhaften Landwirtschaft gehört der durch König und Bürokratie wirkende, zum nomadisierenden Viehzüchter der unmittelbar aus den Wolken regierende Gott, der sich auf keinen irdischen Verwaltungsstab zu stützen braucht. Eine weitere Gegenüberstellung entwickelt Weber zwischen dem im Tempel ansässigen Stadt- oder Ortsgott, den sein Verehrer außerhalb dieser einen Stadt nicht antreffen oder verehren konnte einerseits (ebd.: 143), und dem allgegenwärtigen Gott "der halbnomadischen Viehzüchterstämme... Sie wissen recht gut, daß Jahwe auch von nichtisraelitischen Stämmen verehrt wird..." (ebd.: 144). Außerdem ist es für Krieger und Viehzüchter charakteristisch, daß sie ihr Heiligtum mit sich führen, wie im Katholizismus in der Fronleichnamsprozession, wodurch die Unabhängigkeit des Kultes von einem "seßhaften" Stadtheiligtum erreicht wird. Doch die eigentliche Neuerung und bedeutsame Kulturleistung des Abrahamglaubens ist für Max Weber weniger die Universalisierung und Mobilisierung des Heiligen, sondern die Abschaffung des Orgiasmus, auf dessen sexuelle Komponente Weber ausführlich hinweist: "Die Baalkulte, wie die meisten alten Ackerbaukulte, waren und blieben bis zuletzt orgiastisch, und zwar insbesondere alkohol- und sexwa/orgiastisch. Die rituelle Begattung auf dem Acker als homöopathischer Fruchtbarkeitszauber, die alkoholische und orchestische Orgie mit der unvermeidlich sich anschließenden Sexualpromiskuität, abgemildert später zu Opfermahl, Singtanz und Hierodulenprostitution, sind mit voller Sicherheit als ursprüngliche Bestandteile auch der israelitischen Ackerbaukulte nachzuweisen. Die Reste liegen zutage. Der 'Tanz um das goldene Kalb', gegen welchen nach der Tradition Mose, die 'Hurerei', gegen welche die Propheten eifern..." (ebd.: 202).

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An die Stelle der Sexualorgiastik der Bauern, setzen die Patriarchen als Viehzüchter und Hirten das Verbot des Ehebruchs: "Der Ehebruch des Dekalogs war Verletzung der Ehe eines fremden Mannes, nicht der Bruch der eigenen Ehe. Den Geschlechtsverkehr des Mannes außerhalb der Ehe zu verpönen hat erst die spätere nachexilische Zeit begonnen..." (ebd.: 204). Die funktionale Bedeutung dieser Norm ist offenkundig: Es kam den Repräsentanten der mosaischen Kultur darauf an, für die eindeutige Bestimmung von Vaterschaft die biologischen Voraussetzungen zu schaffen. Darum durften die Frauen zum Geschlechtsverkehr nur mit einem einzigen Mann zugelassen werden, der dann im Falle der Schwangerschaft als Vater feststand. Polygynie war, wie die Bibel berichtet, bei den Patriarchen üblich. Sie stand nicht im Gegensatz zum Prinzip der Vaterschaft und der patrilinearen Abstammungsordnung. Dem entsprach die Vererbung des Viehbesitzes in männlicher Linie vom Vater auf den Sohn. Die Durchsetzung der patrilinearen Abstammungsordnung kennzeichnet auch die Kulturen Nordostasiens. Max Weber untersucht als die Religionen Chinas den Konfuzianismus und den Taoismus (Weber, 1920 Bd. I: 276ff.). Wie bei seinen anderen Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen auch, geht es ihm im Falle Chinas um die "praktischen Antriebe zum Handeln" (ebd.: 238). Er geht davon aus, daß neben anderen Faktoren "die religiöse Bestimmtheit der Lebensführung" (ebd.) und besonders die "Einstellung des Menschen zur Welt" (ebd.) das Handeln beeinflussen. Er interessiert sich in dieser Absicht für die dogmatischen Inhalte als das, was religiös für wahr und für wirklich gehalten wurde. Außerdem interessiert er sich für die führenden sozialen Schichten, die durch ihre Überzeugung und ihre Lebensführung der ganzen Bevölkerung die Richtung weisen. Das führt beim Konfuzianismus Chinas zur Bildungsschicht der Literaten und zu der von ihnen entwickelte Standesethik (ebd.: 239). Da man je nach dem Verständnis von Religion den Konfuzianismus dazu rechnen kann oder nicht, - im letzteren Falle erscheint er als ein rein weltliches ethisches System - müssen wir uns Max Webers Kriterium für das Religiöse ansehen: Er gesteht zu, daß der Übergang fließend ist, schreibt aber dann: "Es gibt keinerlei Scheidung von 'religiösen' und 'profanen' Zuständlichkeiten anders als durch die /4«/teralltäglichkeit der ersteren" (ebd.: 250). So gesehen handelt es sich beim Konfuzianismus um eine Religion. Als außeralltäglich betrachtet Max Weber die Gottesidee, aber nicht sie allein. Sie ist in ihrer jeweils spezifischen Form kulturprägend. Weber stellt dem "zürnenden, vergeben-

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den, liebenden, fordernden" (ebd.: 258) Gott der iranischen, vorderasiatischen und okzidentalen Religionen das höchste Wesen Indiens und Chinas gegenüber: Es ist "nur kontemplativ, als Zuständlichkeit, zugänglich(en)" (ebd.). Der Vergleich zwischen dem Okzident, den Weber ja wegen der weitgehenden Rationalisierung der Lebensführung für weltweit einzigartig hält, einerseits, und China speziell oder - wie wir wohl unter Einschluß von Korea und Japan sagen können - Nordostasien andererseits, läuft nun etwa auf das Folgende hinaus: Die Irrationalismen der Gottesidee, die zunächst Zorn, Liebe und andere unzuverlässige und schwer voraussagbare Neigungen bei dem höchsten Wesen einschlossen, mußten aus dem Alltagshandeln zurückgenommen werden können, um ein stabiles Staatswesen religiös abstützen zu können. Sonst könnte jede Form des launenhaften Despotismus mit der Berufung auf eine ähnlich launische Gottheit legitimiert werden. Im Okzident wird dieser Effekt angestrebt und - mit Einschränkungen auch erreicht - durch die Entzauberung des Diesseits und die Verbannung des personal irrational Göttlichen ins Jenseits. In Nordostasien dagegen bleibt das Göttliche im Diesseits anwesend, wird aber als der "Himmel", dessen Sohn der Kaiser dem Glauben nach ist, immer unpersönlicher. Der Kaiser opfert "dem Himmel", doch die empfangende Macht, an die das Opfer sich richtet, ist keine von Emotionen getriebene Gottheit, sie ist das Prinzip von Ordnung und Harmonie. Bei Ordnung und Harmonie handelt es sich nicht um Personen, die geliebt, gefürchtet und denen nachgefolgt werden kann, sondern um Zuständlichkeiten, in die das Diesseits, in die also die Natur ebenso wie der Staat und der darin lebende Mensch versetzt werden sollen. Wenn in Nordostasien die Polarität heilig - profan nicht durch die Unterscheidung von Gegenständen, sondern von Zuständen herbeigeführt wird, ordnet sich auch die Zweiteilung in Diesseits und Jenseits anders als im Okzident. Im Abendland, dessen Tendenz zu fortlaufender Rationalisierung Max Weber kritisch herausarbeitet, wird das Diesseits für den vernünftigen Verstand immer durchsichtiger, weil nach dem Glauben Israels das auserwählte Volk, nach der Prädestinationslehre Calvins der zum Heil vorherbestimmte Puritaner geheiligt, die anderen Menschen dagegen verworfen sind. Es sind also konkrete Personen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel oder ihrer Prädestination das Heiligsein unverlierbar in sich tragen, unabhängig von der Zuständlichkeit, in der sie sich jeweils befinden. Sie können daher kontinuierlich als die Pioniere und Neuerer der Gesellschaft die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben.

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Das nordostasiatische Weltbild kennt ein Diesseits und ein Jenseits, unterschieden als empirische Welt der Alltagserfahrung einerseits und Welt des Außeralltäglichen andererseits. Doch im Diesseits wie im Jenseits kann ein Zustand der Harmonie oder einer der Unordnung herrschen! Das sogenannte Böse - wie der Titel eines Buches von Konrad Lorenz formuliert - ist nicht so leicht lokalisierbar als Merkmal von konkreten Personen und Sachen, es ist ein Zustand, in den die Natur und der Staat geraten können, wenn rituelle Fehler gemacht werden. Das muß man sich bei einem evolutionären Konzept von nordostasiatischer Religion wohl in einer sehr frühen Phase als Glaube an die Harmonie in der Natur vorstellen, die der Jäger durch das Erlegen von Tieren stört. Der Religionsdiener der Lokalgruppe vollzog periodisch das Ritual zur Wiederherstellung von Harmonie und Ordnung, was ein friedliches Einvernehmen mit den Mächten des Jenseits - also auch mit den Geistern der getöteten Tiere und der verstorbenen Menschen - einschloß. Das Anliegen, die Harmonie der Natur nicht zu stören, verhinderte oder hemmte doch mindestens die Entstehung des Kapitalismus. Max Weber meint aufgrund seiner Kenntnis der sinologischen Forschungsergebnisse, die ihm vor einem Menschenalter vorlagen, daß sich die kaiserliche Macht als ein - die zu Streit neigenden Fürsten befriedendes - Ordnungsprinzip herausbildete. Der Kaiser war nicht primär ein Herrscher, der aufgrund seiner überlegenen militärischen Macht die konkurrierenden Regionalfürsten besiegen und unterwerfen konnte. Er war für sie vor allem Garant eines Zustandes des Friedens und der Harmonie, und er garantierte das nicht durch weltliche, d.h. militärische Aktionen, sondern durch rituelles Handeln. So "wurde das Opfer für den Himmel, als dessen 'Sohn' der Kaiser galt, dessen Monopol; die Fürsten opferten den Geistern des Landes und der Ahnen, die Hausväter den Ahnengeistern des Geschlechts" (ebd.: 300). Als Inhaber des rituellen Monopols war der Kaiser von China in religionssoziologischer Sicht dem Papst des Abendlandes vergleichbar. Doch ein solcher Vergleich würde dem Herrscher Chinas als Pontifex und Zelebrant des Reichsrituals wohl eine stärkere Stellung einräumen müssen als der Papst sie je gehabt hat. Der Papst war und ist ja seinem Selbstverständnis nach als Bischof von Rom einer von vielen Bischöfen des Weltkreises, und das Ritual, das er zelebriert, ist im Wesentlichen die Messe, die jeder Pfarrer feiert. Der Kaiser jedoch vollzog einen Ritus, den nur er vollziehen konnte. Er war, wie das chinesische Schriftzeichen für "König" anschaulich macht, der Mittler zwischen Himmel und Erde, der Pontifex im wörtlichen Sinne, jener, der die Brücke zum Himmel baut.

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Die für einen Religionsdiener überaus erhabene Stellung des Kaisers setzte voraus, daß er von den Literaten als einer Schicht religiöser "Virtuosen" umgeben war, die seine einzigartige Bedeutung durch rituelle Affirmation stützten. So wurde sein kaiserlich geformtes Leben dem Bereich des Außeralltäglichen zugerechnet, und der lange Weg durch die vielen Tempeltore bis zu ihm selbst mußte bei dem, der den Kaiser oder auch nur einen seiner hohen Beamten besuchen durfte, den Eindruck einer Jenseitsreise fördern. Das "Verbotensein" der "Verbotenen Stadt", wie die alte Kaiserresidenz in Beijing genannt wird, drückte die tiefe Kluft aus, welche "die Lebenssführung der 'Laien' von jener der Virtuosen-Gemeinschaft" (ebd.: 262) schied. "Die Herrschaft des religiösen Virtuosenstandes innerhalb der religiösen Gemeinschaft glitt dann gern in die Bahnen einer magischen Anthropolatrie: der Virtuose wurde als Heiliger direkt angebetet..." (ebd.: 262). Das gilt nach Max Weber nur für die "kontemplative und die ekstatische Religiosität" (ebd.: 261). Beim Protestantismus und anderen asketischen Religionen dagegen, die ihren Gläubigen nicht die Meditation, sondern die aktive Umgestaltung der Welt zur Aufgabe machen, erfolgte die Entzauberung des Diesseits und damit am Ende auch die des Herrschers, wie das im Okzident typisch ist. Eine der faszinierendsten Erfahrungen, die ich bei Gesprächen in Nordostasien machen durfte, war die mit einigen Kollegen dort geteilte Einsicht, daß Marx, Mao und die Entzauberung des Diesseits für Denkweisen des Westens stehen, die der Kulturtradition Chinas, Koreas und Japans ganz fremd sind. In der Religionsgeschichte Chinas wurden der Himmelsgeist, der Himmelskönig, der Himmel selbst, in der Meditation über sie immer unpersönlicher (ebd.: 300). "In der konfuzianischen Philosophie verschwand die Vorstellung eines persönlichen Gottes, die noch im 11. Jahrhundert Vertreter fand, seit dem 12. Jahrhundert..." (ebd.). Der Weg des Himmelsgottes von einer heiligen Person zu einer Zuständlichkeit der Harmonie, der Ordnung und des Friedens im menschlichen Vorstellen wird bei Max Weber durch den Vergleich mit dem Gott der Israeliten anschaulich gemacht. Dort, bei Jahwe handelt es sich um einen personalen Gott, der "zuerst ein bergsässiger Sturm- und Naturkatastrophengott" war und "der in Gewitter und Wolken den Helden zu Hilfe in den Krieg heranzog..." (ebd.: 301). Da aber sein Volk nicht endlich dank seiner Segnungen durch militärische Erfolge ein Großreich errichten konnte, mußte Jahwe ein "überweltlicher Schicksalslenker werden" (ebd.), der im Diesseits - mindestens zunächst - noch nicht so recht zum Zuge gekommen war.

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Der Himmel dagegen, dem der Kaiser von China opfert, den er und nur er allein rituell verehrt, wölbt sich jahrtausendelang über ein gigantisches Reich aus vielen Völkern. So kann die befriedete Ordnung des kaiserlichen Staates als der zwar immer wieder gefährdete, aber doch grundsätzlich gegebene, ins Diesseits gewendete himmlische Zustand gedeutet werden. Ihr Garant ist der Kaiser. Indem der Himmel die Qualität eines persönlichen Gottes verliert, gewinnt der Kaiser die einer Inkarnation des Göttlichen. Dabei ist das Göttlichsein - im Sinne der schon erarbeiteten Gegenüberstellung - eine Zuständlichkeit, in die ein Mensch eintreten kann, ohne daß er deshalb aufhören müßte, ein Mensch zu sein. Wenn Japan seinen Kaiser spät erst in seiner Geschichte zum Gott erklärt, so war das wohl ein Zugeständnis an westliches Denken, und wenn die U.S.A. als Sieger 1945 den Kaiser zwangen, öffentlich zu erklären, er sei kein Gott, so wurde dadurch vielleicht in der Religionsgeschichte Japans eine Westabweichung durch eine Intervention aus dem Westen korrigiert. Japan mag sich übrigens von China durch die Art unterscheiden, wie militärische Leistung in der jeweiligen Kultur bewertet wurde. Max Weber jedenfalls glaubt schließen zu können, daß die Männerbruderschaft in China sehr früh den militärischen Kampf als Leistungsnachweis ersetzt, und zwar einerseits durch das Studium der Klassiker, also durch Schriftgelehrsamkeit - was ja wohl nicht nur dem japanischen, sondern auch dem abendländischen Krieger eher fern gelegen haben dürfte - und andererseits durch ritualisiertes Kämpfen, z.B. als Bogenschießen (ebd.: 302). Während die Kaiser und Könige des Okzidents gern als oberste Krieger und in Generalsuniform auftraten (und das immer noch tun), vollzog der chinesische Kaiser "den Ritus des Pflügens, er war ein Schutzpatron des Ackerbauers geworden und also längst nicht mehr ein Ritterfürst" (ebd.: 303). Die Heiligung des Ackerbaus rückt China in die Nachbarschaft Ägyptens und Mesopotamiens und bringt es in typologischen Gegensatz zu Judentum und Protestantismus. Doch was hatte der Bauer davon, daß sein Kaiser aus besonderem Anlaß pflügte? War nicht die Außeralltäglichkeit des kaiserlichen Zelebrierens und Regierens die Ursache für eine so gewaltige soziale Distanz, daß die völlige Ohnmacht der Untertanen die Folge war? Nein, denn auch der einfache Laie lebte in dem religiösen Kosmos aus Himmel und Erde und konnte sich über den Kaiser und dessen Beamte beim Himmel beschweren. Max Weber schreibt, daß wie im alten Ägypten und Mesopotamien so auch im kaiserlichen China bei den Regierenden aller Ränge "der Fluch des Bedrückten und Armen besonders gefurchtet war" (ebd.: 303). Im Fluch wurde der Verlust der Harmonie sichtbar! Weber sieht darin "ein ganz

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spezifisches Merkmal bureaukratischer und zugleich pazifistischer Gesinnung" (ebd.), weil Fluch und antizipatorische Angst vor dem Verfluchtwerden mit großer Wahrscheinlichkeit Aufstände und Volkskriege in ihrer Zahl reduzierten (ebd.: 304). Überhaupt führten die religiösen Vorstellungen im kaiserlichen China dazu, daß rechtmäßige Kriege im "Innern nicht mehr möglich" (ebd.) waren. Das zahlenmäßig - gemessen an der Bevölkerung des Riesenreiches - kleine Militär wurde nur gegen äußere Feinde eingesetzt. Auch insofern war das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens ganz und gar un-chinesisch. Harmonie ist in der Perspektive chinesischer Kulturtradition nicht eine Frage des Lebensstils ruhebedürftiger Menschen, sondern ein heiliger Zustand, der in der unpersönlichen Ruhe des Himmels vorgebildet ist. "Die Garantie der Ruhe und inneren Ordnung leistete am besten eine in ihrer Unpersönlichkeit und gerade durch sie als über alles Irdische spezifisch erhaben qualifizierte Macht, welcher Leidenschaft, und vor allem 'Zorn 1 : das wichtigste Attribut Jahwes, fremd bleiben mußte" (ebd.: 305). Die heilige Macht im Jenseits, der Himmel, offenbart sich den einfachen Menschen in China durch das, was ihnen in ihrem Alltag geschieht, also auch durch die Art, wie sie regiert werden! "Gutes Ergehen der Untertanen dokumentierte die himmlische Zufriedenheit, also: das richtige Funktionieren der Ordnungen" (ebd.: 307). Und umgekehrt, Streit und Unordnung im politischen Alltag waren der Beweis, daß den Herrschenden das Charisma fehlte, daß sie sich vom Himmel abgewandt hatten und daher zur Ordnung gerufen oder abgesetzt werden mußten. Der vom Charisma erfüllte Kaiser übte eine Herrschaft über das Schicksal aus, zuweilen auch gegen Götter und Geister, die ihm, dem Kaiser, im Rang unter Umständen gleichoder nachstanden! Nicht nur der Kaiser, auch ein Gott oder Geist konnte versagen. "Noch 1455 hielt ein Kaiser dem Geist des Tsai-Berges eine strafende Rede" (ebd.: 309) und der Kaiser konnte verfügen, daß einem unzuverlässigen Geist "Kulte und Opfer gesperrt" (ebd.) wurden. Andererseits verlieh der Kaiser "den Göttern, die sich bewährt hatten, Anerkennung..." (ebd.). Das nun ist eine religiöse Funktion, für die es im Abendland bei Menschen keine Parallele gibt, außer vielleicht das Privileg des Papstes, Heiligsprechungen vorzunehmen. All dies im Zusammenhang mit seiner rituellen und weltlichen Machtfülle sollte dem Kaiser dazu verhelfen, daß er aus der Sicht seines Volkes Erfolg hatte. "Das magische Charisma des Kaisers mußte sich zwar auch in kriegerischen Erfolgen (oder doch dem Fehlen eklatanter Mißerfolge) vor allem aber in gutem Erntewetter und gutem Stande der inneren

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Ruhe bewähren...: er mußte den rituellen und ethischen Vorschriften der alten klassischen Schriften entsprechend leben" (ebd.: 311). Konnte er nicht erreichen, daß es dem Volk gut ging, "so fehlte ihm eben das Charisma" (ebd.: 312) "Er tat dann... öffentlich Buße für seine Sünden" (ebd.). "Wenn auch das nicht half, hatte er Absetzung, in der Vergangenheit wohl Opferung, zu gewärtigen" (ebd.). Wenn die Chinesen einen ihrer Kaiser abgesetzt haben, war das häufig durch ihre Religion gedeckt. So blieb der Kaiser und Sohn des Himmels Garant himmlischer Harmonie, was ausreichenden Regen und gute Ernteerfolge der Landwirtschaft einschloß. Der Imperativ, die Harmonie der Natur nicht zu stören, steht im kaiserlichen China wie überall der Entwicklung des Kapitalismus im Wege. Die Beziehung zwischen Konfiizianismus und Taoismus ist - wie Weber zeigt - anders als die zwischen Hinduismus und Buddhismus. Zwar waren die Brahmanen in Indien ebenso wie die Mandarine in China stolz "auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt" (Weber, 1921: 147), doch wollten "die chinesischen Literaten" (ebd.), die "eine politische Amtsbürokratie darstellten" (ebd.), nach einer rationalen Ethik leben und "mit magischer Technik nichts zu tun" (ebd.) haben. Solche von ihnen verachteten Künste im Umkreis des Schamanismus überließen sie "vielmehr den taoistischen Zauberern" (ebd.), wie Max Weber die Religionsdiener des Taoismus nennt. Von Indien dagegen berichtete er, daß "die Brahmanen der Herkunft und dem bleibenden Wesen nach Priester, und das heißt: Magier waren" (ebd.). Dem entspricht die rauschhafte Komponente mit dem "orgiastischen Charakter der alten" SchiwaKulte (ebd.: 198) im Kontext des orthodoxen Hinduismus. Davon setzte sich allerdings innerhalb der geistigen Führungsschicht Indiens eine von den Brahmanen verschiedene Gruppe ab: die Anhänger einer "heterodoxen IntellektuellenSoteriologie" (ebd.), die deren nüchternen und asketischen Charakter schätzten. Als eine solche aus dem Hinduismus hervorgegangene und doch gleichsam sektenhaft von ihm abgeschiedene Neustiftung sieht Max Weber den Buddhismus ebenso wie die nur wenig jüngere Bhagavata-Religiosität (ebd.: 191 ff.) um Krischna. Buddhismus und "Heilslehre des Bhagavadgita" (ebd.: 192) sind aus dem Hinduismus hervorgegangen, haben sich jedoch seiner magischen Komponenten entledigt. Insofern also in Indien innerhalb der Literatenschicht danach unterschieden werden muß, ob es sich um Brahmanen, also um orthodoxe Hindus, oder um Buddhisten und Bhagavadgita-Anhänger als Abweichler handelt, wird ein deutlicher Unterschied zum kaiserlichen China sichtbar, weil dort der Konfiizianismus die geistige Führungsschicht weitgehend eint. Bei dem Vergleich zwischen den Religionen Chinas und Indiens zeigt Max Weber (ebd.: 137-141, 144, 147-152), daß die Brahmanen den Hinduismus unter Einschluß seiner magi-

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sehen Komponenten auf der Ebene des Literatenstandes entschieden vertraten (ebd.: 136), während die Mandarine eben Konfuzianer und nicht Taoisten waren. Da er dabei durchweg Brahmanen mit Mandarinen vergleicht, stellt er inhaltlich den Hinduismus (der Brahmanen) dem Konfuzianismus (der Mandarine) gegenüber, während der Buddhismus bei den Vergleichen unberücksichtigt bleibt und gesondert bearbeitet werden muß (ebd.: 217ff). Was Weber über den Buddhismus, seine Formen und seine unterschiedlichen Ausprägungen in Indien, Ceylon, Hinterindien, China, Korea und Japan schreibt, soll hier übergangen werden. Neben dem Buddhismus steht als Abweichung vom orthodoxen Hinduismus die schon erwähnte Lehre des Bhagavadgita. Bei diesem Sanskrittext handelt es sich um ein Lehrgedicht in achtzehn Kapiteln, das literarisch als Teil des Mahabrahata (ebd.: 189) überliefert wird und dessen älteste Schichten wohl bis in das dritte vorchristliche Jahrhundert zurückreichen. Der Titel der Dichtung - Bhagavadgita - kann mit "Gesang des Erhabenen" übersetzt werden. "Aeußerlich ist sie ein unmittelbar vor dem blutigen Kampf der miteinander blutsverwandten Gegner stattfindendes Gespräch zwischen dem Helden Arjuna, dem Bedenken über die Rechtmäßigkeit des Tötens so nahestehender Verwandter in der Schlacht kommen, und seinem Wagenlenker Krischna, der sie ihm mit Erfolg ausredet. Krischna gilt aber dabei dem Dichter bereits als menschliche Inkarnation (avatar) des höchsten göttlichen Wesens, des Bhagavat..." (ebd.: 191). Max Webers Charakterisierung der Dichtung als "Gespräch" ist formal zutreffend, doch der sterbliche Krieger stellt kurze Fragen, auf die dann lange Belehrungen durch den Gott folgen. Der Text erhält daher die Qualität einer SelbstofFenbarung des höchsten Gottes. Er erinnert streckenweise an die großen Dialoge zwischen dem Gott der Israeliten und Mose. Der Krieger, Arjuna tritt mit ergreifender Eindringlichkeit für diesseitigen Frieden ein, doch der Gott des Bhagavat-Gesanges weist auf die Unsterblichkeit der Seele hin und spielt so das Töten im Krieg herunter: So wie ein Mensch ein abgetragenes Gewand ablegt, um ein neues anzuziehen, so wirft die Seele ausgediente Körper von sich und tritt in neue ein (II, 22). Keine Waffe kann die Seele treffen, kein Feuer sie verbrennen, kein Wasser sie ertränken und kein Wind kann sie ausdörren (II, 23). Ebenso, wie die Seele innerhalb des jetzt gelebten Lebens von der Kindheit in die Jugend und endlich in das welke Alter dieses Körpers übergeht, so wird sie auch in einen anderen Körper übergehen (II, 13). Die Verse zur Reinkarnation sollen die Gelassenheit gegenüber der sichtbaren Welt einschärfen. Das Gottesbild des Lehrgedichts ist eher geeignet als die Verse zur Reinkarnationslehre, seinen heterodoxen Charakter zu belegen. Der Held Arjuna fragt als scharfsinniger Theologe, wie Gott Krischna einerseits ein neuer Gott sein und gleichwohl seine Lehre schon seit Anbeginn der Schöpfung predigen konnte. Der Erhabene erklärt, daß er sich mehrfach und

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in unterschiedlicher Weise geoffenbart habe (IV, 5 u. 6). Immer, wenn Tugend und Rechtschaffenheit darniederliegen, manifestiere er sich, um die Bösartigen niederzuwerfen (IV, 8). Auf dem Höhepunkt dieser Selbstoffenbarung stellt Krischna sich dar als der Schöpfergott (IV, 13) und als eine Gottheit, die jeden Menschen annimmt, der sich ihm zuwendet und ihn verehrt (IV, 11). Das stellt diese Heilslehre in die Nähe einer Religion, die sowohl monotheistisch (VII, 5 u. 6) als auch universalistisch ist. Insofern ist der Text des Bhagavadgita gegenüber dem orthodoxen Hinduismus nicht nur eine Abweichung, sondern auch eine Weiterentwicklung.

Thesen zur neueren Religionssoziologie

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III. Thesen zur neueren Religionssoziologie Nach den Erkenntnissen, die die 'Klassiker' des Faches erarbeitet haben, und denen insoweit bleibende Bedeutung zukommt, als ohne sie die Fachgeschichte nicht einsichtig wäre, werden nun ausgewählte Arbeitsergebnisse der neueren Religionssoziologie in Thesenform erwähnt.

1. These: Religiosität ist ein multidimensionales Phänomen. Man kann vier Dimensionen unterscheiden: a) Die Dimension der Erfahrbarkeit, b) die rituelle Dimension, c) die ideologische Dimension und d) die Dimension der Nachfolge (Glock, 1958). Im Anschluß an die Gegenüberstellung von orgiastischer und rationaler Religiosität bei Weber hat die neuere Religionssoziologie eine weitergehende Unterscheidung verschiedener Dimensionen der Religiosität vorgenommen. Es ist das Verdienst des amerikanischen Soziologen Charles Y. Glock (geb. 1919 in New York), der ein Schüler Paul Lazarsfelds ist, verschiedene Dimensionen der Religiosität unterschieden zu haben. Damit konnte er an die Stelle der vorher üblichen eindimensionalen Betrachtungsweise eine anspruchsvollere und differenziertere Forschung auch im Umgang mit Massendaten der empirischen Sozialforschung durchsetzen. Er hat in einer Veröffentlichung von 1958 seine Einteilung in zurerst vier Dimensionen vorgestellt. Später hat er die Zahl der Dimensionen erhöht, doch das bleibt hier unberücksichtigt. a) Dimension der Erfahrbarkeit: Gemeint ist damit der Zugang zu 'Wirklichkeiten', die einem unmittelbaren Erlebnis der Gottesnähe entstammen und in deren Verlauf der Bezug zur Transzendenz dem einzelnen unmittelbar bewußt wird. Anschauliches Beispiel dafür ist die biblische Schilderung des Damaskus-Erlebnisses des Apostels Paulus. b) Rituelle Dimension: Sie soll nicht nur den Ritus des Gottesdienstes bezeichnen, sondern alle Formen religiösen Handelns, die sich zu festen Abläufen objektiviert haben, wie es z.B. in Liturgie, in Gebet, in Schriftlesung, in Kirchgang und in anderen auf die Religion bezogenen Verhaltensformen üblich ist. c) Ideologische Dimension: Das Adjektiv ideologisch ist dabei nicht abwertend gemeint, sondern bezeichnet das, was als religiöses Wissen Inhalt des Denkens der Angehörigen einer

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Thesen zur neueren Religionssoziologie

Religionsgemeinschaft ist, ihre Ideen über Gott und die in Dogmen niedergelegten Lehrmeinungen ihrer Kirche über das Göttliche und den letzten Sinn des Lebens, also all das, was man gemeinhin als den Glauben bezeichnet. d) Dimension der Nachfolge: Damit ist gemeint, was in der seelsorgerischen Literatur auch als die 'Werke' des Gläubigen bezeichnet wird: In den Handlungen des Alltags muß der einzelne Mensch aus seiner Religion die Konsequenz ziehen, selbst wenn er im weltlichen Sektor tätig wird, um sich durch Taten mit Gott und seinem Nächsten in Verbindung zu bringen. Charles Young Glock schärft das Bewußtsein seiner Leser dafür, daß diese vier Dimensionen der Religiosität sich zwar parallel zueinander entwickeln können, daß sie dies aber keineswegs zu tun brauchen. Wenn also die empirische Religionssoziologie einen Rückgang der Bereitschaft der Gläubigen zu regelmäßigem Gottesdienstbesuch feststellt, so braucht dies nach Glock nicht notwendig auch als Rückgang der Religiosität überhaupt gedeutet zu werden. Vielmehr sollte man danach fragen, ob es sich bei diesem Phänomen um eine Verlagerung der Religiosität aus dem Bereich der rituellen Dimension in den Bereich z.B. der Dimension der Erfahrbarkeit oder der Dimension der Nachfolge handelt. 2. These: Als Legitimationssystem hat Religion auf dem Markt der Werte der Wohlstandsgesellschaften keine Chance mehr für monopolistisches Auftreten (Berger und Luckmann, 1963)

Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben in einem gemeinsamen Aufsatz vorgeschlagen, Religionssoziologie mit den Methoden der Wissenssoziologie zu betreiben. Sie beschreiben Religion in der modernen Gesellschaft als Legitimationssystem. Dabei weisen sie zugleich darauf hin, daß religiöses Wissen als legitimierender Entwurf der Zukunft keineswegs mehr ein Monopol innehat: Andere nichtreligiöse Wissensformen konkurrieren mit der Religion um die Wahrnehmung der gleichen Funktion, nämlich Quelle der Legitimation für das Handeln des modernen Menschen zu sein. Solche außerreligiösen Legitimationssysteme sind oder waren Wissenschaft, Psychoanalyse, Kommunismus, Patriotismus und verschiedene außerkirchliche Versionen des Christentums. So hat das kirchliche Angebot institutioneller Religiosität seine Monopolstellung verloren und muß sich auf den "Marktcharakter der Legitimation" mit der dazugehörigen Konkurrenzsituation einstellen. Soziale Normen sind Anforderungen an den einzelnen Menschen, sein Handeln den in den Normen enthaltenen Vorschriften zu unterwerfen und damit Autonomie zu opfern. Solche Unterwerfungsansprüche müssen sich legitimieren können, um nicht als Zumutung empfunden und abgelehnt zu werden. Die Legitimation kann erfolgreich geschehen durch Beantwortung der Sinnfrage, d.h. durch in Beziehung setzen des geforderten Opfers zu einem ein-

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leuchtenden Entwurf der Zukunft. Die erfolgreiche oder erfolglose Beantwortung der Sinnfrage entscheidet fur den einzelnen Menschen darüber, ob er zustimmend oder nur widerwillig oder etwa gar nicht bereit ist, sein persönliches Leben in den übergreifenden Ordnungszusammenhang einer Kultur und Gesellschaft einzubringen. Für den einzelnen, der grundsätzlich bereit ist, sich einem Wertsystem und den dazugehörigen sozialen Gruppierungen, die Träger der entsprechenden Bekenntnisse sind, anzuschließen, stellt sich angesichts der Konkurrenzsituation die Frage, welchen Werten er zustimmen soll. Dadurch gerät die Religion der Christen in modernen Gesellschaften in die genannte, einem Markt vergleichbare Situation, in der ihr Angebot sich auf Konkurrenzangebote einstellen muß. Auf dem Markt miteinander konkurrierender Legitimationssysteme können aber Religionsgemeinschaften um so wirksamer auftreten, je informeller sie dort agieren. Religiosität hat in ihren rituellen und ideologischen Dimensionen nach Glock eine weit geringere Chance, in Konkurrenz mit anderen Legitimationssystemen zu bestehen, als sie das auf den Ebenen der Dimensionen der Erfahrbarkeit und der Nachfolge haben kann. So verbinden sich die Thesen 1 (Glock) und 2 (Berger und Luckmann) zu der Einsicht, daß unter den Bedingungen des wohlstandsgesellschaftlichen Wertepluralismus kirchliche Religiosität in stärkerem Maße informell und charismatisch wirksam werden muß, um sich durchsetzen zu können, als das in vorindustriell christlichen Gesellschaften der Fall war. 3. These: Die Gesellschaft ist auf religiöse Legitimationssysteme nicht mehr angewiesen, da die modernen Wohlstandsgesellschaften außerhalb des religiösen Bewußtseins durch Rationalität hinreichend legitimiert sind (Fenn, 1972). Der amerikanische Sozialphilosoph und Soziologe Daniel Bell hat 1960 ein einflußreiches Buch veröffentlicht mit dem Titel "The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties". Obwohl es darin, wie der Untertitel sagt, um das Ende politischer Ideologie geht, ist doch der Einfluß, der von dieser Arbeit Beils ausging, auch flir die Religionssoziologie wichtig geworden. Beils These läuft auf Folgendes hinaus: Angesichts der Vielfalt von Wertangeboten werden immer mehr Menschen so skeptisch, daß sie sich in die Nüchternheit des Unglaubens zurückziehen, und flir keine unbeweisbare Idee mehr zu begeistern sind. Im Anschluß an Daniel Bell und Thomas Luckmann hat dann Richard K. Fenn 1972 die These vorgetragen, daß kulturweite, ganze Gesellschaften übergreifende Legitimationssysteme nicht nur nicht mehr möglich, sondern auch nicht mehr notwendig seien, da die modernen Wohlstandsgesellschaften von religiösen Legitimationssystemen unabhängig geworden seien.

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Zwar gesteht Fenn zu, daß sich in Teilbereichen der Gesellschaft weiterhin esoterische Ideologien entwickeln und erhalten könnten, er postuliert jedoch zugleich, daß keine von ihnen eine Chance hätte, die Gesellschaft insgesamt zu umfassen. Solche und ähnliche Aussagen in der Wissens- und Religionssoziologie waren dazu angetan, der traditionellen Religion langfristig ihre Wirksamkeit zu bestreiten. Dem ersten gedanklichen Schritt zufolge sei auf dem Markt der Werte kein Platz mehr fur ein monopolistisch auftretendes Christentum. Ihm wurde der zweite Argumentationsschritt angefugt, nach dem alle miteinander konkurrierenden Legitimationssysteme, ganz gleich, ob christlich, marxistisch oder in irgendeiner Form wissenschaftlich, nie wieder die Chance erhalten könnten, mehr zu sein als nur Partialideologie zur Legitimation der begrenzten Interessen einer Teilgruppe der Gesellschaft (Fenn, 1972). 4. These: In dem Maße, in dem sich in den Wohlstandsgesellschaften die Begeisterung für naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt verbraucht, gerät das technischrationale Legitimationssystem in eine durch Transzendenzarmut gekennzeichnete Krise. Daraus entsteht ein neuer Bedarf nach einer übergreifenden religiösen Beantwortung der Sinnfrage (Stauffer, 1973). Im Anschluß an die beiden genannten Denkschritte hat Robert E. Stauffer die Wirksamkeit einer gegenläufigen Tendenz behauptet und als Kritik an Berger und Luckmann und an Fenn die Ansicht vorgetragen, daß die Gesellschaften in Zukunft sehr wohl wieder übergreifenden Sinnsystemen religiöser Herkunft Raum bieten werden. Stauffer hält nämlich deren Meinung fur falsch, daß solche Wertsysteme überflüssig geworden seien. Nach wie vor sei jede Gesellschaft darauf angewiesen, durch eine die ganze Gesellschaft umfassende Wertorientierung die Legitimation der bestehenden Ordnung zu leisten. Die alte, schon von Dürkheim und selbst noch von Luckmann vertretene These, nach der es keine Gesellschaft ohne Religion geben kann, trifft nach StaufFers Ansicht in der spezifischen Weise weiterhin zu, daß lange Zeit die weit verbreitete skeptisch-rationale Kultur vorherrschendes Merkmal der Wohlstandsgesellschaften war. Daran ändere auch die Tatsache nichts, daß schwärmerisch romantisierende Wertpositionen von kleinen Randgruppen vertreten werden. Entscheidend für StaufFers Ansatz ist die Sichtweise, nach der die rationale Kultur nicht etwa, wie Daniel Bell meinte, Religionen, Sozialreligionen und Ideologien jeder Art abgelöst hat, sondern daß ihre Legitimationsgrundlage selbst in den Katalog solcher Ideologien und Wertpositionen hineingehört. Rationalität ist demnach nicht an die Stelle kultureller Legitimation getreten, sondern sie selbst ist der Versuch, kulturelle Legitimation zu leisten. Ein solcher Versuch kann erfolgreich sein, solange er Entwurf einer Zukunft ist. Das aufklärerische 'Glaubenssystem' der Technisierung, der

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Industrialisierung und der Rationalisierung des wirtschaftlichen Wachstums dagegen hat immer weniger die Qualität, Entwurf der Zukunft zu sein, weil es sich in den Wohlstandsgesellschaften in immer weitergehendem Maß selbst verwirklicht hat. Damit verliert es aber zugleich die Chance, die Leidenschaft der Menschheit zu mobilisieren, außer vielleicht in der Form leidenschaftlicher Hingabe an die Erwerbstätigkeit. Die technokratische Komponente der westlichen Kulturen geriet deshalb in eine Legitimationskrise. Im Namen von wirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt ist immer wieder die Unterordnung nicht-rationaler Bedürfnisse unter die technische Vernunft gefordert worden. Die Legitimation fur solche Unterordnung gewann das technokratische System aus dem Glauben an den Fortschritt und an den wachsenden Wohlstand der Menschheit durch Technisierung und Verwissenschaftlichung. Das technokratische System und seine Legitimationen werden aber von der Bevölkerung nur solange akzeptiert, wie dieses System in der Lage ist, seine sozialen Probleme zu lösen, oder solange es doch wenigstens den Eindruck erweckt, daß es seine sozialen Probleme löse. Wenn aber hochtechnisierte Gesellschaften in eine Situation geraten, in der sie sich als langfristig unfähig erweisen, ihre sozialen und ökologischen Probleme einer Lösung zuzuführen, bricht die offene ideologische Auseinandersetzung wieder auf und das Bedürfnis nach neuen legitimierenden Entwürfen der Zukunft wird wieder geweckt. Darin sieht StaufFer die Chance der Religion. 5. These: An der Schwelle zum dritten Jahrtausend wird die Religionssoziologie

untersu-

chen müssen, welche Formen religiösen Denkens und Handelns an die Stelle von Dualismus und Rationalismus treten können und wie durch Rückerinnerung an gesamtmenschliche Werttraditionen die fortwirkenden Individualisierungskräfte

zu einer Verbindung von

Partikularem mit Allgemeinem geführt werden können. Aus der Blickrichtung des 21. Jahrhunderts wird Religion nicht mehr so sehr als Objektbereich, sondern immer mehr als Perspektive (Simmel) wirksam. Als der Astronaut Juri Gagarin von der ersten Erdumkreisung eines Menschen zurückkehrte, verkündete er, keinem Gott im Weltraum begegnet zu sein. Er teilte mit vielen seiner Zeitgenossen das Schicksal, Opfer eines objektivistischen und dualistischen Religionsverständnisses geworden zu sein: Religion und Glaube hingen, wie es schien, von dem Zugang zu bestimmten physischen Gegebenheiten ab, der dem Einzelnen eine Begegnung mit dem Heiligen sichern sollte. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend muß die Religionssoziologie berücksichtigen, daß die Amtsträger der Volkskirchen selbst dazu übergegangen sind, ihre erkenntnistheoretischen Prämissen im Umgang mit dem Glauben zu modifizieren. Michael N. Ebertz (1993) hat Predigten katholischer Pfarrer in Deutschland ausgewertet, die zwischen 1860 und 1990 gehalten wurden. Sein qualitatives Material aus - mit Unterbrechung in den Jahren 1939-

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1950 - mehr als einem Jahrhundert belegt eine konsequente Erosion der bildhaften Präsentsetzung des Jenseits. Die Predigten, die eschatologische Fragen behandeln, beginnen 1860 mit einer klaren und lebendigen Beschreibung von Himmel, Fegefeuer und Hölle. Die Sprache der Priester war so anschaulich, daß sie das Höllenfeuer nahezu bis in die Kirchenbänke bringen konnte. Aber 1970 und 1980 findet Ebertz, daß weniger als ein Fünftel der infragekommenden Predigten die Hölle auch nur erwähnen, und 1990 geschieht das nur noch in einer von zwanzig Predigten (Ebertz, 1993: 92). Selbstverständlich lehren die Pfarrer weiterhin, daß das Leben des Menschen endlich und daß der Tod eine Realität ist, mit der alle konfrontiert sind. Doch im Übergang zu den letzten Jahrzehnten erscheint das Sterben weniger als jenes Ereignis, das den Menschen ins Jenseits befördert (Dualismus), sondern mehr als ein Aspekt des Lebens im Diesseits selbst. Der Tod wird gleichsam immanentisiert als eine Tatsache, die dem Leben eine spezifische Qualität gibt oder doch geben kann (Ebertz, 1993: 97). Die Religionssoziologie wird untersuchen müssen, ob diese Daten in der Tat eine Abwendung vom dualistischen Weltbild signalisieren und, falls dies zutrifft, welche Konsequenzen das haben kann. Ein anderes Problem ist das des Rationalismus. Es war bis zum Beginn des nun auslaufenden 20. Jahrhunderts im Okzident üblich, Gott als den höchsten Mathematiker zu sehen, der Rationalität ist und Rationalität fordert. So konnte Gott in den Naturgesetzen gefunden werden. Das hat Wissenschaft, Technik und Industrialisierung motiviert und, wie Max Weber gezeigt hat, in Europa und Nordamerika den Kapitalismus beflügelt. Doch religiöser Rationalismus stellt sich als ein Bumerang heraus, weil es dem modernen Menschen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schwerer wird, Gott im Bereich der ratio anzutreffen. Vernünftig zu sein ist eine nüchterne und anstrengende Pflicht, der wenig Anlaß zur Religiosität anhaftet. Das gibt der Religionssoziologie der Gegenwart die Chance, Hinwendungen zu nicht-rationalen, emotionsgeladenen und mystischen religiösen Angeboten zu deuten. Endlich wird sich die Religionssoziologie der Aufgabe stellen müssen, ihren Beitrag zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Folgen des immer noch fortwirkenden Individualisierungsschubes zu leisten. Solange Religion als kollektivistisch und autonomiefeindlich erscheint, bedingen Individualisierung und Autonomisierung (Hammond, 1992) eine fortgesetzte Abwendung von Religionsgemeinschaften. Die theoretische Religionssoziologie kann darlegen, daß die Entfaltung des Individuellen ein religiös Gefordertes ist, daß es aber nur als partikulare Verwirklichung des Allgemeinen aussichtsreich sein kann, wie das die folgende Geschichte andeutet: Als Rabbi Meier, von dem Martin Buber und im Anschluß an ihn Simmel berichten, mit seinen Schülern darüber nachdenkt, wie beim Tode des Menschen die Begegnung mit Gott

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vorzustellen sei, sagt der Rabbi: '"Wenn der Herr mich im Jenseits fragen wird: Meir, warum bist du nicht Moses geworden? - so werde ich sagen: Herr, weil ich nur Meir bin. Und wenn er mich weiter fragen wird: Meir, warum bist du nicht Ben Akiba geworden? - so werde ich gleichfalls sagen: Herr, weil ich eben Meir bin. Wenn er aber fragen wird: Meir, warum bist du nicht Meir geworden? - was werde ich da antworten?'" (Simmel, 1989: 155).

