Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie. 3428191048, 9783428191048

Der Begriff 'Religionsphilosophie' ist erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich und ist eng mit de

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Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie.
 3428191048, 9783428191048

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B EGRIFF UND K ONKRETION Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Band 11

Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie

Herausgegeben von

Ryu Okazaki

Duncker & Humblot · Berlin

RYU OKAZAKI (HRSG.)

Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie

Begriff und Konkretion Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann, Hagen Martín Zubiria, Mendoza Wissenschaftlicher Beirat: Mario Jorge de Carvalho (Lissabon), Héctor Alberto Ferreiro (Buenos Aires), Lore Hühn (Freiburg i. Br.), Marco Ivaldo (Neapel), Jean-François Kervégan (Paris), Hitoshi Minobe (Tokyo), Theodoros Penolidis (Thessaloniki), Stefan Schick (Leipzig), Annette Sell (Bochum), Violetta L. Waibel (Wien)

Band 11

Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie

Herausgegeben von

Ryu Okazaki

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

This work was supported by Grant-in-Aid for JSPS Overseas Research Fellow.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2198-8099 ISBN 978-3-428-19104-8 (Print) ISBN 978-3-428-59104-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieser Sammelband Religionsphilosophie in und nach der Klassischen Deutschen Philosophie geht auf die gleichnamige Tagung, die vom 16. bis 18. Februar 2023 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattgefunden hat, zurück. Die Publikation wurde im Rahmen meines von Overseas Research Fellowships der Japan Society for the Promotion of Science geförderten Postdoc-Projekts realisiert. Die Tagung und auch der Sammelband sind durch das Engagement verschiedener Menschen entstanden. Mein Dank gilt allen Beitragenden der Tagung sowie allen, die ihre Vorträge dem Sammelband als Aufsatz zur Verfügung gestellt haben. Außerdem danke ich Frau Maria Köhler herzlich für ihre Unterstützung bei der Organisation der Tagung. Und zuletzt möchte ich mich ganz besonders bei Frau Prof. Dr. Miriam Rose für die Betreuung meines Vorhabens bedanken, ohne welche die Tagung und somit auch dieser Sammelband nicht zustande gekommen wären. Frankfurt (Oder), September 2023

Ryu Okazaki

Inhaltsverzeichnis Zur Einführung Ryu Okazaki (Jena)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Das Reich Gottes auf Erden und die völlige Bestimmung der menschlichen Natur. Religion, Bildung und Politik bei Kant Michael Städtler (Wuppertal)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Der Begriff der Glückseligkeit beim jungen Schleiermacher. „Über den Wert des Lebens“ im Kontext seiner Rezeption der Dialektik der kantischen Kritik der praktischen Vernunft Ryu Okazaki (Jena)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Die relationale Ethik Jesu als Care-Ethik und die Kritik der Gerechtigkeit in Hegels Frankfurter Schriften Taiju Okochi (Kyoto)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Der Schrecken einer rein spekulativen Vorstellung. Erklärungssucht und Bedeutung des Glaubens bei Friedrich Heinrich Jacobi Goran Vranešević (Ljubljana)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Vom „Zulassen menschlicher Freiheit“. Schelling und Jonas über Natur und Gott Michael Hackl (Wien)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Religionsbekenntnis und Olympische Spiele. J. G. Fichtes Berliner Religionsphilosophie Christoph Asmuth (Neuendettelsau)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Über Fichtes Religionsphilosophie der Jahre 1805/06 Anton Friedrich Koch (Heidelberg)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 „Alle Kunst im Großen angesehn ist immer mit der Religion in Verbindung“. Zum Verhältnis zwischen Kunst und Religion bei Friedrich Schleiermacher Carolyn Iselt (Berlin)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Zu Grundgedanken von Hegels Philosophie der Religion Klaus Vieweg (Jena)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Hegels philosophische Deutung des Kreuzestodes Tobias Dangel (Heidelberg)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

8 Inhaltsverzeichnis „Aber das Wunder ist, ehe es geschieht“. Zu Ludwig Feuerbachs Spezifika­ tion der Religion in Abgrenzung von der Philosophie Christine Weckwerth (Berlin)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Ins rechte Licht gerückt. Wie althegelianische Rezeption den Gottesbegriff Hegels zur Entfaltung bringt Veronika Klauser (Berlin)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 „Der Mensch fällt auf die Erde herab“. Religion und Religionskritik bei Hegel und Marx Andreas Arndt (Berlin)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Epistemische Freiheit und ihr Anderes im Ausgang von Kierkegaard Simone Neuber (Jena/Tübingen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Zur Einführung Ryu Okazaki (Jena) Dass der Begriff ‚Religionsphilosophie‘ erst seit Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich ist,1 hängt damit zusammen, dass der Anfang der Religionsphilosophie selbst mit dem Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie, das ist die Nachkantische Philosophie, in einem engen Verständnis zusammenfällt. Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich nun mit den religionsphilosophischen Einsichten der Denker der Klassischen Deutschen Philosophie in einem weiten Verständnis, also mit Kant, Fichte, Jacobi, Schleiermacher, Hegel, Schelling, Links- sowie Rechtshegelianer, Marx und Kierkegaard. Doch warum lohnt es sich überhaupt noch, sich mit den religionsphilosophischen Gedanken aus dieser längst vergangenen Zeit zu beschäftigen? Außerhalb der Forschung zum Thema der Religionsphilosophie selbst scheint ihr, anders als etwa der Realphilosophie, keine sonderliche Aktualität zuzukommen. So ist im zwanzigsten Jahrhundert, beispielsweise in der Strömung der Kritischen Theorie, das Thema ‚Religionsphilosophie‘, trotz aller Nähe zur Klassischen Deutschen Philosophie, offensichtlich kaum zum Gegenstand gemacht worden.2 Dagegen betont der Beitrag von Taiju Okochi, dass gerade in den religionsphilosophischen Überlegungen des jungen Hegel bereits der Kerngedanke der heute aktuellen Care-Ethik vorliegt. Dieser ist zwar im gegenwärtigen Diskurs des Hegelianismus vorherrschend, findet sich jedoch, wenn auch nur keimhaft, dennoch in radikalerer und grundlegenderer Weise als bei den heutigen Vertreterinnen und Vertretern bereits in den religionsphilosophischen Frühschriften Hegels. Damit ist zwar ein Ansatz dafür gegeben, dass es sich durchaus „lohnen“ kann, zurück auf die Religionsphilosophie der Klassischen Deutschen Philosophie zu gehen, doch möchte ich hier einleitend noch grundlegender das „Lohnen“ selbst als Gegenstand einer reli­ gionsphilosophischen Fragestellung ins Zentrum rücken. 1  Walter Jaeschke, „Religionsphilosophie“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, 748. 2  Eine Ausnahme bildet Jürgen Habermas, der auf die Aktualisierung der Reli­ gionsphilosophie Schleiermachers und Kants abzielt. Vgl. dafür Jürgen Habermas, „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, in: Ders. Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005.

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Das heißt, ein Ansatzpunkt zur Beantwortung der Frage, warum es sich lohnen könnte, die Religionsphilosophie der Klassischen Deutschen Philosophie zu studieren, ist dort zu suchen, wo ‚das Lohnen‘ selbst Gegenstand philosophischer Überlegungen ist, und zwar in seinem religionsphilosophischen Zusammenhang, wodurch sich zumindest andeutet, um was für einen interessanten Themenkreis es sich handelt. Hierzu ist der folgenden Passage Kants aus der Methodenlehre seiner Kritik der reinen Vernunft Aufmerksamkeit zu schenken: Nun läßt sich in einer intelligibelen, d. i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. (KrV, A 809/B 837)

Dieser Passus findet sich in dem Kontext, in dem Kant im Anschluss an seine Kritik der Theologie (die eine der Teildisziplinen der metaphysica specialis ist) seine eigene Annäherungsweise an die Gottesproblematik, die „Moraltheologie“ (KrV, A 814/B 842), darlegt, wobei der Begriff des höchsten Guts als Einheit von Moralität und Glückseligkeit eine entscheidende Rolle spielt. Auffällig ist hier vor allem, dass die Moralität, in für Kant völlig unüblicher Weise,3 an das Wort ‚Lohnen‘ geknüpft ist, zumal Kant die formellen Bestimmungsgründe des Willens als Kern der Moralität hervorhebt und betont, dass die Moralität eben in dem Bestimmungsgrund des Willens aus der Achtung für das Moralgesetz selbst besteht.4 Diese formalen, von aller materialen Bestimmung abstrahierten, Gründe des Willens der Autonomie müssen bekanntlich strikt von den Bestimmungsgründen der Heteronomie, die sich auf die Folgen der Handlungen beziehen, abgegrenzt werden.5 Das heißt, mit 3  Ich

danke Masataka Oki, dass er mich hierauf aufmerksam gemacht hat. fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (AA V, 78). 5  Im Lehrsatz IV der Kritik der praktischen Vernunft liest man: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit“ (AA V, 58). 4  „Achtung



Zur Einführung11

Kant stellt sich eigentlich nicht die Frage, ob sich eine moralische Handlung lohnt. Die oben zitierte Textstelle drückt jedoch Kants Interesse an der Frage nach den Folgen der Moralität aus. Dass Kant also im Kontext des höchsten Guts die Moralität mit dem Wort „sich lohnen“ versieht, welches von jener streng selbstbezüglichen Bestimmung der Moralität (die Moralität um der Moralität willen) abzuweichen scheint, verweist auf einen der relevanten Themenkreise, die die Denker der Nachkantischen Philosophie beschäftigen. Auch wenn bei dieser Art des „sich Lohnens“ nur von der Moralität in ihrer vollumfangreichen Realisierung, wozu nicht einmal ein moralisch vollkommener Mensch genügend ist, sondern erst „jedermann“, also die Menschheit im Ganzen moralisch vollkommen werden muss, die Rede ist, so wird dort bereits eine weitere Problematik angesprochen, und zwar die der Glückseligkeit. Ob es sich nämlich lohnt, moralisch vollkommen zu werden (danach zu streben), und tatsächlich die „mit der Moralität verbundene[…] proportionierte[…] Glückseligkeit“ (s. O.) genossen werden kann, hierzu gibt es keine diesseitige Garantie, sondern nur eine jenseitige, die wiederum den Rahmen der Beweiskraft der theoretischen Vernunft sprengt und deshalb dem „Primat der reinen praktischen Vernunft“ (AA V, 119) überlassen werden muss. So ist im Begriff der Glückseligkeit eine Spannung zwischen Diesseits und Jenseits angelegt. Kant ist sich hierbei des Konfliktpotentials durchaus bewusst, was sich etwa in der Darstellung zur „sichtbaren Kirche“ in seiner Schrift Die Religion innerhalb der bloßen Vernunft feststellen lässt. Diesem Konflikt liegt das Spannungsverhältnis zwischen beiden Arten des Gedankens zugrunde, also einerseits des rein moralischen „Religionsglaubens“ und andererseits des statutarischen „Kirchenglaubens“, wobei letzterer zusammen mit der blinden Befolgung der statutarischen Gesetzte immer zum Belohnungsglauben neigt.6 Kant zeigt somit ein noch nicht vollständig gelöstes Problem des Verhältnisses zwischen Diesseits und Jenseits auf, vor dessen Hintergrund er sich weiterhin um ein angemessenen Verständnis von der diesseitigen Realisierbarkeit und einer jenseitigen Garantie der Glückseligkeit so bemüht, dass die Autonomie der Gesetzgebung nicht verletzt wird. Auch wenn sich der vorliegende Band weder auf eine Beschreibung einer vermeintlich linearen Entwicklung religionsphilosophischer Einsichten in der Epoche der Klassisch Deutschen Philosophie reduzieren lässt und nicht jeder Beitrag um das Spannungsverhältnis zwischen Jenseits und Diesseits kreist, so dient dieses immerhin zur Orientierung: die Problematik jenes „sich Lohnens“ eröffnet, so könnte man versuchsweise formulieren, einen Horizont weiterer Auseinandersetzungen der Epoche, die sich in den vier Aspekten der Glückseligkeit, der Mittenbildung, der begrifflichen Abgrenzung von Kunst und Philosophie und schließlich der Freiheit zusammenfassen lassen. 6  Siehe

u. a. AA VI, 161.

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Erstens entwickelt sich die Thematik der Glückseligkeit bzw. des Glücks, aber auch des Unglücks, in der Rezeption der Kantischen Dialektik der reinen praktischen Vernunft aus verschiedenen Perspektiven fort. Zuerst behandelt Fichte in seiner, fälschlich Kant zugesprochenen, Schrift zur Offenbarungskritik etwa die Thematik Gottes und der Glückseligkeit immer noch in einem Kantischen Verständnis von Gott als einem (gerechten) Verteiler von Glückseligkeit.7 Fichtes Schriften der Jenaer Zeit, die den Atheismusstreit auslösen, verdrängen jedoch weitestgehend eine Thematisierung der Glückseligkeit als einer eigenständigen Sphäre.8 Seine späteren Schriften aus der Berliner Zeit lassen sich dagegen mit einer Wiederaufnahme jener Thematik charakterisieren, was zumindest als eine indirekte Fortsetzung jener Frage nach dem „Lohnen“ bei Kant angesehen werden kann. Der Beitrag von Anton Friedrich Koch rekonstruiert dann den späten Fichte angesichts der Theodizee und somit der Gerechtigkeit, deren Tragweite nicht nur auf jenen Kantischen Gedanken zur Glückseligkeit zurück, sondern über die Klassische Deutsche Philosophie hinaus auf die gegenwärtige Diskussion um den spekulativen Realismus bzw. Materialismus von Quentin Meillassoux hinausläuft. Mein eigener Beitrag zielt auf Schleiermachers Unterfangen in seiner Rezeption der praktischen Philosophie Kants, die direkt nach dem Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft (1788) erfolgt. Schleiermacher versucht eine kritische Erweiterung des Kantischen Begriffs des höchsten Guts und vertieft sich in seinen darauffolgenden Schriften der 1790er Jahre derart in den 7  In Versuch einer Critik aller Offenbarung schreibt Fichte in Paragraph zwei, wo es um „die Ableitung der Religion“ geht, etwa Folgendes: „er [Gott: Verf.] muß die letztern [die freien Entschließungen moralischer Wesen in der übersinnlichen: Verf.] alle kennen, denn alle bestimmen den Grad der Moralität eines Wesens; und dieser Grad ist der Maaßstab, nach welchem die Austheilung der Glückseligkeit an vernünftige Wesen laut des Moralgesetzes, dessen Executor er ist, geschehen muß“ (GA I/1, 21). 8  Fichtes inkriminierter Aufsatz „Über den Grund unseres Glaubens“ (1798) behandelt die Gottes-Thematik vollständig aus der Perspektive der Moralität heraus: „die moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir annehmen“ (GA I/5, 354) und redet so gut wie gar nicht von der Glückseligkeit als einem der Moralität heterogenen Element, ebenso wenig der Aufsatz seines Anhängers Forberg „Entwicklung des Begriffs der Religion“. Sodann in seinem darauffolgenden „Appellation an das Publikum über die durch ein Kurfürstlich Sächsische Konfiskationsreskript ihm beigemessenen atheistischen Äußerungen“ (erschien im Januar 1799) wird er radikaler und lehnt jene ‚Austeiler-Funktion‘ dezidiert ab: „Wer Glückseligkeit erwartet, ist ein mit sich selbst und seiner ganzen Anlage unbekannter Thor; es giebt keine Glückseligkeit, es ist keine Glückseligkeit möglich; die Erwartung derselben und ein Gott, den man ihr zufolge annimmt, sind Hirngespinste. Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem erträglichen Menschen ekelt“ (GA I/5, 437). Zum Atheismusstreit siehe ferner: Klaus M. Kodalle, Martin Ohst, Peter Landau, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg 1999.



Zur Einführung13

Glückseligkeitsbegriff, dass er den Theodizeebegriff angesichts seiner Auffassung von der Stoa, die wiederum eine wichtige Rolle für Kants Begriff des höchsten Guts spielt, einer kritischen Analyse unterzieht, um die jenseitige Instanz der Austeilung der Glückseligkeit zu bestreiten und die Rolle der diesseitigen Bildung hervorzuheben. Zweitens markiert das zunehmende Bewusstsein der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Mittenbildung zwischen der diesseitigen sozio-politischen und der vermeintlich als jenseitig geltenden Sphäre der Religion den Lauf der Entwicklung der postkantischen Diskurse. Der Beitrag von Michael Städtler hebt die Leistung Kants bezüglich der politischen Bildung durch die Religion hervor, welche die religionskritischen Überlegungen Feuerbachs und Marx’ antizipiert bzw. ideengeschichtlich vorbereitet. Bereits im sogenannten Frühromantiker-Kreis findet sich der Fokus auf die Bildung der Vermittlung beider Sphären, d. h. des ‚Mittlers‘, wie etwa Friedrich von Hardenberg alias Novalis, der interessanterweise bereits eine bestimmte Auffassung der Religion als Opium bezeichnet,9 das ‚Mittelglied‘ als das wesentliche Moment ansieht: „Nichts ist zur wahren Religiositaet unentbehrlicher, als ein Mittelglied – das uns mit der Gottheit verbindet“ (NS II, 440 f.). Ausgehend von dieser Aufgabe der Zeit wird die Mittenbildung Gegenstand lebhafter Diskussionen der Frühromantiker, die in die Überlegungen zu religionsphilosophischen sowie geschichts- und sozialphilosophischen Themen mündet.10 Vor diesem Hintergrund greift etwa Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts das Verhältnis von Staat und Religion erneut auf, was 9  Er schreibt etwa in seiner Fragmenten-Sammlung Blütenstaub folgendes zu Philister: „Ihre sogenannte Religion wirkt blos, wie ein Opiat – Reitzend – betäubend – Schmerzen aus Schwäche stillend“ (NS II, 446). 10  In seiner Schrift Die Christenheit oder Europa (1799) schreibt Novalis etwa Folgendes: „Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen und bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird“ (NS III, 524). Diese Schrift Novalis’ enthält zugleich die bekannte Polemik gegen Schleiermacher: „Er hat einen neuen Schleier für die Heilige gemacht, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend verräth, und doch sie züchtiger, als ein Andrer verhüllt“ (NS III, 521), also gegen Schleiermacher, der auch die Mittenbildung als die Aufgabe der Zeit teilt. In der ersten Rede in Über die Religion schreibt er etwa: „Noch weit mehr aber bedürfen die bloß Irdischen und Sinnlichen solcher Mittler, die ihnen jene höhere Grundkraft der Menschheit begreifen lehren, indem sie ohne ein Treiben und Thun wie das ihrige beschauend und erleuchtend alles umfaßen, und keine andere[n] Grenzen kennen wollen als das Universum, welches sie gefunden haben“ (KGA I/2, 193). Zur politischen Philosophie von Schleiermacher und Novalis siehe etwa: Miriam Rose, „Religion und politische Ordnung. Schleiermacher und Novalis zur Programmatik eines krisenhaften Verhältnisses“, in: Walter Pauly, Klaus Ries (Hg.), Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik, Baden-Baden 2015.

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dann in den Nachhegelschen Diskussionen im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie kritisch rezipiert wird. Ausgehend von Hegels Deutung des Kreuzestodes setzt sich der Beitrag von Tobias Dangel mit diesem Verhältnis auseinander. Anschließend behandelt Andreas Arndt die Religionskritik Marx’ angesichts des Ansatzes der Verwirklichung des Vernunftstaats bei Hegel, wodurch Marx’ religionskritischer Ansatz im Kontext der nachkantischen Philosophie verortet und zugleich Hegels mögliche Erwiderung auf Marx’ Hegel-Kritik herausgearbeitet wird. Drittens geht mit dem genannten Ansatz der Mittenbildung zugleich auch das Bewusstsein der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der begrifflichen Abgrenzung der Religion von den anderen Sphären einher, vor allem von der Philosophie im engeren Sinne und von der Kunst. Sowie sich in entstehungsgeschichtlicher Hinsicht bekanntlich eine begriffliche Abkoppelung der Religion und der Kunst bei Hegel feststellen lässt,11 bemühen sich die Denker jener Epoche ununterbrochen um diese Abgrenzung. So setzt sich der Beitrag von Carolyn Iselt mit dem Verhältnis von Religion und Kunst bei Schleiermacher auseinander. Dieser Abgrenzungsversuch fällt sehr bunt aus, indem er einerseits eine bis ins 20. Jahrhundert reichende Diskussion in der theologischen Rezeption Hegels um die „Flucht in den Begriff“12 vorbereitet. Der Beitrag von Klaus Vieweg befasst sich dann mit dem Verhältnis von Vorstellung und Begriff beim späteren Hegel. Christoph Asmuth rekonstruiert in seinem Beitrag die Entwicklung Fichtes aus religionsphilosophischer Perspektive, wobei er den Akzent auf den Unterschied von Religion und Reli­ gionsphilosophie sowie dessen politischer Funktion legt. Aber auch hinsichtlich der Rechts- und Linkshegelianer markiert die Abgrenzung der Philosophie von den anderen Wissenschaften einen Ausgang aus der Klassischen Deutschen Philosophie. Der Beitrag von Christine Weckwerth befasst sich in diesem Zusammenhang mit dem Verhältnis von Religion und Philosophie bei Feuerbach. Und der Beitrag von Veronika Klauser erschließt die Leistung der heutzutage wenig beachteten Rechtshegelianer aus religionsphilosophischer Perspektive. Angesichts der Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft, 11  In der Forschung wird die Leistung der Abkopplung der Religion von der Kunst beim späteren Hegel vor allem angesichts des Freiheitsbegriffs hervorgehoben. Demzufolge ist die im Vergleich zum Konzept der Kunst-Religion der Jenaer Zeit nicht mehr an die Religion gekoppelte Kunst als „Anfang freier Kunst“ anzusehen, was durch Hegels Besichtigung verschiedener Kunstwerke in der Nürnberger Zeit zustande kommt: Siehe Klaus Vieweg, „Hegel’s Science of Reason as a Science of Freedom. From Nuremberg to Heidelberg“, in: Sebastian Stein, Joshua Wretzel (Hg.), Hegel’s Encyclopedic System, New York/London 2022. Vgl. dazu auch: Ernst Müller, Kunstreligion und ästhetische Religiosität. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004. 12  Dazu der Band von Friedrich W. Graf, Falk Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982.



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der in ideengeschichtlicher Hinsicht vor allem vor dem Hintergrund der Spinoza-Rezeption eine entscheidende Rolle spielt, lässt sich der Beitrag von Goran Vranešević verorten. Dieser setzt Jacobi in das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit eben im Kontext der Spinoza-Rezeption der Zeit. Viertens und zu guter Letzt findet sich im Laufe der Entwicklung der Klassischen Deutschen bzw. Postkantischen Philosophie eine zunehmende Auseinandersetzung der Thematik der Freiheit im Rahmen der Religionsphilosophie. Dies ist auch deshalb interessant, weil das Thema der Freiheit bei Kant, zumindest auf den ersten Blick, nicht als Gegenstand von religionsphilosophischen Überlegungen erscheint. Freiheit bildet bei Kant zwar (neben Gott und Seele) jene Themenkreise der Kritik der reinen Vernunft, in denen der theoretische Vernunftgebrauch nur noch negativ-kritisch und somit deren weitere und positive Vertiefung erst dem praktischen zugeordnet werden kann. In der Kritik der praktischen Vernunft aber, in der dann jenes ‚Primat der reinen praktischen Vernunft‘ explizit Thema wird, ist die Freiheit zwar als konstitutiver Bestandteil des Praktischen aufgelistet (AA V, 132), gehört allerdings, im Unterschied zu Gott und Seele, nicht mehr zu den Themen der religionsphilosophisch einschlägigen Dialektik. Freiheit im engeren begriff­ lichen Sinn ist nämlich bereits in der Analytik thematisch und ohne weitere religionsphilosophische Vertiefung in der Dialektik in gewisser Weise schon in den Überlegungen zur Triebfeder erledigt.13 Dementsprechend rückt die Freiheits-Thematik in Kants weiteren religionsphilosophisch relevanten Schriften wie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft oder im zweiten Abschnitt des Streit der Fakultäten nicht mehr in den Vordergrund. Dementsprechend bleibt beim späten Kant nur noch der Versuch, die Religion- und Gottesthematik derart zu konzipieren, dass sie mit der menschlichen Freiheit als Autonomie der Gesetzgebung kompatibel ist bzw. dieser nicht im Weg steht. Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz der Nachkantischen Denker als spannend anzusehen, insofern sie die Freiheit zu dem Thema ihrer religionsphilosophischen Überlegungen machen und die eigene Leistung der Religion für die Freiheitsthematik herauszuarbeiten versuchen, womit sich die Beiträge von Michael Hackl und Simone Neuber explizit auseinandersetzen. Dabei reicht schließlich die Wirkung derselben, über die Diskurse jener Epoche, auch auf die Denker des 20. Jahrhunderts wie Jonas, Sartre und Heidegger hinaus.

13  Vgl.

AA  V, 72 ff.

Das Reich Gottes auf Erden und die völlige Bestimmung der menschlichen Natur Religion, Bildung und Politik bei Kant Michael Städtler (Wuppertal) Kants gelegentliche Äußerungen zur religiösen Erziehung können irritieren, denn obwohl sie sich nur gelegentlich finden, stehen sie in einem engen Zusammenhang mit der Moralpädagogik. Deshalb berühren sie auch die Frage nach der systematischen Stellung der Religion in Kants Philosophie überhaupt.1 Nun ist der Zusammenhang von moralischer und religiöser Erziehung im Bewusstsein der Zeit fest verankert.2 Der junge Fichte gibt in seinen Aufzeichnungen als Hauslehrer bei einer Familie Ott in Zürich aus den Jahren

1  Das traditionell verbreitete Bild von Kant als strengem Religionskritiker ist sicher falsch; seit einiger Zeit werden demgegenüber zwar religiöse Elemente in Kants Denken wahrgenommen, sogleich aber in affirmativer Absicht betont. Exponent dafür in der deutschsprachigen Literatur ist z. B. Norbert Fischer, Maximilian Forschner (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg 2010. In seinem Beitrag „Vom Rang und Sinn der Gottesfrage in der Philosophie Kants“ (1–16) behauptet Fischer, Kant versuche, „unsere Beziehung zu Gott als ein von Gott ­ ­kommendes Angebot zu denken“ und bereite damit Überlegungen vor, „neue Wege zur Erfahrung von Göttlichem und zum Glauben an Gott“ (16) zu suchen. Für den angloamerikanischen Raum vgl. neuestens z. B. Robert A. Hand, Presupposing God. Theological Epistemology in Immanuel Kant’s Transcendental Idealism and Karl Barth’s Theology, Eugene 2022, der in Kant „an unusually sophisticated, detailed, and robust positive Christian theism“ (52) erblickt. Kant, für den Religion theoretisch und praktisch immer ein Mittel, nie selbst Zweck war, soll so für eine Erneuerung religiösen Denkens in Anspruch genommen werden. Richtig ist es hingegen, die Spannung zwischen religiösem Denken und rationaler Ethik sowie Metaphysik bei Kant als philosophisches Problem im Übergang von vormodernem zu modernem Denken zu begreifen. 2  Vgl. zu Zusammenhang und Ablösung von Religion und Sittlichkeit die Darstellung bei Ingrid Blanke, Erziehung und Sittlichkeit. Ideengeschichtliche Studien zu den Anfängen heutiger Pädagogik, Heil- und Sozialpädagogik in der späten deutschen Aufklärung, Heinsberg 1984, 52–56 mit interessantem Bezug auf Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902/03, Neuwied 1973.

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Michael Städtler

1788–1789 einen lebendigen Eindruck davon:3 Während die Eltern erwarten, dass der Katechismus sowie einige Gebete und Lieder auswendig gelernt werden, um wenigstens etwas Sitte und Anstand in die bereits verhaltensauffälligen Kinder zu bekommen, strebt Fichte einen Unterricht an, der sich den Kindern zuwendet und auf das Verstehen der sittlichen Gehalte religiöser Lehrstücke gerichtet ist. Um zu untermauern, dass die Gewohnheit, tugendhaft zu denken und zu handeln der sachliche Kern der Religiosität sei, wagt er die These, das Ziel des Religionsunterrichts werde eigentlich durch die sittliche Erziehung ebenso gut erreicht: „Gewohnheit entsteht aus Uebung. Durch eben die Bemühungen, durch die man sucht die Kinder von Eitelkeit, von Eigendünkel, von harter liebloser Beurtheilung zu entfernen; sie gehorsam, dankbar, geduldig u.s.f. zu machen, macht man sie auch zu guten Christen. Das ist an sich ganz Eins“ (GA II/1, 177). In einem Entwurf-Fragment hatte Fichte ergänzt: „Das ist an sich eins, eine Sache u. nur 2. Wege sie zu bezeichnen“ (GA II/1, 185). Wenngleich die eine Sache, die praktische Erziehung, durch Sittlichkeitserziehung und durch Religionserziehung nur auf zweierlei Weise bezeichnet wird, heißt das aber nicht, dass die sittliche Erziehung die religiöse funktional ersetzen kann, sondern dass in der praktischen Erziehung sittliche und religiöse Momente ineinander übergehen, dass mithin nicht nur die religiöse Erziehung auch auf Sittlichkeit zielt, sondern ebenso die sittliche Erziehung auch auf Religiosität.4 Dass Fichte diese überdeutliche Paraphrase in der Fassung, die er den Eltern zukommen lässt, streicht, indiziert, wie nervös dieses Thema ist, obwohl es sich gar nicht um eine anti-religiöse These handelt. Und Fichte unterliegt auch schließlich in dieser Auseinandersetzung. Im Folgenden soll zunächst eine Rekonstruktion von Kants Vorstellungen religiöser Erziehung erfolgen (I.), um anschließend das Verhältnis von deren gesellschaftlicher Funktion zur transzendierenden sittlichen Bildung zu beleuchten (II.).

3  Vgl. Hartmut Traub, Der Denker und sein Glaube. Fichte und der Pietismus oder: Über die theologischen Grundlagen der Wissenschaftslehre, Stuttgart 2020. Traub rekonstruiert die religiöse Bildungsbiographie Fichtes. 4  Meistens wird der erste Aspekt hervorgehoben, der in der Tat auch charakteristisch für Fichte ist. Vgl. z. B. Karl Hahn, Staat, Erziehung und Wissenschaft bei ­Johann Gottlieb Fichte, München 1969, 66–76.



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I. Religionserziehung bei Kant 1. Kritik der praktischen Vernunft Obwohl aber Moralität oder Sittlichkeit im Bewusstsein der Zeit eng mit Religion verknüpft sind, irritiert diese Verknüpfung doch in Kants Überlegungen zur moralischen Erziehung, wie sie sich in der Methodenlehre der Tugendlehre und in der Vorlesung Über Pädagogik finden, denn in der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft hatte Kant eine ethische Didaktik entwickelt, in der nur an zwei Stellen beiläufig auf Gott Bezug genommen wird, die aber in ihrer Substanz ganz ohne Religion oder Theologie auskommt.5 Als Grund dafür, dass es eine solche Didaktik geben müsse, gibt Kant an, dass es „einiger vorbereitenden Anleitung bedürfe“, „ein entweder noch ungebildetes, oder auch verwildertes Gemüt zuerst ins Gleis des moralisch-Guten zu bringen“ (AA V, 152). Es liegt zwar, Kants Überzeugung zufolge, das Bewusstsein des moralischen Gesetzes in der gemeinen Menschenvernunft, unabhängig von der philosophischen Erkenntnis desselben, aber diese Anlage bedürfe der Übung. Die Moralphilosophie soll vor allem den Tugendlehrern helfen, diese Übung sinnvoll zu gestalten (vgl. AA V, 163). Dennoch verfällt Kant hier nicht in Pragmatismus. Er besteht darauf, dass die Legalität der Handlungen, ihre bloß äußerliche Konformität mit dem Sittengesetz, moralisch nicht ausreiche. Moralität der Gesinnung sei aber nur gegeben, wenn das Gemüt ohne jede andere Triebfeder nur durch das Sittengesetz selbst bestimmt werde. Das aber sei „beim ersten Anblicke ganz unwahrscheinlich“ (AA V, 151). Die Methode, die Kant vorschlägt, um die „Vorstellung der Tugend […] gehörig ans menschliche Herz“ (AA V, 152) zu bringen, ist eine Erziehung des Gemüts oder des moralischen Gefühls. Dieses Gefühl hatte Kant bereits im Triebfedernkapitel der Analytik der reinen praktischen Vernunft als die Achtung vorm Gesetz bestimmt. Da dieses Gesetz in der Vernunft jedes Subjekts liegt, ist die Achtung unmittelbar Selbst5  Walther Schwarz, Immanuel Kant als Pädagoge, Langensalza 1915, sieht hingegen keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Kants Ethik und Pädagogik in Bezug auf den Religionsunterricht (170). Dies lässt sich so konstruieren, wenn man den inneren Widerspruch von Kants Position nicht wahrnimmt, um den es in diesem Beitrag gehen soll. August Messer, Kommentar zu Kants ethischen und religionsphilosophischen Hauptschriften, Leipzig 1929, 109 f. schreibt hingegen: „Kant spricht sich in diesem Zusammenhang auch für die Möglichkeit einer rein moralischen (von der Religion noch absehenden) Erziehung aus. In der Tat würde eine solche auch dem Grundgedanken seiner Ethik am besten entsprechen“. – Für eine umfassende Darstellung auch der religionsbezogenen pädagogischen Gedanken Kants vgl. Fulvia Leone, Immanuel Kant über Erziehung. Begründung und Aspekte der Pädagogik in Kants philosophischen Schriften, Diss. Tübingen 2019, URL: https://publikationen.uni-tue bingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/87513/ImmanuelKantUeberErziehung. pdf?sequence=1&isAllowed=y (abgerufen am 5.8.2023).

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achtung. Kant schlägt nun vor, der Jugend Gelegenheit zu geben, an historischen Beispielen die moralische Urteilskraft zu bilden. Es geht ihm nicht darum, die Beispiele als Vorlagen zur Bewunderung oder Nachahmung zu präsentieren, sondern darum, sie frei zu beurteilen und dadurch sicherer im Urteil zu werden (vgl. AA V, 154 f.). Am Anfang sollen anhand der Kasuistik ethische Begriffe, ihre Unterscheidung, vor allem die Unterschiede zwischen Bedürfnis und Recht sowie zwischen Moralität und Legalität verständlich und „gleichsam zur Gewohnheit“ (AA V, 159) gemacht werden. Im zweiten Schritt soll durch die Beispiele der Lehrling „auf das Bewußtsein seiner Freiheit aufmerksam“ (AA V, 169) gemacht werden. Am Ende „findet das Gesetz der Pflicht, durch den positiven Werth, den uns die Befolgung desselben empfinden läßt, leichteren Eingang durch die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“ (AA V, 161). Der Abschnitt enthält zwar allerhand problematische Formulierungen, von der großmütigen Aufopferung des Lebens für das Vaterland (vgl. AA V, 158) bis zur Tugend, die „sich im Leiden am herrlichsten zeigt“ (AA V, 156); aber religiöse Elemente enthält sie keine. Das ist umso bemerkenswerter, als Kant ja in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft bereits mit den Postulaten vom Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit der Seele theologische und religiöse Vorstellungen als Voraussetzungen dafür bestimmt hatte, den Begriff des höchsten Guts sinnvoll als Ziel menschlichen Handelns denken zu können.6 Das höchste Gut hat die ideale Form der Unbedingtheit und Vollkommenheit, das menschliche Handeln ist durch seine Endlichkeit bedingt. Dieser Gegensatz wird in der Vorstellung vom höchsten Gut auf Erden zum Widerspruch verdichtet, den Kant durch die Postulate als unendlichen Progress vermitteln möchte. In der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift spitzt Kant diesen Befund zu: Es könne „der Moral nicht gleichgültig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge […] mache oder nicht; weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden kann“ (AA VI, 5). Daraus, dass das Dasein Gottes als Urhebers einer allgemeinen Naturteleologie aus moralischen Gründen angenommen werden müsse, schließt Kant nunmehr: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (AA VI, 6).7 6  Vgl. Rudolf Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“, 2 Bde., Berlin 2014, Bd. 2, 236–246, insbes. 244. 7  Diesen und einige analoge Widersprüche bemerkt Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der prakti-



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2. Kritik der Urteilskraft Eine Konsequenz daraus zieht Kant in der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft. Kants Überlegungen zu einer allgemeinen Naturteleologie, die im Modus des ‚als ob‘ als Voraussetzung systematischer Natur­ erkenntnis erschlossen wird, führen hier auf die Prüfung teleologischer Gottesbeweise. Kant führt einen moralischen Beweis des Daseins Gottes ein, dem er eine eingeschränkte Gültigkeit zugesteht: Der Glaube an Gott, als subjektive Überzeugung ohne objektive Ambition, sei moralisch notwendig.8 Die beständige Ausbildung eines tugendhaften Charakters ohne die Annahme der Existenz „eines moralischen Welturhebers“ (AA V, 453) sei undenkbar. Zwar habe die moralische Beurteilung von Maximen gemäß dem kategorischen Imperativ keinerlei Bedingungen, aber das zweckgerichtete Handeln gemäß der Maxime sei ohne Erfüllungsbedingungen im höchsten Gut, in der Existenz Gottes und in der Unsterblichkeit der Seele nicht denkbar: Nur diese Vorstellungen könnten Erfüllungsbedingungen für moralisches Handeln formulieren, Bedingungen dafür, dass das moralische Streben nicht von vornherein aussichtslos sei, sondern in einer intelligiblen Naturordnung einen adäquaten Gegenstand habe und im ewigen Leben einen Ort der Annäherung an das Gelingen sowie die Aussicht auf einen überzeitlichen Lohn. Nicht nur in der Sprache von Gelingen und Misslingen, Lohn und Strafe verbergen sich gesellschaftliche Normen, die religiös sublimiert werden, sondern auch in der Begründung dafür, warum Moralität ohne Annahme des Daseins Gottes nicht möglich sei. Kant hält dem Streben eines tugendhaften Atheisten explizit folgendes entgegen: Aber sein Bestreben ist begränzt; und von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln (so wie innerlich seine Maximen sind und sein müssen) eintreffende Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt. Betrug, Gewaltthätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in schen Philosophie Kants, Berlin 1998, 9 f. und 81. Es ergebe allerdings, „die Angabe ihrer Verträglichkeitsbedingungen ein gedankliches System“ (11), das letztlich auf einen „transzendentalphilosophischen Begriff[…] von Religion“ (12) hinauslaufe. 8  Zur Konstruktion des ‚moralischen Glaubens‘ vgl. Burkhard Nonnenmacher, Vernunft und Glaube bei Kant, Tübingen 2018, der diese Vorstellung mit Kant als „Moment praktischer Selbstbestimmung“ (119) verstehen will.

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den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren. (AA V, 452)

Wer unter solchen Bedingungen moralisch gut bleiben wolle, könne dies nur durch die Annahme des Daseins Gottes vor sich selbst begründen. Damit kommt in Kants Moralphilosophie ein Erfolgsgedanke hinein, der ihr eigentlich fremd ist. Er ist indes eine Konsequenz aus Kants Argumentation: Das Sittengesetz ist ein Produkt der Vernunft, das sich aber für endliche Vernunftwesen innerhalb der Vernunft nicht erfüllt, da sie letzthin immer mit der irrationalen Realität der Endlichkeit konfrontiert sind. Wenn nun aber die endliche praktische Vernunft, die sich in sich selbst nicht erfüllen kann, ihre Unendlichkeit als Erfüllungsbedingung ihrer eigenen Normativität rational konstruiert, wird sie ebenfalls irrational, nämlich religiös. Lehnt man hingegen die Möglichkeit, ohne Erfüllungsgarantie moralisch zu handeln, aus dem pragmatischen Grund ab, dass die zu Betrug, Gewalt und Neid neigenden Menschen, von denen Kant spricht, sich davon nicht überzeugen ließen, dann gerät die Moralphilosophie auf denselben pragmatischen Boden wie die politische Philosophie, derzufolge eine Republik auszuführen selbst für ein Volk von Teufeln möglich sein müsste, weil sie einsehen müssten, dass sie ihre teuflischen Interessen besser miteinander als gegeneinander realisieren könnten (vgl. AA VIII, 366). 3. Metaphysik der Sitten, Tugendlehre Die Bedeutung dieser Überlegung für die moralische Erziehung zeichnet sich vor allem in der Ethischen Methodenlehre der Metaphysik der Sitten sowie in der Vorlesung Über Pädagogik ab. Im ersten Abschnitt der Ethischen Methodenlehre, der Ethischen Didaktik am Ende der Tugendlehre, geht Kant davon aus, dass Tugend „nicht angeboren sei“ (AA VI, 477) und deshalb gelehrt werden könne und müsse. Diese Lehre erfolge nicht bloß durch doktrinale Vermittlung von Vorstellungen, sondern ebenso durch Übung. Hierfür sei das Beispiel des Lehrers ein Ansatzpunkt für die Bildung der Gewohnheit, aber die Bildung der Gesinnung sei nur über die Vernunft­ erkenntnis des moralischen Gesetzes möglich (vgl. AA VI, 479 f.). Soweit aber die Lehre doktrinal sei, müsse sie, dem wissenschaftlichen Anspruch der Tugendlehre gemäß, systematisch sein, in ihrer Darstellungsform aber nicht akroamatischer Vortrag, sondern erotematisches Gespräch, das nun entweder katechetische Gedächtnisabfrage oder aber dialogische Entwicklung des Lerngegenstandes sei (vgl. AA VI, 478). Kant hält zunächst fest, dass in der Erziehung zwar Tugenderziehung und Religionserziehung eine Einheit bildeten, aber die Tugenderziehung müsse der Zeit nach vor der Religionserziehung vorhergehen, weil die Religion ohne ethische Inhalte ein



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bloß äußerer Kultus bliebe. Am Anfang der Tugenderziehung solle nun ein „moralischer Katechism“ (AA VI, 478) stehen, der die Inhalte der Tugendlehre „aus der gemeinen Menschenvernunft“ (AA VI, 479) entwickeln könne. Den Ausdruck ‚Katechismus‘ meint Kant hier streng, d. h. der Lehrer dominiert als Fragender das Gespräch, weil der Schüler – trotz gemeiner Menschenvernunft – „nicht einmal weiß, wie er fragen soll“ (AA VI, 479). Anschließend soll der Lehrer die Antworten des Schülers so standardisiert reformulieren, dass sie wie der Katechismus auswendig gelernt werden können. Das „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ (AA VI, 480–482) das Kant im Folgenden vorführt, erscheint bizarr: Ein Lehrer legt einem anfangs völlig entgeisterten Kind den Kantischen Begriff der Glückseligkeit in den Mund, um ihm anschließend durch eine Suggestivfrage das Bekenntnis zum altruistischen Umgang mit der Glückseligkeit zu entlocken. Durch ebenso drastische Rhetorik wird das Kind veranlasst, die offenbar limitierte Glückseligkeit freilich Unwürdigen vorenthalten zu wollen, also etwa nicht „dem Faullenzer weiche Polster [zu] verschaffen“ (AA VI, 480). Durch einen längeren Lehrervortrag wird dem Kinde Kants Pflichtbegriff als Bedingung der Glückswürdigkeit unterbreitet und am Beispiel der Lüge plausibel gemacht, denn der Schüler, der sonst noch nichts weiß, weiß bereits, dass er auch dann nicht lügen darf, wenn er andere dadurch in Teufels Küche bringt. Anzunehmen ist, dass er dies nicht, wie sein Lehrer ihm nahelegt, aus seiner eigenen Vernunft schöpft, sondern vielmehr aus der häuslichen Erziehung mitbringt.9 Aus einer dieser beiden Quellen schöpft der anfangs noch gänzlich mundtote Schüler nun auch den ganzen Komplex physikalischer und moralischer Teleologie, denn auf die Frage nach dem Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit im höchsten Gut sprudelt es aus dem Kind wie folgt heraus: „[W]ir sehen an den Werken der Natur, die wir beurtheilen können, so ausgebreitete und tiefe Weisheit, die wir uns nicht anders als durch eine unaussprechlich große Kunst eines Weltschöpfers erklären können, von welchem wir uns denn auch, was die sittliche Ordnung betrifft, in der doch die höchste Zierde der Welt besteht, eine nicht minder weise Regierung zu versprechen Ursache haben: nämlich, daß, wenn wir uns nicht selbst der Glückseligkeit unwürdig machen, welches durch Übertretung unserer Pflicht geschieht, wir auch hoffen können, ihrer theilhaftig zu werden“ (AA VI, 482). Die so erworbenen 9  Ein Argument für den Rigorismus der Moral führt Kant wenig später selbst an: „Die Schändlichkeit, nicht die Schädlichkeit des Lasters (für den Thäter selbst) muß überall hervorstechend dargestellt werden. Denn, wenn die Würde der Tugend in Handlungen nicht über alles erhoben wird, so verschwindet der Pflichtbegriff selbst und zerrinnt in bloße pragmatische Vorschriften; da dann der Adel des Menschen in seinem eigenen Bewußtsein verschwindet und er für einen Preis feil ist, und zu Kauf steht, den ihm verführerische Neigungen anbieten“ (AA VI, 483). Eine pragmatistische Ethik ist Kant zufolge vom Prinzip her korrupt.

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Vorstellungen von Pflichten sollen rekapituliert und an Beispielen geübt werden, um so die Kinder „unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit“ (AA VI, 484) zu ziehen. Zwar betont Kant anschließend, dass bei der Durchführung dieser Katechese darauf zu achten sei, dass die Pflichterfüllung nicht auf Vorteile oder Nachteile für den Handelnden oder für andere gegründet werde, sondern gemäß der Kritik der praktischen Vernunft ausschließlich auf das sittliche Prinzip selbst; und er empfiehlt auch hier, wie in der Kritik der praktischen Vernunft, eine Kasuistik anzuschließen, um den Verstand der Kinder zu üben und ihr Interesse für moralische Gegenstände zu entwickeln. Aber diese Kasuistik ist hier nicht der Königsweg, sondern eine nützliche Beigabe, und die Katechese endet nicht, wie die Kasuistik mit der Entdeckung der Selbstachtung, sondern mit dem Bekenntnis zum Glauben an Gott, das dem Schüler vom Lehrer geradezu in den Mund gelegt wird.10 Kant merkt am Ende der Didaktik an: „Von der größten Wichtigkeit aber in der Erziehung ist es, den moralischen Katechism nicht mit dem Religionskatechism vermischt vorzutragen (zu amalgamieren), noch weniger ihn auf den letzteren folgen zu lassen; sondern jederzeit den ersteren, und zwar mit dem größten Fleiße und Ausführlichkeit, zur klärsten Einsicht zu bringen. Denn ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei“ (AA VI, 484). Den Status des Gottesbezugs, der innerhalb des moralischen Katechismus stattfindet, beansprucht Kant wenige Seiten später im Beschluss der Tugendlehre zu klären, der den Titel trägt: Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie. Von den eigentlich religiösen Pflichten „gegen“ Gott unterscheidet Kant hier moralische „Religionspflichten“, denn „[d]as Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei ‚der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote‘, gehört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird, und eine Religionspflicht wird alsdann noch nicht zur Pflicht gegen (erga) Gott, als ein außer unserer Idee existirendes Wesen gemacht, indem wir hiebei von der Existenz desselben noch abstrahiren“ (AA VI, 487). Dafür, dass das nötig sei, führt Kant lediglich eine nicht weiter belegte anthropologische Behauptung an: „Wir können uns nämlich Ver10  Vgl. zur pädagogischen Problematik dieses Verfahrens auch Leone, Immanuel Kant über Erziehung, 274 mit Verweis auf Lutz Koch, Kants ethische Didaktik, Würzburg 2003, 169. Trotz Kritik am ‚In-den-Mund-legen‘ vermag Leone aber zu konstatieren: „Mittelpunkt von Übung und Lernen moralischer Gesinnung ist das selbstdenkende Individuum, das aus sich selbst die Grundsätze der Moral entfaltet, die ihm durch die praktische Vernunft des kategorischen Imperativs – des Pflichtenkatalogs gegen sich und andere – gleichzeitig nur ‚dunkel‘ bewusst sind und bewusst gemacht werden müssen“ (277).



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pflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken“ (AA VI, 487). Das läuft darauf hinaus, dass Menschen sich einen Gott als willentlichen Urheber moralischer Gebote und Verpflichtung denken müssen, ohne doch anzunehmen, dass er wirklich existiert. Wie soll das gedacht werden? Wenn Gott nicht existiert, existiert diesem Modell zufolge auch die Verpflichtung nicht, wenn er aber existiert, ist es keine moralische Verpflichtung. Kant besteht aber darauf: „Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht objective, die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen Anderen, sondern nur subjective zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ (AA VI, 487). Hier betont Kant noch ein wesentliches Detail: Die Idee Gottes ist noch nicht einmal subjektive Triebfeder; dies bleibt das Gefühl der Achtung vor der gesetzgebenden Vernunft. Aber die Idee Gottes soll diese Triebfeder stärken. Die Idee besteht aber darin, Gott als Urheber der Gebote vorzustellen, „von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist“. Ist die Idee Gottes wirklich geeignet, die eigene gesetzgebende Vernunft zu stärken, wenn diese nur mehr als Gottes Sprecher vorgestellt wird?

4. Über Pädagogik Die Überlegungen zur Religionserziehung, die Kant in der Vorlesung Über Pädagogik formuliert, bestärken diesen Befund weitgehend, fügen ihm vor allem das pragmatische Element hinzu, dass Kinder in der täglichen Erfahrung mit Religion konfrontiert seien und daher möglichst früh deren Begriffe kennenlernen sollten (vgl. AA IX, 493–496). Darüber hinaus sind aber die allgemeinen pädagogischen Annahmen der Vorlesung für die Frage der moralischen oder religiösen Erziehung von Bedeutung. Den Hinweis auf die Reihenfolge von Tugenderziehung und Religions­ erziehung führt Kant in der Vorlesung Über Pädagogik noch eingehender aus. Kant schließt hier implizit an das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars aus Rousseaus Émile11 an: Kindern Religionsbegriffe, die Theologie voraussetzen, beizubringen, sei untunlich, denn jungen Menschen, die weder die Welt, noch sich selbst, noch ‚die Pflicht‘ kennten, fehlten die Voraussetzungen zum Erfassen theologischer Begriffe. Keineswegs stellt Kant die Religionserziehung in Frage, nur wäre es seiner Auffassung nach sinnvoll, zuerst sukzessive eine Vorstellung von allgemeiner Naturteleologie zu entfal11  Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1987, 275–334.

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ten, um diese dann physikoteleologisch auf den Begriff eines höchsten Wesens zurückzuführen. Kant schränkt diese Einschätzung, die wie ein Dementi des moralischen Katechismus klingt, allerdings ein: Kinder seien überall mit Äußerungen des religiösen Lebens konfrontiert. Ohne Religionserziehung müssten sie sich falsche Vorstellungen über das Beobachtete machen, die sich schädlich „in die Phantasie der Kinder einnisten möchte[n]“ (AA IX, 493). Die Erzeugung religiöser Begriffe solle aber nicht als bloße Gedächtnisübung erfolgen, sondern kindgerecht verständlich gemacht werden. Der Ausgangspunkt dafür sei eine in Kindern anzunehmende Einsicht, „daß ein Gesetz der Pflicht vorhanden sei“, dessen Bestimmungsgrund „nicht die Behaglichkeit, […] sondern etwas Allgemeines“ (AA IX, 494) sei. Auch hier betont Kant, dass Religion, die nicht mit Moralität verbunden sei, ein bloßer ‚abergläubischer Kultus‘ wäre. Umgekehrt heißt es aber auch, Religion gehöre zu aller Moralität (vgl. AA IX, 494), sonst sei diese wirkungslos. Das Gewissen bleibe nämlich ohne Effekt, „wenn man es sich nicht als den Repräsentanten Gottes denkt, der seinen erhabenen Stuhl über uns, aber auch in uns einen Richterstuhl aufgeschlagen hat“ (AA IX, 495). Mit Kants Begriff der Glückswürdigkeit schwingt immer das Motiv des belohnenden oder strafenden Gottes, der ewigen Gerechtigkeit mit. Kant kann sich die Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen nur für denjenigen als legitim vorstellen, der sich durch Wohlverhalten einen moralischen Anspruch darauf erworben hat. Und diesem Wohlverhalten wird Nachdruck verliehen, indem es als gottgefälliges Leben vorgestellt wird: „Die wahre Gottesverehrung besteht darin, daß man nach Gottes Willen handelt, und dies muß man den Kindern beibringen. […] Das Kind muß Ehrfurcht vor Gott empfinden lernen, als vor dem Herrn des Lebens und der ganzen Welt; ferner, als vor dem Vorsorger der Menschen, und drittens endlich, als vor dem Richter derselben“ (AA IX, 495). Diese Ehrfurcht bezieht sich wiederum darauf, dass die religiöse Vorstellung von einem „Gesetzgeber und Richter über uns“ dem Gesetz in uns „Nachdruck“ (AA VI, 494) verleiht. Die sittliche Funktion des Religionsunterrichts folgt dieser Funktion religiöser Elemente in der Moralphilosophie. Religion soll einer innerlich gefassten Überzeugung Nachdruck für das äußerliche Handeln verleihen. Dafür sollen nun den Kindern Religionsbegriffe ‚beigebracht‘ werden, auch wenn sie diese noch nicht verstünden. Damit sind vor allem Begriffe von der Herrschaft und Richtergewalt Gottes gemeint, aber auch die allgemeine Natur­teleologie, d. h. dass alle Geschöpfe zweckmäßig seien, „z. E. Raubthiere, Insecten sind Muster der Reinlichkeit und des Fleißes. Böse Menschen ermuntern zum Gesetze“ (AA IX, 495 f.). Dadurch werde auch das Kind „vor dem Hange zur Zerstörung und Grausamkeit bewahrt, der sich so vielfach in der Marter kleiner Tiere äußert“ (AA IX, 495). Der Gedanke, mit Kindern über Tierquälerei zu sprechen, liegt pädagogisch noch fern. Der erzieherische Effekt wird hier



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letztlich durch Gottesfurcht erreicht. Auch in dieser Passage weist Kant nachdrücklich auf den Konflikt von Moralerziehung und Religionserziehung hin und leitet daraus einen zumindest zeitlichen Vorrang der Moralerziehung ab. Bemerkenswert ist zudem ein expliziter Hinweis auf die Einheit der Religion, die es „ohngeachtet der Verschiedenheit der Religionen“ (AA IX, 496) in allen Konfessionen gebe. Kants Religionsbezug in der Ethik ist ausdrücklich keine konfessionelle Bindung. Im Gegenteil sind Kant zufolge alle kultischen Besonderheiten der Konfessionen dem religiösen Gehalt äußerlich.12 Dieses Moment wird in der Religionsschrift zum tragenden Element. Der praktische Glaube ist für Kant notwendig, um das absolute Ziel der Moralität unter endlichen Bedingungen sinnvoll denkbar zu machen. Das begründet die Affinität von Religionserziehung und moralischer Bildung. Das gemeinsame Ziel beider ist Erziehung zur Sittlichkeit. Allerdings wird diese Erziehung in den materialen Teilen der Pädagogikvorlesung insofern funktional gedacht, als sie zum sittlichen Verhalten in der gegebenen Gesellschaft befähigen soll. Ein moralphilosophischer Einspruch gegen diese wird hier nicht thematisiert. Moralisches Handeln transzendiert die Wirklichkeit im Grunde immer nur dann, wenn das Subjekt durch tugendhafte Verweigerung seinen Subjektstatus preisgibt, sich opfert. Im Leiden, wie gesagt, ist die tugendhafte Seele am schönsten.

II. Die gesellschaftliche Funktion religiöser Erziehung und die transzendierende Bedeutung sittlicher Bildung Kant weiß zwar, dass die bürgerliche Gesellschaft erhebliche moralische Defizite aufweist: So heißt es in einer Fußnote der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft: „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß man, durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung, Vortheile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen)“ (AA V, 155 Fn.). Hieraus zieht Kant aber keine Konsequenz in Bezug auf den moralischen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, sondern nutzt die Beobachtung, um das Ansehen von verdienstlichem Handeln zu beschränken, denn jeder verdienstvoll Handelnde sei irgendwo anders auch schuldig. Neutral gegen diesen Umstand sei nur das Gebot der Pflicht als Handlungsgrund. In diesem Sinn zielt die Moralpädagogik Kants grundsätzlich auf die Integration der Subjekte in die bestehende Ordnung. Darin liegt die gesellschaftliche Funktion von Erziehung all12  Vgl. Bernd Dörflinger, „Kant über das Ende der historischen Religionen“, in: Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner (Hg.), Kant und die Religion – Die Religionen und Kant, Hildesheim 2012, 159–176.

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gemein und von religiöser Erziehung im Besonderen. Vor allem Kinder sollen sich früh an die Härte der herrschenden Sitten gewöhnen, damit sie ihnen später standhalten. Das bedeutet natürlich nicht nur und nicht zuerst, dass damit den Kindern ein Gefallen getan wird, sondern es bedeutet, dass diejenigen, die der Gesellschaft nicht standhalten, zu ihr auch nichts Funktionales beitragen können. Deshalb müssen Kinder früh diszipliniert werden. Dazu gehören zufolge der Vorlesung Über Pädagogik ein ganzes Arsenal an Techniken emotionaler Vernachlässigung (vgl. z.B. AA IX, 459 f.) sowie die frühe Eingewöhnung in Arbeitsprozesse (vgl. AA IX, 468–471). Diesem Integrationsmoment der Erziehung widerspricht freilich das von Kant formulierte und zu recht berühmte Prinzip der Erziehungskunst: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden. Dieses Princip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde. Es finden sich hier aber zwei Hindernisse: 1) Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich nur dafür, daß ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und 2) die Fürsten betrachten ihre Unterthanen nur wie Instrumente zu ihren Absichten“ (AA IX, 447 f.). Hier betont Kant das transzendierende Moment, das jedem Bildungsprozess immanent ist, das aber in staatlich oder gesellschaftlich geformten Erziehungsprozessen zumindest stillgestellt werden kann. Bildung, als adäquate Entwicklung des Individuums zur Bestimmung der Menschheit in ihm, ist der wesentliche Faktor geschichtlichen Fortschritts über das Bestehende hinaus hin zu einem „zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts“. Die Pädagogik steht vor dem Dilemma, Kinder als vernunftbegabte Wesen zu einer Sittlichkeit zu erziehen, die unter den gegebenen Umständen nicht praktiziert wird. Als endliche Wesen müssen sie aber unter den gegebenen Umständen zuerst einmal überleben. Der Ort, an dem Moral und Glückseligkeit real auseinanderfallen, ist, selbst wenn diese Differenz anthropologisch sei, die gesellschaftliche Praxis. Dieser politische und gesellschaftliche Befund ist durch den praktischen Glauben an die Möglichkeit des höchsten Guts in der Welt durch eine Idee Gottes nur äußerlich zu beheben. Für die menschheitsgeschichtliche Perspektive der Sittlichkeit eröffnet Kant nun mit dem Begriff eines ethischen Gemeinwesens in der Religionsschrift einen eigenen Handlungsraum.13 Auch diese Überlegungen gehen von 13  Messer, Kommentar zu Kants ethischen und religionsphilosophischen Hauptschriften, spricht von „Sozialethik“ (156). Von „Gesellschaftstheorie“ spricht Bettina



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einem religiösen Element in der moralischen Bildung aus, betonen aber von Anfang an die Äußerlichkeit der bekenntnisspezifischen Religionsbestimmungen. Die wahren religiösen Begriffe seien der Sache nach immer schon moralische Bestimmungen, und der geschichtliche Bildungsprozess der Gattung bestehe darin, dies immer deutlicher herauszuarbeiten. Bereits in der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft behauptet Kant: „Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmten Willens“ (AA V, 122). In der Vorlesung über Moralphilosophie (Collins) Mitte der 1780er Jahre heißt es, die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts sei „das Reich Gottes auf Erden“, wo „die menschliche Natur ihre völlige Bestimmung und ihre höchstmögliche Vollkommenheit wird erreicht haben“, denn „alsdenn wird das innere Gewissen Recht und Billigkeit regieren, und keine obrigkeitliche Gewalt“ (AA XXVII/1, 471). In der Vorlesung über Praktische Philosophie (Powalski) wird das „Reich Gottes auf Erden“ dadurch bestimmt, dass „alles nicht nur Bürgerlich, sondern auch moralisch gut seyn wird“ (AA XXVII/1, 235). In der Nachschrift von Mrongovius hatte es kurz zuvor gelautet: Der „allgemeine Zweck der Menschheit ist die höchste moralische Vollkommenheit“ (AA XXVII/2-2, 1581), und das handelnde Individuum solle sein Verhalten mit dem allgemeinen Zweck in Übereinstimmung bringen, um ­ die „größte Vollkommenheit“ (AA XXVII/2-2, 1581) hervorzubringen. Gott habe die Freiheit zum inneren Prinzip der Welt gemacht, und deren Vollkommenheit müsse daraus hervorgebracht werden. Bereits in der PowalskiNachschrift gilt aber der ethische Fortschritt als säkulare Bildungsaufgabe: „[D]ie Philosophen müssen instruiren. Die Geistlichkeit muß in Ansehung der Moralitaet die Menschen zu bilden suchen, und die Moral muß noch häufig Machinen herbeyschaffen“ (AA XXVII/1, 235). Mit diesen Maschinen ist die mechanische Befolgung ethischer Normen durch die Reaktion auf Vorteile oder Nachteile gemeint.14 Diese mechanische Normbefolgung soll durch die Moralisierung auf lange Sicht, nämlich auf „viele tausend Jahre“ (AA XXVII/1, 235) überflüssig gemacht werden. In der Moralphilosophie Collins (1784/85) verweist Kant auf eine konkrete Bildungseinrichtung, nämlich das Dessauer Philanthropinum, das zur Vervollkommnung der Menschen „eine kleine warme Hoffnung“ (AA XXVII/1, 471) mache, für deren Erfüllung Kant nunmehr bloß noch „viele[…] Jahrhunderte“ (AA XXVII/1, 471) ansetzt. Mit dem Reich Gottes auf Erden ist somit ein Ziel gesetzt, in dem die herrschaftlich organisierte Zwangsgewalt des Rechts aufgehoben sein soll. Stangneth, „ ‚Kants schädliche Schriften‘. Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.), Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003, XII. 14  Vgl. die parallele Formulierung AA V, 152.

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Diese Idee entspricht dem Reich der Zwecke, wie Kant es in der Grundlegung bestimmt: „Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach ­bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke […] in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können“ (AA IV, 433). Indem diese Idee der konfliktfreien Vermittlung aller Einzelzwecke zu einem gesellschaftlichen Ganzen unter dem Namen eines Reiches Gottes auf Erden historisiert wird, eröffnet Kant für den sittlichen Fortschritt der Menschheit eine bildungsgeschichtliche Perspektive, die in der Religionsschrift in einen religionsgeschichtlichen Kontext eingebettet wird. Hier konstruiert Kant mit dem ethischen Gemeinwesen die Idee eines h­ istorischen Orts für dieses Bildungs- und Erziehungsziel der „Idee eines höchsten Guts in der Welt“ (AA VI, 5), also des Zusammenstimmens von Moralität und Glückseligkeit unter endlichen Bedingungen, das in der Kritik der praktischen Vernunft nur postuliert war. Indem dieses Ziel nur gemeinschaftlich realisierbar sei, verschränkt Kant die individuelle Bildung – die hier in Termini der Rechtfertigungslehre beschrieben wird – mit sittlicher Bildung, die als Kirchengeschichte dargestellt wird (vgl. AA VI, 97). So stehe der vernünftigen Anlage des Menschen zum Guten ein Hang zum Bösen gegenüber, der letzthin in seiner endlichen Natur gründe, aber der Einzelne sei für sich genügsam, gemäßigt und ruhig. Der Hang zum Bösen werde erst durch Gesellschaft, durch diese aber anscheinend notwendig, ausgelöst: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen“ (AA VI, 93 f.). Die Verbindung zur Notwendigkeit von Religion, um unter solchen Bedingungen an der Moralität festhalten zu können, führt hier nicht direkt zur Annahme des Daseins Gottes, sondern zunächst zu einer „ganz eigentlich auf die Verhütung dieses Bösen und zu Beförderung des Guten im Menschen abzweckende[n] Vereinigung, als eine bestehende, und sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft“ (AA VI, 94). Dass die innere Konstitution eines solchen ethischen Gemeinwesens nur unter der Idee Gottes als obersten Gesetzgebers denkbar sei, ist ein späterer Argumentationsschritt Kants (vgl. AA VI, 99). Der Grund für diesen Schritt ist, dass die innere moralische Gesetzgebung der Gesellschaftsglieder – die nur jeder für



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sich selbst fassen kann – ohne Vorstellung eines göttlichen Urhebers und allwissenden Richters keine Verbindlichkeit hätte. Mit diesem Gedanken kommt auch hier wieder ein eigentümlich fremdartiges Element in die moralische Argumentation hinein: Die Vorstellung von Verbindlichkeit durch Lohn oder Strafe entstammt dem Rechtsdenken, nicht der Moralphilosophie. Indem Kants Konstruktion einer moralisch konstituierten Gesellschaft auf die analoge Zuhilfenahme von Rechtsformen zurückgreift, streicht sie die spezifisch moralische Freiheit, auf die ein ethisches Gemeinwesen zielt, tenden­ tiell durch, so schwach die Idee Gottes auch formuliert sein mag. Das Bemerkenswerte an der Religionsschrift ist aber ihre geschichtliche Perspektive: Das ethische Gemeinwesen wird als Reich Gottes auf Erden bestimmt und soll sich innerhalb der bestehenden juridischen Gemeinwesen entwickeln. Damit steht es, anders als die unendliche Annäherung unsterb­ licher Seelen an das höchste Gut, unter Zeitbestimmungen. Da die Konstitution des ethischen Gemeinwesens durch freie innere Gesetzgebung der einzelnen Glieder bestimmt ist, auch wenn sie wie eine Gesetzgebung Gottes vorgestellt werden soll, hat dieses Gemeinwesen die Form einer Kirche, und die Entwicklung ist analog der Kirchengeschichte bestimmbar. Mehr noch: Kant zufolge kann der historische Kirchenglaube sogar selbst zum reinen Religionsglauben – der in der Sache mit der Kantischen Moralphilosophie zusammenfällt – entwickelt werden, so dass aus dem Selbstbewusstwerdungsprozess der Kirchen ein ethisches Gemeinwesen als Reich Gottes auf Erden resultiere. Das geschieht durch philosophische Interpretation der religiösen Schriften, die deren reinen moralischen Gehalt herausarbeitet. Diesen Prozess zu vollziehen, ist Kant zufolge eine Pflicht der Menschheit gegen sich selbst. Jeder einzelne ist verpflichtet, sich mit allen anderen zu diesem Zweck zu verbinden (vgl. AA VI, 97). Vor diesem Hintergrund liest sich Kants Behauptung, Moral führe unumgänglich zur Religion (vgl. AA VI, 6), so, dass die Erziehung und Bildung der Menschen zur Moralität eine moralphilosophische Auslegung religiöser Tradition voraussetzten. Dann aber ist der systematische Ort von Religion in Kants Philosophie vollständig durch die Moral bestimmt: Religion ist systematisch eine Funktion von Moralisierung. Damit ist selbst die Religionsschrift nicht als genuine Religionsphilosophie zu lesen, sondern als ein Beitrag zur Philosophie der Sittlichkeit, der Moral- und Rechtsphilosophie überbrückt und damit den Sittlichkeitsbegriff des deutschen Idealismus antizipiert.15 Die Auslegung des Kirchenglaubens durch den reinen Religionsglauben (vgl. AA VI, 109–114) intendiert dann auch keine religiöse, sondern 15  Vgl. m. w. N. zur Stellung der Religionsschrift: Michael Städtler, „Das Reich Gottes auf Erden. Geschichtliche, soziale und politische Aspekte der Religionsphilosophie Immanuel Kants“, in: Sebastian Abel, Dieter Hüning (Hg.), Religion, Moral

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sittliche Bildung, und diese ist nicht auf Integration in bestehende Ordnungen gerichtet, sondern auf deren sittliche Transzendierung.16 Von der so verstandenen Religionsschrift aus betrachtet stellt sich die Verbindung moralischer Bildung mit Religionserziehung bei Kant auch als ein Vehikel zur politischen Überwindung der Bedeutung konfessioneller Kulte dar;17 aber man wird wohl einräumen müssen, dass religiöse Vorstellungen auch für Kants Moralphilosophie als solche eine systematische Funktion darin behalten haben, dass Kant meint, die alltägliche soziale Praxis praktischer Vernunft lasse sich ohne die Pflege religiöser Vorstellungen weder theoretisch begründen, noch pragmatisch erwarten.18 Dass die Crux hier aber nicht die menschliche Natur, sondern die historische Bestimmtheit der sozialen Praxis und ihrer institutionellen Handlungsbedingungen sein könnte, hat Kant nur angedeutet. Als Resultat dieser Betrachtungen lässt sich folgende These festhalten: Der Säkularisierungsprozess der frühen Neuzeit bis hin zur klassischen deutschen Philosophie ist in zwei gegenläufigen Perspektiven zu sehen: Die Sittlichkeitserziehung ist schon säkularisierte Religionserziehung; zugleich ist sie aber auch noch säkularisierte Religionserziehung. Sie bezieht ihre zentralen Begriffe und Methoden aus dem Erbe europäischer Religionsgeschichte und bleibt insofern mit religiösen Gehalten und deren systematischen Kontexten verbunden. Dies ist einigen Autoren stärker bewusst, anderen weniger. Selbstbewusst durchdrungen wird dieser Komplex wohl erst bei Feuerbach und dann bei Marx. Feuerbach erkennt in den religiösen oder theologischen Begriffen letztlich eine indirekte, entfremdete Redeweise des Menschen über und Kirchenglaube. Beiträge zu Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793), Berlin 2023, 183–203. 16  Vgl. auch den Streit der Fakultäten, AA VII, 49–51 sowie 66 f.: Nur der reine Religionsglaube habe Anspruch auf notwendige Allgemeingültigkeit, wofür Kant den schönen Begriff „catholicismus rationalis“ (50) verwendet; dieser aber sei Sache der philosophischen Auslegung der Schrift und das heißt Rückführung auf ihren sittlichen Gehalt durch Eliminierung ihrer empirischen und historischen Elemente. Wichtig zu betonen gegenüber der isolierten Herausstellung von Kants säkularer Gesinnung ist aber auch hier, dass Philosophie Religion nicht ersetzt, sondern ins rechte Licht stellt. 17  So auch Allen W. Wood, Kant and Religion, Cambridge 2020, 213. Allerdings „it is so obvious that things have not gone the way Kant hoped. Instead of becoming a vehicle of enlightenment“, sei Religion zum Vehikel geworden für „ethnic separateness and bigotry“. Daraus schließt Wood aber nicht, dass Kant die Religion historisch bedingt überschätzt habe, sondern dass man ihn nur noch nicht richtig verstanden habe. 18  Insofern trifft die Diagnose zu, dass „Religion für Kant keinesfalls ein bloß ‚unbedeutender Anhang der Moral‘ (Schleiermacher) ist“ (Rudolf Langthaler, Aufklärung und Religion. Perspektiven der kantischen Religionsphilosophie, Weilerswist 2023, 100). In diesem Sinn auch Jakub Sirovátka, Ethik und Religion bei Immanuel Kant. Versuch einer Verhältnisbestimmung, Freiburg 2019.



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sich selbst,19 und Marx bestimmt diese Redeweise für die gegenwärtige Gesellschaft als eine Funktion gesellschaftlicher Herrschaft.20 Die Gründe dafür, warum die erwähnte historische Bestimmtheit der sozialen Praxis und ihrer institutionellen Handlungsbedingungen eine sittliche Praxis nicht zulassen, bestimmt Marx später im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie21: Eine Gesellschaft, die konstitutiv durch Konkurrenz partikularer Privatinte­ ressen bestimmt ist, schließt die Bestimmung des Handelns durch Maximen, die nach einem allgemeinen Gesetz der Vernunft miteinander verträglich sind, systematisch aus. Gesellschaftliche Kooperation, wo sie durch die Konkurrenz hindurch stattfindet, ist herrschaftlich strukturiert, insofern ihr Zweck die Verwertung von Kapital durch Aneignung fremder Mehrarbeit ist. Die Religion als Element von Sittlichkeit und Moralerziehung ist dann zu kritisieren, insofern sie zu dieser Herrschaft funktional ist, sie verbirgt oder stützt und dadurch die Bereitschaft junger Menschen zum Mitmachen erhöht.