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IV. Probleme einer evolutionistischen Religionssoziologie 1. Vorbereitung evolutionistischen Denkens durch Spinoza Als Baruch de Spinoza am 24. November 1632 in Amsterdam geboren wurde, hatte der dreißigjährige Krieg schon vierzehn Jahre lang in Europa gewütet. Dabei wurde um die Durchsetzung der 'wahren Religion' erbittert gekämpft, und ein Mensch dieser Zeit konnte schwerlich das Thema für unwichtig halten. Der Linsenschleifer und Philosoph mit dem spanischen Namen (Spinoza, oder eigentlich Espinoza, das heißt stachelig) hat sein Leben lang in den Niederlanden gelebt, obwohl er wegen seiner Ideen mit der Synagoge seiner Heimatstadt, der er als Jude angehörte, in einen so scharfen Konflikt geriet, daß er 1656 aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Der Magistrat der Stadt Amsterdam verbannte ihn aus Solidarität mit der Synagoge aus der Stadt. Der Grund dafür, daß wir uns mit Spinoza beschäftigen, ist dessen fur das siebzehnte Jahrhundert unglaublich kühne Methode. Spinoza stellt sich einen Gott vor, der um die begrenzte Auffassungsgabe des Menschen sehr wohl weiß, und der es daher den Menschen erlaubt, sich das Heilige nach ihrem zeitbedingten Vermögen vorzustellen. Gott so zu begreifen, wie er tatsächlich ist, bleibt den Menschen völlig verwehrt; denn sie haben keinen Einblick in die transzendente Realität, die eben den Lebenden unzugänglich und damit auch unerkennbar bleibt. Aber das Tun des Menschen im Diesseits bezieht sich darauf und schafft so eine eigene, andere, empirische Realität im Diesseits. Von der diesseitigen Wirklichkeit geht Spinoza in seinem Denken aus. Er unterstellt, daß auch Gott selbst in seinen Dialogen mit den Menschen die diesseitige Wirklichkeit als Anknüpfungspunkt benutzt, um den Menschen nahe zu sein. Wie überraschend - und aus der Sicht traditioneller Theologie auch ärgerlich - die Denkergebnisse sind, die dabei herauskommen, zeigen folgende Beispiele: Das im Glauben der jüdisch-christlichen Tradition überaus heilige Ereignis der Verleihung der Tafeln mit den zehn Geboten von Gott selbst an Mose kommentiert Spinoza so: "Endlich offenbarte sich Gott als vom Himmel auf den Berg herabsteigend, weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne, und Moses stieg ebenfalls auf den Berg, um mit Gott zu reden, was durchaus nicht nötig gewesen wäre, wenn er sich Gott ebenso leicht an jeder anderen Stelle hätte vorstellen können" (Spinoza, 1976: 44). Die entwaffnende Schlichtheit des Zitats besagt, Gott sei dem Mose nur darum auf einem hohen Berg erschienen, weil Mose sich eine Erscheinung Gottes an keinem anderen Ort vorstellen konnte. Auf die Beschränktheit der Glaubensfähigkeit des Mose nahm Gott also

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Rücksicht! Diese Art zu argumentieren hat bei den Zeitgenossen Spinozas überwiegend Entsetzen ausgelöst. Seine Verurteilung als Ketzer beruhte auf einem Mißverständnis: Spinoza bestreitet ja gar nicht, daß Mose auf dem Berge Gott begegnet sei. Nur warum dieses Ereignis auf dem Berg stattgefunden hat, begründet er in durchaus anstößiger Weise so: "weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne". Gott kommt also nicht von sich aus auf den Gipfel des Berges und zitiert dann kraft seiner Allmacht den sterblichen Mose zu sich hinauf, nein. Gott berücksichtigt das Vorstellungsvermögen seines Volkes, und "weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne", ließ Gott sich eben darauf ein, gleichsam auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde dem Mose auf dem Gipfel des Berges zu begegnen. Da es nun einmal Gottes Art ist, wie von Spinoza beschrieben zu den Menschen in Verbindung zu treten, gilt das ebenso für Gottes Umgang mit den Propheten, die er als Offenbarungsträger, also zur Übermittlung wichtiger Botschaften an die Menschen einsetzt. Wieder wird von Spinoza - und nach dessen Überzeugung eben auch von Gott - nicht nur das vorherrschende Vorstellungsvermögen des Volkes von Gott berücksichtigt, sondern sogar das des Einzelnen, der zum Propheten berufen werden soll: "Hinsichtlich des Vorstellungsvermögens war der Unterschied dieser: war der Prophet ein Mann von Geschmack, so faßte er den Sinn Gottes in geschmackvollem Stile auf, unklar aber, wenn er ein unklarer Kopf war. Das gleiche gilt ferner von den Offenbarungen, die durch Bilder geschahen: war der Prophet ein Bauer, so zeigten sich ihm Ochsen, Kühe usw., war er Soldat, dann Heerführer und Heerscharen, war er schließlich Hofmann, dann ein Königsthron und ähnliche Dinge. Endlich war auch die Prophetie verschieden je nach den unterschiedlichen Anschauungen der Propheten: die Magier (s. Matthäus, Kap.2), die an die astrologischen Possen glaubten, erhielten die Offenbarung von der Geburt Christi durch das Gesicht eines im Osten aufgegangenen Sternes" (ebd.: 34f.). Einige Seiten weiter faßt Spinoza seine Überlegungen zusammen: "Die Propheten waren also je nach der Verschiedenheit ihres Temperaments mehr für diese als fur jene Offenbarungen geeignet... All das zeigt, richtig erwogen, daß Gott sich keines besonderen Stils der Rede bedient, sondern daß er lediglich entsprechend der Bildung und der Fähigkeit des Propheten geschmackvoll, bündig, streng, ungebildet, weitschweifig oder dunkel spricht" (ebd.: 36). Daraus mußte sich ein fur Spinozas Zeit unerträglicher Deutungsspielraum fur das Lesen der Heiligen Schrift ergeben: Gott redet gar nicht in seinem eigenen, göttlichen Sprachstil, sondern er bedient sich aus innerer Nähe zu denen, die an ihn glauben, der Sprache, mit der sie jeweils vertraut sind. Dabei bezieht sich 'Sprache' nicht nur auf die Art zu formulieren; die gesamte Metaphorik der Kommunikation wird dem Vorstellungsvermögen der von Gott angesprochenen Person angepaßt!

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Aus diesen und anderen Zitaten ist Spinozas Atheismus herausgelesen worden. Aus der Sicht seiner Kritiker fehlte ihm die Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift, mit der - auch noch aus heutiger Sicht? - nicht so umgegangen werden dürfe, wie er es wagte. Ob aber seine Methode auf Unglaube hinausläuft oder nicht, ist - und das scheint mir wichtig - eine Frage des Gottesbildes. Denkt man von Gott als einem absoluten Herrscher nach dem Muster eines autokratischen Monarchen, dann war dessen Wille autonom und unbeeinflußt durch andere Subjekte von ihm allein konzipiert und in Realität umgesetzt. Der Mensch hat dann nur in seiner Ohnmacht die größtmögliche Annäherung an diese objektive Realität, die Gott allein setzt, zu suchen. Dabei wird der um Glauben ringende Einzelne eine Wirklichkeit, die ganz unabhängig von seinem Denken und Tun aus Gott heraus schon existiert, ergreifen oder verfehlen. Denkt man das graduell, dann müssen aus dieser Sicht verschiedene Religionen und Konfessionen bei dem Versuch, göttliche Realität aufzufinden, als mehr oder weniger gelungene oder gescheiterte Unternehmungen erscheinen. Wenn Spinoza vor dem Hintergrund dieses Gottesbildes schreibt, Mose gehe auf den Berg, weil er nur dort Gott erwartet, und die Propheten reden von Gott in Bildern, die ihnen aus anderen, völlig weltlichen Gründen schon ohnedies vertraut waren, so hört der Anhänger des autokratischen Gottes dies heraus: Spinoza erklärt die Inhalte der Vorstellungen des Menschen für das Heilige und leugnet zugleich Gott. Simmel war ein großer Bewunderer Spinozas. Simmel konnte das Heilige zugleich im Jenseits und in der Person sehen. Spinozas Zeitgenossen konnte das in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht. Andererseits muß ein gläubiger Mensch nicht ein autokratisches Gottesbild haben, schon gar nicht als Christ. Um den Menschen eine bessere Chance zu geben, ihn zu verstehen, hat der Gott der Christen nach einhelliger Lehre aller christlichen Kirchen und Gruppen die Gestalt eines hilflosen Säuglings, eines Kindes, dann eines Jugendlichen und jungen Mannes angenommen bis zur Hinrichtung am Kreuz. Wenn dementsprechend ein verstehender Gott geglaubt wird, der sich auf die Vorstellungsfähigkeit des Menschen dialogisch einläßt, geht Mose zwar auf den Berg, weil er dort Gott erwartet, aber Gott trifft dort auch wirklich mit ihm zusammen, weil er Rücksicht auf das Denken des Mose nimmt. Und die Propheten oder andere Offenbarungsträger sprechen zwar in den Bildern ihrer bisherigen biographischen Erfahrungen, aber durch solche Metaphern hindurch kann sehr wohl Gott selbst sich äußern, gerade weil er sich dialogisch auf den Menschen einläßt! So gesehen sind die Aussagen des Spinoza keineswegs eine Negation Gottes, sie sind allerdings die Negation eines autokratischen Gottesbildes.

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Dieser Deutung der Intentionen des Spinoza entspricht das folgende Zitat: "Hieraus ergibt sich zur Genüge, was ich mir zu zeigen vorgenommen hatte, daß nämlich Gott seine Offenbarungen der Fassungskraft und den Anschauungen der Propheten angepaßt hat und daß die Propheten von Dingen, die sich bloß auf die Spekulation, aber nicht auf die Liebe und die Lebensführung beziehen, nichts zu wissen brauchten und auch tatsächlich nichts gewußt haben und von entgegengesetzten Anschauungen beherrscht waren. Kein Gedanke also, daß man bei ihnen Erkenntnis der natürlichen und geistigen Dinge suchen darf. Ich schließe also, daß wir den Propheten nur das zu glauben verpflichtet sind, was den Zweck und den Kern der Offenbarung ausmacht; in allem übrigen steht es uns frei, zu glauben, was einem jeden beliebt" (ebd.: 46). Keine Frage, daß der Ton der Aussagen des Spinoza provozierend ist. Spinoza arbeitet in anderen Orten der Niederlande, ab 1670 in Den Haag. Er veröffentlicht 1663 eine Abhandlung über die "Principia philosophiae" des Descartes und sieben Jahre später im Jahre 1670 anonym den "Tractatus theologico-politicus", der ihm zunehmende Anfeindungen einträgt. Sein Ruf als genialer Philosoph breitet sich gleichwohl in Europa aus, und die Universität Heidelberg bietet ihm 1673 einen Lehrstuhl fur Philosophie an. Er lehnt diesen ehrenvollen Ruf aber ab, vermutlich weil er eine Ausweitung der Aktionen seiner Gegner furchtet. Sein Hauptwerk, die Ethik, kann er nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlichen. Das Buch erscheint nach seinem Tode im November 1677. Die erste deutsche Übersetzung wird 1744 zugänglich. Die Diskussion um das Werk Spinozas zieht sich durch die Jahrhunderte hin und schließt eine Arbeit von Ferdinand Tönnies ein, mit dem Titel "Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza" (Tönnies, 1883). Im Jahre 1905 erscheint eine neue Übersetzung der Ethik ins Deutsche von Otto Baensch. Baensch beginnt seine Einleitung mit den Worten: "Die Philosophie Spinozas ist die eindrucksvollste Zusammenfassung der Gedanken des siebzehnten Jahrhunderts zu einer Welt- und Lebensanschauung" (Baensch, 1905: IX). Aus der Korrespondenz, die Spinoza gefuhrt hat, weiß man, daß er mindestens seit 1665 an seiner Ethik gearbeitet hat. Ein Jahrzehnt später scheint er das Buch fur abgeschlossen zu halten, denn er beginnt 1675 damit Teile daraus im Freundeskreis vorzulesen. Die Anfeindungen gegen Spinoza kann man sich kaum heftig genug vorstellen. Über die Schwierigkeiten, bei der Veröffentlichung seiner Ethik, ist eine Zustandsbeschreibung von Spinoza selbst überliefert: "Während ich den Druck betreibe, wird überall das Gerücht ausgestreut, ein neues Buch von mir über Gott sei unter der Presse, und ich suche darin zu beweisen, es gebe keinen Gott. Dieses Gerücht fand weite Verbreitung. Daher nahmen gewisse Theologen, vermutlich die Urheber des Gerüchts, Gelegenheit, über mich beim Prinzen von Oranien und den Behörden öffentlich Klage zu erheben. Außerdem hörten einige alberne

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Kartesianer, die im Rufe standen, mir günstig gesinnt zu sein, nicht auf, allenthalben meine Ansichten und Schriften zu schmähen, um jenen Verdacht von sich zu wälzen, und sie hörten noch jetzt damit nicht auf. Als ich dies von einigen vertrauenswürdigen Männern erfahren hatte, die mir zugleich versicherten, daß die Theologen überall gegen mich tätig seien, beschloß ich, die Veröffentlichung, die ich vorbereitete, so lange aufzuschieben, bis ich zu sehen vermöchte, was aus der Sache würde" (ebd.: XXIIf). Spinoza resigniert schließlich und versucht nicht, sein Hauptwerk, wie er selbst es bezeichnet, unter seinem Namen zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Erst nachdem er am 21. Februar 1677 in Den Haag verstorben ist, geben seine Freunde aus dem Nachlaß die Ethik heraus. Das Buch erscheint im November 1677, ohne daß der Name des Verfassers auf dem Titelblatt genannt würde. So hatte Spinoza selbst es gewollt. Von dem in früheren Jahrhunderten vernichtend wirkenden Urteil, eine atheistische Philosophie zu verbreiten, hat sich das Werk Spinozas bis in unsere Tage nicht erholt. Dabei steht heute wohl fest, daß der Vorwurf des Unglaubens auf einem Mißverständnis der Methode beruhte und folglich unbegründet und ungerecht war. Das zeigen die Ausschnitte aus seinem Tractatus theologico-politicus von 1670, der heute als Theologisch-Politischer Traktat bekannt ist. Bei der Bestimmung der Fragestellung und der Methode der Religonssoziologie ist von dem, was Spinoza zu sagen hat, dies wichtig: Die Inhalte der Vorstellungen der Menschen werden mit der Würde eigener Wirklichkeit ausgestattet. Sie sind nicht nur Träume und Schwärmereien einzelner Menschen, nein: sie sind unmittelbar eine Wirklichkeit, eine zumal, auf die nach Spinozas Überzeugung Gott selbst sich einläßt. Sie, die Vorstellungen der Menschen, werden zum Gegenstand der hier vertretenen Religionssoziologie, soweit sie religiös sind. Auch darin können wir uns auf die Vorarbeiten des Spinoza stützen, daß nicht erst das Wirklichkeit zu sein beanspruchen kann, was dinglich geworden ist, was man wiegen, bunt anmalen, verbrennen, hin- und herwerfen, auch einander über den Kopf schlagen kann. Das hängt mit dem alten Gebot des jüdischen Glaubens zusammen, nach dem es dem Menschen verboten ist, sich von Gott ein Bild zu machen. Spinoza schreibt über das dem Mose offenbarte Gesetz: "Es lehrt bloß, daß Gott ist und daß wir an ihn glauben und ihn allein anbeten sollen; und damit die Juden von seiner Verehrung nicht abwichen, lehrt es, daß sie ihm kein Bild andichten noch eines anfertigen sollten. Denn da sie Gottes Bild nicht gesehen hatten, konnten sie auch keines anfertigen, das Gott dargestellt hätte, sondern notwendig nur eines, das ein anderes geschaffenes Ding, das sie gesehen, darstellte. Hätten sie also Gott unter

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jenem Bilde angebetet, so hätten sie ja nicht an Gott, sondern nur an das Ding gedacht, daß jenes Bild darstellte, und sie hätten schließlich diesem Dinge die Ehre und Anbetung dargebracht, die Gott gebührte" (Spinoza, 1976: 19). Im Gegensatz also zu jenen objektivistischen Positionen, nach denen die Dinglichkeit Sitz der Realität ist, sieht Spinoza im Anschluß an das Bilderverbot dort gerade die Verfälschung des höchsten Realen. Das Wahre ist das, was niemand gesehen hat, und niemand soll auch mit dem Anspruch auftreten, das Wahre sichtbar machen zu können. Wenn es es also gleichwohl gibt, dann eben nicht als Ding, sondern als Vorstellung! Und die Ehre, die dem Wahren allein gebührt, darf nicht einem dinglichen Fetisch dargebracht werden. All dies ist, so scheint mir, kein gottloses Denken des Spinoza, sondern die implizite Zurückweisung eines spezifischen Denkens von Gott. Wie man die gegen ihn gerichtete Position nennen soll, ist unwichtig. Ich verwende die Begriffe autokratisches Gottesbild oder objektivistische Denkweise. Lassen wir uns zur weiteren Verdeutlichung des Besonderen an Spinozas Methode im nächsten Absatz noch einmal auf die objektivistische Denkweise ein: Wenn Gott vollendete Tatsachen schafft, um dann nahezu unbeteiligt zuzuschauen, wie der Mensch damit fertig wird, sind die Vorstellungen der Menschen deren subjektives Risiko. Denn der Gedanke, ein Mensch ergreife irgendeine Initiative in seinen Vorstellungen, denke sich also etwas Unerhörtes aus, und Gott lasse sich dann nachträglich dialogisch doch noch darauf ein, wäre aus der Sicht dieser Position ja abwegig. Die Vorstellungen der Menschen wären dann also nicht real, sondern nur der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch, über das Reale nachzudenken, sie wären Phantasien oder Träume. Die Versuche, bestimmte Vorgänge in den Vorstellungen von Personen, von denen die Bibel berichtet, als Träume zu deuten, kennt Spinoza, und er hält das fur abwegig. Spinoza schreibt über einen dramatischen Vorgang in der Vorstellung des David im 1. Buch der Chronik, Kap. 21, wo Gott dem David seinen Zorn durch einen Engel mit einem Schwert in der Hand kundgibt: "Zwar meinen Maimonides und andere, diese Geschichte und in der gleichen Weise auch die anderen, die von Engelserscheinungen berichten, wie jene des Manoah oder des Abraham, wie er seinen Sohn zu opfern glaubte usw., hätten sich nur im Traum zugetragen, es könnte aber niemand mit offenen Augen einen Engel sehen. Das ist aber bloßes Geschwätz, denn es war ihnen nur darum zu tun, die aristotelischen Possen und ihre eigenen Hirngespinste aus der Schrift herauszuholen, ein Unternehmen, das mir im höchsten Grade lächerlich erscheint" (ebd.: 20). Hier wird um das Verständnis von Wirklichkeit gestritten. Man kann der Härte dieser Formulierung entnehmen, daß Spinoza gewiß kein Meister der Diplomatie war. Das Wesen seiner Denkweise ist durch die ausgewählten

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Zitate, die für seine Methode charakteristisch sind, klar genug geworden. Wir können daher nun überlegen, wie der von Spinoza vorbereitete Ansatz in der Religionssoziologie zur Anwendung kommen kann.

2. Evolution der Vorstellungen vom Heiligen Hat Spinoza erst einmal klargemacht, daß Gott dem Menschen entgegenkommt, indem er sich auf dessen Vorstellungsvermögen einläßt, dann ist der Gedanke nicht nur naheliegend, sondern vielleicht sogar zwingend, daß Gott dies zu allen Zeiten und gegenüber

allen Men-

schen getan haben muß. Für die Völker der Kulturen der Steinzeit folgt daraus dies: Ihr Vorstellungsvermögen war durch ihren harten Überlebenskampf in besonderer Weise geprägt, sie waren Jäger und Sammlerinnen und mögen sich Gott in Gestalt des Nahrungstieres vorgestellt haben, das sich ihnen zu essen gab. Wenn nun das Konzept der Evolution auf Gott angewandt würde mit dem Ergebnis, Gott sei ehemals ein Tier gewesen und habe sich allmählich weiterentwickelt, so ist das barer Unsinn. Ein solcher Evolutionismus ist bestenfalls für atheistische Propaganda brauchbar, aber nicht als religionssoziologische Methode. Wenn das, was sich evolutionär verändert, aber nicht die Realität der Objektivisten

ist, son-

dern die Realität Spinozas, also das Bewußtsein, das Denken und Vorstellen der Menschen, dann bietet ein solcher Ansatz vielfältige Möglichkeiten zu religionsoziologischem Arbeiten. Das Arbeiten mit einer so konzipierten verstehend-evolutionistischen

Methode

soll hier ver-

sucht werden. Der Evolutionismus ist ursprünglich eng mit dem Namen Charles Darwin verbunden, und die Beleidigung, die der Mensch dadurch verspürt hat, daß er sich unvorstellbar langsam aus dem Tierreich heraus entwickelt haben soll, hängt dem Darwinismus bis heute als Vorwurf der Gottlosigkeit an. Sodann hat es objektivistische Varianten des Darwinismus in der Sozialphilosophie und frühen Soziologie gegeben, allen voran der Lehrer und Eisenbahningenieur Herbert Spencer (1820-1903), der polnische Rechtsanwalt und spätere Grazer Professor Ludwig Gumplowicz (1838-1909) und der Uhrmachermeister und k.u.k. Offizier Gustav Ratzenhofer (1842-1904). Heute werden als 'Synthetische Evolutionstheorie' oder als 'Neodarwinismus' Entwürfe vorgelegt, in denen durch das zufällige Entstehen genetischer Varianten verbunden mit der Selektion der überlegeneren Alternative die Entwicklung der lebenden Formen erklärt werden soll. Mit alledem hat die hier beabsichtigte Vorgehensweise gar nichts gemeinsam. Keiner der Leser dieser Seiten wird - so hoffe ich zuversichtlich meinen Ansatz einer Evolution der Religion und Kultur mit dem frühen Sozialdarwinismus verwechseln.

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Probleme einer evolutionistischen Religionssoziologie

Die Gefahr, daß sich Vorwürfe, die ungerechter Weise gegen Spinoza gerichtet wurden und immer noch richten, gegen unser Vorgehen in diesem Buch ebenfalls richten werden, wurde schon mit dem Hinweis abgewehrt, daß die Zumutung der graduellen Entwicklung sich nicht auf die Gottheit bezieht, sondern auf die Auffassungsgabe der Menschheit. Und man kann nicht nur hypothetisch unterstellen, sondern wirklich mit aller Kraft hoffen, daß dieser Denkweise ein historischer Prozeß real entspricht: daß sich also wirklich das Vorstellen der Menschen von ihrer Gottheit vervollkommnen möge. Aber die Methode, mit der ich gern arbeiten möchte, ist sogar von der Frage der realen Entsprechung völlig unabhängig. Max Weber verdankt die verstehende Soziologie das Instrument des Idealtyps als gedanklicher Konstruktion. Es handelt sich dabei um ein Werkzeug der Erkenntnisgewinnung, das sich nicht durch den Nachweis rechtfertigen muß, daß ihm etwas in der empirischen Realität entspricht, sondern das sich legitimiert allein durch seine Eignung für die Gewinnung neuer und nützlicher Einsichten. Als ein solches heuristisches Instrumentarium ist das evolutionistische Vorgehen hier gemeint. Nachdem wir also abgewehrt haben 1) die Zumutung, wir könnten eine schrittweise Entwicklung Gottes voraussetzen. 2) die Behauptung, unsere Methode hinge von dem Nachweis ab, daß sich das Vorstellungsvermögen des Menschen in der Geschichte tatsächlich linear entwickelt habe, bleibt uns noch eine dritte Kritik des evolutionistischen Ansatzes zu behandeln, obwohl sie implizit mit dem Hinweis auf den Charakter der heuristischen Konstruktion schon erledigt ist; ich meine 3) den Vorwurf, ein evolutionistisches Vorgehen überlasse es ganz dem Zufall, welchen Weg die Entwicklung nehmen wird. Wir werden - hoffentlich - im Laufe der folgenden Kapitel zeigen können, daß weniger komplexe Stufen religiöser Entwicklung der Grundlegung komplexerer Stufen dienen, daß einfachere Gegebenheiten vorhanden sein müssen, ehe kompliziertere entstehen oder mindestens von der religiösen Tradition aufgenommen werden können, daß nichts verloren geht, daß Wandel die Form der Hineinnahme einer Vorstellung vom Heiligen in einen anspruchsvolleren Kontext hat, daß also insgesamt von der Wirksamkeit blinden Zufalls keine Rede sein kann. Unter heilig verstehen wir - ähnlich wie Max Weber unter Charisma und wie Dürkheim unter dem Sakralen - jene Phänomene, die als höchste Steigerungen des Guten und des Realen erlebt werden und deren Eigenarten sich rationaler Erklärung so völlig entziehen, daß ihnen nur mit Hingebung (Wolff, 1968) begegnet werden kann

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B. Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen I. Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres 1. Auf den Spuren der Religion der Jäger a) Biblische Hinweise auf das Tieropfer Es ist gewiß kein Zufall, daß die von Juden, Christen und Mohammedanern als heilig verehrten Schriften Hinweise auf Tieropfer enthalten. Dem modernen Menschen fällt es oft schwer, darin einen sinnvollen Bestandteil seiner religiösen Überlieferung zu sehen. Versteht z.B. der Christ seine Religion als die geistige Errungenschaft der letzten beiden Jahrtausende, so kann er auf den Gedanken kommen, Überlieferungsschichten, die vor die Geburt Jesu zurückreichen, seien überholt und daher entbehrlich. Das stößt allerdings auf die Schwierigkeit, daß Texte selbst des Neuen Testaments der Bibel auf das antike Judentum zurückgreifen. Daher kommen zu den zweitausend Jahren seit Jesu Geburt mindestens weitere zweitausend hinzu, die seiner Geburt vorausgegangen sind. Weil am Beispiel der Kontinuität zwischen jüdischer und christlicher Religion - aber selbstverständlich nicht nur dort - deutlich wird, wie jeder Religionsstifter gleichsam auf den Schultern seiner Vorgänger steht, argumentieren wir im folgenden mit einer religionssoziologischen Methode, die verschiedene Religionen nicht als zusammenhanglose Alternativen, sondern als evolutionär auseinander, bzw. aus gemeinsamen Urformen hervorgegangen erscheinen läßt. Diese Vorgehensweise soll das folgende Beispiel illustrieren. An dem katholischen Feiertag Fronleichnam wird in vielen Gottesdiensten ein Bibeltext verlesen, der zu unserer religionssoziologischen Fragestellung paßt, nicht nur, weil es sich bei jedem Gottesdienst um Religion handelt, sondern aus einem spezielleren Grunde. Der Text steht im Neuen Testament im Hebräer-Brief im 9. Kapitel, beginnend mit Vers 13: "Denn wenn das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh durch Besprengung die Verunreinigungen heiligt, indem sie die Reinheit des Fleisches bewirkt, um wieviel mehr wird das Blut Christi... unser Gewissen von toten Werken reinigen..." (Jerusalem Bibel, Herder (1968) 1979: 1733. Alle Bibelzitate sind dieser Ausgabe entnommen ). Das Zitat, das ein Alter von knapp zweitausend Jahren hat, konfrontiert seinen Leser oder Zuhörer mit dem Opfer von Böcken und Stieren und zieht - erstaunlicher noch - eine Parallele von dem vergossenen Blut der Opfertiere des alten Volkes Israel zu dem Blut, das bei der Hinrichtung Jesu fließt.

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Der Text aus dem Hebräerbrief spricht zudem von der "Asche einer Kuh" und übernimmt die Darstellung aus dem Buch Numeri, dem vierten der dem Mose zugeschriebenen Bücher des Alten Testaments. Dort steht zu Beginn des 19. Kapitels die Vorschrift: "Sie sollen dir (gemeint ist Mose selbst) eine rote, fehlerlose Kuh bringen, die keine Gebrechen hat und auf die noch kein Joch gekommen ist. Die sollt ihr dem Priester Eleasar übergeben. Dann bringe man sie vor das Lager hinaus und schlachte sie vor seinen Augen. Der Priester Eleasar nehme alsdann mit seinem Finger etwas von ihrem Blute und sprenge siebenmal etwas von ihrem Blute in die Richtung nach der Vorderseite des Offenbarungszeltes. Hierauf verbrenne man die Kuh vor seinen Augen." Die Asche der "roten" Kuh dient dann der Durchführung der Reinigungsrituale, auf die - wie oben zitiert - sich der Text des Hebräerbriefs im Neuen Testament bezieht. Wir finden also nicht nur in Indien, sondern auch bei den alten Israeliten so etwas wie eine heilige Kuh. Nach dem gleichen Grundsatz, nach dem der Hebräerbrief auf den viel älteren Text mit der Vorschrift der Kuhverbrennung hinweist, versuchen wir nach unserer Methode, die im Anschluß an Spinoza erläutert wurde, auf noch weit ältere Quellen als das Alte Testament Bezug zu nehmen. Das hat aber nur Sinn, wenn bei der vielleicht verwirrenden Vielfalt der religionshistorischen Fakten ganz klar bleibt, welches Erkenntnisinteresse wir unverändert durchhalten wollen. Unsere zentrale Fragestellung lautet: Welche Entwicklung hat die Vorstellung der Menschen vom Heiligen genommen? Das folgende Beispiel soll plausibel machen, wie wichtig die hier gewählte Betrachtungsweise auch sein kann, um konkrete Lebensprobleme zu deuten, denen Anhänger einer Religion in der Geschichte ausgesetzt waren. Im antiken Rom zur Zeit der Gründung erster urchristlicher Gemeinden herrschte bei den Gebildeten ein für die damalige Zeit aufgeklärter Geist Vermittelt durch griechische Sklaven, die in Rom als Hauslehrer wirkten, und durch die Rezeption antik griechischer Literatur war ein anspruchsvolles Menschenbild durchgesetzt worden. Dann gerieten die frühen Christen in den Verdacht, weit unter das Niveau des damaligen Verständnisses von Menschenwürde gefallen zu sein, weil sie nicht etwa nur Tieropfer darzubringen schienen, wie das bei den bekannten Religionen üblich war, sondern angeblich ein Menschenopfer feierten. Hinzu kam die ungeheuerliche Unterstellung, sie würden dabei sogar das Fleisch eines Menschen essen, den sie als ihren Gott verehrten. Verhöre von gefangenen Christen zu diesen Vorwürfen waren nicht geeignet, den schrecklichen Verdacht auszuräumen. Sie gaben immerhin zu, den Leib Christi als Kommunion zu sich zu nehmen. Zwar wurde - und wird bis heute - behauptet, es handele sich bei der zum Essen gereichten Speise um das "Lamm Gottes", was wieder auf das wenig problematische Tieropfer hindeutete, jedoch wurde - und

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wird - die gleiche Substanz bei der Darreichung immer auch als Leib Christi bezeichnet. Das Skandalon dieser Aussagen besteht potentiell fort, nur beunruhigt es uns nicht mehr, weil wir es entweder nicht ernst nehmen oder uns an die sprachlichen Formulierungen gewöhnt haben. Eine religionssoziologische Bearbeitung dieser Zusammenhänge kann uns dazu verhelfen, sie wieder als aufregend oder mindestens verblüffend zu erleben und darüberhinaus vielleicht sogar eine Deutung dafür zu finden. b) Die Jägerhypothese Die weite Verbreitung von Tieropfern in der Geschichte aller Religionen läßt den Schluß zu, daß in vielen frühen Kulturen die Überbrückung der Widersprüche des Lebens auch dadurch versucht wurde, daß die Handlung des Jagens, also das fur die Menschen lebenerhaltende Tun der Jäger, geheiligt wurde. Das scheint dadurch erreicht worden zu sein, daß eine Jägerreligion geglaubt wurde, nach deren Lehre das Nahrungstier selbst als eine Gottheit verehrt wurde, die sich ihren Anhängern zu essen gab, um sie vor dem Verhungern zu bewahren. "Manche griechische Mythen setzen andeutend den Gott und sein Opfertier gleich: Zeus verwandelt sich in den Stier, Dionysos in ein Ziegenböckchen" (Burkert, 1972: 90). Zur Erarbeitung des Hintergrundes fur das Szenario der Jägerhypothese müssen wir aber zunächst etwas weiter ausholen. Der Mensch stammt von Primaten ab, (eine Hypothese, die dem Glauben an die Schöpfung nicht im Wege zu stehen brauchte), die in ihrer Nahrungsaufnahme ganz überwiegend Vegetarier in tropischen Regionen waren wie die Affen, die also in aller Regel nicht getötet haben. Die Menschwerdung im Vollsinne, also nicht nur als Thema biologischer Evolution, setzte dann voraus, daß dem Menschen auch unwirtliche Gegenden der Erde zugänglich wurden, in denen das Klima eine vegetarische Lebensweise ausschloß, weil dort weder Bananen noch Orangen gedeihen können. Der Mensch mußte Pflanzennahrung durch Fleischnahrung ersetzen, um sich in diese Gebiete ausbreiten zu können, und dazu mußte er Jäger werden. Die Kulturfähigkeit des Menschen beruht wesentlich auf seinem Können, im Gegenüber - und zwar auch in dem Du, das ein Tier ist - sich selbst wiederzuerkennen. Die Jagdbeute ist der Partner, den man kennt und den man gerade dadurch überlisten und erlegen kann, daß man sich mit ihm identifiziert. Jagdplanung ist der Ursprung symbolischer Kommunikation und damit ein Ausgangspunkt menschlicher Kultur. Die soziale Qualität des Jägers befähigt ihn nicht nur dazu, in der Bande zuverlässig zu kooperieren, sondern sogar in der zu eijagenden Beute sein 'alter ego' zu sehen, in dessen Verhalten er sich durch einfühlendes Verstehen hineindenken kann. Unter Berücksichtigung seiner körperlichen Ausstattung und der simplen steinzeitlichen Waffentechnik hieß das: a) er mußte sich mit dem Nah-

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rungstier identifizieren, um es als Interaktionspartner verstehen, sein Verhalten nachvollziehen und voraussagen und es schließlich stellen und überwinden zu können, und b) er mußte es töten können. In der Verbindung von gleichsam brüderlicher Hinwendung zum Nahrungstier als einem verstehbaren Du (nach a) mit der Entschlossenheit, ihm das Leben zu nehmen (nach b) lag ein furchtbarer emotionaler Konflikt. Der Widerspruch des Lebens, in den der Mensch der Steinzeit von vornherein geriet, hatte diese Form: Einerseits mußte er dem Tier, das er essen wollte, innerlich so nahe kommen, daß es ihm gleichsam ein Bruder oder sonstiger naher Verwandter wurde, andererseits mußte er ihm nicht nur Leid zufügen, er mußte sein Fleisch gewinnen, um selbst dadurch leben zu können. So entstand eine Lebensmystik, die am Leibe anknüpfte: Der eine mußte sein Leben geben, um seinen Leib als Speise anbieten zu können, der andere brauchte den Leib als Nahrung, um davon leben zu können. Die Unversehrtheit des Tierleibes war die Voraussetzung für dessen Leben, die Verwundung und Zerteilung des Tierleibes war die Voraussetzung für das Leben der essenden Menschen. Die frühesten Formen von Religion entstanden im Umkreis dieses erschütternden Widerspruchs, der in seiner Unerträglichkeit nicht stehen bleiben konnte: er mußte religiös aufgehoben werden. Das Nahrungstier wurde aus religiöser Perspektive zum Lebensspender für den Menschen, ohne dabei sein eigenes Leben unwiderruflich zu verlieren: Sein unversehrtes Skelett mußte der Natur zurückgegeben werden, damit es erneut mit Fleisch bekleidet werden konnte - wie eine Pflanze, wenn der Mensch sie behutsam behandelt, nicht stirbt, sondern immer wieder Früchte für ihn trägt. Die Religion der Jäger schuf die Voraussetzung dafür, daß unsere fernen Vorfahren töten konnten, ohne dabei zu Mördern zu werden. Die nachfolgenden Beispiele dienen der Überprüfung dieser These, nach der die älteste Form von Religion die Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres zum Ziel hatte.

2. Religion in der Vor- und Frühgeschichtsforschung a) Funde aus der Zeit des Magdalenien Das Buch Numeri befahl - wie oben beschrieben - den Israeliten im antiken Judentum, eine "fehlerlose Kuh", "auf die noch kein Joch gekommen ist", auszuwählen und zu opfern. Wie weit reicht die Überlieferung in der Religionsgeschichte zurück, die beim Volk Israel in die Form einer schriftlichen Anweisung gegossen wird? Hinweise auf religiöse Jagdrituale aus der späten, also unserer Zeit am nächsten liegenden Endphase der Altsteinzeit entnimmt die Vorgeschichtsforschung archäologischen Funden bei Hamburg: "So wurden nahe den magdalenienzeitlichen Lagerplätzen von Stellmoor und Meiendorf in einem ehemaligen Tümpel

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mehrere jugendliche, weibliche Rentiere von den spätpaläolithischen Jägern versenkt, nachdem man ihnen den Brustkorb geöffnet und mit Steinen beschwert hatte. Das eine Tier zeigt eine Schußwunde am Schulterblatt. Wir müssen also annehmen, daß die Renkühe erlegt, nicht etwa verendet aufgefunden worden waren. Nach ihrem Lebensalter handelt es sich um allerbestes Wildbret, das hier absichtlich... geopfert wurde" (Müller-Karpe, 224f., vgl. auch 140). Der mit Steinen gefüllte Brustkorb erinnert an das Märchen von dem Wolf und den sieben Geißlein, in dem berichtet wird, daß am Schluß dem Wolf Steine in den Leib genäht werden. Bei den Versenkopfern der Jäger der Altsteinzeit wird es sich um eine Frühform religiösen Verhaltens handeln. Die Jägerbande verzichtet auf ein ganz besonders

attraktives

Fleischmahl, indem sie das erjagte Wild dem Jenseits übergab. Hermann Müller-Karpe, auf dessen Deutung wir uns hier stützen, unterscheidet freilich zwischen religiösem Gehalt im engeren Sinne und magischen Praktiken, die er nicht als religiös anerkennen will. Bei den Fleischopfern der Jäger der Altsteinzeit vermutet er, daß es sich überwiegend um Magie handelt. Um diese Position zu stärken, schreibt er: "Sie [diese Meinung] stützt sich darauf, daß Angehörige rezenter Jägervölker auf Befragen über die Bedeutung von Tier- oder Fleisch-Opfern' sich dahingehend äußerten, diese Opfer' würden deponiert, damit daraus neues Jagdwild entstehe" (ebd.: 227). Vor dem Hintergrund unserer These ist die Gegenüberstellung von Religion und Magie (vgl. hier S. 44) hier nicht hilfreich: Angehörige rezenter Jägervölker mögen ähnliche Schwierigkeiten haben, an die Auferstehung eines getöteten Tierkörpers zu glauben, wie viele Christen an die Auferstehung Jesu. Insofern schließen die Aussagen von Angehörigen rezenter Jägerkulturen nicht aus, daß die Versenkopfer ein religiöses Ritual darstellten, welches dem erlegten, aber nicht verzehrten, sondern geopferten Nahrungstier dazu verhelfen sollte, neues Jagdwild nicht magisch, sondern nach religiösem Glauben entstehen zu lassen. Auch der Reinkarnationsglaube hat wohl in alten Vorstellungen der Jägerreligion seine Wurzel. Zentrales Thema war die Überzeugung, daß das Leben beim Töten des Nahrungstieres durch die Jäger nicht zu Ende sein könne. Blieb der Leib, in dem das Tierleben sich fortsetzen sollte, mindestens in Teilen (z.B. den Gebeinen) mit dem Leib identisch, der vor der Tötung gelebt hat, so handelte es sich um ein Auferstehen. Wählte sich die Seele zum Weiterleben jedoch einen neuen, anderen Leib, so handelte es sich um Reinkarnation. Die Verbrennung des toten Leibes entspricht dem Reinkarnationsglauben, die behutsame Bestattung des unversehrten Skeletts dem Auferstehungsglauben. Dazu paßt es auch, daß christliche Kirchen lange Zeit ihren Gläubigen die Leichenverbrennung nicht erlaubt haben.

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Müller-Karpe berichtet übrigens in dem zitierten Text, es habe sich um junge weibliche Tiere gehandelt. Sie nicht zu essen, obschon sie gewiß besonders schmackhafte Fleischnahrung gewesen wären, muß wohl als Hinweis auf ein religiöses Opfer gedeutet werden. Vielleicht glaubten die Jäger von Stellmoor und Meiendorf, durch Versenken im Wasser würden die jungen Tiere in ein neues Leben eingehen, sich dort als Tiermütter fortpflanzen und den Jägern neue Tiere für die zukünftige Jagd zur Welt bringen. Das ist freilich nichts als Spekulation. Aber eine Parallele zwischen vorgeschichtlicher Archäologie und dem Buche Numeri kann darin gesehen werden, daß nicht irgendwelche Tiere als Opfer infrage kamen: Vor rund 10.000 Jahren waren es in der Gegend des heutigen Hamburg junge weibliche Tiere, vor rund 4.000 Jahren mußte es in Israel "eine fehlerlose Kuh" sein, "auf die noch kein Joch gekommen ist". Auch sie war demnach sowohl jung als auch weiblich und "fehlerlos". b) Exkurs: Alter der Menschheit Die Verfasser religionssoziologischer Literatur wenden sich gewöhnlich nicht der Frage zu, wie weit die ältesten Wurzeln menschlicher Kultur zurückreichen, und wie alt folglich die ältesten Schichten religiöser Überlieferung womöglich sind. Um hier jedoch klar zu machen, welche lange Periode in der Geschichte menschlicher Existenz hinter uns liegt, folgen in einem Exkurs aus den Forschungsergebnissen der Vor- und Frühgeschichte einige Fakten dazu. Der aufrechte Gang der Primaten wird seit etwa 4 Mill. Jahren vermutet. Aussagen über diese Zeit berufen sich auf Skelettfunde, die man als Australopithecus bezeichnet hat. Diese früheste Vorform des Menschen hat offenbar in Afrika gelebt. Dem Gehirnvolumen nach hat es sich aber dabei um einen Affen gehandelt. Erst vor etwa 2 Mill. Jahren setzt die allmähliche Vergrößerung des Gehirnvolumen ein, die für menschliche Formen der Existenz die Voraussetzung darstellt. Die Australopithezinen-Funde in Afrika lassen den Schluß zu, daß schon dort erste Steingeräte eingesetzt wurden. Der Übergang von einem Affen, der mit Steinen wirft, zu einem solchen, der den Stein in der Hand behält und damit schlägt, mag als ein Schritt zur Verwendung von Steingeräten gedeutet werden, signalisiert jedoch keineswegs auch schon Kultur im menschlichen Sinne. Dies deshalb nicht, weil das Gehirnvolumen zu gering war und weil der Gesichtsschädel die Fähigkeit zum Sprechen ausschloß. Diese Menschenaffen waren nicht intelligent - und vor allem nicht kultiviert - genug, um den tropischen oder subtropischen Lebensraum zu verlassen. Das Abernten reichlich vorhandener pflanzlicher Nahrung stellte auf dem niedrigen und religionslosen Niveau ihrer Existenz die Voraussetzung fur ihr Überleben dar.

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Parallel zu der frühesten Faustkeiltechnik, die von vor etwa 2,3 Mill. Jahren bis zu vor 700.000 Jahren datiert wird, entwickeln sich dann aber andere Primatenformen. Man hat bei Heidelberg und bei Peking Menschenschädel gefunden, bei denen sich inzwischen das Gehirnvolumen, das bei dem Australopithecus ca. 550 cm^ betragen hatte, auf 970 cm^ vermehrt hat. Hier sprechen die zuständigen Fachwissenschaften nun vom Homo erectus, also einem aufrecht gehenden Primaten, dem man schon den Titel Mensch (homo) zuschreibt. Mit dem Homo erectus beginnt vor etwa 2 Mill. Jahren die einfachste Form der Steinzeit. Der Homo erectus ist aufgrund seines Gehirnvolumens von fast einem Liter potentiell intelligent genug, um zum Jäger zu werden. Er kennt vermutlich frühe Formen einer Religion. Seine kreative Phantasie könnte dann aus dem Lebensalltag heraus so viel Dynamik erzeugen, daß er härtere Klimabedingungen meistern und daher den Bereich der tropischen und subtropischen Regionen verlassen konnte. Das zeigt sich schon daran, daß man seine Skelettreste weit entfernt vom Äquator bei Heidelberg und Peking gefunden hat, während man die des Austrolopithecus nur im tropischen Afrika selbst antraf. Der Homo erectus entwickelt nach den Befunden der Archäologie zur Nahrungssuche die Holzlanze, die er im Feuer zuspitzt, er verschafft sich Kleidung aus Fellen, die er den getöteten Tieren abnimmt und er kultiviert Fähigkeiten zu einer frühesten Form des Wohnungsbaues in Gestalt von Hütten, die mit getrocknetem Fell überdeckt waren. Offenbar konnte er auch Vorratswirtschaft dadurch betreiben, daß er Fleisch trocknete, das dann über längere Zeit hinweg eßbar blieb. Der erste planmäßige Gebrauch des Feuers, der bei dieser Kultur eine große Rolle spielt, wird nach unterschiedlichen Schätzungen auf die Zeit zwischen vor 750.000 und vor 500.000 Jahren datiert. Die verschiedenen vormenschlichen Primatenformen überschneiden sich und lösen einander erst über lange Zeitabschnitte hinweg ab: Man nimmt an, daß der Homo erectus bis vor 200.000 Jahren gelebt hat, ehe er unterging. Bekannter und unserer Zeit näher als der Mensch von Heidelberg und Peking ist der Neandertaler, auf den dann erst der Homo sapiens folgte, der mit uns biologisch identisch war. Zusammenfassend können wir folgende zeitliche Abstände festhalten: Vor 4 Mill. Jahren aufrechter Gang; vor 2,6 - 2,3 Mill. Jahren Verwendung erster vorgefundener (also noch nicht hergestellter) Steingeräte; vor 2 Mill. Jahren Beginn der Großhirnentwicklung; vor ca. 500.000 Jahren Verwendung des Feuers; seit 70.000 Jahren Bestattungen der Toten; seit 40 - 30.000 Jahren erste Bilder als Höhlenmalerei.

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Wann man angesichts dieser Zeitangaben die Entstehung von Religion vermuten sollte, ist dem spekulativen Denken jedes einzelnen überlassen. Religiöse Vorstellungen müssen aber wohl spätestens seit Beginn der Totenbestattung vorausgesetzt werden. Eine der ältesten bisher bekannten Steinzeitsiedlurigen ist bei Nizza in Südfrankreich an der Mittelmehrküste entdeckt worden. Das Gebiet heißt Terra Amata. Dort standen ovale Hütten von 1 5 x 6 Meter Größe mit einer Feuerstelle. Die Siedlung war aber jeweils nur im Spätfrühjahr bewohnt, woraus geschlossen wird, daß die dort zeitweilig ansässigen Steinzeitjäger hinter dem Wild hergezogen sind. An der Lagerstätte fand man abgeschlagene Steine aus einer Formation von etwa 48 km Entfernung. Die Gruppe legte auf ihren Wanderungen also mindestens 50 km zurück. Die maximale Gruppengröße wird auf 20-30 Personen geschätzt. Die klimatischen Verhältnisse müssen so gewesen sein, daß ein Überleben nur möglich war, wenn ganz überwiegend Fleischnahrung zur Verfügung stand. Aus dem Alter der gefundenen Skelette errechnet man, daß der erwachsen gewordene Mensch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 25 Jahren hatte. Etwa 40% der gefundenen Skelette waren Kinderskelette, was auf die hohe Sterblichkeit von Kindern schließen läßt. Die Bevölkerungsdichte muß extrem gering gewesen sein: Man schätzt, daß vor etwa 300.000 Jahren in ganz Süd- und Osteuropa etwa 100.000 bis 200.000 Menschen gelebt haben, und daß dann vor 30.000 Jahren die Bevölkerung derselben Region auf eine halbe bis eine Millionen Menschen angewachsen war. Bedenkt man angesichts dieser gewaltigen Zeitabschnitte, daß die ältesten Funde, die auf Ackerbaukultur hinweisen, nur etwa 6500 Jahre alt sind, so ergibt sich, daß die menschliche Kultur in ihrer zeitlichen Erstreckung so gut wie völlig mit der einen oder anderen Form der Jäger- und Sammlerkultur identisch ist. Irenäus Eibl-Eibesfeld hat, wie andere, darauf hingewiesen, daß "die Menschen als Jäger und Sammler in kleinen Verbänden lebten. Diese Zeitspanne macht etwa 98 Prozent unserer Menschheitsgeschichte aus" (MUT-Nr. 320, April 1994, S. 40-50). Die Zeit seit dem Übergang zum Ackerbau, also etwa die letzten sechseinhalbtausend Jahre, ist sehr kurz verglichen mit den mehr als 60.000 Jahren der Steinzeit, die als Zeit der Jäger und Sammler gilt. Der Mensch hat aus dieser Sicht fast nur in der Steinzeit existiert. Bis in die jüngste Vergangenheit lebten Menschen in nur wenig entwickelten Formen der Kultur als Naturvölker, wie z.B. Ureinwohnern Australiens, deren Religion Dürkheim für die Elementarform jeder Religion hielt (Dürkheim, 1912). Der dramatische Klimawechsel am Ende der letzten Eiszeit reichte aus, um das Ende der Jäger- und Sammlerkultur herbeizufuhren: Die Temperaturzunahme bewirkte innerhalb weniger Jahrtausende eine rasche Ausbreitung der Bewaldung in ganz Europa. Die überwiegend dichten Lindenwälder ließen kaum Sonnenlicht durch das Laub hindurch, so daß auf der Erdoberfläche nicht mehr genügend Pflanzen

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(insbesondere Gras) für pflanzenfressende Tiere zur Verfugung standen. Infolgedessen starb das Großwild aus, das die Menschen bis dahin gejagt hatten. Die Kenntnis dieser Veränderungen reicht aus, um den Untergang der Jäger- und Sammlerkultur in Europa zu erklären, sie reicht nicht aus, um die Entstehung von Agrarkulturen plausibel zu machen. Dafür müssen kulturwissenschaftliche und insbesondere religionsgeschichtliche Erklärungsansätze zu Hilfe genommen werden.

3. Das Tieropfer bei rezenten Jägern a) Kontinuität und Wandel der Religion der Jäger Wir nehmen für die Steinzeit einen religiösen Kult an, der der Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres diente. Zur Illustration haben wir die Versenkopfer erwähnt, die durch archäologisch verwertbare Funde belegt sind. Müller-Karpe zieht zur Deutung solcher frühen Opferfunde Information über rezente Jägerkulturen heran und meint, daß es sich bei den Fleischopfern der Jäger des Paläolithikums um eine Form des Zaubers handele, mit dem verhindert werden solle, daß eines Tages nicht mehr genug jagbares Wild verfügbar sein würde. Die Verwendung von Erkenntnissen aus der Völkerkunde über rezente Jägerkulturen zur Deutung von Funden aus der Altsteinzeit ist problematisch. Die bis in unsere Tage fortbestehenden Jäger- und Sammlerkulturen haben ihre eigene Geschichte, und es kann nicht ohne Bedenken vermutet werden, daß sie heute so leben, wie die Menschen der Steinzeit gelebt haben. Diese Vorbehalte müssen berücksichtigt werden, wenn wir in den rezenten Kulturen der Jäger die Form untersuchen, die die Vorstellung vom Heiligen dort angenommen hat. Wir vergleichen sie mit den Kenntnissen und Hypothesen über die Steinzeitkultur, weil die Steinzeit - trotz der erwähnten methodischen Probleme - die Zeit der Jäger und Sammlerinnen war. Für die Annahme von der weiten Verbreitung und langen Dauer einer durch die ganze Steinzeit hindurch praktizierten Jägerreligion spricht das Vorhandensein bestimmter überall in Variation wiederkehrender Praktiken im Umkreis religiöser Tieropfer. Dabei fällt die Bedeutung des Skeletts oder von Teilen des Skeletts auf. Die Kulturen, von deren Opferritual verläßliche Berichte vorliegen, sind durchweg längst nicht mehr Jäger und Sammler. Viele sind seit vielen Generationen Viehzüchter geworden, tradieren aber - wie offenbar die Israeliten im Buche Numeri - religiöse Bräuche weiter, die aus der langen Vorgeschichte der betreffenden Kultur stammen müssen, speziell aus einer Zeit, als die fernen Vorfahren noch Angehörige einer Jägerkultur waren.

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b) Behandlung des Skeletts beim Opfermahl Die Beispiele des steinzeitlichen Versenkopfos

und des altisraelitischen Kuhopfers durch

Verbrennen sind ungeeignet, will man Erkenntnisse darüber zu gewinnen, daß in vielen Kulturen das Fleisch des Opfertieres mindestens teilweise auch als Opfermahl gegessen wurde: "Der Ritus dieses Opfermahls ist nach den einzelnen Völkern und Stämmen sehr verschieden. Bei den Südaltaiern besteht die Vorschrift, daß das Opferfleisch ganz aufgegessen werden muß von den Anwesenden; die von dem anhaftenden Fleisch befreiten Knochen werden gesammelt, auf Birkenreiser gelegt und mit Birkenzweigen und Blättern bedeckt, auf einem Gerüst dargebracht" (Vorbichler, 1956: 46). Auch in einem anderen Zusammenhang erfahren wir von der "Aufbahrung" des Skeletts auf einem Gerüst, wobei der Eindruck entstehen kann, die Leibteile würden so arrangiert, daß eine Auferstehung erleichtert oder gesichert werden kann: "Bei der zweiten Form der Darbringung aber bleiben Kopf, Langknochen und die vier Extremitätsknochen mit der Haut verbunden; diese wird an eine lange Stange, gleichsam als Rückgrat, gesteckt und das Ganze auf einem Holzgerüst, nach Osten gerichtet, aufgestellt" (ebd.: 45f ). "Es handelt sich dabei um das Opfer 'eines von ihm (dem Opferer) getöteten Elenderes'. Und bei diesem Opfer wurden die Knochen herausgenommen und sorgfältig darauf geachtet, daß keiner zerbrochen wurde. Später wurden diese dann an einem sicheren Platz auf einem Baum aufgehängt, daß kein Hund oder Wolf daran gelangen konnte. Die Aufbewahrung der Knochen ist also nur eine zur Vervollkommnung dieses Opferritus gehörende Zeremonie; das Opfer selbst aber bestand in der Darbringung des Elentieres selbst, welche freilich nicht näher beschrieben ist. Als dann am folgenden Tag der Opferer wieder ein Elentier schoß, da sagte der Medizinmann zu ihm: 'Du siehst, mein Sohn, wie deine Güte belohnt worden ist; du gabst das erste, was du tötetest, dem Geist; er wird Sorge tragen, daß du nicht Mangel leidest.'" (ebd.: 106f.). Vorbichler, dem wir diesen und die folgenden Angaben verdanken, stammt aus der Schule des Steyler Missionars Pater Wilhelm Schmidt SVD, dessen Hauptwerk 'Der Ursprung der Gottesidee' (abgekürzt als UdG) Vorbichler häufig zitiert. "Bei den Montagnais

wird ein

solches Opfer vom erlegten Bären, aber auch von anderen Wildtieren dem Wildgeist dargebracht (UdG II, 461). Und zwar wird zu Ehren des 'Weißen Geistes' bei der Tötung des ersten Bären im Frühling eine Zeremonie gehalten, wobei der ausgestopfte Körper des Bären in der Mitte liegt. Später werden dann Schädel und Knochen des Bären auf Pfählen befestigt, wie das auch bei anderen Wildtieren geschieht. Also auch hier bildet die Darbietung der Knochen nur gleichsam den Abschluß des Kultaktes, bei dem der ganze Bär, ausgestopft, also scheinbar lebend, in der Mitte liegt" (Vorbichler, 1956: 105f.). "Dann schließt sich ein

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Festmahl an, in dem das dafür bestimmte Festtier in lauter gleiche Teile geteilt wird, entsprechend der Zahl der Opferteilnehmer. Jeder soll dann seine Portion möglichst schnell verzehren. Hierauf müssen alle Knochen säuberlich gesammelt und ins Feuer geworfen werden, oder in fließendes Wasser, so daß die Hunde nicht herankommen" (ebd.: 108). Die in den Berichten mitgelieferten Erklärungen, z.B. "so daß die Hunde nicht herankommen" oder "daß kein Hund oder Wolf daran gelangen konnte" bleiben an der Oberfläche des Phänomens. Mit dem Skelett wird ein bedeutsamer Teil des ursprünglichen Körpers feierlich vor der Zerstörung bewahrt in der Erwartung, der unversehrte Zusammenhang der Knochen könne und werde sich erneut mit Fleisch bekleiden und so gleichsam auferstehen. Das dürfte der religiöse Ursprung des rituellen Tuns gewesen sein, selbst wenn der in der Überlieferung nicht unbeschädigt tradiert werden konnte. Das Fleisch ist es ja auch, was die Jäger brauchen, um zu überleben. Wenn die Jägerreligion daher als Sitz des Lebens beim Tier nicht Fleisch und Blut sondern das Skelett definiert, kann dem Tier das Fleisch genommen werden, ohne daß ihm das Leben genommen werden müßte. Der Jäger gewinnt, was er zum Leben braucht und läßt doch dem Tier, was es zur Auferstehung braucht: sein Skelett. "In der Betonung der Knochen lebt die alte jägerische Glaubenswelt weiter, die den Knochen, bzw. im Gesamtskelett eine das Fleisch überdauernde Lebenskraft konzentriert sieht und die zauberische Wiederbelebung der Jagdtiere evtl. von dem Vorhandensein dieses Skeletts überhaupt abhängig macht" (Findeisen und Gehrts, 1983: 77). Findeisen nennt die Vorstellung "zauberisch", will sich also wie Müller-Karpe damit auf magische Konzepte beziehen; das Modell des Auferstehungsglaubens wendete er nicht an. In seinem grundlegenden Werk über den Schamanismus berichtet Mircea Eliade von einer Geschichte aus der Edda, einer alten Handschrift, in der isländische und skandinavische Traditionen festgehalten sind. Darin geht es um die Ziegen des Gottes Thor. Auf einer Reise macht der Gott mit seinem Wagen und seinen Ziegenböcken bei einem Bauern Rast. Am Abend schlachtet der Gott seine Böcke, bewirtet seine Gastgeber mit deren Fleisch und ißt selbst auch davon. Die Felle der Tiere legt Thor etwas abseits vom Feuer nieder und fordert den Bauern und dessen Diener auf, die Knochen auf die Felle zu werfen. Ein Sohn des Bauern nimmt jedoch einen Oberschenkelknochen und öffnet ihn mit einem Messer, um das Mark herauszunehmen. Der Gott will die Nacht dort verbringen, doch vor Sonnenaufgang steht er auf, kleidet sich an, schwingt seinen Hammer, ruft seine Ziegenböcke, und sofort erheben sich beide, um ihm zu folgen. Der eine Bock, dessen Oberschenkelknochen der Sohn des Bauern geöffnet hatte, lahmt jedoch (Eliade, 1956: 162). Die Geschichte zeigt, daß sich auch im Bereich alt-germanischer Kulturen die Vorstellung von der Unverletzbarkeit des Skeletts erhalten hat.

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Philip Drucker hat bei den Indianern der Nordwestküste der U.S.A. beobachtet, daß dort der Lachs als wichtiges Nahrungstier religiös verehrt wird. (Drucker, 1955). So sehr die Stämme dieser Region sich in anderen Einzelheiten ihrer Kulturen auch unterscheiden, sie glauben übereinstimmend an die Lachsgeister, die in Menschengestalt in einem großen Haus im Meer leben. Für die alljährliche Lachswanderung nehmen sie Fischgestalt an und beginnen stromaufwärts zu schwimmen, um sich den Menschen zu essen zu geben. Die ersten Fische, die gesichtet werden, lösen ein Begrüßungsritual aus. Es ist so kompliziert, daß nur der Medizinmann es ausführen kann. Drucker sieht hier den Anlaß für die Herausbildung einer Priestergruppe. Der erste große Lachs wird mit dem Zeremoniell begrüßt, das für den Besuch des Häuptlings eines befreundeten Stammes vorgesehen ist. Von allen verspeisten Lachsen müssen die Gräten ins Meer zurückgeworfen werden. Das ist die Voraussetzung dafür, daß sich aus dem abgegessenen Fischskelett der jeweilige Fischgeist regenerieren kann. Werden die Gräten nicht vollständig dem Meer übergeben, so kehrt der betroffene Lachsgeist verkrüppelt mit z.B. nur einem Arm oder Bein in das große unterseeische Haus zurück. Das löst die Verärgerung aller Fischgeister aus, die davon erfahren, und im darauffolgenden Jahr wird ihre Gruppe die Menschen dadurch bestrafen, daß sie nicht an der Lachswanderung teilnimmt, sich ihnen also nicht zu essen gibt (ebd.: 141).

4. Spuren der Urreligion in der antik-griechischen Kultur a) Religiöse Konservierung der Tiertötung In seinem Buch "Homo Necans" zeigt Walter Burkert, daß bis in die Opferriten der antikgriechischen Hochkultur hinein die uralte Tradition der Heiligung der Jagd und des "ewigen Lebens", das dem Nahrungstier nicht genommen werden kann, präsent bleibt. Es handelt sich selbstverständlich längst nicht mehr um eine Jägerkultur, sondern um eine Agrarkultur; aber immer noch - wie zur Zeit der Jägerkultur - kommt das Töten des Nahrungstieres auch in der Form einer heiligen Handlung vor. Zu Beginn seiner Untersuchung des "altgriechischen Opferritus" (Burkert, 1972). stellt Burkert fest: "Die Religion der alten Griechen ist weder durch Alter noch durch Reichtum der Zeugnisse besonders ausgezeichnet. An Alter steht sie hinter ägyptischen und sumerischen Überlieferungen weit zurück,.." (ebd.: 4). Aber besonders deutlich sind die Spuren der steinzeitlichen Urkultur gerade bei den Griechen: In der altgriechischen Religion allein findet sich eine ungebrochene Tradition ältester Zeiten inmitten einer aufs höchste verfeinerten, an Niveau damals unübertroffenen geistigkünstlerischen Kultur.

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Burkert beschreibt den typischen Verlauf eines Tieropfers: "Vom Hergang eines 'normalen' griechischen Opfers fur die olympischen Götter können wir uns, vor allem dank den Schilderungen durch Homer und die Tragödie, ein recht vollständiges Bild machen. Ein verwickelter Weg fuhrt hin zum Zentrum des Heiligen. Baden und das Anlegen reiner Kleider, Schmückung und Bekränzung gehören zur Vorbereitung, oft auch sexuelle Abstinenz. Zu Beginn bildet sich eine wenn auch noch so kleine Prozession (die griechischen Begriffe werden in diesem Zitat fortgelassen): im gemeinsamen Rhythmus, singend entfernen sich die Teilnehmer des Festes von der Alltäglichkeit. Mitgefühlt wird das Opfertier, seinerseits geschmückt und gleichsam verwandelt, mit Binden umwunden, die Hörner vergoldet. Man erhofft in der Regel, daß das Tier gutwillig, ja freiwillig dem Zuge folgt; gerne erzählen Legenden, wie Tiere von sich aus zum Opfer sich anboten; denn es ist der Wille eines Höheren, der hier geschieht. Ziel ist der alte Opferstein, der längst 'errichtete' Altar, den es mit Blut zu netzen gilt. Meist lodert auf ihm bereits das Feuer. Oft wird ein Räuchergefäß mitgefühlt, die Atmosphäre mit dem Duft des Außerordentlichen zu schwängern; dazu die Musik, meist die des Flötenbläsers. Eine Jungfrau geht an der Spitze, die 'den Korb trägt', die Unberührte das verdeckte Behältnis; auch ein Wasserkrug darf nicht fehlen. (Absatz eingefügt) Am heiligen Ort angekommen, wird zunächst ein Kreis markiert, Opferkorb und Wassergefäß werden rings um die Versammelten herumgetragen und grenzen so den Bereich des Heiligen aus dem Profanen aus. Erste gemeinsame Handlung ist das Waschen der Hände, als 'Anfang' dessen, was nun geschieht. Auch das Tier wird mit Wasser besprengt; 'schüttle dich', ruft Trygaios bei Aristophanes. Man redet sich ein, die Bewegung des Tieres bedeutet ein 'freiwilliges Nicken', ein Ja zur Opferhandlung. Der Stier wird noch einmal getränkt - so beugt er sein Haupt. Das Tier ist damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. (Absatz eingefugt) Aus dem Korb entnehmen die Teilnehmer jetzt die ungeschroteten Gerstenkörner, die Früchte des ältesten Ackerbaus; doch werden sie gerade nicht zerstoßen, zur Speise bereitet: nach jähem Innehalten, dem feierlichen und dem lauten Gebetsruf, der mehr Selbstbestätigung als Bitte ist, werden die Gerstenkörner weggeschleudert, auf das Opfertier, den Altar, die Erde; andere Speise ist jetzt gefragt. Gemeinsames, gleichzeitiges Werfen von allen Seiten ist ein aggressiver Gestus, gleichsam Eröffnung eines Kampfes, auch wenn die denkbar harmlosesten Wurfgegenstände gewählt sind; in einigen altertümlichen Ritualen warf man indessen tatsächlich mit Steinen. Unter den Körnern im Korb aber war das Messer verborgen, das jetzt aufgedeckt ist. Mit ihm tritt der, dem die Führungsrolle zufällt im nun beginnenden Drama, auf das Opfertier zu, das Messer noch versteckend, damit das Opfer es nicht erblickt. Ein rascher Schnitt: ein paar Stirnhaare sind dem Tier abgeschnitten, ins Feuer ge-

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worfen worden. Dies ist wiederum und erst recht ein 'Anfangen', wie schon Wasser und Gerstenkörner einen 'Anfang' bildeten: noch ist kein Blut vergossen, nicht einmal ein Schmerz zugefugt, und doch ist die Unberührbarkeit und die Unversehrtheit des Opfertieres aufgehoben, in nicht mehr umkehrbarer Weise. (Absatz eingefugt) Jetzt folgt der tödliche Schlag. Die anwesenden Frauen schreien auf, schrill und laut: ob Schreck, ob Triumph, ob beides zugleich, der 'griechische Brauch des Opferschreis' markiert den emotionellen Höhepunkt des Vorgangs, indem er das Todesröcheln übertönt. Besondere Sorgfalt gilt dem ausfließenden Blut: es darf nicht zur Erde fließen, es muß den Altar, den Herd, die Opfergrube treffen. Kleine Tiere hebt man über den Altar, bei anderen fangt man das Blut in einer Schale auf und besprengt damit den Altarstein: er allein darf, und er muß immer neu vom Blute triefen. (Absatz eingefugt) Jetzt ist die 'Tat' vollbracht; um die Folgen hat man sich zu kümmern. Das Tier wird zerlegt und ausgeschlachtet. Die erste Sorge gilt den inneren Organen, die da fremdartig, bizarr und unheimlich ans Licht kommen - und die doch, wie man von den Kriegsverwundungen weiß, in gleicher Weise auch jedem Menschen eigen sind -. Genau schreibt der Brauch vor, was mit jedem Stück zu geschehen hat. Zuweilen wird das Herz als allererstes, noch zuckend, auf den Altar gelegt. Die Leberlappen fordern die Deutung des Sehers heraus. Das meiste... wird rasch im Feuer des Altars geröstet und sofort gegessen; der engste Kreis der unmittelbar Beteiligten schließt sich zusammen im gemeinsamen Genuß, der den Schauder ins Behagen wandelt. (Absatz eingefugt) Nur die Galle ist ungenießbar und muß beseitigt werden, wie auch die Knochen zum folgenden Mahle nicht zu brauchen sind. Sie werden darum vorab 'geheiligt' und damit beseitigt: Die Knochen, vor allem die Schenkelknochen und auch Beckenknochen mit Schwanz werden auf den Altar gelegt, in 'rechter Ordnung'; kann man doch den Knochen noch genau ansehen, wie die Glieder des Lebewesens zusammengehörten: seine Grundfigur ist wiederhergestellt, geheiligt. In den Berichten Homers wird zusätzlich ein 'Anfang' von 'allen Gliedern' daraufgelegt, rohe Fleischstückchen, die die Ganzheit des getöteten Wesens andeuten" (ebd.: 10-13). Die Einzelheiten des Opferrituals wären unverständlich und könnten keiner plausiblen Deutung zugeführt werden, wenn sie nicht als in der Kontinuität der Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres stehend gesehen würden. b) Vergleich mit anderen

Hochkulturen

Andererseits waren die Tieropfer über die ganze Mittelmeerwelt verteilt und stimmten in großen Zügen überein, selbst wenn die Kulturen der Opfernden sich in anderen Bereichen deutlich voneinander unterschieden. "In der alten Welt waren die Tieropfer allgegenwärtige

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Selbstverständlichkeit; den Griechen fielen kaum grundsätzliche Unterschiede gegenüber Ägyptern und Phöniziern, Babyloniern und Persern, Etruskern und Römern auf, auch wenn die Einzelheiten des Rituals mannigfache Variationen aufwiesen, schon bei den Griechen selbst" (ebd.: 16). Je weiter sich die geistige Kultur als vernunftgemäßes Denken entwickelte, desto größer wurden die Zweifel an der Haltbarkeit der Opfertradition: "Die Philosophie hat dann die Kritik der blutigen Opfer aufgegriffen, vor allem mit dem einflußreichen Buch Theophrasts 'Über die Frömmigkeit', das die Tieropfer als Ablösung eines von Notzeiten erzwungenen Kannibalismus erklärte. Theoretische Verteidigung des Opferbrauchs war seitdem fast aussichtslos; auch Varro, auch Seneca waren überzeugt, daß Götter keine blutigen Opfer verlangen" (ebd.: 15). Trotz der vernünftigen Argumente gegen das funktional nicht begründbare Töten von Opfertieren erweist sich das religiöse Tieropfer als sehr widerstandsfähig: "Auch im Orient hat die religiöse Revolution, der Durchbruch des Islam, das Tieropfer nicht beseitigt. Höhepunkt im Leben eines Muslim ist die Wallfahrt nach Mekka, die bis heute alljährlich Hunderttausende von Gläubigen versammelt. Ihr Zentrum ist, am 9. des heiligen Monats, die Wanderung von Mekka zum Berge Arafat, wo die Pilger von Mittag bis Sonnenuntergang 'im Angesicht Gottes' betend verharren. Dem aber folgt der 'Tag der Opfer': in Mina hat der Pilger am 10. Tag sieben Kieselsteine gegen ein altes Steinmal zu werfen und dann ein Opfertier in der Regel eigenhändig - zu schlachten, das die Beduinen herantreiben und zum Kauf anbieten, ein Schaf, eine Ziege oder gar ein Kamel. Man ißt davon, das meiste freilich wird verschenkt oder liegen gelassen. Dann darf der Pilger seine Haare wieder schneiden und das Pilgergewand ablegen, auch die sexuelle Abstinenz ist, nach der Rückkehr aus Mekka, aufgehoben. Der Geheiligte ist es, der tötet, der Akt des Tötens ist sakralisiert. 'Im Namen Allahs', 'Allah ist gnädig', das sind Formeln, die jedes Schlachten der Mohammedaner begleiten". (ebd.: 19). Es mag als Zeichen alter religiöser Tradition gesehen werden, wenn der politische Führer eines Volkes zugleich die höchsten priesterlichen Aufgaben zu vollbringen hat. Der Pharao des alten Ägypten war als Führer einer Theokratie sowohl göttlicher Monarch als auch Oberkommandierender der Streitkräfte und höchster Priester. "In Ägypten sind die Opfer von Stier und Nilpferd, die der Pharao vollzieht, ganz als Jagd stilisiert" (ebd.: 23). "In Griechenland aber hat man vielerorts die zum Opfer bestimmten Tiere 'fur den Gott freigelassen', gleichsam als Wildtier im heiligen Gehege, bis zur festgesetzten blutigen 'Tat'" (ebd.: 23). Das Einfangen der in einer solchen Umzäunung gehaltenen Tiere konnte dann ebenfalls im Stil einer Jagd durchgeführt werden. Auch der in Spanien, Portugal und Mexico bis in die Gegenwart übliche Stierkampf kann in diesem Zusammenhang gesehen werden.

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Für die alten Hochkulturen gilt, daß weltliche Abmachungen, denen die Beteiligten ein hohes Maß der Verbindlichkeit geben wollten, durch Tötung eines Tieres mit dem Heiligen in Verbindung gebracht wurden: "Ob Israel, Griechenland oder Rom: keine Abmachung, kein Vertrag, kein Bündnis kommt ohne Opfer zustande. Der Gegenstand der Aggression, der da 'geschlagen' und 'zerschnitten' wird, wird in der sprachlichen Formulierung geradezu identisch mit dem Bündnis..."(ebd.: 45f). "Selbst die Geburt der Musik ist nicht vorstellbar ohne Opfertötung; die reale Verwendung von Knochenflöte, Schildkrötenleier, Stierhautbespanntem Tympanon durchdringt sich mit der Idee, daß die überwältigende Macht der Musik von der Verwandlung und Überwindung des Todes herrühre" (ebd.: 50). Vom Opfer geht eine tiefe emotionale Erregung aus, die auch die Erotik einschließt: "Wie ein Mädchen beim Opferfest seine Jungfräulichkeit verliert, ist zum Novellen- und Komödienmotiv geworden - eine fast schon planmäßige Entgleisung - " (ebd.: 71). Burkerts Deutung der sexuellen Dimension des Opfergeschehens wird hier im Zusammenhang mit dem Jungfrauenopfers wieder aufgegriffen.

5. Rituelle Tötung von Menschen a) Kopf jagd als

Übergangskrise

Angesichts der Grausamkeit, mit der im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege gefuhrt worden sind und viele Regionalkriege immer noch gefuhrt werden, ist der Horror verblaßt, den Berichte über Kopfjagd und angeblichen oder tatsächlichen Kannibalismus im 19. Jahrhundert ausgelöst haben. Es gibt in der Religionsgeschichte zahlreiche Beispiele fur rituelles Töten von Menschen. Am spektakulärsten ist das Menschenopfer vor dem Hintergrund des Polytheismus der Azteken mit ihrer agrarischen Hochkultur in Mexico, wo noch im 15. Jahrhundert lebendigen Opfermenschen das Herz herausgeschnitten, und unter Umständen anschließend auch noch die Haut abgezogen und dem opfernden Priester übergestülpt wurde. Solche blutigen Menschenopfer gehörten bei den Azteken zu Kulthandlungen, die an bestimmte jährlich wiederkehrende religiöse Feiertage gebunden waren. Wir deuten rituelle Tötungen von Menschen mit Hilfe der Hypothese, daß die Heiligung der Jagd und das kulturelle Einüben und Billigen des Tötens dann in eine Krise geraten, wenn eine Kultur die Lebensweise des Jagens und Sammeins hinter sich läßt und durch Hackbau, Gartenbau oder Ackerbau ersetzt. Das Menschenopfer ist in solchen Kulturen Symptom einer Übergangskrise. Um dem Wechsel zum planmäßigen Anbau von Nutzpflanzen und damit der vorausgegangenen Existenzform der Jägerkultur möglichst nahe zu sein, untersuchen wir religiöse Tötungsrituale bei den Papuas (Harrer, 1976).

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Die verschiedenen Stämme der Papuas in Neuguinea leben unter ökonomischen Gesichtspunkten in Hack- und Gartenbaukulturen. Sie ernähren sich von Landwirtschaft und Viehzucht, und das Sammeln und Jagen spielt eine nur untergeordnete Rolle für die Nahrungsbeschaffung. Gleichwohl ist ihr religiöses Ritual der Kultur der Jäger und Sammler verhaftet geblieben. Obwohl also ihre Produktionsweise agrarisch geworden ist, blieb doch die religiöse Grundlage ihrer Kultur an der Jagd orientiert. Wir haben hier also den Fall einer Retardierung kultureller Evolution gegenüber der Wirtschaftsentw\ck\\mg vor uns, also jenen Zustand, der zu einer Übergangskrise der Religion fuhren kann. Als Hinweis auf den Entwicklungsstand der sozialen Verhältnisse deuten wir die weitgehende Selbständigkeit der Männergruppe, die bei dem Stamm der Danis die Hüterin religiöser Tradition ist. Männerhäuser sind fur vollentwickelte Agrarkulturen ganz atypisch. Bei den Danis sind sie jedoch üblich. Ihnen stehen eigene Häuser für die Frauen und Kinder gegenüber: "Links und rechts des Platzes befinden sich längliche Hütten, die als Küche und Ställe dienen. An ihrem Ende, manchmal auch dazwischen, stehen die Familienhäuser. Das Männerhaus ist rund und niedrig, kaum 2 Meter hoch" (ebd.: 9). "Dieses zentrale Männerhaus ist in der Nacht der Aufenthaltsraum für Männer und Knaben etwa ab 6 Jahren. Hin und wieder hocken sie dort auch tagsüber, dicht gedrängt und vor sich hinstarrend. Sonst, wenn sie nicht außerhalb des Weilers sind, halten sie sich bei den Frauen und Kindern im Küchenhaus auf. Die Frauen haben zum Männerhaus keinen Zutritt, denn es ist der Ort, in dem die heiligen Steine aufbewahrt werden. Das sind flache oder ovale Steine, die als Fetische angesehen werden und vermutlich als Symbole der Ahnen gelten" (ebd.). Zum Stand ihrer wirtschaftlichen Entwicklung berichtet Harrer: "Die Danis leben von der Schweinezucht und vom Ackerbau" (ebd.: 11). Dann liest man ohne Übergang etwas überraschend: "Alle Männer besitzen Pfeil und Bogen, hauptsächlich für ihre Kriege, selten nur zur Jagd. Die Waldungen im Gebiet der Danis beherbergen nur sehr wenig Wild, und die Beute ist entsprechend unbedeutend" (ebd.: 12). Obwohl das Jagen aussichtslos geworden ist, weil kaum noch Wild angetroffen wird, halten alle Männer daran fest, Pfeil und Bogen zu tragen. Das ließe sich leicht damit erklären, daß diese Männer sich zwar nicht mehr als Jäger, wohl aber als Krieger verstehen. Sie wären nach dieser Deutung - wie in anderen Kulturen auch Waffenträger, und Pfeil und Bogen wären Attribute ihrer Männlichkeit als Krieger. Dagegen spricht jedoch der eigenartige Brauch, daß Schweine bei einer Schlachtung mit Pfeil und Bogen getötet werden. "Als Nahrungsquelle ist die Schweinehaltung nicht so bedeutend wie der Gartenbau, dennoch spielt sie eine wesentliche Rolle im Leben aller Danis. Schweine ebenso wie der Besitz mehrerer Frauen sind nicht nur das Zeichen für wirtschaftlichen Wohlstand, sondern geben

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auch größeren sozialen Einfluß. (Im Original: Absatz) Die Schweine, von Frauen und Kindern betreut, gehören mit zur Familie und bekommen einen Namen" (ebd.: 12). Harrer berichtet, er habe beobachtet, daß einmal beim Tod einer Muttersau "die Danifrau gleichzeitig mit ihrem Baby das Ferkel an ihrer eigenen Brust säugte" (ebd.: 12). "Bei einer Eheschließung, der Geburt eines Kindes, bei Totenzeremonien und Siegesfeiern, fast immer findet eine Schweineschlachtung statt. Auch beim Speeren des Angehörigen eines feindlichen Stammes und im besonderen bei dem großen Schweinefest werden Schweine mit Pfeil und Bogen zeremoniell erschossen und beim Festmahl verzehrt" (ebd.: 12). Unsere Hypothese von der Übergangskrise und von dem rituellen Fortbestand der Jägerreligion in dem Erschießen zahmer Hausschweine mit Pfeil und Bogen stützt Harrer - freilich ohne das wissen und wollen zu können - mit seinem Hinweis auf die Bedeutung von Tapferkeit und Mut bei Männern: Ein angesehener Mann zeichnet sich dadurch aus, daß er getötet hat. Von Männern, die noch nie getötet haben, schreibt er: "Es sind Männer, die zwar mit in den Krieg ziehen, aber sich lieber im Hintergrund halten. Sie schreien bei den lauten Beschimpfungen des Feindes mit, schwenken auch einmal von Ferne den Speer, aber es genügt ihnen, den tapferen Kämpfern ihre Waffe zu leihen. Trotz allem werden sie weder verspottet, noch zum Kampf angetrieben. Keiner, der nicht will, muß kämpfen. Ihr Ansehen und ihre Stellung im Stamm werden jedoch von ihrem Verhalten im Kriege bestimmt. Sie sind wenig geachtet und nur starke und einflußreiche Freunde können sie davor bewahren, daß man ihnen die Frauen wegnimmt oder vergewaltigt" (ebd.: 14). Offenbar herrscht bei den Danis die Vorstellung, man gebe einem tapferen Krieger aus der anderen Heiratsklasse - in der nichtagrarischen Vorzeit also einem Jäger aus dem benachbarten Siedlungsverband - eine Frau in die Ehe, damit sie dort gut beschützt und mit Fleischnahrung versorgt werde. Wenn nun ein Mann sich als Feigling herausstellt und noch nie die Fähigkeit zu töten bewiesen hat, entfällt gleichsam die Vertragsgrundlage, auf der ihm die Frau übergeben worden war, so daß sie ihm wieder genommen werden darf, und ein anderer Mann seiner Gruppe die Pflichten der Heiratsklasse ihr gegenüber wahrnimmt. Bei einem anderer Papuastamm, den Asmat, über die Gunter Konrad berichtet, werden nicht nur Schweine als Ersatz fur nicht mehr auffindbares Wild erschossen, sondern Menschen, allerdings nur fremde Menschen. Es müßte genau geprüft werden, ob eine Parallele zu dem grausamen Tod weißer Siedler am Marterpfahl von Indianern Nordamerikas gezogen werden kann. Die Asmat kennen keinen Marterpfahl; sie sind Kopfjäger geworden. Ein eigenes Männerhaus kennen auch sie: "In jedem Dorf stehen ein oder zwei mächtige, fünfzig bis sechzig Meter lange Männerhäuser (Yeu), die den Junggesellen als Wohnraum dienen und das kulturelle Zentrum im Dorf bilden" (ebd.: 35).