19  Vgl.

Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Berlin 1956. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, Berlin 1981, 378–391. 21  Vgl. Karl Marx, Das Kapital, 3 Bde., MEW 23–25, Berlin 1986 u. ö. 20  Vgl.

Der Begriff der Glückseligkeit beim jungen Schleiermacher „Über den Wert des Lebens“ im Kontext seiner Rezeption der Dialektik der kantischen Kritik der praktischen Vernunft Ryu Okazaki (Jena)

Einleitung Zur Verortung Schleiermachers in der nachkantischen Philosophie liegen bereits zahlreiche Forschungen vor. Wenn auch viel Zeit nötig war, bis Schleiermacher als Philosoph und integraler Bestandteil der klassischen deutschen Philosophie anerkannt wurde,1 so sind nach der Veröffentlichung der KGA I/1 (1984) mindestens zu seinen Frühschriften (etwa bis zu Über die Religion von 1799) viele entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktionen unternommen worden, die sich mit Schleiermachers Kantrezeption befassen.2 Günter Meckenstock, der die KGA I/1 herausgegeben hat, vertritt etwa die These, dass Schleiermacher durch seine Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza in den Frühschriften die Religion sowohl von der Moral als auch von der Metaphysik befreit habe und darin die Subjektivierung und Individualisierung der Religion, die er in Über die Religion weiterführen wird, wesentlich vorbereite.3 Was sich in dieses meist durchaus überzeugende Interpretationsschema Meckenstocks allerdings nicht ganz reibungslos einordnen lässt, ist der Begriff der Glückseligkeit, der bekanntlich in der Dialektik der Kritik der prak1  Andreas

Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin/Boston 2013. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/ New York 1988; Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992; Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin/New York 1995; Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004; Andreas Arndt, Schleiermachers Philosophie, Hamburg 2021. 3  Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, 167. 2  Günter

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tischen Vernunft Kants eine entscheidende Rolle spielt. Wenn auch Schleiermacher die für die kantische Moral in der Analytik so zentrale Problematik von Freiheit und Triebfeder im „Freiheitsgespräch“ (1789) und in „Über die Freiheit“ (zwischen 1790 und 1792) aufgearbeitet hat, so bleibt doch angesichts der Glückseligkeit, die erst in der kantischen Dialektik als ein Bestandteil des höchsten Gutes anerkannt wird, die Frage offen, wie genau der Zusammenhang von Religion und Glückseligkeit zu verstehen ist. Wie Schleiermacher in seiner Dialektik (1814/15) schreibt, ist „[Kants: Verf.] Begriff von Glückseligkeit zu gemein“ (KGA II/10-1, 142), daran anschließend scheint eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Glück­ seligkeit eine der Hauptinteressen Schleiermachers an der philosophischen Beschäftigung mit Kant zu bilden.4 Vor allem in einer seiner Frühschriften, in „Über den Wert des Lebens“ (1792/93) setzt sich Schleiermacher intensiv mit dem Begriff der Glückseligkeit auseinander, wobei er an seine vorangehende Auseinandersetzung mit der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft in „Über das höchste Gut“ (1789) anschließt. Allerdings zeichnet sich der Text, wie auch in der Literatur häufig bemerkt wird, durch einen auffällig „populären Charakter“5 aus, welcher eine konsequente und ideengeschichtliche Lektüre zu erschweren scheint. Nichtsdestotrotz bietet der Text hinsichtlich des Verhältnisses von Religion und Glückseligkeit interessante Überlegungen und soll im Folgenden die Grundlage für die Rekonstruktion von Schleiermachers Begriffs der Glückseligkeit im Kontext der Entwicklung seiner Überlegungen zu Kant dienen. Hierzu möchte ich im ersten Schritt die Besonderheit von Kants Religionsauffassung in der Kritik der praktischen Vernunft und damit einhergehend den Zusammenhang der Religion und der Glückseligkeit beleuchten. Im zweiten Schritt wird Schleiermachers Aufsatz „Über das höchste Gut“ untersucht, wobei der Fokus auf seiner kritischen Rezeption der Kantischen Dialektik, aber auch auf seiner Kritik an Kants Stoiker-Deutung liegen soll. Im dritten Schritt wird die Thematik der Theodizee und der Glückseligkeit in „Über den Wert des Lebens“, die aus seiner Kritik an Kants Stoiker-Deutung hervorgeht, näher untersucht, um 4  Bekanntlich gibt Kants Konzept der Ethikotheologie Anlass für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie, wobei aber die Glückseligkeit weniger in den Blick zu kommen scheint als die mögliche (Ab-)Kopplung der Moralität von der Religion, so dass Schleiermachers Fokus auf die Glückseligkeit seine Besonderheit in der Rezeption der Ethikotheologie markiert. Zur Ethikotheologie in der nachkantischen Philosophie siehe: Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 302–311; Walter Jaeschke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012, 131– 142. 5  Grove, Deutungen des Subjekts, 24.



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Schleiermachers Einsicht in die seit Kant bestehende Problematik des Zusammenhangs von Glückseligkeit und Religion herauszuarbeiten.

I. Die Dialektik der praktischen Vernunft in Kants Kritik der praktischen Vernunft Um den Hintergrund der Kant-Rezeption Schleiermachers zu verdeutlichen, soll in Bezug auf Kant im Folgenden zweierlei geklärt werden: 1) der Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Religion bzw. mit Gott, sowie 2) die Abgrenzung seines eigenen Konzepts des höchsten Guts von dem der Stoiker. 1) Kant behandelt die Problematik der Religion in allen vier Hauptwerken. Die Besonderheit der Kritik der praktischen Vernunft, mit der sich Schleiermacher in seinen Jugendschriften äußerst intensiv beschäftigt hat, besteht darin, dass hier anders als in den anderen drei Werken ein ausdrücklicher Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Religion entwickelt wird. Im Abschnitt über das Ideal der Kritik der reinen Vernunft geht es vor allem darum, zu zeigen, dass keiner der drei Gottesbeweise des spekulativen bzw. theoretischen Vernunftgebrauchs (physikotheologischer, kosmologischer und ontologischer) einen zulässigen Gottesbeweis leisten kann. Freilich ist in der darauffolgenden Methodenlehre auch die Rede vom höchsten Gut und in dieser geht es auch um die Glückseligkeit als ein Bestandteil desselben. In diesem Zusammenhang geht es ferner um die „Moraltheologie“ (KrV, A 814/B 842), deren konkrete Entwicklung jedoch in der Kritik der reinen Vernunft noch aussteht. Zudem kennt das höchste Gut der Kritik der reinen Vernunft keine Antinomie,6 d. h. von jenem Widerstreit zwischen der Glückseligkeit und der Tugend, dem in Schleiermachers Rezeption eine so entscheidende Rolle zukommt, ist hier kaum die Rede. In der Kritik der Urteilskraft hebt Kant seine eigene Position, die Ethikotheologie, in Abgrenzung zur Physikotheologie hervor, wobei der Fokus fast ausschließlich daraufgelegt wird, den Endzweck der Schöpfung in der moralischen Vervollkommnung der Menschen als regulative Idee, auszumachen. Während man in der Physikotheologie einzelnen teleologischen Verhältnissen der Natur mittels Urteilskraft Realität zuschreibt, gerät man angesichts des Endzwecks immer in einen unendlichen Progress. Die Bestimmung eines Endzwecks wird von Kant nun in seiner Ethikotheologie entwickelt, die in dem „Mensch[en] (ein[em] jede[n] vernünftige[n] Weltwesen) unter moralischen Gesetzen“ (AA V, 448) den Endzweck ausmachen kann, weil die Ethi6  Vgl. Michael Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim/ New York 1978, 15.

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kotheologie keinen höheren Zweck kennt, zu dem die Moralität nur ein Mittel wäre. In der Schrift, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, ist, abgesehen von einigen kritischen Bemerkungen über den Belohnungsbzw. Lohnglauben (AA VI, 161 bzw. 178), kaum die Rede von der Glückseligkeit. Freilich ist hier der Begriff der „Gottseligkeit“ (AA VI, 182) ein Gegenstand von Kants Überlegungen. Hierbei geht es jedoch durchgehend darum, zu zeigen, dass der Mensch immer Neigungen zu einem Afterdienst hat, d. h. die routinemäßige Observanz der „statutarischen Gesetze“, deren Auslegung und Aufhebung in die Moralgesetze erst durch den „Religionsglauben“ das Kommen des Reichs Gottes auf Erden ermöglichen soll (AA VI, 109 ff.), ohne weiteres für gottselig zu halten. Somit ist für Kant in dieser Schrift nicht das Verlangen nach der Glückseligkeit, sondern der „Afterdienst“ ein Störfaktor in der Religion. Denn dieser bildet den Gegensatz zum Dienst Gottes, bei dem die moralische Vollkommenheit die einzige Bedingung dafür ist, „uns Gott wohlgefällig“ zu machen (AA VI, 171). Vor diesem Hintergrund kommt der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft angesichts des Verhältnisses von Glückseligkeit und Religion ein besonderer Stellenwert zu. Um dies zu vertiefen, möchte ich mich dem Argument zuwenden, mit dem Kant die Antinomie der praktischen Vernunft zu lösen versucht. Während Kant sich in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft bezüglich der Glückseligkeit vor allem darauf fokussiert, zu zeigen, dass diese nur die „materialen“, d. h. konsequenzorientierten Prinzipien des Bestimmungsgrundes des Willens bieten kann und somit der Autonomie des Willens entgegengesetzt ist, so geht er in der Dialektik von der Auffassung aus, dass die Glückseligkeit und die Tugend heterogen sind und dennoch jedem vernünftigen Wesen der Gewinn der Glückseligkeit als ein gerechtes Verlangen zuerkannt werden kann7: „[…] der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen“ (AA V, 110). In diesem Zusammenhang grenzt Kant „das höchste Gut“ von „dem obersten Gut“, das bloß durch die Erfüllung der Tugend als „oberste Bedingung“ (AA V, 110) möglich ist, ab, und behauptet, erst die synthetische Einheit beider mache das höchste Gut aus. Da aber diese Einheit, insofern synthetisch, erst durch einen kausalen Zusammenhang beider möglich ist, so gibt es 7  Kant definiert die Glückseligkeit folgendermaßen: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke“ (AA V, 124).



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zwei Möglichkeiten der Vereinigung: „Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein“ (AA V, 113). Daraus entsteht die Antinomie der praktischen Vernunft. Aufgrund des in der Analytik erhobenen Autonomieanspruchs ist die erste Option, die Thesis, kategorisch abzulehnen, weil sonst die Tugend für die Glückseligkeit instrumentalisiert würde. Die zweite, die Antithesis, ist auch nur schwer anzunehmen, weil Ursache und Wirkung hier zu zwei unterschiedlichen Elementen gehören: die Tugend besteht ausschließlich im Bestimmungsgrund des Willens, wobei vollständig von der Sinnenwelt abstrahiert werden muss. Die Glückseligkeit hingegen hängt von der Sinnenwelt ab, Erstere kann Letztere aber nicht beeinflussen, so dass sich zwischen beiden kein Kausalverhältnis ausmachen lässt. Kants „kritische Aufhebung“ dieser Antinomie erfolgt bekanntlich durch zwei Postulate: die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Hier möchte ich mich auf Letzteres fokussieren. Kant zufolge ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar nothwendigen Zusammenhang, als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe, welche Verbindung in der Natur, die blos Objekt der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden, und zum höchsten Gut nicht zulangen kann. (AA V, 115)

Die Aufhebung der Antinomie erfolgt nun nicht so, dass die sinnlich bedingte Glückseligkeit in eine intelligible transformiert würde,8 sondern dadurch, dass „die Verbindung“ beider einem Übersinnlichen überlassen wird. Die sinnliche Bedingtheit der Glückseligkeit bleibt zwar immer bestehen, aber die Verbindung kann, wie oben steht, trotzdem erfolgen, nämlich in der intelligiblen Welt, die Wirkung hingegen sei „in der Sinnenwelt“. Gott als intelligibler Träger dieser Verbindung organisiert die Natur nämlich so, dass die Glückseligkeit doch noch ermöglicht wird: „Also ist die oberste Ursache 8  Bereits in der Analytik unterstreicht Kant, dass auch die vernünftige, oder wenn man so will, gebildete Glückseligkeit kein Bestimmungsgrund sein darf, um moralisches Handeln zu begründen: „Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit, so viel Verstand und Vernunft bei ihm auch gebraucht werden mag, würde doch für den Willen keine andere Bestimmungsgründe, als die dem unteren Begehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen“ (AA V, 24). Klaus Düsing zufolge hatte Kant in seiner vorkritischen Zeit noch die Konzeption „apriorische[r] oder intellektuelle[r] Glückseligkeit“, die er in der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr vertritt. Und der Anlass für die Verabschiedung von seiner früheren Konzeption der Glückseligkeit ist: „Offenbar stand sie für [Kant: Verf.] der Stoa und deren Heroismus zu nahe“: Ders., „Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant“, in: Norbert Fischer, Maximilian Forschner (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg/Basel/ Wien 2010, 67.

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der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott“ (AA V, 125). Das Dasein Gottes wird also so postuliert, dass das unvermeidliche und auch gerechte Verlangen des Menschen, also das Verlangen nach der Glückseligkeit, nicht unbefriedigt gelassen wird. Gott ist „weise[r] und alles vermögende[r] Austheiler[…] [der möglichen Glückseligkeit: Verf.]“ (AA V, 128), der als Urheber die Natur so beschafft, dass die Menschen ihre Glückseligkeit proportional zu ihrer Tugend erlangen können, was durch die Menschen allein, trotz ihrer Tugend bzw. der postulierten Unsterblichkeit der Seele unmöglich wäre. Hierzu ist wohlbekannt, dass dieses Postulat nur „in praktischer Absicht“ (AA V, 133), d. h. nur insofern die oberste Bedingung des höchsten Guts, die Tugend, erfüllt ist, vollzogen werden kann. Somit ist dieses Gottespostulat keine theoretische Erkenntnis von Gott. Damit kommt Gott zwar die Leistung zu, entsprechend der Tugend die Glückseligkeit zu garantieren, er selbst kann aber nicht als ein Wesen der Sinnenwelt angesehen werden, welches von der theoretischen Vernunft erkannt werden könnte. 2) Diese Einschränkung führt zum zweiten Punkt: die Abgrenzung von Kants Konzept des höchsten Guts von dem der Stoiker. Dazu lässt sich zweierlei hervorheben. Erstens geht Kant, wie oben bereits erwähnt, davon aus, dass die Einheit des höchsten Guts eine synthetische sei. Demgegenüber sei, so Kant, die Einheit bei den Stoikern analytisch. Das heißt: „der Stoiker [sagte]: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit“ (AA V, 111). Bei den Stoikern sei man somit, sofern man tugendhaft ist, in der Lage, die Glückseligkeit unmittelbar zu genießen, ohne sich dabei auf eine dritte Instanz, wie etwa Gott als Urheber der Natur, beziehen zu müssen. Diese unmittelbare Identität von Tugend und Glückseligkeit führt, so Kant, zweitens zu einem wichtigen Unterschied seiner eigenen Position von der der Stoiker. Kant macht deutlich, dass die Stoiker das Element sowohl der vollkommenen Tugend9 als auch der Glückseligkeit „in diesem Leben“ (AA V, 115; 170) ausmachen, wohingegen sein eigenes Konzept des höchsten Guts erst im (zu-)künftigen Leben zu realisieren ist. Dementsprechend schwächt Kant die oben genannte „Notwendigkeit“ jener „Verbindung“ der Tugend mit der Glückseligkeit etwas ab und sagt: „das moralische Gesetz für sich ver9  Kant wirft bereits in der Analytik den Stoikern „moralische Schwärmerei“ (AA V, 86) vor und grenzt diese von „all[en] moralische[n] Evangelii“ ab, die „die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar[stellt], so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen“ (AA V, 83).



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heißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist, nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt, mit der Befolgung desselben, nicht nothwendig verbunden“ (AA V, 128). Somit kann sie „[die Seligkeit: Verf.] in dieser Welt, unter dem Namen der Glückseligkeit, gar nicht erreicht werden […] (so viel auf unser Vermögen ankommt) und [wird] daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht“ (AA V, 129). Kant verschiebt nun die Realisierung des höchsten Guts auf das jenseitige Leben und hält daran fest: „die Moral“ sei „nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“ (AA V, 130). Kant behält so zwar jene Verbindung, deren Notwendigkeit durch einen postulierten Gott vermittelt ist, diese ist aber lediglich der „Gegenstand der Hoffnung“.

II. Schleiermachers Kant-Rezeption in „Über das höchste Gut“ (1789) Zu dem frühesten Text seiner Auseinandersetzung mit Kant, „Über das höchste Gut“, ist bereits gründlich geforscht worden. Und auch zu Schleiermachers wichtigster These in diesem Aufsatz, dass Kants Begriff des höchsten Guts vor allem wegen der Glückseligkeit inkonsequent sei und diese von dem höchsten Gut zu trennen sei, gibt es kaum Kontroversen in der bisherigen Forschung. Im Folgenden möchte ich daher zuerst 1) knapp diese These zusammenfassen, um mich dann 2) einem in der bisherigen Forschung kaum beachteten Thema zuzuwenden, nämlich Schleiermachers Kritik an Kants Fehldeutung der Stoiker, die Schleiermacher dann wiederum als Ausgangspunkt für seinen Aufsatz „Über den Wert des Lebens“ dient. 1) Nachdem Schleiermacher bis Abschnitt IV. verschiedene vermutlich vorkantische Konzeptionen des höchsten Guts abgelehnt hat, untersucht er im Abschnitt V das höchste Gut bei Kant. Neben dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele macht das Gottespostulat Kants hier den Hauptgegenstand seiner Untersuchung aus, wobei er sich primär auf die Auflösung der Antinomie durch das Gottespostulat fokussiert. Sein Argument gegen das Gottespostulat lässt sich in zwei Schritten rekonstruieren. Erstens bestreitet er die Notwendigkeit des höchsten Guts, indem er auf Kants „Fehler“, „den er [Kant: Verf.] uns im spekulativen aufgedekt hat“ (KGA I/1, 100) hinweist: „HErr Kant aber hat [den Begriff des höchsten Guts: Verf.] zu einem constitutiven gemacht, als ob es zu erreichen uns nicht nur möglich sondern auch nothwendig wäre“ (KGA I/1, 100 f.). Zu beachten gilt hier, dass er den Fehler Kants nicht primär im Gottespostulat, sondern im höchsten Gut (als synthetischer Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, ermöglicht durch das postulierte Dasein Gottes) sieht, den Fehler nämlich, zu

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Unrecht den regulativen Gebrauch zum konstitutiven gemacht zu haben. Schleiermachers Deutung nach hält Kant das höchste Gut insofern für konstitutiv, als dass die Verbindung der Tugend mit der Glückseligkeit als „notwendig“ angesehen wird und nicht als etwas Seinsollendes.10 Zweitens arbeitet Schleiermacher heraus, dass die angebliche Notwendigkeit auf Kants Auffassung Gottes als Garant der Glückseligkeit zurückführbar ist. Schleiermacher gibt Kant aber dennoch vorläufig Recht: „Aus unserer Welt verweiset HErr Kant die Wirklichkeit dieser Verbindung, und er thut Recht daran“ (KGA I/1, 102). Wie vorhin gesehen, schreibt Kant der Verbindung der Tugend mit der Glückseligkeit, bei der erstere Ursache und letztere Wirkung sei, einen intelligiblen Charakter zu und verweist diese somit aus der Sinnenwelt. Gegen diesen Verweis hat Schleiermacher vorerst nichts einzuwenden. Er fragt vielmehr, ob sich „sie [jene Verbindung: Verf.] in jener [anderen: Verf.] Welt eher als möglich denken läßt?“ Und antwortet selbst: „Ich denke nicht“ (KGA I/1, 102). Der Grund dieser Verneinung lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Entweder es gibt in jener anderen Welt die Sinnlichkeit, oder es gibt sie dort nicht. Wenn es sie gibt, dann sind die Naturgesetze, denen die Sinnlichkeit folgt und mit der die Glückseligkeit, wie Kant selbst bestätigt, behaftet ist, prinzipiell immer unterschieden von den nicht mit Sinnlichkeit behafteten Sittengesetzen, deren Befolgung wiederum die Tugend ausmacht. Wenn es dort aber keine Sinnlichkeit gibt, so gibt es dort auch keine Glückseligkeit.11 Deshalb, so Schleiermacher, ist jene Verbindung nicht nur nicht notwendig, sondern sogar unmöglich: „Hier gibt es keinen Ausweg als auf eine künstliche Weise diese Widersprüche zu heben, welches nicht anders als durch eine nähere Bestimmung des künftigen Zustandes geschehen kann, aber dadurch würde HErr Kant der transcendenteste aller Philosophen und die bescheidne in sich gekehrte praktische Vernunft das zügelloseste und anmaaßendste aller Vermögen der menschlichen Seele“ (KGA I/1, 102).12 Schleiermacher lehnt 10  Dies erklärt Grove treffend folgendermaßen: „[Schleiermacher: Verf.] argumentiert mit der Analytik der zweiten Kritik gegen ihre Dialektik“: Grove, Deutungen des Subjekts, 124. 11  Mit diesem Argument möchte Schleiermacher nun das Gesamtkonzept Kants vom „Primat der reinen praktischen Vernunft“ (AA V, 119 ff.) widerlegen. Bekanntlich überführt Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Problematik der Notwendigkeit in der vierten Antinomie in seine Theologie-Kritik im Ideal-Abschnitt, der dann die Thematik wieder auf das Praktische verschiebt. Schleiermacher bezweifelt aber jenen Primat des Praktischen: „Mit welchem Recht können wir daher glauben, daß die Supposition dieser Begriffe [der beiden Postulate: Verf.] im praktischen Gebrauch nothwendiger einleuchtender oder erwiesener sei als im theoretischen“ (KGA I/1, 99). 12  Dies lässt sich als mögliche Erwiderung auf die Gegenkritik der Kant-Orthodoxie gegen Schleiermachers Kritik an der ersten Option deuten. Giovanni B. Sara schreibt etwa: „Die Zwei-Welten-Theorie sichert ja außer der Naturkausalität die



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also Kants angeblich christliche Konzeption der Glückswürdigkeit ab, indem er analog zur kantischen Konzeption der Strafwürdigkeit behauptet, dass aus der Würdigkeit zur Glückseligkeit keineswegs die Notwendigkeit zu derselben folgen kann (vgl. KGA I/1, 103 f.). Auf diese Weise lehnt Schleiermacher also die Funktion, die Tugend mit der Glückseligkeit zu verbinden, die Kant dem postulierten Gott zuschreibt, und somit auch die Zufluchtnahme in eine andere Welt zwecks Glückseligkeit, dezidiert ab.13 Dieses Argument scheint auf den ersten Blick aber weniger in einem religionsphilosophischen als vielmehr in einem ethischen Kontext zu stehen, weil es bei Schleiermacher nicht primär um Gott bzw. dessen Funktion der Gewährleistung der Glückseligkeit geht, sondern um die Möglichkeit der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit. 2)  Bevor dieser Aspekt später erneut aufgegriffen wird, soll zum folgenden Abschnitt VI. zunächst die religionsphilosophische Problematik und ihr Zusammenhang mit der Glückseligkeit weiter vertieft werden. Schleiermacher wendet sich nach der Auseinandersetzung mit der Dialektik Kants den antiken Konzeptionen des höchsten Guts zu und thematisiert diesen Begriff bei Platon, Aristoteles,14 den Cynikern, Epikureern, und Stoikern. Im Folgenden soll es um seine Rekonstruktion der Position der Stoiker gehen, wobei Schleiermacher im Rahmen seiner Rekonstruktion der Stoiker auch erneut Kants Dialektik thematisieren wird. Wie bereits erwähnt, schreibt Kant den Stoikern die Position zu, der zufolge die Einheit des höchsten Guts eine anaMöglichkeit einer ‚Kausalität der Freiheit‘ (A 523–558)“: Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin/New York 1990, 410. Die „Kausalität der Freiheit“ an der Stelle der Kritik der reinen Vernunft, auf die Sara verweist, aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft, behandelt zwar die praktische Freiheit, die im theoretischen Vernunftgebrauch nie erkannt oder bewiesen werden kann und erst im praktischen angesichts der Triebfeder bzw. des Bestimmungsgrunds des Willens „vollkommen gerechtfertigt“ (AA V, 55) wird, aber sie erklärt keineswegs die Freiheit Gottes in jener „Verbindung“. 13  Zu dieser Problematik der Zufluchtnahme gibt es in der Forschung unterschiedliche Deutungen. Diesbezüglich interpretiert Grove Schleiermachers Brief an Wilhelm Droha (wohl vor September 1796; KGA V/1, 424 ff.) in Bezug auf Kants Überlegungen zu Glauben, Wissen und Meinen in seiner Kritik der praktischen Vernunft und behauptet, dort gebe es Schleiermachers neues Postulat, was in der Forschung jedoch bezweifelt wird: Grove, Deutung des Subjekts, 126–132, kritisch dazu siehe: Arndt, Schleiermachers Philosophie, 59. 14  Moxter verweist auf die Veränderung vom Schleiermachers Aristoteles-Verständnis bezüglich der Glückseligkeit zwischen seiner ersten („Über das höchste Gut“) und der zweiten Hallenser Zeit (Grundlinien der Kritik der bisherigen Sittenlehre), er weist dabei auf die Vertiefung des Unterschieds zwischen Eudaimonia und Eutychia, hin, was ich in diesem Beitrag nicht berücksichtigen kann: Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 26 ff.

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lytische sei. Dies allerdings bestreitet nun Schleiermacher.15 Gegen die kantische Auffassung der stoischen Tugend als eine unmittelbare Identität der Tugend mit der Glückseligkeit weist Schleiermacher auf die stoische Unterscheidung von drei Arten der Glückseligkeit hin. Die erste ist die Glückseligkeit, die eine Folge der Tugend ist (die Kant als die Glückseligkeit der Stoiker ansieht). Die zweite ist eine Glückseligkeit, die mit der Tugend in „­Widerspruch“ steht, sowie die dritte eine ist, die der Tugend „weder beförderlich noch hinderlich“ ist (KGA I/1, 115). Dass diese Korrektur der Stoiker-Deutung Kants nicht trivial ist, erhellt sich im Folgenden, wo Schleiermacher trotz Kants eigener Angabe die strukturelle Nähe Kants zu den Stoikern hervorhebt: Nach dem System des Stoïkers war also der größte Theil der Glückseligkeit eine unausbleibliche Folge der Tugend aber er wollte doch auch den übrigen nicht verfehlen; er wollte sie eben so ganz erlangen als HErr Kant. Ungewiß über ein künftiges Leben mußte er sich also selbst überreden daß dieser Wunsch schon in dem gegenwärtigen erfüllt werde, er nahm ebenfalls in dieser Verlegenheit seine Zuflucht zu der Willkür eines höchsten Wesens oder zu der Nothwendigkeit der regierenden Natur. (KGA I/1, 116)

Auf diese Weise hebt Schleiermacher hervor, dass die Stoiker nicht nur jene erste Art der Glückseligkeit, als die Folge der Tugend, sondern auch die andere von der Tugend unterschiedene, gewinnen wollen16 und, noch wichtiger: Kant ebenfalls. Da Kant die Glückseligkeit als integralen Bestandteil des höchsten Guts ansieht und aufgrund ihrer Heterogenität mit der Tugend deren angeblich notwendige Verbindung dem postulierten Gott überlässt, müsste Kant diese Bemerkung Schleiermachers hinnehmen. Interessant ist ferner, dass wenn der Gewinn der Glückseligkeit „ungewiss“ ist, in dieser Verlegenheit, nur noch zwei Optionen übrigbleiben: „die Überredung“, dass die Glückseligkeit bereits da sei, sowie die Zuflucht zur Gottheit. Zur letzteren Option merkt Schleiermacher an: Wie konnten sie [die Stoiker: Verf.] […] fest überzeugt seyn die Glükseligkeit und nicht das Gegentheil zu erlangen? Durch nichts anders als durch den Glauben. […] Sie glaubten, daß indem sie sich so dem ersten Eindruk der Sinne überließen, durch eine besondere Lenkung der Vorsehung oder durch ein Spiel der Nothwendigkeit aus diesen Entschließungen immer das möglichst beste entstehe. Die Zu15  Schleiermacher schreibt: „[…] hier müßen wir uns von der Darstellung entfernen, die uns HErr Kant von ihren [Epikureers und Stoikers: Verf.] Systemen gegeben hat; wir können uns nicht überreden daß diese beiden Schulen Tugend und Glückseligkeit für identisch gehalten haben sollten“ (KGA I/1, 113). Schleiermacher zufolge trifft auch nicht zu, dass Kant dem Epikureer eine andere Position analytischer Einheit des höchsten Guts zuspricht. 16  Schleiermacher fügt gleich hinzu, dass „dieser Theil der stoischen Philosophie grade am wenigsten bemerkt doch nicht weniger merkwürdig ist, als das übrige“ (KGA I/1, 116).



Der Begriff der Glückseligkeit beim jungen Schleiermacher 45 kunft stand ganz in der Hand des Schiksals, und das, was ihnen begegnete war jedesmal das beste was ihnen begegnen konnte. (KGA I/1, 117)

Wie er auch in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie hervorhebt,17 haben die Stoiker eine bestimmte Art der Schicksalsgöttin entworfen und treiben mit dieser eine eigenartige Theodizee.18 Diese beiden Optionen, jene „Überredung“ sowie die „Zufluchtnahme“ zur Schicksalsgöttin, sind das Hauptthema von „Über den Wert des Lebens“. Vor der Rekonstruktion dieses Textes gilt es an dieser Stelle aber noch die Überschneidung von Kant mit den Stoikern zu betonen, die Schleiermacher in den obigen beiden Zitaten hervorheben zu wollen scheint. Schleiermacher macht sich nämlich „d[ie] Mühe“, „zu sehen, wie sich diese spizfindigen Dialektiker [die Stoiker: Verf.] bei der Verlegenheit benahmen, das auch von ihnen anerkante Bedürfniß der Glükseligkeit mit den Geboten der praktischen Vernunft zu vereinigen“ (KGA I/1, 116). Angesichts der Zufluchtnahme der Stoiker zur Vorsehung lässt sich sowohl eine Ähnlichkeit als auch ein Unterschied im Verhältnis zu Kant hervorheben. Die Ähnlichkeit beider sieht Schleiermacher in der Rückführung des Grundes dieser Zufluchtnahme darauf, dass die Glückseligkeit, bei Kant wegen der Heterogenität, und bei den Stoikern, insofern diese nicht die Folge der Tugend ist, nicht direkt aus der Tugend abzuleiten ist; der Gewinn der Glückseligkeit soll auf eine dritte Instanz verschoben bzw. kann erst durch 17  Im Abschnitt über die Stoiker sagt Schleiermacher: „Von der bewegenden Kraft bis zur erkennenden und praktischen ist die Gottheit in allem das einzige active Princip, und alles im Kreise der Veränderung erfolgt ja nach dem Naturgesez dieser höchsten Vernunft, unter einander also völlig übereinstimmend. Diese πρόνοια, wobei aber an einen eigentlichen Zwekk, den die Gottheit hatte, nicht eben gedacht ward, nannten sie auch mit dem poetischen alten Namen des Herakleitos εἱμαρμένη, und das hat ihnen auch hier den dem Materialismus ähnlichen Vorwurf zugezogen, als nähmen sie ein Fatum an“: Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke, Abt. III/4-1, Berlin 1839, 129. 18  Im Unterschied zur christlich-leibnizschen Tradition handelt es sich, insofern es sich aus Schleiermachers Rekonstruktion ergibt, in der stoischen Theodizee nicht um die Frage nach dem moralischen Bösen, sondern es geht zumeist um die unangemessene Proportion der Tugend und der Glückseligkeit, oder gar um das mangeln der Glückseligkeit selbst. Kant unternimmt auch eine kritische Analyse der Theodizee in „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (1791), wo es um die Frage nach der „Zweckwidrigkeit“ geht und auch die Problematik der Glückseligkeit erwähnt ist. Da aber die Glückseligkeit nie der Zweck der Tugend sein darf, – dies wäre die „Thesis“ jener Antinomie, die schlechthin falsch ist –, so gilt: „Daher geht auch die Klage über den Mangel einer Gerechtigkeit, die sich im Loose, welches den Menschen hier in der Welt zu Theil wird, zeige, nicht darauf, daß es dem Guten hier nicht wohl, sondern daß es den Bösen nicht übel geht“ (AA VIII, 258 Fn). Es handelt sich also um die Zweckwidrigkeit als „das Mißverhältniß der Verbrechen und Strafen in der Welt“ (AA VIII, 257).

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diese ermöglicht werden. Genauso wie Kant den Gewinn der Glückseligkeit vermittelst Gottes als Urheber der Natur für notwendig hält, halten die Stoiker sie „durch eine besondere Lenkung der Vorsehung“ für notwendig. Als Unterschied ist hingegen zu betonen, dass bei den Stoikern ein neues Konzept hinzukommt, d. i. jene Überredung, „daß dieser Wunsch [nach der Glückseligkeit im Ganzen: Verf.] schon in dem gegenwärtigen erfüllt werde“, die man bei Kant nirgends findet. Parallel zu jener Zufluchtnahme bieten die Stoiker zugleich eine neue Perspektive an, nämlich die Glückseligkeit im Gegenwärtigen zu finden, also in dem, was bereits da, aber möglicherweise noch unerlebt bzw. unerfahren ist. Ausgehend von diesen beiden Perspektiven, der mit der Theodizee verbundenen Zufluchtnahme zu Gott sowie der Überredung zu einer bereits gegebenen, aber noch nicht empfundenen Glückseligkeit, wende ich mich nun dem Aufsatz „Über den Wert des Lebens“ zu.19

III. Der subjektive Faktor der Glückseligkeit: Schleiermachers Kant-Rezeption in „Über den Wert des Lebens“ (1792/93) Während die Glückseligkeit in „Über das höchste Gut“ vor allem negativ besetzt ist, d. h. als etwas, das nicht zur reinen Vernunft passt und dessen Aufnahme ins höchste Gut demnach für unzulässig angesehen wurde, gewinnt diese in „Über den Wert des Lebens“ eine so hohe Beachtung, dass Schleiermacher in Anspielung auf Kant schreibt: Tugend herrscht unumschränkt in meiner Seele, aber nicht allgemein; Glükseligkeit würde durch Genuß und Streben jeden Theil meines Daseyns zu füllen wissen, nur daß sie Unterordnung unter die Tugend anerkennen muß. […] Also das Leben, wenn ich es loben soll, muß mir unbedingt Stoff geben glüklich zu seyn, es muß mir Veranlassung geben sittlich Güte zu üben und zu entwikeln, aber ohne mich zu zwingen. Danach will ich seinen Werth schäzen; das sind die beiden großen Punkte meiner Untersuchung. (KGA I/1, 413) 19  Man mag sich fragen, ob es eine christliche Alternative zum stoischen Konzept des höchsten Guts bei Schleiermacher gibt, ähnlich wie Kant in Abgrenzung zu den Stoikern sein eigenes, seiner eigenen Angaben nach genuin christliches Konzept angeboten hat. – Ja, allerdings gibt es das. Schleiermacher behandelt zwar erstens im Abschnitt VII ein christliches Konzept des höchsten Guts, aber überraschenderweise sind für Schleiermacher das Christentum und der Neuplatonismus bloß „zwei einem System ähnliche Abarten der Sittenlehre“ (KGA I/1, 118). Und zweitens stellt er im letzten Abschnitt VIII „eine sich von selbst uns aufdringende Aufgabe“ dar, „den praktischen Einfluß dieses [auf das Sittengesetz beziehenden moralischen: Verf.] Gefühls zu vermehren“ (KGA I/1, 124), was aber von den Stoikern und dem Verständnis Kants kaum zu unterscheiden ist.



Der Begriff der Glückseligkeit beim jungen Schleiermacher 47

Vor einer tiefergehenden Analyse soll aber zuerst noch kurz etwas zur methodischen Besonderheit des Textes angemerkt werden. Meckenstock behauptet, der Aufsatz „Über den Wert des Lebens“ „[nehme] [d]ie phänomenologische Untersuchung der menschlichen Lebenswirklichkeit [vor]“,20 wo Schleiermacher, wie Meckenstock ebenfalls mit Recht behauptet, so verfährt, „daß er jeweils widersprechende polare Deutungen zu denselben ethischen Behauptungen miteinander kontrastiert“.21 Dies soll bedeuten, dass Schleiermacher hier nicht seine eigenen Gedanken, sondern verschiedene Positionen darstellt, um diese dann immanent zu kritisieren. Deshalb sollte man bei der Interpretation vorsichtig sein und die „phänomenologische“ Darstellung nicht für Schleiermachers eigene Position halten. Der Text behandelt in seiner letzten Hälfte sehr intensiv die Thematik der Rechtfertigung bzw. die Beweisführung der „Unpartheilichkeit“ (KGA I/1, 427) des Schicksals bezüglich der Glückseligkeit. Und da Schleiermacher am Anfang des 19., also des vorletzten Absatzes, seine bisherigen Darlegungen mit den Stichwörtern „stoisch“ und „Theodicee“ zusammenfasst (vgl. KGA I/1, 458), darf man darauf schließen, dass es dort um die kritische Rekonstruktion dessen geht, was er bereits in „Über das höchste Gut“ zu Kant und den Stoikern behandelt hat. Im Folgenden soll daher zuerst 1) seine Rekonstruktion der stoischen Theodizee, und dann 2) seine kritische Revision derselben betrachtet werden. 1) Im Rahmen dieser Rekonstruktion verfährt Schleiermacher so, dass er verschiedene Arten der von ihm sogenannten beneideten Glückseligkeit analysiert, allerdings mit dem Ziel zu zeigen, warum jenes als beneidenswert erscheinende tatsächlich wenig beneidenswert ist. Die Besonderheit dieser phänomenologischen Rekonstruktion besteht erstens darin, dass nicht nur antike, sondern auch koloniale und moderne Themen Analysegegenstand sind. So behandelt Schleiermacher etwa Gesundheit, politische Macht, Reichtum, aber auch Kulturformen und Bildungsstand, Nationen und soziale Klassen im modernen „gesellige[n] Leben“ (KGA I/1, 430), die als Privileg gelten und somit nicht die Gerechtigkeit, sondern vielmehr „die Partheiichkeit“ des Schicksals aufzuweisen scheinen. Im Vergleich zu „Über das höchste Gut“ besteht zweitens eine weitere Besonderheit darin, dass die Glückseligkeit nicht als von außen gegeben verstanden wird, sondern der subjektive Faktor des Empfangenden hervorgehoben wird,22 welcher sich im Laufe von Schleiermachers Rekonstruktion dann aber wiederum als Ge20  Meckenstock,

Deterministische Ethik und kritische Theologie, 165. Deterministische Ethik und kritische Theologie, 161. 22  „Das Streben meiner Natur geht von selbst dahin, die Freude zu ergreifen und die Unlust zu vertreiben; also alles dasjenige Gute, wovon alle äusseren Bedingungen vorhanden sind und welches ich nur noch zu ergreifen brauche um es zu geniessen, 21  Meckenstock,

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schenk des Schicksals herausstellt. Deshalb sind die oben aufgelisteten Punkte nicht die Glückseligkeit als solche, sondern die Bedingungen, durch welche die Glückseligkeit erfahren werden kann, und welche deshalb auch Objekte des Neids werden können. An dieser Stelle möchte ich mich unter den oben Genannten auf seine Überlegungen zu Kultur und Bildung fokussieren, welche Oberdorfer sehr treffend als „Relativierung der europäischen Verstandesbildung“23 interpretiert. Schleiermacher geht hierbei von der Annahme aus, dass „Stand, Reichtum, Ansehn Gesundheit und Glük […] in Absicht ihres Einflusses auf die Glükseligkeit von dem was ihnen entgegensteht, bei weitem nicht so sehr unterschieden zu seyn [scheinen], als der Zustand des gebildeten, kultivirten von dem des rohen und ungebildeten Menschen“ (KGA I/1, 445) und fügt ferner hinzu: „Das große Geschenk, welches uns die Natur mit diesem Gefühl gemacht hat ist nur ein Spott, wenn das Schiksal nicht das Geschenk der Bildung hinzufügt“ (KGA I/1, 446). Hier handelt es sich um die Klage, dass der Zustand der Bildung, die für das Erfahren der Glückseligkeit eine konstitutive Rolle spielen soll, immer vom Schicksal des Einzelnen abhänge, und dem Schicksal somit Ungerechtigkeit bzw. Parteilichkeit vorzuwerfen sei, wenn ein Individuum etwa in einem Kulturraum mit wenig Bildungsangeboten geboren wurde und ohne es verantworten zu können, jenes Geschenk vermisst. Der subjektive Faktor, der für die Glückseligkeit unerlässlich ist und der zugleich von kultureller Bildung abhängt, ist nun der Gegenstand, den Schleiermacher in Hinblick auf Kant vertieft. Schleiermachers moderne Rekonstruktion der stoischen Theodizee verfährt hierbei so, dass er auf die fehlende Fähigkeit des europäischen bzw. des deutschen Bildungsstandes selbst aufmerksam macht. Besonders interessant ist, dass er hier offensichtlich Kant anspricht: Vielleicht also mag unser Stolz über das eigenthümliche unserer Bildung sich mit Recht auf die moralische Seite lenken, für unsere Glükseligkeit aber enthält es wol keinen ausschliessenden Vorzug […]. (KGA I/1, 451)

Auf diese Weise zielt Schleiermachers Argumentationsstrategie im Rahmen seiner modernen Rekonstruktion der stoischen Theodizee darauf ab, zu zeigen, dass Objekte jener neidvollen Klage nicht immer wert sind überhaupt beneidet zu werden, indem er die Schwäche jener vermeintlichen Neid­ objekte hervorhebt. Er sieht demnach den Stand seiner Zeit angesichts des fehlenden subjektiven Faktors für die Glückseligkeit als ungebildet an, auch wenn seine Zeitgenossen auf den philosophischen oder kulturellen Stand der das ist ein Geschenk des Schiksals und es ist meine Schuld, wenn es mir nicht wird“ (KGA I/1, 427 f.). 23  Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit, 380.



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Moralität sehr stolz waren, so waren sie doch unfähig zur Glückseligkeit. Um zur Glückseligkeit zu gelangen, genügt der Verstand, dessen Besitz manche stolz und beneidenswert auftreten lässt, nämlich nicht, sondern dazu ist noch „Fantasie“ nötig: „Es gibt zwei Quellen dieser die äußre Welt ordnenden, vervielfältigenden und genießbar machenden Ideen, Verstand und Fantasie“ (KGA I/1, 450). Wenn sich nun auch seine kulturphilosophische Einsicht durch deren Gegenwartsbezug sicherlich fruchtbar machen ließe, so ist hier nicht der Ort dafür.24 Stattdessen gilt es vor allem den Kontext, in dem diese Einsicht dargelegt ist, fest im Blick zu behalten. Schleiermacher fasst nach diesen Überlegungen zum subjektiven Faktor für die Glückseligkeit Folgendes zusammen: „Gewiß hab ich nun alle Verschanzungen des Stolzes erstiegen, der sich ein Liebling des Schiksals zu seyn wähnt; alle seine Anmaßungen sind mir nichtig erschienen. […] die Gerechtigkeit des Schiksals ist mir gewiß“ (KGA I/1, 458). Durch die phänomenologische Rekonstruktion soll nämlich gezeigt worden sein, dass jede Art des Privilegs, das im ersten Blick die Ungerechtigkeit des Schicksals aufzuweisen scheint, in der Tat „nichtig“ sei. So scheint nun die Rekonstruktion der stoischen Theodizee abgeschlossen zu sein. 2) Schleiermacher macht dann jedoch noch einen weiteren Schritt, durch den die Stoiker und der Theodizeebegriff ausdrücklich kritisch betrachtet werden: Wenn man hört wie sie bisweilen stoisch einzelne Vorzüge zu verachten und als nichtig darzustellen wissen, wie sie Gründe zur Erhebung über einzelne Unfälle hervorsuchen und über einzelne Verhältnisse und Theile des Lebens Theorien bauen, so sollte man es denken, aber wenn man ihr Treiben und Thun ansieht und kleine winklige Gestalt ihres Herzens, so werde ich wol gewahr daß dieser Gedanke in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen Würde nicht in ihre Seele gekommen ist. […] In ihrem Herzen wirkt diese Wahrheit nicht, und in ihrem Verstande hat sie auch nicht Wurzel gefaßt: wie würden sie sonst in allen ihren praktischen Urtheilen noch immer an ihrer Einseitigkeit kleben, und wie würde es ihnen Noth seyn Räthsel aufzulösen die gar nicht da sind, leere Theodiceen abzufassen, wo kein Klagepunkt Statt findet, und die Gottheit darüber zu vertheidigen daß sie dem tugendhaften weniger Glükseligkeit möglich mache als andern? (KGA I/1, 458 f.)

24  Er ist jeglicher kultureller Überlegenheit gegenüber kritisch: „Es ist eine flache Einseitigkeit und ein kindischer Stolz, wenn wir das was Kultur des Geistes hierbei nothwendig thun muß, immer nur da finden wollen, wo unsere Art der Kultur herrschend ist: ärger als die Griechen, denen alles ungriechische barbarisch war ist uns alles ungebildet was nicht unsere Manieren unsren Anstrich unsern Firniß hat, und gerade bei der Beurtheilung des innern Menschen lassen wir uns durch das Sprüchwort äffen, daß Kleider Leute machen“ (KGA I/1, 456).

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Auffällig ist, dass Schleiermacher in diesem Zitat wieder zurückweist, was er der bisherigen Rekonstruktion nach aber affirmiert hatte: Er hatte durch die phänomenologische Rekonstruktion die Rechtfertigung des Schicksals gezeigt und erklärt, dass das Schicksal gerecht sei. Oben steht jedoch, dass diese Rechtfertigung „nicht in ihre Seele gekommen“ sei, und es kommt noch hinzu, dass die Theodizee „leer“ sei und sich nur mit Gegenständen beschäftige, die es in Wahrheit gar nicht gebe. Wie ist dies zu verstehen? In diesem Zusammenhang gilt es sich kurz an die in „Über das höchste Gut“ dargebotene Überlegung zu den Stoikern zu erinnern. Dort ging es um die Selbstüberzeugung bzw. die Überredung der bereits gegebenen, aber nicht erlebten Glückseligkeit, sowie um die Zufluchtnahme zur Schicksalsgöttin. Dementgegen und darüber hinaus gehend weist das obige Zitat noch auf einen anderen Aspekt der Stoiker hin, nämlich „die Verachtung einzelner Vorzüge“. Diesen letztgenannten Aspekt findet man auch in der vorhin analysierten phänomenologischen Rekonstruktion der Rechtfertigung des Schicksals wieder, diesmal aber in der umgekehrten Perspektive. Diese Rekonstruktion besagte nämlich, dass die einzelnen Vorzüge, d. h. die in der Regel beneideten Privilegien, in der Tat nicht beneidenswert seien. Was also aus der Perspektive des die privilegierte Position Beneidenden dargestellt wird, lässt sich auch aus der Perspektive des sich tatsächlich in solcher beneidenswerten Position Befindenden nachvollziehen, wobei dieser Privilegierte jene Privilegien geradezu stoisch verachtet. Was sich ferner angesichts des obigen Zitats in Hinblick auf jene StoikerAuffassung in „Über das höchste Gut“ noch betonen lässt, ist die Erwartung von Glückseligkeit, die durch eine glaubende Zufluchtnahme von der Schicksalsgöttin erteilt werden soll. Jene „Leere“ der Theodizee scheint nun erst angesichts dieser Thematik konsequent zu deuten zu sein. Die Theodizee ist nämlich „leer“, insofern sie auf die zukünftige Erteilung der Glückseligkeit bezogen wird.25 Genauso wie „die Räthsel“ – etwa: Warum wird dem Tugendhaften keine Glückseligkeit erteilt? – in Wahrheit „gar nicht da sind“, da prinzipiell keine Verbindung zwischen beiden möglich ist, so ist diejenige Theodizee leer, die eine Schicksalsgöttin postuliert, zu der als Glückseligkeitsgarantin Zuflucht genommen werden könnte. Dabei bleibt aber auch hier noch folgende Frage offen: Wo kommt die Glückseligkeit her, wenn es weder eine Verbindung zwischen der Tugend und der Glückseligkeit gibt, noch zu irgendeiner anderen die Glückseligkeit garantierenden Instanz Zuflucht genommen werden kann? Hierzu schreibt er: 25  Angesichts dieses Wortgebrauchs Schleiermachers ist Meckenstocks These, „Über den Wert des Lebens“ sei „gelungene Theodizee“, etwas irreführend: Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, 167.



Der Begriff der Glückseligkeit beim jungen Schleiermacher 51 Ich spreche das Schiksal frei; ich habe kein Recht eine neue Foderung an dasselbe zu machen, oder ein Urtheil über seine ganze Haushaltung zu fällen ehe ich mich über die Verwendung seiner Gaben gerechtfertigt habe. Ach! Auch mir ist ein großes Heer dargebotner Freuden ungenuzt geblieben! (KGA I/1, 469)

Der Freispruch des Schicksals geht mit seiner Einsicht in den subjektiven Faktor, die Schleiermacher im Rahmen der modernen Rekonstruktion der Rechtfertigung des Schicksals dargestellt hat, einher. Demnach sind die „Gaben“ immer da und insofern ist das Schicksal freizusprechen, weil es zur Glückseligkeit immer nur auf den subjektiven Faktor ankommt und nicht auf die jenseitig liegende Instanz der Erteilung derselben. Somit ist die Klage der ungerechten Erteilung der Glückseligkeit gegenstandslos, weil die Glück­ seligkeit nicht etwas ist, das von außen gegeben werden könnte:26 „Wie oft glauben sie nicht in unvermeidliche Fallstrike des Schiksals gerathen zu seyn, und es waren nur ihre eigenen Neze, in welche sie sich verwikelten“ (KGA I/1, 464).

Ausblick Schleiermachers phänomenologische Rekonstruktion der stoischen Theodizee in „Über den Wert des Lebens“ lässt sich somit durch dessen Kontextualisierung in zweifacher Hinsicht als Schleiermachers Antwort auf die Problematik des Verhältnisses von Glückseligkeit und Religion seit Kants Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft verstehen. Erstens kritisiert er sowohl Kant als auch die Stoiker, insofern beide die Glückseligkeit immer einer dritten Instanz überlassen, sei es der Schicksalsgöttin wie bei den Stoikern, oder Gott und dem jenseitigen Leben wie bei Kant. Stattdessen entkoppelt Schleiermacher die Glückseligkeit von der Gottheit als einer Erteilungsinstanz. Zweitens steht er aber doch in einer gewissen Nähe zu den Stoikern, indem er die stoische Überredung bzw. Selbstüberzeugung nunmehr von der mit der Theodizee einhergehenden Zuflucht zur dritten Instanz abkoppelt und als etwas Diesseitiges, das sich im Gegenwärtigen bilden muss, rekonstruiert. An einer Stelle im abschließenden Teil von „Über den Wert des Lebens“, bei der Schleiermacher seine Kritik an der kantisch-stoischen Zufluchtnahme zur 26  Es ist allerdings zugleich zu betonen, dass durch diese Position die religionsphilosophisch relevante Frage nach den „Schlechtgestellten“, um mit Anton Friedrich Koch zu sprechen, noch unbeantwortet bleibt. Eingehendere Überlegungen zu dieser Thematik, vor allem zum Zusammenhang von Schleiermachers Aufforderung der Bildung der Fantasie (siehe dazu auch die nächste Fußnote dieses Aufsatzes) mit Kochs Ansatz des hermeneutischen Realismus und seiner Subjektivitätsthese sollen allerdings auf eine spätere Gelegenheit verschoben werden. Vgl. Anton Friedrich Koch, Philosophie und Religion, Stuttgart 2020, bes. § 13. Glück und Unglück der Schlechtgestellten. Ethikotheologie und Theodizee.

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glückseligkeitserteilenden Instanz sowie seine Einsicht in den subjektiven Faktor der Glückseligkeit und deren Bildungsbedarf knapp und treffend zusammenfasst, heißt es: „Verschliesse Deine Ideale, und erwarte keine Nahrung für sie; ihr Gebiet ist bloß die Bildung Deiner Handlungen“ (KGA I/1, 470).27

27  An dieser Stelle möchte ich offenlassen, inwiefern Schleiermacher die Ergebnisse seiner religionsphilosophischen Überlegungen in „Über den Wert des Lebens“ auch in seinen darauffolgenden Frühschriften weiterverfolgt. Hierzu ist allem voran zu bemerken, dass die Problematik der Glückseligkeit im Hauptwerk Schleiermachers, in Über die Religion, zwar weitestgehend verschwunden scheint, er sich aber in der zweiten Rede des Werkes erneut mit dem Postulat des Daseins Gottes und der Seelenunsterblichkeit in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft aus­ einandersetzt (KGA I/2, 244–247) und bemerkt: „Welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie“ (KGA I/2, 245); somit wird die „Fantasie“ hier erneut thematisiert, welche, wie vorhin gesehen, eine konstitutive Rolle für die Glückseligkeit spielt und in Schleiermachers Augen noch bildungsbedürftig ist. Damit ist über die Fantasie auch im Kontext der Religionsphilosophie, genauer gesagt angesichts der Frage zum „Wesen der Religion“ ein Bezug zur früheren Thematik der Glückseligkeit erkennbar. Zum Fantasiebegriff in Über die Religion mit Verweis auf Vom Wert des Lebens [sic!] siehe etwa: Christian König, Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden, Tübingen 2016, 309– 322.

Die relationale Ethik Jesu als Care-Ethik und die Kritik der Gerechtigkeit in Hegels Frankfurter Schriften1 Taiju Okochi (Kyoto)

Einleitung Auch wenn sich Hegels Berner und Frankfurter Zeit – wie Jaeschke zurecht sagt2 – nicht einfach mit den Stichwörtern „theologisch“ oder „religiös“ charakterisieren lässt,3 sind die theologischen Manuskripte doch sehr wichtige Dokumente für Hegels eigene philosophische Entwicklung. Insbesondere gilt dies für die Texte, die Hegel in Frankfurt geschrieben hat und die von Herman Nohl unter dem Titel „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ herausgegeben wurden. Sie sind deshalb wichtig, weil dort bereits die Ansätze – also noch nicht die Vollendung – zu seiner reifen Dialektik gefunden werden können. Dort tritt zwar noch nicht Hegels letztgültige Lösung des Problems auf, das er erst deutlich später als sein Zeitproblem verstehen wird.4 Dennoch finden sich in diesen frühen Schriften sozusagen 1  Die leicht modifizierte, ergänzte Version dieses Aufsatzes ist schon auf Japanisch erschienen: Taiju Okochi, „Seigi no hihan toshiteno rinri. Furankufurutoki H ­ egeru no Iesu ron to kea no rinri no setten“, in: Kyoto Tetsugaku-Kai (The Kyoto Philosophical Society) (Hg.), The Tetsugaku kenkyu (The Journal of Philosophical Studies), Juli 2023, 610. Hiermit möchte ich mich bei Frau Anne Becker für die sorgfältige sprachliche Korrektur bedanken. 2  Walter Jaeschke, „Einleitung“ zu G. W. F. Hegel Frühe Schriften. Frankfurter Manuskripte und Druckschriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von. Walter Jaeschke, Hamburg 2020, IX ff. 3  Dieses Bild wurde durch Nohls Edition und Diltheys Darstellung des jungen Hegels geprägt: Herman Nohl (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Königlichen Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907; Wilhelm Dilthey, „Jugendgeschichte Hegels“, in: Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 4, Stuttgart 1990. 4  „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie, und als Bildung des Zeitalters die unfreye gegebene Seite der Gestalt“ (GW 5, 12). Weiter heißt es: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie“ (GW 5, 14).

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seine ‚Ausgangsmotive‘, die m. E. für eine Beurteilung der Philosophie Hegels insgesamt nicht außer Acht gelassen werden sollten. Dass sich Hegel, der in Bern noch unter dem starken Einfluss von Kant stand, in Frankfurt der Kant-Kritik zugewendet hat, ist vor allem dann erkennbar, wenn man seine Schriften über Jesus aus der Berner mit denen der Frankfurter Zeit vergleicht. Jesus wurde – wie dies auch schon in der Literatur deutlich gemacht wurde5 – in seinen Manuskripten, die „Das Leben Jesu“ genannt werden, als Vertreter der Kantischen Moralität verstanden, während er in den Frankfurter Schriften vielmehr als Kant-Kritiker dargestellt wird. Jesus ist zwar immer sein Held geblieben,6 hat aber in den verschiedenen Phasen jeweils eine verschiedene Bedeutung. In den bisherigen Forschungen wurde die ontologische Bedeutung der Vereinigungsphilosophie, die Hegel unter dem Einfluss von Hölderlin entwickelt hat,7 betont. Dennoch ist nur selten über seine Moraltheorie in diesen Schriften gesprochen worden, obwohl Hegel selbst von der Moral Jesu spricht. Ein Grund dafür ist das Vorurteil, Hegel würde zu dieser Zeit noch emotional und unwissenschaftlich schreiben und entsprechend würden diese Texte noch keine eigenständige Theorie darstellen. Im Folgenden möchte ich dagegen die nicht nur entwicklungsgeschichtliche, sondern auch gegenwärtige Bedeutung dieser Texte behaupten. Hegel bietet hier eine neue Ethik dar, die mit derjenigen Ethik vergleichbar ist, die seit den 1980er Jahren unter dem Namen „care ethics“ diskutiert wird. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Hegels Kritik der Kantischen Moralität eine deutliche Parallele zu der gegenwärtigen Kritik der Gerechtigkeitsethik durch die Care-Ethik aufweist.

5  Martin Bondeli, Der Kantianismus des jungen Hegels. Die Kant-Aneignung und Kant-Überwindung Hegels auf seinem Weg zum philosophischen System, Hamburg 1997; Keiji Sayama, Die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft. Zur Entstehung von Hegels Sozialphilosophie, Teil 1, Berlin/Wien 2004. Vgl. auch: Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, 3. Auflage, Stuttgart 2016, 60. 6  Dieser vielleicht hellenistische Begriff vom Helden ergibt in diesem Kontext Sinn, weil Hegel in diesen Schriften mehrmals das jüdische mit dem griechischen Volk vergleicht. 7  Dieter Henrich, „Hegel und Hölderlin“, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971; Christoph Jamme, „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800, Bonn 1983; Ders., „Liebe, Schicksal und Tragik. Hegels ‚Geist des Christentums‘ und Hölderlins ‚Empedokles‘ “, in: Christoph Jamme, Otto Pöggeler (Hg.), „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde.“ Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, Stuttgart 1983; Yoichi Kubo, Shoki Hegeru tetsugaku kenkyu. Goitsutetsugaku no seiritsu to tenkai. (Studien über den jungen Hegel. Genese und Entwicklung der Vereinigungsphilosophie), Tokyo 1993 (japanisch); Ders., Der Weg zur Metaphysik. Entstehung und Entwicklung der Vereinigungsphilosophie beim frühen Hegel, München 2002.



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Dies möchte ich dadurch nachweisen, dass ich zuerst die Stellung der gegenwärtigen Care-Ethik aufnehme. Dafür werde ich auf die Schrift einer der Begründerinnen der Care-Ethik, Carol Gilligans Eine andere Stimme (In a Different Voice) von 19828 zurückgreifen. Zweitens möchte ich die Pointe von Hegels Interpretation des Judentums kurz zusammenfassen, um damit nachzuweisen, dass das Judentum, das Hegel in der Interpretation der Lehre Jesu in den Evangelien kritisiert, mit der Stellung der Gerechtigkeit, die in der Care-Ethik kritisiert wurde, parallel zu führen ist. Drittens werde ich die Behauptung aufstellen, dass Hegel die Lehre Jesu als eine „relationale Ethik“ darstellt, die ich dann abschließend mit Hegels Evangelien-Interpretation eng führe, und zwar viertens in seiner Interpretation der Bergpredigt und fünftens in der Auslegung der Geschichte über Maria Magdalena und des Abendmahls. Mein Ziel besteht also insgesamt in dem Nachweis, dass Hegel aus den Lehren und Taten Jesu die „relationale Ethik“ herausbildet.

I. Die Care-Ethik als die relationale Ethik Der Begriff der relationalen Ethik (relational ethics) wird insbesondere im Kontext der Care-Ethik benutzt, oftmals allerdings nicht deutlich vom Begriff der Care-Ethik getrennt und angewendet.9 Und zwar leidet dieser Begriff von „Care“ in dieser Diskussion unter der Verworrenheit, die allerdings einen semantischen Kern vermissen lässt.10 Im Folgenden möchte ich deshalb anstelle von „Care-Ethik“ den Terminus „relationale Ethik (relational ethics)“ verwenden, um zu bezeichnen, was Carol Gilligan als Alternative zur „Ethik der Gerechtigkeit“ angeboten hat.11 Als Gilligan mit der Care-Ethik in den 1980er Jahren angefangen hat, bestand die Pointe darin, dass sich die damalige Entwicklungspsychologie ein Bild des moralischen Bewusstseins zum Vorbild genommen hat, das in der gegenwärtigen Gesellschaft typischerweise von Männern verkörpert wird. Nach ihrem Lehrer Kohlberg geht der Prozess der Moralentwicklung durch die folgenden sechs Stufen. 8  Carol Gilligan, In A Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge, Mass./London 1993. 9  Nel Noddings, Caring. A Relational Approach to Ethics and Moral Education, Berkeley/Los Angels/London 2013. 10  Vgl. Maureen Sander-Staudt, „Care Ethics“, in: Internet Encyclopedia of Philosophy, URL= (abgerufen am 1.1.2023); Kathryn Norlock, „Feminist Ethics“, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2019 Edition), URL = . 11  Vgl. auch: Thaddeus Metz, Sarah Clark Miller, „Relational Ethics“, in: Hugh LaFollette (Hg.), The International Encyclopedia of Ethics, New Jersey 2016.

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Level A. Preconventional Level Stage 1. The Stage of Punishment and Obedience Stage 2. The Stage of Individual Instrumental Purpose and Exchange Level B. Conventional Level Stage 3. The Stage of Mutual interpersonal Expectations, Relationships, and Conformity Stage 4. The Stage of Social System and Conscience Maintenance Level C. Postconventional and Principled Level Stages 5. The Stage of Prior Rights and Social Contract or Utility Stages 6. The Stage of Universal Ethical Principles12 Für unseren Zweck reicht hier eine grobe Erklärung dieser Tafel aus: Die Gerechtigkeit wird im ersten Level anhand von individuellen Interessen egozentrisch und im zweiten Level anhand von interpersonal oder kollektiv geteilten Normen verstanden. Endlich kann das moralische Subjekt im dritten Level nach dem Prinzip von Egalität und Reziprozität über die Gerechtigkeit logisch und unabhängig urteilen. Es ist sehr deutlich, dass im Hintergrund dieser Annahme der Moralentwicklungsstufen die Kantische Moralphilosophie steht.13 Hier wird dasjenige Bewusstsein als moralisch reif angenommen, das nicht durch Bestrafungen motiviert ist, nicht Autoritäten oder Konventionen folgt, sondern dezentriert und logisch autonom über moralische Werte urteilen kann. Gilligan stellt das Problem dieses Modells anhand eines berühmten Experiments dar, das bereits Kohlberg praktiziert hat. Dieser hat Kindern ein moralisches Dilemma, sogenannte Heinz-Dilemma, dargeboten und mit ihnen Interviews darüber geführt. Das Dilemma besteht in der Annahme eines armen Mannes, der sich die notwendigen Medikamente für seine schwerkranke Frau nicht leisten kann. Ein Junge, Jake, wird nun gefragt, ob Heinz diese Medikamente stehlen soll. Jake befürwortet den Diebstahl, weil in der logischen Konsequenz das Leben wichtiger als Geld sei. Als der Interviewer 12  Lawrence Kohlberg, The Philosophy of Moral Development. Moral Stages and the Idea of Justice, San Francisco 1981. Vgl. auch: Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, 139. 13  Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, 162, 193; Lawrence Kohlberg, Charles Levine, Alexandra Hewer, Moral Stages: A Current Formulation and a Response to Critics, Basel/München/Paris/London/New York/Tokyo/Sydney 1983, 50. Vgl. auch: Seyla Benhabib, „The Generalized and the Concrete Other. The Kohlberg-Gilligan Controversy and Feminist Theory“, in: Seyla Benhabib, Durcilla Cornell (Hg.), Feminism as Critique. Essays on the Politics of Gender in Late-Capitalist Society, Cambridge/Malden 1991.



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ihm entgegnet, dass es geltendes Gesetz verletzt, behauptet Jake, dass sich das Gesetz auch irren könne. Anhand von Gilligans Zusammenfassung versteht Kohlberg, dass Jake denkt, dass man nach dem gesellschaftlichen Konsens über den moralischen Wert urteilen, was man tun soll, und dass auch andere Menschen es gleichsam erkennen können. Kohlberg ordnet diesen Jake deshalb zwischen der dritten und der vierten Stufen im konventionellen Level ein. Demgegenüber antwortet Amy auf dieselbe Frage, dass Heinz nicht das Medikament stehlen soll. Sie führt dies weiter mit der Behauptung aus, dass sie damit nicht meint, dass Heinz’ Frau sterben soll. Vielmehr stehen ihm noch andere Mittel zu Verfügung. Er könne sich beispielsweise von jemanden Geld leihen oder einen Kredit aufnehmen. Auf die Nachfrage, warum sie der Meinung ist, dass Heinz das Medikament nicht stehlen soll, soll sie geantwortet haben: If he stole the drug, he might save his wife then, but if he did, he might have to go to jail, and then his wife might get sicker again, and he couldn’t get more of the drug, and it might not be good. So, they should really just talk it out and find some other way to make the money.14

Aus dieser Antwort liest Kohlberg den Mangel an Verständnis über die logischen Voraussetzungen dieses Moraldilemmas. „Ihr Vertrauen in Beziehungen erscheint – so Gilligan – eine (noch im elften Lebensjahr) anhaltende Abhängigkeit und Verwundbarkeit zu sein“15 und bedeutet, dass sie „naiv und kognitiv unreif“ sei.16 Deswegen wird Amy nach Kohlbergs Ordnung zwischen der zweiten egozentrischen und dritten konventionellen Stufen, also niedriger als Jake, eingeordnet. Diese Bewertungen sollen darlegen, dass die logische Fähigkeit, von den verschiedenen Verhältnissen zu abstrahieren und bestimmte einzelne Fälle unter die allgemeine Regel zu subsumieren, einer anderen Fähigkeit moralisch vorgezogen werden soll, die darin besteht, konkrete Beziehungen zu berücksichtigen und unter diesen spezifischen Bedingungen eine Lösung zu finden. Gilligan weist darauf hin, dass hinter dieser Voraussetzung ein Vorurteil steckt, aufgrund dessen Frauen minderwertiger als Männer moralisch beurteilt würden. Weil der Standard der Moralität bei Kohlberg oder anderen 14  Gilligan,

In A Different Voice, 28. In A Different Voice, 30. 16  „Failing to see the dilemma as a self-contained problem in moral logic, she does not discern the internal structure of its resolution; as she constructs the problem differently herself, Kohlberg’s conception completely evades her.“: Gilligan, In A Different Voice, 29. 15  Gilligan,

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männlichen Entwicklungspsychologen nach dem „männlichen Model“ gebildet ist, werden Frauen den Männern in ihren moralischen Fähigkeiten immer als untergeordnet angesehen.17 Gilligan findet im Gegenteil bei Amy nicht die inferiore moralische Fähigkeit, sondern eine andere Art von Ethik als die Kantische autonome Moralität. Sowohl Amy als auch Jake versuchen eine Vereinbarung zu erreichen, aber auf jeweils unterschiedliche Weise: Jakes Versuch ist „impersonal durch das System der Logik und der Gesetze“ (impersonally through the System of Logic and Law) bestimmt, wohingegen Amy „personal durch die Kommunikation in der Relationalität“ (personally through the communication in rela­ tionship) agiert.18 Amy hat damit einen alternativen Ansatz zur Ethik, anstelle der Ethik der Gerechtigkeit von Jake, aufgezeigt. Ich möchte hier statt der Care-Ethik auf den Begriff der „relationalen Ethik“ zurückgreifen, um zu zeigen, was Gilligan in ihrem monumentalen Buch Die andere Stimme als Alternative zur Gerechtigkeitsethik vorstellt. Zwar nennt Gilligan diese alternative Ethik nicht ohne Grund „care ethics“. Denn „caring“ ist eine relationale Tat, die paradigmatisch im Verhältnis zu den anwesenden Anderen steht und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse (needs) gemacht wird.19 Es ist sogar auch nicht zu leugnen, dass die niedrigere moralische Bewertung von Frauen, die Gilligan bei Kohlberg ausmacht, eng damit zusammenhängt, dass die sogenannte „Care-Arbeit“, historisch betrachtet, in vielen Kulturen von Frauen übernommen worden ist und auch heute noch übernommen wird. Aber die relationale Stellung zur Moralität, die Gilligan hervorgehoben hat, erschöpft sich nicht in der Tat, die „care“ oder „caring“ genannt wird. Sondern die Pointe liegt in der ethischen Stellung, die die Relationen zu den betroffenen Personen stärker als die moralischen Prinzipien und mögliche logische Konsequenzen berücksichtigt.20 Im Folgenden möchte ich also behaupten, dass es gerade diese relationale Ethik ist, die Hegel in Frankfurt durch die Interpretation der Lehren Jesu darstellen wollte. 17  Gilligan,

In A Different Voice, Kap. 1. In A Different Voice, 29. 19  Soweit ich die Diskussion um die Care-Ethik überblicke, wird das englische Wort „care“ oft nicht ins Deutsche übersetzt, sondern auf Englisch beibehalten. Dem schließe ich mich an, um bestimmte Konnotationen des deutschen Worts „Sorge“, insbesondere im philosophischen Kontext nach Heidegger, zu vermeiden, die das englische Wort „care“ im Kontext der Care-Ethik nicht impliziert. 20  Noddings macht in der Vorrede der „2013 edition“ ihres 1984 erschienen B ­ uches Caring. A Relational Approach to Ethics and Moral Education darauf aufmerksam, dass die Bedeutungen von „care about“ und „care for“ verschieden sind. Hier erklärt sie auch, warum sie den Untertitel des Buches von A Feminine Approach to Ethics and Moral Education zum neuen genannten geändert hat: Noddings, Caring, XIII. 18  Gilligan,



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II. Das Judentum und die Kantische Moralität als Gerechtigkeitsethik Schon in einem Manuskript von 1795 aus Bern, das mit „man mag die widersprechendste Betrachtungen“ (GW 1, Text 32)21 beginnt, wird über den „traurigen Zustand des jüdischen Volks“ gesprochen. Dieses sei nicht aufgrund des äußerlichen, sondern innerlichen Zustandes erbärmlich gewesen, weil sein „Geist nun unter einer Last statutarischer Gebote zu Boden gedrükt war“ und „dem Geist nichts als noch hartnäkkigen Stolz auf diesen Gehorsam der Sklaven gegen sich nicht selbst gegebene Gesetze übrig liessen“ (GW 1, 282). Hier lässt sich bereits Hegels Charakterisierung des Judentums erfahren, die ähnlich zu derjenigen in Frankfurt ist. Aber anders als zu der Frankfurter Zeit, ist Hegels Bibelinterpretation zu der Berner Zeit auf die Kantische Moralität angewiesen. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Hegel in der Berner Zeit, insbesondere in seinem Manuskript über das Leben Jesu, Jesus als den Kantischen Morallehrer darstellt, während die Evangelien in Frankfurt zugleich als eine Kritik an der Kantischen Moralität ausgelegt werden. Jesus überwindet, als Reformer des Judentums, dort die grausame Heteronomie der Gehorsamkeit nicht durch die Autonomie des moralischen Subjekts. Analog leide die Kantische Moralität an der gleichen Unterdrückung durch die Gesetze wie das jüdische Volk. Die Manuskripte aus Frankfurt, in denen Hegel seine Bibelinterpretation entwickelt, dokumentieren die Wende von der Kant-Rezeption zur KantKritik. In dem Teil, in dem sich Hegel mit dem Alten Testament befasst und den er bereits in Bern zu schreiben begonnen und noch in Frankfurt überarbeitet hat, stellt Hegel das jüdische Volk als ein Volk der Zerrissenheit und das Judentum selbst als die Religion der Trennung dar. Dieser Charakter des jüdischen Volkes wurde, Hegel zufolge, schon in seinem Anfang bestimmt: Abraham ist erst zum Stammvater des jüdischen Volks geworden, indem er in seiner Jugend zuerst sein Vaterland und dann seine Familie verlassen hat (GW 2, 35b). „[D]er erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist eine Trennung welche die Bande des Zusammenlebens, und der Liebe zerreißt. Fast das Ganze der Beziehungen in denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte, diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24,6.) stieß er von sich“ (GW 2, 35–36b). Abraham sei sowohl der Natur als auch den anderen Menschen sowie aller Liebe und allen anderen Beziehungen fremd geworden: „[E]r war ein Fremd21  Dieses Manuskript ist das, was Nohl „die Ursprüngliche Fassung“ der „Positivität des Christentums“ nennt: Nohl (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften, 152– 213.

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ling auf der Erde“ (GW2, 38). Diese Fremdheit des Lebens Abrahams erkennt man bei der Geschichte der Bindung Isaaks, die zeigen soll, dass seine einzige Liebe, nämlich die Liebe zu seinem Sohn Isaak, auch „nur so stark sey, um ihm doch die Fähigkeit zu lassen, den geliebten Sohn mit eigner Hand zu schlachten“ (GW 2, 42). Es ist nach Hegel schließlich Moses, der über den Charakter des jüdischen Volks als Knecht der Gesetze entschieden hat. Moses tritt zwar als Befreier des Volks auf, aber er ist, durch Gottes Übergabe der Steintafel, auch zum Gesetzgeber geworden. „Derjenige der es [das jüdische Volk] von einem Joch losgemacht hatte, legte ihm ein andres auf.“ Und dieser Widerspruch charakterisiert für Hegel das jüdische Volk, denn es sei „[e]ine passive Nation, die sich selbst Gesetze gäbe“ (GW 2, Text 48, 46b). Dieser Charakter, den das jüdische Volk in seiner Geschichte gewonnen haben sollte, drückt für den Hegel in der Frankfurter Zeit zugleich den Charakter der Kantischen Moralität aus. Die Autonomie als formale Selbstgesetzgebung versteht er eher als eine Art der Heteronomie und Knechtschaft durch sich selbst. An dieser Verarmung des Lebens, die nach Hegel aus dem sich selbst gegebenen formalen Gesetz stammt, leidet das jüdische Volk, wobei Jesus als Reformer der jüdischen Religion in der Geschichte auftritt.

III. Gerechtigkeitskritik Jesu Hegels Interpretation des Neuen Testaments vermeidet die Erwähnung übernatürlicher Episoden in den Evangelien sorgfältig und stellt Jesus immer als einen Menschen dar.22 Anders als in Kants Religionsphilosophie, ist Jesus sogar nicht der vollkommenste Mensch als Vorbild der Menschheit.23 Was Hegel in Jesus gefunden hat, ist ein (zwar genialer, aber durchgängig menschlicher) Moraltheoretiker und Gesellschaftsreformer in seiner Zeit. Unter den sieben Textfragmenten, aus denen der Hauptteil von Nohls „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ besteht, stellt insbesondere der Text „Jesus trat nicht lange“ (GW 2, Text 54) deutlich dar, wie Hegel die lebendige Moralität, die Jesus in den Evangelien gegen die jüdischen Gesetze lehrt, als eine Alternative zur Kantischen Moralität versteht. Die Positivität 22  Nicht nur das Neue, sondern auch das Alte Testament liest Hegel naturalistisch, d. h., die übernatürlichen Geschichten auslassend. Um ein Beispiel zu nennen, wird Moses Wunder (Exodus 4) nicht als Wunder, sondern als magische Kunst, wie bei den ägyptischen Zauberkünstlern, verstanden (Exodus 7–22). Vgl: GW 2, 45. 23  Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 63.



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bedeutet bei Hegel zu dieser Zeit, was das menschliche Leben nicht durchdringen kann oder ihm – mit der späteren Terminologie – „entfremdet“ ist. Die Kantischen Moralgesetze sind genauso, wie die jüdischen Gesetze, in diesem Sinne ‚positiv.‘ Man mag dagegen einwenden, dass Hegel den Unterschied zwischen Autonomie und Heteronomie ignoriert und dass Jesus die Autonomie der jüdischen Heteronomie entgegenstehe. Hegel sagt auch: Auf diese Art, könnte man erwarten, daß Jesus gegen die Positivität moralischer Gebote gegen blosse Legalität gearbeitet hätte, daß er gezeigt hätte, das gesetzliche sey ein Allgemeines, und seine ganze Verbindlichkeit liege in seiner Allgemeinheit weil eines theils jedes Sollen, jedes gebotne zwar als ein Fremdes sich ankündigt, anderntheils aber als Begriff (die Allgemeinheit) ein subjektives ist, wodurch es als Produkt einer menschlichen Kraft des Vermögens der Allgemeinheit der Vernunft seine Objektivität, seine Positivität Heteronomie verliert und das Gebtne in einer Autonomie des menschlichen Willens gegründet sich darstellt. (GW 2, 151 f.)

Hegel erinnert hier deutlich an die Kantische Unterscheidung von Moralität und Gesetzmäßigkeit (Legalität) sowie an Autonomie und Heteronomie. Aber die Erwartung, dass Jesus die Kantische Moralität auch lehre, teilt Hegel selbst nicht. Anschließend sagt Hegel: „Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum theil weggenommen.“ Für Hegel ist der Unterschied24 zwischen der Heteronomie unter den vorgegebenen Religionen und der Autonomie der Kantischen Moralität „nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten machen, dieser frei wäre.“ Sondern es geht nur darum, „daß jener den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt.“ Das Kantische moralische Subjekt ist nur „sein eigner Knecht“ (GW 2, 152). Insofern kritisiert Hegel hier nicht nur die äußere Heteronomie, sondern die moralische Stellungnahme, mit der als moralisch gerecht verstanden wird, dass das Subjekt mit den einzelnen Fällen, seien sie äußerlich oder innerlich, allgemein gelten sollende Prinzipien anwendet und diesen sodann immer folgt. Im Gegenteil berücksichtigt die Moral, die Jesus lehrt, nicht die formale Allgemeinheit, sondern die Relationalität im Verhältnis zu dem anwesenden Anderen und das einzelne Gefühl, das das Subjekt gegenüber diesem Anderen, und auch umgekehrt dieser Andere gegenüber jenem Subjekt selbst einnimmt, hat. 24  Dies ist der Unterschied, „zwischen dem tungusischen Schaman, mit dem Kirche und Staat regierenden europäischen Prälaten, oder dem Mogulizen, mit dem Puritaner, und zwischen dem seinem Pflichtgebot Gehorchenden“ (GW 2, 152). Diese Textstelle ist interessant, weil Hegel dort einerseits keinen Unterschied zwischen nicht-europäischen und europäischen christlichen Religionen macht, und andererseits verrät sie, dass Hegel zwischen der Religion Jesu und den verschiedenen Formen der christlichen Religion unterscheidet.

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[F]ür das Besondre, Triebe Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das Allgemeine nothwendig und ewig ein fremdes, ein objektives. (GW 2, 152)

Die Kantische Moralität kann somit nicht die Positivität bzw. die Entfremdung der vorgegebenen Religion wegschaffen.

IV. Die relationale Ethik Jesu in der Bergpredigt Schon in Bern hat Hegel eine Interpretation der Evangelien abgefasst. Dieser Text, der als „Das Leben Jesu“ bekannt ist, stellt aber, wie oben bereits erwähnt wurde, im Unterschied zum Frankfurter Text, Jesus als einen Kantischen Morallehrer dar. Um zu zeigen, dass Hegel zu seiner Frankfurter Zeit in Jesus’ Kritik des Judentums einen relationalen Ansatz zur Ethik findet, die vor allem aber im Kontext der Kritik der Kantischen Moralität steht, möchte ich nun Hegels Interpretationen beider Texte, also „Das Leben Jesu“ aus Bern und „Jesus trat nicht lange“ aus Frankfurt, miteinander vergleichen. Hegel erwähnt im Text 54 die Geschichte des Ährenlaufens am Sabbat als geeigneten Beleg für die typische Stellung Jesu gegenüber dem jüdischen Gesetz (Mt 13, 1–8; Mk 2,23–28; Lk 6,1–5). Es handelt sich dabei um die Stelle, wo Jesus, dem von den Pharisäern vorgeworfen wird, dass seine Jünger am Sabbat Ähren ausgerauft hätten, mit einer Referenz auf eine Geschichte von David widersprach, dass er Schaubrote aß und auch an seine Jünger verteilt. Hegel erwähnt diese Geschichte und versteht sie als die Lehre, der zufolge bei einem Moraldilemma zwischen dem Prinzip und der Achtung vor der Menschheit schließlich die Menschheit dem Gesetz vorgezogen werden soll.25 Hier kann man das typische Beispiel des logischen, prinzipiellen Ansatzes zur Ethik (Gerechtigkeitsethik), die Gilligan in Jake gefunden hat, wieder erkennen. Zwar wird auch Hegel dem Gesetz die Menschheit entgegensetzen, der Grund für diese Entgegensetzung ist allerdings ein anderer. Und zwar betont Hegel dort den Unterschied beider Zustände: Wo David Hegel zufolge unter dem Notzustand steht, trifft dies auf Jesus nicht zu. Hegel behauptet: die Ehrfurcht für den Sabbath hätte diese geringe Befriedigung wohl um die Zeit aufschieben können, die sie bis zu einem Orte zu kommen brauchten, wo sie zubereitete Speise finden konnten. (GW 2, 146)

25  „[I]ch [Jesus: Verf.] sage euch, der Mensch ist mehr als Tempel, der Mensch, nicht ein gewisser Ort heiligt die Handlungen, oder macht sie unheilig – der Sabbath ist um des Menschen willen geordnet, nicht dieser um des Sabbaths willen gemacht; der Mensch ist auch Herr des Sabbaths“ (GW 1, 224).



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Der Hunger von Jesus und seinen Jüngern war nach Hegels Interpretation nicht so groß, wie der von David und seinem Gefolge. Jesus habe sogar absichtlich das Gesetz verletzt, während Davids Tat das Gesetz nicht verletzt habe, weil diese als „priesterliche[s] Geschäft[…]“ geschehen ist. Jesus hat seinen Jüngern erlaubt zu Essen, weil er damit zeigen wollte, dass die Natur der menschlichen Begierde als beschränkte Zeit des Sabbats und der bestimmte Ort des Tempels noch heiliger ist. Diese Behauptung Hegels darf man nicht so verstehen, als ob die Natur ein höheres Prinzip als das Gesetz darstellen würde. Vielmehr wollte er die Form des Prinzips oder Gesetzes selbst zur Kritik stellen, indem er mit Jesus die Natur oder die Neigungen bejaht. Diese Geschichte zeigt damit „seine ganze Verachtung gegen die Knechtschaft unter objektiven Geboten“ (GW 2, 145). Hegels Kritik an der gesetzlichen und allgemeinen Moralität kann man auch in seiner Interpretation der Bergpredigt erkennen. Dem Frankfurter Hegel zufolge wird in der Bergpredigt gezeigt, dass „[der] über Moralität erhabene Geist Jesu“ „unmittelbar gegen Gesetze gekehrt“ ist (GW 2, 154). Die Bergpredigt ist für Hegel dort „ein an mehreren Beispielen von Gesetzen durchgeführter Versuch, den Gesezen das gesezliche, die Form von Gesezen zu benehmen“ (ebd.). Dort hat Jesus „nicht Achtung für dieselben [Gesetze]“ gepredigt, was aber nicht bedeutet, dass Jesus damit die Gesetze abschaffen, sondern vielmehr „dasjenige aufzeigen [wollte], was sie erfüllt, aber als Geseze aufhebt, und also etwas höheres ist, als der Gehorsam gegen dieselbe, und sie entbehrlich macht“ (GW 2, 154). Hegel bezeichnet diese Ergänzung oder Erfüllung der formalen Gesetze mit einem griechischen Wort πλήρωμα. Dabei stützt er sich auf Mt 5, 17. Hegel gibt im „Leben Jesu“ fast schon eine Übersetzung dieser Bibelstelle: „Glaubt nicht, daß ich etwa gekommen sei, Ungültigkeit der Gesetze zu predigen, nicht die Verbindlichkeit zu denselben aufzuheben, bin ich gekommen, sondern sie vollständig zu machen“ (GW 1, 216). Allerdings entwickelt er sie hier nicht weiter. Erst wenn dieses „vollständig machen“ (πληρῶσαι) als eine „Ausfüllung des mangelhaften der Gesetze“ (GW 2, 157), als „Ergänzung des Gesezes“ (GW 2, 163) oder als „complement der Möglichkeit“ verstanden wird, erhält diese Stelle in Hegels Darstellung vom Leben Jesu in der Frankfurter Version einen zentralen Sinn.26 26  Im Gedanken der πλήρωμα, wodurch die Gesetze nicht mehr notwendig erfüllt und vollständig sind, wurde oftmals eine Quelle der dialektischen Spekulation gefunden: Werner Hamacher, „pleroma – zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel,“ in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Der Geist des Christentums. Schriften 1796–1800. Mit bislang unveröffentlichten Texten. Herausgegeben und eingeleitet von Werner Hamacher, Frankfurt am Main/Wien/Berlin 1978; Kubo, Studien über den jungen Hegel, 229.

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Die Gesetze „müssen durch eine Gerechtigkeit erfüllt werden.“ Diese alternative Gerechtigkeit sei „eine andre … die vollständiger sey, als die Gerechtigkeit der Pflichtlinge“ (GW 2, 157). Diese Gerechtigkeit der Pflicht urteilt, trennt und macht das Leben fremd, während jene die leere Form der Gesetze erfüllt und zugleich das Verhältnis mit den Anderen berücksichtigt. Jesus sieht, wie Hegel ihn versteht, in den Gesetzen nun nicht mehr die formalen Gebote, welche ausdrücklich mangelhaft sind. Deswegen braucht man nach Hegel „eine Ausfüllung des Mangelhaften der Gesetze“ (GW 2, 157). Das Gesetz „Du sollst nicht töten“ ist deswegen für Jesus kein formales Gebot mehr. „Jesus sezt einem solchen Gebot den höhern Genius der Versöhnlichkeit (einer Modifikation der Liebe) entgegen“ (GW 2, 160). Im Berner „Das Leben Jesu“ wird dagegen nur gesagt, dass das Töten, wie das dem Bruder ungerechterweise Zürnen, „dem Geist des Gesetzes nach“ strafwürdig ist, während Hegel in der Frankfurter Zeit behauptet, dass die Form des Gebots selbst das Leben spaltet, selbst wenn es ein Tötungsverbot wäre. Dieses Gebot wird erst dann realisiert, wenn es nicht mehr die Form des Gebotes annimmt, d. h., wenn der Wille zu töten durch die Liebe ersetzt und aufgegeben wird. Auch das Zürnen gegenüber dem Bruder wird verboten, weil „vor der Versöhnlichkeit […] auch Zorn ein Verbrechen“ ist. „[D]er Geist der Versöhnlichkeit [sei] hingegen in sich ohne feindselige Gesinnung, die Feindschaft des andern aufzuheben strebt“ (GW 2, 162b). Die Bergpredigt, die in Bern noch die Gesetze predigt, die allgemein realisiert werden sollen, wird in Frankfurt also als die Lehre über die Versöhnlichkeit verstanden. Statt auf andere Gebote in der Bergpredigt einzugehen, möchte ich nun auf die Geschichte von Maria Magdalena greifen, weil sich aus Hegels Behandlung dieser Figur am besten zeigen lässt, dass Hegel bei Jesus die relationale Ethik findet.

V. Maria Magdalena und das Abendmahl Die Erzählung einer Frau, die bei Jesus erscheint, welcher wiederum von einem Pharisäer eingeladen wurde, und diesen gesegnet hat, wird in vier Evangelien mitgeteilt. Hegel in Frankfurt meint, dass die vier Evangelien „auf verschiedene Begebenheiten deuten“ (GW 2, 235). Und auch in Bern behandelt Hegel die Geschichte über die Frau in Lukas 7, 36–50, die Jesus, der von Simon eingeladen wurde, diesen mit Öl gesalbt hat, und diejenige über Maria in Joh 12, 2–8, die beim Passahfest Jesus gesalbt hat, als verschieden.27 In Frankfurt behandelt Hegel sie aber als „verschiedene Formen derselben Geschichte.“ Und zwar setzt er sie zusammen und rekonstruiert 27  Eine

ähnliche Geschichte findet man auch in Mt 26 und Mk 14, 3–9.



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mit ihnen eine Geschichte über eine Person, Maria Magdalena, „da über die Wirklichkeit nichts gesprochen seyn soll, und an unserer Ansicht nichts verändert wird“ (GW 2, 219b). Die Maria, die Hegel „die schöne Seele“ nennt, ist ihm zufolge eine Frau, die wegen der zeitlichen Situation schuldig werden musste.28 „[D]ie schuldbewußte Maria,“ ganz schüchtern in der Anwesenheit „rechtlicher, rechtschaffner Leute, honêtes gens, die bittersten gegen die Fehler einer schönen Seele,“ wird aber durch die Liebe zu Jesus getrieben. Sie tritt dann „hinten zu seinen Füssen, weinet, und nezt seine Füsse mit ihren Thränen, und troknet sie mit den Haarren ihres Hauptes, küßt sie und salbet sie mit Salben, mit unverfälschtem und köstlichem Nardenwasser“ (GW 2, 219–220b). Die Stellungen, die bestimmte Leute gegenüber der Tat, die Jesus schönes Werk, ἒργον καλόν, nennt,29 einnehmen, teilt Hegel in zwei Sorten: Erstens stellt der Pharisäer Simon die hartnäckige Moralität dar. „Dieser rechtschaffne Simon“ kann „im Angesicht dieser fliessenden Thränen dieser lebendigen alle Schuld tilgenden Küsse, dieser Seelichkeit der aus ihrem Erguß Versöhnung trinkenden Liebe“ nur die „Ungeschicklichkeit“ Jesu, nicht aber die Sünde von Maria einsehen (GW 2, 220b f.). Das Benehmen der zweiten Gruppe, der Jünger Jesu, ist zugleich Gegenstand der Kritik Jesu. Ihre Absicht ist eigentlich moralisch, weil ihr Schimpfen auf Maria aus der Motivation stammt, mit dem Geld mehrere armen Leute retten zu wollen. Dass aber „[i]hre wohlberechnende Klugheit, ihre aufmerksame Tugend mit Verstand verbunden ist“ stellt für Hegel „nur eine Rohheit“ dar (GW 2, 221b). Beiden, sowohl der strengen Moralität als auch dem oberflächlich rechnenden Verstand, ist die Blindheit gegenüber demjenigen gemeinsam, was vor ihren Augen geschieht oder gegenüber dem direkten Verhältnis mit dem anwesenden konkreten Anderen. Ihnen fehlt die Fähigkeit, das Schöne in diesem schönen Werk zu erkennen. Das Problem bei diesen Taten ist aber nicht nur die Blindheit. Hegel findet noch ein grundlegenderes Problem bei Simon, wenn er sagt: „Bei Simon hatte nur seine Urtheilskraft sich geaüßert“ (GW 2, 221b). Wir dürfen diesen Satz nicht so verstehen, wie er auf dem ersten Blick erscheint, nämlich dass Hegel damit den Mangel an Simons Urteilskraft aufweist. Vielmehr soll dieser Satz wörtlich verstanden werden: Simon hat bloß seine Urteilskraft gezeigt. Das Problem liegt in der Urteilkraft selbst.

28  Hegel sagt: „die Zeit ihres [Marias: Verf.] Volkes war wohl eine von denen in welchen das schöne Gemüth ohne Sünde nicht leben“ (GW 2, 223b). 29  Nach Hegel ist dieses Werk „das einzige, was in der Geschichte Jesu den Namen eines schönen führt“ (GW 2, 222b).

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Die Urteilskraft ist die Fähigkeit das Konkrete unter das Allgemeine zu subsumieren. Insofern hat Simon gezeigt, dass er Urteilskraft hat, indem er Maria für schuldig und sündhaft hält und sie so prädiziert. Es ist damit aber „nur seine Urtheilskraft“ geäußert. Für Hegel geht es nicht darum, ob das Urteil richtig oder falsch ist, sondern vielmehr um etwas höheres als die Urteilskraft, d. h. die Liebe, die Maria über Jesus ergossen hat, und die Fähigkeit, die damit entstandene Beziehung zwischen ihr und Jesus zu empfangen. Hegels Kritik der Urteilsform selbst lässt sich auch in seiner Interpretation des Urteilens in Joh 3, 17 erkennen: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Hegel meint: „[D]as Richten ist ein Urtheilen.“ Das Urteilen ist seinerseits „ein Gleich- oder Ungleichsezen“ (GW 2, 261b). Deswegen ist das Richten nichts anderes als das Trennen (zwischen dem Gleichen und dem Ungleichen). Dies ist der Grund dafür, dass Hegel behaupten kann: „GottesSohn richtet, sondert, trennt nicht, hält nicht entgegengeseztes in seiner Entgegensezung; eine Aüsserung das Regen des Göttlichen ist kein Gesezgeben, Gesezaufstellen, kein Behaupten der Herrschaft des Gesezes; sondern die Welt soll durch das Göttliche gerettet werden“ (GW 2, 261b f.). Gottes Sohn urteilt nicht.30 Die Entwicklung von der Berner zur Frankfurter Zeit kann man deshalb auch anhand der Behandlung des Urteils erkennen, und zwar in Hegels Verständnis des Abendmahls: In der Interpretation aus Bern verlässt Jesus deswegen seine Jünger, weil er gesehen hat, dass diese schon ohne ihn selbständig und autonom zu urteilen wissen. [I]ch hinterlasse euch einen Führer in euch selbst; den Saamen des Guten, den die Vernunft in euch legte, hab’ ich in euch aufgewekt, und das Andenken an meine Lehren, und an meine Liebe zu euch [wird] diesen Geist der Wahrheit und der Tugend in euch aufrecht erhalten […] – ihr seid Männer geworden, die ohne fremdes Gängelband sich endlich selbst anzuvertrauen sind […]. (GW 1, 266)

In dieser freien Rekonstruktion der letzten Rede Jesu gegenüber seinen Jüngern führt Hegel ein Wort ein, das uns an ein zwar anderes, aber ähnliches Wort erinnert, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft im Kontext der Urteilskraft benutzt. Dort behauptet Kant, dass die Urteilskraft nicht gelehrt, 30  Hier können wir auch über Hegels Rezeption von Hölderlin, wie sie in den Forschungen besprochen wurde, hinweisen. Hier geht es aber nicht um die (Ur-)Trennung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat, die aus dem Sein als dem unmittelbaren Ganzen heraustritt (Johann Christian Friedrich Hölderlin, „Seyn, Urtheil …,“ in: Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer, Hamburg 1998), sondern um die Trennung zwischen dem, was im Urteil mit dem Prädikat verbunden wird und dem, was nicht verbunden ist. Auf die genauere Analyse dieser zwei Trennungsfunktionen des Urteils muss an dieser Stelle verzichtet werden.



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sondern nur durch Beispiele als „Gängelwagen der Urteilskraft“ geübt werden kann (KrV, A 133–134/B 172–173).31 Wenn Hegel in diesem Kontext das Wort „Gängelband“ benutzt, kann man wohl annehmen, dass er dabei an Kants „Gängelwagen der Urteilskraft“ aus der Kritik der reinen Vernunft denkt. In Frankfurt gewinnt das Abendmahl dagegen einen gänzlich anderen Sinn. Da wird das Abendmahl als ein gemeinsamer Akt verstanden: „[M]it jemand essen und trinken, ist ein Akt der Vereinigung, und eine gefühlte Vereinigung selbst“ (GW 2, 234b). Für den Frankfurter Hegel wird das Abendmahl zu einem „Mahl der Liebe“ (GW 2, 232b) oder „ein[em] Akt der Freundschaft“ (GW 2, 234b f.), d. h., das Abendmahl der Menschen, die untereinander ein Verhältnis, eine Relation bilden wollen, und nicht mehr nur als je selbständige Männer anwesend sind.

Fazit Aus der Lektüre der Texte in Hegels Frankfurter Zeit, die sich mit der Interpretation der Evangelien und der Person Jesu beschäftigen, insbesondere im Vergleich mit dem Berner „Leben Jesu“, ist deutlich geworden, dass die Kritik der Kantischen Moralität, die Hegel in jener Zeit genau in seiner Interpretation der Lehre Jesu durchführt, die relationale Ethik vorwegnimmt. Diese habe ich zu Beginn, im ersten Abschnitt, aus der gegenwärtige Diskussion über die Care-Ethik herausgenommen. Sie ist die radikale Kritik an der allgemeinen Moralität oder an dem Prinzip der Gerechtigkeit – und sogar an dem Urteil selbst, das die Spaltung zwischen dem Gerechten und Ungerechten hervorbringt. In Hegels Rekonstruktion der Geschichte von Maria Magdalena kann man auch die Berücksichtigung des vulnerablen Lebens erkennen, wie sie in der Care-Ethik diskutiert wird. Aber die relationale Ethik, die Hegel damit dargestellt hat, ist mehr als eine Alternative, wie bei der Care-Ethik, die neben dem bisherigen Gerechtigkeitsprinzip steht. Sie bleibt nicht „eine andere Stimme“ (Gilligan) oder „das Andere der Gerechtigkeit“ (Honneth).32 Sondern sie steht als die Vollen31  Vgl. auch: Taiju Okochi, „Kisozukenaki handan. Seijitekinamono toshite no hanseitekihandanryoku tosono kakucho (Urteil ohne Grundlegung. Reflektierende Urteilskraft als politische Fähigkeit und ihre Erweiterung),“ in: Shinichi Tabata, Shintaro Tamate, Kei Yamamoto (Hg.), Seiji nioite tadashii towa doiu kotoka. Posuto kisozukeshugi to kihan no yukue (Was ist die Richtigkeit in der Politik. Post-Foundationalismus und Normtheorie), Tokyo 2019 (japanisch). 32  Axel Honneth, „Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen Ethik,“ in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000.

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dung des Gerechtigkeitsprinzips auf einem höheren Niveau als die Gerechtigkeitsethik. Diese muss schließlich durch Liebe ergänzt (πλήρωμα) und überwunden werden. Dennoch ist Hegels Entwicklung nicht bei der Liebe oder der konkreten Relation stehen geblieben. Hegel verlässt sogleich in Jena die Vereinigungsphilosophie, die er zuvor mit Hölderlin gemeinsam vertrat, und wechselt zur Reflexionsform über.33 Die Unzulänglichkeit der Liebe hat Hegel sogar bereits in Frankfurt bemerkt, wenn er im „Religiöse[n]“ eine Vereinigung von Reflexion und Liebe „das πλήρωμα der Liebe“ findet (GW 2, 246b).34 Ob er damit aber zugleich die bei Jesus gefundenen neue Ethik beibehält und weiterentwickelt oder, ob er sie dort überhaupt noch ernst nimmt, muss an dieser Stelle offenbleiben.

33  „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln“ (Hegel an Schelling vom 2. Nov. 1800): Brief I, 59. 34  Vgl. Kubo, Studien über den jungen Hegel, 257.

Der Schrecken einer rein spekulativen Vorstellung Erklärungssucht und Bedeutung des Glaubens bei Friedrich Heinrich Jacobi Goran Vranešević (Ljubljana) In diesem Beitrag werde ich einige Grundzüge über Glauben und Vernunft in Jacobis Denken beleuchten, um die Grenzen zu verstehen, die sich aus der bloß spekulativen Vorstellung vom Menschen selbst ergeben. In diesem Zusammenhang sollten bisherige und aktuelle Debatten sowie häufige Vorurteile in Bezug auf seine Glaubensphilosophie nicht ignoriert werden, da sie das Bild seines „unphilosophischen Eigensinn[s]“ (JWA II/1, 214) tiefgreifend prägen. Gerade bei Jacobi scheint eine Klärung der Kontroversen um ihn und seine Philosophie unabdingbar, da er immer als eine Art dunkle Rückseite in die Debatten des Idealismus eingebunden war. In dieser Hinsicht werden wir uns vor allem mit dem Status der Vernunft und ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit beschäftigen – mit dem gesunden Menschenverstand kommt man zwar weit, aber nicht mit der Vernunft, mit ihr fällt man ins Nichts. Jacobis Vernunftverständnis hängt eng mit der Grenze der Erkenntnis zusammen, an die wir stoßen, wenn wir uns strikt an den Gebrauch des Verstandes halten. An der Stelle, wo wir mit dem Verstand nicht weiterkommen, weil wir mit uns selbst in Widerspruch geraten würden, führt Jacobi den Begriff des Glaubens ein, der zugleich das Moment eines gewissen Unbehagens ist, das Jacobi insbesondere bei der Vorstellung von unendlicher Dauer empfindet. Das Unbehagen entsteht nicht durch die immense, unbestimmte Weite dieser spekulativen Vorstellung, sondern aufgrund der Tatsache, dass in ihr alles zu einem Nichts wird. Um im Idealismus etwas erkennen zu können, muss man es zunächst in etwas Vorstellbares verwandeln: Man muss die Sache selbst zerstören, sie zu einem Nichts machen, und an ihre Stelle die Vorstellung im Begriff setzen. Folgt man Jacobi, so führt eine solche rationale Begründung in eine in sich geschlossene Metaphysik der Immanenz, die die persönliche Freiheit ausschließt. Zur Verteidigung der Freiheit führt er die Praxis des Salto mortale ein, – das ist ein Sprung aus dem Fatalismus des menschlichen Handelns, wodurch sich dieses der rationalen Auffassung blind unterwirft und „gegen alles, was mit ihm verknüpft ist“ stellt (JWA I/1, 20).

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I. Zwischen Verstand und Vernunft „Es ist allgemein bekannt […],“ (JWA III, 157) beginnt Jacobi den Vorbericht zur zweiten Auflage seiner Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811). Dieses Allgemein-Bekanntsein prägt die Rezeption seiner Werke bei Zeitgenossen und späteren Denkern wesentlich, da es häufig die Grundlage für seine Beurteilung bildete. Allgemein bekannt ist in diesem Zusammenhang auch, dass Jacobi Folgendes voraussetzt: „Alle menschliche Erkenntniß gehe aus von Offenbarung und Glauben“ (JWA II/1, 375). Diese einfache Position, die man ohne Vorbehalt als fromm bezeichnen kann, ist nicht nur deshalb radikal, weil sie dem aufklärerischen Denken der Zeit fundamental widerspricht, sondern auch, weil seine Argumentation eine deut­ liche Abweichung von den theologischen Interpretationen der Zeit darstellt.1 Doch die Reaktion ist eindeutig: Jacobi wird als der größte „Vernunftfeind […], ein Prediger des blinden Glaubens, ein Verächter der Wissenschaft und zumahl der Philosophie, ein Schwärmer, ein Papist“ (JWA II/1, 375) bezeichnet. Diese Vorwürfe werden nicht etwa von einem seiner zahlreichen Kritiker erhoben, sondern von ihm selbst, und zwar gerade in Verhöhnung jener Kritiker, die gerne auf eine verallgemeinernde Darstellung seiner Philosophie zurückgreifen.2 Angesichts dieser Kritik räumt Jacobi selbst die Möglichkeit eines Irrtums ein, vor allem, wenn es sich um Überzeugungen handelt, die er in jungen Jahren herausgebildet hat. Dies gilt insbesondere für seine Überlegungen zur Vernunft. So sucht man beispielsweise in seinem Spinoza-Büchlein3 vergeblich nach einer klaren Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, die er erst später in David Hume über den Glauben (1787) vornimmt. Hier sagt er, dass es nicht schwer ist, den Verstand an ein Tier anzupassen, während niemand jemals von einem vernünftigen Tier gehört habe, da die Vernunft 1  Jacobi behauptet weder, dass er an einen persönlichen Gott glaubt, noch, dass die Welt eine Ursache hat, sondern: „Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt“ (JWA I/1, 20). Sandkaulen hat diese Aussage geschickt umformuliert: „Die Realität einer schöpferischen Ursache der Welt bezeugt sich im Vollzug meines Denkens und Handelns“. Birgit Sandkaulen, Jacobis Philosophie – Über den Wiederspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, 36. Diese Ansicht ergibt sich notwendigerweise aus einer rein rationalen Erklärung der Welt und ist nicht einfach ein Ausdruck des Glaubens im klassischen Sinne. 2  Eine praktisch identische, sarkastische Bemerkung findet sich in der Vorrede von Allwill: „Also schon als Knabe war der Mann ein Schwärmer, ein Phantast, ein Mystiker – oder welches ist der rechte Name unter so vielen, die ich, mit ihren Sorgfältigen Definitionen, in so mancherley neueren Schriften gefunden und nicht behalten habe“ (JWA VI/1, 89). 3  Gemeint ist die Schrift: Über die Lehre des Spinoza (1785), für die wir die Bezeichnung Spinoza-Büchlein von Matthias Claudius verwenden.



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„[d]as Organ der Vernehmung des Uebersinnlichen“ (JWA II/1, 377) voraussetzt. Es ist wichtig festzuhalten, dass Jacobi die Vernunft in einem neuen begrifflichen Rahmen konzipiert, der auf einer Kritik der Reflexionsphilosophie beruht. Folgt man Jacobi, so muss die Vernunft also als „Vernehmen des Übersinnlichen“ verstanden werden. Während es sich bei Kants Erörterung des Übersinnlichen um die Postulate der reinen praktischen Vernunft handelt, nämlich um Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, geht es bei Jacobi um die Verständnisweisen von Gott,4 Freiheit und Tugend, und auch vom Wahren, Schönen und Guten. In dieser Grundkonstellation seines Denkens ist aber eigentlich die Freiheit, wie er selbst sagt, „dieser Fundamental-Artikel meiner Lehre“.5 Im Unterschied zu Fichtes erkennendem Selbstbewusstsein, das nur das leere Nichts hervorbringen kann,6 ist Freiheit für Jacobi eine schöpferische Tätigkeit, die unmittelbar mit der göttlichen Macht verbunden ist. In dieser Überschneidung von Menschlichem und Göttlichem erkennt Jacobi das Freiheitspotential der geistigen Produktion, das vor allem in den Werken der Kunst, der Technik und der Politik zur Geltung kommt. Und an diese Kapazität der schöpferischen Freiheit muss man religiös glauben, weil wir alle in den Glauben an unsere Freiheit hineingeboren sind. Da für ihn jede Philosophie nur eine Philosophie der Freiheit sein kann, hat dies auch Auswirkungen auf das Verhältnis zur Vernunft. Dieses Verhältnis ist wesentlich, weil der Verstand im Gegensatz zur Vernunft nur aus der rationalen Konsistenz und Notwendigkeit hervorgehen kann, in der mechanische Zusammenhänge die Welt beherrschen. Der Grund dafür, dass die klassische Abgrenzung zwischen Vernunft und Verstand bei Jacobi nicht zu finden ist, liegt darüber hinaus in seiner spezifischen Behandlung der tätigkeitsbezogenen Vernunft. Diese Behandlung kann als Kritik bezeichnet werden, die er in Anlehnung an und in Opposition zu Kant vollzieht. Mit ihm erhält die Vernunft eine Dimension sui generis, die über den Verstand hinausgeht, zugleich aber auf den Verstand hin konzipiert und durch dessen Kapazität bestimmt ist. Was Jacobi unter Vernunft versteht, lässt sich in seiner berühmten Frage zusammenfassen: „[H]at der Mensch Vernunft oder hat Vernunft den Menschen?“ (JWA I/1, 259) Dieses distinkte duale Verständnis von Vernunft macht deutlich, dass sein Grundprinzip nicht durch irrationale Vorge4  Gott kann im Übrigen weder eine Vernunft noch ein Organ zugeschrieben werden. Er existiert völlig unabhängig im Sich-Sein und Von-sich-Wissen; er ist der reine allerhöchste Verstand. 5  Friedrich Heinrich Jacobi, Auserlesener Briefwechsel, Bd. 2, Bern 1970, 463. 6  Die Frage ist allerdings, was für ein Nichts gelten wird, denn auch Jacobi versteht seine Philosophie als Philosophie des Nicht-Wissens. Deshalb dreht sich die allgemeine Diskussion um das Problem der richtigen Bestimmung dessen, was eigentlich das Nichts sei.

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hensweisen bedingt ist, sondern dass Jacobi vielmehr in der Vernunft selbst eine praktische Dimension erkennt, die von den Denkern seiner Zeit oft übersehen wird. Um die Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand zu verdeutlichen, können wir Hegels Erläuterung dieser Beziehung heranziehen. Für Hegel sind Vernunft und Verstand eng miteinander verbunden. Es handelt sich also nicht um eine Unterscheidung auf inhaltlicher Ebene, wo das eine Vermögen Zugang zu den Dingen an sich hat und das andere zur phänomenalen Welt. Vernunft ist eigentlich nur der Name für das Beharren auf dem Verstand selbst, wie Hegel in der Differenzschrift formuliert, „die Vernunft erkennt das Absolute auch in dem, was den Äußerungen des allgemeinen menschlichen Verstands zugrunde liegt“ (TWA 2, 31). Das bedeutet jedoch nicht, dass der Verstand einfach über Bord geworfen werden soll. Ganz im Gegenteil. Es ist notwendig, die Sprache des Verstandes zu wählen, aber dabei die Tendenz aufzugeben, dass es etwas jenseits des Verstandes gibt. Und es ist diese kleine, aber entscheidende Rolle, die die Vernunft hat, nämlich, bis zum bitteren Ende im Nichts dem Verstand verpflichtet zu bleiben und dieses Nichts auch zu denken. Die Vernunft ist also nicht ein freischwebender Begriff über den Köpfen der Idealisten, sondern sie ist, wie Jacobi im Rückblick klar erkennt, das, was wirklich und wahrhaftig ist. Deshalb argumentiert Jacobi zu Recht, dass Vernunft „das Vermögen der Voraussetzung des an sich Wahren, Guten und Schönen“ ist (JWA II/1, 378). Trotz eines solchen Arguments zugunsten der Vernunft beschließt Jacobi, die Vernunft zu untergraben und sich stattdessen auf die Kraft des Glaubens zu verlassen. Dies macht er ganz im Sinne des berühmten Komödianten Epicharmos, auf den die Inschrift „sei nüchtern und übe Mißtrauen, das sind des Geistes Gelenke“ (JWA II/1, 7)7 zu Beginn des Buches David Hume über den Glauben zurückgeht.

II. Die Wahrheit des Glaubens Es handelt sich hier um einen bekannten Standpunkt, der kaum noch Aufmerksamkeit erregt, aber um der Klarheit willen werden wir trotzdem ein paar Worte dazu sagen. Es ist jedoch wichtig sich vor Augen zu führen, dass wir Jacobi nicht nur dabei begleiten, wie er nach Irrtümern im Denken sucht, sondern wie er durch das Denken nach einem Ausweg aus dem Dogmatismus (Behauptung der Wahrheit) des Denkens sucht. Dies kommt in der Allumfassendheit und Notwendigkeit des Denkens zum Ausdruck, wodurch der Verstand seine Herrschaft manifestiert. Die Herrschaft selbst verwirklicht 7  Nαφε,

και μιμνας άπιστειν, άρθρα ταυτα των φρενων.



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sich durch mechanische Gewalt als Reich Gottes. Diese Form des Geistes kann für Jacobi nur die sogenannte unvernünftige Vernunft sein, deren einzige Möglichkeit er jedoch in der Überwindung (mechanistische Rationalität) und im Festhalten an einen individuell ausgeübten Glauben sieht. Das deutlichste Bekenntnis zum Glauben findet sich im bereits erwähnten SpinozaBüchlein. Darin lässt er keinen Zweifel aufkommen, wenn er schreibt: „Das Element aller menschlichen Erkenntniß und Würksamkeit, ist Glaube“ (JWA I/1, 125). Kurzum, da die Vernunft unfähig ist, das Absolute zu erkennen und daher nach einem Nichts greift, muss eine andere Form der Erkenntnis eingeführt werden. Im Streit um die Bedeutung Spinozas für den philosophischen Geist der Zeit steht ihm vor allem Mendelssohn mit seinem aufklärerischen Glauben an die Notwendigkeit der Bewahrung der Verstandeserkenntnis gegenüber, wobei Denken und Begreifen bei Jacobi ihre Funktion behalten müssen: [W]as ich als wahr nicht denken kann, macht mich, als Zweifel, nicht unruhig. Eine Frage, die ich nicht begreife, kann ich auch nicht beantworten; ist für mich so gut, als keine Frage. (JWA I/1, 176)

Das unbedingte Vertrauen der Aufklärung in die Vernunft bedeutet, dass nur das wahr und möglich ist, was Ausdruck der Vernunft ist. Obwohl alle Menschen praktisch mit Vernunft begabt sind, können wir, weil wir endlich sind, nicht „die Würklichkeit auf das allervollkommenste, als würklich“8 denken. Wir können dies nur mit unserer Vernunft realisieren. Aber nach Jacobi ist eine solche absolute Reinheit einer Vernunft, die sich rein selbst bestimmt, „geschaffenen Wesen unmöglich“ (JWA II/1, 94). Einen Ausnahmefall bildet für ihn Gott, der als absolut reine Persönlichkeit erscheint. Für ihn wird Gott nicht als unpersönliches Wesen dargestellt, sondern äußert sich durch die Freude, die wir in freien Handlungen empfinden. Die „Vernunft […] offenbaret Freyheit, indem sie Vorsehung offenbaret“ (JWA I/1, 341), weshalb es notwendig zu verstehen ist, dass Jacobis Vernunft nicht die Vernunft der Demonstration und des Beweises ist, sondern „Vernunft als Vernehmen“ (JWA II/1, 201). Vernehmen ist also freies Handeln nur als Vernehmen von sich selbst, wobei es sich bereits um das Erfassen Gottes handelt, aber „ein[es] Gott[es], der ein Geist ist“ (JWA I/1, 167). Wir stehen also vor der Wahl, uns entweder für ein absolutes Bekenntnis zur Macht des gesunden Menschenverstandes zu entscheiden, damit aber auch den Verstand akzeptieren, den Hegel als trocken und tot charakterisiert hat, oder wir können Jacobi folgen und es wagen, „einen Sprung in das Leere zu thun, dahin uns die Vernunft nicht folgen kann“ (JWA I/1, 178). So jedenfalls fasst Mendelssohn die Haltung von Jacobi im Spinoza-Büchlein auf. Nun sieht es so aus, dass 8  Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. III/2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 143.

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wir, wenn wir Jacobis sogenannte Glaubensphilosophie akzeptieren, auch die Empfehlung des „unbedingten blinden Glaubens“ annehmen müssen, wie es der Aufklärer Friedrich Nicolai formuliert.9 Aber hier stellt sich heraus, dass die Person, die hinter den Aussagen über den blinden Glauben steht, selbst ein blind Gläubiger zu sein scheint. Wenn, wie Jacobi sagt, „jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft vom ihm allein empfangen“ (JWA I/1, 116). Trotz einer langen Tradition, die das Gegenteil behauptet, fällt es schwer, Jacobi, das Etikett des Dogmatismus, des Fideismus und des Mystizismus unterzuschieben, mit dem er sich in die Arme Gottes wirft. Die von Jacobi vertretene Glaubensphilosophie ist in der Tat weit entfernt von den verallgemeinernden Vorstellungen, die (zu) lange mit ihr verwachsen waren. Schauen wir uns deshalb die vieldiskutierte Idee des Glaubens genauer an. Jacobi macht den Glauben zum Prinzip unseres Handelns, und zwar nicht als eine besondere irrationale Vorstellungsordnung, die die Wirklichkeit unmittelbarer erfassen würde, sondern als einen konkreten Ausweg aus der Notlage, die dadurch entsteht, dass der Verstand an seine eigenen Grenzen stößt. Jacobi versteht den Verstand als eine Form der Erkenntnis von Verhältnissen, die auch dazu tendiert, wirklich existierende Dinge und Eigenschaften zu erkennen. Die Gewissheit einer solchen Erkenntnis wird immer fraglich bleiben, selbst wenn wir uns auf die Ursache in uns, auf das Gefühl des Körpers berufen. Denn dies führt uns allenfalls zu einer unmittelbaren Gewissheit unserer eigenen Existenz, aufgrund derer wir nur sagen können, dass die Dinge außerhalb von uns zu sein scheinen. Da das Erkenntnisvermögen versagt, wendet man sich dem Glauben als einer blinden Gewissheit über die Wirklichkeit der Dinge zu. Für Jacobi ist der Verstand, wie er von der Aufklärung aufgefasst wird, voller Widersprüche. Besonders fatal ist dabei die Kritik am mechanischen 9  Der Vorwurf des „unbedingten blinden Glaubens“ ist eine dichte Folge philosophisch-theologischer Streitsachen über die angebliche Bedrohung der Aufklärung durch den Kryptokatholizismus, der in Wirklichkeit eher Ausdruck von persönlichen Kränkungen als einer wirklichen Verschwörung ist. Hinter dem Phantom des Katholizismus soll die große Verschwörung gegen den Protestantismus, wie ihn der Kreis um den Aufklärer Friedrich Nicolai nannte, im Kampf gegen die so genannte Rekatholisierung des deutschen Gemeinwesens, die sie in der zunehmenden Verwendung der protestantischen Kirchen der Zeit für die (mystischen) Riten der Katholiken und ihrer Opposition gegen den aufklärerischen Protestantismus der Klarheit und Durchsichtigkeit des Verstandes erkannten. Darauf bezieht sich Jacobi in seinem Buch David Hume über den Glauben, wenn er auf die Vorläufige Darstellung des heutigen Jesuitismus (1786) eines anonymen Autors aus dem Kreis Nicolais verweist. Zur Kontroverse um den Kryptokatholizismus, vgl. editorischer Anhang „Zum Streit um Jesuitismus und Kryptokatholizismus“ in: JWA V/2.



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Charakter10 des Verstandes, dem Jacobi selbst eine auf dem tätigen Vermögen der Seele beruhende Erkenntnismöglichkeit gegenüberstellt. Dazu kommt die Tatsache, dass er diesen Charakter in einer darstellenden Weise erkennt, wodurch der Verstand das gesuchte Ding eliminiert und es in ein darstellendes Nichts verwandelt.11 Obwohl Jacobi methodisch recht konsequent auf die Schwachstellen der aufklärerischen Vernunft hinweist, hat er sich dafür dennoch mancher unklaren Begriffe oder Definitionen bedient. Besonders deutlich wird dies am Begriff des Glaubens. Mit dem Glauben, von dem Jacobi sagt, er sei „ein Ausdruck, den jedermann im gemeinen Leben versteht“ (JWA II/1, 30), führt er nicht das Postulat ein, auf dem sein System stehen sollte, sondern, wie bereits erwähnt führt er den Glauben an der Stelle ein, wo der Verstand nicht mehr in seinem eigenen Geschäft bestehen kann. Wir werden auf dieses Thema noch einmal zurückkommen. Diese, wie seine anderen Ideen, sind natürlich nicht unbemerkt geblieben. Über die unangemessenen Interpretationen von Jacobis Gedanken ist bereits viel geschrieben worden.12 Gleichzeitig erweisen sich seine Kritiken als wesentlich, da sie die idealistischen Denker dazu veranlassten, ihre eigenen philosophischen Grundlagen immer wieder zu überdenken. Wir können daher behaupten, dass sein Einfluss auf die Entstehung des Deutschen Idealismus, insbesondere seine Ansichten und Schlussfolgerungen, die er im SpinozaBüchlein dargelegt hat, kaum überschätzt werden können. Dieses Werk löste nicht nur eine Widerbelebung Spinozas aus, sondern auch eine ‚Renaissance‘ des Spinozismus selbst und darüber hinaus noch einen Streit, auf den wir an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingehen wollen. Wir werden uns in erster Linie mit Jacobis eigenem Werk und den von ihm vorgenommenen Anpassungen befassen, bei denen er sich stets streng an den wahren philosophischen Geist hält. Die Reaktionen auf Jacobis Aufklärungskritik spiegeln sich zu einem großen Teil in Lessings Fragment Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit wider, das Jacobi in seinem Dialog über Hume erwähnt. Darin verlangt eine unzufriedene Kreatur, ein Maulwurf, nach Augen. Doch sobald 10  Vernunft kann „immer nur Bedingungen des Bedingten, Naturgesetze, Mechanismus zu Tage bringen“ (JWA I/1, 258). Und in einer Fußnote schreibt Jacobi weiter: „Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihren nächsten Ursachen herleiten können“ (JWA I/1, 258). 11  „[D]er Mensch kennt nur indem er begreift; und er begreift nur indem er – ­Sache in bloße Gestalt verwandelnd – Gestalt zur Sache, Sache zu Nichts macht“ (JWA II/1, 201). 12  Birgit Sandkaulen, Jacobis Philosophie – Über den Wiederspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019; Nicole Schumacher, Friedrich Heinrich Jacobi und Blaise Pascal. Einfluss-Wirkung-Weiterführung, Würzburg 2003; Susanna Kahlefeld, Dialektik und Sprung in Jacobis Philosophie, Würzburg 2000.

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er sie bekommt, ruft er widerwillig aus: „Das sind unmöglich Augen!“ (JWA II/1, 15). Dies ist einer der Gründe, warum sich Hegel im Spinozismusstreit auch auf die Seite Jacobis stellt, wobei er den Gegnern „Flachheit der philosophischen Einsicht“, „Ignoranz“ und sogar „Unwissenheit“ vorwarf (TWA 20, 316), weil sie von der Wolffschen Philosophie befangen seien. Hegel stellt dabei eine interessante Verbindung zwischen Jacobi und Kant her. Wie nahe sich Jacobi und Kant stehen, lässt sich in ihrem Umgang mit Gott erkennen. In der Philosophie Kants ist Gott das Postulat der praktischen Vernunft, an welches so Hegel, wir nur glauben können.13 Die praktische Vernunft hat einen Zweck, welcher das Gute ist, das auch in der Welt und durch die Welt (durch das Rechtliche, Sittliche, durch das menschliche Leben, das Staatsleben usw.) verwirklicht werden muss. Diese Forderung gegenüber der Welt ist eine Forderung des Verstandes und damit die abstrakte Vorstellung dessen, wozu der Mensch – in begrenztem Umfang – in jeder seiner Handlungen fähig ist. Um das allgemeine Gute zu begründen, müssen wir nach Kant eine Identität des Guten mit der Wirklichkeit herstellen, wozu wir eine dritte Macht benötigen – nämlich Gott. Allerdings, „Beweisen lasse es sich nicht, daß Gott sei. Es sei aber die Forderung“ (TWA 20, 382). Gott manifestiert sich also gleichzeitig als etwas Drittes und definiert sich als etwas Erstes. Und in diesem Verhältnis zu Gott reichen sich Kant und Jacobi praktisch die Hand. Allerdings ziehen sie daraus diametral entgegengesetzte Schlüsse. Hegel fasst ihre Beziehung daher wie folgt zusammen: „Bei Kant ist also das Resultat: Wir erkennen nur Erscheinungen; bei Jacobi dagegen: Wir erkennen nur Endliches und Bedingtes“ (TWA 20, 384). Jacobi ist demnach nicht weit von den Grundgedanken des Deutschen Idealismus entfernt. Er verfolgt sogar dasselbe Prinzip, nämlich das Denken zu betrachten. In gewisser Weise ist gerade sein Spinoza-Büchlein die Schrift, die zusammen mit der Kritik der reinen Vernunft Ereignisse auslöst, die der Philosophie die Tür zur Moderne öffnen. Es ist daher wenig überraschend, dass Hegel ihn an die Seite Kants stellt. Jacobi selbst erkennt schon sehr früh (in den Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natür­ lichen Theologie und Moral, 1764) die „Winke und Aufschlüsse“ (JWA II/1, 42) bei Kant, die zur Entwicklung von Jacobis Philosophie beitragen.14 Dennoch besteht keine vernünftige Verbindung zwischen Jacobi und Kant, 13  Vgl. dazu Kants Kritik der Urteilskraft: „Das Fürwahrhalten aber in Glaubenssachen ist ein Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht, d. i. ein moralischer Glaube, der nichts für das theoretische, sondern bloß für das praktische, auf Befolgung seiner Pflichten gerichtete“ (AA V, 470). 14  Es handelt sich um die Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1763 Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften, zu der sowohl Kant als auch Mendelssohn beitragen. Obwohl Mendelssohn sich erfolgreich gegen Kant durchsetzt, überrascht es nicht, dass Jacobi davon nicht sehr überzeugt ist.



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denn so wie Jacobi Spinoza gegen Spinoza liest, so auch Kant gegen Kant bzw. die spekulative Metaphysik gegen den spekulativen Idealismus. Obwohl es bei Jacobi nicht an spekulativen Wendungen mangelt, die er selbst mehr oder weniger ernst nimmt, findet sich ein besonders konsequentes Beispiel für diesen Einsatz der Vernunft gegen die Vernunft in der zweiten Auflage des Spinoza-Büchlein. Da nimmt er die Kantische Vernunft als Prinzip der Erkenntnis überhaupt und stellt unter anderem eine recht einfache Frage, die nicht ganz unschuldig ist. Ausgehend von der Prämisse, dass wir der Vernunft nicht entkommen können (er verwendet hier Vernunft als Verstand), macht er sich Gedanken darüber, was mit unvernünftigen Dingen zu tun sei. Da wir endliche und begrenzte Wesen sind, stellt sich für ihn die Frage, wodurch etwas Unvernünftiges entsteht, durch die Vernunft selbst oder durch den Menschen, der Vernunft hat? Von da aus war es nur noch ein Schritt zu Jacobis bereits erwähnter Frage: „hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“ (JWA I/1, 259). Die Frage zeigt, wie sich die Kausalität der Vernunft gegen ihre Träger entwickelt und eröffnet die Möglichkeit der Kontingenz. Wie bereits erwähnt, funktioniert der Verstand nach dem Prinzip des Mechanismus, der dafür sorgt, dass wir begreifen können, aber nur solange eine Kette bedingter Bedingungen vorhanden ist. Auf dieser Annahme des Mechanismus beruht auch die These, dass jede Philosophie, sofern sie konsistent ist, d. h. eine Notwendigkeit aufzeigt, ein Spinozismus ist.15 Sobald „diese Kette aufhört, da hören wir auf zu begreifen“ (TWA 20, 288). Alles, was außerhalb dieser Gewissheit des Bedingten, der natürlichen Vermittlung liegt – d. h. das Erkennen des Übernatürlichen, kann nur als „Tatsache – Es ist!“ (TWA 20, 289) existieren.

III. Salto mortale in die Ungewissheit der Nacht Wie wir schon mehrmals festgestellt haben, sind bei Jacobi die Prinzipien und Gründe des Verstandes in letzter Instanz durch den Glauben bedingt. Was sich nicht eindeutig beweisen lässt, fällt bei ihm in die Kategorie des bloßen Glaubens. Damit ist aber nicht der Glaube im Sinne des Vertrauens in die Wirklichkeit von etwas aufgrund eigener Überlegungen gemeint, sondern es ist das Gefühl, das „die Gültigkeit der sinnlichen Evidenz“ (JWA II/1, 20) rechtfertigt. Dass sich uns etwas als äußerlich darstellt, ist nicht schwer zu akzeptieren, dass es tatsächlich äußerlich ist, dass es sich auf an sich existierende Wesen bezieht, ist freilich eine zu Recht zweifelhafte Voraussetzung. 15  „Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihrer nächsten Ursache herleiten können, oder ihre unmittelbaren Bedingungen der Reihe nach einsehen: was wir auf diese Weise einsehen, oder herleiten können, stellt uns einen mechanischen Zusammenhang dar“ (JWA I/1, 258).

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Wir stoßen schnell auf das Problem des schmalen Grats zwischen Glauben, Fantasie, blinder Gewissheit und Spekulation. Im Gegensatz zur Spekulation des Verstandes, der die bloßen Bestimmungen seines eigenen Selbst reflektiert, werden in Jacobis Realismus die Objekte durch die Sinne enthüllt. Die Beweise für ihre Existenz mögen noch so schwach sein, da wir uns scheinbar nur auf unsere Ideen und Begriffe verlassen, es ist dennoch die Offenbarung, die nach Jacobi das notwendige Minimum an Gewissheit bietet, das anderen willkürlichen Vorstellungsvermögen (Fantasie, Spekulation usw.) fehlt. Jacobi schließt daraus, dass die Offenbarung der Gegenstände auf wahrhaft wundersame Weise geschieht, weil sie als Faktum vorhanden sind, das sie in der natürlichen Welt verankert. Eine sehr gewagte Prämisse, derer sich Jacobi auch bewusst ist, denn er bleibt die Antwort schuldig, wenn es heißt, „in wie fern, vernünftiger Weise, dem Bericht unserer Sinne glauben dürfen oder nicht“ (JWA II/1, 34). Auf jeden Fall zeigt sie klar jene Grenzen auf, innerhalb derer die Philosophie ihr Arbeitsfeld hat. Es gibt unwiderlegbare Grenzen des Verstandes, die nur auf der Grundlage einer gewissen unmittelbaren Glaubensgewissheit verstanden und angenommen werden können (die Frühromantiker haben dies als Mystizismus bzw. später als Schwärmerei oder Enthusiasmus bezeichnet), und das erfordert einen logischen „Übersprung von Begriffen zum Undenkbaren.“16 Mit dieser Bemerkung ist der Vorwurf verbunden, Jacobi sei „ein Gegner der bisherigen rationalistischen Systeme der Philosophie und das des Spinoza insbesondere.“17 Oder noch plastischer formuliert von Friedrich Schlegel, der in Jacobis Philosophie einen „unversöhnlichen Haß gegen die philosophierende Vernunft“ findet (KFSA 2, 72). Ebenso gibt es auch einen Vorwurf, den er zeit seines Lebens behalten sollte, nämlich dass er mit dem transzendentalen Idealismus kokettiere, wozu Kant selbst durch seine Anerkennung Jacobis beigetragen habe. In den Augen seiner Kritiker stützte er seine eigene Philosophie auf einen unbedingten, blinden Glauben, der sowohl den Verstand als auch die Religion (1) der Maxime der menschlichen Autorität und (2) dem Empirismus, in dem es nur eine Ordnung der bedingten Dinge gibt, unterwirft. Der einzige Ausweg aus dieser Unbestimmtheit, sowohl für die Kritiker als auch aus seiner eigenen Sicht, ist der Salto mortale in den Glauben. An diesem Punkt, an dem er den Sprung vom Verstand zur Unvernunft vollzieht, steht er eigentlich vor einem grundlegenden Kantischen Rätsel, denn er soll auf dem philosophischen Weg gestolpert und erst auf halbem 16  Immanuel Kant, „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“, in: AA VIII, 398. 17  Detlev Pätzold, „Die Vernunft und das Absolute“, in: Hans J. Sandkühler (Hg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart/Weimar 2005, 25 f.



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Wege angekommen sein. Es fehlt jedoch die Vernunft „nicht nur zu verstehen, sondern dieses begriffliche Verständnis für den Umgang der Vernunft mit ihren Gegenständen produktiv zu machen“.18 Kant besitzt diese schöpferische Dimension der Vernunft nicht, sondern vermittelt sie als Buchstaben. Jacobi scheint mit seinem Glaubenssprung einen vielleicht nicht eleganten, aber legitimen Ausweg aus der Verstandesrationalität gefunden zu haben. Doch schon Schlegel weist darauf hin, dass ein solcher Sprung zwar notwendig ist, aber nicht bedeutet, dass er den ursprünglichen Zweck auch verwirklicht: „Jacobi kennt den Idealismus nicht, weil er nicht einsieht, dass der willkürliche Sprung zugleich ein notwendiges Aus-sich-herausgehen der Philosophie ist, was allemal ein In-sich-zurückgehen zur Folge haben muss“ (KFSA 18, 358). Obwohl er vom Standpunkt des Verstandes aus auf das Jenseits (auf die Vernunft) zielt, findet er sich dort wieder, wo er angefangen hat, nämlich in den Verstandesbegriffen eingebettet, aber auf den Kopf gestellt. Um zu vermeiden, dass alle festen Dinge auf den Kopf gestellt werden und ihre dialektische Rückseite zeigen, was Jacobi ernsthafte Unannehmlichkeiten bereitet (wir werden am Ende darauf zurückkommen), greift er auf die Unmittelbarkeit des Gefühls zurück, die er, wie bereits erwähnt, die Gewissheit des Glaubens nennt. In Woldemar charakterisiert Jacobi eine solche sinnliche Gewissheit als „unmittelbares Wissen“ (JWA VII/1, 270), die nicht nur impliziert, dass es, wie bereits erwähnt, äußere Körper gibt, sondern auch, dass wir uns selbst in unserem eigenen Körper haben. Diese Dimension der Gewissheit, auch wenn sie oft kritisiert wird, war ein wichtiges Element in der Entwicklung des Deutschen Idealismus. Bekanntlich hat Hegel dieser Bewusstseinsgestalt eine Schlüsselrolle in der Phänomenologie des Geistes zugewiesen, wo er sie unter der Kategorie der „sinnlichen Gewissheit“ thematisiert (TWA 3, 82) und paradigmatisch in dem Satz „Das Jetzt ist die Nacht“ (TWA 3, 84) formuliert.19 Da Jacobi einen wichtigen Einfluss auf Hegels Darstellung dieser Bewusstseinsfigur hat, wollen wir uns an dieser Stelle kurz damit befassen. Hegel gründet sein phänomenologisches System auf der Prämisse, dass es 18  Andreas Arndt, „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Walter Jaeschke, Birgit Sandkaulen (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, 132. 19  Sinnliche Gewissheit bezeichnet Hegel mit verschiedenen Bezeichnungen, die vieles über die Gestalt des Bewusstseins determinieren. So spricht er in der Philosophischen Propädeutik (TWA 4, 111) von „sinnlichem Bewusstsein“ (im Gegensatz zu „wahrnehmendem Bewusstsein“). An einigen Stellen wird es auch als „gemeines Bewusstsein“ (TWA 19, 374 f.) und als „ungebildeten Standpunkt des Individuums“ bezeichnet (TWA 3, 31).

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eine subjektiv gültige Begründung des Wissens gibt, die es jedem ermöglicht, sich zu einer Position zu erheben, in der sich ein der Menschheit innewohnender Anspruch auf Wissen als gültig behaupten kann. Um dies zu erreichen, muss er jedoch zunächst den fundamentalsten, von Jacobi stammenden Einspruch gegen die Fähigkeit der Vernunft, das Wahre zu erkennen, entkräften. Deswegen muss er dafür am Anfang der sinnlichen Gewissheit einen Platz verschaffen, auch wenn sie die ärmste Gestalt des Bewusstseins ist. Zunächst, bevor sie ihren Weg hinaus antritt, verhält sie sich als „die reichste Erkenntnis, als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum“, die „von dem Gegenstande noch nichts weggelassen hat“ (TWA 3, 82). Auch wenn es verlockend erscheint, diese Position des Bewusstseins in ihrer Naivität unangetastet zu lassen, erweist es sich, wenn wir ihre eigenen Voraussetzungen annehmen, als unmöglich, diese Position rein immanent nachweisen zu können. Die Art und Weise der alltäglichen Weltzuwendung als Selbstbewusstsein hängt allerdings für Hegel tatsächlich von einem bestimmten, gegebenen Anderssein der Gegenstände ab, da es immer das Moment des empirischen Bewusstseins einschließt und „die ganze Ausbreitung der sinnlichen Welt“ erhält (TWA 3, 138). Die daraus resultierende Kritik würde auch für Jacobi gelten, wenn er sich auf diese Prämissen der sinnlichen Gewissheit festgelegt hätte. Jacobi betrachtet den Reichtum der sinnlichen Gewissheit als die positive Seite unserer Erkenntnis und erkennt in ihr einen wichtigen Abwehrmechanismus, der uns davor bewahrt, in eine Welt der Träumereien und leeren Illusionen zu verfallen. Aus dieser Sicht ist das zwar wahr, aber dabei wird nicht berücksichtigt, dass die sinnliche Gewissheit nur dann als eine Position des Bewusstseins gelten kann, wenn sie vorausgesetzt ist. Hegel bestimmt für unser erkennendes Bewusstsein eindeutig das reine „Zusehen“, aber es stellt sich heraus, dass jede Betrachtung der Sache „[schon] unsere Zutat“ ist (TWA 3, 79). Wir sind diejenigen, die die Entwicklungen des Bewusstseins beobachten und uns ihrer Entwicklung entsprechend bestimmen, aber auch auf bestimmte Dinge „aufmerksam machen“ (TWA 3, 88). Sinnliche Gewissheit in reiner Form gibt es nach Hegel zwar nicht, „es gibt nur ein Beispiel“ davon, aber es gibt sehr wohl „zeitgenössische und vorhergehende philosophische Strömungen, mit denen die Diskussion über solches Bewusstsein von Nöten erschien“.20 Es ist nicht eigentlich vorfindlich, sondern ein geschaffenes, aber notwendiges Bild des Bewusstseins, denn die Entfaltung des Selbstbewusstseins erfordert einen Anfang. Deshalb wird dieses Bild als vorphilosophisches aufgefasst, als ein Gedankenexperiment, das aber an den allgemein bekannten Ausgangspunkt des Glaubens in Jacobis Philosophie anknüpft, 20  Johannes

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Heinrichs, Die Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘, Bonn 1983,



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wobei es selbst zu übersehen scheint, dass diese Reinheit der Sinne bereits durch die zahllosen Interventionen des Verstands verschmiert wurde. Hegel macht dies noch deutlicher, wenn er sagt, dass „das, was wir jetzt unmittelbar wissen, […] ein Resultat von unendlich vielen Vermittlungen“ ist (TWA 20, 328). Um dies zu verdeutlichen, führt er ein einfaches Beispiel an: Stehe ich in Amerika und sehe den Boden, so musste ich erst hinreisen, Columbus musste es erst entdecken, Schiffe mussten gebaut werden usf.; alle diese Erfindungen gehören dazu. (TWA 20, 328)

Für Hegel ist deshalb der Mensch, der sich im Zustand der unmittelbaren Gewissheit befindet, „ein Mensch, wie er nicht sein soll“ (TWA 20, 328). Als ein weiteres Beispiel führt er die Kinder, die Eskimos usf. an, die sich nicht über das Natürliche zum Bewusstsein erheben. – Um dieses Bild des Bewusstseins zu erläutern, stützt er sich gleichzeitig auf die Ausdrücke: diese, jetzt, hier usw. Das sind die leersten Zeichen, die bestenfalls unmittelbare Benennungen sind, oder Ausdrücke, die die Form von einer „unmittelbar reinen Beziehung“ haben (TWA 3, 83).

IV. Zum Schluss – der spekulative Schrecken Mit sinnlicher Gewissheit, so scheint Jacobi verstanden zu haben, arbeiten wir also darauf hin, die Gegenstände zu treffen, ohne Begriffe zu verwenden. Das wäre aber eine leere Übung, die uns nicht viel helfen kann. In Wirklichkeit ist Jacobi präziser. Die Arbeit der sinnlichen Gewissheit geht also von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung über, die „die wesentliche Komponente der Gewissheit des sinnlichen Bewusstseins erschüttert“21 und dies ist für unsere Darstellung von Jacobis Gedanken besonders wichtig. In diesem Moment offenbart sich nach Hegel die Wahrheit des Denkens als „Bewegung, Lebendigkeit […] geistige Lebendigkeit“ (TWA 20, 328). Trotz der berechtigten Kritik an seiner primären Sinnesorientierung, die Jacobi nur mit der Autorität des Wortes zu behaupten scheint, wie er selbst zugibt, zeigt sich bei genauerer Betrachtung einmal mehr, dass die betreffende Kritik, mit der Hegel Jacobi charakterisieren soll, nicht ganz zutreffend und damit aber auch nicht ganz fatal ist. In Jacobis Denksystem müssen wir mit der „sinnlichen Empfindung“ anfangen (JWA II/1, 92) und immer wieder darauf zurückgreifen, nicht so sehr um des Bewusstseins willen, sondern, indem wir Eindrücke liefern, die die Herstellung einer rationalen begrifflichen Beziehung unterstützen, die als Mittel zur Unterscheidung und Vereinheitlichung dienen. Und hier zeigt sich die Lebendigkeit von Jacobis Begrif21  Andreas Graeser, „Zu Hegels Portrait der sinnlichen Gewißheit“, in: Otto Pöggeler, Dietmar Köhler (Hg.), G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Berlin 2007, 47.

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fen, die „lebendige Begriffe, die ein lebendiges Wesen, welches in seine Einheit das Mannichfaltige thätig aufnehmen kann, voraussetzen“ (JWA II/1, 90). Auf diesem Weg führt Jacobi auch den Schöpfer in die Wirklichkeit ein, der durch einen „geheime[n] Handgriff“, der Trennung und Vereinigung, „die Welt aus dem Nichts hervorgerufen“ hat (JWA II/1, 91). Daher die Betonung der unermüdlichen Tätigkeit und Beharrlichkeit, denn die „reinste und reichste Empfindung hat die reinste und reichste Vernunft zur Folge“ (JWA II/1, 90). Es zeigt sich, dass Jacobi an der sinnlichen Gewissheit auch deshalb festhielt, weil sie unmittelbar mit dem Göttlichen verbunden ist. Aber sobald der Schöpfer ihm eine in sich unterscheidbare und sich selbst genießende Existenz offenbart, wird er von Schrecken überwältigt.22 Ein solch starker Eindruck, wenn auch in entgegengesetzter Polarität, findet sich bei Jacobi auch beim Gedanken an die Ewigkeit, wo die „vom Menschen selbst in ihm hervorgebrachte blos speculative Vorstellung auf ihn selbst so fürchterlich zurück wirken könne, daß er die Gefahr, sie zu erwecken, mehr scheut, als jede andere Gefahr“ (JWA I/1, 217). Eine recht einfache Erklärung für dieses Unbehagen, das durch die unendliche Dauer in der Welt von Jacobi hervorgerufen wird, hängt mit dem Körper zusammen, der nicht die Eigenschaft der Unendlichkeit hat, sondern immer wieder seine endliche Existenz manifestiert, mit der wir beginnen müssen, was bedeutet, dass unser Verstand durch ihn entsteht. Es scheint, dass wir in Jacobis Welt weniger als einen Schritt brauchen, um von der Erhabenheit Gottes zum Abgrund des Nichts zu gelangen. Die Furcht vor der anderen Welt, einer Welt, die vom Nichts der Wirklichkeit durchdrungen ist, hängt mit seiner Abneigung gegen den transzendentalen Idealismus zusammen, in dem der Verstand die Vernunft aufhebt. Wie bereits erwähnt, ist dies das Moment, in dem der Verstand das Streben nach den Dingen in sich selbst aufgibt und die Nichtigkeit seiner selbst und der Welt akzeptiert. Jacobi gibt allerdings am Ende nicht auf, wenn er das Nichts vor Augen hat, sondern sieht die Nichtigkeit des Verstandes von Anfang an vo­ raus. Doch anstatt die Nichtigkeit zu akzeptieren, bietet er eine Wahl an – Glaube oder Nichts, Gott oder Spinozismus. Natürlich wählt er den Glauben und verwendet ihn als Pflaster für seine existentielle Wunde. Dieses Nichts kehrt jedoch als eine Art affektives Symptom zu ihm zurück, wenn der Schöpfer, wie bereits erwähnt, „die Welt aus dem Nichts herausruft“ (JWA II/1, 91). Man könnte sagen, es findet eine Auferstehung statt. Denn durch das Beharren im Nichts, welches die Partikularität des Verstandes aufhebt, kommt es zu einer Auferstehung des Begriffs. Dieses quälende Leiden im Nichts nennt Hegel in Glauben und Wissen den „spekulativen Karfreitag“ 22  „Ein

Schauer ergreift mich, so oft ich dieses denke“ (JWA II/1, 91).