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"Eine Asmat-Frau ist stolz, mit einem angesehenen Mann verheiratet zu sein, auch dann, wenn dieser bereits mehrere Frauen besitzt. Für einen Mann ist eine Heirat nicht unbedingt an die erfolgreiche Kopfjagd gebunden. Kann er jedoch nicht bald einen erbeuteten Kopf vorweisen, wird er in die Kategorie der Frauen und Kinder eingereiht. Er genießt keinerlei Achtung und muß sich von seiner Frau die Bezeichnung nas minu (Klumpen, Fleisch... ) gefallen lassen. Sie kann ihm sogar die ehelichen Rechte verweigern" (ebd.: 36). Wie schon von den Danis finden wir demnach auch bei den Asmat die eindeutige Forderung an den Mann, sich als jemand auszuzeichnen, der töten kann. Bei fast völliger Abwesenheit von jagbarem Wild konnte dieser Erwartung nur durch den Übergang zur Kopfjagd entsprochen werden. Diese Argumentation berührt freilich nur einen Aspekt des Probems der rituellen Menschentötung. Die aus der Jägerkultur beibehaltene Religion mußte bei aller Konstanz doch charakteristische Modifikationen durchlaufen haben, um das Tötungsverhalten des Kopfjägers zu legitimieren. Dazu gehört die Vorstellung, daß Tiere in gleicher Weise wie Menschen als beseelt galten: "Die Seelen der Verstorbenen leben in Gestalt von Tieren, in Bäumen, in Hauspfosten und in Ahnenfiguren unter den Irdischen weiter" (ebd.: 48). "Die Seelen der Verstorbenen sind ruhelos. Die Lebenden müssen für sie den Sühneakt (die Rache) ausführen, damit sie Ruhe finden und als Ahnengeist die Welt der Ahnen jenseits des Meeres aufsuchen können" (ebd.: 53). Hier wird deutlich, daß man sich die Seelen der Verstorbenen ganz ähnlich wie die Jäger selbst kämpferisch und auf Rache sinnend denken muß. Hinter der Pflicht zur Rache stehen als Legitimationsgrundlage gruppenbezogene religiöse Vorstellungen und eben nicht nur Grausamkeit und Brutalität, wie es die Außenperspektive nahelegt. Neben der Kopfjagd gibt es auch bei den Asmat, wie bei den Danis, das Zeremoniell der Tötung von Schweinen mit Pfeil und Bogen. Dies ist ein Hinweis auf die Wildschweinjagd, wie sie vor der Domestikation des Hausschweines stattgefunden hat. Vermutlich haben diese Jäger und ihre Angehörigen jahrtausendelang von der Schweinejagd gelebt. Durch die Zähmung des Schweines (und seine Haltung von den Frauen in den Ställen der Siedlungen) verloren die Männer ihre Aufgaben als Jäger. Angesichts der Alternative, entweder die Jägerreligion und -kultur aufzugeben, oder einen anderen Gegenstand für die Jagd zu finden, sind diese Kulturen dann zur rituellen Tötung von Tier und sogar Mensch übergegangen. Vielleicht führt diese Hypothese auch zu einer Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Atavismus, in sich stets wiederholenden Kriegen Menschen des jeweils anderen Volkes zu töten. Die religiöse Rechfertigung der Kopfjagd ergibt sich für die Asmat vor allem aus ihren Mythen. Die folgende Passage ist einem Mythos entnommen, der als die mbis-Mythe bezeichnet

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wird: "Beworipitsj, seine Frau Teweraut und ihre zwei Kinder lebten einst an einem Ort mit Namen Sitan am Siretsj-Vhiü, einem paradiesgleichen Ort ohne Hunger und Not. Weit davon entfernt, in einer von Hunger, Krieg und Krankheit heimgesuchten Gegend, lebten dagegen die Brüder Tewer und Seitakap. Seitakap, fröhlich und temperamentvoll, wurde unabläßlich von seinem Bruder Tewer zu größerer Ruhe und Vorsicht ermahnt, da sich das Dorf ständig in Gefahr feindlicher Angriffe befand. Eines Tages, Tewer hatte seine Ermahnungen noch nicht recht beendet, da wurden sie auch schon mit dem Erscheinen eines Fremden konfrontiert. Beworipitsj hatte Sitan verlassen, um etwas Menschenhaftes zu erjagen. Der Speer Beworpitsjs tötete Seitakap. Tewer entkam. Ohne zu zögern trennte Beworipitsj Seitakaps Kopf ab und zerlegte den Körper. Kopf und Fleisch lud er in seinen Einbaum und kehrte nach Sitan zurück. Mit großer Freude wurde er von seiner Frau Teweraut willkommen geheißen... Das ganze Dorf eilte herbei, um Beworipitsj zum Männerhaus zu geleiten. Das Fleisch wurde geteilt und Seitakaps Knochen ins Feuer geworfen. Singen und Tanzen begleiteten das Fest" (ebd.: 54). Sieht man einmal davon ab, daß es sich bei dem erlegten Wild um einen Menschen handelt, so bewegt sich die Schilderung im übrigen ganz konsequent im Rahmen der Jägerkultur: Das erjagte Wild wird an Ort und Stelle zerlegt, das Fleisch und der Kopf als symbolische Trophäe werden zur Siedlungsgemeinschaft zurückgebracht, dort erfolgt die Belohnung des Jägers durch die ihm zugetane Frau und die Anerkennung durch das ganze herbeieilende Dorf. Die Zubereitung des Fleisches wird als gemeinsame Handlung der ganzen Siedlungsgemeinschaft beschrieben. Doch zurück zu der mbis-Mythe: "Singen und Tanzen begleiteten das Fest. Plötzlich vernahmen sie aus dem Feuer, in dem Seitakaps Knochen rösteten, eine fremde Stimme. Es war Seitakaps Stimme, die Beworipitsj fragte, was fur ein Lied er singe? Beworipitsj antwortete: 'Das Daiso-Lied über den glücklichen Ausgang der Jagd'. Seitakap fragte Beworipitsj, ob er bereit sei, ein neues Lied zu lernen?" (ebd.: 54f). Die Frage fuhrt zu der begeisterten Zustimmung des Gefragten. Darauf hin lehrt ihn Seitakap tatsächlich ein neues Lied, aus dem deutlich wird, daß Seitakap nicht ins Reich der Toten hinübergegangen, sondern dorthin zurückgekehrt sei, wo seine Knochen im Feuer liegen. Danach fährt der Text des Mythos fort: "Seitakaps Stimme erklärte das Lied für Frauen und Kinder tabu. Die Stimme aus dem Feuer, in dem Seitakaps Knochen schmorten, berichtete weiter... Er versicherte, daß er einen Lebensweg bringe, dem gefolgt werden müsse, wollten sie des Glücks sicher sein. Er versprach Hilfe, Schutz und Stärke all den auf der Erde Lebenden, die einen Ort und eine Möglichkeit schüfen, den Ahnen zu begegnen. Zu diesem Zweck müßten sie Figuren von den Verstorbenen schnitzen und ihnen ihre Namen geben.

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Beworipitsj folgte den Anweisungen von Seitakaps Stimme und begann sofort einen mbis (Ahnenpfahl), den ersten mbis der Asmat, aus einem Baumstamm herauszuhauen. Während Beworipitsj mit den Männern des Dorfes auszog, einen großen und geeigneten Baumstamm im Urwald zu schlagen, besetzten die Frauen das Männerhaus, schlugen die Trommel und tanzten. Als die Männer aus dem Wald zurückkehrten, widersetzten sich ihnen die Frauen wie einem angreifenden Feind. Die Männer erkämpften sich jedoch den Zugang und brachten den Baumstamm ins Männerhaus. Singend begannen sie den mbis zu gestalten" (ebd.: 55). Während uns Mythen in großer Zahl darüber vorliegen, wie angeblich der Himmel, die Erde, die Tiere, die Pflanzen und die Menschen entstanden sind, muß das Interessante dieses Mythos darin gesehen werden, daß er die Entstehung einer Religion erklärt. Die Seele eines Toten, eines erjagten Mitmenschen, spricht zu den Siegern und erfolgreichen Jägern und gebietet ihnen gleichsam als transzendenter Religionsstifter, den ersten Totempfahl zu schnitzen. Dabei wird völlig eindeutig bestimmt, daß es Aufgabe der Männer sei, dieses rituelle Tun zu vollziehen. Die Frauen werden sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Das Lied, in dem der Geist des Geschlachteten die Anweisungen erteilt, wird für die Frauen tabuisiert. Dazu paßt es, daß die Männerhäuser der beschriebenen Papuastämme von den Frauen nicht betreten werden dürfen. Im Inneren eines solchen Männerhauses muß man sich auch die Durchführung der Schnitzarbeiten zur Herstellung des Totempfahls vorstellen. Im Zusammenhang mit unserer Hypothese von der Übergangskrise gibt der Mythos deutliche Hinweise darauf, daß in dieser Papuakultur die religiösen Vorstellungen entscheidend von der Jägerbande geprägt wurden. Dabei ist es etwas irritierend, daß der Mythos offenbar die Jagd auf Menschen schon als gegeben voraussetzt. Wir schauen uns zum Vergleich einen weiteren Mythos aus demselben Stamm der Asmat an, in dem die Gestalt des Beworipirsj wieder auftaucht. Der Mythos beginnt mit einem Dialog zwischen diesem uns schon aus der mbis-Mythe vertrauten Jäger und seinem älteren Bruder Desoipitsj. Es handelt sich bei dem Text um den "Mythos zur Kopijagd" (ebd.: 60). "Eines Tages kehrte Beworipitsj von der erfolgreichen Jagd mit einem Wildschwein nach Hause zurück. Er warf es auf den Boden, trennte mit dem Bambusmesser den Kopf ab und spießte ihn mit einem spitzen Kasuarknochendolch auf dem rindenbelegten Boden des Hauses fest" (ebd.: 60, 65). Bei dieser Aktion schaute sein Bruder ihm zu. "Der Ältere hatte ihn aufmerksam beobachtet und bemerkte nach einer Weile geringschätzig: 'Pah, ein Schweinekopf ist eben doch nur ein Schweinekopf, warum nimmst du nicht einen Menschenkopf? Das wäre doch etwas?' - 'Wovon sprichst du eigentlich?' erwiderte der Jüngere. Ihm gefiel diese Idee überhaupt nicht. 'Woher soll ich denn einen Menschenkopf nehmen?' fragte er weiter.

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Desoipitsj, an seiner Idee festhaltend, schlug vor: 'Du kannst ja meinen nehmen!' Davon wollte aber Beworipitsj gar nichts hören und lehnt solche Gedanken entschieden ab. (Im Original kein Absatz) Desoipitsj ließ sich aber nicht beirren und fuhr zu argumentieren fort. Schließlich hatte er Erfolg und konnte seinen jüngeren Bruder überreden. Beworipitsj tötete Desoipitsj mit einem Speer, schnitt die Kehle mit einem Bambusmesser durch, brach den Kopf aus den Gelenken und trennte ihn vom Rumpf. Der Kopf Desoipitsj s vermochte jedoch zu sprechen und gab Beworipitsj Anweisungen: wie die Zerlegung eines Körpers vorzunehmen sei, wie die von der Kopfjagd zurückkehrenden Männer zu empfangen seien, für die Initiation, bei der die Kopftrophäe eine wesentliche Rolle zu spielen habe, wie dieser zu präparieren sei, wie Sago zu gewinnen sei und vieles andere mehr. Beworipitsj führte alle Anweisungen gehorsam aus" (ebd.: 65). Dieser Mythos gibt Hinweise auf einen Übergang vom Tieropfer zum Menschenopfer. Selbst die antike griechische Hochkultur kennt das Menschenopfer, insbesondere das Jungfrauenopfer, wobei nach einer der zahlreichen Versionen des Iphigenie-Mythos die Göttin der Jagd, Artemis, im letzten Moment an Stelle der als Opfer ausersehenen Jungfrau Iphigenie ein Tier opfern läßt und Iphigenie rettet, indem sie sie entrückt. Im Alten Testament der Bibel soll Abraham seinen Sohn Isaak opfern, ist auch bereit, das zu tun, doch im letzten Augenblick wird ein Tier anstelle des Menschen zur Opferung ausersehen. Solche wiederkehrenden Motive, die bei durch Raum und Zeit weit voneinander entfernten Religionen übereinstimmend auftreten, geben uns Anlaß, auch bei den Asmat nach der Austauschbarkeit des Opfers zu fragen. Wir hatten die Annahme gemacht, daß sich die Menschen dieser Kultur ursprünglich von der Wildschweinjagd ernährt haben. Von dem Eijagen eines Wildschweines ist zu Beginn des Mythos ausdrücklich die Rede. Der Geist verstorbener Menschen inkarniert sich nach der Religion der Asmat in Tieren, Pfählen oder Bäumen. Das bedeutet insbesondere, daß auch ein Tier als Inkarnation des Geistes eines verstorbenen Vorfahren betrachtet werden kann. Das erleichtert dem Jäger den Übergang von der tierischen zur menschlichen Beute, weil schon die tierische Beute als beseelt und insofern vor dem Horizont der Transzendenz als dialogfähig betrachtet werden kann. Diese Sicht paßt in den Zusammenhang der PapuaMythen: Daß der Kopfjäger den Menschen aus einem anderen Stamme aus dem Hinterhalt tötet, bedeutet keineswegs, daß er ihn haßt oder auch nur verachtet. Er folgt dabei dem jahrtausende alten Imperativ der Jägerkultur, dadurch Mann zu sein, daß er tötet. Das geschieht bei den Asmat in einer Umwelt, in der es außer den Menschen anderer Stämme nichts gibt, das man weidgerecht erlegen könnte.

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Zu dem jägerischen Bild des männlichen Menschen gehören in vielen Kulturen die Iniationsriten, in deren Verlauf aus Knaben Männer werden. Bei den Asmat ist die Kopijagd unverzichtbarer Bestandteil der Initiation: "Bis zu einem Alter von fünf bis sieben Jahren genießen die Kinder eine einheitliche Erziehung unter der überwiegenden Obhut der Mutter und in dem vertrauten Kreis der Familie. Dann aber trennen sich die Wege der Mädchen und der Knaben. Bleiben die Mädchen im familiären, weiblich geprägten Hause zurück, so lösen sich die Knaben und erhalten Zutritt zum Männer- und Junggesellenhaus, dem yeu. Hier unterliegen sie dem ausschließlich männlichen Einfluß. Bis zur Initiation vergehen Jahre, in denen sie mit dem geistigen und handwerklichen Inventar ihrer Gemeinschaft vertraut gemacht werden. Die Initiation setzt eine erfolgreiche Kopfjagd des Vaters oder eines Verwandten voraus. Ein erbeuteter Kopf ist Auftakt für die Initiation eines jungen Mannes. Der ältere Bruder der Mutter hält den erbeuteten Kopf über das Feuer und vermischt das verkohlte Haar mit dem Blut des Opfers. Mit dieser Mischung werden Kopf und Schultern des Initianden beschmiert, um die Identität mit dem Opfer zu bekräftigen" (ebd.: 66). Bemerkenswert an dieser - im übrigen grauenvollen - Schilderung ist der Hinweis auf den älteren Bruder der Mutter des Initianden. Nach dem Bericht ist es nämlich der Onkel mütterlicherseits, der bei der Zeremonie den erbeuteten Kopf über das Feuer hält und durch die Vermischung des verkohlten Haares mit dem Blut des Opfers und durch die Bestreichung der Schultern des jungen Mannes mit dieser Mischung die entscheidende Kulthandlung vollzieht. Wenn ein in seiner kultischen Wichtigkeit gar nicht übertreffbarer Akt nicht von einem Verwandten väterlicherseits, sondern von einem männlichen Verwandten mütterlicherseits vorgenommen wird, läßt das Rückschlüsse auf die Abstammungsordnung der betreffenden Kultur zu, wie sie zur Zeit der Entstehung des Kultes und dieses betreffenden Ritus existiert haben muß. Der Bericht über das Ritual der Initiation wird so fortgesetzt (ebd.: 67): "Der Initiand wird zum Einbaum seiner Angehörigen gebracht und steht hinter dem ältesten Bruder seiner Mutter ganz vorne im Einbaum. Er stützt sich auf einen Stock, zu seinen Füßen ruht der Kopf des Opfers. Der bemannte Einbaum wird von anderen mit trommelschlagenden und singenden Männern besetzten Kanus begleitet. Die Fahrt geht langsam flußab, nach Westen, dem Meer zu, dorthin, wo die Sonne untergeht, dorthin, wo auch ihre Ahnen hinreisen. Der Initiand scheint Zusehens zu altern. Er wird schwächer und unsicherer, je weiter sie stromab gelangen. Schließlich hält er sich verkrampft an den Schultern des vor ihm sitzenden Onkels, bis er im Kanu zusammenbricht. Von den im Kanu mitfahrenden Verwandten mütterlicherseits wird er zusammen mit dem Kopf des Opfers ins Wasser geworfen. Hat man ihn wieder aufgefischt und in den Einbaum gezerrt, entfernt man all seinen Schmuck. Sorgfältig werden

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diese Utensilien in eine Zaubermatte gewickelt, wo sie für immer zu verbleiben haben. Der Initiand betrachtet den Schädel nicht mehr. Eine Frau, die den Kopfjäger um diese Gunst ersucht hat, trägt ihn um den Hals. Das Ziel der Reise ist erreicht. Die Kanus werden gewendet, und singend paddelt die Festgesellschaft wieder stromauf, jetzt nach Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Der Initiand benimmt sich wie ein neugeborenes Kind, dann wie ein Knabe, der noch nicht paddeln kann, der den Fluß, die Strudel, die Bäume nicht kennt. Schritt für Schritt, Paddelschlag für Paddelschlag, lernt er hinzu und reift bis zur Ankunft im Dorf zum vollwertigen, in die Dorfgemeinschaft aufgenommenen Mann heran. Im Hause seiner Familie wird er erneut geschmückt und bemalt. Er trägt ein Bambusamulett als Zeichen der vollzogenen Initiation. Im Initiationsfest wird deutlich, daß die Kopfjagd für die Asmat kein willkürliches Bekämpfen der benachbarten Gruppe darstellt, sondern eine im Mythos begründete Notwendigkeit. Der erbeutete Schädel ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß ein Heranwachsender vollwertiges Mitglied der Männergesellschaft werden kann. Ein erfolgreicher Kopfjäger sichert somit die Initiation der männlichen Jugend und garantiert den Fortbestand der Gruppe." (ebd.: 67). Der Mythos läßt die Vermutung zu, daß er schon in einer Zeit entstanden ist, als der Wechsel vom Schweinekopf zum Menschen noch nicht stattgefünden hatte. In der Übergangskrise dient die Kopfjägerei der Erhaltung des Jägermythos, nachdem in freier Wildbahn lebendes Wild für die Jagd nicht mehr zur Verfügung stand und ein Menschenkopf den Schweinekopf ersetzen mußte. Der beschriebene Initiationsritus hat übrigens die erstaunliche bevölkerungspolitische Wirkung, daß die Zahl der aktiven Jäger in einem bestimmten Siedlungsgebiet konstant gehalten wird, da ja für jeden jungen Mann, der in den Rang der Jäger aufgenommen wird, zuvor ein anderer erwachsener Mann seinen Kopf verlieren muß. Die Kopfjagd ist selbstverständlich verboten und durch den politischen und polizeilichen Einfluß der Kolonialmächte beendet worden. Im Jahre 1973 trafen Milan Stanek und Florence Weiss in Palimbei noch einen Zeugen der Kopfjagd an. Als Dokumentation des Gesprächs mit ihm entstand die folgende Aufzeichnung: (Stanek und Weiss, 1976: 168-188). Der befragte Papua erzählt von der Gartenarbeit seines Vaters, bei der er als Heranwachsender zuschaut: "Der Vater sagt: 'Gib Acht auf die Pflanzen! Daß Du nicht auf die YamsSprößlinge trittst! Dann brechen sie ab! Gib Acht auf die Sprößlinge des Zuckerrohrs, daß du sie nicht brichst!' So sprach der Vater. Ich spielte weiter, aber ich gehorchte und spielte nur am Rande des Gartens beim Flußufer. Der Vater merkte es und rügte mich wieder: 'Du darfst nicht zum Wasser! Ich kann nicht auf dich aufpassen, ich arbeite!' Und so geht es hin und her die ganze Zeit" (ebd.: 173).

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In dieser Passage wird deutlich, daß der Vater des Berichterstatters bei der Gartenarbeit in Sorge ist, sein Sohn könnte sich zu weit entfernen und dadurch von Angehörigen anderer Stämme gefährdet und zum Opfer der Kopfjagd werden. Der Vater beginnt bei einer solchen Gartenszene die Erziehung des Knaben, um ihn im Alter von 11-13 Jahren auf Jagd und Kampf vorzubereiten. Dabei kann man dem Bericht entnehmen, daß der Vater einerseits eindeutig agrarische Tätigkeiten ausübt, während er andererseits im Gespräch mit dem Knaben die Tradition der Jägerkultur wachhält: "...und eines Tages sagte der Vater zu mir: 'Wenn wir in den Kampf gehen, pflege ich im vorderen Teil des Kanus zu stehen. Vor mir, ganz vorne an der Spitze, pflegt dein Großvater...zu stehen, der Vater von Mounobwe"' (ebd.: 173). Eigenartig scheint mir in diesem Text, daß der "Vater" dem Kind den "Großvater" dadurch vorstellt und näher bezeichnet, daß er angibt, wessen Vater dieser Großvater sei. Das gibt Anlaß zu Zweifeln an der scheinbar vorhandenen Patrilinearität der Verwandtschaftsstruktur dieses Volkes. Vielleicht bedeutet die Bezeichnung Vater und Großvater nur männliche Angehörige der nächst höheren bzw. der übernächst höheren Generation. Der Bericht wird so fortgesetzt: '"Wenn die Feinde Speere gegen uns schleudern, darf ich ja nicht zögern, darf ich ja keine Zeit verlieren. Mein Bruder steht an der Spitze vor mir und hat keinen Speer in der Hand. Er selbst darf den feindlichen Speeren nicht ausweichen, er muß auf sie aufpassen und sie mit dem Paddel auf die Seite schlagen, um alle, die hinter ihm im Kanu stehen, zu schützen. Er ist der Erste, der Führer des Kanus, alle Männer im Kanu unterstehen ihm'" (ebd.: 174). Diese Sätze deuten eher auf Krieg als auf Kopfjagd. Der Bericht schildert dann aber in allen Einzelheiten das Anschleichen, das sich Verstecken und das aus dem Hinterhalt überfallen eines einzelnen Mannes eines anderen Stammes, der mit einer Frau und mit einem Kind im Kanu zufällig vorbeikommt. Das erweckt nicht den Anschein einer kriegerischen oder haßerfullten Auseinandersetzung, sondern erinnert in allen Einzelheiten an ein Jagdgeschehen. Auf die Frage, wie es denn immer wieder zu solchen Kopfjagdunternehmungen gekommen sei, weist der Berichterstatter auf den hohen sozialen Druck hin, der ausgeübt wird (ebd.: 178). '"Wer ist der stärkste Mann?' Dies war die Frage, auf die es ankam. 'Du hast noch keinen Menschen getötet? In dem Fall bist Du ein Feigling. Und deine Väter, die Ältesten deines Klans, die sind auch keine großen Helden! Sie pflegen kaum Menschen zu töten, die Köpfe abzuschneiden und ins Dorf zu bringen! Dann müßtet Ihr nämlich Schweine schlachten und euren Verwandten Schweinefleisch zu essen geben. Wir wissen nichts davon, daß du und deine Klangenossen, daß Ihr bei der Gelegenheit einer erfolgreichen Kopfjagd Schweinefleisch verteilt hättet! Du, du bist ein Schwächling, du verzehrst nur das Schweinefleisch

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anderer Klane!'. Diese Art des Schimpfens, nur diese Anheizung war es, was die Männer auf die Kopijagdzüge trieb. Sie haben gewetteifert, wer der Stärkste sei. Aus keinem anderen Grund haben sie Köpfe abgeschnitten und hergeholt, es ging um nichts anderes" (ebd.: 178f.). Das Gespräch wird im Dialog bendet (ebd.: 179): "Florence: Dein Vater war auch ein großer Kämpfer? Masoabwan: Ja. Mein Vater nahm sehr oft teil an den Kopfjagdzügen, z.B. gegen Korogo. Wenn er ging, holte er immer einen Kopf. Beim Überfall in Chambri tötete er auch einen Mann und eine Frau und kehrte zurück. Beim nächsten Kopfjagdzug nach Korogo tötete er wieder einen. Ich glaube, er hatte sechs Anhängsel an seinem Kalksbatel gehabt. Und noch zwei kürzere mehr, die eine Tötung bezeichnen, bei der es nicht gelang den Kopf zu holen. Zusammen acht Anhängsel" (ebd.: 179f.). "Florence: Hast Du selbst an den Kopijagdzügen teilgenommen? Masoabwan: Nein. Wir sind noch nicht ganz erwachsen gewesen als die Kopfjagd verboten wurde. Florence: Nur der Vater hat Dich unterrichtet durch seine Erzählungen? Masoabwan: Ja, nur der Vater hat mich unterrichtet. Florence: Als Dich der Vater auf den Kampf hin erzogen hatte, hat er noch nicht gewußt, daß die Kopfjagd einmal endgültig verboten wird? Masoabwan: Er hat es nicht gewußt. Er meinte, daß die Kopfjagd immer bleiben wird, wie es früher war" (ebd.: 180). Ein Brauch, der bei den Indianern des amerikanischen Nordwestens beobachtet wurde, ist nicht als Kopfjagd beschrieben worden, hat aber einiges mit den Handlungsweisen der Papuas gemeinsam. Wenn eine hochstehende Person gestorben war, wurde das zum Anlaß genommen, einen Angriff mit tödlichem Ausgang durchzuführen: "The raid staged on the occasion of the death of an important person, whether or not he had died from natural causes, was a typical northern custom. The usually expressed purpose was that of 'sending someone with the dead chief,' or of 'making other people mourn also.' Such a party usually attacked and slew the first person they met; sometimes even their own village mates were not exempted if the raiders encountered them offshore in a canoe. After a successful attack the northern warriors beheaded their victims, brought the heads home, and usually set them up on tall poles in front of the village. Only the Tlingit scalped; they took the heads of fallen foe and removed the scalps on the way home" (Drucker, 1955: 136f). Hier haben wir es mit denselben Stämmen zu tun, die an die Lachsmenschen in dem großen Haus im Meer glauben. Was Drucker hier beschreibt, ist ohne Zweifel eine Form der Kopfjagd

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b) Das Jungfrauenopfer der griechischen Antike Walter Burkert untersucht in seinem Buch Homo Necans unter anderem die Hintergründe des Jungfrauenopfers in der griechischen Antike. Dabei unterstellt er, daß sich in der Opferung einer jungen Frau, die sich zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse von Männern sehr gut geeignet hätte, erotisch motivierte Aggression entlädt: "Dem entspricht im Opferritual die Ausgestaltung des Vorher und des Nachher. Eben weil der Tötungsakt sexuell aufgeladen ist, gehört zur Vorbereitung von Jagd, Krieg und Opfer nicht selten sexuelle Abstinenz" (Burkert, 1972: 72). Dieser Deutung kann ich mich nicht anschließen, weil ich sie für falsch halte: Wenn schon die Kopfjagd in Analogie zur Jagd auf das Nahrungstier in aller Regel nicht mit Aggression einhergeht, warum soll das dann bei der Tötung einer zu opfernden Jungfrau der Fall sein? Auch liegt wohl eine Inkonsequenz darin, wenn Burkert einerseits beim Tieropfer anerkennt, daß das Ritual in der Kontinuität der Steinzeitjäger steht, beim Jungfrauenopfer jedoch dann ganz andere Motivlagen, nämlich sexuelle, unterstellt. Ich will im Gegensatz zu Burkert versuchen, das Jungfrauenopfer mit der schon bei der Deutung der Kopfjagd angewandten Hypothese der Übergangskrise in Verbindung zu bringen. Burkert sieht das freilich anders: "Im Jungfrauenopfer lösen sich Spannungen, die Eifersucht der Alten, das andrängende Begehren der Jungen; durch einen nicht wieder gutzumachenden Akt wandelt sich das Spiel der Erotik in finstere Kampfeswut. Die verzweifelte 'Suche' wird zur 'Jagd'. Das Jungfrauenopfer ist der stärkste Ausdruck jenes Losreißens von der Sexualität, das zur Vorbereitungsperiode gehört; es eröffnet den Fischfang und dann den Krieg, es geht... dem Erntefest voran. Jägermythen machen das geopferte Mädchen zur Braut des großen Beutetieres, ob Bär, Büffel oder Wal" (ebd.: 76). Burkert ist mit den Ergebnissen der Forschung zu diesem Thema gut vertraut. Er bezieht sich auch auf die steinzeitlichen Versenkopfer: "Die Ethnologie zeigt, daß das Jungfrauenopfer von Mexiko bis Polynesien beunruhigend oft vollzogen wurde; vielleicht war selbst die Welt der Griechen nicht ganz frei davon. In der Regel freilich ist auch hier symbolisierender Ersatz eingetreten, Tier für Mensch. Vielleicht sind die jungphaläolithischen Versenkungsopfer so zu verstehen: junge weibliche Rentiere wurden, getötet und mit Steinen beschwert, zur Frühjahrszeit ins Wasser gestoßen. Bei den Griechen ist es die Ziege im Bereich der Artemis, das Schwein im Bereich der Demeter, das das Mädchen vertritt" (ebd.: 77). Wenn die Steinzeitjäger bei Stellmoor und Meiendorf junge weibliche Rentiere in einen See versenken, wie wir hier Kapitel Β I beschrieben haben, so geschah das nicht aus Aggression gegen diese Tiere, sondern aus religiöser Motivation. Der Gedanke an sexuell motivierte Aggression wäre bei Tieren ohnehin abwegig. Die Kombination von weiblich und jung symbolisiert denn auch wohl nicht nur das von Burkert unterstellte Maximum sexueller Attrak-

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tivität, sondern auch Leben als die Fähigkeit, über lange Zeit hinweg Nachwuchs zur Welt zu bringen. In dem geheiligten Tötungsakt wird nicht verdrängte Sexualität entladen, sondern Leben wird neu geordnet. Das Nahrungstier des Steinzeitjägers hört nicht auf zu leben, es lebt in seinem Skelett fort, bekleidet sich wieder mit Fleisch und vermehrt so Lebensmöglichkeiten, die ohne seine Tötung begrenzt blieben. In der Kontinuität dieser religiösen Sicht wäre die Opferung eines gebrechlichen alten Mannes wenig überzeugend, weil er der Fülle des Lebens nicht mehr nahe steht. Eine Jungfrau dagegen bringt in die Opferung ihren ungeborenen Nachwuchs auf mystische Weise mit ein. Sie kann so ein Maximum an Lebensmöglichkeiten einsetzen, das ja in dem heiligen Transformationsprozeß nicht untergeht, sondern gleichsam reorganisiert wird. Burkert bleibt konsequent bei seinem Deutungskonzept: Jungfrau assoziiert er mit sexueller Spannung und Frustration. Diese Sichtweise entspricht zwar der jüdisch-christlichen Kultur in Verbindung mit den Lehren Sigmund Freuds, sie stellt aber keine korrekte Rekonstruktion des Bezugsrahmens jener Kulturen dar, um die es hier geht. Das Konzept der Parthenogenese bedeutet gerade, daß ein weiblicher Mensch in der Lage ist, aus autonomer Lebenskraft Nachwuchs zu bekommen, also gerade unabhängig von Mitwirkung des sexualaktiven Mannes! Insofern ist der Glaube an die jungfräuliche Mutter als Demeter, Artemis oder Diana ein Konzept, das die Emanzipation der Fruchtbarkeit der Frau aus der Abhängigkeit vom samenspendenden Mann begründet und demnach die Bedeutung der Sexualität gerade nicht steigert, sondern mindert. Diesen Denkresultaten ensprechen auch die Beschreibungen aus der Ikonographie, die im Übergang von der Jägerkultur zur Kultur des Gartenbaus und der Kleintierhaltung ihren kulturhistorischen Standort hat: "In Catal Hüyük sind es dann große Gipsplastiken der Göttin, oft auch zweier Göttinnen, die in den Hausheiligtümern über den Gebeinen der Toten aufgerichtet sind. Gebärend, mit weitgespreizten Beinen, ist die Göttin dargestellt; Jagdtrophäen wie Stierhörner und Eberschädel dominieren daneben im Raum. Mehrfach treten Stierschädel, einmal auch ein Widderschädel aus den gespreizten Schenkeln der Göttin: sie ist die Mutter der Tiere, die gejagt und geopfert werden, lebensspendende Macht, die über den Toten waltet" (ebd.: 92f). Hier hat die Dimension der Sexualität keine Bedeutung; der Schoß der weiblichen Göttin ist Quelle das Lebens, und darauf allein kommt es den Anhängern dieser Religion an. Burkert liefert dafür weiteres Material: "Leopardenmänner umschwärmen den Hirsch auf einem Wandgemälde, thronend zwischen zwei Leoparden erscheint die Göttin: in ihrem Dienst steht die Gemeinschaft der Jäger, der raubtierhafte homo necans. Die Ikonographie

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läuft zweifellos kontinuierlich weiter zum Bild der Kybele, die zwischen den Löwen thront" (ebd.: 93). Der Kult der Kybele dehnte sich von Kleinasien durch Vermittlung der Griechen und Römer über den ganzen Mittelmeerraum aus. Die Magma Mater rückte ins Zentrum einer neuen Entwicklungsstufe menschlichen Vorstellungsvermögens über das Heilige: Auf das Nahrungstier, das Leben spendete, indem es seinen Verehrern sein Fleisch zu essen gab, folgte die von männlicher Impregnation unabhängige Göttin, die durch immer neue Geburtsakte aus ihrem Schoß das Leben entließ.

6. Schamanismus a) Der Schamane als ritueller Nachfolger des Nahrungstieres Die Fülle der Belege, die hier ausgebreitet werden, ist geeignet, die Phantasie in so vielfältiger Weise anzuregen, daß dabei eine klare Sicht des Erklärungsziels verloren gehen kann. Tötung, blutiges Tieropfer und zuletzt sogar Kopfjagd und Jungfrauenopfer sind Themen, die Abscheu erwecken können. Darum ist es wohl notwendig, die Grundgedanken in Erinnerung zu rufen, die am Ausgangspunkt unserer Überlegungen standen. Wenn der Mensch an der fernsten Schwelle zur Entstehung einer Religion, und damit einer Kultur, Jäger war und Tiere töten mußte, um sie zu essen, dann war das Geschehen im Umkreis des Tötens die Quelle seines Lebens. Diese Paradoxie konnte anders denn religiös nicht ertragen werden. Um sich selbst nicht als Mörder zu erleben, betrachtete der Mensch das Nahrungstier als ein lebenspendendes Subjekt, das ihm gegenüberstand und das sich ihm als Speise darbot. Wie der Pflanzenesser vom Baum immer wieder Früchte abnehmen konnte, ohne den Baum dadurch zu töten, so nahm aus der Sicht menschlicher Urreligion der Jäger vom Tierkörper immer wieder das Fleisch ab, ohne das Leben des Tieres dadurch auszulöschen. Das Tier lebte in seinem Skelett weiter; also war nicht die Fortnahme des Fleisches, sondern die Verletzung des Skeletts der eigentlich feindliche Akt gegen das Nahrungstier. Dieser Akt jedoch war vermeidbar, und das religiöse Ritual als Medium der Kulturtradition in schriftlosen Kulturen schärfte jeder neuen Generation mit aller Entschiedenheit ein, daß das Skelett nicht verletzt werden darf, daß es gleichsam tabu sei. Dazu paßten vielerlei Beobachtungen am Menschen: Fleischwunden, die nicht allzuviel Blutverlust hervorriefen, heilten wieder und standen einer Fortsetzung des Lebens nicht im Wege. Knochenbrüche dagegen - und Skelettverletzungen allgemein - brachten beim Fehlen moderner Medizin den mehr oder weniger schnellen aber sicheren Tod. Die Tötung der beiden Männer, die mit Jesus zusammen gekreuzigt worden waren, durch die römischen Soldaten deutet daraufhin, daß die Zerschlagung des Skeletts als Hinrichtungsmethode üblich war

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(Johannes 19, 32-36). Von bestatteten Toten fand man nach langer Zeit das Fleisch nicht mehr vor, das Skelett jedoch überdauerte und erweckte dadurch wiederum den Eindruck seiner Ewigkeit. Nach Überwindung der Jägerexistenz des Menschen durch unterschiedlich weit entwickelte Formen der Viehhaltung und des Kultivierens von Nutzpflanzen konservieren die Opferrituale den Akt des Tötens im Tieropfer. Das Opfer wird so wichtig fur die Erhaltung der jeweiligen Kultur, daß in Extremfällen das fehlende Opfertier durch einen Menschen ersetzt werden kann. Dies ist unsere Deutung der Kopijagd und des im daran anschließenden Opferschmaus institutionalisierten 'sakralen Kannibalismus'. Soweit haben uns die Quellen geführt, die bislang zur Sprache kamen. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun dem Schamanismus zu: Während in der Kopfjagd und im 'magischen' oder 'sakralen' Kannibalismus ein Mensch - zumeist ein gejagter oder in anderer Weise besiegter Angehörige einer anderen Gruppe - unfreiwillig die Rolle des Opfertieres übernimmt, tritt der Schamane freiwillig an die Stelle des Tieres. Er wird allerdings nicht einer todbringenden Opferung unterworfen, sondern bleibt lebendig als Sprachrohr des Prinzips der Unsterblichkeit inmitten seiner Gemeinde präsent. Dabei repräsentiert er den Auferstehungsglauben: zum einen, weil er einem symbolischen Tod überantwortet wird, und zum anderen, weil er die Bedeutung des unverletzten Skeletts seinen Anhängern auf vielfältige Weise einschärft. Die grauenvollen Rituale, die aus dem Umfeld der Kopfjagd berichtet werden, stimmen in erstaunlichen Einzelheiten mit dem überein, was in einigen schamanistischen Religionen als Initiationsritus des Schamanen üblich zu sein scheint: (Findeisen u. Gehrts, 1983). In einem Traumritual, das zwar keine empirisch nachweisbaren Vorgänge im körperlichen Bereich physisch auslöst, das jedoch gleichwohl so lebhaft "phantasiert" wird, als handele es sich um eben solche Vorgänge, wird der Schamane ganz ähnlich 'getötet', wie das Nahrungstier der Jäger. Der Schamane lebt zugleich aber auch weiter, wie nach der Jägerreligion das Nahrungstier trotz der Fortnahme seines Fleisches in seinem Skelett weiterlebt: "Wie wird nun dieses Zerstückeln im einzelnen vorgenommen? Zuerst wird im allgemeinen der Kopf abgeschnitten, der dann die folgenden Vorgänge mit eigenen Augen verfolgt, wobei er auf einem Wandbrett oder auf dem obersten Balken der Jurte liegt. Fürchterlich sind solche Vorstellungen, wonach ein Eisenhaken zwischen die Gelenke eingeführt wird, um sie damit auseinanderzureißen. Das Fleisch wird von den Knochen abgekratzt, beide Augen werden aus den Augenhöhlen genommen und gesondert hingelegt usw. Nach weiteren Mitteilungen wird der Kopf auf eine lange Stange gesetzt, damit er ja nur alles genau mitansehen (sie) kann, was mit dem Körper geschieht, oder er wird an einer Lärche aufgehängt und

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die vier Gliedmaßen an eine andere. Auch bei dem durch den Gott Süle-Chan durch Blitzschlag Zerstückelten wird der Kopf vom Rumpf getrennt, bleibt aber unverletzt... In den buijatischen Nachrichten wird über eine Sonderstellung des Kopfes nichts ausgesagt, nach einer tungusischen Aussage wird er jedoch in einen Ofen geworfen, in dem auch die verschiedenen Eisenteile des Schamanenrocks geglüht werden" (ebd.: 64f ). Die Tungusen sind sibirische Reitervölker (zum Teil auch in der Mongolei), die zumeist vom Rinder- oder Rentiernomadismus lebten, ursprünglich aber von Jagd und Fischfang. "Meist werden Fleisch und Blut roh gegessen und getrunken. Das Blut wird auch mit dem Trommelschlegel geschöpft und 'in Richtung aller Wurzeln und Quellen von Tod und Krankheit' versprengt. Sonderformen sind dann solche, wonach die Fleischstücke auf Stäbe gesteckt werden, wobei der Körper eines großen Schamanen auf neun Stangen, entsprechend den Ästen des Schamanenbaumes, der eines kleinen dagegen nur auf drei Stangen verteilt wird. Nach einer buijatischen Aussage wird das Fleisch gekocht, bei den Tungusen der Unteren Tunguska stellen die Ahnengeister den Kandidaten auf einen Klotz und schießen mit Pfeilen auf ihn, bis er das Bewußtsein verliert, woraufhin das Fleisch roh verzehrt wird. Aber auch bei den Tungusen kann das Fleisch auf spitze Stangen gesteckt werden. Das Fleisch eines guten Schamanen reicht dabei für vier Stangen aus" (ebd.: 65). "Als letzte Phase dieses schauerlichen Traumrituals kommt es zu der Wiederbelebung des Schamanen durch die Geister. Alle Knochen werden wieder an Ort und Stelle gebracht, wobei Gelenk an Gelenk an dem richtigen Platz eingesetzt wird; der Kopf kommt wieder an seine ursprüngliche Stelle, und die Knochen werden wieder mit neuem Fleisch bekleidet, ja sogar mit Eisenfäden zusammengenäht. Dabei wird die Ansicht ausgesprochen, daß diejenigen Menschen und Haustiere, von denen die Geister das Fleisch für die Bildung eines neuen Körpers des Schamanen nehmen, sterben müssen. Im allgemeinen scheinen aber nur die Verwandten des Schamanen von diesem Schicksal betroffen zu werden, gelegentlich allerdings in weitestem Ausmaß, indem bei der Entstehung eines großen Schamanen die ganze Sippe aussterben kann, 'denn das Leben des Schamanen wird durch seine Verwandten gestellt'" (ebd.: 65f ). Durch die mystische Erfahrung von Tod und Auferstehung seiner selbst erlangt der Schamane die Fähigkeit, seinen Körper zu verlassen und in einem tranceartiger Zustand, also in Ekstase, weit entfernte kosmische Regionen anzusteuern, um von dort aus z.B. verlorene Seelen in die Nähe seiner Anhänger zurückzugeleiten. "Die Berichte sagen es deutlich selbst: Tod und Wiederauferstehen werden darin in einer grausigen und höchst realen Weise erlebt" (ebd.: 72). Über die Berufung des Schamanen als jemand, der zu seinen Anhängern gesandt ist und sich durch seine Selbstinitiation in die

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Lage versetzt, ihnen zu dienen, berichten Findeisen und Gehrts: "Ihr Selbstopfer gibt ihnen die Möglichkeit, das Unheil, das ihnen selbst in gräßlichster Vollendung widerfahren ist, von ihren Familien- und Sippengenossen fern zu halten" (ebd.: 73). "An die Stelle der sonst einen realen Zwang ausübenden Angehörigen der Klasse der erwachsenen Männer treten bei der schamanischen Selbstinitiation die Vorfahrengeister der Schamanen oder die Geister der verschiedensten Übel und Krankheiten usw., die den Schamanenkandidaten erst zerstückeln und dann wieder neu zusammensetzen und neu beleben. Die spezielle Form der schamanischen Initiation zeigt die Initiationsriten der archaischen Männergesellschaft in ihrer Anwendung auf die Angehörigen der geistigen Führerschicht Nordasiens. Die weitgehende Autonomie dieser Schicht tritt gerade auch in der stark individuellen Ausformung einer alten allgemeinen sozialen Sitte aufs deutlichste hervor. In der Form der schamanischen Selbstinitiation hat diese Sitte sich jedoch zu einem Sonderfall entwickelt - die Überwindung jeglichen von außen geübten Zwanges -, deren Ethik dem besonders in Nordasien sehr deutlich ausgeprägten individualistischen Selbstverantwortungsgefuhl der Schamanen entspricht" (ebd.: 73f). Findeisen und Gehrts verknüpfen den Schamanismus mit der Heiligung der Jagd: "In der Betonung der Knochen lebt die alte jägerische Glaubenswelt weiter, die den Knochen, bzw. im Gesamtskelett eine das Fleisch überdauernde Lebenskraft konzentriert sieht und die zauberische Wiederbelebung der Jagdtiere evtl von dem Vorhandensein dieses Skeletts überhaupt abhängig macht" (ebd.: 77). In dem Maße, in dem der Umgang mit Fleisch und Skelett des Nahrungstieres nicht mehr der Alltagserfahrung der Völker entspricht, treten Mythen an die Stelle, in denen die Heiligung des Skeletts auf andere Weise tradiert wird. Das geschieht dann häufig im Dialog zwischen den Generationen, etwa wie in der Vergangenheit der Kultur des Abendlandes die Alten den Kindern Märchen erzählt haben. b) Schamanismus in der Mythologie Findeisen und Gehrts berichten von einer Mutter, die ihren Sohn in ferne Gegenden fortschicken muß, weil sein Leben in der Heimat bedroht ist. In der Weise einer seherischen Prophezeiung kündet die Alte dem Sohn, er werde auf seiner Wanderung in eine Region kommen, in der "das ganze Land mit nichts anderem als mit Knochen bedeckt sein" werde (ebd.: 180). "Nachdem du dich umgeschaut hast, wirst du erkennen, daß es Elchknochen sind. Es werden sehr alte Knochen sein, die schon zur Hälfte verrottet sind. Nachdem du viele von diesen Knochen zusammengesammelt hast, mußt du sie in der Reihenfolge hinlegen, in der sie sich während des Lebens innerhalb des Tieres befunden haben. Dieses mußt du auf jeden Fall tun. 'Was werde ich denn nun aber damit anfangen?', wirst du denken und

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dabei dastehen und hinblicken. Von der Stelle, wo du stehst, in Richtung des Waldes schauend, wirst du sehen, daß da eine Anhöhe sein wird. Wenn du dort hingehst, wird oben ein glatter Stein liegen. Wenn deine Kraft nicht ausreicht, um ihn anzuheben, so wirst du ihn hiermit hochheben!' und sie gab dem Sohn einen Eisenstock. 'Unter diesem Stein wird ein eiserner Hammer liegen; wieviel Pfund er wiegen wird, weiß ich nicht; vielleicht aber gelingt es dir auch, und du hebst ihn hoch. Dann nimm ihn über die Schulter, gehe zu jenen Knochen, und schlage mit dem Hammer mit voller Gewalt auf den Stirnknochen in die Mitte des Elchgeweihes. Wirf den Hammer wieder über die Schulter und blicke zur Seite nach jenen Knochen hin. Die Knochen werden sich, nachdem sie Sehnen bekommen haben, miteinander vereinigt, zusammenlegen. Wenn du genügend Kraft hast, so schlage nunmehr stärker als das erste Mal auf den Stirnknochen. Dann, nachdem du den Hammer über die Schulter genommen hast, steh wieder da und blikke hin. Das Skelett wird sich mit Fleisch bedecken, ein Fell wird ihm wachsen, und es wird so groß sein wie ein Berg. Wenn du Kraft genug hast, so schlage ein weiteres Mal noch stärker als vorher zu; und wenn dein Hammer beim dritten Mal gerade niedergefallen sein wird, wird das Tier, indem es sich an vier Stellen auf seine Füße stützt, aufstehen, wobei es schweratmend nach allen Seiten um sich blicken wird. 'So lange wie die Welt geschaffen worden ist, habe ich dagelegen; fur welche und fur eine wie geartete Angelegenheit hast du mich wieder aufgeweckt? Sprich deine Worte und deine Rede eilends', so wird es sprechen. Ach, ich bin in der Todesnot gekommen. Ich werde dir alles erzählen, so sprichst du zu ihm und erzählst ihm, was dir begegnet ist. Und damit ist meine ganze Rede beendet; jetzt aber mach dich auf den Weg, mein liebes Söhnchen! Während ich noch auf dich blicke, wirf dein Kügelchen zur Erde" (ebd.: 180f). Das rollende Kügelchen soll ihm den Weg weisen, den er zu gehen hat, um das Knochenfeld zu finden. Als thematische Parallele hierzu kann man im Alten Testament der Bibel in dem Buch Jesus Sirach, Kap. 46, Vers 12 lesen: "Ihre Gebeine mögen aufsprossen aus ihrer Ruhestätte". Ausfuhrlicher liest man bei dem Propheten Ezechiel, Kap. 37 ab Vers 1: "Es kam über mich die Hand Jahwes, und er führte mich im Geiste hinaus und versetzte mich mitten in die Talebene; diese aber war voll von Totengebeinen. Und er ließ mich ringsum an ihnen vorübergehen, und siehe, es waren ihrer auf dem Boden der Talebene sehr viele, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: 'Menschensohn, werden diese Gebeine wieder zum Leben zurückkehren?' Ich antwortete: 'Herr Jahwe, du weißt es.' Da sagte er zu mir: 'Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr dürren Gebeine, höret das Wort Jahwes. So spricht der Herr Jahwe: Siehe, ich gebe euch Odem, daß ihr lebendig werdet. Und ich will euch mit Sehnen umgeben, euch mit Fleisch überkleiden und euch mit Haut überziehen und Odem

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euch geben, daß ihr lebendig werdet, und ihr sollt erkennen, daß ich Jahwe bin.' Und ich weissagte, wie mir befohlen war, und als ich weissagte, siehe, da entstand ein Rauschen, und die Gebeine rückten eines an das andere heran. Und ich schaute, und siehe, Sehnen und Fleisch kam über sie, und Haut zog sich darüber..." (Ezechiel 37, 1-8). c) Schamanismus in der Archäologie Außer Quellen aus der Mythologie, die die weite Verbreitung des Schamanismus belegen, stehen uns archäologische Befunde zur Verfugung. Einerseits liegen die in neuester Zeit noch nachweisbaren Ursprünge des Schamanismus überwiegend im asiatischen Raum: "Läßt es sich doch nachweisen, daß chinesisches, japanisches, mittelasiatisches Herrschertum mit schamanischen Kräften begabt war ..." (Findeisen u. Gehrts, 1983: 17). Die Herrscher Koreas aus der Yi-Dynastie (1392-1910) trugen noch bis 1910 die Verantwortung dafür, daß ausreichend Regen fiel! Andererseits scheint die Kultur der Jagdreligion bis zum heutigen Südwesteuropa zu reichen: "Ferner wurde erstmalig die Geschichte des ja sehr komplexen Schamanentums der Nordeurasiaten da angeknüpft, wo seine ältesten Elemente (Tracht, Magie) zuverlässig beheimatet sind:

im nordeurasiatischen Jungpaläolithikum, das von

Spanien und Frankreich im Westen bis zum Oberlauf der Lena in Ostsibirien reicht. (Absatz eingefugt) Diese Epoche umfaßt die Zeitspanne von etwa 60.000 bis 10.000 v. Chr. (Aurignacien, Solutreen, Magdalenien). Die Kultur der Höhle von Lascaux beispielsweise ist durch die Radiokarbonmethode auf zirka 14.000, bzw. 12.600 v. Chr. datiert worden. Wenn wir also vorsichtig nur das Spätmagdalenien als Quellschicht flir die heutige nordasiatische Schamanentracht und die auch von den Schamanen noch immer geübte Jagdmagie gelten lassen wollten, so kämen wir immerhin doch noch auf ein Alter von rund 15.000 Jahren flir die beiden genannten Kulturelemente. Da aber auch das Aurignacien in Sibirien festgestellt worden ist, haben wir allen Anlaß, mit noch größeren Zeiträumen flir das Alter von schamanischer Tiertracht und durch die Schamanen ausgeübte jagdmagische Praxis zu rechnen. Der Schamane ist also ein zum Besessenheitspriester gewordener jungpaläolithischer

Magier.

Die jagdmagische Komponente im heutigen Schamanentum ist keine neue Zutat, sondern seine zäh tradierte älteste Aktionsschicht" (ebd.: 20f). Der Schamane ist ein Religionsdiener, der einerseits die uralten Traditionen der Jägerkultur fortfuhrt, der aber andererseits auch schon Wegbereiter eines Priestertums neuerer Religionen ist: "In Wirklichkeit sind die Schamanen keinesfalls in erster Linie Zauberer, sondern priesterlich-väterliche Seelenfuhrer, Heiler und Künstler, und all das auf Grund einer besonderen Veranlagung, die uns sie psychologisch als spiritistische Medien charakterisieren läßt"

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(ebd.: 22). Das Thema der Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres stellt das zentrale Motiv der Religion der Jäger dar. Dabei erweist sich die Gestalt des zur Gottheit gewordenen nahrungspendenden Tieres als im Kulturvergleich variabel: Bei der Kopfjagd und auch beim Jungfrauenopfer wird es zum Menschen, und auch der Schamane wird auf geheimnisvolle Weise zum Nachfolger des Nahrungstieres., dessen unverletztes Skelett sich immer wieder zu neuem Leben erhebt. Die Identität mit dem fur heilig gehaltenen Tier verleiht göttliche Eigenschaften. Wir sahen schon bei Burkert: auch "manche griechische Mythen setzen andeutend den Gott und sein Opfertier gleich: Zeus verwandelt sich in den Stier, Dionysos in ein Ziegenböckchen" (Burkert, 1972: 90). Die jägerische Fähigkeit, sich mit dem Tier als "alter-ego" zu identifizieren, tritt in der Gestalt des Schamanen gleichsam verdichtet auf: "...die tiergestaltigen Hilfsgeister der Schamanen sind noch voll von der Kraft des Zaubers, die einst allen Tieren zugeschrieben wurde. Auch das Schamanengewand muß hier genannt werden: häufig erscheint es noch als Tierkleid" (Findeisen u. Gehrts, 1983: 46). Die Identifikation von Schamane und Tier macht nur unter der Voraussetzungen einen Sinn, daß das Tier, dessen Identität der Schamane annimmt, als heilig gilt, so daß dessen göttliche Qualitäten auf den Schamanen übergehen. '"Sobald sich der Schamane den Mantel überwirft, wird er von der Macht und Kraft jener Geister, die auf seinem Rock abgebildet sind, durchdrungen. Übernatürliche Eigenschaften bemächtigen sich seiner, und diesen verdankt er es, daß er sich in den Himmel oder in die Unterwelt zu versetzen vermag, um mit den Geistern in Verhandlungen und, wenn nötig, auch in Kampf treten zu können. Die Teile des menschlichen Körpers (Rippen, Hände, Fußgelenke usw.) sowie die Federn und Flügel von Vögeln, welche in so großer Menge an dem Schamanenrock hängen, haben verschiedene Forscher auf den Gedanken gebracht, daß jener Schutzgeist, welchen der Rock darstellt, zu gleicher Zeit Mensch und Vogel sein muß. Diese Meinung findet auch ihre Bestätigung in den zahlreichen Grabfunden schamanischer Sachen, die die Gestalt von vogelähnlichen Menschen haben, wie Spicyn in seinen Werken erzählt"' (ebd.: 88). "Da ist nämlich das schöne Material altsteinzeitlicher Darstellungen von Menschen in Tiermasken, ein Fundus, den wir bei einer Diskussion über die Geschichte des Tiergewandes unbedingt heranzuziehen haben,. . . denn die Jägerkultur der Nordasiaten setzt ohne Bruch die gemeinsame Kultur der jägerischen Altsteinzeit Eurasiens bis in die Gegenwart fort... Diese Gestalten tragen nun jedoch nicht nur Gesichtsmasken, wie wir von Harvas Ausführungen anzunehmen hätten, sondern bei ihnen ist der ganze Oberkörper von Fell umhüllt, während die Gesichter unter Gemsmasken versteckt sind. Von solchen Figuren sind schon einige Dutzend bekannt. Die gelungenste Ausführung solcher Tänzer ist die eines Mannes aus der

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Höhle Trois Freres (Ariege), die von Compte Begouen entdeckt worden ist. Der Mann trägt eine Hirschdecke, die in einen Pferdeschweif mündet. Auch die Hände sind fellbedeckt. Auf dem Kopf trägt die Figur eine Hirschmaske mit dazugehörigem Geweih. Da ist ferner ein in einer Wildschweinmaske tanzender Mann aus der nämlichen Höhle. Auch hier ist die Decke weitgehend benutzt, wie auch ein weiteres Bild aus derselben Höhle einen Mann zeigt, der in eine Bisondecke gehüllt ist" (ebd.: 96f). Die archäologischen Befunde, die uns dabei helfen, den Schamanen in die Rolle des heiligen Tieres schlüpfen zu sehen, sind zahlreich: "Allen diesen Darstellungen gemeinsam ist die Tatsache, daß die Personen sämtlich nicht nur Gesichtsmasken, sondern eine ganze Decke mit Kopf, Vorderbeinen und Schwanz tragen. Die Ableitung der nordasiatischen, ein Tier darstellenden Schamanentrachten von solchen altsteinzeitlichen Tiergewandungen dürfte mithin wohl kaum noch zu bezweifeln sein. Bei einer Zeitansetzung des späteren Magdalenien gegen 8500 v. Chr. können wir also die Geschichte der nordasiatischen Schamanentracht mit über 10.000 Jahren als gegeben annehmen. Wir können aber nach den neuesten chronologischen Forschungsergebnissen noch um mindestens 3500 Jahre zurückgehen, worauf bereits eingangs hingewiesen wurde, und auch dieses Datum ist wahrscheinlich noch keineswegs das fernste, mit dem wir fur das Vorhandensein der jungpaläolithischen Tiertracht rechnen dürfen" (ebd.: 97). Auch andere Befunde der Literatur zur Schamanismusforschung stimmen weitgehend damit überein: "Wesentlich älter sind zwei karelische Schamanengräber. Sie befanden sich unter der am Nordufer des Laca gelegenen steinzeitlichen Siedlung von Kubenino und gehören womöglich noch der mittleren Steinzeit an. Beide Gräber enthielten ungewöhnliche, auf Schamanenbestattung hinweisende Funde. In einem der Gräber waren es die Bärentatzenreste an den Fußknochen des Bestatteten. Sie lassen sich kaum anders als Bestandteile der Fußbekleidung erklären, und neuzeitlichen Beschreibungen zufolge haben die nordasischen Schamanen an ihren Stiefeln nicht nur imitierte Tierfußsymbole, sondern auch darauf angebrachte echte Bärentatzen getragen" (Ozols, 138). Über Funde, die nicht in Gräbern, sondern in Siedlungen nachgewiesen wurden, schreibt der Verfasser: "Beide Eigentümlichkeiten weichen von dem normalen Menschenbild ab, stellen aber zwei typische Merkmale der Schamanentracht dar, die mit Hörnern versehene Kopfmaske und die an der Vorderseite der Tracht getragene Rippendarstellung. Alle genannten Beispiele, denen noch andere hinzuzufügen wären, können nicht auf lauter Zufällen beruhen. Sie zeugen vielmehr von einer bereits in der jüngeren Steinzeit - möglicherweise sogar noch früher - bestehenden, an den Trachtbestandteilen ablesbaren schamanistischen Tradition" (ebd.: 138).

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Selbst im Kontext islamisch gewordener Kulturen konnten sich Reste der schamanistischen Tradition - allerdings in modifizierter Form - erhalten: "In der islamischen Mythologie kann die andere Welt allein von Mohammed und einigen auserwählten Propheten und Heiligen besucht werden, nicht jedoch von Schamanen, deren Tätigkeit von der Moslemgeistlichkeit verurteilt wurde. So blieb nach den Glaubensvorstellungen der innerasiatischen Völker (im 19. und 20. Jahrhundert) der Schamane zwar ein Mittler zwischen Menschen und Geistern, doch nur in der irdischen Welt. Man sah in ihm nicht mehr den Mann, der während des Ritus diese Welt verließ;..." (ebd.: 215f). Für die unverfälschte vorislamische Tradition war das aber offenbar wesentlich: Der Schamane hatte die Macht in verschiedenen Welten aktiv zu werden. Daher konnte er die einzige den Lebenden dauerhaft zugängliche irdische Erfahrungswelt verübergehend verlassen. d) Ekstase und Enthusiasmus Für Mircea Eliade ist der Schamanismus eine Technik der Ekstase. Jemand, der in Ekstase gerät, ist, wie man auch alltagsprachlich sagt, außer sich. Ronald Hitzler (Hitzler 1982) sieht im Schamanen eher jemanden, der "begeistert" ist, der es also in sich hat. Man kann demnach sagen, bei Eliade steht die Ekstase, bei Hitzler der Enthusiasmus im Vordergrund. Ekstase bedeutet, daß der Geist der Person den Körper verläßt, Enthusiasmus bedeutet umgekehrt gerade, daß ein zusätzlicher Geist (oder sogar mehrere zugleich) in den Körper des einzelnen hineinfahren, von ihm Besitz ergreifen, so daß er oder sie dann "besessen" ist. Bei einem Schamanen kann gewiß beides vorkommen, doch halte ich es mit Hitzler für wichtiger und im praktizierten Schamanismus für unverzichtbar, daß der Körper des Schamanen enthusiasmiert, oder wie Hitzler schreibt, "begeistert" wird, also zusätzliche Geister in sich aufnimmt. Der Schamane, gleich ob männlich oder weiblich, zeichnet sich demnach dadurch aus, daß er im Kernbereich seiner schamanistischen Praxis, jemand anders wird. Daß dabei auch einmal die Seele eines verstorbenen Durchschnittsmenschen auf Bitten von Hinterbliebenen und gezwungen durch die rituelle Macht in den Leib des Schamanen fährt, ist richtig, aber nicht wesentlich für das Schamanesein: das leisten andere Medien spiritistischer Praxis auch. Der Schamane aber wird nicht irgendwer anderer, er wird vorübergehend die Gottheit! Während der gewöhnliche Gläubige sich mit der Gottheit nur soweit identifiziert, daß er ihre Perspektive übernimmt, kann und muß der Schamane soweit gehen, daß er oder sie auf Zeit die Gottheit ist. Wenn wir dies zum Definitionskriterium des Schamanen erheben, erscheint das Phänomen in einem anderen Licht.

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Der Schamanismus tritt an der Schwelle zu archaischen Religionen auf. Da dort die Gottheit im religiösen Denken der gläubigen Menschen Tiergestalt hat, wird der Schamane, insoweit er die Gottheit wird, selbst tiergestaltig. Wandzeichnungen in steinzeitlichen Felshöhlen zeigen Schamanen in Tierfelle gehüllt. Das Geweih des Nahrungstieres bildet den Kopfschmuck. Solche Verkleidungen helfen dem Gläubigen, sich zu vergewissern, daß der Schamane im Ritual zeitweilig zur Inkarnation der Tiergottheit wird. Wenn aufgrund der Entwicklung des religiösen Bewußtseins der Menschen die Gottheit nicht mehr tiergestaltig ist, ändert das am Prinzip des Schamanismus nichts. Nur nimmt der Schamane nun, wenn er auf Zeit die Gottheit ist, eben deren menschliche Gestalt an und nicht mehr die eines Tieres. Wenn die Gottheit Menschengestalt hat, kann der Schamane nicht mehr allein durch die Metamorphose seines Erscheinungsbildes signalisieren, daß er oder sie nun die Gottheit ist. Jetzt müssen andere Merkmale hinzutreten: Allwissen, Allmacht, Unsterblichkeit. Die jüdisch-christliche Tradition legt dem Gläubigen nahe, von Mose, Elija und Jesus zu glauben, daß es zu keinem der drei je ein Grab gab, in dem der Leichnam dauerhaft Aufnahme gefunden hätte. Alle drei taten Wunder, d.h. sie vollzogen Handlungen, die mit solcher Wirkung nur eine Gottheit in ihrer Allmacht vollziehen kann. In Süd-Korea leben am Ende dieses zweiten Jahrtausends 70.000 Schamaninnen. Die Millionenstadt Seoul ist von hohen Bergen umgeben. Darum kriechen die Wohngebiete am Stadtrand zuweilen gleichsam den Abhang hinauf. Eine Einbahnstraße endet in einem Hof, der Weg neigt sich deutlich aufwärts, etwas verwinkelt steigt man durch niedrige Büsche und vorbei an einigen kleinen Bäumen, bis man vor dem Tempel der beiden Schamaninnen steht. Es ist vergleichbar einer Fußwanderung durch ein Altbaugebiet im Münchener Haidhausen. Der Mann, der die Pforte des Tempels bewacht, weiß von unserem Kommen: meine Doktorandin, Frau Chun Sun-Young hatte das vorher besprochen. Wir ziehen die Schuhe aus und hocken uns im Schneidersitz in das Halbrund der Gläubigen. Die beiden Schamaninnen sind prachtvoll gekleidet in Seidengewänder, die sie immer wieder wechseln. Sie gehören zwei verschiedenen Generationen an, könnten Mutter und Tochter sein, die jüngere ist etwa 30 Jahre alt und sieht sehr gut aus. Das Halbrund der Gläubigen, an dessen einem Ende wir hocken, ist zum Altar hin offen. Der erinnert an ein Erntedankfest, ist beladen mit Feldfrüchten und Obst, aber auch mit Schweinefleisch. Das Schwein ist noch kaum zerlegt, man sieht gleichsam ein totes junges Schwein auf dem Altar liegen. Am anderen Ende des Halbrundes sitzt nahe am Altar die gerade nicht zelebrierende Schamanin mit der horizontalen Doppelfelltrommel, auf der sie einen aufregenden Rhythmus erzeugt. Neben ihr sitzen zwei Männer mit Musikinstrumenten, einer schrillen kleinen Flöte und einem Sai-

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teninstrument, das entfernt an unsere Geige erinnert. Das funfköpfige aktive Tempelpersonal besteht also aus drei Männern: dem Pförtner, dem Flötisten und dem Geiger, und den beiden Schamaninnen. Meine Doktorandin, eine koreanische Katholikin, die in Seoul zu Hause ist, hatte mir vorher berichtet, daß die Schamaninnen in den besseren Wohngegenden nicht geduldet werden, weil sie viel Lärm erzeugen, der ähnlich Anstoß erregt, wie bei uns vielfach das Geläute der Kirchenglocken. Und laut geht es wirklich zu in diesem Ritual. Zu Trommel und Instrumenten wird von der zelebrierenden Schamanin laufend gesungen und gesprochen. Während einer Passage des Ritus springt die junge minutenlang immer wieder hoch, im Nebel des Weihrauchs und bei dem Tempo ihrer Sprünge kann der Zuschauer bei etwas zugekniffenen Augen meinen, daß sie abgehoben habe und mehr als eine Handbreit über dem Tempelboden schwebt. Die Haltung des Kopfes, die Bewegungen der Arme, alles löst eine Stimmung aus, die ich nur unvollkommen als faszinierend bezeichnen kann. Wenn der wilde Tanz den Zweck haben sollte, männliche Geister anzulocken, so würde das unmittelbar einleuchten. Die junge Schamanin übernimmt erschöpft die Trommel, an der sie den im Tanz praktizierten Rhythmus fortfuhren kann. Die Alte vollzieht nun allerlei Magisches, und plötzlich tritt sie auf eine Frau im Kreis der Gläubigen zu, die sich erhebt, und dann unmittelbar und laut angesprochen und nach unserer Sicht der Dinge anscheinend beschimpft wird. Diese Frau war es, die das Ritual bestellt und bezahlt hatte. Sie ist eine Witwe, die den Tod ihres Mannes nicht verwinden konnte. Jetzt war der Geist des Verstorbenen in die alte Schamanin gefahren und sprach durch ihren Mund zu der Witwe etwa so: Du Dummkopf, du solltest doch wissen, daß es mir hier drüben gut geht. Laß also das sinnlose Trauern, sei fröhlich und, wenn du willst, heirate ruhig wieder, ich, dein verstorbener Mann, habe nichts dagegen. Auch ein Katholik kann freilich eine Messe für einen lieben Verstorbenen lesen lassen, doch kaum mit solch drastischen Resultaten. Die Schamaninnen werden in Korea in Anspruch genommen, um den optimalen Termin für die Eröffnung eines neuen Supermarktes zu erfahren, um auf dem Lande einer guten Ernte sicher zu sein, um herauszufinden, ob jemand der geeignete Ehepartner ist. Eine berühmte Schamanin hat einen Bestseller geschrieben mit dem Titel "Die von Gott erwählte Frau", in dem sie das Ende der Herrschaft des Präsidenten von Nord-Korea Kim Il-Sung für 1996 voraussagt. Für uns Soziologen, die wir um die "selffulfilling prophecy" wissen, stellt sich die Frage, ob diese Voraussage vielleicht genügt, um den schwachen Sohn eines starken Vorgängers als Nord-Koreas Führer zu stürzen.

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II. Heiligung von Mutterschaft 1. Empfängnis als Begegnung mit dem Heiligen a) Einleitung Am Beginn dessen, was sinnvoll Kultur genannt werden kann, reicht es fur den werdenden Menschen nicht mehr aus, vegetarisch zu leben und Früchte zu ernten, sondern es wird erforderlich, Tiere zu jagen. Das setzt die Fähigkeit voraus zu töten. Dieser gewaltsame Akt ist etwas, das dem Verhaltensprogramm des Menschen nicht entspricht. Dabei folgen wir nicht der These, daß der Mensch aufgrund seiner im Erbgut weitergegebenen Neigungen brutal sei, und durch die Kultur erst allmählich domestiziert und schließlich gewaltfrei wird, sondern nehmen umgekehrt an, daß er von Haus aus ein friedlicher, bananenerntender Pflanzenesser sei, der eine Kultur braucht, die ihn das Töten erst lehrt, damit er auch in unwirtlichen Landschaften, in der Nähe des ewigen Eises, oder in anderen, von tropischen Zonen weit entfernten Gegenden dadurch überleben kann, daß erjagt. Die Vorstellungen vom Heiligen änderten sich bei einigen Populationen, bei denen der Mensch einen immer größeren Teil seiner Nahrung der Kleinviehhaltung und dem Hack- und Gartenbau verdankte und als die Neigung, seßhaft zu werden, zu immer schärferen Streitigkeiten mit benachbarten Bevölkerungen Anlaß gab. Die Fruchtbarkeit der Frau wurde nun als Quelle des Lebens geglaubt: Ihr verdankte die Gruppe, daß sie zahlenmäßig stark genug wurde oder blieb, um sich durchsetzen zu können. Sogar die Vermehrung des Kleinviehs, das als Nahrung mehr und mehr an die Stelle des gejagten Tieres trat, wurde als Folge der Segnungen durch eine Göttin gesehen und mit weiblicher Fruchtbarkeit im weiteren Sinne in Verbindung gebracht. Ein eindrucksvolles Beispiel für den Übergang von der göttlichen Tiergestalt zur göttlichen Frauengestalt bietet die Gorgo im archäologischen Museum auf Korfu (vgl. Abbildung folgende Seite). Vor dem Betrachter steht dort in realistischer Bewegtheit eine durchaus wilde und furchteinflößende Muttergottheit. Halb noch Raubtier, halb schon Frau, läßt die Gorgo von Korfu es plausibel erscheinen, daß in der Evolution der Vorstellung des Menschen von einem göttlichen Wesen, von einer göttlichen Person, die ihr gegenübersteht, die nächste Entwicklungsstufe nach der Tiergottheit, die der weiblichen Gottheit ist: Eine Fruchtbarkeitsgöttin, die häufig ausdrücklich als Jungfrau bezeichnet wird. Dieser Jungfrauenbegriff ist nicht der, den wir heute zu unterstellen geneigt sind und der einfach heißt "sexuell unberührt". Hier ist mit jungfräulich in erster Linie die Fähigkeit gemeint, aus eigener Kraft Leben spenden zu können.

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Abbildung: Giebel des Artemistempels von Korfu (um 590 v. Chr.) (Photo Archäologisches Institut der Universität München)

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Die Heiligung von Mutterschaft ist die Antithese zur Heiligung der Jagd, die ausschließlich Männersache war: Das Töten wurde als eine Aufgabe der Männer definiert und das Mannsein, wie wir gesehen haben, in manchen Kulturen an den Beweis gekoppelt, getötet zu haben. Andernfalls wären Männer weniger bereit gewesen, einem gefährlichen Tier das Leben zu nehmen und einen so blutigen Akt zu vollbringen. Es ist auch verständlich, daß nur wenige Frauen sich der qualvollen Aufgabe des Gebärens unterziehen, wenn nicht die sie umgebende Kultur weibliche Fruchtbarkeit als Quelle des Lebens religiös anerkennt und den Geburtsakt heiligt. Dieses dritte Kapitel soll auch der Untersuchung der Frage dienen, wie es in verschiedenen Kulturen zur Heiligung der Empfängnis als geheimnisvollem Beginn von Mutterschaft gekommen ist. b) Empfängnisglaube

der Trobriander nach Malinowski

Bronislaw Malinowski, ein Pole, der in England und in den U.S.A. gelebt hat und für die Geschichte der Soziologie als früher Funktionalist bedeutend war, hat als Folge des ersten Weltkriegs, der ihn zum Internierten und gleichsam Kriegsgefangenen machte, in den Jahren 1915 und 1917 auf den Trobriand Inseln die dort lebenden Eingeborenen intensiv studiert. Er berichtet, daß diese Eingeborenen, die Trobriander, glaubten: "daß einzig und allein die Mutter den Leib des Kindes aufbaue und daß der Mann in keiner Weise zu seiner Entstehung beitrage" (Malinowski, 1931: 3). Wenn die Ordnungsvorstellungen einer Kultur darauf beruhen, daß alles menschliche Leben ausschließlich der Fruchtbarkeit und Kreativität der Mütter zu verdanken ist, dann wird auch die Religion diesen Vorstellungen entsprechend an den Müttern orientiert sein. Bei Vätern können Glaubensvorstellungen schon deshalb nicht anknüpfen, weil die Idee von Vaterschaft als Blutsverwandtschaft in der matrilinearen Kultur gänzlich fehlt. Unter solchen Bedingungen ist eben der Glaube an eine Vatergottheit nicht zu erwarten, (obwohl freilich eine Onkelgottheit' denkbar wäre). Die religiösen Überzeugungen, durch die nach dem Glauben der Trobriander die Fruchtbarkeit der Frau geheiligt wird, knüpfen bei den empirischen Gegebenheiten an, die ihnen aus ihren anschaulichen Familien vertraut sind: Die matrilineare Kultur verleiht dem Einzelnen die lebenslänglich unverlierbare Mitgliedschaft in der Familie seiner Mutter. Die Bande der Mutterlinie allein sind Blutsbande - entsprechend den Vorstellungen, daß ein Neugeborenes von gleicher Substanz sei wie die Mutter. Malinowski zitiert einige Aussprüche der Trobriander: "'Die Mutter nährt das Kind in ihrem Leib. Später, wenn es herauskommt, nährt sie es mit ihrer Milch.' 'Die Mutter macht das Kind aus ihrem Blut.' 'Brüder und Schwestern sind vom gleichen Fleisch, weil sie von derselben Mutter kommen'" (ebd.: 3).

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Den mütterlichen Blutsbanden weit untergeordnet sind Bindungen aufgrund von Heirat oder eine Vater-Kind-Beziehung. Das zeigt sich in Fragen der Erbschaft oder der Nachfolge in der Häuptlingswürde oder in anderen Führungsrollen. Als Mann kann ein großer Häuptling, der als Krieger oder Schamane hohes Ansehen genießt, sein Amt, sobald er zu alt wird, nur an den Sohn seiner Schwester weitergeben. Während wir in unserer Kultur in der Vergangenheit davon ausgingen, daß ein Vater seine Nachfolge seinem Sohn übertragen wird, ist eben in der matrilinearen Kultur eine Vater-Sohn-Beziehung verhältnismäßig bedeutungslos, weil ja beide verschiedene Mütter haben und folglich verschiedenen Familien angehören. Der Häuptling der matrilinearen Kultur wird daher - wie wir sahen - sein Amt nicht seinem Sohn, sondern dem Sohn seiner Schwester anvertrauen. Seine Schwester und er sind vom gleichen Fleisch. Seine Schwester hat als Mutter wiederum vom gleichen Fleisch ihren Sohn geboren. Er, der Neffe des Häuptlings, ist daher vom gleichen Fleisch wie der Häuptling selbst, er ist der durch Blutsverwandtschaft legitimierte Nachkomme. Wie spannungsreich und emotional belastend die Lage des Mannes in der Familie der matrilinearen Kultur ist, zeigt besonders eindrucksvoll ein Bericht Malinowskis über den Häuptling des Dorfes Omarakana (ebd.: 9), der zwischen der stammesrechtlichen Pflicht gegenüber dem Sohn seiner Schwester, der selbstverständlich das Recht hatte, der Nachfolger des Häuptlings zu werden, und seinem eigenen Lieblingssohn fast zerbrach. Zwischen Neffe als dem Sohn der Schwester und Lieblingssohn kam es zu einem heftigen Streit, der mit der Verbannung des Sohnes endete. Die Familie des Häuptlings, also seine Schwestern und deren Söhne, wiesen seinen erwachsenen Sohn nach dem Stammesgesetz aus dem Dorf. Er zog in das Dorf, aus dem seine Mutter, die Lieblingsfrau des Häuptlings stammte. Durch die Verbannung von ihrem Sohn getrennt, starb sie bald aus Kummer (ebd.: 9ff). Abgesehen von diesem traurigen Ende einer Häuptlingsfrau steht - verglichen mit den modernen Industriegesellschaften - für die matrilinearen Kulturen ein außerordentlich großer immaterieller Einfluß der Mütter fest. Dieser Einfluß beruht auf einer an magische Macht grenzenden Bewunderung, die die Männer für die Fähigkeiten der Frauen haben, Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen, indem sie sie stillen. Dieser lebensspendenden Fruchtbarkeit der Frau hat nach dem Denken des Menschen der matrilinearen Kultur der Mann nichts Vergleichbares gegenüberzustellen, mit Ausnahme seiner Leistung als Jäger, die aber in dieser Kultur fünktional nicht bedeutend ist und kulturell nicht als geheiligt gilt. Die vergleichsweise schwache Stellung des Mannes im Wertsystem dieser Kultur wird noch dadurch verschärft, daß sein Beitrag zur Fruchtbarkeit der Frau unberücksichtigt bleibt: "Die Institution Ehe ist bei den Eingeborenen gut ausgebaut, doch fehlt ihnen jede Kenntnis vom Anteil des Mannes an der Zeugung von Kindern. Dabei hat das Wort 'Vater' für die Trobri-

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ander eine ganz bestimmte, wenn auch ausschließlich soziale Bedeutung: E s bezeichnet den Mann, der mit der Mutter verheiratet ist, im gleichen Hause mit ihr lebt und zum Haushalt gehört (ebd.: 5). Bezogen auf die Familienzugehörigkeit ist dieser sogenannte "Vater" aber Außenstehender und Fremder, er ist mit seiner Frau und seinen Kindern nicht verwandt, sondern bleibt gleichsam ein ewiger Hausfreund. Diese matrilineare Variante von Ehe ist demnach zu schwach, als daß durch Eheschließung Verwandtschaftsbindungen begründet werden könnten. So bleibt die Ehe wesentlich auf die Regelung des Sexualkontaktes zwischen den Partnern beschränkt. Der rituellen Stellung von Mann und Frau in der Religion entspricht ihre Stellung in der Familie: Die matrilineare Kultur bietet der heranwachsenden Tochter große Stabilität, weil sich in ihr die Mutterlinie fortsetzen wird. Dagegen muß der Sohn im Laufe seiner Entwicklung die männliche Bezugsperson wechseln: Zunächst erlebt er als kleines Kind die zärtliche Nähe seines "Vaters", doch je älter er wird, desto mehr untersteht er dem Erziehungsdruck und den Anforderungen seines Onkels mütterlicherseits. Die Problematik dieses Bruchs in der Sozialisation ist vergleichbar der Schwierigkeit für Kinder unserer Industriekultur, nach der ganz überwiegend weiblichen Erziehung in Privatbereich und Schule in der frühen Kindheit, dann anschließend in späterer Kindheit und Jugendzeit eine männliche Bezugsperson zu finden. Auf den Trobriand-Inseln ist die Matrilinearität der Kultur verbunden mit der virilokalen Eheform. Das bedeutet, daß die Frau bei der Heirat in die Dorfgemeinschaft und in das Haus ihres Ehemannes zieht, ohne allerdings Mitglied seiner Verwandtschaftsgruppe zu werden. Durch Eheschließung wird also in keinem Falle etwas an den Zugehörigkeiten zu Familien geändert: Eheschließung begründet nicht Verwandtschaft. Die virilokale Lebensform bewirkt aber, daß die Kleinkinder bei ihrem Vater aufwachsen. "Er nimmt tätigen Anteil an der sorglichen Pflege der Kleinen; stets empfindet und beweist er zärtliche Liebe fur sie, und später hilft er sie erziehen. Das Wort tama (Vater) in seinem gefühlsbetonten Sinn verdichtet also eine Fülle frühester Kindheitserinnerungen und drückt jenes typische Gefühl aus, das zwischen einem Kind und einem reifen liebevollen Mann des gleichen Haushalts besteht, während es in sozialer Hinsicht den Mann bezeichnet, der mit der Mutter intim verkehrt und Herr des Haushalts ist" (ebd.: 4). Sobald aber das Kind so alt wird, daß sein Leben über den engen Raum des Familienhaushalts hinausgreift, wird ihm klargemacht, "daß es nicht zum selben Clan gehört wie sein tama, daß sein Totem ein anderes ist, übereinstimmend mit dem Totem seiner Mutter" (ebd.: 5). Die unaufgebbare Identifizierung mit dem Totem signalisiert die lebenslange Mitgliedschaft im Clan der Mutter. Der innere Abstand zu seinem tama vergrößert sich aus Rück-

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sieht auf die Erwartungen der Umwelt. "Ein anderer Mann taucht auf, vom Kind kadagu ('meiner Mutter Bruder') genannt. Dieser Mann kann in derselben Ortschaft wohnen, doch ebensogut in einem anderen Dorf. Das Kind erfährt überdies: der Ort, wo sein kada (Mutterbruder) wohnt, ist auch sein, des Kindes 'eigenes Dorf, dort hat es Besitz und andere Bürgerrechte, dort winkt ihm seine künftige Laufbahn, dort findet es seine natürlichen Verbündeten und Genossen. Vielleicht wird es sogar in seinem Geburtsort als 'Außenstehender' (tomakava) verspottet; doch in seinem 'eigenen' Dorfe, wo die Brüder seiner Mutter wohnen, ist sein Vater ein Fremder, es selbst aber ein natürlicher Bürger" (ebd.: 5). So wird mit zunehmendem Alter des Knaben der Kontakt zum Vater immer unbedeutender und der Anspruch des Onkels mütterlicherseits auf Autorität und Gehorsam immer größer. Der Onkel hat ein Interesse an der Erziehung seiner Neffen und Nichten, gehen doch bei seinem Tode alle seine Besitztümer auf sie über. Darum bemüht er sich, zu seinen Lebzeiten alles, was er kann und weiß, auf sie zu übertragen: Er lehrt sie tanzen, singen, unterweist sie in allem, was ein tüchtiger Stammesangehöriger können muß, und fuhrt sie auch in die Mythen und die Religion des Stammes ein. So gibt eine Generation von Männern der nächsten Generation die Normen und Werte der Kultur weiter, nur geschieht die Weitergabe eben nicht an die leiblichen Kinder des Mannes, sondern an seine Nichten und Neffen, also an die Kinder seiner Schwester. Da nahezu jeder Mann sowohl Vater als auch Onkel ist, übt auch fast jeder Mann diese Erziehungstätigkeit gegenüber der nächsten Generation aus. Nur tut er das, wie gesagt, unter den Bedingungen der matrilinearen Kultur nicht als Vater, sondern als Onkel. Wenn in der Familie der matrilinearen Kultur Vaterschaft verhältnismäßig unbedeutend bleibt, so liegt das vor allem an der Unwissenheit über den Zusammenhang zwischen Paarung und Schwangerschaft. Die Trobriander, die Malinowski beschreibt, wissen nicht, daß durch menschliches Tun ein Kind gezeugt werden kann, sondern meinen, daß der Nachwuchs vom Geist eines verstorbenen Ahnen der Mutter in sie hineingelegt würde. Wenn nach diesen Vorstellungen der Ehemann der Frau an der Erzeugung des Nachwuchses ganz und gar nicht beteiligt ist, dann kann er selbstverständlich im Bereich der Fruchtbarkeit auf keine eigene schöpferische Aktivität hinweisen. Daher gilt er auch nicht als Erzeuger seiner Kinder, sondern nur als der Lieblingsspielgefährte seiner Frau und ihrer Kinder, die freilich auch seine Kinder sind. Das hat nun weiterhin eine Reihe bedeutsamer Konsequenzen für das religiöse Vorstellen und für die Sexualmoral der matrilinearen Kultur. Die sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau wird im Kontext dieser Kultur nämlich gar nicht unter dem Gesichtspunkt der Zeugung neuen Lebens gesehen, sondern einzig und allein als besonders intensive und intime Form der Vereinigung zweier Erwachsener. Sie