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(TWA 2, 432).23 Jacobi seinerseits empfand beim Gedanken an die spekulative Vorstellung der Ewigkeit „endloser Fortdauer“ dasselbe Leiden im Nichts des Verstandes (JWA I/1, 216). Anstatt diese Anstrengung des Begriffs zu akzeptieren und darin ein positives Resultat zu sehen, behält Jacobi diese „von allen religiösen Begriffen ganz unabhängige Vorstellung“ (JWA I/1, 216). Diese schreckliche Vorstellung, die er zum ersten Mal im Alter von acht Jahren erlebte, trägt er bis ins hohe Alter mit sich. Die anschaulichste Beschreibung dieser Vorstellung findet sich in seinem Spinoza-Büchlein: Es war […] jenes Sonderbare, eine von allen religiösen Begriffen ganz unabhängige Vorstellung endloser Fortdauer, welche mich in dem angezeigten Alter, bey dem Nachgrübeln über die Ewigkeit a parte ante, unversehens mit einer Klarheit anwandelte, und mit einer Gewalt ergriff, daß ich mit einem lauten Schrey auffuhr, und in eine Art von Ohnmacht sank. Eine sehr natürliche Bewegung zwang mich, sobald ich wieder zu mir selbst kam, dieselbige Vorstellung in mir zu erneuern, und der Erfolg war ein Zustand unausprechlicher Verzweiflung. (JWA I/1, 216)

Dieses Unbehagen begleitet Jacobi sein Leben lang, aber es scheint ihn auch dazu zu veranlassen, der philosophischen Öffentlichkeit jenen entscheidenden Zweifel an der Natur der Vernunft vorzulegen, die die Aufklärung mit leichter Hand zu beseitigen scheint. Jacobi bleibt schließlich bis zu seinen letzten Tagen der Ansicht, dass die bloßen Vorstellungen, die ihm seit seinen frühesten Tagen so viel Unbehagen bereiten, keineswegs das wahre Selbst abbilden können, da die Vernunft mit sich selbst zu vertraut wird und nichts behandelt: Alles außer sich selbst verwandelt sich in Nichts „aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“ (JWA II/1, 202).

23  Die Erfahrung des spekulativen Karfreitags erschüttert das Subjekt, da es sich selbst aufgeben muss: „das absolute Leiden besteht eben im Auslöschen seiner Besonderheit, die sich hinter die Allgemeinheit des Denkens stellen muss.“ Zdravko Kobe, „Die Auferstehung des Begriffs aus dem Geiste des Nihilismus oder Hegels spekulativer Karfreitag“, in: Filozofski vestnik, 26/2, 2005, 127.

Vom „Zulassen menschlicher Freiheit“ Schelling und Jonas über Natur und Gott Michael Hackl (Wien) „Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrtum bezeichnete.“1

I. Einleitung Mit der Aufklärung rückte die menschliche Freiheit immer mehr in den Fokus, sie ermöglicht es, sich von der Fremdbestimmung zu befreien und impliziert die Möglichkeit, die Welt gemäß unseren Vorstellungen zu gestalten. Freiheit ist die Voraussetzung dafür, vernünftige Prinzipien zu begründen und diese zu verwirklichen. Haben wir kein Wissen von der Freiheit, haben wir sie auch nicht. Nur wenn wir Kenntnis von unserer Freiheit haben, können wir sie tätig vollziehen. Aber wann können wir überhaupt von Freiheit sprechen? Immanuel Kant deutet die Freiheit als Bestimmung des Menschen, in Was ist Aufklärung? (1784) wird die Forderung an den Menschen gestellt, sich aus „seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Dieser Akt wird mit „Entschließung und […] Muth […]“ in Verbindung gebracht (AA VIII, 35), aber eigentlich kann die Forderung des sich Entschließens erst gestellt werden, wenn wir Gewissheit von unserer Freiheit haben. Angesichts dessen verwundert Kants Forderung etwas, schließlich hat er wenige Jahre zuvor in der Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft (1781) darauf hingewiesen, dass der theoretische Aufweis der Freiheit, wiewohl auch deren Widerlegung, nicht möglich ist (KrV, B 472–479), sodass er in seinem kurzen Artikel etwas fordert, von dem wir gar kein Wissen haben. Freiheit einzufordern, ohne ihr einsichtig geworden zu sein, ist töricht. Bei diesem Widerspruch beließ es Kant daher nicht, er wendete sich in der etwa ein Jahr nach 1  Johann Wolfgang von Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 16, hg. v. Karl Richter, München/Wien 1986, 7–832, hier: 523.

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der Aufklärungsschrift veröffentlichten Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785) erneut der Frage zu, wie wir unsere Freiheit einsehen können. Nun entfaltet er im Rückgriff auf den Autonomiebegriff den Erweis der Freiheit, so sieht er die Möglichkeit, „durchs moralische Gesetz“, dem Sittengesetz, sich der Freiheit bewusst zu werden: Freiheit „offenbaret“ sich uns in der Formulierung und der Befolgung des Sittengesetztes (AA V, 4). Im Grunde handelt es hierbei um einen phänomenalen Aufweis, der sich aus dem Vollzug des moralischen Gesetzes ergibt. Da es weiterhin an der theoretischen Fundierung des Begriffs mangelte, wurde auch Kritik laut, insbesondere seitens der Vertreter des Deutschen Idealismus, allen voran Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Sie wollten sich nicht mit diesem einseitigen Verständnis zufriedengeben und strebten entsprechend über die kritische Philosophie ­hinaus. Pointiert formuliert Schelling zu Heiligendreikönig 1796 sein Anliegen gegenüber seinem früheren Studienkollegen Hegel, Kant habe lediglich die „Resultate“ der Philosophie gegeben, nun liegt es an uns, die „Prämissen“ zu ergründen.2 Obwohl die Debatte um die Freiheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt der Hirnforschung und damit methodisch den empirischen Wissenschaften überlassen wurde,3 finden wir auch andere, geisteswissenschaftliche Versuche, die Freiheit zu ergründen. Beispielhaft nimmt sich Hans Jonas dieser Aufgabe an und sucht die Freiheit in Beziehung zur Natur zu setzen, geht aber sogleich darüber hinaus und erkennt die metaphysische Dimension dieses Unterfangens; ohne auf sie Bezug zu nehmen, knüpft er an Schellings Kant-Kritik an. Freiheit ist nicht bloß Resultat, sie ist – das wird noch zu zeigen sein – selbst die Prämisse ihrer Verwirklichung. In den letzten Jahren wurde immer mal wieder versucht, die naturphilosophischen Ansätze von Schelling und Jonas ins Gespräch zu bringen, im Folgenden soll vor allem der religionsphilosophische Zugang – vor dem Hintergrund des Freiheitserweises – beleuchtet werden. Mit Blick auf beide Denker soll herausgearbeitet werden, von welchen Perspektiven aus eine Metaphysik der Freiheit möglich ist.

2  Friedrich Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel am 6.1.1796, Gustav Leopold Plitt (Hg.), Aus Schellings Leben. In Briefen, 3 Bde., Leipzig 1869–1870, hier: Bd. 1, 73. 3  Als erster und heute noch bedeutungsvoller Vorstoß in der Hirnforschung hinsichtlich der Freiheitsdebatte gilt: Benjamin Libet, „Do we have a free will?“, in: Journal of Consciousness Studies, 6/8–9, 1999, 47–57. Vgl. Geert Keil, Willensfreiheit und Determinismus, Stuttgart 2018.



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II. Schelling und das Hervorgehen der Freiheit4 Die Kant-Kritik am Freiheitsbegriff prägt im Grunde Schellings ganzes Schaffen, das betrifft sowohl seine frühen Werke als auch sein Spätwerk. Um hier seinem philosophischen Anspruch gerecht zu werden, wird vom Standpunkt der Spätphilosophie aus die Freiheit auf ihre Wirklichkeit als auch ihre Ermöglichungsbedingung hin untersucht. Die Verbindung von Freiheit und organischem Leben ist bereits in den frühen naturphilosophischen Schriften thematisch (vgl. SW II, 342 f.), dabei wird die Ausbildung der Natur hin zur höheren Potenz, zu komplexeren Daseinsformen hervorgehoben. Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) wird die „Ursache des Bildungstriebs in der organischen Natur“ ausführlich diskutiert (SW III, 207). An diesem Punkt wird der von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace formulierten Evolutionstheorie vorausgegriffen, diese wurde übrigens erst nach Schellings Tod öffentlich. Im Unterschied zur Evolutionslehre wird bei Schelling die dynamische Evolution nicht bloß auf das Organische bezogen (SW III, 61), sie setzt schon im Anorganischen ein.5 Der ganze Naturprozess vom Anorganischen zum Organischen ist ein Bildungsprozess. Darum sind nicht die Dinge die „Principien des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Principium der Dinge“ (SW II, 500). Alles, was später hervortritt, muss im Anfang potentiell enthalten sein. Am Anfang des Naturprozesses steht der Materie das Licht, das als „con­ struirende Thätigkeit“ alle Eigenschaften nur ideell in sich trägt (SW IV, 45), entgegen. Schellings Naturphilosophie setzt mit Materie (B) und Licht (A) ein, was bemerkenswert ist, schließlich wird selbst nach heutigem Wissenstand das Licht, als Photon, sowohl für die Entstehung der Materie als auch 4  Die in diesem Kapitel vorgelegten Überlegungen sind eng mit folgenden Beiträgen verbunden: Verf., Freiheit als Prinzip. Schellings absoluter Idealismus der Mitwissenschaft als Antwort auf die metaphysischen und ethischen Problemhorizonte bei Hans Jonas, Vittorio Hösle und Klaus Michael Meyer-Abich, Göttingen 2020, 260–341; Ders., „Schellings ‚neue Seite‘ der Philosophie. Komplementarität von negativer und positiver Philosophie“, in: Christian Danz, Schellings Religionsphilosophie, Stuttgart 2024 (im Druck); Ders., „Mythology and Nature. Schelling’s Expression of Reason“, in: Gregory Moss (Hg.), Mythologizing the Absolute. Studies in the Philosophy of Mythology, Tübingen 2023 (im Druck); Ders., „Mythologie und Tatsachen. Fortschritt des Wissens im Spätwerk Schellings“, in: Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Metaphysik des Konkreten und der Geschichtlichkeit (1821–1854), Hamburg 2024 (im Druck). Auf eine separate Kennzeichnung der verwendeten Abschnitte verzichte ich. 5  Schelling knüpft hier an Aristoteles’ Begriff der „Epigenesis“ an (SW III, 207). Mit diesem Begriff hat Aristoteles lange vor der Evolutionstheorie das Moment der Entwicklung eingeführt. Vgl. Wolfgang Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, bes. 298 ff.

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für die Ausbildung des Lebens als wesentlich angesehen.6 Das Reale (B) und das Ideale (A) sind Schelling zufolge durch die Idee des Absoluten vermittelt. Die Idee des Absoluten ist das alles Sein Durchdringende. Eben darum wird das Licht (A) als durch die Idee (A) vermittelt als A2 gesetzt; es besteht durch das Ideale, selbiges ist auch bei der Materie (B) der Fall, darum wird das Reale als A = B gesetzt. In Relation zum Licht, das der Materie entgegensteht, wird daher von einer relativen Identität gesprochen. Da A2 im relativen Gegensatz zu A=B steht, sind beide Momente als relative Totalität aufzuheben (vgl. SW IV, 149). Die dritte Potenz A3, das Leben, vereint in sich Materie und Licht: Das Absolute entfaltet sich in der Natur als Idee hin zum Leben. Formelhaft wird die Einheit der Potenzen als A3 = (A2 – A = B) beschrieben (SW IV, 205). Das Organische ist dabei weder auf das Mate­rielle noch auf das Ideelle zu reduzieren, es fasst beide Seiten in sich. Da sich die Naturkräfte im organischen Leben als Einheit manifestieren, erfüllt der Naturprozess, das Werden der Welt in A3 seinen Zweck. Der menschliche Geist, die höchste Form organischen Lebens, ist die causa finalis des ganzen Naturprozesses, wobei die erste Potenz, die causa materialis (B, sohin Materie), und die zweite Potenz, die causa efficiens (A, sohin Licht), die Grundlagen für dessen Ausbildung im Organischen bilden.7 Der menschliche Geist ist die causa finalis, die „Finalursache“ des gesamten Prozesses (UPhO, 6), aber seinen Grund hat er gleichermaßen im An­organischen wie im Organischen: zuerst kommt zuerst „der Körper, dann der Geist! Dies ist die natürliche Ordnung“ (UPhO, 685). Mit dem dynamischen Prozess entsteht eine neue Welt, sie hat die alte insofern hinter sich gelassen, als dass in ihr etwas zum Ausdruck kommt, was vorher noch nicht wirklich war, der sich wissende, der freie Geist. Der zu sich kommende Geist war vorher nur der Möglichkeit nach vorhanden, er war unbewusst, noch nicht erwacht. Mit dem Erwachen der Freiheit beginnt eine neue Welt, schließlich gibt es keinen stufenweisen und allmählichen Uebergang von der unorganischen zur organischen Welt. Mit dieser fängt eine ganz neue Welt an. […] Die organische Natur fängt mit dem freigewordenen blinden [Princip] gleich an. […] Da, wo zuerst das blinde Princip sich in der Freiheit sieht, nicht mehr das blind- und bewußtlos Seyende, sondern das seiner selbst bewußte zu seyn, da fängt die organische Natur an. Im Anfang der organischen Natur ist schon das Ende, das Ziel, der Zweck. (SW X, 375 f.) 6  Zum Breit-Wheeler-Effekt vgl. Gregory Breit, John Archibald Wheeler, „Collision of Two Light Quanta“, in: Physical Review, 46/12, 1934, 1087–1091. 7  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. von Horst Fuhrmans, Turin 1972 (im Folgenden: GPPh), 297; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 2 Teilbde., hg. von Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992 (im Folgenden: UPhO), 130 f.



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Im menschlichen Geist finden wir eine über den Naturprozess „hinausgehende[…] Welt“ (SW XI, 400), denn er enthebt sich der Natur. Dies ist ein notwendiger Fortschritt, der Naturprozess will im Menschen zu sich kommen. Als das „höchste Erschaffene“ hat der Schöpfungsprozess mit ihm sein Ende (UPhO, 217): der ganze Schöpfungsprozess zielt auf nichts anderes als auf „ein sukzessives zu sich selbst Kommen, ein sukzessives seiner selbst bewußt Werden“ (UPhO, 126). Mit dem Hervortreten des menschlichen Selbstbewusstseins erwacht die Natur, sie gewinnt einen Begriff von sich. Der Fortschrittsgedanke findet sich nicht erst in der Schellingschen Spätphilosophie, sondern findet sich bei ihm bereits 1806. In Von der Weltseele wird der Fortschritt als das „ewige[…] und unendliche[…] sich-selber-Wollen[…]“ beschrieben (SW II, 362), als „Sehnsucht“, wie es sodann in der Freiheitsschrift (1809) heißt, sich „selbst zu gebären. […] Sie ist daher für sich betrachtet auch Wille“ (SW VII, 359). Die Sehnsucht wird in der Naturphilosophie bloß vom Existierenden aus beschrieben, sie muss dem Wesen nach aber eigentlich die Prämisse für die Ausbildung der Freiheit sein, ohne sie würde es dem sein Könnenden hin zum Erwachen der Freiheit aus der Notwendigkeit ermangeln. Vor diesem Hintergrund fragt Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung, „wenn alles durch Notwendigkeit entstünde, wie sollte da eine Freiheit hervorgehen?“ (UPhO, 215). Da sich die Naturphilosophie in Form einer negativen Philosophie bloß dem Was, dem Existierenden der Welt zuwendet, womit sie Ontologie ist, versucht er mit seiner positiven Philosophie das Daß bzw. den Urgrund des Existierenden zu ergründen und dem Ausdruck zu verleihen (vgl. SW XIII, 44–46; 57 f., 127–133). Methodisch fokussiert sich die Naturphilosophie auf die vernünftige Darstellung der sinnlichen Erfahrung. Der Bereich der positiven Philosophie ist das „Sinnenfällige“ freilich nicht, das heißt aber nicht, dass die Beschreibung des Schöpfungsaktes frei von Erfahrung wäre. Nur haben wir es bei der positiven Philosophie mit einem Empirismus höherer Art zu tun: obwohl der erste Akt ein „Uebersinnliches“ ist, bleibt er durch seine Entäußerung ein „erfahrungsmäßig Erkennbares“ (SW XIII, 113). Mit Erfahrung ist keine „unmittelbare[…] Erfahrung […] (wie der Mysticismus)“ gemeint (SW XIII, 127). Wir haben es nicht mit subjektiv Erkennbarem zu tun, stattdessen ist von einem mystischen Empirismus zu sprechen, welcher das geschichtliche Gottesbewusstsein in den Blick nimmt (SW XIII, 115). Da in der Offenbarung das menschliche Bewusstsein als ein „faktische[r], empirische[r], und vorübergehende][r] Zustand“ gedacht wird (UPhO, 8), muss es einen Zustand geben, in dem das Göttliche nicht offenbar und darum noch nicht erfahrbar war. Offenbarung ist mehr als eine bloße Allegorie, eine Vorstellung vom Göttlichen. Die Philosophie der Offenbarung ist wie die Mythologie keine „Erfindung der menschlichen Willkür“ (UPhO, 648). In der Mythologie hat die

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Ergründung des Positiven ihren Anfang genommen; sie zeigt, wie sich die Selbstbeschreibung und die Gottesvorstellung wandelt. In der mythologischen Ideengeschichte sind die „Systeme nacheinander hervorgegangen […], eines dem andern gefolgt, und je das frühere dem spätern zu Grunde gelegt worden ist“ (SW XII, 186; UPhO, 234). Der universalhistorisch verstandene Fortschritt entspricht dem Fortschritt des menschlichen Bewusstseins. Mythische Erzählungen sind im Sinne Schelling keine existentiale Selbstdeutungen, sondern als vernünftige Darstellung in eine rational fortschreitende Geschichtsteleologie eingebunden. Der rationale Fortschritt äußert sich beispielhaft im Fortschritt der Gottesvorstellung, der mit der Entwicklung von der Naturvergötterung über den Polytheismus hin zum Monotheismus einsetzt und letztlich in dem christlichen Begriff von der freien Gottheit mündet. Die Mythologie ist somit – wie der Naturprozess – ein „natürliches, ein nothwendiges Gewächs“ (SW XI, 218), allerdings erklärte sie das Hervortreten des menschlichen Geistes aus dem Absoluten bloß idealiter, um aber die Freiheit des Menschen in der Welt verständlich zu machen, bedarf es aber eines „reale[…] Verhältnis des Menschen zu Gott“ (UPhO, 12). Denn nur diese Erklärung macht verständlich, dass Gott in die Welt eintritt. Mit seiner Philosophie der Offenbarung sucht Schelling Licht in das dunkle Verständnis der Mythologie zu bringen. Damit die positive Philosophie Geltung beanspruchen kann, muss sie als Ermöglichungsbedingung des Schöpfungsprozesses diesem wesentlich entsprechen. Wie also die Entäußerung der Freiheit im Naturprozess gemäß drei Potenzen entfaltet wird, so muss dies auch in der positiven Philosophie der Fall sein: Die erste Potenz ist die der Entäußerung, die zweite die der Scheidung und die dritte deren versöhnende Einheit. Die positive Philosophie hält die Entfaltung der Freiheit nur unter der Bedingung des aktiven Könnens, das zwischen Sein und Nichtsein als „Wollen in der Mitte steht“ (UPhO, 24), für möglich. Freiheit fußt auf einem freien Entschluss. Am Anfang des Prozesses muss als erste Potenz das sein Könnende (A) stehen, dem die zweite Potenz, das rein Seiende (B) als reelles Moment entgegensteht. Das rein Seiende und das sein Könnende sind nicht voneinander zu trennen, sie bilden eine substantielle Identität. Der Form nach handelt es sich um zwei relative Bestimmungen. Das sein Könnende ist das ideale Moment, während das rein Seiende die Realisierung ist. Es ist das sein Könnende, das danach strebt, zu verwirklichen, was wirklich sein will. Im dritten und versöhnenden Moment, dem freien Sein, hat der gesamte Schöpfungsprozess sein Ende. Dieses ist die causa finalis des sukzessiv zur Freiheit führenden Prozesses – damit ist die Freiheit Prämisse und Resultat zugleich. In der causa finalis (A³), dem sein Sollenden, geht die Spannung der Potenzen auf. Folglich hat sie die causa materialis (B, das rein Seiende) und die causa efficiens (A, das sein Könnende) zu ihrer Voraussetzung (vgl. UPhO, 85 f., 130 f.). Methodisch



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kommt der in Spannung gesetzte Schöpfungsprozess (sowohl im Negativen als auch im Positiven) in der dritten Potenz zur Ruhe (vgl. SW XII, 168 f.). Die Versöhnung der „ursprüngliche[n] Duplizität“ UPhO, 634), die sich uns als Gut und Böse bzw. als Geist und Leib offenbart, sieht Schelling am Ende der Mythologie ausgesprochen, und deren Ende ist mit dem Christentum erreicht. Hier wurde auf ideale und reale Weise die freie Entlassung des Menschen in der Welt beschrieben. Damit ist das Christentum des mythologischen Prozesses erhaben. Das Eingehen Gottes in die Welt ist mehr als eine bildhafte Vorstellung, Jesus Christus ist das „wirkliche[…] Ebenbild der Gottheit“ (UPhO, 413), in ihm offenbart sich das Mensch und Gott versöhnende freie Streben. Das Göttliche versteht sich als frei, wenn es von sich sagt: Ich werde sein, der ich sein werde, d. h., der ich sein will – es ist über mein Sein nichts vorausbestimmt – niemand kann es vorausbestimmen, was ich sein werde – es hängt nur von meinem Willen ab. (UPhO, 89)

Die Menschwerdung stellt Jesus Christus in die Natürlichkeit, mit seinem Tod kehrt er sich in sein Gegenteil, er kehrt sich ins Geisterreich, und mit dem „Tag der Auferstehung“ werden beide Seiten in die Einheit erhoben (UPhO, 598). Mit der Himmelfahrt Christi gewinnt die Menschheit das Bewusstsein für die Versöhnung des Natürlichen mit dem Übernatürlichen (UPhO, 177), hier sind Freiheit und Notwendigkeit vereint. Christus’ Mittlerschaft bekräftigt die „Wurzel eines von Gott unabhängigen Seins“ (UPhO, 441) – nachdem in der Naturphilosophie die „Unabhängigkeit des Menschen von der Natur“ sichtbar gemacht wurde, wird nun die „innere Unabhängigkeit von Gott“ verständlich (SW VII, 458). Die in Christus ausgedrückte Unabhängigkeit von Gott ist kein sinnlich erfahrbares, kein tatsächliches Ereignis, sondern eine reale Konstruktion im Idealen, in diesem Sinne ist Christus eine „erwiesene historische Person“ (UPhO, 608). Da wir es bei der positiven Philosophie nicht mit einer „materielle[n]“, sondern mit einer „geistige[n] Notwendigkeit, eine[r] Begriffs-Notwendigkeit“ zu tun haben (UPhO, 80 f.), ist es auch nicht notwendig, dass das Ostergeschehen, in dem die Versöhnung von Gott und Mensch offenbar wird, ein wirkliches, ein historisches Ereignis sei. Mit der göttlichen Entfaltung ist die Freiheit ganz in die Welt eingegangen. Es ist nicht so, als halte Gott „seine Allmacht zurück, damit der Mensch handeln könne […]: zöge Gott seine Macht einen Augenblick zurück, so hörte der Mensch auf zu seyn“ (SW VII, 339). Die Allmacht besteht allein darin, der Freiheit in der Welt Platz einzuräumen. Im Bildungstrieb der Welt eröffnet sich uns der Blick auf die Freiheit. Der freie Akt Gottes erschließt sich uns nicht durch eine subjektive Konstruktion, sondern offenbart sich uns im „historischen Gang der Mythologie“ (SW XII, 280), welche im Christentum gipfelt. Ge-

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mäß Schellings universalhistorischer Deutung liegt in Jesus Christus das „Bewußtseyn Eines allgemeinen und der ganzen Menschheit gemeinschaft­ lichen Gottes“ (SW XI, 119) – nur durch Christus haben an der absoluten Freiheit teil. Freiheit ist dort, wo das Christentum ist. Durch unsere mitwissenschaftliche Teilhabe an der Schöpfung haben wir Freiheit (vgl. SW IX, 221), ihrer werden wir durch die vernünftige Konstruktion des Christentums bewusst.

III. Jonas und die „Grunderfahrung“ der Freiheit8 Hinsichtlich seiner Darlegung der menschlichen Freiheit sieht Schelling zwei Herausforderungen, so ist zum einen die Unabhängigkeit des Menschen von der Natur und zum anderen die innere Unabhängigkeit von Gott verständlich zu machen. Obwohl Jonas nicht von einem idealistischen, einem absoluten-vernünftigen Standpunkt ausgeht, sondern die eigene Existenz in den Fokus seiner Philosophie rückt, sind es genau diese beiden Punkte, die er diskutiert, um den Begriff der menschlichen Freiheit Ausdruck zu verleihen. Sein Schaffen ist durch drei Etappen gekennzeichnet (JKGA III/2, 281), allerdings ist die dritte Etappe, die praktische Philosophie, anders als bei Kant, nicht entscheidend für den Aufweis der menschlichen Freiheit; diese Aufgabe sucht er im Schellingschen Sinn innerhalb seiner Natur- und seiner Religionsphilosophie zu leisten. Beide Seiten sind nicht voneinander abzutrennen.9 8  Hans Jonas, Kritische Gesamtausgabe, Freiburg/Darmstadt 2010 ff. (im Folgenden: JKGA). Die in diesem Kapitel vorgelegten Überlegungen sind eng mit folgenden Beiträgen verbunden: Verf., Freiheit als Prinzip, 57–99; Ders., „Komplementarität von Materie und Geist. Jonas’ Ontologie des Lebens im Lichte des Schellingschen Idealismus“, in: Sebastian Hüsch, Oliver Victor (Hg.), Das Konzept „Leben“ in der Geschichte der Philosophie/Le concept de „vie“ dans l’histoire de la philosophie, Würzburg 2023, 271–288; Ders., (Art.) „Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen“, in: Michael Bongardt, Holger Burckhart, John Stewart Gordon, Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Hans Jonas Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2021, 153–159; Ders., „Ein Appell an die Freiheit. Existenz, Mythos und Freiheit bei H. Jonas und F. W. J. Schelling“, in: ders., Christian Danz (Hg.), Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, Göttingen 2017, 131–154. Auf eine separate Kennzeichnung der verwendeten Abschnitte verzichte ich. 9  Die Verbindung von Natur- und Religionsphilosophie hat für Jonas zentrale Bedeutung. Daher hat er zu Beginn seiner Aufsatzsammlung Organismus und Freiheit darauf verwiesen, dass die religionsphilosophischen Aufsätze, diese sind sowohl in der englischen als auch deutschen Druckfassung enthalten, nicht „ohne Schaden für den Fortgang des Arguments fortgelassen werden“ können (JKGA I/1, 6). Die Religionsphilosophie ist für ihn wesentlicher Bestandteil seiner Naturphilosophie, was den Herausgebern der Kritischen Gesamtausgabe nicht gefallen dürfte, schließlich haben sie die religionsphilosophischen Schriften aus Organismus und Freiheit verbannt, sie



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In den 1940er Jahren hat sich Jonas in seinen Lehrbriefen (1944/45) an seine Frau Lore erstmals mit dem Begriff des Lebens beschäftigt, sein Hauptwerk The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology (dt.: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, 1973) greift dieses Thema vertiefend auf. Im organischen Leben verortet er die Einheit von Natürlichem und Geistigem. Eine Abkoppelung des Geistes von der Natur im Sinne des Cartesianischen Dualismus überzeugt nicht, denn dann müsste von „separate[n] Stücke[n] der Wirklichkeit“ gesprochen werden (JKGA I/1, 36), was angesichts unserer Kenntnis über die Evolution schlechthin nicht der Fall sein kann. Evolutionsbiologisch ist der Mensch, obwohl auch geistiges Wesen, von der Natur nicht abzutrennen, schließlich kam der Mensch „durch eine lange Vorgeschichte tierseelischer Annäherungen an den Geist zu sich“ (JKGA III/1, 269). Entsprechend lässt sich nicht von separaten Stücken sprechen, im Übrigen geht die Entstehung des Lebens mit einer „Angewiesenheit auf Materie“ einher (JKGA I/1, 163): Die Materie ist die ermöglichende Grundlage des Geistes. Es mag zwar Materie ohne Geist [geben], aber nicht Geist ohne Materie. Das erstere lehrt die ganze leblose und ein großer Teil der lebenden Natur, das letztere die Tatsache, daß aller Geist […] nur in Verbindung mit bestimmt organisierter Materie […] auftritt und kein Beispiel körperlosen Geistes bekannt ist. Hieraus ergibt sich, daß der Stoff selbstständiges und ursprüngliches, der Geist von ihm bedingtes und abgeleitetes Sein hat. (JKGA I/2.1, 442)

Das Hervortreten des Geistigen aus der Natur wird nur verständlich, wenn wir vom „Begabtsein der Urmaterie mit der Möglichkeit des Geistes“ ausgehen. Es muss eine „geistige Ursache oder Mitursache [geben, die] am Anfang eine universale Materie mit solchen Eigenschaften und Gesetzen [schuf], daß sie für ein Mitdasein von Geist Raum ließ“ (JKGA III/1, 268). Der Evolu­ tionsprozess könnte nichts hervorbringen, was nicht potentiell möglich ist, folglich muss das „Hervorbringende […] mehr ‚Realität‘ haben als das von ihm Hervorgebrachte“ (JKGA I/1, 76), andernfalls wäre nicht verständlich, wie das Geschaffene im Schaffenden gründen sollte. Der Naturprozess wird als harmonische Einheit gedeutet, alles hängt mit allem zusammen. Diesen Gedanken präzisiert Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Monadologie (1714), er spricht davon, dass „jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz die natürliche Folge des vorhergehenden Zustands“ ist, die „Gegen-

werden stattdessen an anderer Stelle in der Ausgabe abgedruckt (JKGA I/1, XCI f.; vgl. Volker Gerhardt, „Ein Jahrhundertdenker wird ediert. Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas“, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 1/2, 2011). Dass für Jonas diese Verknüpfung von immenser Bedeutung für die Ergründung der Freiheit ist, deutet auf einen hohen metaphysischen, aber auch systematischen Anspruch seiner Philosophie hin.

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wart [trägt] die Zukunft in ihrem Schoße“.10 Das Resultat muss bereits im Anfang des Schaffensprozesses vorgebildet sein. Die Urform, die „erste Form“ des Wollens offenbart sich uns im Stoffwechsel. Um leben zu können, müssen wir die „Antithese von Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff, von Freiheit und Notwendigkeit“ überwinden. Das geschieht mit dem „ ‚Ja!‘ zu sich selber“ (JKGA I/1, 16), in diesem drückt sich der Wille zum Sein aus. Ohne das Betreiben des Stoffwechsels ist keine Freiheit, darauf zu verzichten, heißt, nicht zu Sein. Die Dialektik des Lebens gründet in einem Form-Stoff-Verhältnis. Wir sprechen hier von einem Vermögen der organischen Form […], nämlich ihren Stoff zu wechseln, aber zugleich auch die unerläßliche Notwendigkeit für sie, eben dies zu tun. Ihr ‚Kann‘ ist ein ‚Muß‘, da seine Vollziehung identisch ist mit ihrem Sein. […] Im Besitze des Vermögens muß er es betätigen, um zu sein, und kann nicht aufhören, dies zu tun, ohne aufzuhören zu sein: eine Freiheit des Tuns, aber nicht des Unterlassens. (JKGA I/1, 161 f.)

Das Begreifen der Freiheit wird von Jonas nicht bloß als intellektuelle Einsicht verstanden, Freiheit eröffnet sich uns durch die „eigenleibliche[…] Grunderfahrung“ (JKGA I/1, 45). Durch unser Können erfahren wir unsere Freiheit, welche sich durch ein besonderes Maß an Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmung und Gefühl auszeichnet (vgl. JKGA I/1, 191–195). Während das pflanzliche Leben räumlich auf seine direkte Umgebung beschränkt ist, ist es dem Tier möglich, seinen Bewegungsradius erheblich zu erweitern. Mehr Können bedeutet Mehr Freiheit. Im Menschen findet sich gegenüber Pflanzen und Tieren eine abermals erweiterte Freiheit. Neben dem Herstellen von Werkzeug und dem Kreieren eines Bildes sind wir auch zur Reflexion über uns selbst und unsere Sterblichkeit fähig (Grab). Jene Momente rechnen wir „zur Fülle des Menschseins, und in keiner Kultur fehlen sie ganz“: Werkzeug, Bild und Grab entsprechen „urzeitlich angezeigt“ P ­ hysik, Kunst und Metaphysik (JKGA III/1, 238). Die metaphysischen Fragen sind im Gegensatz zum Herstellen von Werkzeug „größerer Luxus“ (JKGA III/1, 238), allerdings macht ihre Verbannung das Menschsein „ärmer“ (JKGA III/1, 311): Freiheit ist nur dort erfahrbar, wo das Können vollzogen wird. Ausgangspunkt für unsere Selbst- und Weltdeutung ist unsere eigenleib­ liche Grunderfahrung, daher spielt neben dem ontologischen Sein auch die Weltgeschichte eine maßgebliche Rolle, denn hier zeigt sich, wer wir (geworden) sind:

10  Gottfried Wilhelm Leibniz, „Monadologie“, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, 2 Bde., übers. v. Artur Buchenau und hg. v. Ernst Cassirer, Hamburg 1996, Bd. 2, 603–621, hier: 607, §§ 22 und 23.



Vom „Zulassen menschlicher Freiheit“95 Was das Sein ist, muß daher seinem Zeugnis entnommen werden, und natürlich dem, was am meisten sagt, dem offenbarsten, nicht dem verborgensten, dem entwickeltsten, nicht dem unentwickeltsten, dem vollsten, nicht dem ärmsten – also dem uns zugänglich ‚Höchsten‘. (JKGA I/2.1, 141)

Zeugnis vom dem uns zugänglich Höchsten können wir nur von unserer Existenz aus geben, eine absolute Bestimmung scheint Jonas unmöglich. Philosophisch knüpft er an die existentiale Interpretation seines Lehrers Martin Heidegger an. Bereits 1928/29 notiert er ein Zitat aus Heideggers Sein und Zeit, nämlich dass die „Analytik des Daseins […] die Frage nach d. Sinn v. Sein übhpt vorbereiten“ kann.11 Die Daseinsanalytik nimmt eine zentrale Stellung in seinem Denken ein. Was der Mensch ist, erschließt sich allein aus dem, was er „ist“ und dieses ist keine idealistische Konstruktion (JKGA I/2.1, 411), sondern folgt aus der Analyse des gewordenen Daseins. Jonas richtet den Fokus auf den Menschen selbst, denn Auschwitz machte es für ihn unerträglich, die Geschichte als Ort zu verstehen, der zum Heil führt, aber gleichzeitig die grausamsten Verbrechen zulässt. Entsprechend erteilt er dem Gedanken einer „universale[n] Dialektik“, die „mit unbeirrbarer List der Vernunft fortschreitend, zuletzt im Reiche der zu sich kommenden Vernunft und Freiheit gipfelt“ (JKGA III/1, 273), eine klare Absage. Die Hegel-Kritik, sei sie nun berechtigt oder nicht,12 mahnt, die Geschichte ist kein Ort der Gewissheit, sondern der Möglichkeiten. Was wir tun, bleibt „auf uns […] sitzen“ (JKGA III/1, 275). Die Geschichte geschieht nicht am Menschen, sondern durch den Menschen. Was der Mensch ist, prägt sein Verständnis von Gott. Von Gott lässt sich nämlich nicht objektiv sprechen, sondern nur von unserer Existenz aus. In seiner Interpretation ist er insofern Kantianer, als dass er einen „Gottes­ beweis“ für unmöglich hält, wir müssen uns stattdessen an einem „Gottes­ begriff“ abarbeiten (JKGA III/1, 408). Prägend dürfte hier sein Lehrer und späterer Freund Rudolf Bultmann sein, der im Übrigen auch von Heidegger beeinflusst ist.13 Jonas folgt Bultmann darin, dass sich von Gott nicht „objek-

11  Nachlass Hans Jonas [Konstanz Philosophisches Archiv], HJ 16-17-1, 11. Jonas zitiert hier aus Martin Heideggers Sein und Zeit (Tübingen 1967, 183). 12  Jonas interpretiert Hegel im Geiste seiner Zeit. Vgl. Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, München 1928, bes. 53–59, 207; Theodor W. Adorno, „Drei Studien zu Hegel“, in: ders., Gesammelte Schriften, 20 Bde., hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1998, Bd. 5, 247–375, hier: 322–324 sowie die grundsätzliche Kritik von Walter Benjamin in seinem Beitrag „Über den Begriff der Geschichte“ (in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1980, Bd. I/2, 691–704). 13  Vgl. Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, 192–206.

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tivierend […], von außen sozusagen“ reden lässt (JKGA III/1, 404),14 was wir sagen können, ist aus den „Menschenworten herauszuhören“ (JKGA III/1, 400, vgl. 357–361).15 In Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925) verdeutlicht Bultmann, dass von Gott nur in Bezug auf unsere menschliche Existenz gesprochen werden kann. Von Gott reden, das gilt für Bultmann wie für Jonas, heißt, von Gott als die „unsere Existenz bestimmte Wirklichkeit“ zu sprechen.16 Der starke Fokus auf die existentiale Analyse macht es unmöglich, Schellings Gedanken einer rational fortschreiten Geschichtsteleologie aufzugreifen, was wir über Gott sagen können, das kann für Jonas nur von der konkreten Situation des Redenden aus erfolgen. Jeder Begriff vom Göttlichen ist auf unsere Grunderfahrung bezogen, sie ist Ausgangspunkt unserer Rede von Gott, von der ersten Ursache. Um unseren Vorstellungen vom Göttlichen Ausdruck zu verleihen, sind wir daher auf das platonische Mittel „bildlicher, doch glaublicher Vermutung“ angewiesen, das heißt auf einen „selbsterdachten“ (JKGA III/1, 410), einen „erdichteten Mythos“.17 Damit wird die kulturgeschichtliche Bezugnahme begrenzt, da sich der Gottesbegriff nicht aus einer notwendigen Bestimmung ergibt, der Gottesbegriff resultiert aus unserer ontologischen wie geschichtlichen Grunderfahrung. In diesem Punkt unterscheiden sich Jonas’ und Bultmanns Ansatz, beide gehen zwar von der existentialen Interpretation aus, aber während Jonas den Mythos als Ort fasst, der von unserer Existenz aus erdichtet wird, um uns eine Vorstellung von Gott zu machen, hält Bultmann an der christlichen Verkündigung als Ausgangspunkt unseres Weltverständnisses fest (vgl. JKGA III/1, 399–405), allerdings geht es ihm nicht darum, die christlichen Mythen als reales, geschicht­liches Ereignis zu fassen,18 sondern lediglich um die Erinnerung an sie: Das Ereignis wird „gegenwärtig in der Verkündigung (dem Kerygma),

14  Rudolf Bultmann, „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Tübingen 1933–1965, Bd. 1, 26‒37, hier: 27. 15  Im Übrigen hat Jonas mit Bultmann auch bezüglich seiner Religionsphilosophie, vor dem Hintergrund von Bultmann Entmythologisierungsprogramm, ausführlich gesprochen. Vgl. Rudolf Bultmann an Hans Jonas am 31.7.1962 (Rudolf Bultmann, Hans Jonas, Briefwechsel 1928–1976. Mit einem Anhang anderer Zeugnisse, Tübingen 2020, 57–62); Rudolf Bultmann an Hans Jonas am 24.9.1962 (Bultmann/ Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 62 f.); Hans Jonas an Rudolf Bultmann am 6.10.1962 (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 63–68). Der Briefwechsel wurde, leicht gekürzt, auch hier abgedruckt: JKGA III/1, 367–376. 16  Bultmann, „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“, 29. 17  Hans Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, hg. v. Christian Wiese, Frankfurt am Main/Leipzig 2003, 343. 18  Vgl. Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1964, 180 f.



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die ihren Ursprung in ihm selbst hat, ohne die es gar nicht ist, was es ist.“19 Er will seine Glaubensperspektive nicht aufgeben, die christlichen Mythen sind vielmehr gemäß dem Entmythologisierungsprogramm, welches von Jonas’ Deutung des „entmythologisierte[n] Bewußtsein[s]“ beeinflusst ist (JKGA III/1, 152),20 von unserer Existenz her zu deuten. Entsprechend ist für ihn die Glaubensperspektive existential von Bedeutung, er spricht ihr keine absolute Wahrheit zu. Da das Reden über Gott von der konkreten Situation des Redenden abhängt, können einschneidende geschichtliche Ereignisse eine Neudeutung des Gottesbegriffs nach sich ziehen, so lässt sich die eigene Grunderfahrung mit dem Göttlichen in Einklang zu bringen. Die Verbrechen des Nazi-Regimes machten für Jonas eine Umdeutung notwendig, es wurde unmöglich, das Göttliche als allmächtig, allgütig und allwissend zu begreifen, hätte doch ein allmächtiger Gott, der um die schrecklichen Verbrechen weiß, aber das Gute will, eingreifen und das Leid verhindern müssen. Die Rettung aber blieb aus. Zwecks der Unvereinbarkeit ist dementsprechend eines der Attribute aufzugeben, ansonsten müsste man annehmen, Gott habe das Leid bereitwillig zugelassen und dieses für gut befunden, was inakzeptabel ist, zumindest, wenn es sich nicht um einen „gänzlich unverstehbaren Gott“ handeln soll. Das Göttliche darf nicht völlig widersprüchlich sein, sonst wäre es vollkom19  Rudolf Bultmann, „Zum Problem der Entmythologisierung“, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Tübingen 1933–1965, Bd. 4, 128–137, hier: 136 f. Bultmanns Auffassung vom Kerygma und dessen Bedeutung für seine Theologie dürfte weitestgehend der idealen Faktizität entsprechen, die Schelling in seiner positiven Philosophie dem historischen Jesus zuschreibt. 20  Bultmann verweist in Neues Testament und Mythologie (1941) darauf, dass die Mythologien „existential“ interpretiert werden müssen (Rudolf Bultmann, „Neues Testament und Mythologie“, in: ders., Offenbarung und Heils­geschehen, München 1941, 27–69, hier: 41), in seiner Darstellung des Entmythologisierungsprogramms nimmt er übrigens auf Jonas’ Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934 Bezug. Vgl. zudem Hans ­Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 2 1966, 3 f., 169, 210. Der Abschnitt, in dem der Begriff „entmythisiert“ (Seite 3) vorkommt und die Objektivation des Mythos Thema ist, findet sich nicht erst im zweiten Band Gnosis und spätantiker Geist, sondern schon in der von Bultmann betreuten Dissertationsschrift von Jonas. Vgl. Hans Jonas, Der Begriff der Gnosis, Marburg 1930, 5. Zu Jonas’ Einfluss auf sein Schaffen schreibt Bultmann in einem Grußwort für eine Festschrift zu ehren Jonas’: „Was ich in meinen Kommentaren zum Johannes-Evangelium und den Johannes-Briefen geschrieben habe, hätte ich nicht schreiben können ohne die Belehrung Ihrer Arbeiten und den Austausch mit Ihnen“ (Rudolf Bultmann, „Grußwort“, in: Barbara Aland (Hg.), Gnosis. Festschrift für Hans Jonas, hg. in Verbindung mit Ugo Bianchi, Martin Krause, James M. Robinson, Geo Windengren, Göttingen 1978, 13). Vgl. dazu insbesondere Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1957, 41–43.

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men unverständlich und für uns bedeutungslos, würde dies doch dem Bultmann’schen Gedanken, dass sich uns das Göttliche nur von der konkreten Situation des Redenden erschließt, obsolet machen. Die Geschichte hat gelehrt, dass sich viele Menschen selbst angesichts des Bösen nicht davor gescheut haben, „zu retten, zu lindern, ja, wenn es nicht anders ging, hierbei das Los Israels zu teilen“, um den vom Nazi-Regime Verfolgten zu helfen (JKGA III/1, 420–422). Weil viele Menschen mit so viel Mut für das Gute eintraten, hat Jonas keinen Zweifel daran, dass das Gute in der Welt als Möglichkeit begründet liegt. Da das Gute in der Welt verwirklicht werden kann,21 sind die Attribute der Allwissenheit und der Allgüte dem der Allmacht vorzuziehen. Mit der Verabschiedung der Allmacht gewinnen wir einen verständlichen Begriff von einem gütigen Gott, der dem Handeln der freien Menschen ohnmächtig gegenüberstand, weil er nicht rettend eingreifen konnte. Der Verzicht auf die göttliche Allmacht impliziert den Rückzug Gottes aus der Welt, die Welt wird den Menschen überlassen. Auch logisch überzeugt das Festhalten an der Allmacht nicht, denn ohne Begrenzung wäre Allmacht ein sinnloser Begriff […]. Absolute Freiheit wäre leere Freiheit, die sich selber aufhebt. So auch leere Macht, und das wäre die absolute Alleinmacht. Absolute, totale Macht bedeutet Macht die durch nichts begrenzt ist, nicht einmal durch die Existenz von etwas anderm überhaupt […]. Denn die bloße Existenz eines solchen anderen würde schon eine Begrenzung darstellen, und die eine Macht müßte diese andere vernichten, um ihre Absolutheit zu bewahren. (JKGA III/1, 418)

Der Rückzug Gottes schafft Raum für die menschliche Freiheit: „Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht der göttlichen Macht“ (JKGA III/1, 423). Mit dem Hervortreten der menschlichen Freiheit hat das Göttliche keine Gewalt mehr über den Menschen, die „Heraufkunft des Menschen“ ist folgenreich, sie bedeutet nämlich „die Heraufkunft von Wissen und Freiheit, und mit dieser höchst zweischneidigen Gabe macht die Unschuld des bloßen Subjekts sich selbst erfüllenden Lebens Platz für die Aufgabe der Verantwortung unter der Disjunktion von Gut und Böse“ (JKGA III/1, 413).22 Dem Reden von der existentialen Freiheit und von Gott liegt die eigenleibliche Grunderfahrung zu Grunde, weswegen die ontologischen Einsichten und die Kenntnis der Geschichte prägend für das Verständnis vom Absoluten sind. Anders als Schelling, der einen objektiv-vernünftigen Gottesbegriff einführt, geht es Jonas darum, vom konkreten Dasein aus, unseren Blick auf 21  Vgl.

Jonas, Erinnerungen, 347. Rudolf Bultmann, „Der Gottesgedanke und der moderne Mensch“, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Tübingen 1933–1965, Bd. 4, 113–127, hier: 124. 22  Vgl.



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die Freiheit und das Göttliche zu äußern. Dieses Reden mag, wie er sagt, bloßes „Gestammel“ sein (JKGA III/1, 425), doch erlaubt es diese Konzeption, das Göttliche direkt auf unsere existentielle Selbstdeutung zu beziehen. Der Lauf der Geschichte liegt in unserer Hand und ist keiner Gottheit anzulasten. Um uns selbst zu verstehen, müssen wir nicht die Universalgeschichte ausdeuten, es reicht, die Geschichte von unserer Existenz aus zu deuten. Der Sinn liegt nicht in der Geschichte begründet, vielmehr besteht die Herausforderung darin, um erneut mit Bultmann zu sprechen, in die „persönliche Geschichte [zu] blicken. Je in der Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen.“23 Es mag sein, dass unsere existentiale Deutung, unsere metaphysische Beantwortung unzureichend ist, ja mit einer „Blamage ende[t]“ (JKGA III/1, 282), aber wir dürfen uns diesem Luxus nicht verwehren, hierin zeigt sich unsere Freiheit.

IV. Jonas’ Schelling-Lektüre Der Freiheitsbegriff nimmt sowohl in der Philosophie Schellings als auch in der von Jonas eine zentrale Stellung ein, und obwohl beide von einer ähnlichen Problemstellung ausgehen, zeigen sich eigentlich unüberwindbare Differenzen ihrer philosophischen Perspektive. Aufgrund der ähnlichen Fragestellung ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Jahren immer wieder auf etwaige Ähnlichkeiten in beider Konzeptionen hingewiesen wurde.24 Deren scheinbare Nähe innerhalb der Naturphilosophie mag der gemeinsamen Ablehnung des Cartesianischen Dualismus geschuldet sein, womöglich auch deren konzeptuellen Nähe zum Aristotelischen Zweckbegriff oder dem Kants aus der Kritik der Urtheilskraft (1790), allerdings ist nicht zu übersehen, dass Jonas den Idealismus ablehnt und im Sein seinen philosophischen Ausgangspunkt sieht (vgl. JKGA I/1, 40). Auch in der Religionsphilosophie behandeln sie ähnliche Themen, so 23  Rudolf

Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1964, 184. Lore Hühn, „Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch – Der Versuch einer Einleitung“, in: dies., Jörg Jantzen (Hg.), Heideggers SchellingSeminar, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, 3–44, hier: 35 f.; Jesper Lundsfryd Rasmussen, „Freedom as Ariadne’s Thread through the Interpretation of Life: Schelling and Jonas on Philosophy of Nature as the Art of Interpretation“, in: North American Schelling Society (Hg.), kabiri, 1, 2018, 69–91; Ders., „Hans Jonas’ philosophische Biologie und Friedrich W. J. Schellings Naturphilosophie. Einleitende Bemerkungen zu einer Affinität“, in: Res Cogitans, 11/1, 2016, 63–93; Francesca Michelini, „The Paradox of the Living. Jonas and Schelling on the Organism’s Autonomy“, in: Rivista di estetica, 74/2, 2020, 139–157; Peter Dews, The Idea of the Evil, Malden 2013, 75 f. Vgl. ebenso die in Anm. 8 genannte Literatur. 24  Vgl.

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fragen sowohl Jonas in Gottesbegriff nach Auschwitz (1984) als auch Schelling spätestens seit seiner Freiheitschrift25 (1809) nach der Ermöglichungs­ bedingung, d. h. nach den Voraussetzungen menschlicher Freiheit und diskutieren diese in Bezug auf Gott und der Möglichkeit zum Guten und Bösen.26 Trotz mancher Übereinstimmungen ist ihr Grundansatz wesentlich verschieden, während Jonas die eigenleibliche Grunderfahrung für die Einsicht in die Freiheit herausstreicht, geht es Schelling – insbesondere mit Blick auf die Philosophie der Offenbarung – um die vernünftige Rekonstruktion unseres Mitwissens am Absoluten. Die Entfaltung des Absoluten erschließt sich uns erst durch die Rekonstruktion der Ideen­geschichte, und das betrifft sowohl die Naturphilosophie als auch die Reli­gionsphilosophie. Der Einfluss von Schelling auf Jonas wird oftmals daran festgemacht, dass dieser 1927/28 in Marburg bei Heidegger ein Seminar zu Schellings Freiheitsschrift besucht hat; allerdings dürfte sein Interesse an theologischen Fragen stärker gewesen sein als an Schelling, immerhin hat er in dem Seminar über Das Freiheitsproblem bei Augustin referiert. Aus dem Referat ist übrigens, dank Bultmanns Unterstützung, seine erste Publikation hervorgegangen.27 Dass er sich auch später weniger in Schelling vertieft haben dürfte, deutet der Briefwechsel von 1972 mit Heidegger an.28 Aus diesem geht hervor, dass Heidegger Jonas sein kürzlich erschienenes SchellingBuch29 (1971) zukommen lassen will,30 worauf ihm dieser antwortet:

25  Der eigentliche Titel der Abhandlung ist: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. 26  Auf die Ähnlichkeit der religionsphilosophischen Anliegen weist Peter Dews hin. Vgl. Ders., The Idea of the Evil, 75 f. Ob jedoch die Idee des Zimzum ein sinnvoller Anknüpfungspunkt ist, wäre weiter zu untersuchen. Zwar verweist Jonas in Gottesbegriff nach Auschwitz darauf (JKGA III/1, 424–426), Schelling scheint die Idee des Zimzum höchstens indirekt zu verwenden. Vgl. Christoph Schulte, „Zimzum bei Schelling“, in: Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott, Christoph Schulte (Hg.), Kabbala und Romantik, Tübingen 1994, 97–118. 27  Zu Bultmanns Unterstützung der Veröffentlichung von Jonas’ Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlichabendländischen Freiheitsidee (1939), vgl. Bultmanns Unterstützungsschreiben vom 22.5.1933 (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 11 f.). 28  Vgl. Hans Jonas an Martin Heidegger am 25.2.1972 (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 119‒121); Martin Heidegger an Hans Jonas am 1.3.1972 (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 121 f.); Hans Jonas an Martin Heidegger am 19.3.1972, Briefentwurf (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 122 f.). 29  Martin Heidegger, „Schelling: Vom Wesen über die menschliche Freiheit“, in: ders., Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 42, Frankfurt am Main 1988. 30  Martin Heidegger an Hans Jonas am 1.3.1972 (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 122).



Vom „Zulassen menschlicher Freiheit“101 In meiner Jungendzeit hat Schellings Abhandlung mich einmal tief beeindruckt, ist mir aber in den langen Jahren seitdem31 entglitten. Nun werde ich sie aber unter Ihrer Führung neu lesen.32

Jonas scheint ob der förmlichen Anerkennung seit Jahren keinen Blick mehr in Schellings Abhandlung geworfen zu haben, den Eindruck verstärkt eine seiner Streichungen in dem Brief, schreibt er doch ursprünglich, dass er Schelling „[s]eit Jahren […] nicht gelesen“ habe.33 Möglich wäre, dass sich Jonas nach 1972 intensiver mit Schelling beschäftigt hat, was die thematische Nähe seines Aufsatzes Gottesbegriff nach Auschwitz (1984) mit der Freiheitsschrift (1809) erklären könnte, immerhin ist jene Tübinger Rede knapp 12 Jahre nach dem Briefwechsel mit Heidegger erschienen. Doch auch das dürfte nicht der Fall gewesen sein, denn die darin enthaltenen Grundüberlegungen finden sich bereits 1962 in Immortality and the Modern Temper (Unsterblichkeit und heutige Existenz, 1963) sowie in dem 1968 erschienen Aufsatz The Concept of God after Auschwitz, aus dem ersten Aufsatz wurden sogar Teile zum „hypothetischen Mythos“ 1:1 in der Tübinger Rede abgedruckt (JKGA III/1, 414, vgl. 357–361 u. 410–414). Überdies finden sich nicht einmal im Nachlass von Hans Jonas (Philosophisches Archiv Konstanz) handschriftliche Aufzeichnungen, die auf eine Beschäftigung mit Schelling hindeuten.34 Etwaiger Einfluss kann also nur auf Heidegger zurückgehen, wobei Jonas’ Beschäftigung mit der Gnosis wohl bedeutsamer für sein philosophisches Denken sein dürfte als seine Auseinandersetzung mit Schelling.35 Etwa zur Zeit des Schelling-Seminars bei Heidegger hat er in Bultmanns neutestamentlichem Seminar von der „gnosis theou im Johannesevangelium“ refe­ riert,36 auf die eine jahrzehntelange Beschäftigung mit der Gnosis folgte. In Gnosis und spätantiker Geist. Die mythologische Gnosis (1934) deutet er die Darstellung „des gnostischen Dualismus als eines dialektischen Prozesses der Freiheit“, hier wird der Dualismus „von Innen und Außen, als Sich-Entäußern 31  In seiner Transkription liest Andreas Großmann (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 123) an dieser Stelle „allm[ählich]“, im Original heißt es m. E. „seitdem“ (Nachlass Hans Jonas, HJ 9-10-4). 32  Hans Jonas an Martin Heidegger am 19.3.1972, Briefentwurf (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 123). 33  Nachlass Hans Jonas, HJ 9-10-4. Diesen Teil ersetzt er sodann durch den Halbsatz „ist mir aber in den langen Jahren seitdem entglitten“ (HJ 9-10-4). In dem von Andreas Großmann herausgegebenen Briefband (Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 123) wurde die Korrektur nicht abgedruckt. 34  Vgl. Verf., Freiheit als Prinzip, 63 Anm. 35  Vgl. Vittorio Hösle, „Anima & corpo. Conversazione di Vittorio Hösle con Hans Jonas“, in: Ragion pratica, 15, 2000, 53–64. 36  Jonas, Erinnerungen, 117, vgl. 116–120; JKGA III/2, 284–286.

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vollzogen, von Unbedingtheit und Bedingung, von Unendlichkeit und Verendlichung, – von Geist und Welt“.37 Es ist aber nicht bloß das entmythologisierte Bewußtsein, es ist insbesondere die Auffassung von Dualität, die sowohl in der Philosophie des Lebens als auch in der Religionsphilosophie maßgeblich ist; den „radical dualism that governs the relation of God and world, and correspondingly that of man and world“ eröffnet.38 Es ist genau diese Überwindung der Antithese von Welt und Gott, von Mensch und Gott, die Jonas’ philosophischen Anspruch mit dem des Deutschen Idealismus eint,39 allen voran mit dem Schellings. Es ist also weniger die SchellingLektüre, die dazu führt, dass Jonas’ Denkweise und Fragestellung jener Schellings ähnelt, sondern ihrer beider Interesse, den Dualismus in einen postdualistischen Standpunkt zu überführen.40 Auch wenn Jonas diesen Weg in der Tradition seiner Lehrer Heidegger und Bultmann beschreitet,41 wird seine Denkweise nur durch den Rückbezug auf die Gnosis verständlich. Dass sich Schelling während seiner Studienzeit mit der Gnosis beschäftigt hat (HKA II/5, 87–100), sollte wiederum nicht als Beleg für die gemeinsame Fragestellung genommen werden, vorrangig dürfte das Interesse an der Aufhebung des Dualismus und der Begründung der Freiheit sein. Schellings und Jonas’ Konzeptionen unterscheiden sich an dem ihnen innewohnenden Vernunftanspruch. Während Schelling sowohl den Naturprozess als auch die mythologische Hinführung zur Offenbarung als einen notwendigen Prozess versteht, an dem wir teilhaben und nur vernünftig rekon­ struieren müssen, um der Freiheit gewahr zu werden, fokussiert sich Jonas auf die existentiale Strukturanalyse des Seins in der Gegenwart und sucht der Geschichte durch unsere Freiheit Bedeutung zu verleihen. Er sieht keine Notwendigkeit, die ontologische Struktur der Freiheit in der Natur auf die innere Freiheit von Gott zu übertragen. Wie die Freiheit von der Natur eine eigenleibliche Grunderfahrung ist, so auch die Freiheit von Gott. Unsere Grunderfahrung erschließt sich aus dem natürlichen wie geschichtlichen Sein, womit sie auch unseren Gottesbegriff prägt, doch diese Deutung fällt 37  Jonas,

Gnosis. Erster Teil, 333. Gnostic Religion, 42, vgl. 31, 251. 39  Zu Jonas und zum Idealismus vgl. Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013, 305; vgl. Ders., „Hans Jonasʼ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie“, in: Ulrich Bartosch, Klaudius Gansczyk (Hg.), Weltinnenpolitik für das 21. Jahrhundert. Carl Friedrich von Weizsäcker verpflichtet, Hamburg 2008, 132–149, hier: 136 u. 149 f. 40  Dass Schelling und Jonas in diesem Punkt fruchtbar aufeinander zu beziehen sind, wurde an anderer Stelle diskutiert. Vgl. Verf., Komplementarität von Materie und Geist. 41  Jonas bezeichnet sich gegenüber Bultmann ohnehin selbst als „Heidegger- und Bultmann-Schüler“ (Hans Jonas an Rudolf Bultmann am 31.5.1964 [Bultmann/Jonas, Briefwechsel 1928–1976, 84]). 38  Jonas,



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allein uns zu. Für Schelling beginnt zwar mit der Freiheit eine neue Welt, hier ist der Prozess der Notwendigkeit zum Ende geführt; da dies aber allein vom Standpunkt des Christentums aus verständlich wird, ist die Teilhabe an der Freiheit auf die christliche Weltdeutung beschränkt. Jonas hingegen verwirft den Gedanken einer Geschichtsteleologie, die uns zum Heil führt. Für ihn ist die Geschichte ein Ort der Offenheit, womit die Zukunft ein Geschenk an den freien Menschen ist, sie liegt aber auch völlig in seiner Verantwortung. Er will seine Philosophie nicht von Glaubensentscheidungen abhängig machen (vgl. JKGA III/1, 403 f.), wodurch er sich für einen Pluralismus öffnet, der Schelling fremd sein dürfte. Jonas sucht von sich heraus der eigenen Existenz in der Geschichte Sinn zu geben. Damit deutet er konsequenter als Schelling den Akt der Freiheit als Prämisse für unsere Freiheit. Die Geschichte ist der Ort der Realisierung der Freiheit, sie zeigt, was der Mensch ist.

Religionsbekenntnis und Olympische Spiele J. G. Fichtes Berliner Religionsphilosophie Christoph Asmuth (Neuendettelsau) Immanuel Hermann Fichte, Johann Gottlieb und Johanna Fichtes Sohn, einziges Kind der Familie, selbst ein im 19. Jahrhundert äußerst einflussreicher Philosoph, berichtete aus seinen Kindheitserinnerungen, dass der Vater täglich eine kleine Andacht gehalten habe, an der außer der Familie gewöhnlich auch das Dienstpersonal teilnahm. Es sei unter Begleitung des Klaviers zunächst ein Choral angestimmt worden. Daraufhin habe der alte Fichte das Wort ergriffen, um über eine Stelle aus der Bibel, vornehmlich jedoch über das Johannes-Evangelium zu sprechen, gelegentlich verknüpft mit tröstenden Worten oder einer Ermahnung, wenn es denn dafür einen Anlass gegeben habe.1 Neben diesem Zeugnis, das sich wohl auf die Berliner Zeit Fichtes bezieht, gibt es zahlreiche Quellen, die belegen, dass der ältere Fichte tief in die evangelisch-lutherische, pietistische Tradition eingewurzelt war.2 Er selbst trat als Prediger auf. Seine populären Reden über Religion und Politik, die später wenigstens zum Teil in populären Büchern mündeten, sind rhetorisch dem Predigtstil verpflichtet. Die Werkausgabe, die später Immanuel Hermann nach dem Tod seines Vaters veranstaltete, verstärkt das Bild eines tief religiösen Philosophen, der Zeit seines Lebens um das Absolute, d. h. Gott, ringt, ein Ringen, in dem sich eben sowohl die Scheu vor dem Wesen Gottes ausspricht, wie der Wille, nur von Gott her Welt und Natur begreifen zu können. Immanuel Hermann legte Spuren, die es nahelegen, Fichtevater als einen religiösen Mystiker zu entschlüsseln, dem es um die kontemplative Einkehr in Gott zu tun ist. Dieser Eindruck wird verstärkt, in dem die Ausgabe von Immanuel Hermann die Schriften Fichtes in besonderen Abteilungen präsentiert: Die Theoretische 1  Immanuel Hermann Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben und literarischer Briefwechsel, Bd. 1: Das Leben, Leipzig 21862, 428 f. 2  Vgl. Hartmut Traub, Fichte. Der Denker und sein Glaube. Fichte und der Pietismus oder: Über die theologischen Grundlagen der Wissenschaftslehre, StuttgartBad Cannstatt 2020.

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Philosophie erscheint in einer eigenen Abteilung, getrennt von der Popularphilosophie und den Politischen Schriften. Das ist modern. Es entspricht der Disziplinierung der Philosophie, die als Ausdifferenzierungsprozess bereits im 19. Jahrhundert Fahrt aufnimmt. Sie diszipliniert – und entschärft damit die Philosophie Fichtes und hegt sie ein in ein Korsett von innerphilosophischen Disziplingrenzen. Die Tendenz der Sohnesausgabe ist eindeutig: Fichte wird aus den ideologischen, politischen und religiösen Kontroversen seiner Zeit herausgehalten. Sie versucht, Johann Gottlieb Fichte eine zeitlose, ahistorische Position unterzuschieben, die – insbesondere was die sogenannte Spätphilosophie betrifft – viel Ähnlichkeit mit einer vorkritischen, rationalistischen Metaphysik des Seins besitzt. Insbesondere der Atheismusstreit wird in seiner Zuspitzung und Wirkung entschärft. Das Zentrum der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes ist die Wissenschaftslehre, deren religiöse Bedeutung herausgehoben wird, während die populäre Philosophie an den Rand gedrängt erscheint, Gelegenheitsschriften, deren politische Bedeutung vorwiegend im nationalistischen Geist besteht, den sie verbreiten wollen. Zu Recht konturiert die neuere Forschung dagegen den ganzen Fichte.3 Das ist möglich geworden, weil die seit einigen Jahren vorliegende Gesamtausgabe der Schriften Johann Gottlieb Fichtes streng chronologisch verfährt und – anders als die Auswahl-Edition von Fritz Medicus vom Beginn des 19. Jahrhunderts – auch alle vorhandenen Texte abdruckt. Folgt man einem solchen synthetischen Blick auf das Werk Fichtes, kann es nicht mehr erstaunen, dass der Privatmann Fichte in Berlin nach Zeugnis seines Sohnes auf eine gelebte Religiosität großen Wert legte, zugleich aber wenige Jahre zuvor des Atheismus beschuldigt worden war.

I. Der sogenannte Atheismusstreit Ausgangspunkt des publizistisch äußerst weitreichenden Atheismusstreits war die religionsphilosophische Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. Man muss jedoch einräumen, dass Fichtes Schrift einen eher geringen Einfluss auf die entstehende Konfrontation ausübte. Eine Summe unterschiedlichster Interessen, moralisch-religiöser Vorstellungen, politischer Einstellungen und persönlicher Konfliktstrategien bestimmten Richtung und Härte der Auseinandersetzung. Fichtes Argumentation bestand darin, einen philosophischen Gottesbegriff zu präsentieren, der das Absolute als moralische Weltordnung fasste. Fichte machte sich damit 3  Vgl. Peter L. Oesterreich, Hartmut Traub, Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006; Günter Zöller, Fichte lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013.



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zur Speerspitze einer modernen Theologie, die den metaphysischen Überbau über Bord warf, und Religion als praktische Dimension des Menschseins auffasste. Damit waren dann traditionelle theologische Attribute Gottes suspendiert, so etwa die Persönlichkeit Gottes, seine Transzendenz, die Unsterblichkeit der Seele, die Vergebung der Sünden usw. Dieses neuartige Gottesverhältnis war auch deshalb anstößig, weil es den kritischen Vorbehalt Kants – die Existenz Gottes lasse sich nicht beweisen und über die Unsterblichkeit der Seele lasse sich nicht wissenschaftlich sprechen – umwandelte in positive, aber abschlägige Behauptungen. Diejenigen, die in Kants kritischer Philosophie bereits Gefahr für ein orthodoxes Christentum witterten, lasen Fichtes Reduktion der Theologie auf Moral als Bestätigung ihrer Ahnungen. Fichtes Philosophie speiste sich ursprünglich aus verschiedenen Quellen. Zunächst, bevor er sich der Kritischen Philosophie Kants anschloss, war Fichte einem Kausaldeterminismus zugeneigt.4 Moralität und Verantwortung ließen sich allerdings dadurch nicht begründen, denn die Freiheit des Einzelnen wäre dann ein bloßer Schein, und der Wille bliebe auf einen bloßen Bewusstseinszustand reduziert. Zugleich entsprang der Determinismus einer politischen Resignation: Wirklich tiefgreifende Änderungen der gesellschaftlichen Situation könnten nicht durch die Handlungsfähigkeit des Einzelnen verursacht werden. Ein durchgängiger Kausaldeterminismus betrachtet die Gesellschaft und ihre Fortschritte analog zu Naturgebilden, die durch regelhafte Naturkräfte bestimmt sind. Eine philosophische Darstellung dieser Position entwirft Fichte selbst später in der Bestimmung des Menschen. Er charakterisiert dort den Determinismus als eine zu überwindende Weltanschauung, eine Überwindung, die einzig durch das unmittelbare Freiheitsbewusstsein und Freiheitsgefühl möglich sei. Dieses Freiheitsbewusstsein entdeckt Fichte in der praktischen Philosophie Kants. Nach den Zeugnissen, die wir besitzen, fällt diese Wandlung in den August des Jahres 1790.5 Für ihn bedeutet das zugleich das Ende der politischen Resignation. Blickt man mit jenem synthetischen Blick auf die Entwicklung Fichtes, kann man die Religionsphilosophie von der politischen Philosophie nicht mehr trennen. Die frühe politische Philosophie Fichtes ist ganz fokussiert auf die Französische Revolution. Es ist gewissermaßen erstaunlich, dass Fichte die Revolution noch lange verteidigt, auch dann noch, 4  Vgl. dazu: Armin Wildfeuer, Praktische Vernunft und System. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zur ursprünglichen Kant-Rezeption Johann Gottlieb Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 61–82. 5  Christoph Asmuth, „Von der Kritik zur Metaphysik. Der transzendentalphilosophische Wendepunkt Kants und dessen Wende bei Fichte“, in: Klaus Kahnert, Burkhard Mojsisch (Hg.), Umbrüche. Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit. Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 70. Geburtstag, Amsterdam/Philadelphia 2001, 167–187.

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als klar wird, dass die Revolution in ein Terrorregime übergeht, so wie Georg Büchner seinem Danton auf dem Schafott die Worte in den Mund legte: „Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“6 Er verteidigt freilich nicht die Schreckensherrschaft, wohl aber die Ziele und die Notwendigkeit einer bürgerlichen Revolution. Das verändert auch seine Sicht auf die theologische Situation seiner Zeit. Freiheit – ist das Schlagwort, unter dem sich nun seine Philosophie subsumieren lassen soll (vgl. GA III/4, 182). Fichtes Zeitgenossen dechiffrierten denn auch sein bahnbrechendes Werk mit dem programmatischen Titel Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre unter diesen Rahmenbedingungen. Obwohl Fichte dort nicht von Gott sprach, zeigte sich für seine Leser dennoch in der Argumentationsfigur des sich selbst setzenden Ich zugleich die Ermächtigung des Subjekts gegenüber Gott und dem weltlichen Herrscher. Und in der Formulierung, Gott sei nichts anderes als die moralische Weltordnung, erblickten sie die Absetzung Gottes und seine Transformation zu innerweltlicher Moral: – ein Atheismus durch Säkularisierung Gottes! Letztlich hat Fichtes Konzeption in Jena und später in Berlin viel Ähnlichkeit mit den religiösen Kulten der Französischen Revolution, dem Kult der Vernunft (Hebertisten) oder etwa dem Kult des höchsten Wesens, der durch Robespierre im Frühjahr 1794 inauguriert wurde, aber bereits in der Präambel der Menschen- und Bürgerrechte 1789 angelegt war. Der Kult des höchsten Wesens sollte einerseits die Vormachtstellung des Katholizismus in Frankreich brechen, aber im Gegenzug auch den Atheismus vermeiden, gleichzeitig aber Religionsfreiheit zusichern. Fichtes Religionsphilosophie ist seit seiner Jenaer Zeit mit politischen Motiven amalgamiert. Das Bild des Privatmanns und Bürgers, der daheim am Klavier für Familie und Haus den Choral anstimmt, betont dagegen die persönliche Frömmigkeit des Philosophen. Fichtes Anliegen aber war ein anderes! Es ging ihm um die Entwicklung einer politischen Theologie.

II. Die Wissenschaftslehre in Berlin Nach dem Jenaer System ergeben sich für Fichte noch zwei wichtige Phasen der Verdichtung seines Wirkens. Die erste Phase fällt in die Jahre 1804/05.7 Fichte liest in Berlin, dann ein Semester in Erlangen, viermal über die Wissenschaftslehre, aber auch die Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre sowie über Logik und Metaphysik. In populären Vorlesungen 6  Georg Büchner, Dantons Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft, Frankfurt am Main 1835, 41. 7  Vgl. Christoph Asmuth, „Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen an Fichtes Spätphilosophie“, in: Günter Zöller, Hans Georg von Manz (Hg.), Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, Amsterdam/ New York 2007, 45–58.