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braucht aus dieser Perspektive weniger streng unter die Kontrolle der Gesellschaft genommen zu werden, weil die vermeintlichen Konsequenzen sexuellen Tuns auf das Augenblickserleben der Partner beschränkt bleiben. Auch eine Feststellung der Vaterschaft interessiert nicht, da sie im biologischen Sinne nicht bekannt ist. So liegt uns für die Sexualmoral der matrilinearen Eingeborenenkultur eine ähnliche Trennung von Lustgewinn und Zeugungszweck vor, wie sie in der Gegenwart durch das weitverbreitete Praktizieren von Techniken der Empfängnisverhütung erreicht werden kann. Freilich ist dies für den Trobriand-Insulaner nur in seiner Vorstellung so, während er natürlich in Wirklichkeit Kinder zeugt, ohne es zu wissen. Vielleicht ist der Verlust dieser Unwissenheit ein Ereignis in der Kulturgeschichte, das anklingt, wenn im Schöpfungsbericht der Bibel vom Baum der Erkenntnis die Rede ist. Um die sichere Zuordnung eines neugeborenen Kindes zu einer Familie zu gewährleisten, genügt es in der matrilinearen Kultur jedenfalls, zu wissen, wer seine Mutter ist, und das festzustellen bereitet niemals Schwierigkeiten. Die religiösen Konsequenzen dieser Abstammungsordnung liegen auf der Hand: Die Fähigkeit des Menschen, sich fortzupflanzen, kann ausschließlich oder überwiegend als das Ergebnis fraulicher Fruchtbarkeit gedeutet werden. Die Empfängnis ist ein heiliges Ereignis, weil die Frau durch sie fruchtbar wird; der Mann jedoch hat daran aus der Sicht dieser Kultur keinen Anteil. c) Fruchtbarkeit

als Segnung durch die Göttin

Wenn die Religion einer Kultur auf der Annahme basiert, daß alles menschliche Leben ausschließlich der Fruchtbarkeit und Kreativität der Mütter zu verdanken sei, werden auch die Vorstellungen vom Heiligen dazu neigen, an Müttern orientiert zu sein: Im Zentrum des Kults steht dann ein Fruchtbarkeitsglaube, bezogen auf eine Muttergottheit, die ohne Mitwirkung eines männlichen Wesens aus sich selbst heraus Nachwuchs gebiert. Generatives Verhalten wird als Ergebnis autonom fraulicher Kreativität definiert. Kollektiver Träger dieses Wertsystems ist ein Verband von Frauen, in dessen Händen die Verantwortung für das Tradieren des Glaubens liegt. Dem entspricht es, daß Frauen als Schamaninnen oder Priesterinnen dem Kult der großen Göttin dienen. Im Alten Testament zeigt noch der ältere der beiden Schöpfungsberichte, der vermutlich um das Jahr 1000 v. Chr. entstanden ist, deutliche Spuren der Auseinandersetzung mit der matrilinearen Kultur, die der Kultur des Alten Testaments vorausging. Bei der Schlange, der in diesem Schöpfungsbericht die Initiative für den Ungehorsam gegenüber dem Schöpfergott zugeschrieben wird, handelt es sich - wie wir noch sehen werden - um den Restbestand eines Gegengottes aus der Mythologie, die das Alte Testament überwinden sollte. Im Kulturraum

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des alten Orients gab es eine Urmuttergottheit, die mit der Gestalt der Schlange in Verbindung gebracht wurde. Daraus kann geschlossen werden, daß wir es bei der Paradiesschlange mit einer Erinnerung an eine Urmuttergottheit zu tun haben. Demnach ist die Schlange gleichsam eine Verdoppelung der Eva: Das weibliche, urmütterliche Prinzip taucht hier in der verhüllten Gestalt der Schlange symbolisch noch ein zweites Mal auf. Vermutlich haben sich die Entwicklungswege der Kulturen im Laufe der jüngeren Altsteinzeit getrennt, und nur jene Kulturpopulationen, die dem vorderasiatisch-europäischmediterranen Raum nahestehen, nahmen die Fruchtbarkeit der Frau zum Anlaß, den Glauben an eine Fruchtbarkeitsgöttin auszubilden. Jean Przyluski (Przyluski, 1950) hat dargelegt, wie die Religion der Fruchtbarkeitsgöttin zur Entstehung des Weltbildes beitrug, das die matrilineare Familienkultur begünstigte. Diese Göttin galt als jungfräulich, weil sie aus eigener autonomer Kreativität fähig war, Nachwuchs zu gebären. Hier liegt der Ursprung des Konzepts der Parthenogenese. Mutterschaft wurde sozial relevant nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Fruchtbarkeit der einzelnen Frau, sondern auch unter dem der Verbundenheit von Geschwistern mütterlicherseits. In dem Maße, in dem das Bewußtsein, aus einer gemeinsamen Mutter hervorgegangen zu sein, zu kontinuierlich solidarischem Handeln führte, entstand überhaupt erst die religiöse Gemeinde, die zur Trägerin der Fruchtbarkeitsreligion werden konnte. Für Mitteleuropäer war es bis in die jüngste Vergangenheit normal, sich den Schöpfergott als Vater vorstellen. Es gibt aber wenig Zweifel daran, daß vor ungefähr 6000 Jahren die Mutter-Gottheit in den meisten Mittelmeer-Kulturen dominierte und daß etwa um das Jahr 2000 vor Christus eine sehr vitale Renaissance der Dominanz der Mutter-Gottheit stattfand. Im Gilgamesh-Epos, das etwa um diese Zeit entstand, wird der Schöpfungsvorgang als Geburtsakt beschrieben. d) Irreguläre Mutterschaft im patrilinearen Kontext Die Dokumente der Hochreligionen berichten von Taten, die große Personen wider jedes vernünftige Urteil allein aus dem Glauben heraus unternommen haben. Der mythische Held, von dem das Volk Israel seinen Namen ableitet und von dem es dem Glauben nach abstammt, ist Jakob, der Mann, der mit Gott gerungen hat. Ein Ringkampf mit dem höchsten Wesen in ganz realistischer physischer Weise ist vielleicht die unvernünftigste Tat, der sich ein Sterblicher hingeben kann. Wir kennen die Einzelheiten nicht, über das, was in jener Nacht am Flußufer tatsächlich geschehen ist. Der Kampf endete mit einer Verletzung der Hüfte des Israel und ließ ihn mit einer Erfahrung zurück, die das Ergebnis einer einzigartigen Begegnung mit seinem Schöpfer war und die ihm für den ganzen Rest seines Lebens einen unerschütterlichen Glauben gab (Genesis 32, 26-31).

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Allein auf den Glauben gestützt und gegen alle Vernunft zu handeln, ist in der Tradition des antiken Judentums keineswegs ein Vorrecht von Männern. Juda, einer der Söhne des Jakob, der mit Gott gerungen hat, hatte eine Schwiegertochter namens Tamar, die durch den Tod von Judas ältestem Sohn zur Witwe wurde. Juda versprach, ihr einen neuen Ehemann zu geben, hielt aber sein Versprechen nicht ein. Aus Furcht, sie könne altern und ohne einen Sohn allein dastehen, verkleidete sich Tamar als Hure und verführte in dieser Verkleidung ihren Schwiegervater dazu, mit ihr zu schlafen. Als Ergebnis gebar sie Zwillinge, von denen der eine das Bindeglied in der Abstammungslinie des Königs David und damit auch von Jesus ist (Genesis 38, Matthäus 1,3). Man kann den Standpunkt vertreten, daß sich Tamar bei der Wahl der Mittel rational an dem Ziel orientiert, Nachwuchs zu bekommen. Aber unter den Umständen, die das Buch Genesis berichtet, also in Abwesenheit eines legitimen Erzeugers als Vater, muß ihr Insistieren darauf, Mutter zu werden, als irregulär betrachtet werden und - nach der Logik der offiziellen Ethik beurteilt - als unvernünftig. Tamar mag auf eine ältere Schicht des Glaubens zurückgegriffen haben, als sie sich als Hure verkleidete, um mit ihrem Schwiegervater Geschlechtsverkehr haben zu können. Juda erkennt an, daß ihr Verhalten durch seinen Wortbruch gerechtfertigt war (Genesis 38, 26), aber das ändert nichts daran, daß ihr Tun einen riskanten Bruch der vernünftig verfaßten Sozialordnung darstellte. Den Mut dazu fand sie vermutlich in Resten des Glaubens an die Heiligung von Mutterschaft. Während Tamar sich nur als Hure verkleidet, ohne in Wahrheit eine zu sein, wird in der ehrwürdigen Abstammungslinie, die zu König David und als Folge davon auch zu Jesus fuhrt, außerdem von einer Frau berichtet, die wirklich eine Hure war. Joshua schickt zwei Männer als Spione nach Jericho, aber sie werden entdeckt und sind in Gefahr, hingerichtet zu werden. Eine Hure namens Rachab versteckt die beiden in ihrem Hause und rettet dadurch das Leben der Spione. Im Laufe des Gespräches bekennt Rachab den beiden Männern ihren Glauben an den allmächtigen Gott Jahwe und daß sie keinen Zweifel an der Fähigkeit der Israeliten hat, die ganze Stadt Jericho einzunehmen. Als Ausgleich dafür, daß sie die beiden Spione gerettet hat, erbittet sie den Schutz des Lebens für sich selbst und fur ihre Verwandten. Das wird ihr als feierliches Versprechen zugesagt. Rachab wird so gerettet und - da sie die beiden Spione offenbar nicht nur versteckt hat wird sie die Mutter des Boas (Joshua 2, Matthäus 1,5). Auch hier kann man daraufhinweisen, daß es im Grunde vernünftig ist, wenn eine Frau die Spione aufnimmt, weil sie sicher ist, daß deren Seite den Kampf um die belagerte Stadt gewinnen wird, und wenn ihr auch noch Schutz für sie selbst und für ihre Familie als Gegenleistung versprochen wird. Rachab scheint so gesehen als kluge, zielorientierte Frau zu handeln. Das mag zwar für die Mittel

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gelten, zu denen sie sich entschließt, aber gewiß nicht für das überraschende Ergebnis, das sie zur Mutter eines der Vorfahren des Königs David macht. Auch hier schimmert der Glaube an die Heiligung von Mutterschaft durch die später entstandene Religion des Jahweglaubens hindurch. Taditioneller christlicher Glaube sowohl in der christlichen Orthodoxie als auch im römischen Katholizismus hat ähnliche Inhalte im Zusammenhang mit der Verehrung der Jungfrau Maria als Mutter Gottes konserviert, die, wenn man sie aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, zu den Fällen irregulärer Mutterschaft gezählt werden können.

2. Spuren des Mutterkults in Hochreligionen des Altertums a) Ägypten: Isis und Osiris Im Anschluss an die Hypothese, nach der auf die Heiligung der Jagd und des Nahrungstieres die Heiligung der Mutterschaft folgte, wenden wir uns den frühen Hochreligionen des Altertums zu. Über die Religion Ägyptens sind die ältesten schriftlichen Quellen als Inschriften von Pyramiden erhalten. Der Kult, der nahe dem heutigen Kairo gelegenen Stadt Heliopolis ausgeübt wurde, dient der Verehrung eines männliche Gottes namens Atum, der durch Masturbation Leben hervorbringt. Die Pyramidentexte enthalten außderdem eine etwas weniger anstößige Version des Schöpfungsvorgangs, bei der von einem Ausspucken aus dem Munde die Rede ist. Es gibt allerdings eine völlig eindeutige Beschreibung, in der Atum seinen Phallus in die Faust nimmt. Atum schafft auf diese Weise seinen Sohn Shu und seine Tochter Tefnut, Zwillingsgötter, deren Vater er so wird, ohne die Mitwirkung einer Mutter (Die Schöpfungsmythen, 1977). Diese eigenartige Familienkonstellation hat keinen Sinn, wenn man nicht annimmt, daß sie eine Reaktion auf eine früher vorhandene Muttergottheit darstellt, in der die autonome Schöpferkraft einer Frau als Geburt ohne Empfängnis dargestellt wird. Hier im Falle des eindeutig männlichen Atum-Chepri von Heliopolis haben wir es umgekehrt mit einer 'Geburt' durch Masturbation aber ohne Schwangerschaft zu tun (ebd.: 67), also aufgrund der autonomen "Kreativität" eines Mannes. Ein anderes altes Dokument über dieselbe Heilige Familie, der Papyrus Bremner Rhind, enthält ein magisches Ritual zum Schutz der Welt vor der Schlange Apophis und ihrem Anhang: '"Buch zur Erkenntnis der Erscheinungsformen des Re, um (so) die Schlange Apophis zu stürzen. Also sprach der Herr des Alls: als ich sichtbar geworden war in der Existenz, existierte die Existenz ... [Ich vereinte mich mit meinem eigenen Leib, so daß sie aus mir hervorgingen, als ich mit meiner Faust Erregung erzeugt hatte und mein Verlangen Wirklichkeit geworden war durch meine Hand, als mein Same aus meinem Munde gefallen war. Ich spie aus als Schu und warf Speichel aus als Tefnut. Ich war entstanden als ein einziger Gott

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und siehe, ich war drei Götter ... Schu und Tefnut brachten Geb und Nut zur Welt, Geb und Nut brachten aus ihrem Leib nacheinander Osiris, Hor-Mechentirti, Seth, Isis und Nephthys zur Welt..."' (ebd.: 68-71). In diesem Papyrus wird beschrieben, wie sich die Heilige Familie Ägyptens vermehrt: Atum, Shu und Tefnut werden so etwas wie eine Dreifaltigkeit. Trotzdem ist Atum als der Vater von Shu und Tefnut beschrieben. Shu und Tefnut sind Bruder und Schwester und gleichzeitig werden sie die Eltern eines Sohnes und einer Tochter mit Namen Geb und Nut. Wiederum wie in der Generation davor bringen Bruder und Schwester als Eltern Nachwuchs hervor. Sie haben fünf Kinder, und darunter befinden sich Osiris, Isis und Seth. Nach dem Osiris Mythos wird Osiris von seinem Bruder Seth ermordet. Seth tritt als Gott der Dürre und der trockenen Wüste hervor und tötet alle Vegetation. Osiris als Gott der sterbenden und wiederauferstehenden Vegetation wird in den Fluten des Nils ertränkt. Aber seine Schwester und Ehefrau Isis sucht in wahrer Liebe nach ihm, findet seinen Körper und bringt ihn durch ein Trauerritual wieder zum Leben. Dann empfangt sie von ihm ein Kind und gebärt den gemeinsamen Sohn von Isis und Osiris, der Horns heißt und den sie vor dem immer noch mordlüsternen Bruder Seth in den Sümpfen des Nildeltas verbergen muß. Das erinnert an die Geschichte des Moses-Kindes, das in einem schwimmenden Körbchen verborgen wurde. Isis wird zuweilen mit der Sonnenscheibe dargestellt. Sie wird verehrt als treue Ehefrau und liebevolle Mutter, die ein vaterloses Kind, das ständig von Gefahren bedroht ist, aufzieht. In Kunstwerken wird sie gelegentlich auch als stillende Mutter mit dem Horus Kind an der Brust dargestellt. Die Völker um das Mittelmeer herum und zeitweilig sogar bis nach Köln hinaufhaben Isis verehrt, weil geglaubt wurde, sie habe die Fähigkeit, das Schicksal zu wenden, und die Prädetermination zu überwinden, die bei der Geburt gegeben war und die die anderen Götter des Altertums nicht zu verändern in der Lage waren. Es gibt ein gut erhaltenes Fresko von Isis im Grab der Königin Nefretari im Tal der Königinnen bei Theben, das man auf das Jahr 1250 v.Chr. datiert hat, das also etwa zu der Zeit entstanden ist, als Mose die Israeliten aus Ägypten herausgeführt hat. Ohne Mitwirkung eines Vaters zieht Isis ihren Sohn Horus (oder Horos) auf. Als Horus erwachsen ist, rächt er seinen Vater Osiris, indem er Seth bei Duellen bzw. (nach einer anderen Version des Mythos) vor Gericht besiegt. Er stellt das Recht seines ermordeten Vaters wieder her und wird selbst der göttliche Herrscher ganz Ägyptens. Jeder Pharao wird seitdem als Inkarnation des Horus verstanden. Horus ist der Gott des Lichtes; die Sonne und der Mond

sind

seine

Augen.

Er

wird

beschrieben

als jugendlich,

kämpferisch

und

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königlich. Er beschützt Kinder vor Gefahren. Dies gibt ihm die Qualität eines fürsorglichen Vaters. Da Isis den Horns geboren hat, wird sie als Gottesmutter verehrt. Sie ist die in den Kontext der alt-ägyptischen Hochkultur eingeordnete Fruchtbarkeitsgöttin. Wenn wir die Daten über die Heilige Familie des Alten Ägypten wörtlich nehmen, stellt Horus die fünfte Generation dar. Unabhängig davon, ob wir den Stammbaum in männlicher oder weiblicher Linie verfolgen, ergibt sich das gleiche Resultat, weil in jeder Generation die Ehegatten zugleich Bruder und Schwester sind. Daher lautet die Genealogie in männlicher Linie: Atum, Shu, Geb, Osiris, Horus, und in weiblicher Linie Atum, Tefnut, Nut, Isis, die Mutter des Horus. Das größte Problem scheint der Ursprung dieser Heiligen Familie zu sein: Unserer Ausgangshypothese zufolge müßte ursprünglich eine 'magna-mater'-Göttin als Fruchtbarkeitsgöttin existiert haben, die dann im Wege der Jungfrauengeburt andere Personen zur Welt bringt. Zur Mutterzentriertheit einer Kultur gehört - wie Leo Frobenius meint - die Neigung, Schöpfung als einen ausschließlich physischen Vorgang zu deuten. Dieser Typ menschlicher Kultur neigt dazu, den Körper und das Physische zu bewundern und gleichzeitig den Gedanken an eine Seele zu verwerfen. Mütter dieser frühen Form menschlicher Religion assoziieren den Gedanken an eine körperlose Seele mit einem Gespenst, das man fürchtet und verabscheut (Frobenius, 1925: 80). Diese Neigung erklärt vielleicht auch die auffällig physische Qualität der frühen Gottheiten. Der ägyptische Gott Atum, auch bekannt unter dem Namen Atum-Re oder Atum-Chepri ist in der Version, wie er in Heliopolis verehrt wurde, eindeutig männlich. Aber in den Versionen des Atum-Re von Memphis, Theben oder Esne hat er Eigenschaften eines Zwitters. Er wird dargestellt als Figur mit weiblichen Brüsten und einem männlichen Phallus. Ein Text aus Esne enthält für ihn den bemerkenswerten Titel: "Vater der Väter und Mutter der Mütter." (Die Schöpfungsmythen, 1977: 93). Wenn ein Schöpfergott der Vater aller Väter und zugleich die Mutter aller Mütter sein kann, dann muß er hinsichtlich seiner sexuellen Identität neutral bleiben, um sowohl gläubigen Männern als auch gläubigen Frauen als Bezugsperson dienen zu können. Im Christentum der neuesten Zeit gibt es einige Tendenzen dazu, den Schöpfergott von seiner väterlich männlichen Qualität in Richtung auf ein Neutrum zu verändern. Vielleicht ist im alten Ägypten die Zwitter-Version ebenso wie die masturbierende Version des Schöpfergottes eine Übergangsform auf dem Weg der allmählichen Transformation einer ursprünglich weiblichen Fruchtbarkeitsgottheit in eine männliche Gestalt. Die frühen männlichen Schöpfergötter waren möglicherweise eine Erfindung der männlichen Initiationsgruppen, die gleichsam die theologischen Grundlagen einer Gegenkultur schufen. Eine männliche

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Gegenkultur würde aber nur gewaltsam und durch Unterdrückung der Frauen aufrechterhalten werden können, wenn nicht auch die Frauen als Anhänger der betreffenden Religion gewonnen werden konnten. Darum gibt es Grund zu der Annahme, daß keine rein männliche Theologie auf die Dauer stabilisiert werden konnte und daß es früher oder später die Tendenz gab, eine Göttin in die Götterwelt der betreffenden Religion aufzunehmen, mit der sich auch die Frauen der betreffenden Gesellschaft identifizieren konnten. Die Annahme, daß sich Frauen nur mit weiblichen Bezugspersonen und Männer nur mit männlichen Bezugspersonen identifizieren könnten, und daß daher Frauen nur Göttinnen und Männer nur männliche Gottheiten verehrten, ist allerdings unsinnig. Sie ist historisch leicht zu widerlegen. Gleichwohl ist diese Annahme weit verbreitet. Sie soll aber hier nicht vertreten werden, obwohl der vorangegangene Absatz so verstanden werden könnte. Isis ist ein besonders interessantes Mitglied der heiligen Familie des alten Ägypten. Sie ist der Typ einer ihren Nachwuchs allein erziehenden Muttergottheit, und obwohl in ihrem Fall die Empfängnis auf ihren Bruder Osiris zurückgeführt wird, steht doch fest, daß Osiris schon verstorben - oder doch fast tot - war, ehe sie von ihm empfing. Da das Horus-Kind vaterlos aufwächst, kann man die Wiederbelebung des Osiris durch den Trauerritus auch als Aktivierung seiner Seelenkräfte deuten. Angesicht der von Leo Frobenius behaupteten Verschiedenheit der Geschlechter in Frühkulturen hinsichtlich ihrer Einstellung zu Leib und Seele hätten im Isis-Mythos die Männer die Möglichkeit, die Empfängnis des Horus als geistige Empfängnis zu deuten, während Frauen dazu tendieren würden, Horus als das Ergebnis der geschlechtlichen Vereinigung mit dem ins Leben zurückgeholten Körper des Osiris zu sehen. In der Heiligen Familie des alten Ägypten sind sowohl Schu und Tefnut als auch Geb und Nut Paare, bei denen Vollgeschwister als Ehepartner auftreten. Dabei mag eine Fehlinterpretation der Geschwisterbeziehungen aus der Perspektive der männlichen Gegenkultur unterlaufen sein. Wir wissen aus Malinowskis Bericht über die Trobriander, daß in matrilinearen Kulturen der Bruder eine oder mehrere Schwestern beschützt und für sie und ihre Kinder in einer Weise Verantwortung übernommen hat, wie dies heute von einem Ehemann erwartet wird. Das hat jedoch in aller Regel sicher nicht bedeutet, daß der Bruder auch Geschlechtsverkehr mit seiner Schwester hatte. Angesichts der Universalität des Inzesttabus (Sidler, 1971) haben solche Schwestern ihre Geschlechtspartner außerhalb der Familie gefunden, und da die Kausalverknüpfung zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft nicht bekannt war, wurden Liebhaber nicht als Väter verstanden. Hinsichtlich der Sozialisation des Nachwuchses und des tatsächlichen alltäglichen Kontaktes waren die Brüder dieser Frauen die "Väter" ihrer Kinder.

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Als spätere Kulturen dazu übergingen, die Funktionen von männlichem Beistand und Vater der Kinder in einer Person zusammenzufassen, konnte im Rückblick auf die BruderSchwester-Verbindungen der mutterzentrierten Kultur die Fehlinterpretation als inzestuöse Ehe unterlaufen. Damit soll nicht bestritten werden, daß es bei den Pharaonen und bei den Ptolemäern als Gottkönigen Ägyptens den heiligen Inzest zwischen Bruder und Schwester tatsächlich gegeben hat. Unter dem Gesichtspunkt der Deutung von Mythen interessiert uns aber hier die Bruder-Schwester-Beziehung in der Heiligen Familie des alten Ägyptens vor allem deshalb, weil ja eine mutterzentrierte Kultur gar keine Probleme darin sehen konnte, Bruder und Schwester als Eltern der nächsten Generation zu verstehen; denn aus ihrer Sicht war der Bruder eben nichts anderes als der Onkel, der sich fürsorglich um die Kinder seiner Schwester bemühte. Der hier gewählte Ausschnitt aus der Religion des alten Ägypten konnte nur unter der Annahme sinnvoll gedeutet werden, daß darin Spuren eines vorangegangenen Mutterkultes aufgehoben sind. b) Sumer: Enki und Uttu Die Hypothese von der Fruchtbarkeitsgöttin als Vorläuferin der Männergötter der späteren Hochkultur ist auch hilfreich, wenn Quellen aus Sumer untersucht werden. Sumer ist jener Teil Süd- und Mittelbabyloniens, den die Einwohner des anderen Teils, Akkad genannt, als Shumeru bezeichneten. Mindestens seit dem Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends lebten die Sumerer dort. Ihre Hauptstadt war Nippur. Seit dem Ende des dritten vorchristlichen Jahrtausends nannten sich die Herrscher Babyloniens "König von Sumer und Akkad". Vor vier- bis fünftausend Jahren glaubten die Sumerer, daß ihre Hauptstadt Nippur der Sitz des Gottes Enlil und der Göttin Nin-Hursag (Herrin bzw. Mutter des Gebirges) sei. Nach dem Dilmun-Mythos soll dann der Gott Enki allein in einer sagenhaften Barke - wahrscheinlich vom Indusdelta her- in den persischen Golf gesegelt und in Sumer an Land gegangen sein. Die Zeit seiner Ankunft wird mit einem kosmogonischen Fragment in folgender Weise beschrieben: '"Als der Himmel von der Erde entfernt wurde, Als die Erde vom Himmel getrennt wurde, Als die Menschheit gesät ward, Als der Himmelsgott den Himmel errichtet hatte, Als Enlil die Erde gegründet hatte, Und als die Göttin Ereschkigal die Hölle als Anteil erhalten hatte, Zur Zeit, da er segelte, da er segelte,

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Zur Zeit, da der Vater zur Welt hinsegelte, ZurZeit, da Enki zur Welt hinsegelte ..."' (ebd.: 107). Man darf wohl annehmen, daß zur der Zeit als dieser Text in Keilschrift niedergeschrieben wurde, jedermann bekannt war, um wen es sich bei der Göttin Ereschkigal handelte und auch warum man ihr die Hölle als Anteil zugewiesen hatte. Offensichtlich mußte sie zur Hölle geschickt werden, ehe der Gott Enki mit seiner Barke eintreffen konnte. Die Bedeutung Enkis wird im Dilmun-Mythos deutlich: '"Auf der Erde, die rein ist, ruft ihn, Ihn (Enki)!... in der Welt von Dilmun, die jungfräulich ist,... in der Welt von Dilmun, die hell ist, Ist das einzige Paar (wörtlich: die Einzigen) in Dilmun in Schlaf versunken. Das Land, wo Enki einschlief bei seiner Gattin ... das Land, wo Enki einschlief bei der Jungfrau, Dieses Land ist jungfräulich, dieses Land ist hell. In Dilmun krächzt noch nicht der Rabe, Der Hahn kräht noch nicht den Hahnenschrei, Der Löwe mordet nicht, Kein Wolf raubt Lämmer, Kein Wachthund weiß vom Ziegenhüten ...'" (ebd.: 111). Dieses also ist die Zeit, in der Enki sein Schöpfungswerk beginnt. Seine Aktivität wird im Dilmun-Mythos so beschrieben: "Der Einsame, der Weise wendet sich Nin-tu zu, der Mutter des Landes, Enki, der Weise wendet sich Nin-tu, der Mutter des Landes zu, Mit seinem Glied begoß er den Abhang, Mit seinem Glied vermehrte er das Schilf durch reichliches Wasser. Und sein Glied hob sich unter dem herrlichen Vließ. Er rief: 'Kommt niemand ins Marschland?' Der Gott Enki rief: 'Kommt niemand ins Marschland?' Und er schwur beim Leben des Himmelsgottes. (Später eingefugt!) Im Marschland ausgestreckt, im Marschland ausgestreckt, Sprach Enki sein Wort, sprach sein Wort über das Wasser der großen Gemahlin. Und die Herrin des Gebirges nahm den Samen,

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Sie empfing den Samen, das Wasser des Gottes Enki. Ihr erster Tag war ihr erster Monat, Ihr zweiter Tag war ihr zweiter Monat, Ihr achter Tag war ihr achter Monat, Ihr neunter Tag war ihr neunter Monat, der Monat, des Gebärens. Wie Öl, wie Salböl, wie Öl feinster Mischung (gebar Nintu, die Mutter des Landes), wie Öl, wie Salböl, wie Öl feinster Mischung Gebar sie die Göttin Ninmu. Und Ninmu erhob sich am Ufer des Flußlaufs. .. Enki umstellt, er umstellt das Marschland. Er ruft Isimu, seinem Berater, zu: 'Soll ich das gesegnete Kind nicht küssen? Soll ich Ninmu, die Gesegnete, nicht küssen?' Isimu, sein Ratgeber, antwortet ihm: 'Warum küßt du es nicht, das gesegnete Kind? Warum küßt du Ninmu, die Gesegnete, nicht? Mein König, hülle dich in eine Wolke! Hülle dich in einen Nebel!' Er fährt mit dem Schiff, Dann landet er am steilen Ufer. Er drückt sie fest an seine Brust, er küßt sie. Enki ergoß seinen Samen, und sie empfing den Samen, den Samen des Gottes Enki. Ihr erster Tag war ihr erster Monat, Ihr zweiter Tag war ihr zweiter Monat Gebar sie die Göttin Ninkur Gebar sie die Göttin Uttu, die Schöne Da sprach Nin-tu zu Uttu, der Schönen: 'Ich will dir raten, doch verstehe meinen Rat gut! Ich will dir ein Wort sagen, doch verstehe mein Wort gut! Es ist jemand da! Er umstellt, er umstellt das Marschland ..."

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Enki umstellt, er umstellt das Marschland ..." (an dieser Stelle fehlen einige Zeilen, die verderbt sind. Dann sagt Uttu zu ihrem Gärtner:) '"Bringe mir Gurken mit ihren ... Bringe mir riesengroße Äpfel, Bringe mir Trauben mit ihren Reben. Dann wird er im Hause mein Diener werden, Der Gott Enki wird mein Diener werden!'" Die wörtliche Übersetzung des Keilschrifttextes müßte an Stelle der Passage "Er wird mein Diener werden" lauten: "Ich werde ihn an der Leine fuhren". Der Gott Enki durchschaut aber diese Absicht und vereitelt sie. Er läßt sich selbst die Früchte vom Gärtner geben, geht zu Uttu, gibt vor, der Gärtner zu sein und bringt ihr die Früchte. Als Uttu vor Freude über die Früchte Beifall klatscht, wirft Enki sich auf Uttu: "'Und Enki überschwemmte Uttu mit seinem Samen, Und sie empfing den Samen, den Samen des Gottes Enki'" (ebd.: 113-117). Charakteristisch für den Dilmun-Mythos ist die konkrete Körperlichkeit der Vorgänge, die beschrieben werden. Der Mythos gibt nicht vor, den Anfang der Welt zu beschreiben. Statt dessen charakterisiert er den Beginn einer neuen Kultur. Enki kommt gleichsam wie ein Missionar in einem Lande an, das als jungfräulich beschrieben wird. Dies mag heißen, daß dort niemand etwas über die Bedeutung der Empfängnis wußte. In diesem Land der Jungfräulichkeit findet Enki Nintu, die Mutter des Landes. Mit ihr verkehrt er im Marschland. Dieser Vorgang war natürlich nicht neu, sondern eine wohlbekannte Aktivität in einer jeden Kultur. Aber die langwierige Aufzählung der neun Monate erweckt den Eindruck, daß - wie in einer Aufklärungslektion - die Dauer der Schwangerschaft und der Zusammenhang zwischen Empfängnis und Schwangerschaft den Adressaten des Mythos nahegebracht werden soll. Der Mythos spricht von einem Stammbaum von Frauen, der mit der Mutter des Landes Nintu beginnt, die dann eine Tochter namens Ninmu hat, welche als Mutter der Vegetation gilt, eine Enkelin Ninkur, die später zur Schutzpatronin der Steinmetze und Juweliere in Sumer wird, und schließlich eine Ur-Enkelin namens Uttu, die Schöne, Schutzherrin der Spinnerinnen und Weberinnen. Möglicherweise ist Uttu eine frühe Vorläuferin der Venus gewesen. Diese Abfolge von vier Frauengenerationen, bei denen eine immer die Tochter der vorhergehenden ist, sieht wie die Theologie der mutterzentrierten Kultur aus. In ihrer Bemühung, in Abwendung von der Matriliniarität eine Gegenkultur zu gründen, haben sich die Männerbünde in Sumer offenbar einen anderen Weg ausgedacht als ihre Geschlechtsgenos-

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sen in Ägypten. Anstatt nämlich allmählich Nintu auf dem Umweg über einen Zwitter in einen masturbierenden Männergott zu verwandeln, lassen die Sumerer Enki vom Indusdelta her in ihr Land segeln, um so zu beweisen, daß Mutter Erde Nintu ohne seine Mitwirkung nicht fruchtbar sein kann. So entsteht symbolisch im Auftauchen des Gottes Enki das Konzept physischer Vaterschaft, das unserer Hypothese nach vorher unbekannt war. Es wird durch den Dilmun-Mythos als Grundlage der neuen Religion fest etabliert. Weiter gelangt der kulturelle Fortschritt zunächst nicht. Die männliche Gegenkultur kann nur in kleinen Schritten vorankommen. Die Etablierung des Konzepts der physichen Vaterschaft ist für sie ein erster Sieg. Soziale Vaterschaft dagegen ist noch weit entfernt. Enki kann zwar jungen Mädchen im Marschland auflauern, er kann sich dort verbergen, um sie zu küssen, sobald sie auftauchen, er kann mit ihnen Geschlechtsverkehr haben und sie schwängern, aber er übernimmt im Anschluß an die Geburt keinerlei väterliche Funktionen. Sein Interesse an seinen drei Töchtern Ninmu, Ninkur und Uttu beschränkt sich auf das erotische Potential, das ihnen als erwachsen gewordenen Frauen innewohnt. Die Tatsache, daß alle drei seine Töchter sind, bleibt sozial irrelevant. Worauf es in diesem Mythos allein ankommt, ist die Tatsache, daß er ihr Erzeuger war, der sie ins Dasein rief. Enkis Beziehung zu Uttu, der Schönen, verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Dilmun-Mythos berichtet, daß Nintu, die Mutter des Landes, der schönen Uttu den Rat gibt, auf Enki achtzugeben, da er das Marschland umstellt. Sollte es Uttu gelingen, sich in den Besitz verschiedener Früchte zu bringen, dann würde sie Enki von sich abhängig machen können. Hier fühlt man sich an den Apfel erinnert, den Eva dem Adam mit Erfolg reicht. Im Dilmun-Mythos bleibt der Erfolg der Frau jedoch aus. Enki selbst bringt sich in den Besitz der Früchte, bevor Uttu dies tun kann. Er reicht sie ihr, und während sie erfreut und dankbar ist, wirft er sich auf sie und vergewaltigt sie. Diesmal geschieht das nicht im Freien, im Marschland, sondern im Inneren des Hauses von Uttu selbst. Er wird nicht von ihr abhängig, er bekommt soviel Obst wie er will, wann immer es ihm beliebt, und er bekommt offenbar auch Uttu, wann immer dies ihm beliebt. Er, der Gott Enki, herrscht und erschafft; denn nichts entsteht ohne "Vater Enki". Man könnte nach dem Grund dafür fragen, warum unter dem Nachwuchs Enkis nicht ein einziger Sohn zu finden ist. Die Antwort liegt vermutlich darin, daß diese Linie von Mutter und Töchtern schon bestand, bevor die Kultur männlich umgedeutet wurde. Alle schöpferischen Ereignisse waren auf Muttergottheiten bezogen, und die galten als Ergebnisse von Jungfrauengeburten. Die Ankunft Enkis läßt nur Nintu als von ihm unabhängige Person übrig. Alle anderen Göttinnen werden reduziert auflebende Beweise der Potenz Enkis.

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c) Akkad: Tiamats tödlicher

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Konflikt

Zwischen dem 19. und dem 17. Jahrhundert v. Chr. wurden in dem babylonischen Mythos 'Enuma elisch' die verschiedenen Richtungen des akkadischen Denkens vereint. Die ältesten Götter des Enuma elisch sind Apsu und Tiamat. Apsu ist der männliche Gott des Himmels, und Tiamat ist Mutter Erde. Die beiden bringen eine Zahl von Junggöttern hervor, die sich, sobald sie erwachsen werden, versammeln, um ihre Mutter durch ungeordnetes Verhalten zu stören. Der Mythos überläßt es der Phantasie des Lesers, was mit dem ungeordneten Verhalten der jungen Götter wohl gemeint sein könnte. Eine heftige Reaktion löst ihr Verhalten nicht wie erwartet bei der Muttergottheit Tiamat aus, sondern bei ihrem männlichen Geschlechtspartner Apsu. Ähnlich wie Jahwe kurz vor der Sintflut plant, die von ihm geschaffenen Personen wieder von der Erde zu vertilgen, kommt auch Apsu der Gedanke, seinen Nachwuchs zu vernichten. Er begründet das damit, daß ihn die jungen Götter während des Tages stören und nachts am Schlafen hindern. Deshalb also ist Apsu entschlossen, sich ihrer zu entledigen. Tiamats Reaktion auf Apsus Absicht wird im Enuma elisch wie folgt beschrieben: Sie, Tiamat, "Ließ das Böse in ihr Herz ein: 'Was? Vernichten sollen wir, was wir geschaffen haben? Gewiß, ihr Verhalten ist peinlich, doch wollen wir uns mit Sanftmut gedulden."' (ebd.: 135). Verglichen mit dem Plan Apsus "Ich will sie vernichten" ist die Reaktion Tiamats so böse eigentlich gar nicht. Warum erklärt der Text die Reaktion der Tiamat ausdrücklich als böse? Apsu steht unter dem Einfluß seines Boten Mummu. Aber zu Beginn des Enuma elisch erscheint Mummu als Beiname der Tiamat. Es ist daher denkbar, daß Mummu Tiamat in der Rolle von Apsus Geliebten bezeichnet. Wie immer dem auch sei, der Text des Mythos berichtet, daß Mummu mit dem Vernichtungsplan des Apsu völlig übereinstimmt: "Mummus Rat war voll Gewalttätigkeit und Feindseligkeit: 'Zerstöre, Vater, diese trüben Umtriebe, Damit du tagsüber ruhen, damit du nachts schlafen kannst.' Als Apsu dies hörte, glänzte sein Antlitz. Weil er Böses plante gegen die Götter, seine Söhne, umarmte er Mummu,..." (ebd.: 136).

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Als die Götter von der Vernichtungsabsicht ihres Vaters erfahren, sind sie stumm vor Erregung, bis auf einen: den "Allwissenden Ea". Durch eine gewaltige Beschwörung versetzt er Apsu in tiefen Schlaf. "Er beraubte ihn seiner Kleider, zog ihm die Tiara ab, Seinen Glanz nahm er weg und bekleidete sich damit. Nachdem er Apsu gefesselt hatte, erschlug er ihn" (ebd.). Der Glanz, den Ea seinem Vater abgenommen und sich gegeben hatte, macht deutlich, daß nach diesem Sieg Ea selbst der Herr der Götter ist. Seine Gattin wird nun Damkina und beide haben gemeinsam einen Sohn namens Marduk. Die Brüder und Schwestern Eas, die er durch seine Tat vor der Vernichtung bewahrt hat, wenden sich inzwischen an Tiamat, um sie gegen Ea und Marduk zu beeinflussen: "Sie sprachen zu Tiamat ihrer Mutter: 'Als sie Apsu töteten, deinen Gemahl, Dachtest du nicht daran, ihm zur Seite zu stehn, abseits hieltest du dich ohne ein W o r t . . . Denke an Apsu, deinen Gemahl, Und an Mummu, der in Ketten gelegt ward! Du bleibst allein. [. . .] und du irrst angstvoll umher. [

] liebst du uns nicht mehr?

[. . .] unsere Augen sind geschwollen [ ] unaufhörlich, damit wir schlafen können. [Eile?] zum Kampf, räche sie! [...] vernichte sie!' Als Tiamat es hörte, gefiel ihr diese Rede. ['Klugen Rat (?)] gabt ihr. Laßt uns Ungeheuer schaffen. [Zu stören] die Götter inmitten der himmlischen Wohnung. [...] Laßt uns die Götter bekämpfen' [...]" (ebd.: 137f.). "Sogleich fallen sie ab und erheben sich zur Seite Tiamats. Voll Zorn schmieden sie Pläne, ruhelos bei Tag und Nacht. Sie nehmen den Kampf auf, toben, rasen, Bilden eine Rotte, den Kampf vorzubereiten. Die Abgrund-Mutter, die alles erschafft, Schuf überdies unwiderstehliche Waffen, gebar entsetzliche Schlangen, Mit spitzem Zahn, erbarmungslosen Kiefern, Mit Gift anstatt mit Blut füllte sie ihren Leib.

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Wütende Drachen bekleidete sie mit Furchtbarkeit, Mit übernatürlichem Glanz belud sie sie, machte sie wie Götter: 'Wer sie sieht, den sollen sie vor Schreck vernichten! Sie sollen springen, ohne ihre Brust zu wenden!' Sie schuf die Viper, den roten Drachen und die Sphinx, Den großen Löwen, den tollen Hund, den Skorpionmenschen, Wütende Dämonen, Fischmenschen und Kentauren, ..." (ebd.: 138). Dies ist die Geschichte der Erschaffung des 'roten Drachens', der auch im Neuen Testament der Bibel in der Apokalypse des Johannes vorkommt (Apokalypse 12,3). Im Anschluß an diese furchterregende Gruppe von Geschöpfen, die Tiamat in ihrem Zorn hervorbringt, ernennt sie nun aus dem Kreise ihrer "Erstgeborenen, die ihren Anhang bildeten" (Die Schöpfungsmythen, 1977: 138) ihren Sohn Kingu. Sie macht ihn zum Oberbefehlshaber ihrer Streitmacht und spricht ihn an mit den Worten: '"Du seist erhaben, mein Gatte, Auserwählter du!'" (ebd.: 139). Es kommt zu der entscheidenden Konfrontation zwischen Tiamat und ihrem 'Enkel' Marduk. Angesichts der Beschwörungsmacht Marduks wanken Kingu und die anderen Götter auf der Seite Tiamats. Verunsichert begegnet Tiamat dem Marduk: "Auf ihren Lippen trug sie grobe Lügen: 'Wie majestätisch dein Vorgehen ist (ganz das) des Herren der Götter!' (Sieh wie) von ihrer Stätte sie zu deiner sich begaben'" (ebd.: 140). Marduk läßt sich jedoch nicht schmeicheln. Er kann nicht versöhnt werden. Seine Reaktion wird so beschrieben: "Und der Tiamat, die Versöhnung heuchelte, rief er zu: 'Warum sprichst du überfreundliche Worte, Da du dich innerlich zum Angriff rüstest? Die Söhne haben sich getrennt, ohne Achtung vor ihren Vätern, Denn du, die sie geboren, hast jedem mütterlichen Sinn entsagt. Du wähltest diesen Kingu dir als Gatten, Rechtswidrig hast du ihn mit allerhöchster Macht bekleidet, ... Wider die Götter, meine Väter, hast du deine Bosheit gerichtet. . ."' (ebd.) Marduk fordert nun seine 'Großmutter' Tiamat zum entscheidenden Duell heraus. Ihre Reaktion wird außerordentlich anschaulich beschrieben:

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"Als Tiamat dies hörte, Geriet sie außer sich, verlor den Verstand. Sie stieß gegen ihn ein solches Gebrüll aus, Daß ihre Beine von oben bis unten gegeneinander schlotterten. Sie sagte eine Beschwörung und warf einen Zauberspruch aus,..." (ebd.: 141). Marduk besiegt Tiamat und tötet sie auf grausame Weise. Aus ihrem zerstückelten Körper erschafft Marduk die Welt. Sie wird zum Material (von mater = Mutter) der Schöpfung. Die sich anschließende Beschreibung der Schöpfertätigkeit des Marduk deckt sich inhaltlich mit dem Beginn des Buches Genesis. Bevor sich Marduk jedoch der schwierigen Aufgabe zuwendet, Menschen zu erschaffen, berät er sich mit seinem Vater Ea. Die ehemals mit Tiamat verbündeten Götter zittern immer noch vor der Bestrafung durch Marduk. Da verkündet Ea: '"Einer von ihren Brüdern soll ausgeliefert werden. Dieser soll sterben damit die Menschheit entsteht."' (ebd.: 145). Die Götter beschließen, Kingu auszuliefern, um sich selbst zu retten. Sie übergeben ihn gefesselt dem Ea: "... seine Adern durchschnitten sie. Aus seinem Blute schuf er die Menschheit" (ebd.). Obwohl es Marduk war, der Himmel und Erde erschaffen hat, die Sonne, den Mond und die Sterne, ist es nun sein Vater Ea, der den Menschen macht. Ea ist es auch, der die Götter einteilt in zwei Gruppen, von denen 300 den Himmel bewachen und 300 auf der Erde wirken. Der Mensch aber wird geschaffen, damit jemand da ist, den Göttern zu dienen. Eine Deutung des Enuma elisch kann vielleicht dadurch erleichtert werden, daß man Grundprinzipien einer religiösen Ordnung annimmt, die personifiziert werden. Einander widersprechende Prinzipien erscheinen daher als Personen, die Konflikte gegeneinander austragen. Während der Mythos sich entfaltet, zerstören einige Personen andere, was wohl heißt, daß ältere Prinzipien zu Gunsten neuerer überwunden werden. Tiamat ist die Quelle allen Lebens mit Ausnahme des Apsu. Apsu erscheint jedoch nicht als Vater im Sinne eines Mannes, der seinem Nachwuchs Liebe und Schutz schenkt. Er will seine Kinder vielmehr vernichten, um sie aus dem Wege zu räumen. Das einzige, woran Apsu interessiert ist, scheint seine Mammu-Beziehung zu Tiamat zu sein. Apsu versucht sogar, Tiamat bei dem Mord an seinen Kindern zur Komplizin zu machen. Sie aber verteidigt ihre Kinder als Mutter.

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Angesichts der Drohung, die von Apsu ausgeht, besiegt und tötet Ea ihn. Ebenso wie im Ödipus-Mythos handelt es sich gar nicht um eine wirkliche Vater-Sohn-Beziehung. Vom Standpunkt des siegreichen jungen Mannes wird nur irgendein gefährlicher alter Mann getötet, der im Falle des Apsu auch der Sexualpartner der Tiamat ist, der aber niemals die soziale Funktion eines Vaters des Ea ausgeübt hat. So kann man den Sieg des Ea auch als die Zerstörung einer männlichen Existenzform deuten, die darauf beschränkt war, Geschlechtsverkehr zu haben, die sich aber nicht auf die Fürsorge fur den Nachwuchs bezog. Gleichzeitig verteidigt Ea seine Mutter und seine Geschwister gegen Gefahr. In Abwesenheit eines funktionierenden Ehemannes und Vaters mußte die Mutter sich auf den stärksten und klügsten ihrer Söhne stützen, um in der Stunde der Gefahr den notwendigen männlichen Schutz zu finden. Ea repräsentiert ein neues Konzept von Vaterschaft. Er zeugt seinen Sohn Marduk nicht nur, sondern er sorgt auch fur ihn und achtet darauf, daß er stark und selbstbewußt wird. Der Mythos berichtet sogar, wie dabei der Großvater und der Urgroßvater des Marduk mitwirken. Der zweite Konflikt des Mythos, die Konfrontation zwischen Marduk und Tiamat kann in Analogie zum ersten gedeutet werden als die symbolische Zerstörung einer Form der Mutterschaft, die notwendig ist, um die neu errungene Form der Vaterschaft zu erhalten, die Ea repräsentiert. Unmittelbar bevor er seine Großmutter umbringt, nennt Marduk eine Reihe von Gründen, die ihre Vernichtung nahelegen: Ihre Söhne haben keinen Respekt vor ihren Vätern, sie nimmt ihre Mutterschaft nicht in rechter Weise wahr, sie hat ihren Sohn Kingu zu ihrem Gatten gemacht, sie hat ihn mit höchsten Vollmachten ausgestattet und sie hat überdies eine Revolte gegen die Väter angeführt. Während Marduk seinen Status von seinen Vätern erhalten hat, hat Kingu sich von seiner Mutter zum Führer ernennen lassen. Das Prinzip des Sohnes, der die Mutter verteidigt, war in dem Streit gegen Apsu legitim. Es ist aber nicht mehr akzeptabel, als Tiamat sich gegen Ea erhoben hat und Marduk ihr entgegentritt. Marduk repräsentiert die neue Form der Vaterschaft, die nicht mehr eine Bedrohung der Kinder darstellt, sondern die im Gegenteil den Schutz der Kinder einschließt. Tiamat und Kingu werden besiegt, aber ihr Körper wird fur die Erschaffung der Welt gebraucht und sein Blut wird gebraucht um den Menschen zu machen.

d) Israel: Adam, Eva und die Schlange Der ältere der beiden biblischen Schöpfungsberichte ist weit jünger als die verschiedenen Mythen, die wir bisher behandelt haben. Man nimmt an, daß die Jahwe-Schicht des Buches Genesis während des 9. oder 8. Jahrhunderts v. Chr. geschrieben wurde. Nach dem Wechsel

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vom 7. zum 6. Jahrhundert, als im Jahre 597 die Führungsschicht Israels getötet oder nach Babylonien deportiert worden war, verloren viele Israeliten den Glauben an Jahwe und verehrten stattdessen Marduk, der sich als mächtiger erwiesen hatte. Tiamat war zwar von Marduk getötet worden, aber ihre Schlangen und Drachen, die sie im Zorn geschaffen hatte, waren nicht völlig verschwunden. Einer dieser Schlangen gelingt es sogar, Adam und Eva zum Ungehorsam gegenüber Jahwe zu überreden. Als Israel in das Gelobte Land einzog, fand es dort die Bewohner Kanaans als Verehrer des Gottes Baal und seiner weiblichen Partnerin Baalat vor. Wir finden auch hier die Schlange in enger Verbindung zur Muttergottheit: die Statuen der Baalat, die bei Ausgrabungen gefunden wurden, zeigen die Göttin mit einer Schlange. Aber es ist nicht nur die Schlange, die uns als Symbol der mutterzentrierten Kultur begegnet, sondern auch der Baum der Erkenntnis. Als Jahwe darauf besteht, daß Adam und Eva diesen einen zentralen Baum nicht anrühren, geschieht dies, um zu verhindern, daß sie sich einer mutterzentrierten Kultur, die soeben überwunden worden war, wieder zuwenden. Eine der uralten Funktionen der Frau war die Herstellung von Töpfen aus Lehm. Als Jahwe den Adam aus Lehm formt, gebärt er ihn symbolisch. Er übernimmt als göttlicher Töpfer eine traditionell mütterliche Funktion. Man kann also auch im Schöpfungsmythos der Bibel Reste der Absicht finden, eine vaterzentrierte Kultur an die Stelle der mutterzentrierten zu setzen. Gott Atum von Ägypten schenkte seinen Kindern Schu und Tefnut das Leben, indem er durch Masturbation demonstrierte, daß er sie aus seinem Phallus schaffen konnte. Jahwe gab Eva das Leben aus einer Rippe, die er dem Adam entnommen hatte. In der mutterzentrierten Religion kommt alles Leben aus dem Uterus einer Frau, in der vaterzentrierten Religion kommt es aus dem Phallus des Atum oder aus der Rippe des Adam. Als bald darauf Adam zum ersten Mal der Eva begegnet, ruft er aus: "Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch!" Im 37. Kapitel von Genesis, als Juda seine Brüder beschwört, sie möchten doch Joseph nicht töten, benutzt er das Argument: Er ist unser Bruder, er ist unser eigenes Fleisch! (Genesis 37, 27) Aus einem Fleisch zu sein hieß offenbar, Mitglied derselben Familie, also blutsverwandt zu sein! "Darum soll der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden zu einem Fleisch." (Genesis 2,24). Entscheidend am Sinngehalt dieses Verses ist nicht etwa, daß Adam und Eva Geschlechtsverkehr miteinander haben werden. Das allein wäre noch kein Grund gewesen, Vater und Mutter zu verlassen. Das Wesen der Proklamation, die in diesem Vers erfolgt, liegt darin, daß Ehemann und Ehefrau zukünftig als Blutsverwandte gelten, daß sie Mitglieder ein und derselben Familie sein sollen. Das war der revolutionäre Gehalt jener Worte.

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In mutterzentrierten Kulturen sind die männlichen Verwandten einer Frau ihre Onkel, Brüder und Söhne. Sie sind desselben Fleisches wie die Frau, weil alle gemeinsam aus einer Mutter hervorgegangen sind. Ein Mann mag unter den Bedingungen der mutterzentrierten Kultur zwar Geschlechtsbeziehungen mit der Frau aus einem anderen Clan haben. Aber das bedeutet nicht, daß er mit ihr verwandt wird. Dies wird in Genesis geändert. Von nun an sind Ehemann und Ehefrau Mitglieder derselben Familie, und erst von da an kann der Mann, der ein Kind zeugt, auch für dieses Kind sorgen und es erziehen. Daher signalisieren die Worte: "und sie werden zu einem Fleisch" zugleich die Institutionalisierung der Ehe und die Insitutionalisierung der neuen Form von Vaterschaft. Der Mann verläßt Vater und Mutter und insbesondere die Mutter und seine Schwestern, fur die er in der mutterzentrierten Kultur die Verantwortung trägt. Nun, unter den Bedingungen der neuen Ordnung kann er seine Schwestern deren jeweiligen Ehemännern überlassen, und sich auf die Fürsorge für die eigene Frau und deren Kinder konzentrieren. Wenn daher Eva auf die Schlange hört anstatt auf ihren Vater Jahwe, und wenn Adam der Eva gehorcht anstatt vielmehr ihr zu sagen, was sie zu tun hat, dann ist das nicht nur ein Problem des Ungehorsams um seiner selbst willen, sondern es bedeutet den Rückfall in die Mutterzentriertheit, und es ist der Sündenfall des Menschen deshalb, weil er sich aus schierer Bequemlichkeit in eine ältere Form der Religion zurückbegibt. So kann der Konflikt zwischen den menschlichen Vorstellungen vom Heiligen interpretiert werden, die in den ältesten Schichten des Alten Testaments der Bibel aufeinandertreffen.

Heiligung männlicher Fruchtbarkeit im Monotheismus

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III. Heiligung männlicher Fruchtbarkeit im Monotheismus 1. Abraham, Sara und der Bund der Beschneidung a) Fruchtbarkeit und

Jungfräulichkeit

Wie die Schöpfungsmythen aus Ägypten, Sumer und Akkad erkennen ließen, waren die darin enthaltenen religiösen Vorstellungen nicht geeignet, die biologische Fruchtbarkeit des Mannes dauerhaft zu Heiligen. Das liegt daran, daß körperlich-sexuelle Handlungen (Masturbation, Vergewaltigung) fur die Beschreibung des Übergangs von weiblichen zu männlichen Hochgöttern herangezogen werden. Bei einem anderen Rückgriff auf die weibliche Fruchtbarkeitsgottheit bleibt aber, wie wir gesehen hatten, die Sexualität gedanklich ausgespart, weil ja an eine autonom fruchtbare

Muttergottheit geglaubt wird. Sie segnet

alles, damit Menschen, Tiere und Pflanzen fruchtbar sind und sich vermehren, sie teilt allem ihre eigene Fruchtbarkeit mit, die sie aus eigener Vollkommenheit und eben unabhängig von Sexualität, also jungfräulich hat. Die Weitergabe der Fertilität von dem höchsten göttlichen weiblichen Wesen an die menschliche Frau erfolgt ebenfalls jungfräulich. Heiliges und Profanes werden gegeneinander abgegrenzt und die Vorstellungsinhalte der Menschen werden dem einen oder dem anderen zugeordnet. Dabei fällt die Sexualität in den profanen Bereich und die Fertilität in den heiligen. Eine solche Trennung ist auf dieser Stufe möglich, weil Fruchtbarkeit als jungfräuliche Fertilität verstanden wird. So gilt Geschlechtsverkehr als ein rein weltlich' Ding, Schwangerschaft und Geburt jedoch sind heilige Ereignisse. Versetzen wir uns gedanklich zurück in die Verhältnisse des Idealtyps einer Religion, die sich den Kultus der jungfräulichen Muttergottheit zu eigen macht, so müßte der geheiligte Binnenraum einer familialen Lebensgemeinschaft von Sexualität gänzlich frei bleiben. Heranwachsende Geschwister bleiben bei ihrer Mutter und beieinander, und die Brüder sorgen als erwachsene Männer für ihre Schwestern. So sagt noch Abraham von Sara: "Auch ist sie wirklich meine Schwester, eine Tochter meines Vaters, nur nicht die Tochter meiner Mutter" (Genesis 20, 12). Da das Inzesttabu in der Beziehung zwischen Bruder und Schwester, von besonders gelagerten Ausnahmen abgesehen, wirksam war (Sidler, 1971), mußte bei einer Beschränkung der Sozialkontakte der Frau auf männliche Verwandte ihre Unfruchtbarkeit als Jungfrau die höchst problematische, weil unerwünschte Folge sein. Unter dem Leidensdruck, der durch den Vorwurf der Unfruchtbarkeit bei der Frau erzeugt wurde, wuchs die Sehnsucht nach einer Theodizee, die doch auch die Empfängnis aus dem profanen Bereich in die Sphäre des Heiligen hereinnahm.

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Die Ehe als Lösung dieses Problems war aber noch nicht entdeckt. Josef Scharbert hat auf die kaum beachtete Tatsache hingewiesen, daß im Alten Testament das Wort Ehe fehlt: "Das Hebräische hat keinen Terminus für 'Ehe' oder 'heiraten'. Die Wendung Ά ist der Mann/die Frau von B' kennzeichnet den Mann oder die Frau genügend als verheiratet" (Scharbert, o.J.: 311). Man kann aber verschiedene Textstellen der Bibel als Angebot genau der hier gemeinten Theodizee lesen: als Heiligung der Empfängnis außerhalb der Familie. "Jahwe erhörte Manoach, und der Engel Jahwes kam erneut zu der Frau, als sie gerade auf dem Felde war; Manoach, ihr Mann, war nicht bei ihr. Schnell lief sie hin, um es ihrem Mann zu erzählen, und sprach zu ihm: 'Siehe, der Mann ist mir erschienen, der des anderen Tags zu mir gekommen war'" (Richter, 13: 9 u. 10). Dies ist ein Auszug aus der Geschichte von der Empfängnis des Simson. Von heilsgeschichtlich weit größerer Bedeutung ist die Darstellung der Empfängnis Isaaks, und eben wegen der Wichtigkeit dieser Textstelle ruft eine abweichende Exegese hier weit mehr Widerspruch hervor als im Falle der Empfängnis des Simson. Bezieht man Philo und die rabbinische Tradition der Auslegung der Erscheinung in Mamre in die Erwägung ein, so zeigt sich, daß Isaak sowohl als von Gott empfangen als auch als von Abraham empfangen verstanden wird (Bakan, 1979: 122f ). Als Abraham die drei Männer bewirtet hat, die im Schatten des Baumes lagen, heißt es im Text: "Dann fragten sie ihn: 'Wo ist deine Frau Sara?' Er antwortete: 'Hier im Zelt.' Da sprach er: 'Ich werde im nächsten Jahr um diese Zeit wiederkommen, dann hat deine Frau Sara einen Sohn.' Sara horchte hinter ihm am Eingang des Zeltes" (Genesis 18: 9 u. 10). Wie immer die Einzelheiten der Exegese ausfallen mögen, fest steht dies: die Unfruchtbarkeit der Sara wird überwunden durch göttliche Intervention, ihre Empfängnis ist ein heiliges, nicht ein profanes Ereignis. Sie kann schwanger werden, einen Sohn gebären und ihn ihrem Halbbruder und Ehemann Abraham zur Betreuung und Erziehung übergeben, ohne Schuld und Konflikt erleben zu müssen. b) Zur Deutung des Namens 'Sara' Fruchtbarkeitsgöttinnen wie die Erdmutter Gaia der griechischen Mythologie und andere ähnliche Frauengestalten aus schriftloser Zeit könnten in der Sara der Bibel noch nachklingen. David Bakan weist auf die Gefahr hin, beim Kopieren hebräischer Texte die sehr ähnlichen Schriftzeichen des "resh" und des "daleth" zu verwechseln (Bakan, 1979: 75). So sind im Original die Buchstabenfolgen SaRaH und SaDaH kaum zu unterscheiden. SaDaH heißt Feld, fruchtbare Erde, die zur Aufnahme des Samens bereit ist. Doch die Person Sara tritt im Pentateuch unter zwei verschiedenen Namen auf: sie heißt zunächst Sarai, und Jahwe ändert ihren Namen von Sarai in Sara in Verbindung mit der Verheißung an Abraham, daß sie von

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ihm einen Sohn haben werde (Genesis 17: 15 u. 16). Sie wird dann also in 'Feld' umbenannt, als bestimmt wird, daß sie den Samen Abrahams empfangen soll. Vorher heißt sie Sarai, oder, wie es in der Transskription des hebräischen Textes heißen müßte SaRaY. David Bakan meint, da der konsonantische Originaltext nicht zwischen den Zeichen shin und sin unterscheidet, könne man den ursprünglichen Namen auch SHaRaY oder (s.o.) SHaDaY lesen. Man könnte die Varianten mit resh konsequent fallen lassen, und ihr Name wäre dann von SHaDaY geändert worden zu SaDaH (Bakan: 75f ). Nun bedeutet das Wort SHaD übersetzt Brust, und SHaDaY ist die mit den Brüsten, deren Fruchtbarkeit sich darin äußert, daß sie lebenserhaltende Muttermilch spenden kann (ebd.). Dies alles mag als Prozeß der Entfaltung eines Bildes von der Stammutter des Volkes plausibel erscheinen oder nicht. Doch die eigentlich erregende These Bakans besteht darin, daß er die Übereinstimmung mit dem ältesten biblischen Gottesnamen herstellt: E L SHaDaY. Unter dieser Bezeichnung tritt Gott an den Textstellen auf, an denen bedeutenden Männern zahlreiche Nachkommenschaft verheißen wird: '"Ich bin El Schaddai. Wandle vor mir und sei vollkommen. Ich will meinen Bund stiften zwischen mir und dir und dich zahlreich machen, überaus zahlreich'" (Genesis 17: 1 u. 2, vgl. auch Genesis 28: 3; 35: 11; 48: 3 u. Exodos 6: 3). Hier wird das Prinzip der Fertilität einem Mann, dem zukünftigen Vater vieler Völker, ausdrücklich verliehen. Die Zeugungskraft des Mannes, die als naturwissenschaftliche Tatsache inzwischen bekannt war, bleibt hier nicht im profanen Bereich, sondern wird durch göttliche Verleihung ebenfalls geheiligt. Damit geht aber auch die Verantwortung für die Fruchtbarkeit der Frau an den Mann über, und damit werden Ehe und Vaterschaft möglich und nötig.

2. Ausbildung des Monotheismus im Volk Israel a) Abraham, seine Familie und sein Gott Die altisraelitische Kultur, für die weite Passagen des Alten Testaments der Bibel als Dokumentation dienen können, nimmt ihren Anfang mit den sogenannten 'Patriarchen' Abraham, Isaak und Jakob, der wegen seines - hier schon erwähnten - mythischen Ringkampfes mit Jahwe den Ehrennamen Israel erhalten hat. Diese drei Männergestalten, und unter ihnen besonders Abraham, spielen als religiöse Heroen im Judentum, im Islam und im Christentum eine bedeutende Rolle. Für Abraham, wie für die sogenannte Patriarchenzeit, läßt sich anhand der tradierten Texte zeigen, daß diese Periode mindestens in der Frühzeit der Textüberlieferung als spannungsreiche Wende von matrilinearen zu patrilinearen Kulturformen verstanden worden ist.

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Die Datierung Abrahams schwankt in der fachkundigen Literatur zwischen dem 20. und dem 16. Jahrhundert vor Christus (Zur Datierungsproblematik vgl.: A. F. Albright, 1935; W. F. Albright, 1968; F. Böhl, 1931; L. Woolley, 1936). Wir befassen uns also mit Vorgängen, von denen uns mindestens dreieinhalb, vielleicht sogar mehr als vier Jahrtausende trennen. Gleichwohl soll versucht werden zu zeigen, daß die Patriarchen des alten Israel - und vor allem Abraham - als Begründer des Glaubens an den Vatergott und damit als Initiatoren einer neuen Religion gesehen werden können. Kriterium der Gültigkeit unserer Überlegungen ist auch hier nicht irgendein Anspruch auf reportageartige historische Tatsächlichkeit (die anzustreben über mehr als drei Jahrtausende hinweg auch aussichtslos wäre), sondern ausschließlich ein möglicher heuristischer Wert idealtypischer Konstruktionen. Der britische Archäologe Sir Leonard Woolley hat (L. Woolley, 1936). die These vertreten, die dramatische, religiöse Neuorientierung, die mit dem Namen Abraham verbunden ist, beruhe unter anderem darauf, daß an die Stelle der Staats- und Stadtgötter Sumers und Akkads ein Familiengott als Hochgott getreten sei. Von der Familie ausgehende Tendenzen zum Kulturwandel mußten demnach nicht als im Gegensatz zum Staats- und Stadtgott stehend, sondern konnten als vom Familiengott getragen und geschützt verstanden werden. Aus polytheistischer Sicht war im Übergang eben dann ein von der Familie ausgehender Kulturwandel Gegenstand einer Konfrontation zwischen Gottheiten. Sir Leonard hält sich eng an die biblische Überlieferung und verweist auf Josua 24, 2: "Jenseits des Flusses wohnten einst eure Vorväter, Terach, der Vater Abrahams und Nachors, und dienten anderen Göttern". Damit ist Abraham als Religionsstifter ausgewiesen. Zugleich hält Sir Leonard es aufgrund seiner archäologischen Kenntnisse und der Befunde eigener Ausgrabungen für plausibel, davon auszugehen, daß Abraham in der sumerischen Stadt Ur geboren und aufgewachsen und von dort mit seiner ganzen Familie in die nordsyrische Stadt Haran ausgewandert sei. Das polytheistische Pantheon sah zur Zeit Terachs in Sumer so aus, daß zwar zahllose mittlere und niedere Gottheiten überall bekannt waren, daß jedoch jede Stadt ihren eigenen Hochgott verehrte, der speziell diese Stadt beschützte. In Abrahams Geburtsstadt Ur war das der Mondgott Nannar, dem eine Frauengestalt Nin-Gal zur Seite stand. Allerdings gehörte die Familie Abrahams nicht den Ureinwohnern Sumers an, sondern später zugewanderten Semiten. Sir Leonard berichtet, daß in Nordsyrien der Name des Mondgottes, der dort, wie nahezu überall verehrt wurde, wenn auch nicht als höchster aller Götter, Terach lautete. Der Vater Abrahams war ein Aramäer wie die Bewohner Nordsyriens, und muß nach dem

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Mondgott benannt worden sein. Die Stadt in Nordsyrien, in der, wie in Ur, ebenfalls der Mondgott Stadtgott war, hieß Haran. Dorthin zieht Terach mit seiner Familie, als er Ur verläßt. Die Stadt Ur wurde nach Meinung Sir Leonards 2170 von den Elamitern und abermals 1885 von dem Sohn Hammurabis völlig zerstört. Überhaupt stellt die Zeit um 2000 eine historische Wende im Zweistromland dar, gekennzeichnet vom endgültigen Niedergang der ehemals blühenden Kultur Sumers und vom beginnenden Aufstieg Babylons zum Großreich. Parallel dazu beobachtet Sir Leonard bei seinen Ausgrabungen einen auffallenden Wandel in den Bestattungssitten in Ur. Während vorher die Toten auf den öffentlichen Friedhöfen der Stadt beerdigt wurden, setzt sich nun der Brauch durch, sie unter dem Boden der Hauskapelle im Wohngebäude ihrer eigenen Familie beizusetzen, wie wir das aus unseren alten Kirchen und Klöstern kennen. Darin sieht Sir Leonard eine Zunahme der Bedeutung des Hausgottes, der als Beschützer der Familie im polytheistischen Pantheon schon lange vorher an untergeordneter Stelle verehrt worden war. Beim Auszug Abrahams mit seinem ganzen Clan aus Haran, wo sein Bruder Nachor als seßhafter Viehzüchter wohnen blieb, und wo dessen Kinder Laban und Rebekka aufwuchsen, konnten ihn die an die Stadtresidenz gebundenen Götter nicht begleiten, sie waren seßhaft. Nach dem Tode seines Vaters fühlte Abraham sich von dem Gott seiner Familie aufgerufen, das Wagnis der Wanderschaft auf sich zu nehmen. Von da an führte ihn der Namenlose, den die Bibel als den Gott Abrahams kennt. Die Elemente der Hypothese sind also folgende: Die besondere Nähe zwischen dem Mondgott und seinem Vater legt für Abraham eine Identifikation seines Vater mit dieser Gottheit nahe. Der Niedergang der sumerischen Kultur und Religion stärkt die Stellung der Familiengötter, was archäologisch im Wandel der Begräbnisriten faßbar wird. Beim Tod seines Vaters erscheint Abraham der Familiengott als der einzige machtvolle Hochgott, der ihn zum Antritt einer höchst riskanten Wanderschaft aufruft und ihn unterwegs begleitet. Max Weber konfrontiert in seiner Arbeit über das antike Judentum den seßhaften Stadtgott der bürokratischen Bewässerungsverwaltung mit dem spontanen personalen Regenspender der Nomaden und setzt dazu in Parallele die Sexualorgiastik und Hierodulenprostitution einerseits und die Ermöglichung patrilinearer Verwandschaft durch Monopolisierung des Zugangs zu den Frauen zugunsten jeweils eines einzigen Mannes (oder Patriarchen) andererseits. Offenkundig handelt es sich auf der ersten Ebene um Varianten des Gottesbildes und auf der zweiten um Varianten der Regelung menschlicher Fruchtbarkeit. Sir Leonard rekonstruiert den Wandel vom Stadtgott zum Familiengott, wobei freilich der letztere zugleich Nomadengott und Viehhirtengott ist. Als Familiengott erhält er Vaterqualitäten und nimmt (wie Max Weber es nennt:) der biblischen "Sage" nach in sich speziell die Vater-Sohn-

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Beziehung auf: zunächst Terach-Abraham, dann Abraham-Isaak, und endlich, als ausgeformter israelitischer Gott, die Drei-Generationen-Beziehung Abraham-Isaak-Jakob. Wenn die Textkritik in unseren Tagen zeigen kann, daß diese drei Gestalten historisch gar nicht verwandt waren, so berührt das den Inhalt des Mythos, um den es hier geht, keineswegs. Als religionssoziologisches Thema bietet die Vater-Sohn-Thematik die Möglichkeit, den Übergang vom jüdischen Gottesbild zum christlichen Gottesbild als Transformation zu erarbeiten. Die christliche Idee von einem trinitarischen Gott, der sowohl als Vater als auch als Sohn geglaubt wird, bedeutet ja, daß die Vater-Sohn-Beziehung in den Binnenbereich des Gottesbildes selbst eingebaut worden ist. b) Fruchtbarkeit als Thema der Vorstellung vom Heiligen Ein evolutionstheoretisches Sich-Zurück-Tasten von einer Form der Vorstellung vom Heiligen zur anderen legt die Arbeitshypothese nahe, daß die Fruchtbarkeitsthematik aus der Anschauung, nicht der Zeugung sondern der Erhaltung von Leben, hervorgeht. In der Jägerreligion vergießt die Tiergottheit ihr Blut, damit die Jäger leben können. Die Muttergottheit (Gäa, Tiamat) läßt zu, daß ihr blutiger Körper Material der Schöpfung wird, und nach ihrem Vorbild wird die sterbliche Frau Mutter und Herrin eines Clans. Menstruationsblut und Geburtsblutung boten Gelegenheit genug, die Blutmystik fortleben zu lassen. In der Beschneidung schließlich wird männliches Blut um der Heiligung der Fruchtbarkeit des Mannes willen· nun allerdings als Zeugung - vergossen. Wenn schon die Transformation der Fruchtbarkeitsthematik von der Tier- zur Muttergottheit eigenartig genug erscheint, so wirkt ihre Verbindung mit dem Konzept der Vatergottheit noch problematischer. Die Kultur der Muttergottheit förderte die Vorstellung, Fruchtbarkeit könne nur das Ergebnis eines heiligen Bundes zweier Personen sein. Auf dieser Stufe unserer gedanklichen Konstruktion war es der Bund zwischen der Göttin und der sie um Mutterschaft anbetenden Frau. Das Bild dieser Stufe zeigt die Interaktion zwischen Muttergottheit und menschlicher Frau, der jede sexuelle Dimension fehlt; denn beide werden nach dem Modell der Parthenogenese fruchtbar. Mit zunehmender Faszination von dem Bewußtsein der Zeugungskraft des Mannes schreiten viele heidnische Religionen zur Profanisierung ihrer Götter und ersetzen die von jeder männlichen Impregnation unabhängige Göttin durch eine männliche Gottheit, die Frauen imprägniert. Das profane Bild der Zeugung von Halbgöttern klingt in Genesis (Genesis 6: 1-4) an und wird im Buch Ezechiel resakralisiert, indem an die Stelle einer konkreten individuellen Frau das Volk Gottes tritt: "Da ging ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, die Zeit der Liebe war für dich gekommen. Ich breitete meinen Gewandzipfel über dich und deckte deine

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Blöße zu. Ich band mich durch einen Schwur an dich und schloß einen Bund mit dir - so spricht der Herr Jahwe -, und du wurdest mein. Und ich wusch dich mit Wasser und spülte dein Blut von dir weg und salbte dich mit Öl" (Ezechiel 16: 8 u. 9). Die aus der Jägerreligion tradierte Blutmystik lebt in der Idee fort, ein immerwährender Bund müsse auf Blutsbanden beruhen. Das Symbol der Defloration tritt in diesem Bild ein, um dem zu entsprechen. Aber weder der Bund zwischen Göttin und Frau, noch der zwischen Vatergott und Volk war geeignet, die Werte der Vaterkultur religiös ausreichend abzustützen. So entsteht eine weitere Variante des Bildes vom Bund zweier Personen. An Abraham ergeht die Offenbarung: '"Ich bin El Schaddai. .. Ich will meinen Bund stiften zwischen mir und dir und dich zahlreich machen, überaus zahlreich... und zwar sollt ihr an dem Fleische eurer Vorhaut beschnitten werden. Dies sei zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch'" (Genesis 17: 1-11) Die männliche Gottheit verleiht dem männlichen Menschen Fruchtbarkeit, indem sie einen unauflöslichen Bund mit ihm schließt, der ganz in der Kontinuität der Blutmystik, mit Blut besiegelt wird. Damit geht die heilige Aufgabe, der menschlichen Frau die gottgewollte Fruchtbarkeit zu verleihen, von der Gottheit auf den Mann, hier an den Patriarchen Abraham, über (Vgl.: Helle, 1985). Die Folge mußte sein, daß der Stellenwert der Sexualität in der Kultur des Vatergottes ein anderer wurde, als unter mutterkulturellen Bedingungen: Der religiöse Kontext der Kultur der Patriarchen stellte sexuelles Handeln unmittelbar in den Dienst der Fruchtbarkeit, heiligt es unter dieser Voraussetzung und definierte es dann als unmoralisch, wenn 'es aus dieser Koppelung zwischen Sexualität und Fruchtbarkeit ausbrach. Hier liegt die Wurzel der Motivation für den Kampf gegen den Orgiasmus, den - wie Max Weber erwähnt - Mose und die Propheten führten. Das veränderte vor allem die Stellung der Frau, die von nun an stets bewacht werden mußte, um jeden Zweifel an ihrer Ehre als unbescholtener Frau ausräumen zu können.

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IV. Christentum als Ergebnis religiöser Evolution 1. Mose, Elija und Jesus als Repräsentanten eines Typus Obschon die Religion der Christen die Gläubigen, die diese Bezeichnung fuhren, keinesweges institutionell eint, sondern ihre Anhänger sich damit abgefunden haben, daß sie in zahlreiche Kirchen und Gemeinschaften untergliedert sind, teilen doch alle die Hochachtung vor den Texten der Bibel. Die von ihnen als heilig anerkannten Schriften sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments bieten daher die aussichtsreichsten Anknüpfungspunkte für die Erarbeitung von Einsichten, die alle Christen übereinstimmend für zutreffend halten können. Für die Themenstellung dieser Abhandlung, die Evolution religiöser Vorstellungen, die Menschen sich von dem Heiligen machen, sind jene Passagen der Bibel von besonderem Interesse, in denen Übergänge zwischen den Religionen angesprochen werden. Das ist im Alten Testament für die Schwelle zum Monotheismus der Hebräer der Fall, und im Neuen Testament fur die Einordnung der Person Jesu als ein Religionsstifter, der sowohl Bewahrer als auch Neuerer ist. Als Begründer des alttestamentlichen Glaubens muß Abraham anerkannt werden. Von ihm heißt es: '"Jenseits des Flusses wohnten einst eure Vorväter, Terach, der Vater Abrahams und Nachors, und dienten anderen Göttern'" (Josua 24, 2). Damit ist Abraham als Religionsstifter ausgewiesen: Von seinem Vater Terach wird festgehalten, daß er - wie wir schon dargestellt haben - anderen Göttern diente. Der neuerlich erkannte Gott taucht unter dem Namen El Schaddai ganz konsequent als Spender männlicher Fruchtbarkeit auf, und zwar sowohl bei Abraham als auch bei Isaak und Jakob. Die Texte erwecken den Eindruck, als ob dieser neu entdeckte Schöpfer sich gleichsam seinen Gläubigen vorstellt und so - ganz im Sinne der Denkweise des Spinoza - auf die Auffassungsgabe des jeweiligen Menschen Rücksicht nimmt: "Ich bin El Schaddai. Wandle vor mir und sei vollkommen. Ich will meinen Bund stiften zwischen mir und dir und dich zahlreich machen, überaus zahlreich" (Genesis 17: 1 u. 2, vgl. auch Genesis 28: 3; 35: 11; 48: 3 u. Exodus 6: 3). Hier wird das Prinzip der Fertilität einem Mann, dem zukünftigen Vater vieler Völker, ausdrücklich verliehen; wir hatten auch das schon erwähnt. Die Kontinuität zu vorhergegangenen Formen menschlichen Vorstellens wird außer bei den Menschen (Abraham als erster Gläubiger im Gegensatz zu seinem noch nicht gläubigen Vater) auch auf der Seite der geglaubten Gottheit herbeigeführt, wenn der sich mit seinem Namen präsentierende Gott (s.o.) zusätzlich noch angibt, wie andere ihn früher genannt haben: "Gott redete mit Mose und sprach zu ihm: 'Ich bin Jahwe! Ich bin Abraham, Isaak und Jakob unter dem Namen El Schaddai erschienen; doch mit meinem Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht geoffenbart" (Exodus 6, 2 u. 3).

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Das fuhrt zu der Frage, ob neben Abraham auch Mose als Religionsstifter angesehen werden kann. Sicherlich ist die Umbenennung von El Schaddai zu Jahwe mehr als nur eine Namensänderung. Zentrales Thema der Gottheit der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob war, wie mehrfach erwähnt, die Fruchtbarkeit des gläubigen Mannes und als Konsequenz davon die Vermehrung der Menschen der Stämme Israels. Zentrales Thema seit Mose wird die kultische und rechtliche Einung des Volkes in Verbindung mit seiner Chance, sich in kriegerischen Auseinandersetzungen zu behaupten. So wandelt sich - im Denken der Menschen - der Schöpfer, von dem David Bakan meint, er sei bei den Patriarchen noch die Gottheit mit den Brüsten (s.o.), zu einem Kriegsgott, einem "Herrn der Heerscharen," aus dem die kriegsmüden Kirchen der neuesten Zeit recht abstrakt den "Herrn aller Mächte und Gewalten" gemacht haben. Das Neue Testament der Bibel ist voll von Wortgefechten zwischen Jesus und den Repräsentanten der etablierten mosaischen Religion seiner Tage. Solche schriftkundigen Dispute setzen auch bei dem Leser oder Hörer der Bibel eine genaue Kenntnis des Alten Testaments voraus, weil man sonst gar nicht nachvollziehen kann, worüber Jesus sich z.B. mit den Pharisäern eigentlich streitet, bzw. welche Fehlinterpretation einer Textstelle bei Mose oder den Propheten er ihnen vorhält. Auch hier, an der Schwelle zum neu entstehenden Christentum, wird die Kontinuität außerdem personal anschaulich gemacht, diesmal nicht an Variationen der Gottesgestalt, sondern an Vorläufern und Parallelfiguren zu Jesus selbst. Von großer Bedeutung ist dabei die Verklärung, in der als visionäre Lichterscheinung die Trias Mose, Elija, Jesus eingeschärft wird: "Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, und sein Angesicht strahlte wie die Sonne, seine Gewänder aber wurden leuchtend wie das Licht. Und siehe, es erschienen ihnen Mose und Elija im Gespräch mit ihm" (Matthäus 17, 2-3). Zeugen dieses an Bewußtseinserweiterung erinnernden Ereignisses, das manchen frommen Maler angeregt hat, werden nach dem Evangelium drei der Jünger, darunter der - auch hier, wie so oft - mit Aktivismus reagierende Petrus, der spontan den Bau von drei Hütten vorschlägt. Es handelte sich aber ja gar nicht um drei portraithafte Visionen von statisch nebeneinander anwesenden Prominenten der Religionsgeschichte, sondern um ein Gespräch zwischen ihnen, das sie in einer ganz lebendigen Beziehung zueinander zeigt. Eine einzige, etwas geräumige Hütte wäre dem angemessen gewesen. Was als Botschaft aus dem Bericht über die Verklärung bleibt, ist ein Jesus, der 'sub specie aeternitatis' ein enger Vertrauter sowohl des Mose als auch des Elija ist. Das nun legt die Frage nahe, was die drei Gestalten verbindet, bzw. unter welchem Gesichtspunkt sie überhaupt verglichen werden sollen. Mose tritt bei der Vorbereitung und Durchführung des Auszugs der Israeliten aus Ägypten auf, also zu einer Zeit, als deren Existenz als Volk ernsthaft dadurch bedroht ist, daß männli-

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che Nachkommenschaft ausgeschlossen werden soll: "Da gab der Pharao seinem ganzen Volk den Befehl: 'Werfet alle Knaben, die den Hebräern geboren werden, in den Fluß; alle Mädchen aber laßt am Leben'" (Exodus 1, 22). Mose selbst wird als Neugeborener von seiner Mutter in einem Schilfkörbchen im Nil versteckt, weil sie hofft, ihm könne so die Ermordung erspart werden (Exodus 2, 3). Elija, den meisten Bibellesern weniger gut bekannt als Mose, tritt zu einer Zeit auf, als zwar nicht die physische Fortexistenz der Menschen, wohl aber die des Jahweglaubens bedroht war: "Da sprach Elija zum Volke: 'Ich bin als einziger Prophet

Jahwes übriggeblieben,

der Propheten Baals dagegen sind es vier-

hundertfunfzig"' (1. Könige 18, 22). Auffallend sind bei Elija die Wunder, die er wirkt, von denen der nicht leer werdende Mehltopf (1. Könige 17, 14) und die Auferweckung des toten Sohnes der Witwe (1. Könige 17, 20-24) auf Jesus vorausweisen, während die Zerteilung des Wassers (2. Könige 2, 8) - ein Wunder, das sein Jünger Elischa ebenfalls wirken kann (2. Könige 2, 14), - daran erinnert, wie Mose das fliehende Volk trockenen Fußes durch das Schilfmeer gehen läßt (Exodus 14, 21 u. 22). Diese Parallelen deuten an, daß es sich bei Mose, Elija und Jesus um den Typ des Retters aus höchster Not handelt. Außerdem ist kennzeichnend bei allen dreien die Fähigkeit, Naturgesetze zu suspendieren. Endlich - und das ist entscheidend - ist jeder der drei Namen mit einer kultischen Handlung verbunden, die jeweils eine Errettung symbolisiert: bei Mose ist es das Paschamahl (Exodus 12), bei Elija das Opfer auf dem Berge Karmel (1. Könige 18, 2040), und bei Jesus sind es Abendmahl und Kreuzigung. Im weiteren Text dieses Kapitels soll zunächst die situationsbezogene Aufhebung der Naturgesetze, im Anschluß dann die religionssoziologische Bedeutung der jeweiligen Kulthandlung erarbeitet werden.