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widmet er sich in Berlin in diesen Jahren dem Wesen des Gelehrten (Bildungslehre), den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (Geschichtsphilosophie) und der Anweisung zum seligen Leben (Religionslehre). Ich will jetzt im Folgenden, ohne mich auf eine bestimmte der zahlreichen Fassungen der Wissenschaftslehre zu stützen, den Hauptgedanken der Berliner Wissenschaftslehre summarisch vorstellen. Zunächst muss man, vor allem angesichts der häufigen Benutzung des Wortes ‚absolut‘, betonen, dass Fichtes Berliner Wissenschaftslehre das endliche Vernunftwesen in den Mittelpunkt stellt, den Menschen, der sich durch vernünftiges endliches Denken seines unendlichen Grundes im Absoluten versichert. Das Absolute ist für Fichte indes keine metaphysische, übermenschliche Entität, sondern nichts anderes als die Realität selbst, die für Fichte das Vernünftige in seiner absoluten Einheit ist. Indem der Mensch, der in seiner Endlichkeit endlich bleibt, sich durch seine Vernunft diesem vernünftigen Grund zuwendet, entdeckt er seine Unendlichkeit, die in jedem endlichen Menschen mehr ist als er selbst, eine Einheit und Vernünftigkeit in jedem Einzelnen, die alle und jeden verbindet zu einer Menschheit, zu einer Vernunft – eine philosophische Begründung von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Realität, Einheit und Vernunft stehen unter einem Einheitsfokus, sind selbst nichts anderes als Einheit – ein Erbe der transzendentalen Apperzeption Kants und des Ich der frühen Wissenschaftslehre. Daher ist aller Unterschied ein Unterschied der Form, nicht aber des einen absoluten Gehalts. Der Unterschied ist eine Sache der Ansicht, Differenz eine Sache der Perspektive, Fichtes Philosophie daher eine sich auf sich beziehende Perspektivtheorie. Wissen ist immer perspektivisch aufgefächert, aber, insofern Wissen, der Einheit verpflichtet. Darin unterscheidet sich sein Anliegen von demjenigen Hegels, dessen Systembau stets den Überblick, die Perspektive des Ganzen, mit einschließt.8 Fichte hingegen beharrt darauf, dass auch der Überblick nur eine bestimmte Ansicht des Ganzen ist, keineswegs aber das Ganze selbst. Neben der Einheit des Absoluten gibt es daher die Duplizität der Ansicht des Absoluten und die Vielheit der Ansichten des Absoluten, ein Spannungsmoment, das die gesamte Philosophie Fichtes prägt. Hierher gehören die Duplizität des Idealen und Realen und ihre ideale Duplizierung zu Idealismus und Realismus.9 8  „Der Geist erfordert, daß er eine allgemeine Vorstellung von dem Zweck, der Bestimmung des Ganzen bekomme, damit man wisse, was man zu erwarten hat. Man will die Landschaft im allgemeinen überschauen, die man dann aus dem Auge verliert, wenn man den Gang in die einzelnen Teile antritt“ (TWA 18, 25, Anm. 10). 9  Vgl. Günter Zöller, „Thinking and Willing in Late Fichte“, in: Daniel Brea­zeale, Tom Rockmore (Hg.), After Jena: New Essays on Fichte’s Later Philosophy, Evanston, IL 2008, 51–66; Ders., „Fichte, Schelling und die Riesenschlacht um das Sein“, in: Ursula Baumann (Hg.), Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis, Hannover 2006, 93–110. Ferner: Christoph Asmuth, Das Begreifen des

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Hierher gehört auch Fichtes Theorie der fünffachen Weltansicht, in der die Welt mit ihren unendlichen Formen und Gestaltungen in fünffacher Weise angesehen wird, Weltansichten, die aller Erfahrung a priori zugrunde liegen. Dabei bleibt Fichte stets dem transzendentalphilosophischen Programm verpflichtet. Wie auch immer man seine philosophische Entwicklung betrachtet, ob er sich von seinen philosophischen Anfängen, von der kritischen Philosophie Kants weit entfernt, ob er sich von der Philosophie des Ich, wie er sie in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre ausführte, distanziert, ob er das gesamte Jenaer System grundlegend revidiert, eins dürfte klar sein: Es gibt keinen expliziten Textbeleg dafür, dass er sein transzendentalphilosophisches Konzept etwa zugunsten einer Ontologie oder Metaphysik umgebaut hätte. Im Gegenteil: Die späte Wissenschaftslehre, paradigmatisch und explizit 1810, radikalisiert die Transzendentalphilosophie und entwickelt eine neue Variante dieser Argumentation. Die Kantische Vernunftkritik sucht nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis und erhält als Resultat ein Konstrukt von Möglichkeitsbedingungen ohne ontologisches Substrat, dessen Geltung unabhängig ist sowohl von empirischen Bedingungen als auch von metaphysisch-theologischen Voraussetzungen. Immer dann jedoch, wenn wirklich erkannt wird, sind auch die Möglichkeitsbedingungen gegeben, d. h. wirklich und – in Bezug auf das Wissen von Regeln – gültig. Fichtes Wissenschaftslehre steht unter dem Primat des Praktischen: Das Wissen selbst ist praktisch, ist lebendiger Vollzug, zwischen Philosophie und Revolution ist kein substanzieller Unterschied. Zugleich ist der Gegensatz von Theorie und Praxis in das Wechselverhältnis von Ich und Welt implementiert und aufgehoben. Denn im Verlauf der Wissenschaftslehre wird sowohl abgeleitet, wie sich das Ich durch seine Außenwelt notwendig bestimmt sieht, als auch gezeigt, wie das Ich in dieser notwendig bestimmten Welt Handlungsfreiheit erhält, d. h. nicht bestimmt ist, sondern bestimmend. Man lasse sich hier durch die Rhetorik der Freiheit nicht täuschen: Bei Fichte geht die Freiheit mit der Notwendigkeit Hand in Hand. Ein pluralistischer Freiheitsbegriff ist ihm fremd. Frei ist der Mensch, wenn er gemäß der Vernunft handelt, die wiederum nicht seine Vernunft ist, sondern eine Vernünftigkeit in allen, ein sittliches Gesetz für die Freiheit aller.

Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte. 1800–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 226–253; Ders., „ ‚Horizontale Reihe‘ – ‚perpendikuläre Reihe‘. Die 11. Vorlesung der Wissenschaftslehre 1804/2 und die beiden Denkfiguren der Fichteschen Wissenschaftslehre“, in: Jean-Christophe Goddard, Alexander Schnell (Hg.), L’être et le phénomène. Sein und Erscheinung. J. G. Fichtes Wissenschaftslehre (1804), Paris 2009, 53–71.



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III. Die Anweisung zum seeligen Leben – Fichtes Berliner Religionsphilosophie (1806) Die Anweisung zum seeligen Leben – bereits die Zeitgenossen wunderten sich darüber und spotteten, Fichte müsse selbst selig sein, wenn er zum seligen Leben eine Anweisung verspreche.10 Der aufgeklärten Berliner Gesellschaft sagte der Ton nicht zu, in dem sie über das selige Leben belehrt werden sollte. Die Zuhörer sind Regierungsbeamte, Professoren, Künstler, „aufgeklärte Juden und Jüdinnen, Staatsräte, Kotzebue“, wie Hegel einmal abschätzig bemerkte (TWA 20, 413). Die Anweisung zum seeligen Leben hat zwei große Teile, deren Konsistenz nicht immer klar zu erkennen ist.11 Nach einer einleitenden und einer methodologischen Vorlesung gibt Fichte in einem ersten großen Teil die Resultate seiner Wissenschaftslehre wieder – einschließlich seiner Lehre von den fünf Weltansichten. Daran schließt sich ein Exkurs zum Johannes-Evangelium an. Der zweite Teil enthält Fichtes Theorie der Liebe, einer Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, ausgefaltet in vier Stufen der Seligkeit. „Die allererste Aufgabe dieses Denkens ist die: das Seyn scharf zu denken“ (GA I/9, 85). Das eigentliche und wahre Sein hebt Fichtes summarische Darstellung der Wissenschaftslehre in nuce an. Jeder der Fichtes Philosophie kennt, weiß, dass der Aufforderung als Aufforderung in seiner Philosophie eine zentrale Rolle zukommt. Nur im wechselseitigen Auffordern und Aufgefordert-Werden kann beispielsweise das Ich Person werden. Unter zwei Perspektiven soll das Sein nach Fichte gedacht werden. Äußerlich ist es unwandelbar, nicht geworden, nicht hervorgegangen aus einem Anderen oder Früheren. Es ist von sich selbst, aus sich selbst, durch sich selbst, ganz autonom und unbedingt. Innerlich ist das Sein ebenfalls unwandelbar und ewig, d. h. 10  Dies

berichtet die Ehefrau Fichtes, Marie Johanne (Gespräch III, 276). zur Anweisung: Sein, Bewußtsein und Liebe. Johann Gottlieb Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“, herausgegeben, erläutert und mit einer Einleitung versehen von Christoph Asmuth, Mainz 2000; Asmuth, Das Begreifen des Unbegreif­ lichen, 67–121; Fritz Medicus, „Fichtes Religionsphilosophie im Schatten einer theologischen Kritik“, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 2, 1928/29, 141–153; Kurt Plachte, Fichtes Religionsphilosophie in der „Anweisung zum seeligen Leben“, Diss. Hamburg 1922; Dominik Schmidig, Gott und Welt in Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“, Diss. Wald ZH 1966; Frédéric Seyler, Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“. Ein Kommentar zur Religionslehre von 1806, Freiburg 2014; Hansjürgen Verweyen, „Fichtes Religionsphilosophie. Versuch eines Gesamtüberblicks“, in: Fichte-Studien, 8, 1995, 193–224; Hartmut Traub, J. G. Fichtes Populärphilosophie. 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992; George J. Seidel, „The Atheism Controversy of 1799 and the Christology of Fichte’s ‚Anweisung zum seligen Leben‘ of 1806“, in: Daniel Breazeale, Tom Rockmore (Hg.), New Perspectives on Fichte, Atlantic Highlands, NJ 1996, 143–151. 11  Vgl.

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ohne Bezug auf die Zeit. Es verändert sich nicht und wird etwas Neues. Es bleibt, was es war, und es wird, was es ist. Es bleibt stets dasselbe, äußerlich und innerlich. Das Sein muss – so fasst Fichte zusammen – gedacht werden als Eins, als „eine in sich selbst geschloßne, und vollendete, und absolut unveränderliche Einerleiheit“ (GA I/9, 86). Von diesem Gedanken des Seins völlig verschieden ist der Gedanke des Daseins des Seins. Dasein bedeutet – so Fichte – Bewusstsein, Vorstellung, Offenbarung, Bild. Das Dasein ist eine Repräsentation; es ist selbst nicht das, was es ist, sondern hat es von einem anderen, das es eben selbst nicht ist. Es verweist auf etwas von ihm Verschiedenes; es verweist auf das Sein. Das Dasein ist das Sein des Seins außerhalb des Seins. Aber was bedeutet das für den Gedanken des Seins, den zu vollziehen Fichte uns aufgefordert hat? Wir haben das Dasein übersprungen und glaubten nur, „in das Seyn selber gekommen zu seyn …; indeß wir doch, immer und ewig, nur in dem Vorhofe, in dem Daseyn, verharren“ (GA I/9, 87). Wir haben nicht bedacht, dass wir im Gedanken des Seins selbst denken, d. h. Dasein, Bewusstsein, sind. Hier ergibt sich nun eine mögliche Konsequenz, die für das Konzept einer Anweisung zum seligen Leben fatal wäre: Es könnte nicht nur eine einzige Form des Daseins des Seins geben, sondern viele oder gar unendlich viele verschiedene Formen. Das Sein wäre in jedem Dasein verschieden, damit auch verschieden von sich selbst; denn das Sein ist absolute Einheit, das Dasein aber Verschiedenheit. Das Dasein ist verschieden von jedem anderen Dasein und darum auch verschieden vom Sein. Zwischen Sein und Dasein „würde vielmehr daraus eine unermeßliche Kluft“ (GA I/9, 87). Die Vereinigung zwischen uns, dem Dasein, und dem Absoluten, dem Sein oder Gott, wäre unmöglich, unmöglich für uns, daher auch Seligkeit zu erlangen. Das Dasein oder Bewusstsein solle die einzig mögliche Form des Daseins des Seins sein (vgl. GA I/9, 87). Das Verhältnis von Sein und Dasein ist eng. Sie erscheinen wie zwei Seiten einer Medaille. Trotzdem sind sie verschieden, aber nicht so, dass sie vollständig auseinanderfielen. Eine unüberbrückbare Kluft darf es zwischen ihnen nicht geben. Fichte formuliert die Aufgabe so: Das Sein soll da sein, aber es soll seinen absoluten Charakter nicht verlieren. Es soll weiterhin das Absolute sein, so wie wir es – unter Fichtes Anleitung – notwendig denken mussten. Aber welcher Gedanke kann das leisten, einerseits Sein und Dasein scharf zu trennen, andererseits ihre Einheit möglich zu machen? Das Sein, sagt Fichte, muss „von dem Daseyn, unterschieden, und demselben entgegengesetzt werden; und zwar, – da außer dem absoluten Seyn schlechthin nichts anderes ist, als sein Daseyn, – diese Unterscheidung, und diese Entgegensetzung muß – In dem Daseyn selber – vorkommen“ (GA I/9 87 f.). Dem Denken ist derselbe Fehler unterlaufen wie zuvor, indem es das Dasein übersprungen hat und direkt zum Sein geeilt ist. Wir haben uns selbst, unser Denken und Tätig-Sein, vergessen. Die Unter-



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scheidung von Sein und Dasein kommt nicht irgendwie vor, sondern ist nur für uns und durch uns. Und das Dasein ist dabei tätig. „Das Dasein muß sich selber als bloßes Dasein fassen, erkennen und bilden.“ Die Unterscheidung fällt ins Dasein. Das entlastet das absolute Sein. Denn das absolute Sein ist Eins, innerlich und äußerlich ohne Unterscheidung. Sagt man: Von dem Sein ist das Dasein unterschieden, so verstößt man gegen den Gehalt des Seins. Nun trifft die Unterscheidung nicht die Perspektive des Seins, sondern die des Daseins. Das Dasein begreift sich als Dasein. Was ist das Dasein? Es ist Bewusstsein, Vorstellung, Offenbarung, Bild, nichts Originäres, sondern etwas Abgeleitetes. Es besteht nur in dem Verweis auf sein Ursprüngliches, Erstes, Urbildliches: das Sein. So wie es sich daher als Dasein begreift, begreift es sich als Dasein des Seins: Es „muß, Sich selber gegenüber, ein absolutes Seyn setzen, und bilden, Dessen bloßes Daseyn eben es selbst sey“ (GA I/9, 88). Das bedeutet: Die Unterscheidung von Sein und Dasein kommt im Dasein vor und nicht – so kann man hinzufügen – im Sein. Damit ist die dynamische Grundsituation jeder Wissenschaftslehre erreicht: Maximaler Unterschied bei gleichzeitigem maximalem Einheitsdruck, eine Grundsituation, die nach Fichtes Programm nur durch Sollen vermittelt werden kann, ein Sollen wiederum, das nur in der wirklichen Tat eingelöst werden kann. Charakteristisch für das philosophische Sprechen Fichtes in den Jahren um 1804 ist die Formulierung: Das Dasein „muß durch sein Sein – einem andern absoluten Dasein gegenüber – sich vernichten“. Diese emphatische Rede von der Selbst-Vernichtung bedeutet nicht die radikale Auslöschung des Bewusstseins, sondern soll vielmehr anzeigen, dass das Dasein oder Bewusstsein nichts für sich Selbstständiges ist. Vernichtet ist das Bewusstsein, insofern es sich als Bewusstsein erkennt und weiß, dass es an sich nichts bedeutet und keine Gültigkeit besitzt. Das Dasein erkennt sich als Dasein; Dasein ist Bewusstsein; das Bewusstsein erkennt sich als Bewusstsein. Es ist daher „Selbstbewußtseyn seiner (des Daseyns) selbst, als bloßen Bildes, von dem absolut in sich selber seyenden Seyn“ (GA I/9, 88). Weil es aber aus sich selbst keine Bedeutung hat, kann das Dasein die Einheit des Seins nicht gefährden. Es ist die einzig mögliche Form des Seins, dazusein. Das Dasein begreift sich selbst. Es begreift jedoch nur die Faktizität seines Daseins und nicht, wie es aus dem in sich geschlossenen Sein hervorgeht. Denn das Dasein kann sich nicht jenseits seiner selbst begreifen. Zu fragen: Was war das Dasein, bevor es war, was es ist, ist unmöglich. Es ist ihm „durch die Absolutheit seines Daseyns, und durch die Gebundenheit an dieses sein Daseyn, alle Möglichkeit über dasselbe hinauszugehen, und, jenseit desselben, sich noch zu begreifen, und abzuleiten, abgeschnitten …: allenthalben wo es ist, findet es sich schon vor“ (GA I/9, 88).

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Wenn das Dasein nun nicht aus sich herauskann, wie kommt es dann dazu, sich als Dasein des Seins zu begreifen? Woher hat das Dasein das von ihm völlig unabhängige und ihm vorausgesetzte Sein? Außer dem Sein – das ist wieder der Anfang der Argumentation – ist nichts und ist nichts da. Wenn etwas da ist, dann ist es durch das absolute Sein da. Das Sein und das Dasein sind in ihrem höchsten Punkt identisch. „Das reale Leben des Wissens ist daher, in seiner Wurzel, das innere Seyn, und Wesen des Absoluten selber, und nichts anderes; und es ist zwischen dem Absoluten, oder Gott, und dem Wissen, in seiner tiefsten Lebenswurzel, gar keine Trennung, sondern beide gehen völlig ineinander auf “ (GA I/9, 88). Die fünf Weltansichten heißen bei Fichte: Sinnlichkeit, niedere Sittlichkeit, höhere Sittlichkeit, Religion und Wissenschaft, d. h. Philosophie oder: Wissenschaftslehre.12 Diese Weltansichten sind hierarchisch geordnet. Fichte betont, dass jede höhere ihre jeweils niedere Form in ihrer Gültigkeit aufhebt. Es gibt also eine klare Hierarchie von Weltansichten, nicht wie in späteren Überlegungen anderer Autoren eine Pluralität von symbolischen Formen oder Weltversionen.13 Mit der niederen Sittlichkeit verbindet Fichte die praktische Philosophie Kants und dessen kategorischen Imperativ, dessen Funktion er darin sieht, dass die Freiheit aller zusammenstimmen kann, der es aber an positiven Bestimmungen fehle. Das Ergebnis der niederen Sittlichkeit ist nur, dass ich mich selbst nicht verachten muss. Die höhere Sittlichkeit dagegen fordert eine affirmative Ideenlehre, die Ideen des Guten, Wahren und Schönen, die um dieser Ideen selbst willen anzustreben sind. Fichte verbindet dies mit den Namen Platons und Jacobis: Platon habe eine Ahnung davon gehabt, und Jacobi, man hört den bitteren, fast gehässigen Unterton, zuweilen daran gestreift (vgl. GA I/9, 110). Die Religion schließlich besteht in der Erkenntnis, dass die Ideen in Gott gegründet sind, dass sie nichts anderes sind als Erscheinungen Gottes in uns, „sein Ausdruck, und sein Bild, durchaus und schlechthin, und ohne allen Abzug, also, wie sein inneres Wesen herauszutreten vermag in einem Bilde“ (GA I/9, 110). Aber für Fichte erschöpft sich die Religion gerade nicht in einer bloßen Erkenntnisposition. Sie unterminiert die Diskursivität der Theologie, ja, die Religion muss nach Fichtes Einsicht die Theologie vernichten. Denn etwa der Satz, unter den alle Theologie, zumindest diejenige, die Fichte kannte, subsumiert werden muss, der Satz nämlich: Gott allein ist, und außer ihm ist nichts, dieser Satz macht Gott zu einem Begriff, zu einem leeren Begriff, einem gehaltlosen Schattenbegriff, wie Fichte betont. Gott aber ist, so sagt 12  Vgl.: Christoph Asmuth, „Wissenschaft und Religion. Perspektivität und Absolutes in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes“, in: Fichte-Studien, 8, 1995, 1–19. 13  Vgl. Christoph Asmuth: „Wie viele Welten braucht die Welt? Goodman, Cassirer, Fichte“, in: Fichte-Studien, 35, 2010, 63–83.



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Fichte, gar kein Begriff, sondern reines Leben. Wir selbst sind, insofern wir denken, dieses göttliche Leben. Fichtes Ansicht von der Religion hat große Ähnlichkeit mit verschiedenen Ausprägungen der Mystik. Und so kann es nicht verwundern, wenn einige Deutungen diesem Zusammenhang große Aufmerksamkeit gewidmet haben.14 Fichtes Philosophie endet jedoch nicht in der Religion. Sie ist nicht das letzte wortlose Wort eines Weges in die Sprach- und Philosophielosigkeit unmittelbaren Glaubens und Lebens. Im ersten Teil der Anweisung zeigt Fichte, dass die Wissenschaftslehre über den Standpunkt der Religion hinausgeht, dass sich Gott nicht nur im Vollzug der moralischen Weltordnung manifestiert, sondern dass er – was höher ist – im reinen Denken klar geschaut werden kann. In der Philosophie erst ergibt sich der genetische Zusammenhang aller Wissensformen. „Die Religion, ohne Wissenschaft, ist irgendwo ein bloßer, demohngeachtet jedoch, unerschütterlicher, Glaube: die Wissenschaft hebt allen Glauben auf, und verwandelt ihn in Schauen“ (GA I/9, 112). Der Standpunkt der Religion ist bei Fichte demnach keine Instanz, an der oder zu der eine Religionsphilosophie entwickelt werden könnte. Die Reli­ gionsphilosophie ist der Religion aufgrund des reflexiven Vorgehens vielmehr entgegengesetzt. Allein die Wissenschaftslehre als Universalprojekt umgreift die der Religion eigentümlichen Gehalte und macht sie für das Wissen transparent. Hier liegt der Grund für das ambivalente Verhältnis von Wissenschaftslehre und Christentum. Seine Schriften stehen einerseits in der Tradition der Aufklärung. Andererseits jedoch bemüht sich Fichte um eine Erneuerung der Religion, um eine Religion der Vernunft. Religionskritik, Kritik an Kirche, Klerus, Tradition und Ritus stehen bei Fichte genauso in der Mitte seiner Überlegungen zum Christentum wie seine Bemühungen um eine Transformation christlicher Überzeugungen. Diese erneuerte christliche Lehre ist jedoch keine reformulierte Ontologie oder gar Metaphysik, sondern Wissenschaftslehre. Das zeigt das Konfliktfeld, in dem sich Fichtes Schriften zum Christentum bewegen: Das einzige Kriterium, an dem das Christentum sich messen lassen muss, ist die Vernunft. Das Christentum ist wahr, nur insofern es vor der Philosophie oder der Wissenschaftslehre bestehen kann. Im 14  Jakob Barion, Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre religionsphilosophische Bedeutung, Würzburg 1929; Katharina Ceming, Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Wien 1999. Zur Gegenposition vgl. Wolfgang Janke, „Religion – Mystik. Fichtes Abwehr des Mystizismus“, in: ders., Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard, Amsterdam/Atlanta 1994, 83–95; Adolf Lasson, Johann Gottlieb Fichte im Verhältnis zu Kirche und Staat, Aalen 1968; August Messer, Fichtes religiöse Weltanschauung, Stuttgart 1923, 89–94.

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Diarium 1813 heißt es klar: „Nur das Princip der W. L. macht das Xstenthum verständlich –.“15

IV. Die Republik der Deutschen Ein Jahr nach der Anweisung zum seeligen Leben, also 1807, wahrscheinlich im Frühjahr kurz vor seiner ‚Flucht‘ aus Berlin nach Königsberg schreibt Fichte Science Fiction: Die Republik der Deutschen zu Anfange des zwei u. zwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichvogte. Preußen hatte im Herbst 1806 eine vernichtende Niederlage gegen die Napoleonischen Truppen hinnehmen müssen. Der alte preußische Staat brach nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 zusammen. Der Hof floh nach Königsberg. Erst nach der entscheidenden Niederlage gegen Napoleon in der Schlacht bei Friedland endete der Krieg vorerst, und es kam zum Friedensvertrag von Tilsit am 7. Juli 1807. Preußen verlor dabei fast die Hälfte seines Gebietes. In diesen zeitlichen Rahmen fällt jenes merkwürdige Manuskript, das wir aus Fichtes Nachlass kennen, und das einen guten Einblick gibt in das Denken Fichtes zwischen 1805 und 1807. Fichte fingiert einen Geschichtsschreiber der Zukunft, der auf Fichtes gegenwärtiges Zeitalter zurückblickt. Er lässt kein gutes Haar an der Gegenwart: „egoistische Selbstsucht“, „allgemeine Schlechtigkeit“, „Resignation“, „Unverstand“, „Vermeßenheit“, „Unklugheit“, „Hochverrath“, „Ketzerei“, „ekelhafte Schmeicheleien“: das sind Schlagworte, mit denen der Geschichtsschreiber der Zukunft zurückblickt. In einer Art Bericht äußert sich der Geschichtsschreiber über jene Reformen, durch die sich der alte schlechte Zustand der Deutschen gebessert habe. Dazu gehören: „Schönheit der öffentl. Gebäude, Kanäle, ­ Straßen. Kirchen, Schulen, Alleen. Gärten. Darauf ist beim Anbau des Landes gar sehr mit gesehen. An Olympische Spiele. Ich sollte denken, bei den Musterungen“ (GA II/10, 389). „Olympische Spiele“ – Fichtes Idee ist ungewöhnlich früh. Tatsächlich liegt die Geburtsstunde der neuzeitlichen Olympischen Spiele in Griechenland, und zwar in der griechischen Dichtung des Verlegers Panagiotis Soutsos, der 1833 in einem Gedicht die Olympischen Spiele als Symbol der antiken griechischen Kultur vorstellte. Nach der Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich (1828) und dem Eingreifen der europäischen Großmächte regierte Otto I., ein bayerischer Prinz, ab 1832 Griechenland für 30 Jahre als König. Soutsos’ Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Es dauert bis zum Jahr 1859. Ein erfolgreicher griechischer Kaufmann, Evangelos Zappas, konnte schließlich die ersten Olympien in Athen mit Er15  Günter Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, Diss. Göttingen 1973, 67.



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laubnis Otto I. durchführen. Teilnehmen durften nur Griechen. Diese Olympien waren in ein Programm eingebettet, das eine Industrie- und Landwirtschaftsausstellung bot, hinter die das Sportliche zurücktreten musste. Vorbild war das Münchner Oktoberfest, ebenfalls in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine landwirtschaftliche Leistungsschau, begleitet von Sportwettkämpfen. Dass Fichtes Idee von jenen Olympischen Spielen konzeptionell abweicht, die wir seit 1894 kennen, ist offenkundig. Pierre de Coubertin entwarf sie als „Treffen der Jugend der Welt“. Fichte denkt nicht an eine Internationale Sportgroßveranstaltung, sondern folgt einem antikisierenden Ideal. Seine Vorstellungswelt folgt dem Klassizismus. Es geht um „olympische Spiele“ der deutschen Länder, analog zu den Spielen der griechischen Stadtstaaten der Antike. Ziel ist die Bildung der Deutschen zu einem Volk, zu einer Nation, so wie Fichte es später in den Reden an die deutsche Nation propagieren wird. Es geht ihm um Nation Building, eine Vereinigung der deutschen Staaten und Kleinstaaten unter Führung Preußens als Gegengewicht gegen Frankreich und Napoleon. Fichte erhofft sich von der deutschen Einheit nicht nur einen deutschen Staat mit einer deutschen Verfassung, sondern mehr noch die Einheit der Deutschen, die er als eine geistige Einheit versteht. Und es geht Fichte um Wehrertüchtigung, ein Motiv, das später auch bei Johann Friedrich Ludwig Christoph Jahn zentral wird, bei dem berüchtigten Turn­ vater, der durch die paramilitärische „Turnkunst“ das Deutsche Volkstum beleben wollte. Was bei Fichte noch ganz aus der Depression der Niederlage Preußens heraus konzipiert wird, verkehrt sich in blanken völkischen Nationalismus. In seinen Memorabilien 1838/39 hat Karl Immermann das wunderbar festgehalten: Fichte hatte in einer seiner Reden auf einen geschlossenen Jugendstaat hingewiesen, als auf ein Mittel, wodurch die Erziehung des zukünftigen Geschlechts möglich werden könne. Jahn, der sich häufig wie der unbewußte Affe Fichte’s gebärdet, machte diesen phantastischen Staat eine Zeitlang wirklich. In demselben herrschte eine Aristocratie des Ringens, Schwingens, Rennens und Reckens. Die Turnkunst ist ein Musterbeispiel, wie man eine ganz einfache Sache verderben und confus machen kann. (Gespräch VII, 265)

In der Religionsphilosophie Fichtes, insbesondere der aus dem Jahre 1806, weht der gleiche Wind. Keineswegs geht es um eine epistemische Erläuterung der Glaubensakte, noch geht um eine mystische Transformation der christlichen Religion, noch auch um einen intellektualistischen Revisionismus tradierter Glaubensinhalte.16 Fichte geht es um eine identitätspolitische Reformation, wenn nicht sogar Revolution des religiösen Glaubens der Deut16  Vgl. Christoph Asmuth, „ ‚Mystische Vergötterung des eigenen Ichs‘. Fichte Religionsphilosophie und der Mystizismus“, in: Georg Sans, Johannes Stoffers (Hg.), Religionsphilosophie nach Fichte. Das Absolute im Endlichen, Stuttgart 2022, 27–49.

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schen. Ziel ist die Einheit der deutschen Nation in ihren natürlichen Außengrenzen und in ihrem inneren Bewusstsein, wie er es später in den Reden fordert. Die Legislative des Zukunftsstaates habe es – natürlich nach Konsultation der Gelehrten – deshalb für nötig befunden, so Fichte in der Republik der Deutschen, neben dem römisch-katholischen, dem lutherischen und dem reformierten Bekenntnis ein viertes staatlich einzuführen: die Konfession der Allgemeinen Christen, und diese „zur eigentl. bürgerlichen Religion d. i. zu der für die Aufgabe des Staates legitimen Religion zu erheben“. Diese All­ gemeinen Christen erkennen die Gotteslehre des Christentums an, allerdings nur, insofern sie der Vernunft entspricht (vgl. GA II/10, 397). Als gute Fichteaner erachten die Allgemeinen Christen alles Historische an der Religion für unwesentlich. Das betrifft auch Jesus Christus. An der historischen Person Jesu sind die Allgemeinen Christen nicht übermäßig interessiert. Historischen Streit betrachten sie als „eine Albernheit“ (GA II/10, 397). Das Zentrum ihrer Religion ist die Vernunft, Ich, „weil wir selbst, als dem Wesentlichen, Christuße zu sein fest glauben“ (GA II/10, 398). Dieses Glaubensbekenntnis ist tief in der Verfassung der Republik der Deutschen verankert, in der es nach Fichte heißen soll: „Die erste Bedingung der menschlichen Bildung ist unumschränkte Selbstständigkeit, und diese besteht darin, daß man keine Schranken anerkenne, als die durch klare eigne Einsicht vom festen eignen Willen gesetzte. Wer nach fremder Einsicht wollen muß, ist nicht frei. Das System des blinden Autoritätsglaubens geht hervor, wo nicht aus Despoten-, denn doch sicher aus SklavenGemüthern. Keine Konstitution aber für ein freies Volk darf irgend eine Verfügung, die der eignen Einsicht Grenzen zu setzen anmuthet, als Verfassungsmäßige Bedingung des Bürgerthums entweder aufstellen, oder auch nur stillschweigend stehen laßen“ (GA II/10, 414). Anders als gelegentlich zu hören ist, folgert Fichte die Idee einer inneren Volksidentität nicht aus ‚völkischen‘ Prinzipien wie Jahn,17 letztlich nicht aus patriotischen Voraussetzungen wie Ernst Moritz Arndt18 und auch nicht aus einem antijüdischen Ressentiment, wie Saul Ascher19 vermutete, sondern aus einem Freiheits- und Vernunftpathos, das ganz dem Duktus der Französischen Revolution verpflichtet ist, das sich ferner aus der Transzendentalphilosophie speist und damit ein radikalisiertes und ein systematisch zugespitztes Autonomiebewusstein nach Kant verbindet. In diesem homogenen Staat gibt es nur noch deutsche Christianer. Zwischen Fichtes Auffassung von der Religion und jenen identitätspolitischen Forderungen der fast 17  Vgl.

Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volksthum, Lübeck 1810. Moritz Arndt, Geist der Zeit, 4 Teile, Altona 1806–1818. 19  Vgl. Saul Ascher, Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena, Berlin 1794. 18  Ernst



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15 Jahre jüngeren Generation manifestiert sich nach Fichtes Tod 1815 ein klarer Bruch: Die Schlacht bei Waterloo führt zum völligen militärischen Einbruch Frankreichs und zum Zweiten Pariser Frieden im November 1815. Die Restauration beginnt, die Burschenschaften und die Germanomanen20 formieren sich und stellen die politischen und nationalistischen Fronten scharf. Hier ist wohl Karl Immermann zuzustimmen, der in seinen Memorabilien voller Sympathie bekennt: „Wenn Jemand zur rechten Stunde für seine Ruhe gestorben ist, so war es Fichte“ (Gespräch VII, 265).

20  Vgl. Saul Ascher, Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde, Leipzig 1815.

Über Fichtes Religionsphilosophie der Jahre 1805/06 Anton Friedrich Koch (Heidelberg)

I. Die Ausgangslage: Philosophischer Atheismus oder Theismus? Religionsphilosophie und philosophische Theologie sind natürlich zweierlei. Aber in Fichtes später Religionslehre fließen sie zusammen als Lehre von Gott, vom religiösen Standpunkt, vom seligen Leben, von der ewigen Fort­ existenz der Individuen und von verwandten Dingen. Warum lohnt sich die Auseinandersetzung mit dieser Religions- und Gotteslehre? Was mich angeht, so hatte ich lange geglaubt, die Philosophie müsse theologisch neutral sein, obwohl sie es selten war. Dann aber sah ich mich in meinen Studien durch die Kraft der Argumente in Richtung Atheismus gedrängt oder zumindest in eine Richtung, die man für atheistisch halten muss, wenn man zum Theismus die Dogmen rechnet, (a) dass Gott eine Person ist, im Christentum sogar drei, wenn auch in inniger Identität, (b) dass er in Freiheit die Welt geschaffen hat und (c) dass er ein unendliches und absolut vollkommenes Wesen ist. Aus Gründen, die ich vielfach dargelegt habe und hier nicht wiederholen will, kam ich zu der Überzeugung, dass eine raumzeitliche Welt nur möglich ist, wenn irgendwann und irgendwo in ihr leibliche Subjekte auftreten. Sie allein sind mögliche logisch-ontologische – nicht kausale – Garanten dafür, dass es einzelne Dinge und einzelne Raumzeitstellen geben kann, und nur sie sind in der Lage, sich denkend und sprechend auf Einzelnes zu beziehen. Nennen wir diese Position Subjektivitätsthese. Sie schließt ein, dass wir uns Subjektivität nur als Pluralität endlicher Subjekte verständlich machen können, nicht aber als in der Form einer unendlichen und außerweltlichen Subjektivität. Vor einigen Jahren habe ich gleichwohl ventiliert, wie viel vom Theismus sich vielleicht halten ließe, wenn man die Möglichkeit eines unendlichen, göttlichen Subjektes einmal annähme, auch wenn wir uns diese Möglichkeit nicht verständlich machen können.1 Die Frage hat ihr Drängendes darin, dass unsere logisch-ontologische Garantenrolle für die Möglichkeit des Universums uns schlecht vergolten wird, weil wir als denkende 1  Anton Friedrich Koch, Philosophie und Religion, Stuttgart 2020. Dort begründe ich im ersten Teil die erwähnte Subjektivitätsthese und begebe mich im zweiten Teil auf die Suche nach der verlorenen Religion.

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Subjekte wissen, dass wir sterben müssen, und weil zu allem Übel viele unter uns Furchtbares zu erleiden haben, was besonders augenfällig wird in den natürlichen, technischen und moralischen Großkatastrophen der Weltgeschichte. Ohne einen Gott, der jenseits der Endlichkeit in einem anderen Leben für Glück und Gerechtigkeit sorgt oder irgendeine verwandte Vorstellung, lässt sich die conditio humana, vernünftig betrachtet, kaum ertragen, sondern nur verdrängen. Meine Spekulationen gingen dahin, dass der angenommene Gott, da er sich nicht auf Einzelnes beziehen kann, die Welt en bloc und sozusagen blind erschaffen musste, was zwar Abstriche von seiner Vollkommenheit verlangt, andererseits aber für die Theodizee von Vorteil ist, weil Gott dann nicht wissen und nicht beeinflussen kann, was in der Welt im einzelnen vor sich geht. Wenn man von den göttlichen Vollkommenheiten wenigstens die Güte retten will, könnte das Christentum unter den Theismen also ein positives Alleinstellungsmerkmal durch die Inkarnationslehre erhalten. „Cur deus homo?“ fragte Anselm. Die Antwort müsste lauten, dass Gott für Heil in seiner Schöpfung sorgen wollte und dazu in einer seiner drei Personen selbst Mensch werden musste, um sich in endlicher Weise auf die Einzelheiten seiner Schöpfung beziehen zu können. Ich trieb meine Spekulationen noch ein wenig weiter; aber ich breche hier ab, weil die ganze Konstruktion recht luftig wirken muss und weil ich inzwischen sehe, dass der späte Fichte vielleicht Besseres zu bieten hat, das hier mein Thema sein soll. Auf einen Atheismusstreit zurückblickend, der ihn, den Unerbittlichen, 1799 seine Professur gekostet hatte, publizierte Fichte 1806 seine „Reli­ gionslehre“ unter dem Titel einer „Anweisung zum seligen Leben“. Was er dort entwickelt, stellt eine vielversprechende Alternative zu meinem tentativen Ansatz dar, und zwar eine, die näher an der Subjektivitätsthese bleibt als dieser Ansatz selbst. Fichte lehrt nämlich, dass Gott weder Person noch Weltschöpfer ist und dass denkende Subjektivität nur als endliche und leib­ liche vorkommen kann. Andererseits überschreitet er jedoch den Standpunkt der Endlichkeit, auf dem die Subjektivitätsthese verharrt, und versucht des Weiteren zu zeigen, dass und wie ohne personalen Schöpfergott ein seliges Leben für alle möglich ist, auch für die Leidenden, Gefolterten, Ermordeten. Von Februar bis März 1805 hatte er in Berlin eine Vorlesung über [d]ie Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre gehalten und im Sommer 1805 in Erlangen die Wissenschaftslehre neu vorgetragen; dann folgte im Jahr darauf die Anweisung zum seligen Leben. Das sind meine drei Referenztexte, ich nenne sie im Folgenden kurz die Prinzipien, die Wissenschaftslehre und die Anweisung. Im Zentrum wird die Anweisung stehen. Die Ausgangsbasis ist in allen drei Texten ein Gefüge folgender Behauptungen: (1) Es gibt das Absolute, alias Sein, alias Gott. (2) Das Absolute ist nicht in sich ver-



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schlossen, sondern äußert sich, es ex-sistiert und ist da in epistemischer Zugänglichkeit. (3) Das Wissen, also unsere Kognitivität, nicht etwa die Welt, ist die Existenz des Absoluten. (4) Das Wissen darf nicht verdinglicht werden, sondern existiert nur im Wissen und für das Wissen. (5) Das Wissen ist als Wissen seinerseits absolut. – Dieses Thesengefüge soll in Teil II, dem Hauptteil des Aufsatzes, untersucht und, so gut es geht, gerechtfertigt werden. Danach folgen in Teil III Bemerkungen zu der Religions- und Gotteslehre, die Fichte auf der skizzierten Basis errichtet.

II. Das Wissen als die Existenz des Absoluten In der Wissenschaftslehre formuliert Fichte sein Grundtheorem wie folgt (GA II/9, 185): „Ich sage: Das Wissen ist an sich die absolute oder was das gleiche bedeutet […] des Absoluten Existenz.“ Statt „Wissen“ sagt er in der Anweisung auch „Bewusstsein“, „Vorstellung“ und „reines Denken“, statt „Absolutes“ meistens „Sein“, auch „Gott“ oder „Gottheit“, und statt „Existenz“ gewöhnlich „Dasein“. In der zweiten Vorlesungsstunde der Anweisung heißt es: „Das reine Denken ist selbst das göttliche Daseyn; und umgekehrt, das göttliche Daseyn […] ist nichts anderes, denn das reine Denken“ (GA I/9, 69 = 418 f.),2 und in der dritten: „[U]nmittelbar […] ist – Daseyn des Seyns das – Bewusstseyn, oder die Vorstellung des Seyns“ (GA I/9, 86 = 440). In den Prinzipien schließlich wird das Absolute meist mit Gott identifiziert und das Wissen qua Dasein des Absoluten dann mit dem Dasein Gottes (GA II/7, 380). „Gott, Göttliches“, sagt Fichte und schiebt ein: „sich nicht an die Personifikation gestoßen: wir hoffen […] diese ganz wegzubringen – bedeutet bei uns, was es im ächten Christenthum […] von jeher bedeutet hat, das [A] bsolute, Ens a se, per se – den in sich Träger […] alles Seyns, u. Lebens“ (GA II/7, 378). Zu „a se“ und „per se“ – an sich und durch sich – ergänzt die Anweisung noch „aus sich selbst“ (GA I/9, 85 = 439). Nun schätzt Fichte keine festgezurrte Terminologie, wohl aber pointierte Thesen und präzises Denken. Je kontextuell müssen seine Termini also verlässliche Hilfsmittel zur Bildung wohlbestimmter Gedanken sein. Wie steht es in dieser Hinsicht mit den Termini „Sein“, „Absolutes“ und „Gott“, die er an den zitierten Stellen mehr oder weniger äquivalent gebraucht? Sie haben wie auch die Termini auf der epistemisch konnotierten Gegenseite: „Wissen“, „Dasein“, „Existenz“, „Bewusstsein“ und „Denken“ (zu ihnen später), jeweils verschiedene Bedeutungen oder Intensionen. Es versteht sich also nicht von selbst, dass sie denselben Bezug, dieselbe Extension haben; ihre Bezugs2  Für die Anweisung wird (nach dem Gleichheitszeichen) auch die Seitenzahl in Fichtes sämtlichen Werken, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band V, Berlin 1845/46, 397–580, angegeben, die in GA am Rand vermerkt ist.

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gleichheit muss vielmehr bewiesen werden. Sie ist weder eine bloß konventionale wie bei Abkürzungen, etwa „LMU“ und „Ludwig-Maximilians-Universität“, noch eine bloß faktische, empirisch zu rechtfertigende wie bei „Abendstern“ und „Morgenstern“, sondern eine notwendige und beweisbare wie bei „gleichseitiges Dreieck“ und „gleichwinkliges Dreieck“. Fragen wir also zunächst nach den Bedeutungen der drei Termini „Absolutes“, „Gott“ und „Sein“. Ein Absolutes, um damit zu beginnen, ist dem Wortsinn nach auf nichts bezogen. Die vielen Welten beispielsweise, die David Lewis annimmt, sind Absoluta in diesem Sinn; sie sind raumzeitlich und kausal isoliert und stehen daher in keinen Realbeziehungen zueinander. Wer Lewis’ modalen Realismus ablehnt, mit dem eine Relativitätstheorie des Wirklichen einhergeht, und vielmehr die eigene Welt als die einzig reale und als die absolut aktuale betrachtet, würde bei geeigneten Zusatzüberzeugungen, etwa naturalistischen oder szientistischen, vermutlich das physikalische Universum für das Absolute halten. Der Begriff Gottes ist umstrittener als der des Absoluten, zumal sich Fichte auch noch auf das „echte Christentum“ beruft, unter dessen rechter Lehre allerlei Verschiedenes verstanden wurde und wird. Was die klassische metaphysische Tradition angeht, so fasste sie Gott als das ens perfectissimum, woraus sich weitere Bestimmungen ableiten ließen. Fichte sagt, die Tradition habe Gott als (a) das Absolute, (b) ens a se, per se und (c) den In-sich-Träger des Seins und Lebens verstanden. Für Punkt (a) trifft das indessen nicht zu. Denken wir etwa an Leibniz. Er nimmt wie Lewis viele Welten an, die bei ihm jedoch keine Absoluta sind, sondern Maxima kompossibler möglicher Substanzen, die im Verstand Gottes um den Status der Wirklichkeit konkurrieren. Da Gott die beste von ihnen verwirklicht hat, ist auch er selbst kein Absolutes mehr, sondern nunmehr real auf seine Schöpfung bezogen. Den Schöpfungsgedanken muss Fichte mithin fallenlassen, wenn er Gott als das Absolute fassen will, und sagt es auch explizit in der Anweisung (GA I/9, 118 = 479). Der Weltschöpfer, sofern man denn von einem reden möchte, ist für ihn der Begriff, also etwas am oder im Wissen (GA I/9, 97 = 454). Unter die Vollkommenheiten des ens perfectissimum subsumiert Leibniz mit der Tradition die kognitiven und praktischen Vermögen Wissen, Willen und Macht: Gott kennt in Allwissenheit alle möglichen Welten, will in Allgüte die beste von ihnen und verwirklicht sie in handlungskausaler Allmacht. Gott ist also Person. Auch davon nimmt Fichte Abstand. Das Absolute ist keine Person. Personen sind stets endliche Subjekte, fehlbar in ihrem Wissen und Wollen und sehr beschränkt in ihrer Macht. Nicht so sehr der klassischen Tradition steht Fichte also nahe, sondern eher schon der Nichtstandardtheo-



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logie Spinozas, der Gott als die singuläre Substanz fasst und daher tatsächlich als das Absolute, das weder Schöpfer noch Person ist. Für einen zwischen Leibniz und Spinoza neutralen Minimalbegriff von Gott bleiben daher nur die Bestimmungshinsichten aus der klassischen VierUrsachen-Lehre übrig, also die Hinsichten der inneren Ursachen Form und Materie sowie der äußeren des Bewirkenden und des Zwecks. Vor dieser Folie ergibt sich ein rein formaler, weitgehend negativer Gottesbegriff: Hinsichtlich der Form ist Gott von sich, ohne begrenzendes eidos, oder selbst seine Form; nach der Materie besteht er materiefrei aus sich oder ist selbst seine „Materie“; nach der Wirkursache ist er durch sich oder selbst seine Ursache; und nach der Zweckursache, die extensional mit der Form zusammenfällt, ist er zweckfrei abermals von sich oder sein eigener Zweck. Sachlich allerdings sind diese Hinsichten in Gott gar nicht geschieden. Seine Form und „Materie“ sind sein identisches Wesen, und das Wesen schließt seine Existenz ein, „involvit existentiam“, wie Spinoza in den ersten Worten der Ethik, dem Definiens der causa sui, ausdrücklich anerkennt. In diesem Punkt stimmt Spinoza und mit ihm Fichte mit der klassischen Tradition von Avicenna und Thomas bis zu Descartes und Leibniz also überein. Bleibt nach dem Absoluten und Gott noch das Sein zu betrachten. In der dritten Vorlesung der Anweisung fordert Fichte seine Hörerinnen und Hörer auf, es „scharf zu denken“, und zwar gemäß der Anleitung: „[D]as eigentliche und wahre Seyn wird nicht, entsteht nicht, geht nicht hervor aus dem Nichtseyn. Denn allem, was da [w]ird, sind Sie genöthigt, ein seyendes vorauszusetzen, durch dessen Kraft jenes erste werde.“ Das aber würde in einen Regress von Seienden „in das Unendliche“ führen, deren jedes von einem vorherigen abhinge (GA I/9, 85 = 438). Daraus folgt bereits die Gleichsetzung von Sein mit Gott gemäß dessen Minimalbegriff: Das „wahrhaftige Seyn“ kann man denken „nur, als ein Seyn von sich selbst, aus sich selbst, durch sich selbst“, und das eben heißt: als Gott (GA I/9, 85 = 439). Zweitens ist das Sein eleatisch zu denken: „[A]uch innerhalb dieses Seyns kann nichts Neues werden, nicht Anders sich gestalten, noch wandeln und wechseln; sondern Wie es ist, ist es von aller Ewigkeit her, und bleibt es unveränderlich in alle Ewigkeit“ (GA I/9, 86 = 439). Parmenides, den Fichte nicht erwähnt, hat also recht: Wenn wir das Sein in allem Seienden rein und „scharf“ denken, finden wir keine Möglichkeit mehr, es auszudifferenzieren, denn dazu bräuchten wir nun ein Seiendes zusätzlich zum Sein, das aber als zusätzliches außerhalb des Seins stünde und daher kein Seiendes mehr wäre. Und so kommt Fichte zu dem Ergebnis, „daß das Seyn schlechthin nur als Eins, nicht als mehrere; und daß es nur als eine, in sich selbst geschloßne, und vollendete, und absolut unveränderliche Einerleiheit zu denken sey“ (ebd.). Dadurch ist es als das Absolute ausgewiesen und das Absolute im

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Gegenzug als das eleatische Sein. Es gilt also: Das Sein = Gott = das Absolute. Die Welt kommt nicht als das Absolute in Frage, weil sie nicht als eleatisches Sein in Frage kommt, sondern uns in Raum und Zeit als ein wandelbares Mannigfaltiges umgibt. Und Gott ist sie natürlich schon gar nicht. Wenn aber die Welt, die wir erkennen, nicht das Sein, nicht Gott und nicht das Absolute ist, so gelangen wir drittens, sagt Fichte, „bloß zu einem, in sich selber Verschlossenen, Verborgenen und Aufgegangenen, Seyn: Sie kommen aber noch keinesweges zu einem Daseyn, in sage Daseyn, zu einer Aeußerung und Offenbarung, dieses Seyns“ (ebd.). Damit gelangen wir zu den Termini auf der epistemisch konnotierten Gegenseite, zu den Begriffen des Wissens, Denkens, Bewusstseins und zu der Modalitätskategorie des Daseins oder der Existenz bzw. der Wirklichkeit. Deren epistemische Konnotation besteht in ihrer indexikalischen Komponente, die auf die denkende und wahrnehmende Person und ihre sinnliche Erfahrung zurückverweist. Kants zweites Postulat der Erfahrung, das die Modalitätskategorie des Daseins bzw. der Wirklichkeit charakterisiert, lautet demgemäß: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung ([mit] der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich“ (KrV, A 218/B 266). Und David Lewis definiert „wirklich“ sogar schlicht als „dies-weltlich“: Für jedes Individuum einer beliebigen Welt ist die je eigene Welt „diese“ und somit die wirkliche.3 Damit schießt Lewis allerdings übers Ziel hinaus. Zwar ist zur indexikalischen Konzeption der Wirklichkeit keine Alternative absehbar, aber Lewis macht aus der indexikalischen eine relationale Konzeption: Jede Welt ist sich selbst die wirkliche. Zu diesem Ansatz gibt es eine Alternative. HansPeter Falk hat sie entwickelt,4 indem er im Geiste Fichtes die Indexikalität des Wirklichen an die Selbstbeziehung des überindividuellen Wissens band und nicht wie Lewis an das jeweilige Selbstbewusstsein leiblicher Subjekte in beliebigen Welten. Der epistemisch-indexikalische Charakter der Wirklichkeit klingt bereits in den Worten „Dasein“ und „Existenz“ an, denn „da“ ist ein Indikator, ein Demonstrativum, und „ex-sistere“ heißt ursprünglich hervortreten, zum Vorschein kommen. Fichte steigert den epistemischen Anklang und rückt ihn ins Zentrum des Wirklichkeitsbegriffs durch die zitierte These, das Dasein des Absoluten sei Wissen, Bewusstsein, Vorstellung von ihm bzw. sei seine Äußerung und Offenbarung. Damit konfligiert aber prima facie der zuletzt genannte dritte Punkt Fichtes: das Sein sei in sich verschlossen und verborgen, 3  David 4  Vgl.

197–204.

Lewis, On the Plurality of Worlds, Oxford/New York 1986, 95 und 99. Hans-Peter Falk, Wahrheit und Subjektivität, Freiburg/München 2010,



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vergleichbar (würden wir heute sagen) einem massereichen schwarzen Loch, aus dem keinerlei Information entweichen kann. An dieses Problem werden wir nachher den Fortgang des Gedankens anknüpfen müssen. Gehen wir aber zunächst einen Schritt zurück, zu der Bemerkung, dass zu einer indexikalischen, epistemisch konnotierten Konzeption der Wirklichkeit keine Alternative absehbar sei. Was als Alternative einzig erwogen werden könnte, wäre eine deskriptive Konzeption, eine Definition von „wirklich“ durch ein reales Prädikat wie „rot“ oder „rund“ oder „schwer“ usw. oder durch eine Kombination solcher Prädikate. Aber wie Kant feststellte, kann ich hundert Taler immer detaillierter in Allgemeinbegriffen beschreiben, ohne die Frage zu berühren, ob sie wirklich sind oder nur vorgestellt. Erst indem ich sage: „Sie sind in meinem Portemonnaie“, oder: „Sie liegen da drüben auf dem Tisch“, behaupte ich ihre Wirklichkeit. Ich lokalisiere sie damit in meiner Wahrnehmungswelt, die allerdings nicht meine persönliche ist, sondern die aller Personen bzw. die des allgemeinen Wissens, das, wie Fichte sagen wird, immer schon ein Wissen von sich selbst einschließt. Zu diesem Punkt werden wir in Kürze kommen. Das absolute Sein, so haben wir von Fichte gehört, ist epistemisch in sich verschlossen. Dann aber kann seine Wirklichkeit nicht indexikalisch oder epistemisch konnotiert sein. Um die verborgene Wirklichkeit des absoluten Seins wenigstens zu denken, brauchen wir einen formalen, nichtepistemischen Begriff, für den sich der Ausdruck „formales Sein“ anbietet. Das inhaltliche, qualitative Sein einer Sache ist ihr Was-Sein oder Wesen, ihre quidditas oder essentia. Die bloße Wirklichkeit der Sache, indifferent gegen alles Erkennen, ist ihr Dass-Sein, ihr schieres esse. In diesen Begriffen haben Avicenna, Maimonides und Thomas die ontologische Differenz konzipiert, die sie den geschaffenen Dingen zuschrieben und von Gott verneinten. In den Kreaturen, so ihre Lehre, sind Was-Sein und Dass-Sein zweierlei; die Geschöpfe haben ihr Dass-Sein oder formales Sein nur von Gott. Gott jedoch ist sein formales Sein; in Gott sind essentia und esse eins. – Spinoza und Fichte stimmen zu: Gottes Was-Sein schließt sein formales Sein bzw. seine Wirklichkeit ein. Auch das in sich verschlossene absolute, göttliche Sein ist wirklich, obgleich in einer uns vorerst unbekannten nichtepistemischen Weise. Ist also das absolute Sein, wenn wir es denken (womit übrigens schon, von uns nicht beachtet, unser Denken als sein Dasein hinzutritt), ein bloßes Gedankending oder Noumenon, konzipierbar allein in abstrakt-formalen Begriffen, die ihrer Schematisierung entkleidet sind? Dann könnten wir es nur denken als eine Prima-facie-Möglichkeit, nicht aber als wirklich erkennen. Fichte ist offenbar anderer Überzeugung, wenn er behauptet, das Wissen sei des Absoluten Existenz bzw. das Dasein des göttlichen Seins, also sein ir-

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gendwie doch in epistemische Zugänglichkeit eingetretenes formales Sein. Durchbricht er hier die Immanenz des menschenmöglichen Wissens und begibt sich in die Sphäre der „transzendenten Spekulation“?5 Das wäre un­ typisch für einen an Kant geschulten Philosophen, und so verhält es sich tatsächlich nicht. Von dem bloßen Gedanken des absoluten Seins, sagt Fichte (wie oben zitiert, GA I/9, 86 = 439), kommen wir „aber noch keinesweges zu einem Daseyn, ich sage Daseyn [mit Betonung des ‚Da‘], zu einer Aeußerung und Offenbarung dieses Seyns“. Von unserem Begriff des absoluten Seins her lässt sich sein wirkliches Dasein nicht einsehen, obwohl dieser Begriff das formale Sein des absoluten Seins einschließt. Der Begriff könnte ja inkonsistent sein, so dass Beliebiges, also nichts Bestimmtes, nur seine Irrealität aus ihm folgte. Ein apriorischer Gottesbeweis ist unmöglich. Aber es gibt einen überwältigenden Beleg a posteriori, den schon der kosmologische Beweisversuch zum Ausgangspunkt nahm, wenn auch vergeblich: das factum brutum der Welt, in der wir uns vorfinden. Der kosmologische Beweis scheitert im Fichteschen Szenarium schon deshalb, weil Gott nicht die Ursache eines anderen Seienden sein könnte, ohne sein absolutes Sein zu verlieren. Inwiefern kann das Faktum der Welt dann aber zum Ausgangspunkt für die Begründung der These werden, dass das Absolute existiert? Fichte sagt, des Absoluten Existenz sei das Wissen, also nicht die Welt. Warum das Wissen? „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, lautet Wittgensteins erster Satz in der Logisch-Philosophischen Abhandlung. Wenn wir nun das Der-Fall-Sein der vielen Tatsachen, deren Gesamtheit die Welt ist, „scharf“ denken, kommen wir wie gesehen zum eleatischen Sein als dem wahrhaft Realen, auf das die Welt mit ihrem Dasein verweist. Das Problem ist, dass dieses absolute eleatische Sein in sich verschlossen ist, so dass die Welt gerade nicht als seine Äußerung und Offenbarung gelten kann. Indirekt aber ist sie eben doch Aspekt irgendeiner Äußerung und Offenbarung des absoluten Seins; denn ausgehend von ihr kamen wir ja allererst zum Gedanken des absoluten Seins. Auch wenn wir den Zusammenhang von Welt und Sein noch nicht kennen, belegt das Faktum der Welt, dass das Absolute sich irgendwie äußert, dass sein formales Sein nicht verschlossen bleibt, sondern erfahrbare Wirklichkeit für uns wird. Dieses Faktum lässt sich von der Seite der Welt her nicht verstehen und in seiner internen Verfassung erkennen, sondern nur äußerlich konstatieren. Ebenso wenig lässt es sich in der Gegenrichtung aus dem absoluten Sein folgern. Daher kann unsere Untersuchung nur bei der Frage ansetzen: Wie müsste das Absolute sich offenbaren, wenn es sich denn offenbarte? Auf den 5  Kants

Ausdruck, KrV, A 745/B 773.



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Irrealis in der Formulierung der Frage dürfen wir dabei verzichten, weil das Faktum der Welt belegt, dass sich das Absolute de facto auf irgendeine Weise offenbart. Fichte fragt daher: Wie allein kann und muss das Absolute sich offenbaren, wie muss seine Existenz als erkennbare beschaffen sein? Seine erste Antwort lautet, wie wir wissen: Das Absolute offenbart sich darin, dass seine Existenz unser Wissen ist. Warum aber kann diese Existenz nichts anderes sein als Wissen? Das gilt es nun herauszufinden. In der Ex-sistenz, dem Da-Sein des Absoluten wird sein ihm innerliches formales Sein, das mit seinem inhaltlichen Sein identisch ist, in gewissem Sinn aus ihm hinausgesetzt und offenbar für uns. Aber außerhalb des Absoluten kann es nichts Reales geben. Deswegen brauchen wir eine nichtontologische Theorie seines Daseins, so seltsam sich das zunächst auch anhören mag. Doch denken wir an Jacobis Diagnose im Brief an Fichte vom 3.– 21. März 1799, die Wissenschaftslehre sei ein Nihilismus (JWA II/1, 215) und an Fichtes verständnisvolle Reaktion in der Bestimmung des Menschen, wo er am Ende des zweiten Buches den belehrenden Geist resümieren lässt: Was durch das Wissen, und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefodert, das dem Bilde entspreche. Diese Foderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck. (GA I/6, 252)

Was hier skizziert wird, ist eine nichtnaturalistische und zugleich nichtontologische Konzeption des Wissens. Das Wissen hat alle Realität außer sich und ist seinerseits nur Bild. Jacobi bezieht dies auf das sich selbst setzende Ich der frühen Wissenschaftslehre (vgl. JWA II/1, 200–203), von dem Fichte schon in der Aenesidemus-Rezension gesagt hatte: „Das Ich ist, was es ist, und weil es ist, für das Ich. Ueber diesen Satz hinaus kann unsre Erkenntniß nicht gehen“ (GA I/2, 57). Das Ich ist nur für sich, nicht für eine Außenperspektive, sozusagen seine eigene Erfindung. Ebenso ist auch das Wissen nur für sich. Es ist nur dadurch, dass es von sich weiß, indem es sich auf etwas bezieht und sich diesem gegenüber zu einem bloßen „Bild“ depotenziert – zu einem bloßen pour-soi, könnte man mit Sartre sagen, gegenüber dem en-soi seines realen Gegenstandes. In der Wissenschaftslehre 1794 war das sich setzende Ich bzw. Wissen das erste, von dem ausgegangen wurde. Damit war Jacobis Nihilismus-Diagnose nahegelegt. 1805 jedoch gewinnt Fichte aus dem Faktum der Welt den antinihilistischen Anfangsgedanken des absoluten Seins, das sich, wie erneut das Faktum der Welt belegt, aus unbekanntem Grund äußert und offenbart. Es kann sich aber nur in und als etwas äußern, das ihm nicht als ein zweites Seiendes Konkurrenz macht und seiner Absolutheit abträglich wäre. Genau diese Anforderung erfüllt das Wissen kraft seiner rein kognitiven Struktur,

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seines prädikativen Als. Das Wissen ist nicht einfach Wissen wie ein Ding, sondern versteht sich als Wissen und ist nur, weil es sich als Wissen versteht. Wenn das in sich verschlossene formale Sein des Absoluten also epistemisch zugänglich, wenn es Existenz bzw. Dasein sein soll, muss es Wissen sein. Nicht das Faktum der Welt ist somit die Äußerung und Offenbarung des Absoluten, sondern das Wissen, in welchem wir vom Absoluten, von der Welt und vom Wissen selber wissen. Das ist ein bemerkenswert effektives Verfahren, um die Wissenschaftslehre in Gang zu bringen und dabei den Verdacht des Nihilismus ob ovo zu zerstreuen. Ausgehend vom Faktum der Welt, bilden wir den Gedanken des absoluten Seins, das, wie das Faktum der Welt belegt, da ist, sich also irgendwie äußert. Aus dem Begriff des absoluten Seins können wir die Notwendigkeit seiner Äußerung nicht einsehen. Aber da es sich unzweifelhaft irgendwie äußert und da ist, können wir logisch ableiten, wie allein diese Äußerung beschaffen sein kann und muss, nämlich als sich ontologisch selbst depotenzierend, das aber heißt als Wissen, das sich selbst als Wissen versteht. Fichte formuliert dies in der dritten Vorlesung der Anweisung so: [Das Dasein des Absoluten] muß sich selber als bloßes Daseyn, fassen, erkennen und bilden, und muß, Sich selber gegenüber, ein absolutes Seyn setzen, und bilden, Dessen bloßes Daseyn eben es selbst sey: es muß durch Sein Seyn, einem Andern absoluten Daseyn gegenüber, sich vernichten; was eben den Charakter des bloßen Bildes, der Vorstellung, oder des Bewusstseyns des Seyns giebt […]. Und so leuchtet es denn […] ein, daß das – Daseyn des Seyns – nothwendig ein – Selbstbewusstseyn seiner (des Daseyns) selbst, als bloßen Bildes, von dem absolut in sich selber seyenden Seyn, seyn – Müsse, und gar nichts anderes seyn könne. (GA I/9, 88 = 441 f.)

In diesen Formulierungen liegt der Grundsatz: Das Wissen ist des Absoluten Existenz, der, wie es an anderer Stelle hieß, gleichbedeutend ist mit: Das Wissen ist die absolute Existenz. Zweitens liegt darin auch der Folgesatz: Die Existenz des Absoluten, das Wissen, muss ihrerseits existieren, sich äußern, sich offenbaren; sie tut es in der Als-Struktur das Wissens, das nur da ist, nur existiert, sofern es sich als Wissen versteht. Warum aber ist das Wissen als des Absoluten Existenz zugleich die absolute Existenz? Die Antwort muss lauten, dass es von nichts Realem verursacht sein kann: nicht vom Absoluten, weil dieses dann einen realen Effekt hätte und nicht mehr absolut wäre, und nicht von etwas anderem, weil es außer dem Absoluten nichts Reales gibt. Also ist das Wissen durch sich, aus sich und von sich, nur eben als ein ontologisch Nichtiges, so dass keine ontische Konkurrenz mit dem Absoluten aufkommen kann. Es ist als Wissen bzw. als die Existenz des Absoluten seinerseits absolut, dies aber in negativer Selbstbeziehung, wie man mit Hegel sagen könnte. Sein sich selbst Setzen ist



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ein sich selbst Herabsetzen aus dem Sein zu einem nichtigen Bewusstseinvon-(…), in dem das Reale erkennbar wird.6 Dieses Erkennen kann aber natürlich keine reale Beziehung zwischen zwei Absoluten, dem absoluten Sein und dem absoluten Wissen, sein. Es muss sich vielmehr um ein nichtinvasives Projizieren und freies Nachkonstruieren des zu Erkennenden handeln. Die Gedankenfigur dieses Nachkonstruierens ist für die Transzendentalphilosophie von zentraler Bedeutung. Kant hat sie entwickelt, aber nicht eigens benannt, als er in der Deduktion der Kategorien zeigte, dass wir die kategoriale Form, die wir den Dingen nicht rezeptiv entnehmen können, spontan auf sie projizieren, dies aber so, dass wir im Erkennen nur nachkonstruieren, was immer schon objektiv zum Sein der raumzeitlichen Dinge gehört. Wir projizieren im Erkennen das auf sie, was sie im Sein immer schon besitzen, was wir aber nicht sinnlich an ihnen wahrnehmen können. Ein alltägliches Beispiel zur Illustration ist die Sprache. Tiere hören unsere Äußerungen und sehen unsere Texte, erkennen aber nicht deren Sinn, der zwar objektiv in den Lauten und Buchstaben kodiert ist, aber nur durch freie Projektion und Nachkonstruktion herausgehört oder herausgelesen werden kann. Im Fall der Sprache erklärt die gemeinsame Praxis ihrer Produzenten und Rezipienten das Gelingen der Nachkonstruktion, jedenfalls zum Teil. Für das absolute Wissen müssten wir jedoch eine basale logisch notwendige Verschränkung zwischen Sein und Wissen aufweisen, um die Verlässlichkeit der Nachkonstruktion zu belegen. Diese Verschränkung muss ihren Grund darin haben, dass das Wissen vom absoluten Sein zehrt, dessen Existenz es ja ist, also sein ins Epistemische gewendetes formales Sein. Alles Nähere dazu klärt die Wissenschaftslehre.

III. Anmerkungen zum Profil von Fichtes Religionsphilosophie In der Anweisung berichtet Fichte nur kurz und thetisch, wie die Wissenschaftslehre auf der gerade umrissenen Basis unmittelbar fortschreitet, um dann das eigentliche Thema der Schrift, das selige Leben, in den Blick zu nehmen. Ich erinnere kurz an den Bericht. Das Wissen ist kraft seiner Als-Struktur ein Prinzip der Spaltung, vergleichbar einem Prisma, in dem sich weißes Licht in die unendlichen Nuancen des Farbspektrums bricht. Im Prisma des Wissens bricht sich das Licht 6  Vgl. in diesem Sinn Sartre: „L’être ne saurait être causa sui à la manière de la conscience. L’être est soi.“ Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943 und 1976, 35. Das Sein ist ewig es selbst („soi“); nur das nichtige Bewusstsein kann und muss sich als seine eigene Ursache vorausgehen.

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des Absoluten in die unendliche Mannigfaltigkeit der raumzeitlichen Welt. Dabei wird (durch den Begriff als den „Schöpfer“ der Welt, GA I/9, 97 = 454) das lebendige Sein des Absoluten in das „tote“, objektivierte Sein der Welt verwandelt, in das starre en-soi, mit Sartre, in Vorhandenheit oder Bestand, mit Heidegger zu reden. Wie im Märchen die Hexe den Prinzen in einen Frosch, so verzaubert das Wissen Gott in die Natur. Spinozas Formel „deus sive natura“ erhält damit eine neue Pointe, nach dem Muster: „Prinz bzw. Frosch“ („sive“ ist nicht disjunktiv, sondern explikativ). Für die Lösung des Zauberbanns ist eine andere Spaltung von Belang, die zusammen mit der des Seins in die Mannigfaltigkeit der Natur auftritt, nämlich die Spaltung unserer Ansicht der Welt in fünf notwendige Weisen oder Standpunkte, in denen fünf „Entwicklungsgrade, des innern geistigen Lebens“ zur Geltung kommen (GA I/9, 105 = 464). Die erste Weise der Weltansicht ist der Wahrnehmungsrealismus und Naturalismus, den der philosophische Hauptstrom zu Fichtes wie zu unseren Zeiten hochhält (vgl. GA I/9, 106 = 466). Die zweite Ansicht betrachtet das Gesetz der praktischen Vernunft als dasjenige Grundfaktum, das für freie Individuen gilt (GA I/9, 107 f. = 466 f.), die sich unverdrossen im Geist des Stoizismus (GA I/9, 138 = 504; vgl. die Inhaltsanzeige GA I/9, 51 = 578) – man könnte auch sagen: in der Manier des unglücklichen, höchstens scheinglücklichen Sisyphus – an der sperrigen Wahrnehmungswelt abmühen. Die dritte Ansicht ist die „der wahren und höhern Sittlichkeit“; ihr gilt „das Heilige, Gute, Schöne“ als das „Reale und Selbstständige“ (GA I/9, 109 = 469). Eine „Ahndung“ dieses Standpunkts der „höhere[n] Moralität“, der Religion, Kultur und Kunst, traut Fichte Platon und „unter den neuern, Jacobi zuweilen“ zu (GA I/9, 110 = 469 f.). Die vierte Weltansicht begreift „das Heilige, Gute und Schöne“ der dritten als „die Erscheinung des inneren Wesens Gottes“ und lebt in dem unerschütterlichen Glauben, dass „Gott allein ist, und, außer ihm nichts“ (GA I/9, 110 = 470). Sie ist die eigentlich religiöse, die ein seliges Leben ermöglicht und keiner Überbietung mehr bedarf. Als fakultative Zugabe tritt auf dem fünften Standpunkt die philosophische Wissenschaft hinzu und hebt den Glauben der vierten Stufe „auf […] in Schauen“ (GA I/9, 112 = 472), in diskursiv artikulierte Einsicht – wobei die diskursive Artikulation vor allem dazu dient, die Rezipienten auf den Standpunkt zu dirigieren, auf dem sich ihnen das wissenschaftliche Schauen von selbst erzeugt, und ihnen zugleich eine sprachliche Erinnerungshilfe zu geben, mittels deren sie später das Schauen nach Belieben in sich reproduzieren und in seine wesentlichen Aspekte entfalten können. Fichte betont, dass die beiden oberen Standpunkte, des Glaubens und Schauens, rein „betrachtend“ sind; die zugehörige Praxis ist die der höheren Moralität des mittleren Standpunktes, die aber ihrerseits ohne die oberen



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leicht in Schwärmerei ausartet (GA I/9, 113 = 473). Wahre Religion liegt daher im Zusammenspiel der dritten und vierten Weltansicht, zu denen die fünfte die begriffliche Erkenntnis hinzufügt. So heben Religion und Philosophie die Verzauberung Gottes in die Welt am Ende auf. Wer wie Max Weber der mathematischen Naturwissenschaft die Entzauberung der Welt zutraut, gerät mit diesem Zutrauen in den Bann der unteren Standpunkte. Dort führen Naturalismus und Szientismus nur immer tiefer in die Verhexung Gottes hinein. Natürlich meinte Max Weber etwas anderes, Richtigeres: Der holde Zauber der Schwärmereien, zu denen der dritte Standpunkt verleitet, hält der Naturwissenschaft nicht stand. Fichte aber will den Schwärmereien nicht durch Rückfall auf überwundene Standpunkte, sondern durch Fortschreiten zum nächsthöheren und fakultativ zum fünften und höchsten begegnen. Doch nun zur Gretchenfrage: „Wie hast du’s mit der Religion?“ Quentin Meillassoux, der vor Jahren in Frankreich mit einem neuen, „spekulativen“ Realismus hervorgetreten ist, kehrt sie um und richtet sie als Theodizeefrage an die Religion selber: Wie hat eine Religion es mit den „morts terribles“, mit verfrühte[m] Tod, Kindestod, Tod von Eltern, die wissen, dass ihre Kinder zum selben Tod verurteilt sind, und noch andere[n] Fälle[n], die weder von denen, die sie erleiden, noch von jenen, die sie überleben, akzeptiert werden können.7

Meillassoux, dessen spekulativer Realismus keine Notwendigkeit anerkennt außer der Notwendigkeit der Kontingenz, tröstet sich mit dem ausgefallenen, um nicht zu sagen abwegigen, Gedanken, dass es zwar jetzt noch keinen allmächtigen Gott gibt – denn er hätte die entsetzlichen Todesfälle, nicht zu reden von den entsetzlichen Lebensfällen,8 verhindern müssen –, dass aber in der Zukunft zufällig ein Gott entstehen kann, der die Toten auferweckt und für Gerechtigkeit und Glück sorgt. Durch einen heilsamen Zufall dieser Art wären die Anforderungen der Theodizee mit denen der Gerechtigkeit und des menschlichen Glücks versöhnt. Auf unwahrscheinlichsten Zufall mochte hingegen Kant nicht bauen, sondern auf die Notwendigkeit, mit der die praktische Vernunft die Unsterblichkeit der Seele und einen allwissenden, allgütigen und allmächtigen Gott 7  „Les spectres essentiels, ce sont les morts terribles: morts précoces, et morts odieuses, mort de l’enfant, mort des parents sachant leurs enfants voués au même sort, et autres encore. Morts de mort naturelle ou criminelle, morts d’une mort qui ne pouvait être assumée ni par ceux qui la subirent, ni par ceux qui leur survivent.“ Quentin Meillassoux, „Deuil à venir, dieu à venir“, in: Critique, Nr. 704.705, Paris 2006, 1 f., ins Deutsche übersetzt von Roland Frommel als: „Kommende Trauer, kommender Gott“ in: Quentin Meillassoux, Trassierungen. Zur Wegbereitung spekulativen Denkens, Leipzig 2017, 160–172, 160. 8  Mike Stange habe ich für Korrekturen und Kommentare zu danken, insbesondere für den ergänzenden Hinweis auf die entsetzlichen Lebensfälle.

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postuliert, der langfristig für Gerechtigkeit sorgen wird. Nach dieser Konzeption liegt es an uns, wie zügig wir auf unserem endlosen Weg des Fortexistierens der moralischen Vollkommenheit näherkommen und damit kraft Gottes Gerechtigkeit letztlich auch unserem Glück. Für wieder andere hingegen, wie etwa Bernard Williams, wäre das endlose Weiterleben ob seiner absehbaren Langeweile ein Horrorszenarium.9 Auch an Sisyphus wäre hier wieder zu denken, der in endlosem Bestreben sein Ziel nicht erreicht, und ferner an Heideggers Insistenz, dass allein im rechten Vorlaufen in den je eigenen Tod das menschliche Dasein seine Ganzheit erreichen kann. Doch kommen wir abschließend zu Fichte. Wie löst seine Konzeption wahrer Religiosität die Probleme (a) der Theodizee, (b) des Glücks und der Gerechtigkeit und (c) der drohenden Langeweile in der Nichtabschließbarkeit des Strebens? Frage (a) ist schnell geklärt: Da Gott keine Person ist, kann man keine Anklage wider ihn erheben, die im Rahmen einer Theodizee abgewiesen werden müsste. Frage (b) verlangt eine etwas längere Antwort. Beginnen wir mit der traditionellen Gliederung des Seelenvermögens in Verstand, Gefühl und Willen. Verstanden wird das Sein auf der fünften Stufe der Weltansicht, auf der vierten geglaubt, auf der dritten tätig vollzogen und auf allen dreien gefühlt. Der „Affekt des Seyns“ aber, sagt Fichte mit Blick auf das Johannesevangelium, ist die Liebe (GA I/9, 133 = 498), positiv als Wohlsein, negativ als Schmerz, je nachdem, ob wir mit dem, was wir lieben, vereinigt sind oder nicht. In tätiger Religiosität sind und fühlen wir uns mit dem Sein vereinigt. Daher ist tätige Religiosität bereits das selige Leben; nichts fehlt. Das begriffliche Wissen, das die Wissenschaftslehre uns gibt, ist ein Superadditum, aber nicht nötig zum Glück. Allerdings bleibt unser Wollen und Tun längs der Zeitlinie immer unvollendet; immer steht noch etwas aus, für das Sorge zu tragen ist, und sei es die bloße Erhaltung eines erreichten Glücks. Das ergibt einen unendlichen Progress der Zielsetzungen, der durch den Tod nur faktisch abgebrochen wird, ohne seine innere Vollendung zu erreichen. Für diese Problematik bietet Fichte eine zweiteilige Lösung an. Zum einen ist das Erreichen individueller Zielsetzungen dem seligen Leben äußerlich, für die Seligkeit kommt es vielmehr auf den Modus des Handelns an. Wer sich selbst, seine individuellen Wünsche, in seinem Handeln dahingestellt sein lässt und verliert, gewinnt im alltäglichsten Tun das Leben des göttlichen Seins. Zum zweiten endet die Existenz der Individuen nicht mit ihrem Erden­ dasein. Zur Objektivität der Welt gehört korrelativ die Subjektivität, nämlich die des „Eine[n] freie[n] Ich“, das sich in der Welt objektiviert und in ein 9  Vgl. Bernard Williams, „The Makropulos Case: Reflections on the Tedium of Immortality“, in: ders., Problems of the Self, Cambridge (England) 1973, 82–100.



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„System – von Ichen oder Individuen“ gespalten hat. Diese Spaltung ist Fichte zufolge die bleibende Grundform des Daseins, so dass „kein wirklich gewordenes Individuum jemals untergehen“ kann, sondern jedes sich nach diesem Leben „in höhern Sphären“ immer weiter fortentwickeln wird (GA I/9, 159 = 530). Jedes Individuum kann also, sei es in diesem oder in einem „zweiten Leben“ (GA I/9, 152 = 522) – oder einem dritten, vierten usf. –, die bleibende Seligkeit erreichen. Wie die personale Identität von einem zum nächsten Leben gewahrt werden kann, ist allerdings eine schwierige Frage, zu der die Anweisung schweigt. Und was zuletzt die Gefahr der Langeweile im endlosen Weiterwirken, also Frage (c) angeht, so ist sie damit implizit ebenfalls schon beantwortet, denn das selige Leben ist, da sein Glück nicht im rastlosen Erreichen jeweiliger Ziele, sondern im Vollzugsmodus gründet, ein bleibender Selbst- und Seinsgenuss und das Gegenteil von Langeweile. Wie belastbar diese religionsphilosophische Konzeption am Ende ist, hängt von dem Erfolg der Argumentation für die einschlägigen Theoreme der Wissenschaftslehre ab, der schwer zu beurteilen ist, weil Fichte in hermetischer Dichte argumentiert. Unklar ist auch, inwieweit seine Gotteslehre als Theismus gelten kann, da er Gott weder als Person, noch als Schöpfer anerkennt. Für die Problematik der entsetzlichen Todesfälle aber wie überhaupt für Fragen des menschlichen Glücks und der Gerechtigkeit bietet er einen Lösungsvorschlag, der sich einfacher und eleganter ausnimmt als die Versuche, ein unendliches göttliches Subjekt zum Garanten von Glück und Gerechtigkeit zu erklären.

„Alle Kunst im Großen angesehn ist immer mit der Religion in Verbindung“ Zum Verhältnis zwischen Kunst und Religion bei Friedrich Schleiermacher Carolyn Iselt (Berlin) Das titelgebende Zitat stammt aus Schleiermachers Manuskript für seine 1809/10 zum zweiten Mal gehaltene Vorlesung zur Christlichen Sittenlehre. Dass Schleiermacher Kunst im Kontext einer christlichen Ethik mit Religion identifiziert, rechtfertigt diese Engführung nicht, mag sie vorerst aber zumindest erklären. Im Folgenden ist indes das vielschichtige Verhältnis zwischen Kunst und Religion, wie Schleiermacher es in seinem Brouillon zur Ethik1 von 1805/06, in seinem Kollegheft Ästhetik von 1819 (KGA II/14) und in dem erwähnten Manuskript zur Christlichen Sittenlehre2 von 1809/10 bestimmt, herauszustellen. In Anbetracht der im Laufe des 19. Jahrhunderts geforderten und beanspruchten Autonomie der Kunst, in Anbetracht des l’art pour l’art, aber auch 1  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. Die historisch-kritische Ausgabe der Manuskripte und Nachschriften der philosophischen Ethik Schleiermachers ist in Erarbeitung und wird künftig von Sarah Schmidt und Andreas Arndt herausgegeben. Vgl. zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kunst und Religion in Schleiermachers Ethik-Vorlesungen: Holden Kelm, „Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik“, in: Andreas Arndt, Simon Gerber, Sarah Schmidt (Hg.), Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im Preußischen ­Reformprozess, Berlin/Boston 2019, 307–326. Dort stellt Kelm fest, dass sich nach Schleiermachers erstem ausführlichen Manuskript, dem hier zugrunde gelegten Brouillon zur Ethik von 1805/06, keine wesentlichen Veränderungen bzgl. der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion zeigen, sondern im Manuskript von 1812/13 nur vertiefende Auseinandersetzungen zu finden sind. In den folgenden Vorlesungen nähme die Behandlung des Themas sogar ab, ebd., 324–326. 2  Schleiermachers Manuskript seiner Vorlesung zur Christlichen Sittenlehre ist neuerdings in historisch-kritischer Fassung auf schleiermacher digital, hg. v. Carolyn Iselt, Florian Schnee, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2023, URL: https//:schleiermacher-digital.de/vorlesungen/detail.xql?id=S1122494 (abgerufen am 17.8.2023), erschienen. Im Folgenden wird im Text das Manuskriptblatt angegeben.

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der darauffolgenden und seit Jahren wieder zunehmenden Politisierung der Kunst erscheint die Behauptung, es gäbe ein wesentlich systematisches Verhältnis zwischen Kunst und Religion, als rückständig. Daher wäre es ein leichtes, Schleiermachers Ästhetik – insbesondere das zu diskutierende Verhältnis – als überholt unberücksichtigt zu lassen.3 Ziel der folgenden Argumentation ist es dennoch, anhand Schleiermachers philosophischer Bestimmung von Kunst und Religion zu zeigen, in welchem systematischen Zusammenhang diese beiden Sphären stehen. Dass Kunst wesentlich mit dem Religiösen verbunden und dass diese Beziehung keiner bloß vergangenen Epoche angehört, soll exemplarisch an Mark Rothkos abstrakten Expressionismus erwiesen werden, der zur avanciertesten Kunst im 20. Jahrhundert gehört und aufgrund seiner Reflexivität und Abstraktion zunächst autonom zu wirken scheint.

I. „Kunstreligion“ oder „alle Menschen sind Künstler“ – Brouillon zur Ethik von 1805/06 In dem Zitat, „Alle Kunst im Großen angesehn ist immer mit der Religion in Verbindung“, erscheint die Kunst als der Religion untergeordnet. Dagegen lautet die These, die im Folgenden zu verteidigen ist: Die Religion bildet laut Schleiermachers Ästhetik ebenso ein systematisches Moment der Kunst wie die Kunst eines der Religion ausmacht – zumindest laut der Christlichen Sittenlehre.4 Allerdings ist der Nachvollzug der Bestimmung der Kunst 3  Vgl. etwa Thomas Erne, Transzendenz im Plural. Schleiermacher und die Kunst der Moderne, Berlin/Boston 2022, besonders 23 f., 26, der eine systematische Beziehung zwischen Kunst und Religion und eine Verbindung zwischen Schleiermachers Ästhetik und moderner autonomer Kunst zurückweist. Erne wäre zudem zu entgegen, dass sich die radikal autonom gerierende Kunst sich selbst überhöht und durch diese Transzendenz im für sie gefährlichen Sinne religiös wird. S. dazu unten Abschnitt IV. „Bilder als Dramen“ – Expression des Gefühls bei Mark Rothko. 4  Obwohl das Folgende in weiten Teilen mit konkreten Ausführungen in Anne Käfers Buch „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006, übereinstimmt, wird es einer ihrer Hauptthesen, dass der Künstler, der Tugendhafte und der Fromme zu identifizieren sind, weil alle drei das Gefühl auf das „höhere[…] Selbstbewußtsein[…]“ beziehen, widersprechen, ebd., 202–211. Die vermeintliche „Identität“ ließe sich m. E. auch als Analogie deuten, ebd., 202–204. Anzuschließen ist das Folgende eher an Thomas Lehnerers These, dass auch derjenige „Künstler“, der eine religiöse Stimmung hervorzurufen weiß, selbst nicht fromm sein muss, und vor allem daran, dass das „Absolute“, auf das sich die Kunst bezieht, nicht notwendig mit der christlichen Gottesvorstellung identifiziert werden muss, ders., Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987, 358, 272, Anm. 75. Lehnerer betont ferner den von Schleiermacher in seiner Ästhetik ebenfalls entwickelten nicht religiösen, sondern „geselligen Stil“ der Kunst; demzufolge beschäftigt

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durch Schleiermacher nicht einfach zu haben, denn die Kunst bestimmt sich ihm zufolge aus in Spannung stehenden Momenten. Dieses Spannungsfeld ist anhand zweier berühmter Formulierungen Schleiermachers zu umreißen. In den „Reden über die Religion“ von 1799 findet sich der von Schleiermacher gebildete Neologismus einer künftigen „Kunstreligion“ (KGA I/2, 262). Im Kontrast zu dieser hauptsächlich das Allgemein-Göttliche, das „Universum“ ausdrückenden Kunstvorstellung steht Schleiermachers viel diskutierter Satzteil aus seinem Brouillon zur Ethik: „alle Menschen sind Künstler“5 (KGA I/2, 262 u. ö.). Überhaupt ist Schleiermacher dafür bekannt, Kunst als Ausdrucksform der Individualität, als „Selbstmanifestation“,6 wie Thomas Lehnerer es formulierte, zu erachten. Zur Klärung der Spannung zwischen der Darstellung des Göttlich-Universellen und der entgrenzten Künstlerauffassung sind die genannten Formulierungen im Oeuvre Schleiermachers einzuordnen. Obschon darauf zu insistieren ist, dass das Verhältnis zwischen Kunst und Religion für Schleiermacher systematisch wichtig bleibt, gibt er das zusammengesetzte Wort „Kunstreligion“ auf.7 Die „Reden über die Religion“ erfahren stark umgearbeitete drei weitere Auflagen, schon von der zweiten an wird der Ausdruck „Kunstreligion“ von Schleiermacher nicht mehr verwandt (vgl. KGA I/12, 1–321). Doch auch schon in der ersten Auflage erwähnt er sich Käfer ausschließlich mit dem „religiösen Stil“ der Kunst. Allerdings unterstreicht Lehnerer zudem, dass die Stile nicht unweigerlich auf die Inhalte verweisen: das bedeutet, dass im religiösen Stil auch nicht Religiöses symbolisiert werden kann – denn auf die „Symbolisierungen“ kommt es dabei an –, im geselligen Stil ist hingegen das Spielerische, das Darstellen, das Vielfältige zentral – s. auch u. Abschnitt II. Käfer wiederum weist selbst – in Rekurs auf Schleiermachers Dialektik (vgl. KGA II/10-2, 568 f.) – darauf hin, dass das „religiöse Gefühl“ auf das „Allgemeinmenschliche“ bezogen ist, dies., „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“, 197 f. Das Allgemeinmenschliche deutet sie jedoch als das in Schleiermachers Glaubenslehre dargelegte „schlechthinnige[…] Abhängigkeitsgefühl“ von Gott, ebd., 198. Die grundlegende Bedeutung des „Abhängigkeitsgefühls“ für Schleiermachers systematische Überlegungen greift auch Lehnerer auf – jedoch sehr knapp ganz am Ende seines Buches, vgl. dens., Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 384. 5  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 108. Vgl. auch ebd., 23: „Ferner soll nun wie Denken und Sprechen, so auch Gefühl und Darstellen in sittlicher Bedeutung eins sein. Dies findet sich. Nicht nur ist jeder sittliche Mensch als solcher mimischer Künstler, und Künstler in seiner erworbenen Organisation, sondern jedem Gefühl entspricht auch ein anderes Bilden, das heraustritt, wenn es ein gebildetes Organ findet.“ 6  Thomas Lehnerer, „Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunstphilosophie Schleiermachers“, in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984 in Berlin, Teilband 1, Berlin/ New York 1985, 408–422. 7  Vgl. Kelm, „Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik“, 307–326, hier 308–310.

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ihn im gesamten Werk ein einziges Mal – und zwar in der dritten der fünf Reden „Über die Bildung zur Religion“ (KGA I/2, 248–265). Dass Schleiermacher 1805/06 im Brouillon zur Ethik nun „alle Menschen [als] Künstler“ deklariert, bedeutet allerdings nicht, dass er in den folgenden 6 Jahren seine Programmatik gänzlich umgekrempelt hat. Auch im Brouillon formuliert Schleiermacher: „[D]es sittlichen Lebens kann man sich nicht bewußt werden, wenn man sich nicht des beseelenden Princips auch als Vernunft d. h. in seiner Identität mit dem Absoluten bewußt ist. Und diese Beziehung unmittelbar gegeben ist eben Religion. Also muß auch Religion und Kunst zusammenfallen, und die sittliche Ansicht der Kunst besteht eben in ihrer Identität mit der Religion. Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“8 Da das Brouillon ein Manuskript zur Ethik darstellt, finden sich die Ausführungen zur Kunst, zur Religion und zu deren Verhältnis in keiner zusammenhängenden systematischen Abhandlung, sondern vielmehr im Text verstreut. Dennoch lässt sich das Problematisierte aufklären. Die Formulierung, „alle Menschen sind Künstler“, zielt auf die ethische Bedeutung des Künstlerischen. Dabei geht es nicht darum, der Kunst ethische Inhalte vorzuschreiben, sondern darum, dass der Mensch sich selbst bilden, sich sozusagen wie ein Kunstwerk bearbeiten, seine bloß natürlich gegebene „Persönlichkeit“ überwinden soll, und zwar indem er durch Vernunft und Gefühl seine wahre Individualität, seine „Eigenthümlichkeit“, entfaltet und ausbildet.9 Individualität, Eigentümlichkeit unterscheidet Schleiermacher also von der physisch bestimmten Persönlichkeit.10 Einerseits fasst Schleiermacher die Eigentümlichkeit als das „Unübertragbare“, ebenso wie er das „Gefühl“ als für unübertragbar hält.11 Andererseits soll beides nicht bloß innerlich bleiben, sondern nach außen treten, kommuniziert werden.12 Hier spielt zweierlei mit hinein. Erstens spricht Schleiermacher der Kunst zu, Darstellung des Gefühls zu sein, so wie die Sprache mittels 8  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 24. Dieses Zitat, „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“, ist titelgebend für Anne Käfers Dissertation, in der sie die substantielle Bedeutung der Religion für die Kunst in Schleiermachers Ästhetik herausarbeitet. Vgl. o. Anm. 4. 9  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 6 f., 13. 10  Vgl. ebd., 14: „Aber noch größer der Unterschied zwischen den Functionen des Menschen als Natur und denen des von der Vernunft beseelten. Denn bei dem ersten hat doch alles nur eine Beziehung auf die Persönlichkeit, auf das Gefühl und das organische Bedürfniß. In der Vernunftbeseelung soll alles Aufnehmen und Darstellen sich auf die Ideen beziehen und Ideen enthalten, ja auch die persönliche Beziehung soll nur so mitgegeben sein.“ 11  Ebd., 16, 21. 12  Ebd., 22: „Die Einheit des Lebens und die Identität der in die Einzelnen ver­ theilten Vernunft würde also ganz aufgehoben, wenn das Unübertragbare nicht wieder ein Gemeinschaftliches und Mittheilbares werden könnte.“

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Begriffen das Denken und die Wissenschaft objektiviert.13 Zweitens entwickelt Schleiermacher den Begriff der „freien Geselligkeit“ als einer Gemeinschaft von Individualitäten, in der diese nicht in einer höheren Einheit auf­ gehen, sondern in der sie den Freiraum finden, ihre Eigentümlichkeit auszudrücken.14 In der geselligen Form der Darstellung der Individualität herrscht indes eine flüchtige Vielfalt, die nicht von Bestand ist. Es ist laut Schleier­ macher hingegen die Kunst, die Individualität dauerhaft objektiviert und zur Anschauung bringt – teilweise auch für den Darstellenden selbst.15 Damit die Geselligkeit Halt erfährt, bedarf sie laut Schleiermacher der Kunst.16 Wenn

13  Vgl. KGA II/14, 46: „Wir müssen also umkehrend das ursprünglich eigen­ thümliche aufsuchen. In der erkennenden Function liegt hier das Gefühl. Erkennend ist dies auch, es ist Bewußtsein vom Verhältniß des Menschen in der Welt. Die Eigenthümlichkeit und Unübertragbarkeit desselben ist anerkannt. Es hat aber als Aeußerung wie das Wissen die Sprache, so seinerseits den Ton und die Bewegung.“ Vgl. auch Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 23: „4. kann man sagen, daß doch die höchste Kunst die Sprache zum Element hat und diese doch nicht das Aeußerlichwerden des Gefühls ist. Die Sprache giebt aber nur die Elemente. Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit in der Function des Darstellens, und die Fantasie denken wir uns immer in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl.“ 14  Ebd., 19 f.: „Eben so soll auch der Eigenthümlichkeit, dem Unübertragbaren wieder der Charakter der Gemeinschaft aufgedrückt werden. Nemlich das als Organ eigenthümlich Gebildete ist zugleich Object der Erkenntniß und Symbol für die Andern, und es wird gleich mit diesem Bewußtsein und in dieser Idee gebildet. Sonst wäre auch das Versezen des Erkennens in die Eigenthümlichkeit eine Beschränkung. Nur durch diese Gemeinschaft wird sie aufgehoben und das Bewußtsein wieder erzeugt. Dies ist die Idee der freien Geselligkeit. Ihre eigentliche Tendenz ist die Eigenthümlichkeit der Organe zur Anschauung zu bringen.“ Vgl. bzgl. „Kirche“ und „Geselligkeit“: Kelm, „Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik“, 312 f., 317, 319 f., 324–326. 15  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 53 f.: „Ursprünglich fällt die freie Geselligkeit ganz in das Gebiet der Kunst, welches eben dadurch Allgemeinheit bekommt. Nemlich sie hat mit der Kunst im engern Sinne gemein, daß sie Darstellung des Individuellen ist. In der schönen Kunst aber ist ein einzelnes Werk vollendete Darstellung einer einzelnen Idee. In der freien Geselligkeit ist die ganze Reihe der Thätigkeiten Darstellung der Grundidee des Menschen selbst. In der schönen Kunst ist das Bilden Darstellung auch von Seiten des Handelnden angesehen. In der freien Geselligkeit ist die Thätigkeit nur für den Betrachtenden Darstellung, für den Handelnden muß sie eine andere Richtung haben. Daher bedarf die freie Geselligkeit eines objectiven Fadens für alle als Handelnde. Ihren Zweck erreicht sie nur in der begleitenden und nachfolgenden Anschauung, der das Ganze als ein Bild erscheint. Daher muß man auch, wo in der freien Geselligkeit Elemente der Wissenschaft oder Kunst vorkommen, nicht pedantisch das objective Vemunftmaaß anlegen, indem dies hier durchaus nur subjective Bedeutung hat, nur in die Reihe der subjectiven Thätigkeit hineingehört.“ 16  Vgl. ebd.

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die Kunst aber im Dienst der Individualität steht, in welchem wesentlichen Zusammenhang steht sie dann mit der Religion? Von dem Verhältnis zwischen Religion und Kunst ist die Individualität keineswegs ausgeschlossen, ebenso wenig das Gefühl, beide sind zentrale Begriffe beider Sphären und ihres Verhältnisses. Obgleich Schleiermacher sich selbst kritisch gegen seine Reden über die Religion wendet, hält er die Bestimmung der Religion als Verhältnis des Einzelnen zum Universellen aufrecht. Zudem wird dieses Verhältnis dem Einzelnen in Form des Gefühls zugänglich. Hier wirkt sich wieder die Unübertragbarkeit von Individualität und Gefühl aus, der die Kunst Abhilfe verschaffen soll. Wie ist nun aber die Kunst dazu in der Lage, Gefühl, Individualität erkennbar zu machen? Diese Schwierigkeit wird Schleiermacher 14 bzw. 13 Jahre später in seiner Ästhetik-Vorlesung ausführlich problematisieren und diskutieren. Aber auch in seiner Ethik führt Schleiermacher ein wichtiges Argument an. Rückblickend auf die römische und klassische antike Kunst ging es nicht allein darum, Jupiter als Skulptur darzustellen oder irgendeinen mythologischen Stoff in die Form der Tragödie zu übertragen.17 Weshalb wurden mehrere JupiterSkulpturen in Stein geschlagen oder mehrere Varianten eines mythologischen Stoffes als Tragödie verfasst? Entscheidend ist Schleiermacher zufolge dabei, dass in den verschiedenen Fassungen etwas Allgemeines, z. B. Jupiter, die Orestie, eine jeweils andere individuelle Gestalt erhält. Demzufolge tritt die Individualität nicht unmittelbar in Erscheinung, sondern im Verhältnis zu etwas Allgemeinem, das durch sie in besonderer Gestalt auftritt. Die Sculptur müßte auf Einen Jupiter ausgehn, die Tragödie auf Eine Behandlung eines Mythos. Nun sollen aber, so sagt man, nicht einmal zwei Jupiter eines und desselben Künstlers dieselben sein, sonst sagt man Armuth und Manier. Also ist in diesem Sinne nicht das rein Objective Gegenstand der Kunst, sondern das Abspiegeln der Individualität im Objectiven.18

Zu vertiefen ist die Schwierigkeit der Unübertragbarkeit von Gefühl und Individualität anhand der Ästhetik-Vorlesung; vor allem ist mittels dieses Manuskripts aufzuzeigen, inwiefern die Religion ein systematisches Moment der Kunst darstellt. Danach ist auf ästhetische Bestimmungen einzugehen, die in der Christlichen Sittenlehre erfolgen.

17  Ebd., 18  Ebd.

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II. Der „religiöse“ und der „gesellige Stil“ – das Kollegheft zur Ästhetik von 1819 Bereits 1805/06 im Brouillon zur Ethik bestimmt Schleiermacher Kunst oder vielmehr die künstlerische Tätigkeit als ein Zusammenspiel aus „Begeisterung“ und „Besonnenheit“.19 Wie genau diese Seiten systematisch aufeinander folgen, legt Schleiermacher in seinem Ästhetik-Kollegheft von 1819 dar:20 Die Äußerung bzw. das Ausdrücken eines Gefühls geht notwendig auf eine „Erregung“ bzw. Begeisterung, wie Schleiermacher es 1805/06 formulierte, zurück (KGA II/14, 47). Deshalb ist diese Äußerung keineswegs künstlerisch, sie ist es nur, wenn zwischen Erregung und Äußerung das Moment der Besonnenheit tritt (ebd.). Im Kollegheft zur Ästhetik erläutert Schleiermacher, dass durch die Besonnenheit „Maaß“ und „Regel“ zum Gefühl hinzukommen und die Erregung wortwörtlich gemäßigt wird (ebd.).21 Dieser besonnene Prozess bringt ein „Urbild“, einen „Typus“ hervor (ebd.), im Verhältnis zu dem das Kunstwerk lediglich das „Abbild“ darstellen wird (ebd., 51). Dennoch soll das Urbild durch das Abbild transportiert werden und zwar qua erneuter Erregung, durch die das Werk den Rezipienten begeistert und einen Vorstellungsprozess in diesem auslöst. Bestenfalls entsteht dabei das Urbild.22 Da Schleiermacher angesichts vieler Kunstzweige einen Einheitspunkt zur Bestimmung der Kunst sucht, stellt sich nun die Frage, ob es weiterhin das Gefühl ist, das die Kunst charakterisiert. In der Bestimmung des künstlerischen Prozesses hebt Schleiermacher vielmehr die Urbildung hervor, also das Moment der Besonnenheit, das er auch als „Erfindungsgabe“ bzw. „Erfindungskraft“ bezeichnet (ebd., 49). Jedoch käme ohne die Erregung die Besonnenheit gar nicht zum Zug. Für Schleiermacher „kommt [es] also nur darauf an, zu untersuchen, inwiefern dieser innerste Punkt bei allen Künsten in denselben allgemeinen Ort des Gefühls gehört“ (ebd., 51). Doch ohne Besonnenheit hätte man es ihm zufolge entweder mit bloßer Rezeption zu tun, und zwar wenn keine weitere Äußerung auf die Erregung durch ein 19  Ebd., 107 f. Zu den Begriffen „Begeisterung und Besonnenheit“ vgl. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 278–285. Laut Lehnerer trennt die Besinnung das Gefühl von einer spontanen Äußerung und leitet den Prozess der Urbildung ein, ebd., 281; die Begeisterung verbindet hingegen ihm zufolge die „getrennten Momente“, ebd., 284. 20  Doch schon 1809/10 im Manuskript zur Christlichen Sittenlehre unterscheidet er wie später im Kollegheft der Ästhetik das Künstlerische vom Kunstlosen anhand der Besonnenheit vgl. 23 f. 21  Vgl. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 283, 286. 22  Ebd., 58: „Das übergetragene ist aber nicht das an sich unübertragbare Gefühl über dieses bleiben wir vielmehr immer zweifelhaft, sondern das Urbild selbst.“

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Kunstwerk folgt; oder mit Nachahmung eines Werks, wenn keine eigene Erfindungsgabe in der Äußerung hinzutritt. Im Rückblick auf und im Unterschied zu Schleiermachers Formulierung, „alle Menschen sind Künstler“, markiert er hier einen deutlichen Unterschied zwischen den äußernden Tätigkeiten der Menschen. Allerdings sind die Rezipienten und Nachahmer mitnichten unwesentlich, sondern Künstler, Rezipienten und Nachahmer bilden laut Schleiermacher eine „Kunstwelt“, deren verschiedene Seiten alle für die Kunst notwendig sind, und deren Ausprägung in einer Gemeinschaft den Rang ihrer Kultiviertheit bestimmt (ebd., 49). Der Begriff der Kunstwelt ist zu unterstreichen, weil ohne dessen verschiedene Seiten auch der Künstler bedeutungslos wäre. Außerdem wendet ihn Schleiermacher auf ein weiteres Verhältnis, nämlich das zweier die Kunst bestimmenden Stile, an, worauf noch einzugehen ist. Sind nun Erregung, also das Gefühl, und die Besonnenheit wesentlich für die Entstehung eines Kunstwerks, bleibt zu klären, wie diese beiden konträr zueinander Stehenden zu vereinigen sind. Wie schon im Brouillon zur Ethik gilt für Schleiermacher das Gefühl als das Unübertragbare (ebd., 58). Doch wie wird aus dem Gefühl durch die Besonnenheit ein Urbild, dessen Mitteilung qua Äußerung das Gefühl ebenfalls mitteilt? Um diese Spannung zu mildern, grenzt er das den künstlerischen Prozess erregende Gefühl von einer bloßen „Leidenschaft“, vom rein Subjektiven ab, und fasst es vielmehr als „Stimmung“, die durch das Urbild erfasst, gestaltet und durch die Äußerung übermittelt werden soll (ebd., 50, 54).23 Aber was hat dies alles mit der Bedeutung der Religion für die Kunst zu tun? Im Brouillon zur Ethik war nicht nur das Gefühl als unübertragbar bestimmt worden, sondern auch die Individualität, die dennoch durch Kunst zum Ausdruck kommen soll. Sich selbst zu widersprechen scheint Schleiermacher, wenn er der Kunst zuschreibt, dass „[d]as Darstellen auf den Vernunftgehalt bezogen und im Großen angesehn […] Kunst ist“.24 So fasst er die Kunst als ein „Darstellen der Idee“.25 Doch unternimmt Kunst dies nicht abstrakt im begrifflichen Denken, sondern auf sinnliche Weise und mit Bezug auf ein Gefühl bzw. eine Stimmung. Ausgangspunkt der Kunst ist es daher, den abstrakten Vernunftgehalt in Form eines Gefühls bzw. einer ­Stimmung erfahren zu haben, um ihn dann auf individuelle Weise in „freier Production“ der „Fantasie“26 in ein Urbild zu bringen, durch das dann die 23  Vgl. ausführlich zum Begriff der Stimmung: Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 253–262. 24  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 22. 25  Ebd., 12. 26  Vgl. auch ebd., 23: „Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit

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laut Schleiermacher „mechanische“27 Seite der Äußerung angeleitet wird (KGA II/14, 135, vgl. auch ebd., 64 u. ö.). Geht die Kunst also auf das Große, auf Vernunftgehalte bzw. Ideen, z. B. auf Allgemein-Sittliches und Göttliches, verfährt sie laut Schleiermacher im „religiösen Stil“, von ihm auch „heiliger“ Stil genannt (ebd., 53). Dafür setzt Schleiermacher „eingeborene Ideen Gottes und der Welt als Totalität der Erscheinungen“ voraus, die durch die Urbildung und Abbildung hindurch „realisiert werden“ (ebd., 52). Wesentlich ist für Schleiermacher dabei, von keiner Trennung der Idee Gottes und der Welt auszugehen. Gott ist kein jenseitiges außerhalb der Welt stehendes Abstraktum, das auch gar nicht sinnlich darzustellen wäre, sondern Gott ist „in Beziehung auf das Sein“ bzw. auf die Welt zu denken oder zu erfahren und sinnlich vorzustellen.28 Zwar erschöpft sich die Kunst im religiösen Stil, in Bezug auf das Allgemeine, nicht, sodass ihr ein anderer Stil gegenüberzustellen ist, doch ist dies nun nicht der „weltliche“: „weil [wir] in dem religiösen selbst die zwiefache Beziehung auf Gott und auf Welt haben“ (ebd.). So betont auch Thomas Lehnerer zu Recht: dass „der Begriff des Religiösen eine Weite [besitzt], die es Schleiermacher erlaubt, auch ‚weltliche‘ […] Inhalte darunter zu subsumieren […]. Bedingung ist lediglich, daß sie auf ‚Einheit und Totalität‘ […] bezogen sind“.29 In der Ethik kam der Kunst auch eine Funktion in der freien Geselligkeit zu, in der weniger die großen Ideen und das Göttliche zum Ausdruck kommen sollen denn die Individualität der Individuen selbst.30 Dies ordnet Schleiermacher in der Ästhetik insofern systematisch ein, als er dem religiösen Stil den „geselligen“ gegenüberstellt (ebd., 53). Im geselligen Stil steht das Individuum oder das Individuelle im Vordergrund. Doch ebenso wenig wie der religiöse Stil ohne die Individualität auskommt, die das Allgemeine erst darstellbar macht und auf besondere Weise ausdrückt, wäre ein Werk des geselligen Stils keines, wenn nicht auch Allgemeines darin enthalten wäre. „Alle Kunst hat auf der einen Seite eine religiöse Tendenz, auf der andern verliert sie sich in das freie Spiel mit dem Einzelnen. In beidem zusammen manifestirt sich die eigenthümliche Welt wie dort in beiden die allen gemeine“ (ebd.). in der Function des Darstellens, und die Fantasie denken wir uns immer in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl.“ 27  KGA II/14, 135, vgl. auch ebd., 64 u. ö. 28  Vgl. Schleiermachers Auseinandersetzung mit dem „religiöse[n] Gefühl“ in seiner Dialektik-Vorlesung von 1822 in der Nachschrift Kropatschek, KGA II/10-2, 570–577. 29  Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 351. 30  Das Darstellen der Ideen, des Absoluten verortet er dort vielmehr in den Bereich der Kirche, vgl. dazu Kelm, „Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik“, 324.

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Schleiermachers Beispiel für den geselligen Stil sind die Komödien des Aristophanes, da durch die Eigentümlichkeit der Einzelnen das gesamte Gemeinwesen auf bestimmte Weise zur Darstellung komme (vgl. ebd., 56).31 War schon die Individualität als sich entwickelte Eigentümlichkeit, als Verbindung des Allgemeinen und Besonderen von Schleiermacher in der Ethik bestimmt worden, ist diese Individualität wiederum ins Verhältnis zu setzen zum Allgemeinen, sei es das Göttliche oder andere allgemein-weltliche Bestimmtheiten. Die in diesen Verhältnissen enthaltenen Stimmungen regen die Künstler laut Schleiermacher zur freien Produktion im Vorstellen an, die freilich nicht ohne Maß und Regel auskommt. Dominiert ein allgemeiner Typus das Urbild, bildet der Künstler im religiösen Stil, dominiert das Individuelle, gestaltet er im geselligen Stil. Wie die drei Momente Künstler, Rezipienten, Nachahmer Schleiermacher zufolge zusammengenommen die Kunstwelt konstituieren, fügt er nun die beiden Stile zu dieser hinzu. Kunst überhaupt ist die Verbindung des Allgemeinen und Besonderen auf sinnliche Weise, in der Kunstwelt treten diese beiden Seiten mit relativer Dominanz auseinander, doch kein Kunstwerk besteht, ohne beide Seiten miteinander ins Verhältnis zu setzen.32 „Wenn nun eine selbstständige Kunstwelt beide Seiten vereinigen muß so sollte auch billig jeder Künstler beide soweit vereinen daß wie auch seine Production ganz in der einen steckt er wenigstens den Sinn auch für die andere ganz haben müßte“ (ebd., 56). Im Brouillon zur Ethik hatte Schleiermacher die verschiedenen JupiterSkulpturen und die verschiedenen Tragödien, die auf denselben mythologischen Stoff zurückgehen, angeführt, da an diesen allgemeinen Inhalten die Individualität des jeweiligen Künstlers im Werk erst zu Tage tritt. In seiner letzten Ästhetik-Vorlesung von 1832/33, die durch eine studentische Nachschrift überliefert ist, stellt Schleiermacher Madonnen von Rubens und Raffael gegenüber, an denen nicht nur die Individualität des Künstlers, sondern auch die Besonderheit der Zeit und des Ortes zur Darstellung kommen (ebd., 637).33 Der eindeutig religiöse Typus der Madonna lässt also Individualität und weitere besondere Bestimmungen nicht nur zu, vielmehr noch ermöglicht der Bezug auf das Allgemeine erst das Inerscheinungtreten des Individuellen und Besonderen.

31  Ebd.,

56 auch Lehnerer, vgl. dens., Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 350. Vgl. insgesamt zur „Differenz des Stils in der Kunst“ ebd., 348–362. 33  Ebd., 637. 32  So

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III. Ästhetische Bestimmungen in der Christlichen Sittenlehre von 1809/10 – das darstellende Handeln Die christliche Sittenlehre verhält sich zur philosophischen Sittenlehre, also zur Ethik, als eine historische, kulturelle Besonderung der allgemeinen Ethik (2v). Ihre Bestimmungen dürfen der philosophischen Ethik nicht widersprechen, aber sie sind durch diese bei Weitem nicht erschöpft, sondern ihre Bestimmungen beruhen auf dem tatsächlichen christlichen Zusammenleben (3v).34 Grob zu unterteilen ist die christliche Sittenlehre in ein darstellendes und in ein wirksames bzw. verbreitendes Handeln (21r, 35v). Für das Verhältnis von Kunst und Religion ist das darstellende Handeln von Bedeutung, denn durch das darstellende Handeln wird ein ästhetisches Moment von substantieller Bedeutung für die Religion.35 Zudem ist angesichts der diskutierten Schwierigkeit hinsichtlich der Vereinbarung von Erregung bzw. Gefühl und Besonnenheit Schleiermachers Bestimmung des darstellenden Handelns erhellend. Das darstellende Handeln charakterisiert er wie die Urbildung als „Besinnung“, und in diesem Fall als einen explizit von „Lust“ und „Unlust“ freien Zustand (21r, 21v, 23r). Dennoch folgt die Besinnung auf ein von Schleiermacher sogenanntes „Grundgefühl“ (ebd.). Welche Bedeutung dem Grundgefühl zuzusprechen ist, erläutert Schleiermacher hier nicht; Thomas Lehnerer setzt es ohne Umschweife mit „Seligkeit“ gleich.36 Diese Interpretation leuchtet insofern ein, als Schleiermacher die Seligkeit als von Lust und Unlust freien Zustand bestimmt (vgl. 6r). Schleiermacher selbst nimmt kurz nach der Erwähnung des Grundgefühls die Aufteilung vor, dass „alle Empfindungen gegen Gott“ unter das Gefühl der „Demüthigung vor Gott“ – das ist die „noch“ werdende „Einigung“ mit ihm – und unter der „gewordenen“ Einigung mit ihm fallen (22r). Diese beiden Seiten sieht Schleiermacher nicht als getrennte an, sondern als zwei immer gegebene „Elemente“, wobei eines überwiegt (ebd.). Lehnerer meint zeigen zu können, dass jede „religiöse Kunst“ diese beiden Seiten aufweist.37 34  Vgl. Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre. Im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 82, 84, 87 f., der diese Bestimmungen aufzählt, aber zugleich darauf hinweist, dass das Verhältnis der beiden Ethiken zueinander von Schleiermacher nicht explizit hinreichend geklärt wurde. Für eine über die expliziten Stellen hinausgehende weitere Klärung s. ebd., 84–87. 35  Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 379–384. 36  Vgl. zum Zusammenhang zwischen Besinnung als Wirkung der Seligkeit und als Ausgangspunkt der ästhetischen Urbildung Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 380 f. 37  Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 359.

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Wesentlich für die Bestimmung des darstellenden Handelns ist der Unterschied zum wirksamen Handeln, denn das darstellende Handeln ist in sich Selbstzweck und hat seinen Zweck nicht in einer ihm äußerlichen Wirkung (21r). Diesen definitorischen Gegensatz relativiert Schleiermacher insofern, als in jedem Handeln beide Elemente enthalten sind. Es geht Schleiermacher um die Bestimmung des maximal darstellenden Handelns, von dem auch notwendig eine Wirkung ausgehen muss (ebd.). Die herausragende Bedeutung, die dem in sich genügsamen darstellenden Handeln zukommt, zeigt sich darin, dass ohne ein solches kein „Gottesdienst“ denkbar wäre (21v). Nicht nur das Handeln des Pfarrers, des Predigers gilt für Schleiermacher als darstellendes, sondern die versammelte Gemeinde befindet sich in diesem Modus. Überdies konstituiert sich die „religiöse Gemeinschaft“ in einem performativen Sinne ihm zufolge erst dadurch (21v). Es ist hier auf den Unterschied zur freien Geselligkeit hinzuweisen, in der das Handeln der einzelnen Individuen zwar ebenfalls als ein darstellendes Handeln aufzufassen ist, aber dabei gehen sie in keiner höheren Einheit auf. Da aber das Darstellen überhaupt, also auch das in der freien Geselligkeit, laut Schleiermacher zum Ausdruck des „höheren Gefühls“ – das heißt des eigentümlich gebildeten Gefühls – dient, verhält sich die religiöse Darstellung zur geselligen als etwas inneres zu einem äußeren (21v, 24r). Zu vermuten ist, dass Schleiermacher die Einheit, die durch das religiöse Darstellen, etwa im Gottesdienst, geschaffen wird, als eine Art Voraussetzung ansieht für eine Form von geselliger Einheit, die aber auf innere Differenzierung aus ist. Wie ordnet Schleiermacher nun aber explizit die Kunst in diesem Zusammenhang ein? Einerseits begreift er das darstellende Handeln insgesamt als „ein zusammengesetztes von Kunst Elementen“; für den christlichen „Cultus“ ist dies in der „praktischen Theologie“ thematisch, zu der Schleiermacher eine eigene Vorlesung konzipiert und gehalten hat (23r).38 Dabei geht es darum, ein organisches Ganzes zu bilden, in dem aber trotzdem Variation insofern möglich ist, als entweder das Einheitliche, das Allgemeine, oder das Individuelle dominieren kann. Wie in den beiden Kunststilen, dem religiösen und dem geselligen, gibt es auch hier eine ausgeprägtere allgemeine oder besondere Seite, doch der Bezug zur jeweils anderen muss notwendig gegeben sein, ansonsten entsteht kein Ganzes. Andererseits unterscheidet Schleiermacher diese Kunstelemente dahingehend, ob sie „kunstloser“ sind oder „mehr Kunstgestalt haben“ (23v). Bemerkenswert ist dabei insbesondere, 38  Die Vorlesungen zur Praktischen Theologie werden derzeit von Simon Gerber historisch-kritisch erfasst und künftig im Rahmen der KGA herausgegeben. Vgl. zum Verhältnis zwischen Christlicher Sittenlehre und Praktischer Theologie Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 379–384.

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dass er die in der Ästhetik entwickelte Definition des Künstlerischen in Abgrenzung zum Kunstlosen hier in aller Kürze vorwegnimmt. Als ‚kunstloser‘ gilt auch hier diejenige Darstellung, die „unmittelbar aus dem Gefühl selbst hervorgeh[t]“ (ebd.). ‚Mehr Kunstgestalt‘ hat diejenige, die einen „zusammengesezteren inneren Prozeß“ durchlaufen hat (ebd.). Im Hinblick auf die Ästhetik ist dieser Prozess als derjenige des Urbildens, der Besinnung, des Maßes und der Regel zu verstehen. Religion, die nicht zu trennen ist von ihrer religiösen Gemeinschaft und deren darstellendes Handeln, ist also notwendig auf Kunstelemente angewiesen. Dadurch bezweckt Schleiermacher jedoch nicht, die Differenz zwischen Kunstloserem und mehr Kunstgestalt zu untergraben; vielmehr behält er sie bei, denn auf das wirklich Künstlerische ist auch das religiöse darstellende Handeln als etwas „[A]llgemeingültig[es]“ angewiesen, das Darstellen verlöre sich sonst in der Vereinzelung: „Das Gefühl hat sich erst in ein Bild verwandelt, welches dargestellt wird (nicht nur plastisch und mahlerisch, sondern auch poetisch rhetorisch und vielleicht musikalisch) und so das Gefühl wieder erregt“ (23v). Genau diesen Prozess legt Schleiermacher definitorisch der künstlerischen Tätigkeit in seiner Ästhetik-Vorlesung zugrunde. Zur Bestimmung der Kunst in der Christlichen Sittenlehre stößt er ebenfalls schon auf die unterschiedlichen Seiten der in der Ästhetik entwickelten ‚Kunstwelt‘, wenngleich dieser Begriff selbst nicht fällt; und bereits hier betont er die innere eigentümliche Produktivität, die später sogenannte Ur­ bildung oder Erfindungsgabe. Auffällig ist jedoch, dass er zunächst eine der Ästhetik-Vorlesung entgegengesetzte Differenzierung des Künstlers vom Rezipienten vorzunehmen scheint. Vom Künstler unterscheidet Schleiermacher den Rezipienten, weil letzter über kein „Darstellungsvermögen“ verfügt (34v). In der Ästhetik spielt die Äußerung, die Ausbildung des Werks, für Schleiermacher wie dargelegt eine zu vernachlässigende mechanische Rolle. Zwar spricht Schleiermacher dem Rezipienten die Fähigkeit zu, im Vorstellen das Vorgestellte auch zu „individualisirn“, was nah an die künstlerische Produktivität laut der Ästhetik heranrückt, doch bleibt sie „unsichtbar[…]“ (34v, 35r). Das Unsichtbarbleiben scheidet in dieser knappen Ausführung scheinbar die Rezeptivität von der Produktivität; dem künstlerischen Schaffen nach Außen freilich in Verbindung mit dem Individualisieren mag daher hier eine wichtigere Rolle zukommen, als es in der Ästhetik der Fall ist. Doch auch die Verbindung von Erregung und Darstellungsvermögen in einem Individuum reicht nicht aus, um Künstler zu sein. Fehlt die Erfindungsgabe, die individuelle Urbildung, bleibt es bei bloßen „Nachahmungen“; es ist dann nur der „äußer[e] Charakter eines Kunstwerks“ gegeben (ebd.). Durch das darstellende Handeln zeigt Schleiermacher also, dass die Kunst ein notwendiges Moment der Religion ist und dass dieser notwendig ein äs-

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thetisches Moment innewohnt – wie die Religion durch den religiösen Stil notwendig der Kunst angehört. Beachtlich ist jedoch die Bedeutung des ästhetischen Moments bzw. des darstellenden Handelns, weil es Religion, Kunst und freie Geselligkeit substantiell miteinander verbindet. Verbunden ist damit das Wesentliche des darstellenden Handelns insbesondere in Abgrenzung zum wirksamen Handeln: nämlich die „Zweklosigkeit“ (24r).

IV. „Bilder als Dramen“39 – Expression des Gefühls bei Mark Rothko In der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Religion bei Schleiermacher wurde unter anderem die Darstellung des Gefühls problematisiert: Einerseits gilt es als das Unübertragbare, andererseits drängt es zur Äußerung, es soll in der künstlerischen Tätigkeit sogar einen Prozess der Gestaltung, der Urbildung anregen, eine Stimmung werden, die durch das Werk letztlich mitzuteilen ist. Das Ausdrücken von Gefühlen, das Erregen, Gefühle zu durchleben, stehen auch im Zentrum der Kunst Mark Rothkos.40 Für Schleiermacher sind es die angeborenen Ideen Gottes und der Welt bzw. der ‚innerste Punkt‘, derselbe allgemeine Ort des Gefühls, die oder der zur Darstellung treiben und kommen soll. Auch Rothko kommt es auf das Ausdrücken des Inneren an – passend dazu heißt das Buch seines Sohnes über den Künstlervater „From The Inside Out“.41 Ebenso wie Schleiermacher zielt Rothko nicht auf ein einzigartiges unübertragbares Gefühl. Die Allgemeinheit42 des Gefühls fasst Rothko als „human condition“,43 auch als „Tragik“,44 die letztlich die eines jeden einzelnen Lebens ist. Missverstanden wären Rothkos Bilder daher als Harmonisierung der Gefühlslagen, auch in Anbetracht von Bildern in helleren Farbtönen. Inspiriert ist Rothko durch 39  Vgl. den Titel des ersten Kapitels und den Untertitel des Kunstbandes von Jacob Baal-Teshuva, Mark Rothko. 1903–1970. Bilder als Dramen, Köln 2022, 6. 40  Christopher Rothko, From The Inside Out, New Haven/London 1993, 6 f. 41  Rothko, From The Inside Out. 42  Laut Schleiermacher zielt das „Gefühl“ als „unmittelbare[s] Selbstbewußtsein“ auf das „allgemein Menschliche“, es schließt seinen „transcendetale[n] Grund“ mit ein und verknüpft somit einzelne Gefühle und die zeitlose, Ich konstituierende Identität (KGA II/10-2, 568), s. o. Anm. 4. Vgl. auch ebd., 570: „Wir können auch nicht annehmen, daß ein Moment des Selbsthewußtseins ein solcher wäre, wo diese religiöse Seite ganz fehlte. In jedem Moment, der das denkende Sein in seinem Wesen ausdrückt, muß sie sein; sie kann in einzelnen Momenten (der Anschauung oder Production) verschwinden, aber dies wird stets scheinbar sein. Eben so giebt es Momente des Selbsthewußtseins, wo das religiöse Gefühl sehr hervortritt, und alles andre zurück; aber nie wird das religiöse Gefühl ganz allein dominiren.“ 43  Ebd., 7. 44  Ebd., 8.

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Mozarts Musik, der er sich insofern verwandt fühlt, als er ihn dergestalt deutet: Mozart is „smiling through tears“.45 Mit der ästhetischen Theorie Schleiermachers stimmt Rothkos Anspruch insofern überein, als in dem künstlerischen Ausdruck die allgemeine „human condition“, etwa das Bewusstsein der Sterblichkeit, mit dem Individuellen zusammenkommen muss. Freilich stellt Rothko keine einzelnen Gefühle dar, sondern Gefühlslagen oder ein komplexes Gefüge von Gefühlen und darin enthaltenden Erfahrungen. Zweifellos geht Rothko in seiner Modernität über Schleiermachers Ästhetik hinaus. Die Modernität des Künstlers Mark Rothko zeigt sein selbst durchlaufener Weg der Abstraktion ausgehend von der gegenständlichen Malerei, über den Surrealismus hin zum abstrakten Expressionismus. Zur Gruppe des abstrakten Expressionismus zählen nicht einheitliche verfahrene Maler, u. a. der sich von Rothko unterscheidende Action-Painter Jackson Pollock. In Pollocks Bildern tritt die Modernität in Form von Reflexivität der Kunst deutlich zu Tage, und zwar indem er den künstlerischen Prozess des Malens – die Materialität der Farbe, die Pinselstriche, das Auftragen – selbst zum Gegenstand der Malerei macht. Im Zentrum der Bilder von Mark Rothko steht hingegen die Farbe nicht als stoffliche chemische Verbindung, sondern in ihrer physikalischen Wirkkraft. Auch darin wird ein Element der Kunst reflexiv sowie in den Pinselstrichen, die ebenfalls in Rothkos Bildern zu sehen sind. Rothkos Sohn, Christopher Rothko, sieht aber in der Reflexivität keineswegs die Bedeutung der Werke seines Vaters.46 Die Pinselstriche deutet er aufgrund der dadurch entstehenden Imperfektion als ein Hinweisen auf das Brüchig-Individuelle, das auch im und trotz des künstlerischen Schaffensprozesses zum Vorschein komme. Zentral seien ebenso wenig die Farben. Vielmehr sei der starke Ausdruck der Bilder auf die Formen und deren Erschaffen von Räumlichkeit und Bewegung zurückzuführen. Obgleich sich Rothkos Farbfelder offenkundig von der Dynamik in Pollocks Bildern unterscheidet, handelt es sich bei Rothko mitnichten um eine statische Darstellung. Im Gegenteil kommt es auf die Bewegung durch das Wirken der Farbe an, deren Bewegung und Wirkung wiederum von den formalen Gegebenheiten bestimmt werden. Die Produktivität des Künstlers, sein darstellendes Handeln, bleibt durch die Bewegung der Farben in den Bildern bewahrt, und damit ist nicht in erster Linie das Malen selbst gemeint, sondern insbesondere auch das Vorstellen und Konzipieren, die den Malprozess initiieren und anleiten. Zugleich setzt sich diese Produktivität in der Rezeption, im Vorstellen und Fühlen des Rezipienten, fort. Damit hängt zusammen, dass Rothkos Bilder einer Art Inszenierung bedürfen, einen Raum für sich in Anspruch nehmen. In Rothkos Bildern wird das Religiöse in der Kunst inso45  Ebd., 46  Vgl.

171. Persönlicher Bericht von Christopher Rothkos Schwester Kate. ebd., 9.

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fern deutlich, als sie eine Konzentration des Betrachters voraussetzen, der sich nahezu andächtig in ihnen versenkt und bereit ist, sich ihnen hinzugeben. Diese Art der Religiosität im Betrachten wird vielfach ignoriert, aber sie ist ein notwendiges Moment der Kunsterfahrung – Adorno fasst sie als das Mimetische.47 Ist das Ausdrücken von Gefühlen wesentlich, besteht freilich die Gefahr, sich im rein Subjektiv-Gefühligen zu verlieren, oder das Betrachten der Bilder Rothkos als eine bloße Meditation misszuverstehen. Davor mag schützen, dass die Bilder nicht gefällig sind, auch keinen leichten Zugang bieten. Der Zugang ist sogar derartig erschwert, dass der Anblick die Frage aufwirft, ob sich in ihnen überhaupt etwas finden lässt. Sie schweben zwischen Nichts48 und durch Formen und Farben sowie durch die sich da­ raus ergebene Bewegung ausgedrückten Gefühlsschichten.49 Diese zu erfahren, erfordert die Bewegung des Bildes nachzuvollziehen, darin liegt die Musikalität von Rothkos Bildern. Schleiermacher ist es freilich um eine Mitteilung durch die Kunst zu tun, anders formuliert: das individuell Innere ist mit der Gemeinschaft zu teilen. Den damit verbundenen Schwierigkeiten ist sich Schleiermacher, wie zu zeigen war, bewusst. In seinem Brouillon zur Ethik gesteht er ein: „Jedes Kunstwerk will verstanden sein, aber keines so wie die Sprache. Vielmehr sagen wir von jedem Kunstwerk, daß es nie ganz könne verstanden wer­ den.“50 „Bei der Mitheilung eines Resultates wird nur das Erkannte an sich Eigenthum des Andern, die Eigenthümlichkeit des Andern wird nur Object der Erkenntniß, das er nie ganz rein in sich auflösen kann.“51 Das Nichts in Rothkos Bildern ist die Ungegenständlichkeit, das fehlende eindeutige Sujet; die Formen und Farben erzeugen dagegen Bewegung und Vielfältiges, aber nicht erschöpfend und klar zu Bezeichnendes, sie bedürfen aber der Hinwendung. Diese Sperrigkeit in Rothkos Werk wie auch dessen Reflexivität – die

47  Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2003, 489: „Nur sind Gefühl und Verstand in der menschlichen Anlage kein absolut Verschiedenes und blieben noch in ihrer Trennung von einander abhängig. Die unterm Begriff des Gefühls subsumierten Reaktionsweisen werden zu nichtig sentimentalen Reservaten, sobald sie der Beziehung aufs Denken sich sperren, gegen Wahrnehmung blind sich stellen; der Gedanke jedoch nähert sich der Tautologie, wenn er vor der Sublimierung der mimetischen Verhaltensweise zurückzuckt. Die tödliche Trennung von beidem ist geworden und widerruflich. Ratio ohne Mimesis tötet sich selbst.“ 48  Vgl. Rothko, From The Inside Out, 6 f. 49  Vgl. ebd., 9: „These feelings, mediated only through the most basic elements of color and form, are in constant interplay – sometimes harmonious, sometimes contentious, and almost always, like real emotions, in the ambivalent admixtures that continually tint our world.“ 50  Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, 115. 51  Ebd., 19.

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man eher in Hegels Kunstphilosophie antizipiert findet – markieren die Grenze der Ästhetik Schleiermachers angesichts der modernen Kunst. Dennoch galt es zu zeigen, dass die Religion oder genauer gesagt das Religiöse nicht aus der Kunst verschwindet. Und dieses Bewusstsein, das angesichts der Kunst von Rothko geweckt wird, ist deshalb entscheidend, damit sich das Religiöse nicht in seiner verdrängten oder gar gefährlichen Form auswirkt. Verdrängt wird das Religiöse in der absoluten Forderung der Kunstautonomie im l’art pour l’art, eine Strömung, die dann auch als Kunst­ religion aufgefasst wurde, weil Kunst göttlich übererhöht wird. Rothko gerät trotz der Modernität seiner reifen Werke aufgrund von deren Emotionalität nicht der Reinheit des l’art pour l’art, die Adorno treffend beschreibt: „Sobald das Kunstwerk so fanatisch um seine Reinheit bangt, daß es selber an dieser irre wird und nach außen stülpt, was nicht mehr Kunst werden kann, Leinwand und bloßen Tonstoff, wird es zu seinem eigenen Feind, zur direkten und falschen Fortsetzung von Zweckrationalität.“52 Die Ignoranz des Religiösen im Sinne Schleiermachers führt schließlich auch zum Untergang des l’art pour l’art, denn der fehlende Bezug zur Welt, zum Individuellen kehrt die Verhältnisse um. Aber auch das Umgekehrte, das Ineinssetzen von Kunst und Leben in der Avantgarde löst die Kunst auf, weil sie ihren Bezug zu einem Allgemeinen verliert, auch darauf weist Schleiermacher hin. Freilich ist dieses Allgemeine der Kunst die große Frage und das große Problem der modernen Kunst, die die Postmoderne nach sich zieht. Dieses Problembewusstsein findet sich wiederum eher bei Hegel als bei Schleiermacher, da letzterer an dem Religiösen und dem Gefühl als dem Allgemeinen der Kunst, als deren Substanz festhält. Weiß man aber nicht um diesen Bezug zum Allgemeinen, wie auch immer er zu bestimmen ist, geht die Kunst, wie Schleiermacher warnte, in der Vereinzelung verlustig.

52  Adorno,

Ästhetische Theorie, 158.

Zu Grundgedanken von Hegels Philosophie der Religion Klaus Vieweg (Jena) Wissenschaft von der Religion – Wissenschaft in der Philosophie, setzt andere philosophische Disziplinen voraus – speziell die Logik und die Geistphilosophie.1 Für die Religionsphilosophie bietet sich die Religionspassage der Enzyklopädie als Einstieg der Interpretation an. Wie im Falle der Kunst findet sich eine extrem komprimierte Exposition des Religionsbegriffs inklusive der Verweise auf maßgebliche Bestimmungen, die diesem EnzyklopädieAbschnitt (Enz §§ 564–571) vorhergehen. Der Theologe Richard Rothe, der schon in Heidelberg Hegel kennenlernte, berichtet über den ersten Vorlesungszyklus, in welchem der Professor die Religion als ‚eine notwendige Stufe des sich selbstbegreifenden Geistes darstelle, in welcher dieser aber noch nicht zum Begriffe seiner selbst gelangt ist, was ihm erst in der Philosophie möglich werde‘, Rothe kann sich ‚fast kein herrlicheres Kunstwerk des menschlichen Geistes‘ als Hegels Philosophie vorstellen, aber: Alle Philosophie, so Rothe, ist vom Teufel.2 Worum geht es in diesem Teufelswerk? Philosophie der Religion versteht Hegel als denkend-begreifende Betrachtung oder Erkenntnis der Religion, die auf den in der Weise der Vorstellung sich ausdrückenden Begriff der Religion zielt. Unmissverständlich artikuliert der Philosoph sein Verständnis von Rechtfertigung, das sich von allen religiösen Positionen zur Rechtfertigung abhebt. Die Grundbestimmungen der Logik stehen auch ‚im Mittelpunkt des Inhalts‘ der Religion (TWA 17, 347), auch in dieser Sphäre wird das frei für sich seiende Denken exponiert. Also gilt nichts, was ‚sich nicht vor dem Richterstuhl des Denkens ausgewiesen hat und als annehmbar vor ihm sich gerechtfertigt hat‘ (TWA 17, 353). Positionen, welche die Reichweite des Denkens begrenzen oder beschränken wollen, das menschliche Erkennen und das Subjekt dieses Wissens als bloß Endliches behaupten, stellen darin das 1  Die folgenden Überlegungen folgen in wesentlichen Passagen der Darstellung von Hegels Philosophie der Religion in: Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München 2019. 2  Günther Nicolin (Hg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, Hamburg 1970, 192.

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ungerechtfertigte Prinzip einer Gewissheit – ‚der Nerv des Glaubens‘ (TWA 17, 370) – ins Zentrum, somit eine bloße Versicherung. Über Wahrheit entscheidet nicht die Gewissheit, nicht der Glaube und nicht das reine unmittelbare Wissen. In diesem ausdrücklich philosophischen Zugang muss die absolut immanente Methode der Wissenschaft greifen, die Dynamik des Reli­gionsbegriffes Darstellung erhalten. Wie die Philosophie der Kunst trotz aller Schnittmengen von den Kunstwissenschaften unterschieden werden muss, so auch die Philosophie der Religion von den Theologien. Den Ausgangspunkt bildet – das Göttliche als Geist, als freie sich auf sich beziehende Tätigkeit, als Selbstverhältnis, als in sich vermitteltes Wissen. Der Inhalt der Religion hat die Bestimmung der Freiheit, der freien Intelligenz zum Prinzip (Enz § 563), der absolute Geist als Sichwissen des Menschen im Absoluten hat die Formbestimmtheit der Vorstellung. „Diese gibt den Momenten seines Inhalts einerseits Selbständigkeit und macht sie gegeneinander zu Voraussetzungen und aufeinanderfolgenden Erscheinungen und zu einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen; andererseits wird solche Form endlicher Vorstellungsweise in dem Glauben an den einen Geist und in der Andacht des Kultus auch aufgehoben“ (Enz § 565). Hier sind sowohl die konstitutiven Momente der Religion wie auch ihre Rolle als Übergang zur Philosophie, zum begreifenden Denken des Absoluten, angegeben: endliche Vorstellungsweise, Bildlichkeit, Narration, endliche Reflexionsbestimmungen sowie als ‚Brücke‘ zur Philosophie der Glaube an den einen Geist und der andächtige Kultus der Gemeinde. Hegel zielt auf die Freilegung der logischen Verfassung des Begriffs der absoluten Religion, der Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit:3 a) die Religion in der Bestimmtheit der Allgemeinheit, der Unmittelbarkeit, des Seins, der Unendlichkeit – das Moment oder der ‚Boden der Allgemeinheit‘ (Enz § 567); Gott als unmittelbar Vorausgesetztes sowie der in seiner Manifestation in Form der Schöpfung bei sich selbst bleibende Inhalt, insofern Gott nur sich selbst als seinen Sohn erzeugt; b) die Religion in der Bestimmtheit der Besonderheit, des ewigen Moments der Vermittlung (Enz § 568), der Endlichkeit, des Wesens, der UrTeilung – die Unterscheidung des Ewigen von der Welt und c) der Religion in der Bestimmtheit der Einzelheit, des Begriffs, der konkreten Identität von Unmittelbarkeit und Vermittlung, der ‚Boden der Einzelheit‘ als ‚der in seinen Grund zurückgekehrte Gegensatz von Allgemeinheit und Besonderheit‘ (Enz § 569) – die Rückkehr und Versöhnung des Ewigen und der Welt (Enz § 566). So haben wir die substantielle Macht des Göttlichen (Enz § 567), die Ur-Teilung und Selbstunterscheidung, der endliche Geist (Enz § 568) sowie

3  Einzyklopädie,

in: TWA 10, §§ 566–569.



Zu Grundgedanken von Hegels Philosophie der Religion157

die Wiederherstellung der Einheit, die Vorstellung des ‚ewigen, lebendigen und in der Welt gegenwärtigen Geistes‘ (Enz § 569). In diesen logischen Momenten bestimmt der Begriff sich selbst, diese durchläuft er in seiner Entwicklung selbst. Wie in der Sphäre der Ästhetik die logische Struktur der Kunst und die historischen Kunstformen korrespondieren, so entsprechen sich hier in den Hauptpunkten4 die logisch-systematische Bestimmung der Religion und ihre geschichtliche Entfaltung, Hegel betont den Zusammenhang von Philosophie der Weltgeschichte und der Geschichte der Religionen (Enz § 562): Im Prinzip der orientalischen Welt, in welcher Staat, Kunst und Religion noch nicht wesentlich geschieden sind, dominiert die Religion der Unmittelbaren, des Seins, des substantiellen Einen, eines abstrakt-allgemeinen Pantheismus, in der antiken Welt mit griechischer Kunst-Religion und der römischen Religion die Besonderung der Gottheiten, der Polytheismus, und in der modernen Welt die konkrete Identität der Einzelheit, die vollendete, geoffenbarte Religion des Monotheismus, deren Substanz der Begriff ist.

I. Objektivität versus Subjektivität Prinzipiell repräsentiert die Religion eine Sphäre des absoluten Geistes als der zu ihrem Für-sich-Sein gelangten Idee, in ihrer Grundverfasstheit muss sie als Geist interpretiert werden. Von übergreifender systemstruktureller Perspektive aus handelt es sich um den Transfer von der Subjektivität zur Objektivität, von einer einseitigen zu ihrer ebenso einseitigen komplementären Formation des absoluten Geistes. Ihr gemeinsames, entfaltetes Grundprinzip ‚Das Selbst, das Ich ist das absolute Wesen‘ wird von jeweils unterschiedlicher Seite ausbuchstabiert, einerseits durch die Subjektivität als subjektiv-konstruktionistischen Prinzip der Kunst, als Idee in beschränkt sinnlich-individualisierter Formierung, der eigenen-individuellen Autorität von Künstler und Rezipient, dem ‚subjektiven Produzieren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbständige Gestalten (Enz § 572). Andererseits haben wir die Objektivität als manifestiertes Wissen, als unbeschränkte Ganzheit oder Totalität die Objektivität des Inhalts – ‚gegen die andere Weise der Subjektivität‘. Zur Geltung kommt die Objektivität des Inhalts gegen bloß subjektives Belieben, gegen bloß subjektives Gutdünken, gegen nur subjektive Überzeugung, ein Inhalt, der in der Lehre vom objektiven Geist generiert wurde, Bestimmungen der Freiheit wie die Absolutheit der Menschenwürde, Gut und Böse, Pflicht, Gerechtigkeit, Sittlichkeit etc. – die Au4  Ähnlich dem Verhältnis der Folge der logischen Bestimmungen in der Wissenschaft der Logik und der geschichtlichen Abfolge der Philosophien, vgl.: Klaus Vieweg, Anfänge. Eine andere Geschichte der Philosophie, München 2023.

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torität der menschlichen Gemeinschaftlichkeit. Darin verlor der Inhalt der Selbstbestimmung die Zufälligkeit und Willkür. Zugleich bringt dies die Schattenseite der Objektivität, ihre Begrenztheit mit sich – das Gegebensein – ein Gegebenes, von dem nur gewusst wird, daß es so ist, die Form der puren Unmittelbarkeit – das Göttliche als das Vorausgesetzte. Die Vernunft hingegen ist Hegel zufolge in ihrer Form und Notwendigkeit nichts Gegebenes. So fehlt der religiösen Objektivität des Inhalts das ‚Zeugnis der Notwendigkeit des Begriffs‘, es kann nur auf den Glauben rekurriert werden, woraus die permanente Gefahr des Religiösen zur Apologetik erwächst. Es können somit hier in der Sphäre des absoluten Geistes mit der Kunst eine fortbestimmte Form des Myth of the Construction und mit der Religion eine elaborierte Version des Myth of the Given diagnostiziert werden, einerseits die Dominanz des Konstruktiven, andererseits die Dominanz des Gegebenen, noch keine vollständige Einheit beider Seiten. Hegels Argumentation kommt schließlich zu einem neuralgischen Punkt: Sofern der Inhalt ein für mich nur unmittelbar gegebener bleibt, bedeutet dies einen ‚Mangel an Zusammenhang zwischen Allgemeinheit und Besonderheit‘, ein verfehltes Verständnis der Relation zwischen Unendlichem und Endlichem. Wenn das menschliche Subjekt zu einem bloß Empfangenden, dessen Endlichkeit als Beschränktheit angesehen wird, es zum akzidentellen herabsinkt, geht ein Konstituens von Freiheit unter, nämlich die Hauptbestimmung, dass ‚die Absolutheit meiner in dieser meiner Endlichkeit‘ besteht, dass es um eine Affirmation, um meine Versöhnung geht, die nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben und bis dahin offengelassen werden kann. Das Subjekt hat seiner Bestimmung nach ‚unendlichen Wert‘, eine Bestimmung, die in der Gemeinde ausgeführt ist. Das so in sich unendliche, freie Subjekt gilt Hegel als die bei sich selbst seiende, in sich versöhnt seiende, unendliche Subjektivität. Religiöse Formeln wie die Rede vom ewigen unerforschlichen Ratschluss Gottes, von der Vorsehung, von der Unbegreiflichkeit Gottes und seiner Wege haben laut Hegel zwei Konsequenzen: erstens bleibt der Inhalt für das Subjekt ein positiv offenbarter, bloß unmittelbar gegebener, somit nicht begriffener, zweitens führt dies zur Verendlichung des Göttlichen, nämlich seiner Reduktion auf ein hohles Abstraktum ohne Inhalt, zu einem Vakuum im Jenseits. Eine Schlüsselstelle dazu lautet: Das Ich, das sich einen Inhalt zu eigen macht, mag „so konkret – Herz, Bedürfnis, Gemüt – sein, so bin Ich – d. i. als Begriff, bin ich nicht darin identisch damit“ (HV 3, 159). Hier leuchtet der maßgebliche Background auf: Die Begriffe Geist und Freiheit. „Was Gott als Geist ist, dies richtig und bestimmt im Gedanken zu fassen, dazu wird gründliche Spekulation erfordert“ (Enz § 564), mit anderen Worten: Das Absolute bleibt in der Religion unterbestimmt, notwendig ist Philosophie der Religion.



Zu Grundgedanken von Hegels Philosophie der Religion159

II. Geist und Freiheit Das Wesen der für den Geistbegriff fundamentalen Identität von Subjektivität und Objektivität liegt formell in der Freiheit, der absoluten Negativität des Begriffs als einem identischen Selbstverhältnis (Enz § 382). Der Inhalt dieser zunächst formellen Freiheit manifestiert sich als Für-sich-Werden des Geistes, was sein vorheriges Ur-Teilen (unterscheiden, verendlichen) und die Überwindung der Teilung in Form des Mit-sich-Zusammenschliessens impliziert. Im letzteren liegt der Grund für Hegels Verwendung von Religion für alle drei Formen des absoluten Geistes – im Sinne von religio, Rückbindung, Zusammen-Bringen, Zusammen-Schluss. Dies findet seine logisch fundierte Artikulation in den drei Schlüssen der Religion und Philosophie, die einen Schluss darstellen.5 Wenn Geist angemessen gedacht werden soll, so muss zuerst die Einheit von subjektivem, objektivem und absoluten Geist in den Blick kommen, eine ‚systematische Totalität‘ die von dem einen Geist konstituiert wird. Durch eine kulturelle Ganzheit werden die besonderen Bestimmtheiten zusammengebunden. Der Inhalt der Idee in der Sphäre der wahrhaften Religion hat die ‚Bestimmung der freien Intelligenz zum Prinzip‘ (Enz § 563). Dies verlangt den Rückblick auf die für den Begriff der Religion essentiellen §§ 481 und 482 und die dort fixierte Kernbestimmung des freien Willens, des freien Geistes in seiner Einheit des Theoretischen und Praktischen. Somit haben wir in der Religion, sofern wir sie als philosophisch als Geist verstehen, eine Form freier Selbstbestimmung des Menschen, keineswegs die Gestalt irgendeiner Abhängigkeit – Schleiermachers reines Grundgefühl der Abhängigkeit von Gott charakterisiert Hegel unmissverständlich und mit aller Härte als Knechtschaft (HV 4a, 64; 4b, 662). Auch wird die katholische These des Augustinus vom Menschen als einem kümmerlichen Abriss von Gottes Schöpfung entschieden attackiert, in der Rede vom Menschen als dem Ebenbild des Göttlichen. Erstrangige Relevanz für Hegel besitzt der in der Weise der Vorstellung hervortretende Gedanke, dass der Mensch, das Individuum als solches, einen unendlichen, absoluten Wert hat, dass ‚der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist‘, dass er nicht das Göttliche ‚hat‘, sondern als Endliches zugleich das Göttliche ‚ist‘, insofern er über die Fähigkeit des Denkens verfügt. Auch in der Gestalt der Religion bleibt Geist im Kern ein Selbstverhältnis, Geist ist nur für den Geist. Das Subjekt wird nicht bloß auf seine Endlichkeit hin betrachtet, sondern insofern es den unendlichen Inhalt repräsentiert. Der Mensch ist als Wissender, Denkender somit Geist an sich, unendlich, göttlich. Die Menschen, genauer alle Wesen mit freiem Willen, re5  Alles

Vernünftige ist ein Schluss.