2. Magische Eingriffe in die Natur a) Mose Als die physische Auslöschung des Volkes Israel droht, beruft Jahwe selbst - also nicht, wie sonst häufig, durch Entsendung eines Boten - den Mose zum Retter: '"So gehe nun! Ich will dich zu dem Pharao senden. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!'" (Exodus 3, 10). In sehr menschlicher und völlig verständlicher Weise fühlt Mose sich durch diesen Auftrag überfordert: '"Wer bin ich, daß ich zu dem Pharao gehe und die Israeliten aus Ägypten herausführe?'" (Exodus 3, 11). Nichts leichter als das, könnte der Zyniker antworten. Jahwe beruhigt den Zaudernden, stellt seine göttliche und tatkräftige Mitwirkung in Aussicht und gibt sogar für die Durchführung der Aktion recht konkrete Anweisungen. Als so die Zweifel des Mose einigermaßen ausgeräumt sind, stellt der sich die Aufgabe vor, das

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Volk fur die Idee des Exodus zu gewinnen und sieht neue, ebenfalls verständliche Schwierigkeiten vor Augen: '"Wenn sie mir aber nicht glauben und nicht auf mich hören...'" (Exodus 4, 1). Um den Erfolg der Aktion zu sichern und um Mose die Zweifel zu nehmen, stattet Jahwe den soeben von ihm Berufenen mit Fähigkeiten aus, die so auffallend sind, daß sich die Frage nach der Einordnung des Mose als Typ in der vergleichenden Religionsphänomenologie mit einiger Dringlichkeit stellt. Was geschieht also, als Mose mit gutem Grund bezweifelt, daß das Volk ihm glauben und ihm gehorchen wird? "Darauf entgegnete Jahwe: 'Was hast du da in deiner Hand?' Er antwortete: 'Einen Stab.' Da befahl er: 'Wirf ihn auf den Boden!' Als er ihn auf den Boden geworfen hatte, wurde er zu einer Schlange. Mose ergriff vor ihr die Flucht. Hierauf sprach Jahwe zu Mose: 'Strecke deine Hand aus und fasse sie am Schwanz!' Er streckte seine Hand aus, packte sie, und sie wurde in seiner Hand wieder zum Stab" (Exodus 4, 2-4). Mit der Verstocktheit der Israeliten rechnend fuhrt Jahwe dem Mose noch ein zweites 'Zauberkunststück' vor und beschreibt ihm ein drittes fur alle Fälle (Exodus 4, 69). Der Stab, der sich in eine Schlange verwandelt, kommt zum Einsatz, als der Pharao von Mose - im Verein mit dessen Bruder Aaron - überzeugt werden soll (Exodus 7, 8-10): "Da ließ der Pharao die Weisen und Zauberer rufen, und die ägyptischen Zauberer taten dasselbe mit ihren Zauberkünsten. Alle warfen ihre Stäbe hin, und diese wurden zu Schlangen. Aber der Stab Aarons verschlang ihre Stäbe" (Exodus 7, 11 u. 12). Es kommt am Hofe des Pharao zu einem Wettzaubern, bei dem "die Weisen und Zauberer" des Herrschers zunächst mithalten können. Doch schließlich erweisen sich Mose und sein Bruder Aaron als die machtvolleren Magier und demonstrieren damit die Überlegenheit ihres Gottes über die Götter der Ägypter. Dabei wird die Fähigkeit, durch magische Kräfte in das normale Naturgeschehen einzugreifen, nicht zum Selbstzweck. Ziel des Wirkens von Mose und Aaron bleibt die Rettung des Volkes, das Jahwe sich erwählt hat. Das gipfelt in dem Durchzug der Hebräer, die vor den ägyptischen Verfolgern auf der Flucht sind, durch das Schilfmeer: "Jahwe sprach zu Mose: 'Warum schreist du zu mir? Befiehl den Israeliten aufzubrechen. Du aber erhebe deinen Stab und strecke deine Hand über das Meer aus und spalte es! Die Israeliten sollen mitten durch das Meer auf trockenem Boden gehen können" (Exodus 14, 15 u. 16). So ist der Exodus als Errettung des Volkes vor seiner Vernichtung und zugleich als Befreiung aus der Sklaverei nur als Wunder Jahwes zu deuten und bietet den Anhängern des Jahwe-Glaubens bis heute Anlaß zu frommer Dankbarkeit. Von Mose, dem Propheten, wie die Bibel ihn nennt (Deuteronomium 34, 10), gibt es kein Grab. Er gilt zwar als gestorben, zugleich aber auch

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als nicht vergangen (Deuteronomium 34, 5). Wie zentral die Stellung ist, die er im jüdischen Glauben einnimmt, verdeutlicht der 7. Satz aus der Zusammenfasung des mosaischen Bekenntnisses von Maimonides (1135-1204): "Ich glaube..., daß das Prophetentum unseres Propheten Moses wahr ist und er der Meister aller Propheten war, die vor ihm waren und nach ihm kamen" (Ammei, 1994: 21). b) Elija Die Fähigkeit, in das Naturgeschehen einzugreifen, erweist sich im Falle des Elija beim Verhindern oder Herbeifuhren von Regen bzw. Dürre: '"...es soll diese Jahre weder Tau noch Regen fallen, es sei denn auf das Wort hin, das ich spreche'" (1. Könige 17, 1). Obwohl Elija sich als Prophet Jahwes versteht und in dessen Auftrag handelt, sehen seine Gegner ihn durchaus als jemanden, der von sich aus die magische Macht hat, das Volk durch Zurückhaltung des Regens zu vernichten: "Als Achab den Elija erblickte, sagte Achab zu ihm: 'Bist du da, du Verderber Israels?'" (1. Könige 18, 17). Weil er Elija, seinen einzigen verbliebenen Propheten, vor Verfolgung schützen will, verbirgt Jahwe ihn östlich des Jordans, wo er allerdings in Gefahr ist, zu verdursten und zu verhungern. Um ihn gleichwohl am Leben zu erhalten, setzt Jahwe Vögel ein, und zwar Raben: "'Aus dem Bache sollst du trinken, den Raben aber gebiete ich, daß sie dich daselbst versorgen.' Da ging er hin und tat, wie Jahwe befohlen hatte... Und die Raben brachten ihm Brot am Morgen und Fleisch am Abend, aus dem Bache aber trank er" (1. Könige 17, 4-6). Das Motiv des Raben als Bote zwischen Gottheit und Mensch ist hier auffallend. Als dann der Bach austrocknet, findet Elija bei einer Witwe Unterschlupf, die mit ihrem kleinen Sohn vor Armut am Rande des Hungertodes lebt. Sie erhält nun die Aufgabe, außer sich und ihren Sohn auch den Propheten Elija zu ernähren. Das ist aber nur möglich durch das Wunder einer unerschöpflichen Nahrungsquelle: "Denn also spricht Jahwe, Israels Gott: Der Mehltopf soll nicht leer werden und der Ölkrug nicht versiegen bis zu dem Tag, da Jahwe Regen fallen läßt auf den Erdboden" (1. Könige 17, 14). Das ist ein Wunder, das auf die Brotvermehrung vorausweist, die Jesus vornehmen sollte. Als der einzige Sohn der Witwe krank wird und stirbt, fleht Elija zu Jahwe: '" . . .mein Gott, laß doch die Seele dieses Knaben in ihn zurückkehren'" (1. Könige 17, 21). So kommt es zur Auferweckung eines Toten durch Elija. Als Elija und mit ihm sein Schüler und Nachfolger Elischa den Jordan überqueren wollen, sind fünfzig Prophetenjünger Zeugen des folgenden Geschehens, das Elija in die Tradition des Mose stellt: "Elija aber nahm seinen Mantel, wickelte ihn zusammen und schlug damit auf das Wasser. Da teilte es sich nach der einen und nach der anderen Seite hin, so daß beide

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auf trockenem Grund hinübergingen" (2. Könige 2, 8). Bald darauf läßt Jahwe den Elija in den Himmel auffahren, ohne daß von seinem Tode die Rede gewesen wäre: "Und es geschah, während sie weitergingen und redeten, siehe, da kam ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen und trennte die beiden voneinander, und Elija fuhr im Sturmwind gen Himmel" (2. Könige 2, 11). Sofort danach beweist Elischa, daß auch er die Wasser des Jordan durchteilen kann, ganz ebenso, wie es Elija vor seiner Himmelfahrt getan hatte. Die fünfzig Jünger des Elija beobachten auch das und brechen in den Ruf aus: '"Der Geist des Elija hat sich auf Elischa niedergelassen'" (2. Könige 2, 15). Wie im Falle des Mose, kennt man auch bei Elija kein Grab, ja mehr noch, nicht einmal von Elijas Tod wird berichtet. c) Jesus Der Bericht über die Verklärung (Matthäus 17, 1-8, Markus 9, 2-8; Lukas 9, 28-36) stellt Jesus in die Tradition, die in den Gestalten des Mose und des Elija personifiziert ist. Das Gespräch zwischen den dreien betrifft den bevorstehenden Tod Jesu in Jerusalem (Lukas 9, 31). Die Evangelien bringen aber außer Mose und Elija auch Johannes den Täufer in eine besondere Verbindung zu Jesus, der seinen Jüngern dies sagt: '"Elija ist schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern mit ihm getan, was sie wollten. So wird auch der Menschensohn durch sie leiden müssen.' Da verstanden die Jünger, daß er zu ihnen von Johannes dem Täufer redete" (Matthäus 17, 12 u. 13). Demnach war Johannes der Täufer der wiedergekommene Elija, ohne jedoch als solcher erkannt worden zu sein. Außerdem gibt es offenbar Zeitgenossen, die Jesu für die Reinkarnation des Täufers halten: "Zu jener Zeit kam dem Vierfürsten Herodes zu Ohren, was man über Jesus redete, und er sagte zu seinen Dienern: 'Der ist Johannes der Täufer. Er ist von den Toten auferstanden, und darum wirken die Wunderkräfte in ihm'" (Matthäus 14, 1 u. 2). Oder in einer etwas anderen Formulierung läßt das Neue Testament den Herodes sagen: '"Johannes, den ich habe enthaupten lassen, der ist auferweckt worden'" (Markus 6, 16). Zugleich wird berichtet, daß manche seiner Zeitgenossen Jesus flir Elija hielten. Demnach identifiziert Jesus bei der Belehrung, die er seinen Jüngern erteilt, Johannes den Täufer mit Elija, und Zeitgenossen des Jesus halten ihn entweder fur den wieder auferstandenen Täufer oder für den wiedergekommenen Elija. Die Vorstellungen, die in der Bevölkerung über Jesus kursierten, sind die objektiven Tatsachen, mit denen wir uns als Religionssoziologen auseinanderzusetzen haben (ganz abgesehen von den gewaltigen Schwierigkeiten, die bei dem Versuch auftreten, sie zu ermitteln). Die Verbreitung von Glaubenswahrheiten dagegen ist Aufgabe der Kirchen und religiöser Gemeinschaften, nicht aber der Soziologie als Wissenschaft vom handelnden Menschen. Was

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die Zeitgenossen des Jesus zunächst veranlaßte, sich ein bestimmtes Bild von ihm zu machen, waren seine magischen Eingriffe in die Natur, vor allem als Wunderheiler: "Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganz Syrien. Und sie brachten alle Leidenden zu ihm, alle, die von den verschiedensten Krankheiten und Schmerzen geplagt waren, Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie. Und ganze Scharen folgten ihm..." (Matthäus 4, 24 u. 25). Charakteristisch ist die Schilderung, nach der Jesus mit seinen Jüngern in einem Boot auf dem See fährt und in einen Sturm gerät. Obwohl das Wetter den Mitfahrenden lebensbedrohend erscheint, schläft Jesus, so daß sie in ihrer Verzweiflung ihn zuerst wecken, um ihn dann um Rettung zu bitten. Er weist die Jünger wegen ihrer Furchtsamkeit zurecht: '"ihr Kleingläubigen'" (Matthäus 8, 26), und wendet sich sofort stehend, scheltend und nach einigen Versionen der Bibel, drohend gegen Wind und Wasser. Da tritt Ruhe ein, "Die Leute aber verwunderten sich und sprachen: 'Wer ist dieser, daß selbst die Winde und der See ihm gehorchen?'" (Matthäus 8, 27). Nach mehreren Beschreibungen seiner Aktivitäten vollzieht Jesus in vielen Fällen das, was man als Exorzismus bezeichnet. So treten eines Tages zwei Menschen aus Grabhöhlen auf ihn zu, die als Besessene bezeichnet werden, und aus deren Mund nicht die jeweilige Person selbst, sondern der Dämon oder die Dämonen sprechen, die von dem betreffenden Besessenen Besitz ergriffen haben. Die Dämonen sehen voraus, daß Jesus sie aus den beiden Menschen, in deren Innerem sie sich häuslich eingerichtet haben, entfernen wird und entwickeln eigene Vorstellungen über ihren zukünftigen Aufenthaltsort: '"Wenn du uns austreibst, so schick uns in die Schweineherde.' Er sprach zu ihnen: 'Fort mit euch!' Da fuhren sie aus und fuhren in die Schweine. Und siehe, die ganze Herde raste den Abhang hinab in den See und kam im Wasser um. Die Hirten aber flohen, und als sie in die Stadt kamen, berichteten sie alles, auch das mit den Besessenen. Da zog die ganze Stadt hinaus, Jesus entgegen, und als sie ihn sahen, baten sie ihn, er möge ihr Gebiet verlassen" (Matthäus 8, 31-34). Man sieht, diese Maßnahme fand nicht den Beifall der Bevölkerung, und es ist nicht überliefert, ob in erster Linie der Verlust weiterer Viehbestände befurchtet wurde, oder ob die schiere Macht dieses Mannes, die er - wie es nun schien - als Zauberer hatte, den Leuten Angst und Schrecken einflößte. Für die Fähigkeit Jesu, Dämonen zum Verlassen eines besessenen Menschen zu zwingen, gibt es zahlreiche Belege. Ein Vater bittet fur seinen mondsüchtigen Sohn, und Jesus veranlaßt den Dämon, den Knaben zu verlassen (Matthäus 17, 14-18). In diesem Fall hatte der Vater vorher die Jünger um Hilfe gebeten, doch die konnten seinen Sohn nicht heilen. Als Grund fur das Scheitern der Jünger nennt Jesus wieder - wie schon in der Sturmszene im

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Boot - deren Kleinglauben (Matthäus 17, 20). Eine kanaanäische Frau bittet um die Heilung ihrer Tochter, die '"von einem Dämon furchtbar geplagt'" wird (Matthäus 15, 22). Jesus heilt die Tochter nach einigem Zögern wegen des Glaubens der Mutter. Dann wieder trifft er in einer Synagoge auf einen "Mann mit unreinem Geist" (Markus 1, 23), den er vor aller Augen von seiner Besessenheit befreit. Das Evangelium nach Markus faßt das öffentliche Wirken Jesu zusammen und läßt dabei erkennen, welch hohen Stellenwert der Umgang mit Dämonen dabei hat: "Und er heilte viele, die an Krankheiten aller Art litten, und trieb viele Dämonen aus. Dabei ließ er die Dämonen nicht sagen, daß sie ihn kannten" (Markus 1, 34). Oder nach einer anderen Zusammenfassung: "Und er wanderte umher, predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus" (Markus 1, 39). Die Reaktion der Schriftgelehrten auf die vom Volk durchweg bewunderte Macht, Dämonen auszutreiben, ist feindselig: Sie behaupten, Jesus selbst sei von Beelzebul, dem obersten der Dämonen besessen, und habe seine Fähigkeit diesem Umstand zu verdanken (Markus 3, 22). Jesus reagiert auf diese Anschuldigung mit der Frage: '"Wie kann der Satan den Satan austreiben?'" (Markus 3, 23). Bezeichnend ist die Reaktion seiner entfernteren Verwandtschaft. Der Clan, aus dem Jesus hervorgegangen war, versucht, ihn gefangenzusetzen; denn man hält ihn dort für geisteskrank: "Als die Seinen davon hörten, zogen sie aus, um sich seiner zu bemächtigen, denn sie sagten: 'Er ist von Sinnen'" (Markus 3, 21). Doch die "Zauberei" Jesu beschränkt sich nicht auf den Umgang mit Dämonen. Um Schwierigkeiten mit der religiösen Obrigkeit aus dem Wege zu gehen, willigt er darin ein, die Tempelsteuer zu zahlen, beschafft das dazu erforderliche Geld allerdings auf sehr ungewöhnliche Weise: Er fordert den Simon auf, einen bestimmten Fisch zu angeln, um dann aus dessen Maul die Münze entnehmen zu können (Matthäus 17, 27). Als Jesus bei anderer Gelegenheit einen Feigenbaum vergeblich nach Früchten absucht, verflucht er den unfruchtbaren Baum. "Und augenblicklich verdorrte der Feigenbaum. Als das seine Jünger sahen, wunderten sie sich und sagten: 'Wie ist der Feigenbaum augenblicklich verdorrt?" (Matthäus 21, 19 u. 20). Ein andermal benutzen die Jünger wieder ein Boot, und Jesus bleibt zum Gebet zurück. Später jedoch, nachdem das Boot mit den Jüngern schon eine Strecke weit vorausgefahren ist, kommt Jesus ihnen nach und geht dabei auf der Oberfläche des Wassers zu ihnen. "Als ihn aber die Jünger über den See schreiten sahen, entsetzten sie sich und meinten, es sei ein Gespenst, und vor Furcht schrien sie auf' (Matthäus 14, 26). Jesus hat es nicht nötig, wie Mose und Elija das Wasser sich teilen zu lassen, um dann trockenen Fußes auf dem Grund des Sees oder Flusses hindurchzugehen. Jesus geht auf dem Wasser, ohne einzusinken. Dem Petrus beweist er, daß der das auch kann, allerdings nur, solange er fest daran glaubt, es zu können (Matthäus 14, 28-31).

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3. Kultische Handlungen der Errettung a) Mose Das religiöse Wirken von Mose, Elija und Jesus ist jeweils mit einer kultischen Handlung verbunden, die die Errettung der Glaubenden symbolisiert: bei Mose ist es das Paschamahl (Exodus 12), bei Elija das Opfer auf dem Berge Karmel (1. Könige 18, 20-40), und bei Jesus sind es Abendmahl und Kreuzigung. Das Paschamahl basiert auf dem Töten, Zubereiten und Essen eines Lammes. Die Opferung eines Stieres (Exodus 29, 10-14) und zweier Widder (Exodus 29, 15-21), die große Ähnlichkeit aufweist mit dem, was uns bei den Griechen der Antike begegnet ist, wird uns noch beschäftigen. Zunächst sollen die rituellen Vorschriften besprochen werden, die das Pascha betreffen. Ein bestimmter Tag im Kalender wird festgelegt, an dem das Ritual durchgeführt werden soll (Exodus 12, 3). Die Familie ist mit dem Vollzug beauftragt, und dazu soll sich jeder für seine Familie ein Lamm beschaffen. "Wenn aber eine Familie zu klein ist fur ein ganzes Lamm, so nehme er eins zusammen mit seinem nächsten Nachbarn nach der Zahl der Personen. Nach dem, was jeder ißt, so viele sollt ihr auf ein Lamm zählen" (Exodus 12, 4). Es kommt also nicht infrage, etwa zwei Lämmer oder ein halbes Lamm zum Pascha zu bereiten, sondern umgekehrt, die Zahl der Personen, die sich zum Pascha zusammenfinden, richtet sich nach ihrer gemeinsamen Fähigkeit, ein Lamm zu essen. So geht die Einheit des Tierkörpers auf die über, die gemeinsam davon essen. Das Lamm soll fehlerlos, einjährig und männlich sein. Dabei ist gleichgültig, ob es sich um ein junges Schaf oder eine junge Ziege handelt (Exodus 12, 5). Alle Familien des Volkes sollen das Tier am selben Tage schlachten, und das Blut des geschlachteten Lammes soll an die beiden Türpfosten und an die Oberschwelle gestrichen werden. Das Fleisch muß in der Nacht restlos verzehrt werden. Es muß am Feuer gebraten, darf also nicht gekocht oder roh gegessen werden. Der Kopf und die Beine müssen während der Zubereitung mit dem Rumpf zusammenhängen, und was nach der Mahlzeit übrigbleibt, muß im Feuer verbrannt werden (Exodus 12, 6-10). Obwohl die Methode schon dargelegt wurde, mit der in diesem Buch gearbeitet wird, sollen ihre Konsequenzen noch einmal klargestellt werden: Was historisch tatsächlich geschah, kann hier nicht geklärt werden, insbesondere bleibt außer Betracht, welches die religionsgeschichtlichen Ursprünge des Pascha sind. Die heiligen Texte jedoch, nach denen hier zitiert wird, haben für zahllose Gläubige bedeutet - und tun das immer noch, daß Jahwe dem Mose (und seinem Bruder Aaron) diese Handlungsanweisungen fur die Durchführung des Pascha gegeben hat. Was Inhalt des Bewußtseins zahlloser Generationen frommer Menschen war

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und ist, das - und nur das - ist in dieser Untersuchung der Gegenstand der Betrachtung. Wer das aus den Augen verliert, wird die Absicht und den Fortgang unser Überlegungen notwendig mißverstehen. Mose gilt also als deijenige, dem das Pascha zu danken ist. Das feierliche Mahl bringt eine wichtige Neuerung in der Tradition gemeinschaftlichen rituellen Handelns. Es kann ganz unauffällig im Wohnraum der Familie und von der Familie gefeiert werden. In Situationen der Verfolgung ist das von entscheidender Bedeutung. Religiöse Feiern, die in speziell dafür errichteten Gotteshäusern veranstaltet werden, können mühelos politisch kontrolliert und durch Polizeimaßnahmen unterdrückt werden. Rituelle Handlungen in den Privatwohnungen dagegen sind von Feinden der betreffenden Religion schwer oder gar nicht aufzudecken. Christliche Gruppen z.B. können in Extremsituationen von der Möglichkeit Gebrauch machen, ihre Messe oder ihren Abendmahlsgottesdienst im kleinsten Kreis im Verborgenen zu feiern. Beim Pascha bleibt die Einheitsmystik als Prinzip von der Jägerkultur her durchgehalten. Alle, die von einem Leib essen, werden dadurch eins. Die Größe des Tierkörpers ist im Falle des Pascha recht klein; entsprechend muß auch die teilnehmende Gruppe klein sein: sie ist nach ausdrücklicher Vorschrift der Fleischmenge des Lamms anzupassen. Das Lamm muß fehlerlos sein, also nicht ein Tier mit Mängeln, das der Eigentümer ohnehin aus ganz banalen Rücksichten schlachten möchte. Und endlich, wenn auch nicht ganz so offensichtlich, das Skelett des Lammes muß - mindestens bei der Zubereitung - unverletzt bleiben: Kopf und Beine dürfen vor Beginn des Mahles nicht vom Rumpf abgetrennt werden. Sogar ganz ausdrücklich lautet eine Anweisung: "Von dem Fleisch darfst du nichts aus dem Hause hinaustragen; keinen Knochen dürft ihr an ihm zerbrechen" (Exodus 12, 46). Eine Erklärung dafür, warum kein Knochen zerbrochen werden darf, gibt der Text nicht. Aber auf diese Textstelle bezieht sich das Neue Testament, wenn bei der Hinrichtung Jesu betont wird, daß sein Skelett - im Unterschied zu den Skeletten der beiden anderen, die gleichzeitig mit ihm gekreuzigt wurden - nicht verletzt wurde. Wie zu Beginn dieses Abschnitts über kultische Handlungen der Errettung bei Mose schon angedeutet, enthält dasselbe Buch der Bibel, in dem die Vorschriften des Pascha enthalten sind, das Buch Exodus also, auch Anweisungen über Tieropfer, die dem weitverbreiteten Brauchtum seßhafter Hochkulturen entsprechen. Dazu gehört der spezialisierte Berufsstand des Opferpriesters. Die Opfervorschriften, um die es hier geht, haben den Sinn, Moses Bruder Aaron und dessen beiden Söhne zu Priestern zu weihen (Exodus 29, 1-9). Der als Opfertier ausgewählte Stier wird vor das Offenbarungszelt gebracht, und sowohl Aaron als auch seine beiden Söhne legen ihre Hände auf den Kopf des Stieres. Dann wird

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das Tier geschlachtet. Von seinem Blut streicht man etwas "mit dem Finger an die Hörner des Altars" (Exodus 29, 12) und gießt alles übrige Blut am Fuße des Altares aus. Sodann werden Eingeweide, Innereien, und Fett auf dem Altar verbrannt. "Das Fleisch des Stieres, sein Fell und seinen Unrat verbrenne außerhalb des Lagers. Es ist ein Sündopfer" (Exodus 29, 14). Anschließend werden zwei Widder nacheinander geopfert. In beiden Fällen legen vor der Tötung der Tiere Aaron und seine Sohne ihre Hände auf den Kopf des Opfers. Bei dem ersten der beiden Widder wird das Tier zunächst nach genauen Vorschriften zerlegt und dann auf dem Altar vollständig verbrannt: "...es ist ein Brandopfer für Jahwe, ein lieblicher Geruch, ein Feueropfer für Jahwe ist es" (Exodus 29, 18). Vom Blut des zweiten Widders soll etwas genommen werden, um "damit das rechte Ohrläppchen Aarons und das rechte Ohrläppchen seiner Söhne, den Daumen ihrer rechten Hand und die große Zehe ihres rechten Fußes" zu bestreichen (Exodus 29, 20). Während ich vergeblich darüber nachdachte, welchen Sinn das Bestreichen ausgewählter Körperstellen mit dem Blut des Opfertieres haben könnte, ereignete sich bei einer Familienmahlzeit folgendes: Ich entfernte von einer Zitrone einen kleinen Aufkleber, aus dem man die Südfrüchtefirma erkennen konnte, die fur den Import verantwortlich war. Ich klebte ihn im Scherz einem sechsjährigen Mädchen mitten auf die Stirn. Daraufhin sagte sie: Jetzt bin ich eine Zitrone. Die Analogie zur Weihe des Aaron und seiner Söhne würde bedeuten, daß sie durch das Bestreichen mit dem Blut des Widders selbst zum Opfertier werden. Vielleicht gehört es zum Wesen des Schamanen, daß er Opfertier und Opferer in einer Person ist. b) Elija Bei der zentralen und in hohem Maße spektakulären kultischen Handlung der Errettung, die Elija vornimmt, handelt es sich um das Stieropfer auf dem Berg Karmel. Äußerer Anlaß ist die Dürre und die dadurch entstandene Hungersnot. Beides fuhrt Elija auf die Untreue des Volkes Israel gegenüber seinem Gott zurück, die darin besteht, daß Baale, also heidnische Götter, verehrt werden. Elija veranlaßt den verzweifelten König Achab, das ganze Volk und die vierhundertfunfzig Baalspriester auf den Berg Kamel zu bringen. Dort kommt es zu einem opferpriesterlichen Duell zwischen Elija einerseits und den zahlreichen Baalspriestern andererseits (1. Könige 18, 18-40). Jede der beiden Parteien schlachtet einen Stier und bereitet ihn als Opfer zu. Das Opertier wird dann auf die Holzscheite gelegt, jedoch darf das Holz nicht von den Opferern entzündet werden. Vielmehr ruft jede der beiden Parteien, also Elija auf der einen, die Baalspriester auf

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der anderen Seite, ihren jeweiligen Gott an mit der Aufforderung, Feuer auf das Opfer herabzusenden. Diese Vorgehensweise war von Elija vorgeschlagen worden. "Da erwiderte das ganze Volk: 'So ist es recht'" (1. Könige 18, 24). Die Baalspriester schreien vom Morgen bis zum Mittag zu Baal, es geschieht jedoch nichts. Um die Mittagszeit fängt Elija an, sie zu verspotten. Als auch zur Zeit des AbendSpeiseopfers noch keine Antwort auf des Gebet der Baalspriester zu erkennen ist, fordert Elija das ganze Volk auf, sich um seinen Alter herumzustellen, und er beginnt mit seinem Opferritual. Eine einzige Anrufung Jahwes als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs durch Elija genügt: "Da fiel das Feuer Jahwes herab und verzehrte das Brandopfer und die Holzscheite..." (1. Könige 18, 38). Damit ist das Volk wieder auf der Seite Jahwes und seines einzigen überlebenden Propheten, Elija. Die demaskierten Baalspropheten haben durch ihr rituelles Versagen den Volkszorn auf sich gezogen: Elija läßt sie verhaften: "Sie ergriffen sie, und Elija ließ sie zum Bach Kischon hinabschaffen und dort abschlachten" (1. Könige 18, 40). Nicht genug mit diesem dramatischen Sieg: Der Grund für die Dürre als Strafe gegen des abtrünnige Volks war entfallen, Elija sagt den kommenden Regen voraus, und es hat den Anschein, als ob er die Wolken auf magische Weise herbeibeschwört: "Elija aber stieg zum Gipfel des Karmel hinauf, beugte sich zur Erde nieder und hielt sein Gesicht zwischen seine Knie" (1. Könige 18, 42). Es regnet wieder, die Hungersnot endet. Doch die Königin, die selbst eine Anhängerin des Baal ist, gerät über die Tötung der Baalspriester in grenzenlosen Zorn und beschließt, Elija ermorden zu lassen (1. Könige 19, 2). Er aber stirbt nicht, sondern wird, wie wir sahen, von Jahwe in die Lüfte entrückt. c) Jesus Die Umgestaltung des Tieropfers erfolgt nach biblischen Berichten über das Wirken Jesu in zwei Richtungen: 1) Die Einsetzung des Abendmahls definiert Brot und Wein als Fleisch und Blut und beendet damit die Tradition des Tötens. 2) Der Tod Jesu am Kreuz bedeutet, daß er sich selbst an die Stelle des Opfertieres setzt. Da er freiwillig diese Form der Hinrichtung auf sich nimmt, gerät er in die Lage, Opferer und Opfer in einer Person zu sein. Dadurch treffen zentrale Merkmale des Schamanen auf ihn zu. Die neue Form eines unblutigen Opfers schuf Jesus auf der Grundlage des Pascha als das Abendmahl. Dessen Einsetzung als Danksagung oder Eucharistie durch ihn selbst erfolgte im engsten Kreis seiner Jünger. Da er sich mit ihnen versammelt hatte, um das fur alle Juden vorgeschriebene Osterlamm zu essen, stand sein und seiner Jünger religiöses Handeln im Kontext des Volkes Israel, das alljährlich auf diese Weise des Exodus gedachte. Dabei taucht die Frage des Termins auf, zu dem der Ritus gehalten werden sollte. Aus den Evan-

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gelientexten fällt auf, daß die Feier der Jesusgruppe vor dem Termin geschahen, zu dem die offiziellen Opferungen aus Anlaß des Pascha im Tempel stattfindet. Zwischen beiden Kalenderdaten liegt der Tag der blutigen Opferung am Kreuz. Wir können davon ausgehen, daß Jesus mit seinen Jüngern nicht analog zu einer Familie handelte, die etwa beschließt, das Weihnachtsfest im November vorzufeiern. "Für die Feier seines Paschaopfermahles, das zum 'letzten Abendmahl' im Jüngerkreis werden sollte, beobachtete Christus zusammen mit seinen Jüngern den altehrwürdigen, unveränderten Priesterkalender, nach welchem schon am dritten Wochentag der 14. Nisan war. Selbst starb er jedoch am 14. Nisan des offiziellen staatlichen Kalenders, der im Jahre 30 n. Chr. - wie wir aus astronomischen Berechnungen wissen - auf einen 6. Wochentag fiel" (Schwank, 1958: 39). Wenn diese Ergebnisse der Forschungen Benedikt Schwanke zutreffend sind, kann man schon in der Wahl des Termins für die Einsetzung der Eucharistie eine Entscheidung für die mosaische Tradition des Exodusvolkes und gegen den jüdischen Staat von des römischen Kaisers Gnaden sehen. Nicht nur was die Wahl des Termins betrifft, sondern auch hinsichtlich der äußeren Form steht Jesu kultische Handlung der Errettung in einem Kontext, der über die beteiligten Jünger hinausgeht. Welches rituelle Handeln schrieb die ehrwürdige Tradition des Pascha den Gläubigen zu Lebzeiten Jesu konkret vor? "Beim jüdischen Festmahl nahm der Sprecher des Tischgebetes zu Beginn des eigentlichen Hauptmahls einen (meist tellerförmigen, weichen) Brotfladen in die Hände. Nachdem er sich auf seinem Liegepolster aufgerichtet hatte, sprach er darüber im Namen aller eine Eulogie, die alle mit 'Amen' beantworten. Danach brach er für jeden Mahlteilnehmer ein Stücklein Brot ab und reichte es dar. In ähnlicher Weise nahm er gegen Ende des Mahles einen Weinbecher sitzend in die Rechte, hielt ihn eine Handbreit über den Tisch und sprach darüber für alle ein weitgehend vorgeformtes Tischdankgebet, das ebenfalls alle mit 'Amen' beantworteten. Dann trank er als erster aus dem Becher, so den Tischgenossen ein Zeichen zum Trinken gebend und damit das dem Mahle folgende 'Trinkgelage' (Symposion) eröffnend. Es kann kaum bezweifelt werden, daß Jesus anläßlich seines Abschiedsmahles diese beiden schon präformierten Mahlgesten zu Beginn und am Ende des Mahles zum Gefäß gemacht hat, in das er seinen neuen Inhalt, sein letztes testamentarisches Geschenk für die Seinen goß" (Schürmann, 90). Die erneuernde Tat Jesu als Religionsstifter bestand also gerade nicht darin, daß er etwa mit den tradierten äußeren Formen gebrochen hätte, sondern sie muß umgekehrt in der Erfüllung alter Formen mit neuen Sinngehalten gesehen werden. Seine religiöse Pionierleistung bei der Einsetzung der Eucharistie beruht nämlich darauf, daß er alte Formen religiösen Handelns auf neue Inhalte menschlichen Vorstellens vom Heiligen festlegt. Damit entsteht

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eine gottesdienstliche Feier der Erlösung, die auf neue Weise überzeitlich ist. "Seit jener schicksalhaften Abschiedsstunde hat die Jüngergemeinde Jesu also eine Zeichenhandlung, die in ihrer effektiven Zeichenhaftigkeit letztlich nicht ableitbar ist aus innergeschichtlichem und innerweltlichem Geschehen, die darum auch nicht eingeebnet werden kann in die geschichtliche Alltäglichkeit der Zeit und die Profanität einer 'weltlichen Welt'. Das eucharistische Geschehen sträubt sich von seinem innersten Wesen dagegen, ununterscheidbar hineinintegriert zu werden in ein naturhaftes Sättigungsmahl, und sei es ein noch so feierlich-festliches Mahl!" (ebd.: 92). Für das jüdische Volk war bis zur Zerstörung des Tempels das Paschafest Anlaß, sich als bekennende Großgemeinde in Jerusalem zu versammeln. Die Tötung der Opfertiere erfolgte zentral am Tempel fur das ganze Volk, doch das Essen des Paschamahls fand, wie beim Auszug aus Ägypten, in Primärgruppen mit Familiengröße statt. Eine solche bruchlose Verbindung zwischen großer Bekenntnisgruppe und kleiner Primärgruppe macht der Christenheit bis heute Schwierigkeiten. Das ist verständlich, weil zwar das Pascha in Familien, eng verflochtenen Freundeskreisen und jedenfalls in Privatwohnungen gehalten werden konnte, während die Kreuzigung Jesu ein öffentliches Ereignis war. Die von Jesus gestiftete kultische Handlung der Errettung verbindet aber thematisch beides miteiander. Nach allem, was die Zeitgenossen Jesu von ihm wußten, konnten sie mit guten Grund erwarten, daß er die Macht haben müsse, sich aus der todbringenden Situation der Kreuzigung zu befreien, falls er das wollte. Da er das nicht tat, konnten die Beobachter, die an ihn glaubten, daraus schließen, daß er seinen Tod zustimmend in Kauf nahm. Wie viele Propheten, die Jahwe dem Volk Israel geschickt hatte, die aber höchst unwillkommen waren, widerfuhr auch Jesus die Verfolgung, nicht etwa zunächst durch die römische Besatzungsmacht, sondern durch sein eigenes Volk. Er wird als Häretiker von den höchsten Repräsentanten der israelischen Religion zum Tode verurteilt für einen einzigen Satz, den er vor dem Hohepriester und dem Hohen Rat ausspricht, und den wir uns in seinem Kontext ansehen: "Da sprach der Hohepriester zu ihm: 'Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes.' Jesus sprach zu ihm: 'Du hast es gesagt. Indes sage ich euch: Von nun an werdet ihr den Menschensohn sehen, sitzend zur Rechten der Kraft und kommend auf den Wolken des Himmels.' Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: 'Er hat gelästert..."' (Matthäus 26, 63-65). Diese Äußerung des Jesus begründet in der Sicht der offiziellen Religion seines Volkes das Todesurteil. Was hatte er gesagt, das so überaus anstößig war? Er hat sich als göttliches Wesen bezeichnet! Der Messias, der zur Rechten Jahwes (denn das bedeutet "zur Rechten der Kraft") einen Sitzplatz beanspruchen darf, der auf den Wolken des Himmels kommt, und den man noch

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dazu - ob man will, oder nicht - von nun an sehen, also anschaulich vor Augen haben wird, ist nichts geringeres als die Personifizierung des Heiligen im Diesseits, er ist Gott auf der Erde, anstatt im Himmel. Die Anhänger des Jahweglaubens hatten durch viele Generationen hindurch erbittert darum gekämpft, daß ihr Gott seinen Platz nur noch im Jenseits hatte. Im Anfang aber war es nicht so: Mit Mose hatte Jahwe wie von Mann zu Mann gesprochen, hatte ihn berufen und dabei gezeigt, daß sein Stab eine Schlange sein konnte. Mit Elija spricht Jahwe ebenfalls direkt: "Jahwe aber sprach zu ihm: 'Geh, kehre deines Weges zurück nach der Steppe von Damaskus, tritt ein und salbe Hasael zum König...'" (1. Könige 19, 15). Und Jesus? Nicht genug damit, daß Gott mit ihm spricht, er teilt sogar mit, selbst göttlich zu sein! Da aber Gott und alles göttliche seinen Ort im Jenseits zu haben hatte, beschließen der Hohepriester und der Hohe Rat, Jesus unverzüglich eben dorthin zu befördern. Jesu Sendung kann vor diesem Hintergrund als die Wiederherstellung der Präsenz des Heiligen im Diesseits gedeutet werden. In den Tagen, als Jahwe zu Elija spricht, wird seine Gegenwart auf Erden in großartigen Worten dargestellt: "Und siehe, Jahwe zog vorüber. Ein gewaltiger, heftiger Sturm, der Berge zersprengt und Felsen spaltet, ging vor Jahwe her; aber Jahwe war nicht in dem Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben; aber Jahwe war nicht im Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam Feuer; aber Jahwe war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein leises, sanftes Säuseln. Da, als Elija das vernahm, verhüllte er sein Anlitz mit seinem Mantel, ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle. Nun drang eine Stimme zu ihm, die sagte: 'Was tust du hier, Elija?' Er antwortete: '...deine Altäre haben sie niedergerissen, deine Propheten haben sie mit dem Schwerte umgebracht, und nun stellen sie auch meinem Leben nach" (1. Könige 19, 11-14). Anhänger der Naturreligionen beten Fetische und Götzen an, und der Jahweglaube mußte diese Entwicklungsstufe überwinden. Darum darf der Gläubige Jahwes sich kein Bild von seinem Gott machen, um zu verhindern, daß ein neuer Götze entsteht. Dem Exodusvolk war ihr Rettergott nah, in der Wolkensäule oder in der Feuersäule. Sie trugen das Heilige auf ihrer Wanderung mit sich in der Bundeslade. Aber in den Tagen Jesu war das anders: Wolkensäule und Feuersäule sahen sie nicht mehr, die Bundeslade war ihnen abhandengekommen (man muß nicht ein Freund von Indiana Jones Action-Filmen sein, um das zu wissen), und die Sensibilität eines Elija, der Jahwe im Säuseln erkannte, hatte niemand mehr. Mit der römischen Besatzungsmacht hatten die Führer des Volkes sich arrangiert. Die Römer glaubten an ihren Gottkaiser in Rom, waren zum mindesten dazu verpflichtet, daran zu glauben. Einen weiteren Gott neben ihm konnte das Weltreich auf dieser Erde nicht tolerieren. So war der Anspruch Jesu, göttlich zu sein, sowohl in jüdischer als auch in römischer Sicht unerträglich. Also mußte er sterben.

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Jesu Perspektive ist freilich eine ganz andere. Er kann der Hinrichtung aus dem Wege gehen, wenn das sein Wille ist (Matthäus 26, 53). Er opfert sich selbst fiir die Wiederherstellung der Präsenz des Heiligen in dieser Welt, die die Menschen brauchen, um kultiviert leben zu können. Da sein freier Wille aus der Perspektive christlichen Glaubens vorausgesetzt werden kann, ist er zugleich Opferer und Opfer. Adressat des Opfers ist Jahwe, sein Vater, wie es der Tradition israelitischer Tieropfer entsprach. Als er am Kreuz gestorben ist, geschieht folgendes: "Die Soldaten kamen also und zerschlugen dem einen und ebenso dem anderen, der mit ihm gekreuzigt worden war, die Beine. Als sie aber zu Jesus kamen, fanden sie, daß er schon gestorben war; sie zerschlugen seine Beine nicht, sondern einer von den Soldaten stieß ihm eine Lanze in die Seite, und sofort kam Blut und Wasser heraus... Denn das ist geschehen, damit die Schrift erfüllt werde: 'Kein Bein soll an ihm zerbrochen werden'" (Johannes 19, 32-36). Der Leib wird bestattet, das Skelett bleibt unverletzt, und Jesus steht aus dem Grabe wieder auf, um weiterzuleben. Der Steinzeitjäger glaubte, sein Nahrungstier ließe sich freiwillig töten, um den Menschen sein Fleisch zu essen zu geben. Er ließ das Skelett unverletzt und erwartete, daß es sich wieder mit Fleisch bekleiden werde, um weiterzuleben. Die Urstruktur des Glaubens ist wiederhergestellt. Das Heilige ist die Quelle menschlichen Lebens, die im Diesseits erfahrbar präsent ist, ganz so, wie Dürkheim das behauptet hat. So findet Dürkheims Frage nach dem, was allen Religionen gemeinsam ist und sie alle eint, eine Antwort, wenngleich eine andere als die, welche er für richtig hielt.

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