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präsentieren die Identität des Unendlichen und Endlichen. In der Lehre vom objektiven Geist fixiert Hegel diesen objektiven Gehalt in direkter Anspielung auf folgende Bibelstelle: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus“ (Gal. 3, 26–29). Nicht Einige, sondern in Einem Alle, wiederum bezieht sich Hegel auf Schiller, auf die geliebte Ode an die Freude und das Abschlusszitat der Phänomenologie: alle Menschen werden Brüder, in allen Menschen ist das Göttliche realisiert – ‚aus dem Kelch des ganzen Geisterreiches schäumt jedem Menschen die Unendlichkeit‘ (HV 5, 48). Hegels ‚Übersetzung‘ vom Sich-Wissen des Menschen in Gott in die Sprache des Begriffs lautet: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“ (RPh § 209). In diesem Kernsatz wird explizit auf das begreifende Denken rekurriert. In seinem Status als Person ist der Einzelne göttlich, allgemein anerkannt, unantastbar, ewig, absolut. Im Status eines Sklaven oder Knechts haben wir dagegen einen gravierenden Verstoß gegen den Begriff. Darin liegt implizit zugleich die Distanz zur Paulus-Stelle und zum protestantisch-dualistischen Verständnis von Freiheit: Das christliche Individuum als Sklave kann nicht als frei gelten, in Ketten ist man nicht frei (Enz § 482). In logischer Hinsicht fixiert der Paulus-Satz die nur die defizitäre Allgemeinheit des Wesens, der Reflexion, ein nur Gemeinschaftliches, im Sinne der logischen Allheit, der Allheit der Selbste einer All-Gemeinde. Hegels Stelle der Rechtsphilosophie liefert dagegen die Begriffsallgemeinheit, in der jeder besondere Einzelne die Allgemeinheit darstellt. Das Wissen der Menschen, dass ‚ihr Wesen, Zweck und Gegenstand die Freiheit ist‘ wird erst in der Wissenschaft der Philosophie (im begreifenden Denken) erhärtet und gerechtfertigt, was die präzise Unterscheidung der Wissensarten in den Sphären Kunst, Religion und Philosophie verlangt – in der Religion verbunden mit Gefühl, Glauben, Vorstellung, Andacht – ein ‚Zeugnis ohne Notwendigkeit des Begriffs‘ (HV 3, 153).

III. Von den poetischen Lebensläufen besonderer Individuen zum Lebenslauf des Göttlichen Ein Moment für den unbedingt aufklärungsbedürftigen logisch-stringenten Fortgang von der Philosophie der Kunst zur Philosophie der Religion (Enz §§ 562–563) beinhaltet den Weg von der ‚konkreten Anschauung und Vorstellung‘ des an sich absoluten Geistes’ zu dessen Vorstellung, vom Anschauen zum Vorstellen des freien Geistes. Darin liefert das Vorstellende als



Zu Grundgedanken von Hegels Philosophie der Religion161

poetische, biographische Erzählung die Brücke, den Übergang von der poetischen Narration von individuellen Lebensgängen zur großen religiösen Erzählung. Mit der Überwindung des Hybrids der Kunst-Religion, worin Prosa und Poesie noch nicht geschieden sind, werden beide Sphären selbständig. Hier kann Hegel nahtlos an seine Darstellungen in der Phänomenologie des Geistes anschließen, alle bisherigen Bestimmungen des Geistes versammeln sich als Momente, die Religion haben wir die einfache, besondere Ganzheit in ihrem Werden. Die einzelnen Momente gehen in den Geist als in ihren Grund zurück. In diesen Vorstellungen, den Bildern und narrativen Formen wird die Notwendigkeit des Begriffs als ein Geschehen, die sich bewegende Ganzheit in Form einer Reihe von selbständigen Gestalten und deren Bewegung, als ein Geschehen aufgefasst und ausgesprochen, als ‚aufeinanderfolgende Erscheinungen, einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen‘ (Enz § 565). Diese Bewegung ist noch nicht vollständig logisch konstituiert, keine Begriffsgenese, sondern eine göttliche Geschichte, keine vollständige Selbstbestimmung des Begriffs, sondern ein Kompositum von Bildern und Vorstellungen, sprachlich verfasst in der Weise eines Amalgams von Logischem und Bildlichem. Substantielle Bestimmungen menschlicher Existenz6 werden im medialen Modus einer großen Erzählung mitgeteilt, einer komponierten Abfolge von Episoden, einer gedankenfundierten, ganzheitlichen, metaphorischen, gleichnishaften Geschichte. Auf der Grundlage von Phantasie und Reflexion konstituiert sich Zusammenhang, auch durch ein Aufzählen von Prädikaten, ein Nebeneinander und Nacheinander-Gruppieren, ein Verknüpfen mittels bloßer Bindeworte („und“ oder „auch“). Ein Beispiel hierfür sieht Hegel im zeitlichen Nacheinander in der Vorstellung der Dreieinigkeit, was für die Religion charakteristisch ist, nicht für die Philosophie der Religion, die nur ein logisches Nacheinander festhält. Es entsteht in jeder Religion ein Tableau, welches das Ganze in Umrissen erfasst, vor die Augen treten lässt, auch im Sinne der Evidenz – eine logo-mythische Biographie des göttlichen Wesens. Die einzelnen Momente sind nicht durch ihren Begriff aufeinander bezogen, können aber durchaus selbst schon über das Vorstellen hinaus auf den Begriff weisen. Es zeigt sich das Implizite der Gedanken in den Bildern und Vorstellungen der Religionen.7 Die Vorstellungen, die Bilder oszillieren ewig zwischen den beiden Polen der Allgemeinheit und der Besonderheit, die noch nicht in eine spekulative Einheit gebracht sind, es vollzieht sich ein stetes ‚Über-tragen‘ – metaphora – zwischen den Seiten. 6  Wenn diese Conditio nicht erfüllt ist, so haben wir es nicht mir Religion, sondern etwa mit Aberglauben, Pseudo-Religion oder Perversionen des Religiösen zu tun, die sämtlich heute Hochkonjunktur erleben. 7  Vgl. dazu auch: TWA 16, 139–151.

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Die das Reich des Vorstellens besonders prägende Einbildungskraft oder Imagination bildet das Fundament und die Quelle für die Entstehung unendlich vieler, verschiedener Bilder. Darin liegt aber ebenso, dass es darin keine vollständige Befreiung vom Gegenständlichen, vom Äußerlichen, vom isoliert Einzelnen geben kann. Die Gedanken der Negativität und Bosheit etwa finden ihre Verbildlichung in verschiedenen Versionen des ‚Teuflischen‘, wie sie Rahmen verschiedener Religionen auftreten, ähnliches gilt für die Vorstellungen über die ‚Schöpfung‘. Gott tritt in vielfältiger Form hervor und zeigt damit – ähnlich der olympischen Götterversammlung – die komische Selbstvergessenheit seiner eigenen Natur, nämlich prinzipiell sowohl nur Einer als auch zugleich Mehrere sein zu müssen. Die Vorstellung von Gott als Sonne, als Vater etc. ist eine arbiträr-zufällige Zuschreibung, da kein schlüssiger Zusammenhang mit dem Gedanken eines Absoluten hergestellt werden könne, mit gleicher Berechtigung könne Gott als Erde, als Zeus oder als Mutter imaginiert sein. Hegel spricht ausdrücklich in der Mehrzahl, von Religionen als bestimmten Vorstellungen, Religion existiert notwendig in der Vielfalt. Die Gestalt des Geistes besteht in der Form von Geistern, obschon nur vom Geist als einem, nur im Singular gesprochen werden kann. Beide Positionen beanspruchen gleiche Geltung, im internen Raum der Religion vermag diese Isosthenia/Antinomie keine Auflösung finden.

IV. Die Sphäre der Vorstellung Die differenten Theorien von Religion nutzen bestimmte Momente oder Leistungen geistiger Subjektivität wie Gefühl oder Vorstellung zur Fundierung ihrer Positionen von einer reinen, puren Unmittelbarkeit. Hegel unterscheidet präzise zwischen diesen geistigen Formen (Gefühl, Vorstellung, Glaube) und der einseitigen Aufnahme in bestimmten Auffassungen von Religion und vom Göttlichen. Es gibt laut Hegel ‚kein Wissen, Empfinden, Vorstellen, Wollen, keine geistige Tätigkeit, welche nicht vermittelt ist, keinen Gegenstand der Natur und des Geistes, der nicht die Bestimmungen der Vermittlung wie die der Unmittelbarkeit in sich schlösse‘ (TWA 17, 365), dies wurde in der Wissenschaft der Logik bereits aufgewiesen. Hegels Kritik richtet sich somit auf ein beweisloses unmittelbares Wissen, auf einen erkenntnislosen Glauben, auf ein gedankenloses Fühlen (TWA 17, 365). Weiterhin müssen die Defizite der erwähnten Formen des subjektiven Geistes im Vergleich zum begreifenden Denken benannt sein, dies hatten Passagen der Phänomenologie und Enzyklopädie bereits offengelegt. Bei der Allgemeinheit des Göttlichen handelt es sich um den wesentlichen Gedanken der unmittelbaren Geltung des Seins des Absoluten, des Daseins des Göttlichen. In theoretischer Hinsicht wäre dies die unmittelbare Gewissheit des Glaubens, in praktischer die religiöse Andacht. „Das, was dieses



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unmittelbare Wissen weiß, ist dies, daß das Unendliche, Ewige, Gott, das in unserer Vorstellung ist, auch ist; daß im Bewußtsein mit dieser Vorstellung unmittelbar und unzertrennlich die Gewißheit ihres Seins verbunden ist“ (Enz § 64). Falls man jedoch bei dieser Vorstellung verharre, bleibe man erstens beim ‚trockenen Abstraktum‘ des Seins, einer ganz formellen Bestimmung stehen (Enz § 63), der dürftigsten ärmsten, geringstmöglichen Bestimmung, die jedoch damit notwendig vermittelt bleibt. Zweitens falle die wahre Wirklichkeit des Geistes außerhalb des Menschen, es erfolgt die prinzipielle Trennung von Jenseits und Diesseits, die eben nicht durch einen unerklärbaren ‚Sprung‘ zu überwinden ist. Dies artikuliert sich z. B. in der Behauptung der Verschlossenheit und Unbegreiflichkeit des Höchsten: ‚das Unendliche soll allein das Wahre sein, nur die Macht gegen das Endliche. Damit kann der logische Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen nur metaphorisch, nur bildhaft, nur in der Form der Vorstellung ausgedrückt werden, die Restitution des unhaltbaren Dualismus des Endlichen und Unendlichen. Im Grenzpfahl-Dogma von der Unerreichbarkeit des Wahren durch das begreifende Denken, der prinzipiellen Beschneidung der Reichweite des Begriffs sowie der daraus erwachsenden Herabsetzung oder gar Feindschaft gegen das Begriffliche sieht Hegel ein essentielles Missverständnis und eine Bedrohung der Freiheit schlechthin. Erstens liegt darin eine unwürdige Bankrotterklärung des Wissens: Das Wahre nicht zu wissen, „diese Eitelkeit ist es welche sich in der Philosophie breit gemacht und in unseren Zeiten noch breitmacht und das große Wort führt.“ In neuerer Zeit sei es – so der Hegelsche Befund – „keinem Begriffe schlechter gegangen als dem Begriffe selbst“.8 Zweitens erwachse aus der puren Selbstlegitimation der vorstellenden Vergewisserung eben deren unhaltbarer Alleinvertretungsanspruch, die Insistenz auf Exklusivität. In Anspielung auf eine Kantische Perspektive spricht Hegel von einem absoluten Wesen, das Vorstellung bleibt und nicht begriffen werden könne. Diesem Göttlichen mangelt es an Legitimation, an einem Beweis, es bleibt pures Postulat, eine bloße Forderung. Das Problem liegt laut Hegel in der Exklusion der Vermittlung. ‚Für das Denken überhaupt, näher für das Begreifen, gibt es kein (rein) Unmittelbares, nichts Unmittelbares, sondern nur solches, in dem wesentlich die Vermittlung ist‘ (HV 3, 301). Die Unmittelbarkeit muss ebenso als die ‚reine Vermittlung oder das Denken‘ genommen werden, was in der geoffenbarten Religion eben die Vorstellung des Mittlers übernimmt und sich im Gedanken der Identität des Göttlichen und des endlichen Mittlers ausdrückt, somit ebenfalls als Zeugnis, dem die Notwendigkeit des Begriffs noch fehlt, die argumentative, begreifende Prüfung steht noch aus. Dem jeweils Göttlichen werden Attri8  Einleitung in die Enzyklopädie-Vorlesung, in: TWA 10, 403; Vorlesungen über die Ästhetik, in: TWA 13, 127.

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bute oder Prädikate beigelegt – allwissend, allgütig, allmächtig etc. – Besonderungen, die die sich nicht logisch stringent ergeben können. Letzte Wahrheit wird von einer fremd gesetzten Autorität konstituiert. Allerdings vermag die ‚endliche Vorstellungsweise in dem Glauben an den einen Geist und in der Andacht des Kultus auch aufgehoben werden‘ (Enz § 565).

V. Die Vieldeutigkeit der Vorstellungen und die Mannigfaltigkeit der Religionen Vorstellungen und Metaphern sind schlechthin vieldeutig, ebenso der kulturell-ethnische Kontext ihrer Entstehung. In jeder Religion als einer bestimmten Gestalt des Religiös-Vorstellenden dominiert eine der versammelten Komponenten, diese eine Eigentümlichkeit greift durch alle Seiten hindurch und drückt diesen Momenten ein gemeinschaftliches Gepräge auf. Alle besonderen Komponenten haben gemeinschaftlich die gleiche Bestimmtheit des Ganzen in sich. Schon in seiner Phänomenologie hatte Hegel die notwendige Mannigfalt der Religionen herausgehoben, den Polytheismus anderer Art, eine Vielheit mannigfaltiger Vorstellungswelten. Daraus resultieren die Unabdingbarkeit des wechselseitigen Respektierens und die Unhaltbarkeit jeglicher Exklusivitätsansprüche von Religionen. Für Hegel wird das vorstellende Vergegenwärtigen in der Moderne frei. Jeder kann in einer der Reli­ gionen, in denen die gewonnene Substantialität präsent ist, seine Verbildlichung des Absoluten, seine Rückbindung in Vorstellungswelten und religiösen Gemeinschaften finden. Aber keine solch besondere Formation kann das vereinende Band der modernen Gemeinschaft allein knüpfen, keine einzelne religiöse Formation kann Verbindlichkeit für jeden Einzelnen beanspruchen. Erst die Prüfung des Gehalts der jeweiligen religiösen Vorstellungen führt dorthin, erst begreifendes Denken vermag die bestimmten Gehalte der Vorstellungen zu rechtfertigen. Dies schließt ausdrücklich ein, dass bestimmte Bilder und Vorstellungen auch die denkgestützte Legitimation verfehlen können, die dann zu überwinden sind, etwa Arten von offenkundigen Diskriminierungen in Religionen oder Verstößen gegen substanzielle Inhalte des Begriffs der Freiheit. Zugleich enthält Hegels Verständnis der Religion als Form substanziellen Wissens in Gestalt der vorstellenden Gewissheit die kritische Sicht auf die reduktionistische Position des Verstandeswissens, der zufolge es sich beim Religiösen um bloße Fiktionen, um bloß entfremdetes oder sklavisches Bewusstsein handele, das verschwindet. Darin besteht eine signifikante Differenz der Hegelschen Sicht zu marxistischen, nietzscheanischen und freudianischen Positionen zur Religion. Religion ist kein Auslaufmodell, nicht bloßes Erbstück der Tradition in einer total sich verweltlichenden Welt. Solch



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heute oft vorfindlicher Verstand versteht das Substantielle der authentischen Religionen nicht, macht sie zu einer erkenntnislosen Form, genau wie die reine Gefühlsreligion mit ihrer Exklusionsthese das Wissen nicht verstehen kann. In diesem Aneinander-Vorbei-Reden von vernunftloser Religion und vernunftlosem Verstand liegt ein Grundproblem der modernen Welt, ein Defizit, dem Hegel mit dem Gedanken der wahrhaften Vereinigung beider Seiten, mit dem Konzept der wechselseitigen Übersetzung zwischen der Sprache der Vorstellung und derjenigen des Begriffs zu begegnen sucht. Die Frage nach der Möglichkeit der Aufhebung der Form der Vorstellung in die Form des Begriffs scheint somit nicht ein bloß historisch interessantes Lehrstück zu sein, sondern von erheblicher Relevanz für die moderne Kultur. Die Hegelschen Perspektiven auf die Religion zielen a) auf deren kulturelle Gleichwertigkeit als Vorstellungsarten des Absoluten und b) deren epistemischen Differenzen. Sowohl für Kunst und Religion gilt: Ungeachtet ihrer Repräsentation mittels Anschauung und Vorstellung und des unzulänglichen, mittels im Verhältnis zum begreifenden Denken inkonsequenten medialen Formen findet sich in wahrer Kunst und echter Religion Wissen, substantieller Gehalt generiert, was ihren bleibenden Wert als ‚geistige Formen‘ bedeutet. Die Kategorien der Philosophien benötigen für die Bildung zur Freiheit unbedingt auch die ‚Rückübersetzung‘ aus den Sphären der Metaphorik und Vorstellung. In der Enzyklopädie exponiert Hegel die Trinität religionsphilosophisch als einen Zusammen-Schluss der drei Schlüsse, der absoluten Vermittlung des Geistes mit sich selbst, expliziert in Form konkreter Gestalten der Vorstellung (Enz §§ 567–571). Ihrem vernünftigen Gehalt nach sind die trinitarischen Gedanken als Konkretisierungen der Momente des Begriffs zu drei besonderen Sphären oder Elementen‘ und in der Vermittlungsbewegung ihres Wissens als drei Schlüsse, die einen Schluss ausmachen, zu begreifen.9 Mit diesem Zusammen-Schließen des Geistes mit sich selbst – alles Vernünftige ist ein Schluss – kann die Einheit des wirklich gegenwärtigen Geistes ausgedrückt werden. Zusammen mit dem inhärenten Gedanken der Objektivität in Gestalt des Glaubens und der Andacht bildet dies den Brückenkopf zum begreifenden Denken, zur Philosophie als Wissenschaft, als Aufhebung der Religion im streng Hegelschen Sinn.

9  Hans

Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, 254 f.

Hegels philosophische Deutung des Kreuzestodes Tobias Dangel (Heidelberg) Sucht man einen Zugang zu Hegels reifem System, könnte es sein, dass man sehr schnell, genau genommen schon in § 1 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die im Grundriss eine Logik, eine Philosophie der Natur und eine Philosophie des Geistes enthält, eine höchst irritierende Erfahrung macht. Denn im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht bilden Philosophie und Religion für Hegel keinen ausschließenden Gegensatz, sondern eine – wenn auch erklärungsbedürftige – Einheit. Dabei ist es richtig, dass sich die Philosophie in einem sehr viel stärkeren Maß für die Religion interessiert, ja interessieren muss, als umgekehrt die Religion für die Philosophie. Denn wenn die Philosophie die geistesgeschichtliche Bühne betritt, ist die Religion ja immer schon da. Das religiöse Bewusstsein des Menschen ist früher als das philosophische. Und das gilt sowohl für den einzelnen Menschen als auch für menschliche Gattung. Die Religion entsteht prima facie unabhängig von der Philosophie. Welche bedeutende Rolle insbesondere das Judentum und das Christentum sowie ihr Verhältnis zueinander schon für den jungen Hegel gespielt haben, wissen wir seit der Edition der Theologischen Jugendschriften durch Hermann Nohl im Jahre 1907. Es war dann interessanterweise der katholische Theologe Hans Küng, der in seiner Tübinger Habilitationsschrift Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie,1 die 1970 erschienen und in der Hegel-Forschung kaum zureichend gewürdigt worden ist, gezeigt hat, dass sich Hegels Denken in allen seinen Phasen – also von der frühen Berner und Frankfurter bis hin zur späten Berliner Zeit – immer wieder um Jesus von Nazareth als dem Mensch gewordenen Gott drehte sowie um die Frage, wie dieses weltgeschichtliche Subjekt eigentlich zu begreifen sei. Während der frühe Hegel noch ganz unter dem Einfluss von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft stand, in Jesus einen Lehrer der Moralität sah und den Unterschied zwischen Judentum und Christentum auf den Unterschied zwischen äußerer Gesetzes- und innerer Herzensreligion, 1  Hans Küng, Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie, Freiburg 1970.

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die im Geist der Liebe gegründet ist, zurückführte, hat 2007 der evangelische Theologe Martin Wendte in seiner wichtigen Tübinger Dissertation Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung2 gezeigt, dass für den reifen Hegel vor allem das Dogma des Konzils von Chalcedon (451 n. Chr.) im Mittelpunkt stand. Der Inhalt des Dogmas des Konzils von Chalcedon ist die gottmenschliche Einheit in Christus, der gemäß dem Konzil zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch und somit die Einheit zweier Naturen – der göttlichen und der menschlichen Natur – ist, die in Christus auf ungetrennte und unvermischte Weise wirklich sind. Es wäre daher – mit Martin Wendte gesprochen – nicht falsch, in Hegels gesamter Denkanstrengung eine philosophische Durchdringung und ein philosophisches Begreifen des Christentums zu sehen, das beim reifen Hegel seinen tiefsten Ausdruck im Begreifen des Dogmas von der gottmenschlichen Einheit gewinnt. Das philosophische Begreifen dieses Dogmas wäre paradoxerweise dessen Entdogmatisierung und – das ist der Anspruch der Hegelschen Philosophie – dessen Überführung in vernünftige Erkenntnis. Der im Dogma des Konzils von Chalcedon sich ausdrückende Gedanke von der gottmenschlichen Einheit in Christus bildet auch die Basis von Hegels Geistbegriff und wird in der Lehre vom absoluten Geist entfaltet. Dabei ist ‚absoluter Geist‘ bei Hegel der philosophische Begriff für denjenigen Vorstellungsinhalt, der im Zentrum des Christentums steht und auf den sich Christen mit dem Namen Gott beziehen. Die von Hegel behauptete Einheit von Religion und Philosophie und die Bedeutung, die Hegel in seiner Philosophie dem Geistbegriff beimisst, möchte ich durch zwei Zitate verdeutlichen. Das erste Zitat ist dem § 1 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften entnommen und lautet: [Die Philosophie, T.D.] hat zwar ihre Gegenstände zunächst mit der Religion gemeinschaftlich. Beide haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne, – in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist. Beide handeln dann ferner von dem Gebiete des Endlichen, von der Natur und dem menschlichen Geiste, deren Beziehung aufeinander und auf Gott als auf ihre Wahrheit. (GW 20, 39)

Und das zweite Zitat findet sich in § 384 der Enzyklopädie: Das Absolute ist der Geist; diß ist die höchste Definition des Absoluten. – Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, diß kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. – Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. (GW 20, 382 f.) 2  Martin Wendte, Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung, Berlin/New York 2007.



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Religion und Philosophie bilden eine Einheit, wie wir dem ersten Zitat entnehmen können, weil sie einen gemeinsamen Gegenstand haben, nämlich die Wahrheit und zwar in dem Sinne, dass Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist. Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit – eine alte Definition, die wir bereits bei Platon und Aristoteles finden – ist für Hegel Wissenschaft von Gott und d. h. philosophische Theologie. Philosophische Theologie – das ergibt sich aus dem zweiten Zitat – ist Wissenschaft vom Absoluten, das zu begreifen auf die Bestimmung des Geistes führt. Damit ist zugleich gesagt, dass das Absolute nicht immer schon als Geist gewusst wird, sondern auch andere Bestimmungen in der Bedeutung des Absoluten genommen werden können, wie z. B. das Sein bei dem Vorsokratiker Parmenides oder ein erstes und höchstes Seiendes wie etwa bei Aristoteles. Ferner ist damit gesagt: Wenn Philosophie die Wissenschaft von der Wahrheit in dem Sinne ist, dass Gott allein die Wahrheit ist, und Gott zugleich das Absolute ist, dann ist die Definition, dass das Absolute der Geist ist, zugleich die Definition Gottes und der Wahrheit. Weil es aber nicht reicht das Absolute bzw. Gott als Geist bloß zu definieren, sondern diese Definition auch in Erkenntnis überführt und d. h. ausgewiesen werden muss, ist für Hegel Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit die philosophische Erkenntnis des Absoluten bzw. Gottes dahingehend, dass die wahre Bestimmung des Absoluten und darüber die wahre Bestimmung Gottes der Geist ist. Gott als Geist zu wissen, heißt für Hegel, Gott in seiner wahren Bestimmung zu wissen. Und dieses Wissen von Gott als Geist ist kein ausschließlicher Besitz der Philosophie, sondern gehört eben auch der Religion an. Und – so müssen wir sagen – die Religion besitzt das Wissen von Gott als Geist früher als die Philosophie. Denn für Hegel besteht die Leistung des Christentums ja genau darin, Gott als Geist zu verstehen zu geben, während es die Leistung der Philosophie ist – und Hegel meint damit vor allem seine eigene –, die Bestimmung des Geistes selber zu begreifen und philosophisch auszuweisen. Daher kann man sagen: das Christentum weiß von Gott als Geist, indem es ihn als Geist vorstellt, während die Philosophie den Geist als die wahre Bestimmung Gottes begreift, wodurch das vorstellende Wissen der Religion seine Rechtfertigung erfährt, die sie laut Hegel aus sich selbst nicht erbringen kann, ohne sich als Religion aufzuheben und sich in Philosophie zu überführen. Bis hierher ist deutlich geworden, dass Hegel zum einen die Nähe zwischen Religion und Philosophie aus ihrem gemeinsamen Gegenstand – Gott, die Wahrheit oder das Absolute – versteht und dass er die Leistung der Philosophie darin sieht, dass sie das religiöse Wissen von Gott rechtfertigt und aus der Rechtfertigung erkennbar werden lässt, was in der Religion vernünftig genannt werden kann. Sollte eine solche Rechtfertigung gelingen, dann wäre gezeigt, dass die Religion ihrem Inhalt nach selber vernünftig ist und

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dass sie Wissen von der Vernunft ist, ohne dass sie aber dieses Wissen in der der Vernunft entsprechenden Form darbietet, die für Hegel ausschließlich das begriffliche Denken der Philosophie sein kann. Religion, so kann man zusammenfassend sagen, ist für Hegel Wissen von Gott dergestalt, dass Gott in der Form der Vorstellung im religiösen Bewusstsein gegenwärtig ist. Aber nicht nur bilden Religion und Philosophie eine Einheit, sondern für Hegel stellen die vielen Religionen bereits selber trotz ihrer Verschiedenheit in der Gottesvorstellung einen Einheitszusammenhang nach der Seite ihres Inhaltes dar. Der weltgeschichtliche Religionsprozess gewinnt seine Einheit aus seinem Telos – und das griechische Wort τέλος heißt bekanntlich Ziel oder begrenzendes Ende einer Entwicklung –, das im Hervortreten des Wissens von Gott als Geist besteht. Diejenige Religion unter den vielen Religionen ist dann im erfüllten Sinne vernünftig zu nennen, die Gott als Geist weiß und so über die wahre Bestimmung des Absoluten verfügt – eine Bestimmung, die zu geben die absolute Tendenz, wie Hegel sagt, aller Bildung, Philosophie, Religion und Wissenschaft ist, und aus der allein die Weltgeschichte begriffen werden können soll. Dass für Hegel das Christentum die Religion des Geistes ist, liegt an zwei für den christlichen Gottesgedanken zentralen Bestimmungen. Erstens ist das Christentum die Religion des Geistes, weil sie Gott nicht nur als den Vater oder Schöpfer/Ursprung der Welt weiß. Gott geht nicht in der Bestimmung des Vaters  – griechisch πατήρ  – und auch nicht in der Bestimmung des Schöpfers – griechisch δημιουργός – oder der des Anfangs/Ursprungs – griechisch ἀρχή – auf. Würde man Gott ausschließlich in den Bestimmungen des Vaters, des Schöpfers, des Ursprungs oder Anfangs vorstellen – eine Vorstellung, die impliziert, dass Gott nicht selber in die geschöpfliche Welt eingeht und somit der eine allmächtige, welttranszendente und weltüberlegene Gott ist – so würde ein solcher Gottesgedanke auf einen abstrakten Monotheismus führen. Gott wäre in seiner Transzendenz von der geschöpflichen Welt geschieden und dieser gegenüber der ganz Andere. Als der ganz Andere der Transzendenz wäre er nicht von dieser Welt, sondern der weltüberlegene Herr der Welt. Er wäre von allem, was in der Welt ist, aber auch von der Welt als ganzer, d. h. von der Natur oder vom Kosmos als der Sphäre des Geschöpflichen, die der Inbegriff des Endlichen ist, unterschieden. Der Gott des abstrakten Monotheismus ist der transzendente Eine, dessen schöpferischer Allmacht sich für das religiöse Bewusstsein die Natur verdankt, wie es eindrücklich in den beiden Schöpfungsberichten des Alten Testaments geschildert wird. Für Hegel führt das christliche Gottesverständnis hingegen nicht auf einen abstrakten Monotheismus und zwar genau deshalb nicht, weil das Christentum Gott als den in sich konkreten Einen weiß. Das Christentum ist Monotheismus, aber es ist nicht abstrakter, sondern konkreter Monotheismus. Diese Konkretion zeigt sich sowohl in Gott selber sowie im Verhältnis



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Gottes zur Natur, die die Sphäre der Endlichkeit ist. Wie ist das näher zu verstehen? Dass das Christentum Gott als den in sich konkreten Einen weiß, ergibt sich für Hegel aus der Lehre der innergöttlichen Trinität. Gottes Einheit ist nicht abstrakt, sondern konkret, weil es zu Gottes Einheit gehört, dass er sich in seiner Einheit mit sich selbst vermittelt. Während der abstrakte Monotheismus Gott nur als den Vater und d. h. Gott nach seiner in sich unvermittelten Einheit weiß, weiß das Christentum die Einheit Gottes als mit sich selbst vermittelt. Gott ist nicht nur Vater, sondern er ist in eins und zumal Sohn – griechisch ὑιός – bzw. Wort/Vernunft – griechisch λόγος – und Geist, für den das Neue Testament in der Regel das griechischen Wort πνεῦμα gebraucht, der aber bereits vom griechischen Kirchenvater Origines durch das Wort νοῦς bezeichnet werden kann. Um die Gottesvorstellung des Christentums zu begreifen, legt Hegel besonderes Gewicht auf den Johannes-Prolog, wo es heißt: ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος. οὗτος ἦν ἐν ἀρχῇ πρὸς τὸν θεόν. (Joh 1,1–2) Zu Deutsch: „Im Anfang/Ursprung war das Wort/die Vernunft, und das Wort/die Vernunft war bei Gott und das Wort/die Vernunft war Gott. Dieses/Diese war im Anfang/Ursprung bei Gott.“ Für Hegel wird damit klar ausgesprochen, dass in Gott – und zwar noch vor der Erschaffung der Welt bzw. der Sphäre der Endlichkeit sowohl Anfang/Ursprung (ἀρχή) als auch Wort/Vernunft (λόγος) unterschieden werden können und dass beide zugleich Gott und in Gott sind und somit weder das eine noch das andere aus der Einheit Gottes heraustritt. Für Hegel bedeutet dies zweierlei. Erstens Gott ist Einheit, aber er ist keine differenzlose Einheit, sondern eine Einheit, die die Differenz oder das Moment des Unterschieds in sich hat. Wenn aber zur Einheit Gottes gehört, dass er selbst nur als der ist, der zugleich in sich unterschieden ist, dann ist auch die Differenz in die Einheit Gottes eingeschrieben. Gott ist der Eine nur als der sich in sich Unterscheidende, was die christliche Vorstellung von Gott als dem Vater, der in sich einen Sohn zeugt, fasst. Soll aber der Sohn ebenso Gott sein, wie der Vater Gott ist, oder der λόγος Gott sein, so wie die ἀρχή Gott ist, dann muss Gott gedacht werden als die ursprüngliche Einheit, die sich in sich selbst unterscheidet und im Unterschied, d. h. in der Differenz von Vater und Sohn bzw. von Anfang/Ursprung und Wort/Vernunft, nicht verschwindet, sondern sich erhält. Eine solche Einheit in der Differenz lässt sich nach Hegel aber nur als Prozess begreifen. Das Sein Gottes noch vor der Schöpfung der Welt ist prozessuales Sein – ein Prozess, in dem sich Gott als Vater in sich selbst in den Sohn und den Geist entfaltet dergestalt, dass der Vater, der Sohn und der Geist immer nur die für sich herausgehobenen und isolierten Momente der inneren Prozessualität Gottes sind. Für Hegel muss Gott darum vorgestellt werden als der Vater, der einen Sohn zeugt und in der Einheit mit dem Sohn der Geist ist, so dass der Geist nicht ohne die Momente des Vaters

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und des Sohnes Geistes sein kann. Hegel übersetzt diese Vorstellung in philosophische Terminologie und begreift Gott als Einheit, die sich von sich selbst unterscheidet, was das hervortreten der Differenz in Gott ist. Aber weil sich die Einheit in sich selbst unterscheidet, ist die Differenz nicht außerhalb der Einheit. Die so sich in sich selbst unterschiedene Einheit kehrt darum im Hervortreten der Differenz immer zugleich zu sich zurück und ist erst dann die eine durch die Differenz mit sich selbst vermittelte Einheit. Gott als Einheit in der Differenz zu wissen, so dass sich Gott im Unterschied seiner selbst nur auf sich selbst bezieht, heißt aber für Hegel, Gott als Geist zu wissen, wie es in der christlichen Gottesvorstellung in der Tat ausgesprochen ist. Die Idee ist dies Unterscheiden, das ebenso kein Unterschied ist, das nicht beharrt bei diesem Unterschied. Gott schaut in dem Unterschiedenen sich an, ist in seinem Anderen nur mit sich selbst verbunden, ist darin nur bei sich selbst, nur mit sich zusammengeschlossen, er schaut sich in seinem Anderen an. (TWA 17, 228)

Gott als Geist zu wissen, schließt für Hegel ein, Gott als in sich lebendig zu wissen, insofern die innere Lebendigkeit Gottes oder das innergöttliche Leben gar nichts anderes meint als die Prozessualität der sich in der Differenz auf sich beziehenden Einheit des Geistes. Diese Prozessualität, die, sobald wir über sie sprechen, immer schon still gestellt und statisch erscheint, ist das innergöttliche Leben, das Gott zukommt und das Gott als Geist selber noch vor der Erschaffung der Welt ist. Wenn der Zielpunkt des weltgeschichtlichen Religionsprozesses darin besteht, das Absolute bzw. Gott als Geist zu wissen, dann heißt dies, dass die Religion Gott als Einheit in der Dreiheit bzw. als trinitarischen Gott wissen muss. Der trinitarische Gottesgedanke ist der höchste Gottesgedanke, der im Religionsprozess hervorzutreten vermag. Dass sich in diesem Gottesgedanken der weltgeschichtliche Religionsprozess erfüllt, liegt für Hegel daran, dass in ihm der abstrakte Monotheismus als Religion des in sich differenzlosen Vaters sowie der Polytheismus der Mythologien der alten Welt aufgehoben sind. Denn im trinitarischen Gottesgedanken ist die differenzlose Einheit des Vaters in die Differenz von Vater und Sohn entfaltet, während sich im Polytheismus die Differenz als dezentrierte Göttervielheit geltend macht – eine Göttervielheit, die natürlich nicht gänzlich frei von Einheit ist: der Polytheismus kennt ja Theogonie und Götterhierarchie, die als Göttervielheit aber dennoch nicht in die starke Einheit Gottes zurückgeführt ist. Genau deshalb sind der abstrakte Monotheismus, der vor allem um die Einheit Gottes weiß, und der Polytheismus, der vor allem um die Differenz in der Vielheit der Götter weiß, im trinitarischen Gottesgedanken aufgehoben. Denn das Wissen um Gott als dem dreieinigen, bewahrt das Moment der starken Einheit Gottes und denkt diese dennoch als immer zugleich in die Differenz herausgetretene Einheit, die aber in der Differenz bei sich selbst bleibt. Zur



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konkreten Einheit Gottes gehört darum, dass sich Gott in der Differenz nur auf sich selbst bezieht und so die durch die Differenz erfüllte sich auf sich beziehende Einheit ist, worin die Struktur des Geistes besteht. Im trinitarischen Gottedsgedanken des Christentums sind für Hegel die Prinzipien des abstrakten Monotheimus und des Polytheismus, Einheit und Differenz zu einer in der Differenz mit sich selbst vermittelten Einheit aufgehoben, worauf Hegel abhebt, wenn er das Christentum in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen generell als Religion des Geistes begreift. Das Christentum ist für Hegel die Religion des Geistes, weil es Gott als den Dreieinigen weiß, was impliziert, dass Gott noch vor der Erschaffung der Welt als Prozess in sich selbst begriffen werden muss. Ein solcher prozessualer Gottesbegriff wird durch die Trinität erzwungen und lässt umgekehrt auch die Trinität erst begreiflich werden. Zum Wesen des christlichen Gottesgedankens gehört somit die innere Prozessualität im trinitarischen Selbstbezug der innergöttlichen Momente oder Personen, die vor allem die griechischen Kirchenväter die Hypostasen der göttlichen Substanz genannt haben. Aber das Christentum weiß Gott nicht nur als dreieinig, sondern sie weiß das Wort/die Vernunft, also Gott als den λόγος, auch als Mensch geworden. An dieser Stelle spielt für Hegel erneut der Johannesprolog die maßgebliche Rolle für seinen Versuch, das Christentum philosophisch zu begreifen. Denn im Johannesprolog heißt es nicht nur, dass alles, was geworden ist, durch den λόγος geworden ist. An dieser Stelle verweist der Autor des Johannesprologs implizit auf die beiden Schöpfungsberichte im 1. Buch Mose. Dabei geht er aber auch ersichtlich über die beiden Berichte hinaus, indem er betont, dass das zweite innergöttliche Moment, das Wort, die Vernunft, der λόγος oder der Sohn, dasjenige Moment ist, durch das alles Geschöpfliche, mithin die Natur in der Mannigfaltigkeit alles zu ihr Gehörenden geworden ist und dass mehr noch der λόγος selber Mensch geworden ist, d. h. für Hegel Gott als λόγος ist ein einzelner „Dieser“ geworden, der sich konkret raum-zeitlich und somit geschichtlich verorten lässt. Wenn der Autor des Johannesprologs vom καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο spricht: „und das Wort ward Fleisch“, dann handelt es sich hierbei nicht um eine allgemeine, mythologische Erzählung über den Sohn Gottes, die sich aufgrund ihrer Allgemeinheit nicht datieren lässt, sondern der Sohn Gottes wird als konkret geschichtliches Subjekt vorgestellt, als ein einzelner Mensch oder „Dieser“, der ein individuelles menschliches Leben führte, der mit seinen Jünger zusammenlebte und mit diesen eine gemeinsame Geschichte hat. Diese konkret-geschichtliche Zeittiefe erreichen die Göttergeschichten etwa der griechischen Mythologie niemals. Die Johanneische-Rede von der Fleisch- oder Menschwerdung des λόγος stellt Hegel neben der innergöttlichen Trinität in den Mittelpunkt seiner Christentumsdeutung. Es ist bemerkenswert, dass der reife Hegel nicht nur

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der Lebensgeschichte Jesu, sondern auch seiner – wenn man so will – Lehre, d. h. seinen Gleichnissen und Geboten kaum Aufmerksamkeit schenkt, sondern die Gestalt Jesus Christus ganz vom Kreuzesgeschehen her deutet. Letzteres hängt damit zusammen, dass für den reifen Hegel gegen Kant eine philosophische Christologie nicht in unserer moralischen Subjektivität begründet werden kann, ohne das Christentum seinem Wesen nach zu verkennen und unter der Hand auch den Gottesgedanken zu verqueren. Hegels philosophische Christologie, wie sie in den religionsphilosophischen Vorlesungen entwickelt wird und die das Kreuzesgeschehen in den Mittelpunkt stellt, will etwas ganz anderes begreifen, nämlich nicht den moralischen, sondern den metaphysischen Gehalt, der aus Hegels Sicht im Kreuzesgeschehen zur Anschauung gebracht ist. Letzteres muss besonders betont werden: Dass Gott in Jesus Christus selbst ein geschichtliches, menschliches Individuum geworden ist, ist für Hegel obschon der Historizität dieses Ereignisses ein Symbol für einen metaphysischen Gehalt, den zu erschließen, vor allem eine Deutung des Kreuzestodes erzwingt. Worin besteht für Hegel aber nun dieser metaphysische Gehalt, der im Kreuzesgeschehen zur Anschauung gebracht wird und dessen Dreh- und Angelpunkt der Kreuzestod ist? Hegel sieht in der Geschichte von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi ähnlich wie schon im innergöttlichen Verhältnis von Vater, Sohn und Geist eine prozessuale Einheit symbolisiert, die nun das generelle Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit betrifft. Dabei steht Gott für das Unendliche, während die Natur, die als die Welt des Geschöpflichen von Gott getrennt und diesem als ihrem Schöpfer unterworfen ist, für die Endlichkeit steht. Alles, so kann man mit Hegel sagen, was zur Natur gehört und uns innerweltlich begegnet, ist ein Endliches, während die Natur, die als Ganze der Inbegriff alles dessen ist, was für uns ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, die von Gott getrennte Sphäre der Endlichkeit ausmacht. Gott und Natur, Unendlichkeit und Endlichkeit stehen sich zunächst wie im abstrakten Monotheismus im Modus der Trennung oder Entzweiung gegenüber – einer Trennung, die durch den Schöpfungsgedanken als solchen, wie er uns im Alten Testament, aber auch im Johannesprolog begegent, nicht aufgehoben ist, sondern gerade gesetzt wird. Der maßgebliche Unterschied im Johannesprolog gegenüber dem Alten Testament besteht darum darin, dass der λόγος selber Fleisch geworden ist, was Hegel so versteht, dass sich das Unendliche, d. h. Gott, im Menschen Jesus Christus selbst verendlicht hat. Hier ist der Prozessgedanke bereits gut greifbar: Jesus Christus ist als Mensch die Veranschaulichung der Selbstverendlichung der Unendlichkeit Gottes. Gott ist nicht nur Schöpfer einer endlichen Welt, sondern er geht auch in die Endlichkeit ein, nimmt selber die Endlichkeit an, wird endlich. Für Hegel handelt es sich hierbei um den Anfang der Überwindung der Trennung der Unendlichkeit des Schöpfers von der Endlichkeit seiner Schöpfung.



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Aber erst vermittels des Kreuzesgeschehens wird das Verhältnis der Unendlichkeit Gottes zur Endlichkeit der geschöpflichen Welt in aller Radikalität neu bestimmt, so dass man sagen kann, dass im Kreuzegeschehen ein neues Prinzip hervortritt, das in der Folge der Welt eine neue Gestalt zu geben vermag – eine Gestalt, die wir die Moderne nennen. Die Moderne – das ist eine der Pointen von Hegels Christentumsdeutung – ist am Kreuz errungen und als Prinzip freigesetzt. Um das besser zu verstehen, müssen wir bei Hegels Deutung des Kreuzesgeschehens noch einen Augenblick verharren und uns einem weiteren Moment dieses Geschehens, dem Kreuzestod, zuwenden. Denn erst im Leiden und im Tod Jesu Christi tritt hervor, dass sich Gott nicht nur in die Endlichkeit hineinbegeben hat, sondern selber endlich, radikal endlich geworden ist. Es ist das Los der menschlichen Endlichkeit, zu sterben; der Tod ist so der höchste Beweis der Menschlichkeit, der absoluten Endlichkeit. Und zwar ist Christus gestorben den gesteigerten Tod des Missetäters; nicht nur den natürlichen Tod, sondern sogar den Tod der Schande und der Schmach am Kreuze: die Menschlichkeit ist an ihm bis auf den äußersten Punkt erschienen. (TWA 17, 289)

Leiden und Tod Jesu Christi sind für Hegel notwendig, weil nur so die Menschwerdung Gottes bis in die niedrigste Niedrigkeit von Schmach, Leid und Tod zur Anschauung gebracht werden kann. Insofern Jesus Christus menschgewordener Gott ist und am Kreuze stirbt, ist für Hegel die Konsequenz unvermeidbar, dass Gott selber am Kreuze stirbt. Gott geht nicht nur in die Endlichkeit ein, nimmt diese an, sondern er stirbt auch angesichts seiner Endlichkeit, wodurch die absolute Endlichkeit, der Tod, an Gott selber hervortritt. Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden. (TWA 17, 291)

Nach Hegel tritt uns im Kreuzestod der Gedanke vom Gottestod entgegen. Am Kreuz stirbt nicht nur der Mensch Jesus, dessen Tod seine Gottheit nicht berührt, sondern im Menschen Jesus stirbt Gott selber. Oder mit anderen Worten: Das Kreuz symbolisiert die restlose Entäußerung der Unendlichkeit in die Endlichkeit, die dadurch absolute Endlichkeit wird. Wenn aber in Jesus Gott stirbt, stirbt in ihm der Schöpfer und die ehemals geschöpfliche Welt ist mit dem Tod Gottes in ihre Gott- und Grundlosigkeit entlassen. Der Tod Gottes bedeutet das Hervorbrechen absoluter Endlichkeit – einer Endlichkeit, die in keiner Beziehung mehr zur Unendlichkeit steht. Die gottverlassene Welt ist in ihrer absoluten Endlichkeit ebenso heil- wie sinnlos, weil der Sinn dem Endlichen immer erst aus seiner Beziehung auf das Unendliche zukommen kann. Im Kreuzestod tritt darum die Heil- und Sinnlosigkeit mensch­ lichen Seins, aber auch des gesamten Kosmos zutage. Nicht Nietzsche, son-

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dern Hegel verdanken wir die harte Rede vom Tode Gottes mit der Pointe, dass bei Hegel der Tod Gottes, die Negation der Unendlichkeit in der absoluten Endlichkeit ein Moment im christlichen Gottesgedanken selber ist. Das Christentum weiß im Grunde immer schon um den Tod Gottes, auch wenn es theologisch diesen Tod als zum Sein Gottes gehörig in der Regel nicht wahrhaben und als skandalösen Gedanken verdrängen will. Die protestantische Hinwendung zur theologia crucis ist für Hegel ein Gewahrwerden der Bedeutung des Kreuzestodes für die Bestimmung des Gottesgedankens im Christentum. Insofern zum Kreuzesgeschehen Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi gehören, bleibt es nicht beim Tode Gottes. Der Tod Gottes, in dem die absolute Endlichkeit hervortritt, ist zugleich der Wendepunkt, aus dem die Endlichkeit in die Unendlichkeit zurückkehrt. Die Auferstehung und Verklärung Jesu Christi, seine Erhebung zur Rechten Gottes symbolisiert die Rückkehr des unendlichen Gottes aus der absoluten Endlichkeit zu sich. Diese Rückkehr belässt die Endlichkeit nicht außerhalb der Unendlichkeit Gottes, weil angesichts des Todes Gottes die Endlichkeit in Gott selber genommen werden muss. Am Ende des Kreuzesgeschehens steht somit die Unendlichkeit Gottes, die sich in die Endlichkeit – und d. h. bis zur absoluten Endlichkeit – entäußert hat, um aus dieser Entäußerung zu sich selbst zurückzukehren. Das Kreuzesgeschehen findet sein Ende in der Vorstellung einer Unendlichkeit, die sich in die Endlichkeit entäußert hat und die sich als absolute Endlichkeit selbst negiert, um aus der absoluten Endlichkeit zu sich selbst zurückzukehren und so die Endlichkeit in die Unendlichkeit aufzu­ heben. Das Nicht-Sein Gottes wird zum Moment in Gottes eigenem Sein, die Endlichkeit wird zum Moment der göttlichen Unendlichkeit. Das Kreuzesgeschehen bedeutet somit nichts anderes als die Veranschaulichung der Vermittlung der Unendlichkeit mit der Endlichkeit dergestalt, dass diese Vermittlung von der Unendlichkeit ausgeht, so dass Gott selber sein Verhältnis zur Endlichkeit neu bestimmt. Die Trennung von Unendlichkeit und Endlichkeit, die Entzweiung der Gegensätze ist nun als in Gott selbst aufgehoben gewusst, so dass die Endlichkeit ein Moment in Gott ist. Die endliche Welt und der Mensch sind nun als mit Gott versöhnt gewusst, weil sich Gott mit der endlichen Welt und dem Menschen versöhnt hat, indem sich die Unendlichkeit Gottes in die Endlichkeit entäußert und umgekehrt die Endlichkeit zugleich in die Unendlichkeit wieder aufhebt. In der Natur Gottes ist dies selbst ein Moment; es ist in Gott selbst vorgegangen. Gott kann nicht durch etwas anderes, sondern nur durch sich selbst befriedigt werden. Dieser Tod ist die Liebe selbst, als Moment Gottes gesetzt, und dieser Tod ist das Versöhnende. Es wird darin die absolute Liebe angeschaut. Es ist die Identität des Göttlichen und Menschlichen, daß Gott im Endlichen bei sich selbst ist und dies Endliche im Tode selbst Bestimmung Gottes ist. Gott hat durch den Tod die



Hegels philosophische Deutung des Kreuzestodes177 Welt versöhnt und versöhnt sie ewig mit sich selbst. […] In dieser ganzen Geschichte ist den Menschen zum Bewußtsein gekommen – und das ist die Wahrheit, zu der sie gelangt sind –, daß die Idee Gottes für sie Gewißheit hat, daß das Menschliche unmittelbarer, präsenter Gott ist, und zwar so, daß in dieser Geschichte, wie sie der Geist auffaßt, selbst die Darstellung des Prozesses ist dessen, was der Mensch, der Geist ist: an sich Gott und tot […]. (TWA 17, 294 ff.)

Wenn zu Anfang darauf hingewiesen worden ist, dass im Zentrum von Hegels Christentumsdeutung das Dogma von der gottmenschlichen Einheit in Jesus Christus steht und dass die wahre Erfüllung des Geistbegriffs bei Hegel aus dieser gottmenschlichen Einheit verstanden werden muss, so wird klar, dass erst unter Berücksichtigung des Kreuzesgeschehens ersichtlich wird, was Geist ist, nämlich die versöhnende Vermittlung von Unendlichkeit und Endlichkeit dergestalt, dass die Endlichkeit als ein Moment der Unendlichkeit in diese aufgehoben, das Unendliche im Anderen, der Endlichkeit, bei sich selber ist. Umgekehrt wird nun das Endliche nicht mehr als das Andere gegenüber der Unendlichkeit Gottes gewusst, sondern die Endlichkeit wird selbst vergöttlicht oder, wenn man einen solchen sperrigen Ausdruck verwenden möchte, verunendlicht. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der Verklärung der Endlichkeit am Kreuz, was ja die Rückführung der Endlichkeit in die Unendlichkeit meint. Für Hegel folgt aus alledem, dass es erst der christliche Gottesgedanke ist, durch den die Endlichkeit ihre Rechtfertigung erfährt. Die Endlichkeit ist nicht einfach nur das zu Überwindende, sondern sie ist als ein Moment Gottes selber göttlich. Die paradox anmutende, inverse Bewegung, dass erst durch die Verendlichung Gottes umgekehrt das Endliche vergöttlicht wird – eine Bewegung, bei der es sich für Hegel um den zentralen metaphysischen Gehalt des Dogmas von der gottmenschlichen Einheit handelt – ist eine spekulative Gedankenfigur, die den Gottesgedanken an seine äußerste Grenze treibt. Allerdings handelt es sich hierbei nicht einfach um eine Erfindung Hegels, sondern bereits bei den Kappadozischen Kirchenvätern, die bis heute die Geistesgrößen des orthodoxen Christentums sind, und hier genauer bei Gregor von Nazianz (329–390) heißt es in oratio theol. 3, 19: Am Anfang war er ohne Grund; denn welchen Grund gibt es schon für Gott? Später fing er wegen eines Grundes an zu sein – dieser bestand darin, daß du, der du ihn verunglimpfst und seine Gottheit deswegen verachtest, weil er dein dichtes Fleisch angenommen hat, gerettet werden solltest – und hat sich unter Vermittlung des Geistes mit Fleisch zusammengetan, und der irdische Mensch ist Gott geworden, da er sich mit Gott vermischt hat und mit ihm einer geworden ist, wobei das Stärkere den Sieg davon getragen hat, damit ich soweit Gott werde, wie jener Mensch geworden ist [Herv. TD].3 3  ἐν ἀρχῇ ἦν ἀναιτίως· τίς γὰρ αἰτία Θεοῦ; ἀλλὰ καὶ ὕστερον γέγονε δι᾿ αἰτίαν· ἡ δὲ ἦν τὸ σὲ σωθῆναι τὸν ὑβριστήν, ὃς διὰ τοῦτο περιφρονεῖς θεότητα, ὅτι τὴν σὴν

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Die inverse Bewegung von Verendlichung des Unendlichen und Verunendlichung des Endlichen ist also in der alten Kirche bereits antezipiert und Hegels Anspruch in seiner reifen Berliner Religionsphilosophie besteht nur darin, diejenige Wahrheit philosophisch zu begreifen, die am Kreuz offenbar und insbesondere im Konzil von Chalcedon in den Rang eines Dogmas erhoben worden ist. Man muss sich das in aller Deutlichkeit klar machen: Das religiöse Dogma, das durch Konzilsbeschluss festgelegt geworden ist, enthält für Hegel die höchste Wahrheit über Gott, nur dass diese Wahrheit des Dogmas erst durch die Philosophie begriffen werden muss. Ich möchte nun zum letzten Aspekt meiner Darlegungen kommen, d. h. zu der Frage, warum Hegels Deutung des Kreuzesgeschehens für uns heute immer noch von Interesse ist. Was diese Deutung so berückend macht, ist der Umstand, dass Hegel das im Kreuzesgeschehen offenbar werdende neue Prinzip für das Prinzip der modernen Welt hält – er seine Christentumsdeutung mit seiner Modernitätstheorie verbindet. Dabei gilt, dass das Prinzip der modernen Welt vor allem im modernen Staats- und im Rechtsverständnis seinen Niederschlag gefunden hat, was Hegel sehr detailliert in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte entfaltet, wenn er den modernen Staat aus den Bestimmungen der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit, der Garantie subjektiver Freiheitsrechte und der Einbettung subjektiver Freiheit in einen sittlichen Lebenszusammenhang denkt. Das moderne Freiheitsbewusstsein, ohne das für Hegel insbesondere das epochale Großereignis, die französische Revolution von 1789, gar nicht verstanden werden kann, ist für Hegel im Christentum vorbereitet. Dazu heißt es in Vorlesungen über die Philosophie der Religion: Die Subjektivität, die ihren unendlichen Wert erfaßt hat, hat damit alle Unterschiede der Herrschaft, der Gewalt, des Standes, selbst des Geschlechts aufgegeben: vor Gott sind alle Menschen gleich. In der Negation des unendlichen Schmerzes der Liebe liegt auch erst die Möglichkeit und die Wurzel des wahrhaft allgemeinen Rechts, der Verwirklichung der Freiheit. (TWA 17, 303)

Am Kreuz wird die Versöhnung Gottes mit den Menschen offenbar, die Hegel, wie wir bereits gesehen haben, als die Versöhnung von Unendlichkeit und Endlichkeit begreift. Eine der maßgeblichen Pointen von Hegels Deutung des Kreuzesgeschehens neben der Bestimmung, dass zu Gottes Sein seine eigene Negation – sein Nicht-Sein – gehört, besteht darin, dass aus der versöhnenden Vermittlung der Unendlichkeit mit der Endlichkeit, der Mensch zum Träger eines unendlichen Wertes wird. Eben dieser unendliche Wert des παχύτητα κατεδέξατο, διὰ μέσου νοὸς ὁμιλήσας σαρκί, καὶ γενόμενος ἄνθρωπος ὁ κάτω Θεός, ἐπειδὴ συνανεκράθη Θεῷ, καὶ γέγονεν εἷς, τοῦ κρείττονος ἐκνικήσαντος, ἵνα γένωμαι τοσούτον Θεός, ὅσον ἐκεῖνος ἄνθρωπος. Gregor von Nazianz, Orationes Theologicae. Theologische Reden, übersetzt und eingeleitet von Hermann Josef Sieben, Freiburg/Basel/Wien/Barcelona/Rom/New York 1996, 210 f.



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Menschen kommt ihm aufgrund der Vergöttlichung seiner Endlichkeit zu, ohne die Gott selber mit sich nicht versöhnt wäre. Der unendliche Wert des Menschen, wie er im Christentum gewusst wird, gründet in der Liebe Gottes zu den Menschen, die eine aus dem unendlichen Schmerz des Todes geborene Liebe ist. Für Hegel hat Gott am Kreuz den Menschen, indem er ihm einen unendlichen Wert durch seinen Tod gegeben hat, zu seiner Freiheit befreit. Das Wissen des Menschen von sich, Träger eines unendlichen Wertes und einer diesem Wert korrespondierenden Freiheit zu sein, gründet in seinem Wissen von Gott und somit in der Offenbarung, durch die sich das Wesen Gottes, nämlich die Einheit der Unendlichkeit und der Endlichkeit zu sein, dem Menschen zu verstehen gibt. Die Rückbindung der Freiheit des Menschen und seines unendlichen Werts an die in Leiden, Tod und Auferstehung symbolisierte Liebe Gottes, die der Inbegriff der Versöhnung ist, hat für Hegel weitreichende Konsequenzen. Hegel vertritt gerade nicht die These, dass der unendliche Wert des Menschen schon aus dem Schöpfungsbericht des Alten Testaments gewonnen werden kann. Für Hegel reicht es nicht, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen worden ist. Denn auch wenn der Mensch ein Bild Gottes ist, ist er als Bild schlechthin Gott unterworfen. Und die Tatsache, dass sich der Mensch mehr liebt als Gott, ist sein Fall in die Endlichkeit, seine Vertreibung aus dem Paradies, in der er den Schmerzen der Endlichkeit ausgesetzt in der Unversöhntheit gegenüber Gott lebt. Im Christentum jedoch, so Hegel, ist die Furcht des Herrn in die Freiheit des Menschen gegenüber Gott übergegangen, weil Gott die Endlichkeit mit seiner eigenen Unendlichkeit versöhnt hat. Nicht der Gedanken von der Gottes­ ebenbildlichkeit des Menschen gibt seinen unendlichen Wert zu verstehen, sondern das Kreuz, durch das das Verhältnis des Menschen zu Gott und umgekehrt Gottes zu dem Menschen eine grundstürzende Wende erfährt. Erst aus der Versöhnung von Endlichkeit und Unendlichkeit, aus der Verklärung der Endlichkeit in Gott wird zugleich der Mensch vergöttlicht, weil die Endlichkeit des Menschen nicht mehr als außerhalb von Gott, nicht mehr als ein Anderes gegenüber Gott gewusst wird, an dem Gott selbst seine Grenze hätte. Am Kreuz, so will uns Hegel zu verstehen geben, offenbart sich das Prinzip der modernen Welt, die befreite Subjektivität im Wissen vom unendlichen Wert des Individuums. Die Moderne strahlt für Hegel im Zeichen der Versöhnung und einer aus der Versöhnung gewonnen menschlichen Freiheit. Für den einzelnen Menschen bedeutet dies, dass er als ganzer von einem unendlichen Wert ist, nicht bloß etwas an ihm wertvoll ist, und dass ihm, gerade weil er von einem unendlichen Wert ist, zum Träger unveräußerbarer Rechte wird, die wir heute ganz selbstverständlich als Menschenrechte fassen. Denn in den Menschenrechten ist normativ entfaltet, was es für den Menschen heißt, von unendlichem Wert zu sein, so dass, gegen die dem Menschen aus seinem unendlichen Wert zukommenden Rechte zu verstoßen,

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heißt, ihn in seiner Würde zu verletzen. Der moderne Staat, der sich auf den Boden der Menschrechte stellt, den Menschen als von einem unendlichen Wert weiß und ihm in seinen Institutionen auch so gegenübertritt, beweist gerade hierin seine Modernität. Der moderne Staat wird so zu einer sittlichen Freiheitsordnung, bei der es sich um eine der Weisen handelt, wie sich das Prinzip des Christentums in Politik und Staat und d. h. für Hegel in der Sphäre des objektiven Geistes verwirklicht. In der Organisation des Staates ist es, wo das Göttliche in die Wirklichkeit eingeschlagen, diese von jenem durchdrungen und das Weltliche nun an und für sich berechtigt ist; denn ihre Grundlage ist der göttliche Wille, das Gesetz des Rechts und der Freiheit. Die wahre Versöhnung, wodurch das Göttliche sich im Felde der Wirklichkeit realisiert, besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben: dies ist die wahrhafte Subaktion der Wirklichkeit. (TWA 17, 332)

Der moderne Staat gründet in demselben Prinzip, das auch im Christentum offenbar geworden ist. Indem das Christentum sein Prinzip der Welt eingebildet und dem Menschen das Prinzip vermittelt hat, durch das er zum Wissen von seinem unendlichen Wert kommen kann und auch gekommen ist, handelt es sich beim modernen Staat um eine Weise, wie das Prinzip des Christentum Wirklichkeit außerhalb des Glaubens gewinnt. Das Prinzip der gottmenschlichen Einheit wird zum inneren Bildener des modernen gewaltenteiligen Rechtsstaats, der seinen Bürgerinnen und Bürgern subjektive Freiheitsrechte garantiert. Die Entwicklung des modernen Staates seit der französischen Revolution, die für Hegel einen Wendepunkt in der politischen Weltgeschichte darstellt, sobald man diese Geschichte aus der Perspektive der Idee der Freiheit betrachtet und als Geschichte eines fortschreitenden Freiheitsbewußtseins zu dechiffrieren vermag, ist in Hegels Urteil ihrem tieferen Wesen nach die Verwirklichung des christlichen Prinzips im Politischen. Dabei ist gar nicht zentral, ob man ein gläubiger Christ ist oder nicht, weil das Bewusstsein durch seinen Bildungsgang auf dem Boden des christ­ lichen Prinzips gestellt ist, und zwar selbst dann, wenn es um den Baum, der dies Frucht hat wachsen lassen, nicht mehr weiß. Das Bemerkenswerte an Hegels Amalgamierung des christlichen Prinzips mit der Idee universaler Rechte des Menschen dürfte darin bestehen, dass er hierüber versucht, das Christentum mit der Aufklärung und dem modernen Staat zu versöhnen, wie er sich seit der französischen Revolution entwickelt hat. Hegel unterwandert damit auf höchst subtile Weise das Selbstverständis der Aufklärung, die sich im geistigen Kampf gegen die christliche Religion wähnt, indem sie in dieser nur Aberglauben sieht. Was Hegel hingegen zur Einsicht bringen möchte, ist, dass der moderne Staat und die Idee der Menschenrechte auf der Grundlage eines Wissens um den unendlichen Wert des Individuums sowie die subjektive Freiheit des Menschen – Bestimmungen, in denen Modernität in gebündelter Weise greifbar wird – gerade nicht im Gegensatz zum Christentum



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stehen, sondern vielmehr aus seinem eigenen Prinzip hervorgehen. Die Aufklärung, die sich aus der Frontstellung gegenüber dem Christentum versteht und dieses bekämpft, wo sie nur kann, übersieht nach Hegel, dass sie Fleisch vom Fleische des Christentums ist. Für Hegel ist die Aufklärung darum auch nur ein sich verselbständigendes Moment des Christentums, das aus der Einheit mit diesem aber gar nicht vollständig heraustreten kann. Für Hegel handelt es sich entsprechend um eine List der Vernunft, dass die Aufklärung in der Gestalt der französischen Revolution zum Akteur der Verwirklichung des christlichen Prinzips im Politischen wird. Entsprechend schreibt Hegel im Zusatz zu § 270 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und damit komme ich zum Ende: Die Idee, als in der Religion, ist Geist im Innern des Gemüts, aber dieselbe Idee ist es, die sich in dem Staate Weltlichkeit gibt und sich im Wissen und Wollen ein Dasein und eine Wirklichkeit verschafft. Sagt man nun, der Staat müsse auf Religion sich gründen, so kann dies heißen, derselbe solle auf Vernünftigkeit beruhen und aus ihr hervorgehen. Aber dieser Satz kann auch so mißverstanden werden, daß die Menschen, deren Geist durch eine unfreie Religion gebunden ist, dadurch zum Gehorsam am geschicktesten seien. Die christliche Religion aber ist die Religion der Freiheit. (TWA 7, 430)

Die Religion darf im Staat nicht die Herrschaft führen. Aber wenn der Staat mit dem Prinzip der Religion der Freiheit übereinstimmt, dann wird er selber zu einer sittlichen Freiheitsordnung, so dass sich Religion und Staat ineinander spiegeln und wechselseitig zu Stützen werden, weil sie beide auf dem Boden desselben Prinzips stehen.

„Aber das Wunder ist, ehe es geschieht“ Zu Ludwig Feuerbachs Spezifikation der Religion in Abgrenzung von der Philosophie Christine Weckwerth (Berlin) Entgegen ihres vorausgesagten Unterganges gehört Religion nach wie vor zum Erscheinungsbild der modernen Gesellschaft. Seit den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts spricht man von einer Renaissance des Religiösen und stellt damit die These von der Säkularisation der modernen Gesellschaft infrage, was wiederum deren Anhänger auf den Plan gerufen hat. Darüber, was die Religion ausmacht, ist man sich in philosophischen und sozialwissenschaftlichen Kreisen allerdings uneins. Diese wird in der Polarität einer rational zu rechtfertigenden Glaubensform sowie eines der Wissenschaft entgegenstehenden Wahngebildes bestimmt. Man sieht darin eine Kommunikation mit übermenschlichen Mächten, einen sozialen und politischen Stabilisator, ein Evolutionsvorteil oder auch eine dem westlichen Denken entsprungene Diskursform, die nicht universalisierbar sei.1 Ein solches konträres Deutungsspektrum wie die Präsenz der Religion in der globalisierten Welt bilden für die Philosophie eine Herausforderung – nicht nur um diese kulturelle Sphäre begrifflich-systematisch einzuholen, sondern auch zur eigenen Selbstbehauptung. Steht die Philosophie in Sachen Wahrheitserkenntnis und Sinngebung doch in Konkurrenz mit der Religion und verdankt letztere ihre Strahlkraft eigens einer Auflösung rationaler Gewissheiten, wie sie in der Gegenwart wahrgenommen wird.2 Im philosophischen Lager hat man sich in diesem Zusammenhang auf den Mythos zurückbesonnen und damit einer 1  Zur letzten Auffassung siehe Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 21 ff. Bezogen auf die zurückliegenden philosophischen Religionsdebatten bemerkt Kurt Flasch: „Alle möglichen Stimmen tönen durcheinander: extrem konservative und postmoderne, metaphysische und postmetaphysische.“ Ders., „Religion und Philosophie in Deutschland, heute“, in: Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth, Gerhard Unterthurner (Hg.), Crossing Borders – Grenzen (über)denken – Thinking (across) Boundaries, Beiträge zum 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Wien 2012, 33. 2  Siehe Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“, in: Jacques Derrida, Gianni Vattimo (Hg.), Die Religion, Frankfurt am Main 2001, 116.

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„nicht völlig ins Argumentativ Rationale“ übersetzbaren Instanz3 Eingang in die eigenen Hoheitsgebiete verschafft. Blickt man von dieser Problemlage auf die Geschichte der Philosophie zurück, stößt man u. a. auf Ludwig Feuerbach, der Religion und Theologie nach eigner Aussage zu seinem philosophischen Hauptthema gemacht hat (FGW 6, 12). Dieser Vormärzdenker gehörte einer Generation an, für die Religion und Theologie noch einen zentralen Stellenwert besaßen, sei es, um deren Legitimierung politischer Herrschaftsverhältnisse zu bekämpfen. Bezeichnend merkte der Zeitgenosse Robert Prutz an, dass in Deutschland „theologische Streitfragen“ zu „Fragen der Gegenwart und Nation“ geworden seien.4 Dabei stand bereits Feuerbach vor der Alternative einer Rationalisierung der Religion oder Mythologisierung der Philosophie, um demgegenüber einen dritten Weg einzuschlagen. Der Hegel’schen Schule entstammend, bezog sich Feuerbach zunächst in einem geistesphilosophischen, nach Distanzierung von Hegel in einem an­ thropologischen Theorierahmen auf die Religion.5 Ungeachtet eines solchen Paradigmenwechsels weisen seine religionsphilosophischen Auffassungen kontinuierliche Linien auf, die entlang seiner Spezifizierung und Kritik der Religion verlaufen. Um Feuerbachs Bestimmung der Religion aufzuzeigen, wird zunächst seine frühe kulturkritische Perspektive auf die Religion beleuchtet. Im Anschluss wird auf seine in den 1830er Jahren skizzierte Programmatik einer kritisch-genetischen Philosophie der Religion und seine Behandlung der Wunderfrage eingegangen. Danach wird seine anthropologische Erschließung der christlichen Religion sowie seine erweiterte Fassung des Religionsbegriffs thematisiert, um am Ende auf aktuelle Aspekte seiner Religionskonzeption hinzuweisen.

I. Die christliche Religion als eine überlebte geschichtliche Bildungsstufe – Feuerbachs frühe kulturkritische Perspektive auf die Religion Religion war für Feuerbach zunächst ein „Objekt der Praxis“, ehe sie ihm zu einem „Objekt der Theorie“ wurde (FGW 10, 172). Den Sohn des be3  Ebd.

4  R[obert] E[duard] Prutz, „Theologie oder Politik? Staat oder Kirche?“, in: ders., Kleine Schriften. Zur Politik und Literatur, Bd. 2, Merseburg 1847, 15. 5  Zu Feuerbachs Entwicklung siehe auch Olaf Briese, „Ludwig Feuerbachs Religionsanalysen“, in: Horst Junginger, Richard Faber (Hg.), Philosophische Religionskritik. Von Cicero und Hume über Kant und Feuerbach bis zu Levinas und Habermas. Religionskritik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Würzburg 2021, 155–175 und Christine Weckwerth, Ludwig Feuerbach zur Einführung, Hamburg 2002.



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kannten Rechtsgelehrten Paul Johann Anselm von Feuerbach zeichnete eine aufrichtige Frömmigkeit aus, die den Siebzehnjährigen in der Bibel das „kostbarste Gut“ sehen ließ, das allein „glücklich, selig und zufrieden“ machen könne (FGW 17, 15).6 Umso bitterer war er von seinem Theologiestudium in Heidelberg enttäuscht, bei dem er dieses Fach als ein Hemmnis intellektueller Autonomie sowie als wissenschaftliches und politisches Diszi­ plinierungsinstrument erfahren musste. Ungeachtet dieser negativen Erfahrungen ermöglichten ihm seine Jugendfrömmigkeit und das Theologiestudium, die Religion auch später aus einer Binnenperspektive zu betrachten. Desillusioniert von der Theologie, wechselte Feuerbach 1824 an die Berliner Universität, um Philosophie, speziell die Hegel’sche, zu studieren. Er selbst deutete den Wechsel von der Theologie zur Philosophie als einen „Wendepunkt“ seines Lebens (FGW 17, 53) und stellte ihn in den Kontext eines übergreifenden geschichtlichen Wandels. Veranlasst wurde er dazu durch eine weitere Negativerfahrung. Es war das Bewusstsein, in der Zeit einer grundlegenden gesellschaftlichen Krise zu leben. Gegenüber dem heutigen Bewusstsein, für das Krisen der Normalfall zu sein scheinen, deutete er diese Krise als „Anfangspunkt eines neuen geistigen Lebens“ (FGW 1, 197), von dem er eine „Alleinherrschaft der Vernunft“ (FGW 17, 106) sowie eine neue Einheit der Menschheit erwartete. Eine solche Auffassung teilte er im Vormärz mit anderen Zeitgenossen. Mit dem modernen Christentum stand der Philosoph Feuerbach nunmehr auf Kriegsfuß und sah darin den Ausdruck einer untergehenden geschicht­ lichen Epoche (FGW 17, 70).7 Diese Auffassung hat einen exemplarischen Niederschlag in seinen „Xenien“ gefunden (siehe FGW 1, 413, 426, 430, 438 f., 483). Die Vernunft, wie er Hegel schrieb, sei im Christentum noch nicht erlöst (FGW 17, 107). Mit dieser Auffassung folgt er seinem Lehrer, der bezogen auf die Gegenwart herausgestellt hatte, dass die Religion sich in die Philosophie flüchten müsse (HV V, 96). Allerdings grenzt sich Feuerbach schon früh von dem Hegel’schen „Theorem der Inhaltsidentität von Religion und Philosophie“8 ab und betont den Unterschied zwischen beiden Geistessphären. Dem modernen Christentum wirft er vor, in Orientierung auf einen persönlichen Schöpfergott wie auf die Unsterblichkeit der Seele den Menschen auf sein – andere ausschließendes – Personsein zu fixieren sowie zu6  Siehe dazu auch Francesco Tomasoni, Ludwig Feuerbach. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung seines Werkes, Übersetzung aus dem Italienischen von Gunn­hild Schneider, vom Autor überarb. und um einige Ergänzungen erw. Fassung, Münster/New York 2015, 31 ff. 7  Siehe zu den folgenden Darlegungen auch Weckwerth, Ludwig Feuerbach zur Einführung, 14–19. 8  Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, 3. Aufl., Stuttgart 2016, 465.

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gleich absolutistische Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen. Feuerbach bezeichnet das Christentum auch als Religion des „reinen Selbsts“ (FGW 17, 107). Es bildet für ihn die Verkörperung wie zugleich Prägeform eines in der Gegenwart wahrgenommenen Individualismus. Im Unterschied zur gegenwärtigen Wiederbesinnung auf die „sozialintegrative Rolle des sakralen Komplexes“9 erkennt er der christlichen Religion definitiv keine soziale Integrationskraft mehr zu. Dabei richtet sich seine Kritik vornehmlich gegen die neuzeitliche Theologie in Gestalt des Protestantismus, Rationalismus und Pietismus. Mit diesen Richtungen rechnet er aufs Schärfste in seinen anonym erschienenen „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ ab, die – wie zu erwarten – das Ende seiner akademischen Karriere bedeuteten. Bereits in den „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ bleibt Feuerbach nicht bei einer bloßen Kritik stehen, sondern fragt nach den Ursprüngen der christlichen Jenseitsvorstellung. Er führt sie auf einen allgemeinen Verkehrungsmechanismus zurück, wobei er sich an Hegels Gestalt des unglück­ lichen Bewusstseins anlehnt. Das moderne Individuum erlebt nach ihm die Welt als eine in sich zerrissene, Unglück erzeugende Wirklichkeit. Im Erfahrungshorizont eines solchen Unglücksbewusstseins erhebe es sich in seinem Glauben zu einer zweiten, idealen Welt, in der es unmittelbar unendliches, unbeschränktes Dasein zu erlangen scheine. Indem es in seinem wirklichen Dasein nichtige Existenz bleibe, verinnerliche es die Zerrissenheit der bestehenden Welt, und zwar in potenzierter Form. Die christliche Religion bilde auf diese Weise eine ideale Überschreitung seiner Partikularität und Endlichkeit, befestigte jedoch zugleich die auf Egoismus, Herrschaft und Ungleichheit beruhenden Verhältnisse (siehe FGW 1, 191–197). Der junge Feuerbach wendet sich gegen die christliche Religion und Theologie aus der Perspektive einer moralisch ansetzenden Kulturkritik, die sich im Kern gegen den konstatierten Individualismus richtet. Auch hier zeigt sich eine Nähe zu Hegel, der den Subjektivismus in der Gegenwart, so in seinen Jenenser Aufsätzen, einer grundlegenden Kritik unterworfen hatte. Feuerbachs Kritik macht das moderne Christentum als eine Sphäre sozialer Dysfunktion und illusorischer Erkenntnis kenntlich. Als theoretisches Fundament dient ihm bis Ende der 1830er Jahre Hegels Geistesphilosophie, die er als die entwickelteste Gestalt der neuzeitlichen Philosophie ansah.10 Bezeichnend für den jungen Feuerbach ist, dass er Hegels Philosophie aus einer pantheistischen Perspektive rezipiert. Gott wird von ihm als Geist gedeutet, 9  Jürgen Habermas, „Politik und Religion“, in: Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier (Hg.), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München 2017, 294. 10  Siehe u. a. Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über die Geschichte der neueren Philosophie [Von G. Bruno bis G. W. F. Hegel] [Erlangen 1835/1836], bearb. von Carlo Ascheri und Erich Thies, Darmstadt 1974, 139, 144, 150.



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worunter er ein unendliches Einheits- und Tätigkeitsprinzip versteht, das sich in der Natur und menschlichen Geschichte objektiviere und im menschlichen Bewusstsein zur Erkenntnis seiner selbst gelange. Die Religion begreift er wie Hegel als – gegenständlich vermitteltes – Selbstbewusstsein des Geistes in Form von Vorstellung und Gefühl. Einen personalen Gottesbegriff wie die Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele lehnt aus seiner pantheistischen Perspektive ab. Die Seele ist ihm zufolge nicht vom Leib abzutrennen und folglich als Einzelseele sterblich. Eine „vollständige Ergebung und Versenkung in Gott“ (FGW 1, 199) schließt nach seiner damaligen Auffassung eine Aufopferung des Selbst ein. Dabei deutet er den „Selbstverlust“ zugleich als „Selbstgenuss“, der nach ihm jedoch nicht in der Religion, sondern allein im Denken zu erreichen ist (FGW 1, 199, 206). Hierin folgt er Hegel, allerdings mit einer praktisch-ethischen Wendung: Aus der allgemeinen Erhebung ins Denken sieht er eine reelle Einheit und Gleichheit der Menschen hervorgehen. Dazu bedurfte es für den Vormärzmann keiner neuen Mythologie, wie sie im sogenannten „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ gefordert wird.11 Den erwarteten gesellschaftlichen Wandel begründet Feuerbach in seinem frühen Ansatz allein aus der „einheitsstiftenden Fähigkeit logischer Intellektualität“.12

II. Zur Programmatik einer kritisch-genetischen Philosophie der Religion und die anthropologische Erklärung des Wunders Nach der Abfassung seiner Anstoß erregenden „Gedanken“ wechselte Feuerbach zu einem unverfänglicheren Arbeitsfeld, dem der Philosophiehistorie, über. Doch auch hier stößt er auf Theologie (siehe FGW 2, 152 ff., 359; FGW 3, 96 ff. u. a.). Das für ihn zentrale Problem der neuzeitlichen Philo­ sophie, die Einheit von Denken und Sein, sieht er bei Protagonisten wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Pierre Gassendi oder Nicolas Malebranche unter Zuhilfenahme eines willkürlich handelnden Gottes begründet. Ein solcher Rückgriff auf die Theologie, den er als „unphilosophisch“ abqualifiziert (siehe FGW 2, 152, 237 f., 268f., 444), widerspricht seinem rationalen Philosophiebegriff und dem darauf aufbauenden Emanzipationskonzept. Die Kritik 11  „Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die so viel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus eine Mythologie der Vernunft werden.“ Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (um 1796), in: Bibliotheca Augustana, URL: https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chrono logie/18Jh/Idealismus/ide_frag.html (abgerufen am 10.11.2023). 12  Hans-Martin Sass, Ludwig Feuerbach mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1978, 43.

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am Christentum wie an theologischen Einschlüssen in der neuzeitlichen Philosophie leiten ihn dazu, Philosophie und Theologie voneinander abzutrennen. In der Verschmelzung beider Sphären sieht er geradezu den Grund für die „Barbarei der Jetztwelt“ (FGW 4, 341). Er vertritt in dieser Hinsicht eine linkshegelianische Position und lehnt eine Vermittlung der philosophischen Begriffe mit den Vorstellungen der Evangelien ab. Dabei beruft er sich auf Spinoza und den Frühaufklärer Pierre Bayle, die beide, wenngleich von unterschiedlichen Standpunkten, zwischen Philosophie und Theologie differenzierten. Bezeichnenderweise lässt Feuerbach auf seine Leibniz-Mono­ graphie keine Auseinandersetzung mit der Kant’schen Erkenntniskritik folgen, sondern eine Arbeit zu Bayle, den er als den „Kulminationspunkt“ des Zwiespalts von Glauben und Vernunft ansieht (FGW 4, 5). Damit tritt er Konzepten entgegen, die den Glauben innerhalb der Grenzen der Vernunft begründen. In seiner Leibniz-Monographie grenzt Feuerbach Philosophie und Theologie bzw. Religion auf einer allgemein-kategorialen Ebene voneinander ab.13 Die theologischen Bestimmungen ordnet er hierbei einem Bezugssystem zu, in dem Gott als das höchste Sein in Beziehung und Analogie zum Menschen, d. h. in den Bestimmungen von freiem Willen und Handeln gedacht werde, die philosophischen Kategorien dagegen in einem Zusammenhang, unter dem das Sein als ein notwendiger, durch natürliche Gründe verursachter Prozess erscheine. Religion und Theologie rechnet er entsprechend dem Standpunkt des Lebens zu, „auf dem ich mich als Individuum oder Person zu den Objekten und den Subjekten oder andern Personen außer mir verhalte“ (FGW 3, 118), die Philosophie dagegen dem theoretischen Standpunkt, auf dem die „absolute Indifferenz gegen alle Individualität“ herrsche (FGW 3, 119). Beide soziokulturellen Sphären unterscheiden sich demnach durch ihre Zugehörigkeit zu einer praktisch-instrumentellen bzw. systematisierend-rationalen Verhaltens- und Wissenssphäre. Als maßgebende Kategorien stellt Feuerbach bezogen auf Theologie und Religion Subjektivität, Relationalität, Willen und Gefühl, bezogen auf die Philosophie Objektivität, Substantialität und Vernunft heraus (FGW 3, 111, 115, 117). An dieser kategorialen Gegenüberstellung hält seine spätere Religionsphilosophie fest. Der Theologie spricht Feuerbach durchaus den Status einer Wissenschaft zu, und zwar im Sinne einer „Phänomenologie der Religion“ (FGW 3, 121). Sie hat nach ihm die historischen Tatsachen und Erscheinungen des reli­ giösen Lebens zusammenzutragen, zu vergleichen und in eine verständliche Sprache zu übersetzen. Er kennzeichnet die Theologie damit im Sinne einer 13  Siehe zu den folgenden Darlegungen auch Weckwerth, Ludwig Feuerbach zur Einführung, 43–50.



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„intellektuellen Rationalisierung religiösen Heilsbesitzes“14 und sieht in ihr eine Brücke zwischen Philosophie und Religion. Den Status einer Wissenschaft verliere die Theologie allerdings, wenn sie „die Norm des Religiösen zur Norm der Erkenntnis“ erhebe und damit „eine praktische Bestimmung als theoretische Realität geltend“ mache (FGW 3, 121). Eine solche Generalisierung führt Feuerbach zufolge zu einem Scheinwissen. Im Unterschied zur historisch-vergleichenden Methode der Theologie steht die Philosophie zur Religion nach ihm in einem genetisch-kritischen Verhältnis. Sie hat „den Standpunkt der Religion, genetisch zu entwickeln und dadurch als einen ­realen und wesenhaften nachzuweisen“ (FGW 3, 123; siehe auch FGW 4, 340 f.). Feuerbach konzipiert die Philosophie hier als eine genetisch-kritische Phänomenologie der Religion, welche die religiöse Sphäre im Ausgang von ihren historischen Ursprüngen sowie von ihren anthropologischen Wurzeln begreifen sollte. Damit wird die Religion ihm zufolge als eine wesentliche Form des Volksgeistes aufgezeigt (siehe FGW 4, 48 ff.). Noch im Rahmen seiner Philosophiegeschichte der Neuzeit führt Feuerbach die Religion auf ein elementares Phänomen zurück.15 Das „Fundament der Theologie“ und Religion setzt er in seiner Bayle-Schrift in das Wunder (Mirakel) und grenzt sich damit bewusst von der rationalistischen Theologie ab, die das Wunder marginalisierte (FGW 4, 289; siehe auch 45, 52–57 und FGW 8, 221, 321). Er bezieht sich hierbei vornehmlich auf alt- und neu­ testamentarische Wunder, die er einer Zeit zurechnet, wo zwischen Subjektivität und Objektivität, Vision und Erfahrung, Glaube und Wirklichkeit noch keine Trennung wie in der Moderne geherrscht habe (FGW 8, 309). Als das Charakteristische des Wunders stellt er heraus, dass „ein sinnliches Faktum für ein nichtsinnliches“ ausgegeben werde (FGW 4, 55). „Aber das Wunder ist, ehe es geschieht. […] es ist das Faktum, welches etwas bedeuten soll, und diese Bedeutung liegt eben in der dem Wunder vorausgehenden Vorstellung“ (FGW 8, 310). Feuerbach bestimmt das Wunder hier im Spannungsverhältnis von sinnlicher Faktizität und idealem Sinn und grenzt es von einem historischen Faktum ab.16 Eine solche symbolische Zuschreibung leistet nach ihm die Phantasie, die er als die „von Herzensbedürfnissen und Wünschen des Menschen 14  Max

Weber, Wissenschaft als Beruf, München/Leipzig 1919, 34. zu den folgenden Darlegungen auch Christine Weckwerth, „Das Wesen des Christentums im Kontext der philosophischen Entwicklung Feuerbachs“, in: Andreas Arndt (Hg.), Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Berlin/Boston 2020, 42 f. 16  Ernst Cassirer hat später vergleichbar das „Ineinander und Gegeneinander von ‚Sinn‘ und ‚Bild‘ “ als eine Wesensbedingung des Religiösen charakterisiert. Ders., Philosophie der symbolischen Formen. Sonderausgabe. Zweiter Teil: Das mythische Denken, 9., unveränd. Aufl., Darmstadt 1994, 311. 15  Siehe

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bestimmte Intelligenz“ charakterisiert (FGW 8, 327). Vermittels der Phantasie transformiere der Mensch seine subjektiven Bedürfnisse und Wünsche in eine optisch sichtbare, bildliche Wirklichkeit. Die durch das Wunder konstituierte Wirklichkeit beschreibt er als eine Welt übernatürlicher Kräfte und Wirkungen, die vom religiösen Menschen in Analogie zu einem planvollen, absichtlichen Handeln aufgefasst werde. Er bestimmt sie wie später Ernst Cassirer als eine „Welt des Wirkens“,17 in welcher der Mensch die Gegenstände und Prozesse auf eine ideale Weise bestimme und beherrsche. Diese Bestimmung geht später in sein Wesen des Christentums ein. Anhand des Wunderphänomens kennzeichnet Feuerbach Religion als eine gegenüber Moral, Wissenschaft und Kunst eigenständige menschliche Verhaltens- und Vergegenständlichungsweise, der gemeinsam geteilte Objekte und Vorstellungsweisen entsprechen. Indem er das Wunder als einen Bruch mit der Erfahrungswelt und Vernunft begreift, bestimmt er es zugleich als eine illusionäre Erscheinung. Wundern schreibt er bezeichnend dieselbe Realität wie Gespenstern zu (FGW 8, 331) und wertet die Wundertätigkeit als eine „Taschenspielerei“ ab (FGW 8, 326). Damit spricht er der auf dem Wunder fundierten religiösen Sphäre jeden objektiven Gehalt ab. Hier macht sich in Feuerbachs frühem Ansatz ein „aufklärerisch-rationalistischer Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff“18 geltend, vermittels dem er die positive Religion als eine bloße Scheinform ausweist. Offen bleibt aus dieser Per­ spektive, wieso die durch neuzeitliche Philosophie und Aufklärung geprägten Menschen ihren Phantasiegebilden noch immer eine solche reale Geltungsmacht einräumen und nicht der Vernunft folgen.

III. Die christliche Religion als undurchschautes Selbstverhältnis des fühlenden Menschen Bevor Feuerbach seine religionsphilosophische Programmatik auszuarbeiten begann, distanzierte er sich von dem geistesphilosophischen Theorierahmen Hegels. In seiner 1839 in den „Hallischen Jahrbüchern“ veröffentlichten Hegel-Kritik charakterisiert er das System seines Lehrers zwar noch immer als bisher unübertroffenes Philosophiekonzept oder, wie er sich ausdrückt, als ein „wahres Bildungs- und Zuchtmittel des Geistes“ (FGW 9, 33). Allerdings geht er in Distanz zu dessen spekulativer Begründung, in der er nunmehr eine Logifizierung der Wirklichkeit erkennt. Zur „Urbedingung aller Kritik“ erhebt er jetzt die Differenz von Subjektivem und Objektivem oder 17  Ebd.,

187, siehe auch 21. Klimkeit, Das Wunderverständnis Ludwig Feuerbachs aus religionsphänomenologischer Sicht, Bonn 1965, 107. 18  Hans-Joachim



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auch Denken und Sein (FGW 9, 51). Darin lässt sich das Bestreben erkennen, die natürliche und soziokulturelle Welt in ihrer eigenen Spezifik zu erschließen, ohne sie auf logische Zusammenhänge zu reduzieren. Hegels auf dem absoluten Geist begründetes System deutet er im Zuge seiner Kritik als eine „Selbstentäußerung der Vernunft“ (FGW 9, 33) und depotenziert das Denken zu einer mensch­lichen Äußerungsweise, die er dem Wollen und Fühlen gleichordnet. Gegen die monologische Selbstbewegung der Idee setzt er den Dialog zwischen Ich und Du und konzipiert das philosophische Wissen als einen sprachlich vermittelten, kommunikativen Prozess.19 Hegels Philosophie legt er damit nicht ad acta, sondern strebt deren Umkehr bzw. anthropologische Fundierung an. Die von ihm avisierte genetisch-kritische Philosophie sollte das, was bei Hegel „die Bedeutung des Sekundären, Subjektiven, Formellen“ habe, die „Bedeutung des Primitiven, des Objektiven, Wesentlichen“ erlangen (FGW 9, 230). Die Distanznahme von dem geistesphilosophischen Theorierahmen lässt Feuerbachs Religionsdeutung nicht unberührt. Einen ersten Niederschlag hat sie im Wesen des Christentums gefunden, in dem die christliche Religion auf anthropologischer Grundlage erschlossen wird. Feuerbach kann sich darin nicht auf ein ausgearbeitetes Philosophiekonzept stützen; sein religionsphilosophisches Werk bildet vielmehr selbst einen Schlüssel für seine Anthropologie.20 Die specifica differentia der Religion macht er darin eingangs am Bild fest, das weder ein Gedanke noch die Sache selbst sei (FGW 5, 6). In diese Bestimmung fließt seine frühere Kennzeichnung des Wunders als Verschränkung von Faktizität und idealem Sinn ein, allerdings nunmehr in Akzentuierung des sinnlich wahrnehmbaren Bildcharakters. Mit dieser Schwerpunktsetzung grenzt sich Feuerbach sowohl von der spekulativen Religionsphilosophie ab, welche die Religion dem Gedanken bzw. der Philosophie aufopfern würde, als auch von einer christlichen Mythologie, welche die Bilder für die Sache selbst nehme und die Philosophie damit der Religion aufopfere (FGW 5, 3). Letztere Sichtweise zeichnet nach ihm die positive Philosophie aus, die ihm in Gestalt von Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Franz von Baader begegnete (siehe FGW 8, 181 ff.). Er selbst sieht die Philosophie in der Rolle eines Zuhörers und Dolmetschers, 19  Auf den Aspekt der Intersubjektivität bei Feuerbach hat in jüngster Zeit wieder Jürgen Habermas aufmerksam gemacht. Siehe den Abschnitt „Ludwig Feuerbachs anthropologische Wende: Zur Lebensform organisch verkörperter und kommunikativ vergesellschafteter Subjekte“ in: ders., Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2020, 603 ff. 20  Siehe zu den folgenden Darlegungen auch Christine Weckwerth, „Philosophische Perspektiven des Wesens des Christentums“, in: Arndt (Hg.), Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 227–234.

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nicht jedoch eines Souffleurs der Religion (FGW 5, 16 f.). Um dieser Rolle gerecht zu werden, bezieht er sich nicht nur auf christliche Lehren, Symbole und Praktiken, sondern zugleich auf theologische Selbstzeugnisse der Religion, wie sie für ihn exemplarisch bei den Kirchenvätern und später auch bei Luther zu finden sind.21 Im Zuge seiner Hegel-Kritik dechiffriert Feuerbach Religion nicht mehr als einen Selbstbezug des absoluten Geistes, er erkennt darin nunmehr einen immanenten Selbstbezug des Menschen. Im Wesen des Christentums spezifiziert er sie als das „Verhalten des Menschen zu sich selbst oder richtiger: zu seinem (und zwar subjektiven) Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen“. Gott sei nichts anderes als das menschliche Wesen, „befreit von den Schranken des individuellen Menschen, verobjektiviert, d. h. angeschaut und verehrt, als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum menschliche Bestimmungen“ (FGW 5, 48 f.; siehe dort auch 316). Christus kennzeichnet er in dieser Ausrichtung als „Urbild“ der Menschheit im Sinne eines „Inbegriff[s] aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten, mit Ausschluß alles Negativen“ (FGW 5, 271). Nach der subjektiven Seite macht er die religiöse Vergegenständlichung an dem Gefühl sowie der Bilder erzeugenden Phantasie fest (FGW 5, 41, 360). Entsprechend gehen für ihn vorsprachliche bzw. vor-rationale Verhaltenskomponenten konstitutiv in die religiöse Gegenstandsbildung mit ein. Als theoriegeschichtliche Quelle führt er den Gefühlsstandpunkt Friedrich Schleiermachers und Heinrich Jacobis an, um sich zugleich von Bruno Bauer und David Friedrich Strauß abzugrenzen (FGW 5, 23). Ungeachtet dieser Grenzziehung zeigt sich eine Nähe zu Strauß – auch dieser bestimmte die mythenbildende Phantasie als Wurzel der Religion.22

21  Das moderne Christentum als „längst völlig naturalisiert und anthropomorphosiert“ kritisierend (FGW 5, 7), orientiert sich Feuerbach im Wesen des Christentums am antiken „klassischen“ Christentum. „Daß der Verf. diese seine Zeugnisse aus dem Archiv längst vergangner Jahrhunderte herholt, das hat seine guten Gründe. Auch das Christentum hat seine klassischen Zeiten gehabt – und nur das Wahre, das Große, das Klassische ist würdig gedacht zu werden“ (FGW 5, 6). 22  Über die „Bildung von Mythen“ schreibt Strauß in seinem „Leben Jesu“: „eine Gemeinde von Orientalen, von grösstentheils ungelehrten Menschen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der concreten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: so wird man erkennen: es musste unter diesen Umständen entstehen was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzählungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte.“ Ders., Das Leben Jesu, kritisch bearb., Bd. 1, Tübingen 1835, 71/72.



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In seinem religionsphilosophischen Hauptwerk verbleibt Feuerbach grundsätzlich auf dem Boden der vormaligen Subjektphilosophie und fasst das Objekt als eine Setzung des Subjekts auf; der „Gegenstand des Subjekts“ ist für ihn nichts anderes als das „gegenständliche Wesen des Subjekts“ (FGW 5, 46). Gott deutet er unter dieser Voraussetzung als das „offenbare Innere, das ausgesprochne Selbst des Menschen“ (FGW 5, 46). Eine zentrale Bedeutung misst er im Wesen des Christentums dem Dogma der Inkarnation bei. In dem „aus Liebe Mensch gewordnen Gott“ (FGW 5, 117) erkennt er ein Sinnbild für das liebende und zugleich leidende Individuum und bestimmt Gott als das „öffentliche Bekenntnis“ der menschlichen Liebesgeheimnisse (FGW 5, 46). Das Christentum wird auf diese Weise als eine auf Liebe gründende religiöse Vermittlungsform aufgezeigt. Gegenüber seinen früheren Auffassungen wertet Feuerbach damit die Religion wie die Gefühlssphäre insgesamt auf. Religion erweist sich für ihn nicht mehr als Taschenspielerei, sondern als ein in Bildern und Dogmen verschlüsseltes Kompendium anthropologischer Verhaltenskomponenten. Den Ursprung des religiösen Verhaltens führt Feuerbach in seiner Reli­ gionsschrift auf einen bewusst wahrgenommenen Bruch zwischen Individuum und Gattung sowie in das gleichzeitige Bedürfnis des Individuums zurück, seine Partikularität und Endlichkeit zu überschreiten und zu Wesentlichkeit und Glückseligkeit zu gelangen (siehe FGW 5, 455 ff.). Er liegt, um eine neuere Terminologie zu gebrauchen, in dem humanspezifischen Bedürfnis nach Selbsttranszendenz.23 Die religiöse Sphäre bildet für Feuerbach eine latente Sphäre des Wünschens und Hoffens. Gott bestimmt er in dieser Ausrichtung auch als einen in die Istform verwandelten Optativ des menschlichen Herzens (FGW 5, 220). Ausgehend von dem religiösen Bedürfnis nach Selbstüberschreitung, macht er den Kern der religiösen Beziehung an einem unmittelbaren Bezug des Individuums auf eine unbeschränkte Ganzheit fest, die im Christentum als ein unbeschränkter, vollkommener Schöpfergott imaginiert werde (siehe FGW 5, 203, 262 ff.). Als phänomenologische Elementarform dient ihm nunmehr das Gebet, das er als den „wesentlichen Akt der Religion“ bestimmt (FGW 5, 329). In diesem Zusammenhang verweist er auf eine grundlegende Differenz zu Hegel: Während die „Quintessenz der Religion“ für seinen ehemaligen Lehrer „im Kompendium der Dogmatik“ liege, finde sich diese bei ihm „im einfachen Akte des Gebets“ (FGW 9, 231). Die religiöse Beziehung wird von Feuerbach in einer eigentümlichen Polarität gezeichnet: Der Mensch fühle sich gegenüber dem unbeschränkten, vollkommenen Ganzen nichtig, wie er vermittels der Religion selbst unbe23  Zu diesem Aspekt siehe Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1999, 10 f., 24 f., 123 f. u. a.

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schränkt, vollkommen werde (siehe FGW 5, 65 f., 73 f.). Das seine Nichtigkeit erlebende Individuum erhebt sich nach ihm auf eine affektiv-emotionale Weise zu Gott und befriedigt dabei sein Gemüt, „weil hier alles in eins zusammengefaßt, alles mit einem Mal, d. h., weil hier die Gattung unmittelbar Existenz, d. i. Individualität“ sei (FGW 5, 270).24 In der hier konstatierten Seinssteigerung liegt eine große Anziehungskraft der Religion, wird eine solche unmittelbare Existenzerfahrung doch weder in der Philosophie noch im Alltagsleben erreicht. Einen gesellschaftlichen Umbruch erwartend, ging Feuerbach in den 1840er Jahren davon aus, dass sich die religiöse Energie auf die politische Sphäre umleiten lasse. In seinen „Grundsätzen der Philosophie. Notwendigkeit einer Veränderung“ bemerkt er in dieser Hinsicht: „Religiös müssen wir wieder werden – die Politik muß unsre Religion werden – aber das kann sie nur, wenn wir ein Höchstes eben in unsrer Anschauung haben, welches uns die Politik zur Religion macht.“25 Von einer solchen Ineinssetzung der Politik mit Religion ist er später wieder abgekommen. Seine späteren „Vorlesungen über das Wesen der Religion“ schlagen bereits einen nüchternen Ton an: Religion wird darin als ein Ersatzmittel für die ausbleibende Realvermittlung des Menschen gedeutet (siehe FGW 6, 232– 243 (23. Vorlesung)). Feuerbachs Spezifizierung der Religion als ein Verhalten, das die Menschen in Abhängigkeit von ihren gegenständlichen Vermittlungen bringt, worüber sie jedoch kein Bewusstsein hätten, ist eine grundlegende Kritik eingeschrieben. Der religionskritische Aspekt kommt vor allem im zweiten Teil seines „Wesens des Christentums“ zur Darstellung, der mit „Die Religion in ihrem Widerspruch mit dem Wesen des Menschen“ betitelt ist (FGW 5, 316 ff.). Man kann ihn gewissermaßen als Feuerbachs Schwarzbuch des Christentums ansehen. Die „prima materia aller Greuel, aller schaudererregenden Szenen in dem Trauerspiel der Religionsgeschichte“ wird darin an der Unterwerfung unter einen aparten, mit „unbeschränkter“ Macht ausgestatteten Gott festgemacht (FGW 5, 316). Für Feuerbach liegt darin zugleich das „böse Wesen der Religion“, das zu Abhängigkeit, Fremdbestimmung, Intoleranz, Aberglauben und Götzendienst wie auch einer äußerlichen Befehlsmoral, zu Hass und Immoralität führe (siehe FGW 5, 316, 408 f., 426 ff.). Es war vor allem der religionskritische Gehalt seines Werkes, von dem im 24  Feuerbachs Darlegungen weisen auf Auffassungen des Religionsphänomenologen Rudolf Otto voraus, der die religiöse Erfahrung als Spannungsverhältnis von mysterium tremendum und mysterium fascinans charakterisiert hat. Ders., Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nachdr. der ungekürzten Sonderausg., München 1997, 56 f. 25  Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie. Notwendigkeit einer Veränderung“, in: ders., Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hg. von Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer, Hamburg 1996, 125.



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Vormärz eine starke Wirkung ausging. Aus ihm bezogen die Zeitgenossen das Rüstzeug für ihre Kritik an den damaligen, von christlicher Religion und absolutistischen Staaten beherrschten Verhältnissen. Feuerbachs religionsphilosophischer Analyse und Kritik des Christentums ist zu entnehmen, dass Entfremdung, Verdinglichung und auch Götzendienst zum Wesen der Religion gehören. Darin liegt nach seiner Auffassung zugleich der Anstoß für religiöse Transformationsprozesse. So stellt er im Wesen des Christentums heraus, dass das, „was der frühern Religion für etwas Objektives galt, als etwas Subjektives, d. h., was als Gott angeschaut und angebetet wurde, jetzt als etwas Menschliches erkannt wird. Die frühere Religion ist der spätern Götzendienst […] Jeder Fortschritt in der Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntnis“ (FGW 5, 47). Religiöse Symbolisierungen werden auf einer späteren Entwicklungsstufe demnach als bloße Abbilder bzw. Anthropomorphismen angesehen (FGW 5, 53). In der Folge komme es zu religiösen Umbildungen und zu neuen Bildfindungen.26 Der religiöse Prozess erweist sich damit als eine Abfolge kollektiver Gegenstandsbildungen sowie Gegenstandsdestruktionen, bei denen jeweils der Bildcharakter der religiösen Gegenstände in Frage gestellt sowie gleichzeitig eine neue Bildlichkeit erzeugt wird. In seiner Dialektik des mythischen Bewusstseins hat Cassirer den mythischen Prozess vergleichbar als formzerstörend und formaufbauend gekennzeichnet.27 Bezogen auf die Gegenwart zog der Vormärzdenker Feuerbach allerdings keinen Umbildungsprozess der auf Transzendenz beruhenden, christlichen Religion mehr in Betracht. Er sagte vielmehr ihren geschichtlichen Untergang voraus, stand sie nach ihm doch im „schreiendsten Widerspruch“ zu den wissenschaftlichen, technischen und auch künstlerischen Errungenschaften seiner Zeit (FGW 5, 26). Mit dieser Prognose erweist sich Feuerbach als ein früher Parteigänger der Säkularisierungsthese. In ihrem Bestreben, Theologie in Anthropologie aufzulösen, ist die „neue Realphilosophie“ (FGW 9, 257) nach ihm in diesen geschichtlichen Prozess unmittelbar involviert. Dabei sollten ihm zufolge die göttlichen in humanspezifische Bestimmungen überführt werden, worin der Gedanke einer Depotenzierung der Religion in Liebe (Moral) liegt. In seiner „Schlussanwendung“ interpretiert er diesen Prozess als „Wendepunkt der Geschichte“, wovon er den Übergang zu einer auf gegenseitigen moralischen Beziehungen beruhenden Gemeinschaft erwartet (FGW 5, 443–445). Darin tritt nicht nur ein stark idealisierender Gesellschafts- und Geschichtsbegriff, sondern zugleich eine Grenzüberschrei26  Siehe zu den folgenden Darlegungen auch Weckwerth, „Philosophische Perspektiven des Wesens des Christentums“, 230 f. 27  Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, 19.

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tung der Philosophie zutage. Feuerbach macht hier etwas, was er Hegel und den Theologen vorgeworfen hat. Er legt der Religion einen philosophischanthropologischen Maßstab zugrunde und erhebt die „Norm der Erkenntnis“ zur „Norm des Religiösen“ (siehe FGW 3, 121). Er löst die religiösen Praktiken, Symbole und Lehren nicht mehr wie Hegel in logische Begriffe auf, entschlüsselt diese gleichwohl als anthropologische Bestimmungen. Bezogen auf die zukünftige Gesellschaft ist Religion für ihn reiner Schein, an deren Stelle die Philosophie, Wissenschaft und Moral treten sollten. In diesem Punkt stimmt er mit Auffassungen von Auguste Comte überein.

IV. Erweiterung der Religionsphilosophie: Naturproblematik, Glückseligkeitstrieb und Geschichtlichkeit der Religion Das Wesen des Christentums ist nicht Feuerbachs letzte Antwort auf die Religionsfrage. Im Nachgang erkannte er eine „große Lücke“ seiner Reli­ gionsschrift, was die Naturproblematik betrifft (FGW 6, 26). Zu dieser Einsicht hatten ihn nicht zuletzt Einwände veranlasst, nach denen er in seiner Reli­gionsschrift den „Schein idealistischer Einseitigkeit“ auf sich geladen hatte (FGW 6, 27). Feuerbach wurde die theoretische Unzulänglichkeit bewusst, Religion als einen reinen Selbstbezug zu fassen bzw. allein aus menschlicher Gattungsaktivität zu erklären (siehe FGW 10, 334). Eine Antwort auf diese Problematik gibt seine 1845 entstandene Abhandlung „Das Wesen der Religion“, zu der man seine 1848/49 in Heidelberg gehaltenen und später veröffentlichten „Vorlesungen über das Wesen der Religion“ als einen erweiterten Kommentar ansehen kann. In beiden Arbeiten begründet Feuerbach die Religion auf einer frühen kulturellen Stufe auf dem Abhängigkeitsgefühl, das er auf die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Natur zurückführt (FGW 10, 4). Letzteres umschreibt er als das „Gefühl oder Bewußtsein des Menschen, daß er nicht ohne ein andres, von ihm unterschiednes Wesen existiert und existieren kann, daß er nicht sich selbst seine Existenz verdankt“ (ebd.). Dabei lehnt er sich zweifelsohne an Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit an,28 das er in das Gefühl der Naturabhängigkeit umdeutet (siehe FGW 6, 32).29 28  Siehe u. a. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, KGA I/7-1, bes. Einleitung, §§ 36–42, 123–133. 29  Auch Adorno und Horkheimer interpretieren das religiöse Prinzip (Mana) nicht als eine bloße „Projektion von Subjektivem“, sondern führen es auf einen von der Natur erzeugten Schrecken zurück, ohne sich hierbei allerdings auf Feuerbach zu berufen. „Was der Primitive dabei als übernatürlich erfährt, ist keine geistige Sub­ stanz als Gegensatz zur materiellen, sondern die Verschlungenheit des Natürlichen gegenüber dem einzelnen Glied. […] Mana, der bewegende Geist, ist keine Projek-



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Die religiöse Beziehung und Vergegenständlichung resultieren ihm zufolge aus einer emotional-affektiven Konfrontation der Menschen mit der von ihnen als ungewiss und übermächtig erlebten Natur, die sie auf anthropomorphisierende Weise als ein lebendiges, empfindendes, persönliches Wesen auffassten. Der „unkultivierte Mensch“ ist für ihn auf dieser Kulturstufe noch unmittelbar in die Natur eingebettet und mache „die Empfindungen, die ein Gegenstand der Natur in ihm erregt, unmittelbar zu Beschaffenheiten des Gegenstandes selbst“ (FGW 10, 30, 340). Dabei eigne er sich das „unheimliche Wesen“ der Natur an, das er – etwa durch Zauberei – zu einem „bekannten, heimlichen Wesen“ umwandele (FGW 10, 40). Insofern in die religiöse Gegenstandsbildung auf dieser elementaren Entwicklungsstufe nicht nur objektive, sondern auch subjektive Momente einfließen, birgt auch die Naturreligion einen indirekten Selbstbezug. Feuerbachs um die Naturproblematik erweiterter Religionsbegriff steht in dieser Hinsicht nicht in Widerspruch mit seiner früheren Spezifizierung der Religion. Als „wesentlichsten Akt der Naturreligionen“ bestimmt er in seiner 1845 entstandenen Religionsabhandlung das Opfer, das Abhängigkeits- und Selbstgefühl zugleich sei (FGW 10, 32, 34). „Als Knecht der Natur schreite ich zum Opfer“, wie er darin bemerkt, „aber als Herr der Natur scheide ich vom Opfer“ (FGW 10, 34). Eine exemplarische Erscheinung der Naturreligion bildet für ihn der Fetischismus, den er als Grundlage des Polytheismus ansieht (FGW 10, 71). Der Ausgang von Naturreligion und Polytheismus drängte ihn zugleich auf eine geschichtliche Perspektive; musste er doch den Fortgang von der polytheistischen zu der monotheistischen „Geist-MenschReligion“ (FGW 10, 70; siehe auch FGW 6, 29) aufzeigen. Er begründet ihn im „Wesen der Religion“ allgemein auf dem geschichtlichen Vergesellschaftungsprozess, vermittels dem sich die Menschen in Zurückdrängung der Natur zu sozial und kulturell vermittelten Wesen entwickelten. „So wie der Mensch aus einem nur physikalischen Wesen ein politisches, überhaupt ein sich von der Natur unterscheidendes und auf sich selbst sich konzentrierendes Wesen wird, so wird auch sein Gott aus einem nur physikalischen Wesen ein politisches, von der Natur unterschiedenes Wesen“ (FGW 10, 43). Feuerbach nähert sich hier Hegels geschichtlicher Religionskonzeption an. Bereits in der Phänomenologie des Geistes hatte dieser einen Bogen von der natür­ lichen Religion zum Christentum geschlagen.30 Im Unterschied zu Hegels methodischem Aufbauprinzip, nach dem elementare kulturelle Erscheinungen als Momente in späteren Formen wiederkehren, kennzeichnet Feuerbach die tion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden.“ Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, 22, 31. 30  Zur geschichtlichen Dimension von Hegels Religionsphilosophie siehe auch Jaeschke, Hegel-Handbuch, 422.

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Natur- und Menschenreligion in seiner Abhandlung auf eine antithetische Weise. „Der Glaube an einen Gott ist entweder der Glaube an die Natur (an das objektive Wesen) als ein menschliches (objektives) Wesen oder der Glaube an das menschliche Wesen als das Wesen der Natur. Jener Glaube ist Naturreligion, Polytheismus, dieser Geist-Mensch-Religion, Monotheismus“ (FGW 10, 70). Wenngleich er darauf verweist, dass die Natur „der bleibende Grund, der fortwährende, wenn auch verborgene, Hintergrund der Religion“ sei (FGW 10, 10 f.), erkennt er der Naturproblematik eine konstituierende Funktion für die Religion nur auf einer frühen geschichtlichen Sozialitätsstufe zu. Die Natur- und Gattungsthematik bleiben in seiner Religionsphilosophie insofern unverbunden. Sowohl der Gedanke einer Abhängigkeit von der zweiten Natur, d. h. vom Gehäuse der geschichtlich-gesellschaftlichen Vermittlungen, als auch die Vorstellung, dass durch die Zerstörung der Natur noch einmal der Naturschrecken zurückkehren könne,31 bleiben Feuerbachs Ansatz verschlossen. Hier schlägt zu Buche, dass Feuerbach, wie ihm Karl Marx schrieb, den Begriff der Menschengattung nicht als Gesellschaft weitergedacht hatte (siehe MEGA2, Abt. III, Bd. 1, 63). In der 1857 erschienenen Theogonie modifiziert Feuerbach ein letztes Mal seine Religionsbestimmung. Dieses zitatenlastige Werk, das neben dem Christentum auch die heidnische und jüdische Religion thematisiert, fasste er selbst nur als eine historische und philosophische Untermauerung des „längst in Jugendfrische Gesagten“ auf. Nicht ohne resignativen Zug deutete er den darin vollzogenen Rückzug auf die Mythologie als eine Reaktion auf die im Nachmärz einsetzende Restauration und Repression (FGW 20, 87 f.). Er begründet die Religion in diesem Werk auf dem Wunsch, in dem er nunmehr das Urphänomen, Grundwesen und Prinzip der Religion erkennt (FGW 7, 31, 33, 77). Ins Zentrum stellt er hierbei den Wunsch nach Glückseligkeit, den er als das menschliche Bestreben bestimmt, von Übeln und Leiden befreit bzw. glücklich zu sein. Die heidnischen Götter deutet in dieser Intention als eine „Erfindung“ des „von den Übeln der Natur und Menschenwelt beleidigten, gekränkten […] Glückseligkeitstriebes“ (FGW 7, 87). Mit dieser Kennzeichnung nähert er sich Bruno Bauer an, der die Evangelien als Produkte „schriftstellerischen Ursprungs“ und damit als beabsichtigte Erfindungen einzelner Individuen gedeutet hatte.32 Die religiöse Sphäre erweist sich durch ihre Begründung auf dem Wunsch als Ort einer phantastischen Glückserfüllung und Seligkeit. Damit gibt Feuerbach seiner späten Reli­ 31  Siehe dazu auch Philip Hogh, „Die gesellschaftliche Destabilisierung der Natur und die Rückkehr des Naturschreckens“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 69/6, 2012, 1020–1035. 32  Siehe u. a. Bruno Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker, Bd. 1, Leipzig 1841, XIII/XIV.



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gionsphilosophie eine utilitaristische und tendenziell auch naturalistische Ausrichtung. Er vollzieht hier eine Entwicklung, die bereits auf Freud weist, der Religion als eine durch Verdrängung bedingte Triebsublimierung bestimmt hat. Warum die Menschen sich in der Religion verneinen und transzendenten, willkürlichen Seinsmächten unterwerfen, lässt sich unter Primat­ setzung des Glückseligkeitstriebes nicht mehr erklären. Die Theogonie unterläuft in dieser Hinsicht Feuerbachs früheren Religionsbegriff.

V. Bedenkenswerte Aspekte der Feuerbach’schen Religionsphilosophie Bestrebt, das Wesen der Religion aus ihren vielfältigen Erscheinungen begrifflich zu erschließen, spezifiziert Feuerbach diese als eine eigenständige Verhaltens- und Vergegenständlichungsweise der geschichtlich agierenden Menschen, wobei er den Religionsbegriff im Laufe seiner philosophischen Entwicklung modifiziert und konkretisiert. In der nachmärzlichen Theogonie finden sich zugleich Tendenzen einer naturalistischen Einebnung dieses Begriffs. Obwohl Feuerbach die Religion zum Hauptgegenstand seines Denkens gemacht hat, beließ er seine Religionsphilosophie in einem unfertigen Zustand. Im Wesen des Christentums weist er selbst darauf hin, dass dieses Werk nur die kritischen „Elemente zu einer Philosophie der positiven Religion“ enthalte (FGW 5, 3). Die beabsichtigte genetisch-kritische Religionsphilosophie bleibt bei ihm auch später ein Desiderat. In seinen Arbeiten findet sich eine anthropologische Analytik und Dialektik, nicht jedoch eine kritisch-genetische Rekonstruktion der Religion. Dennoch besitzt seine Religionsphilosophie, wie ich denke, noch heute bedenkenswerte Aspekte. Diese liegen in materialer Hinsicht in seiner deutlichen Grenzziehung zwischen Philosophie und Religion, in dem Rückgang auf die Ursprungsfrage, in der Herausstellung des objektiven Gehaltes der Religion oder auch in einer immanenten Religionskritik. In methodischer Hinsicht sind sie an dem genetisch-phänomenologischen Zugang zur Religion festzumachen. Bezogen auf die Aktualität von Feuerbachs Religionsphilosophie möchte ich abschließend auf zwei der genannten Aspekte eingehen. Indem Philosophie und Religion darin als zwei qualitativ heterogene Äußerungs- und Vergegenständlichungsweisen aufgezeigt werden, wird – meines Erachtens zu Recht – ein Konzept infrage gestellt, worin Religion primär als ein „erkennender Zugang zur Gesamtwirklichkeit“33 bzw. allein im Hinblick auf ihre 33  Peter Koslowski, „Einleitung. Religion, Philosophie und die Formen des Wissens in der Gesellschaft“, in: ders. (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorien, Tübingen 1985, 3.

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rationale Geltung34 reflektiert wird. Diese Perspektive spielt bis heute eine maßgebliche Rolle. So wird der Philosophie die Aufgabe einer „rettenden Übersetzung religiöser Gehalte“35 zuerkannt, um diese Gehalte in eine allen zugängliche, d. h. ohne Glaubensautoritäten auskommende, universelle Sprache zu übersetzen.36 Eine solche sprachliche Universalisierung schließt eine Ent-Sinnlichung, Ent-Emotionalisierung oder auch Ent-Bilderung der religiösen Sphäre ein und nähme ihr nach Feuerbach das, was ihre Spezifik eigens ausmacht. Unter dieser Voraussetzung würde man einen interreligiösen Dialog als eine idealisierte philosophische Fachtagung denken, nicht jedoch als einen reellen Austausch zwischen Gläubigen unterschiedlicher Konfessionen, Interessen und Herkunft. In einem solchen Fall würde die „Norm der Erkenntnis“ unzulänglich zur „Norm des Religiösen“ erhoben, wogegen Feuerbach polemisiert hat. Die Anerkennung einer eigenständigen Logik religiöser Gegenstandsbildung steht ebenso funktionalistischen Ansätzen entgegen, in denen Religion primär in den Dienst einer Bestandserhaltung der Gesellschaft oder auch von individueller Selbsterhaltung gestellt wird.37 Ein zweiter Aspekt betrifft Feuerbachs Fokussierung auf die Ursprungsfrage, der er gegenüber der Rechtfertigung religiöser Gehalte den Vorrang einräumt. Sie leitet ihn auf eine elementare Verhaltens- und Vergegenständlichungsebene miteinander agierender Individuen, der er spezifische subjektive Komponenten und entsprechende objektive Erfahrungsgehalte zugeschreibt. Der Rückgang auf eine solche elementare Vermittlungsebene ermöglicht ihm eine einheitliche Sicht auf die Vielfalt der religiösen Glaubens- und Symbolwelten, die im „spätmodernen Babel“38 konträrer Religionsdeutungen heute zu verschwinden droht. Dieser methodische Ausgang lenkt den Blick eigens auf die Motive und existenziellen Bedürfnisse, die zu genuin religiösem Verhalten führen sowie in der religiösen Sphäre Befriedung finden. Die Religionsphilosophie wird auf diese Weise auf gesellschaftstheoretische Fragen gelenkt, was ihrer Abschottung als einer Einzeldisziplin entgegenwirkt. Der Feuerbach’schen Religionsphilosophie fehlt zwar eine solche gesellschaftstheoretische Untermauerung, dennoch ist ihrer anthropologischen Fundierung der Religion und Ausrichtung auf die Ursprungsfrage noch immer Gehör zu schenken. 34  Siehe stellvertretend Franz von Kutscheras Studie „Vernunft und Glaube“, in der die „Möglichkeit einer rationalen Rechtfertigung religiösen Glaubens“ im Zen­ trum steht. Ders., Vernunft und Glaube, Berlin/New York 1990, 7. 35  Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, 237. 36  Siehe ebenda, 247 ff. und ders., „Politik und Religion“, 290 ff. 37  Siehe stellvertretend Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt am Main 1991 und auch Koslowski, „Einleitung“, 9 ff. 38  Vattimo, „Die Spur der Spur“, 112.

Ins rechte Licht gerückt Wie althegelianische Rezeption den Gottesbegriff Hegels zur Entfaltung bringt Veronika Klauser (Berlin) Bekanntlich hat Hegel dem Glauben einen festen Platz innerhalb des Wissens eingeräumt, indem er darauf bestand, dass Religion und Philosophie ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich, das Absolute zu erfassen. Während jedoch das Absolute innerhalb der Religion in der Form von bloßen Vorstellungen präsent werde, kann es, so Hegels These, in der Philosophie, ohne auf Vorstellungen angewiesen zu sein, in Form des reinen Denkens vollständig begriffen werden. Im Folgenden setze ich mich kritisch mit dem rechtshegelianischen Versuch – namentlich dem von Georg Andreas Gabler und Carl Friedrich Göschel – auseinander, die Hegelsche Religionsphilosophie so zu interpretieren, dass Gott innerhalb ihrer weiter als Person aufgefasst werden kann (II.). Bevor ich mich hier dieser konservativen Lesart der Hegelschen Religionsphilosophie widme, werde ich – in einem ersten Schritt – vorbereitend klären, wie sich das Anliegen Hegels, Gott zu erkennen, systematisch nachvollziehen lässt und wodurch seine Position sich im Wesentlichen auszeichnet (I.). Abschließend werde ich die hier erläuterten rechtshegelianischen Versuche anhand der systematischen Ansprüche bewerten, welche sich aus Hegels eigener Argumentation zum Gottesbegriff entnehmen lassen (III.).

I. Ausgehend vom für den Menschen konstitutiven Merkmal „denkend zu sein“1, behauptet Hegel, dass alles Menschliche nur dadurch menschlich sei, dass es im Denken bzw. mittels des Denkens erfasst und bewirkt wird.2 Daher ist auch der Glaube in den Denkprozess involviert und zwar notwendig. Da sowohl Philosophie als auch Religion die Wahrheit zu ihrem Inhalt 1  Vgl. Enz. 1830, § 2. Auch in der Logikvorlesungsnachschrift aus dem Jahr 1826 ist zu finden: „Das Denken ist die edelste Tätigkeit im Menschen, wodurch er sich vom Tiere unterscheidet“ (GW 23/1, 413). 2  Vgl. ebd., § 2.

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haben, sind sie für Hegel miteinander verbunden und im Innigsten verwandt.3 Mehr noch: Da der Status „wahr zu sein“ nur dem attestiert werden kann, was sich im Denken erfassen lässt, muss auch Gott, soweit er als wahr geglaubt und mittels des Denkens artikuliert wird, so Hegels Argumentation im Groben, begreiflich und erkennbar sein. In der christlichen Religion sieht Hegel diese Anforderung erfüllt. Denn erst in ihr ist die Erkennbarkeit Gottes, der sich innerhalb der materiellen Welt geoffenbart hat, zu einem konstitutiven Moment geworden. Darin liegt die Bestätigung dafür, dass Gott der Welt nicht transzendent, sondern immanent ist, was dem menschlichen Denken den Zugang eröffnet, die Wahrheit Gottes zu erfassen. Die Religion stellt dabei eine wesentliche Stufe dar, welche zur Selbstverständigung der Erkennenden beiträgt, indem sie die Wahrheit – Gott – in der Form von Vorstellungen darstellt. Nun spielt das Denken aber nicht nur insofern in die Religion hinein, als die Vorstellung schon Gedanken enthält, sondern auch insofern, als in der Religion einige Bereiche thematisch sind, die sich durch Vorstellungen nur defizitär darstellen lassen – wie etwa das „Reich des Vaters“, oder auch das „Reich des Geistes“. Diese Bereiche des (reinen) Denkens werden in der Religion sowohl unzureichend als auch unzutreffend dargestellt. Erst auf den Begriff gebracht können sie vom erkennenden Subjekt adäquat nachvollzogen werden. In diesem Zusammenhang geht Hegel dem Problem nach, wie ein angemessener Gottesbegriff erzielt werden kann. Seine Ausführungen über die christliche Religion gliedert er (seit 1824, wie zweifelsfrei belegt ist4) in drei Elemente. In dem ersten Element behandelt er die immanente Trinität – das „Reich des Vaters“ –, während im zweiten die Christologie – das „Reich des Sohnes“ – und im dritten die Lehre vom Geist – das sogenannte „Reich des Geistes“ (die Sphäre von Gemeinde und Kultus) – thematisch sind.5 Den Gottesbegriff ergeben diese drei Elemente jedoch erst dann, wenn sie in angemessener Weise in Verbindung zueinander gebracht werden. Hegels Gedankengang lässt sich dabei folgendermassen nachvollziehen:6 Als unmittelbar gegebene ist die begriffliche Bestimmung Gott im ersten (abstrakten) Element des Denkens a priori wahr. Eine solche unmittelbar wahre Gegebenheit ist das biblische Dogma der heiligen Dreieinigkeit. Die vorausgesetzte Gegebenheit bleibt zunächst bloß abstrakt, oder, mit Hegels 3  Vgl.

ebd., § 1. Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 82. 5  Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, 82. 6  Im Folgenden beziehe ich mich auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Die vollendete Religion, neu herausgegeben von Walter Jaeschke, Hamburg 1995). 4  Vgl.



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Worten, an sich wahr. Dies bedeutet, dass sie mit sich auf eine formal-logische Weise identisch ist.7 Bloß formal gesetzt verdankt sich diese (dogmatische) Bestimmung Gottes dem Ausschlussverfahren, infolgedessen sie nicht als das Unbedingte begriffen, sondern als solches nur postuliert, d. h. festgesetzt wird. Um das Unbedingte begrifflich zu fassen, exponiert Hegel die Trinität als philosophisches Problem und unterzieht die Auswirkungen der Vorstellung der Dreieinigkeit auf das Denken des erkennenden Subjekts einer systematischen Untersuchung. So wird im zweiten Element – in dem sich das Denken auf die Sphäre der Erfahrung bezieht – mittels der Christus-Erscheinung bestätigt, dass Gott kein Jenseits bleibt und der sinnlichen Welt nicht fremd entgegensteht, sondern innerhalb dieser Welt auffindbar ist. Dadurch wird das Verhältnis zwischen dem endlichen Geist (dem Menschen) und dem absoluten Geist (Gott) als in der Realität wirklich vorhanden ersichtlich und lässt sich in der Form des Urteils „Gott ist Mensch“ fassen. Da die erreichte gottmenschliche Einheit nur dann behauptet werden kann, wenn sie für Alle gilt, kann sie, so die Argumentation Hegels, nicht an die Willkür eines geschichtlichen Ablaufs geknüpft sein, sondern muss auf andere Weise gesichert werden, was in der Konsequenz, wie er betont, die logische Natur des religiösen Inhalts erweist. Die Einzelheit bzw. die Einmaligkeit des Gottmenschen (Jesus) begründet Hegel durch das Argument, dass die Reduktion des Gottmenschen auf eine empirische Tatsache die Möglichkeit einer Mehrheit solcher Tatsachen zulassen würde, welche die Pluralität von Gottmenschen und damit eine Mehrzahl von einander abweichender Gottesbegriffe zur Folge hätte. Damit würde aber der Gottesbegriff dem Anspruch auf Unbedingtheit – welcher dem Begriff Gottes immanent ist – nicht gerecht. Hegel fasst die offenbarte Einzelheit des Gottmenschen und hiermit die Aussage der gottmenschlichen Einheit, als eine Aussage über die mensch­ liche Natur überhaupt auf. Diese Einheit ist nicht als empirisch festzuhalten, sondern logisch zu begreifen. Das Umschlagen von der Einzelheit zur Allgemeinheit fasst Hegel prägnant in seinem bekannten Diktum „Einmal ist Allemal“ (GW 17, 255). Hier wird die göttliche Geschichte nicht primär als die aufgefasst, welche sich einmal zugetragen hat, stattdessen wird ihr Inhalt als Allgemeines artikuliert, welches der geistigen Natur zugrunde liegt. Formal deutet Hegel die Differenz zwischen dem „Reich des Sohnes“ und dem des „Geistes“ als Differenz zwischen Vorstellung und selbstbewusstem Geist, was sich innerhalb von seiner Analyse des dritten Elementes zeigt. 7  So bedeutet die Behauptung ‚Gott ist die heilige Dreieinigkeit‘ zunächst nichts mehr, als ‚Gott ist Gott‘, was die formale Feststellung ‚A ist A‘ zurückzuführen ist.

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Im dritten Element des Denkens, dem „Reich des Geistes“, kristallisiert sich die Idee Gottes heraus, die innerhalb der christlichen Gemeinde nachvollzogen bzw. begriffen wird. Hegel fasst die Auferstehung mit dem darauffolgenden Pfingstereignis als Aufhebung der sinnlichen Gewissheit und als Objektivierung des absoluten Inhaltes auf. Hiermit wird das Verhältnis zwischen Gott und den Mitgliedern der Gemeinde in die Form des Selbstwissens bzw. des Selbstbewusstseins Gottes im Subjekt überführt. Dabei kann das erreichte Selbstwissen Gottes nur im endlichen Geist des einzelnen Subjekts aufgefunden werden. Indem es sich aber bei Mitgliedern der Gemeinde auffindet, objektiviert es sich ins Unendliche und läuft weit über die Grenze des bloß Subjektiven hinaus. So wird der einmal erschienene Jesus von Hegel als für allemal geltend konzipiert, infolgedessen seine Einzelheit als ausschließend gefasst. Auch nach ihrer Aufhebung, dem Tod, wird sie nicht aus dieser Relation zu Allgemeinheit gelöst. Die Anschauung des wirklich Einzelnen wird zur Vorstellung des Auferstandenen. Die wahrhafte Form dessen, was für Hegel unter „Auferstehung“ vorzustellen wäre, ist die Konstitution der Gemeinde. So liegt die angemessene Aufhebung der ausschließenden Einzelheit weder in ihrem Tod, noch in der individuellen Auferstehung, sondern in ihrer Erhebung zum allgemeinen Selbstbewusstsein des göttlichen Geistes.8 Philosophisch formuliert, lässt sich Hegels Gottesbegriff nun so zusammenfassen: Zunächst wird Gott als bloß abstrakte Festsetzung der absoluten, für alle Ewigkeit geltenden Dreieinigkeit dogmatisch ausgesprochen. Hierbei handelt es sich um die logische Grundstruktur, mit sich selbst (unterschiedslos) identisch zu sein. Weiterhin ist Gott eine sinnliche Anschauung für den endlichen Geist, denn mittels der Erscheinung des Gottessohnes erkennt das Subjekt, dass Gott der endlichen (sinnlichen) Welt nicht fremd entgegensteht. Schließlich wird Gott in Form der Versöhnung erfasst. Dank dieser kann sich das endliche Subjekt selbst als der göttlichen Ewigkeit, dem Unendlichen, zugehörig begreifen. Auf diese Weise wird die strukturelle Verknüpfung des Begriffes von Gott, seiner Realisierung (als Gottessohn) und der Vereinigung beider Elemente – in der Form der religiösen Versöhnung durch die Entstehung der christlichen Gemeinde – offenbar. Zusammengenommen bilden die drei Elemente den eigentlichen Gottesbegriff, der zur Wahrheit hinführt und zum vollständigen Wissen beiträgt. Im Rahmen dieses Konzepts wird auch deutlich, dass es in der Natur des endlichen Denkens liegt, das Unendliche fassen zu können. Denn bereits dann, wenn der Mensch beansprucht, Gott zu erkennen, tritt er in einen Prozess ein, in dem er bzw. sein Denken auf die Spur des Absoluten (die des Unbedingten) kommt. 8  Vgl.

Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, 102 f.



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II. In der Forschungsliteratur gilt der Rechtshegelianismus schon seit Langem als abgetan.9 Die konservativen Bestrebungen, den christlichen Dogmen einen festen Platz einzuräumen, um den Glauben zu bestärken bzw. der Eitelkeit des Denkens entgegenzuwirken, welche sich innerhalb der HegelNachfolge breit zu machen drohte, scheint heutzutage nicht mehr ernstgenommen werden zu können. Ich meine jedoch, dass die Analyse der begrifflichen Konstellationen, welche diesem Unternehmen zugrunde liegen, auch deshalb ein lohnendes Unterfangen darstellen kann, weil dieser uns auch heute nicht selten entgegentreten. Die Rezeption des Hegelschen Gottesbegriffs durch die sogenannten Rechtshegelianern ist durch das Streben gekennzeichnet, Hegels spekulative Auffassung der christlichen Dogmen – sein Verständnis der Dreieinigkeit Gottes – zu übernehmen und damit gleichzeitig den Begriff eines jenseitigen Gottes – im Sinne einer extramundanen Person – wiederzubeleben und zu legitimieren. Im Folgenden skizziere ich diese Position genauer, indem ich exemplarisch die Argumentation von Georg Andreas Gabler und Carl Friedrich Göschel vorstelle. Georg Andreas Gabler10 sieht – durchaus in Übereinstimmung mit Hegel – ein, dass ein gewisses zu erkennendes Verhältnis zwischen Gott und Mensch vorhanden ist, aufgrund dessen das Problem der Unendlichkeit bzw. der Stellung des Unbedingten zum Denken zu Tage tritt. Dieses Problem liegt jedoch, so Gabler, außerhalb des Bereichs des Denkens. Es betrifft ausschließlich die Bestimmung der menschlichen Natur, die, auf das rein irdische Leben reduziert, als absolut endliche – bedingte im Vergleich zur Unendlichkeit der übersinnlichen göttlichen Natur – begriffen werden muss. Hier wird der Widerspruch ersichtlich, in dem sich das endliche Subjekt zum unendlichen Gott befindet. Die Möglichkeit, das Unendliche – Gott – mittels 9  Einer der letzten ernsthaften Versuche, die wegweisenden Textauszüge von Rechtshegelianern in einem Sammelband zu vereinigen und dazu einen fachlichen Kommentar zu verfassen, wurde im Jahr 1962 von Hermann Lübbe unternommen (Hermann Lübbe, Die Hegelsche Rechte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962). Seitdem lassen sich in der Fachliteratur einige Versuche finden, die Persönlichkeit Gottes in Anlehnung an die Philosophie Hegels wiederzubeleben, doch sind diese Versuche m. E. eher der Theologie, nicht aber der Philosophie zuzuordnen. Denn in diesen wird die Persönlichkeit Gottes als ein unbezweifelbares Postulat vorausgesetzt und an die ­Argumentation Hegels bloß angepasst. Vgl.: Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule, Göttingen 1971, 13 ff., 260 ff.; Jan Rohls, Gott, Trinität und Geist, ­Tübingen 2014, 786. 10  In meiner Analyse beziehe ich mich auf die Monographie: Georg Andreas Gabler, Die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes, Berlin 1838.

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des Begriffs zu fassen, so wie es Hegel beansprucht, lehnt Gabler kategorisch ab. Nach seinen Überlegungen, eignet sich das Denken und hiermit auch der Begriff auf keinerlei Weise, Gott zu fassen, denn, [h]ätte der Widerspruch […] seine Lösung […] im speculativen Denken, in der Vernunft und im Geiste zu erwarten, dann allerdings hätte unsere speculative Philosophie einen unheilbaren Riß.11

Das Grundproblem, mit dem sich Gabler beschäftigt, ist auf eine strikte Unterscheidung zurückzuführen, die er zwischen dem Begriff und der Natur – im Sinne einer außerbegrifflichen Substanz – fest trifft. Während der Begriff dem Geistigen angehört, steht die Natur dem Geistigen schlicht entgegen. So beginnt das Subjekt die Welt zu begreifen, indem es sich auf die Natur bezieht, sich dabei von ihr unterscheidet und dank dieser Unterschiede Begriffe – inklusive des Ich-Begriffs – bildet. Als absolut gedankenlose Substanz leistet die Natur dem Denken einen Widerstand allein deshalb, weil sie sich im Gegensatz zum Denkenden befindet. So bleibt die Substanz vom Denken unbeeinflusst, denn sie ist nicht vom Denken geschaffen. Auf dieser Grundlage unterscheidet Gabler zwischen dem zu fassenden Inhalt, der sogenannten substanziellen Gegenständlichkeit, und dem Begriff, der mittels des Denkens auf den Inhalt angewandt wird. So weist der Begriff eine gewisse Abhängigkeit auf, denn, um gebildet zu werden, ist er auf die Inhalte angewiesen, die er nicht selbst hervorbringt.12 In einem einzigen Fall scheint jedoch auch für Gabler der Begriff unabhängig zu werden bzw. auf sich selbst zu beruhen, nämlich dann, wenn das Denkende sich seines eigenen Selbst bewusst wird, d. h., sich als ein Ich erkennt. Da dem Ich-Begriff die Selbstbezüglichkeit zugrunde liegt, entsteht der Eindruck, das begriffene Ich genüge sich selbst. Bei genauerer Betrachtung wird aber klar, so Gabler, dass dieser Eindruck auf einer Täuschung basiert und der Ich-Begriff doch eines Inhaltes bedarf. Denn das Ich begreift sich selbst erst dann, wenn es von allem absieht, was es nicht ist. Während die selbstbezogene Form des Ich-Begriffs tatsächlich den Status der Unbedingtheit erlangt, bleibt dieser Form doch der Grund entzogen, auf dem sie gebildet wird.13 Dieser Grund ist, wie Gabler es bezeichnet, das substantielle Wesen des Ichs, der körperliche Bestandteil (Leib), zu dem sich das Denkende derart verhält, dass es sich im Unterschied dazu begreift. In der Konsequenz spricht Gabler der Person (im Sinne eines denkenden Subjekts, welches sich seines eigenen Selbst bewusst ist) eine konstitutive Rolle zu. Sie ist es, welche Begriffe bildet sowie die begrifflich nicht fassbaren Konzepte (wie bspw. das Konzept der Unbedingtheit) hervorbringt. 11  Gabler,

Die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes, XI. Gabler, Die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes, XVI. 13  Vgl. Gabler, Die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes, XVII f. 12  Vgl.



Ins rechte Licht gerückt207

Von der konstitutiven Rolle der Person (die ich soeben erläutert habe) und dem mangelhaften Umstand, dass das endliche Ich über seinen eigenen Grund nicht verfügt, schließt Gabler auf die Notwendigkeit Gottes, dessen Wesen außerbegrifflich bleiben muss. Die Erscheinung des Gottessohnes, so Gabler, sei die faktische Bestätigung des einzelnen Falls, in dem die sich begreifende Person (Gott-Vater) über den Grund – die leibeigene Substantialität (Gott-Sohn) – derart verfügt, dass die beiden Personen sich als unzertrennlich (in der Form sogenannter Homosie) erweisen. Dies bestätige sich mittels des biblischen Postulats – „Ich und der Vater sind eins“ –, nicht aber mittels des endlichen Ich-Bewusstseins.14 Indem Gabler die Christus-Erscheinung in sein philosophisches Konzept aufnimmt, reduziert er diese auf bloß eine Tatsache, die nicht auf die Ebene der Allgemeinheit überführt werden kann. Denn dafür fehlen hier die erforderlichen begrifflichen Mittel. So wird die Idee der allumfassenden absoluten Einheit – die des Gottes – auf den Boden der bloßen religiösen Vorstellung zurückgeworfen und letztlich zu einem Postulat depotenziert. Auch Carl Friedrich Göschel15 strebt danach, die konstitutive Rolle der Persönlichkeit Gottes zu belegen. In seiner Argumentation sucht er, das „Leib-Seele“-Problem mithilfe der vermittelnden Funktion des Geistes zu lösen. Eines solchen Geistes, der ausschließlich als Person zu denken ist. Sein Gedankengang lässt sich, wie folgt, rekonstruieren: Während zwischen dem Individuum, das sich in seiner tiefsten Seele als ein besonderes Ich auffasst, und der restlichen Welt (inklusive des eigenen Leibes) eine unüberwindbare Kluft zu liegen scheint, scheint diese Kluft geringer zu werden, sobald der Leib als unverzichtbare Bedingung der seelischen Tätigkeit begriffen wird. Mit der seelischen Tätigkeit meint Göschel die mentale Fähigkeit, reflektieren, d. h., denken zu können. Als Bedingung (Leib) und Bedingtes (Denken, welches mithilfe der Seele produziert wird) sind Leib und Seele sowohl aufeinander bezogen, als auch einander entgegengesetzt: Geht der Leib ein, verschwindet die Seele bzw. das besondere Individuum restlos, wobei die Macht des Todes zu Tage tritt. Indem die formale Identität (sich selbst gleich zu sein bzw. als dasselbe gefasst zu werden) laut Göschel auf die Seite des Individuums fällt, kommt dem Unterschied (dem Anderen, welches der Leib bildet) eine konstitutive Funktion zu. Denn das Selbstbewusstsein des Individuums verdankt sich der Bezugnahme, die das Denken (mittels der Seele) auf das zu begreifende Objekt (d. h. auf den Leib und schließlich – auf die Welt) nimmt. Auch wenn die konstitutive Bezogenheit aufeinander (Leib-Seele bzw. Individuum-Welt) nicht von der 14  Vgl.

Gabler, Die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes, XXI f. meiner Analyse beziehe ich mich auf die Monographie: Carl Friedrich Göschel, Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Berlin 1835. 15  In

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Hand zu weisen ist, lässt sie sich noch nicht explizieren, sondern verbleibt zunächst nur als implizites Indiz dafür, dass das Individuum und die Welt sich in einer Einheit befinden. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wie ist diese Einheit überhaupt zu fassen? Anstelle der zu erwartenden Antwort erscheine, so Göschel, die Person selbst: Der auferstandene Christus sei nämlich kein besonderes Individuum mehr, das über den Grund der eigenen Denktätigkeit nicht verfüge, sondern die absolute Persönlichkeit, die mit Gott-Vater eine Einheit bildet, sich jedoch des Unterschiedes von Letzterem bewusst bleibt und seine Erlösung vom Tod dem Gott-Vater verdankt. Als unwiderlegbare Tatsache zeugt der auferstandene Christus von dieser Einheit der endlichen (menschlichen) und der absoluten (göttlichen) Natur. Göschel schlussfolgert: Jetzt ist der Mittelpunkt gefunden […]: Ich bin nicht allein. Ohne diese Persönlichkeit in Gott keine Erlösung von Seiten Gottes, ohne Persönlichkeit im Menschen, hiermit keine Unsterblichkeit, keine Auferstehung: wo aber Persönlichkeit ist, da ist in Einem Alles gegeben.16

Als Tatsache aufgefasst, kommt der absoluten Person (dem auferstandenen Christus) die vermittelnde Funktion zu, die Einheit ersichtlich zu machen. Diese Einheit ist schließlich nichts anderes als der Geist selbst, denn, so Göschel: der Geist ist selbst nur Einer: da außer ihm nichts ist, so kann auch der Geist nicht außer ihm sein, der Geist ist seine Zahl, welche von sich selbst verschieden ist, so daß ihrer mehrere neben und nach einander sind. Vielmehr ist der Geist als persönlich Derselbe.17

Wie diesem Zitat zu entnehmen ist, garantiert die interne Verfasstheit des Geistes – als Person – dass er als identisch aufgefasst werden kann. So fällt das Absolute im letzten Schritt aus dem Bereich des Logischen heraus, indem es als Postulat festgesetzt und mittels der Vorstellungsform unterstützt wird. In der Konsequenz findet diese Vorstellung (des auferstandenen Jesus) ihren festen Platz ausschließlich innerhalb der Geschichte, d. h., sie bleibt als bloßes Faktum fixiert. Mit Göschels Worten heißt das: So ist auch der Mensch erst […] ungetheiltes Wesen: aber er dirimirt sich demnächst in sein Aeußeres und Inneres, in Leib und Seele, und diese Diremtion geschieht nicht allein im Gedanken durch die Reflexion, sondern zuletzt auch in der That durch den Tod: das Letzte wäre, daß sich die Seele mit ihrem äußern Leibe zur Einheit verkläre, und dieses ist die Auferstehung im Geiste. Hierauf ruhet die 16  Göschel, Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, XVII. 17  Göschel, Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, 165.



Ins rechte Licht gerückt209 Trichotomie des Neuen Testamentes, welches dem Menschen Leib, Seele und Geist, so wie der Gottheit drei Personen zuschreibt.18

Wie aus dem oben Ausgeführten hervorgeht, knüpft der Begriff der Persönlichkeit bei Göschel, im Unterschied zu Gabler, nicht direkt an das sich selbst begreifende Individuum an, sondern an die absolute Ichheit – die Einheit zwischen dem Gott-Vater und dem Gott-Sohn –, welche als Geist bezeichnet wird. Die Funktion, die dabei der Persönlichkeit zugeordnet wird, bleibt aber unverändert: Sie leistet eine restlose Vermittlung zwischen der Welt und dem Subjekt, indem sie als unverzichtbare Instanz verstanden wird, welche die vorliegende Einheit erst expliziert. Die absolute Persönlichkeit verbleibt aber im Status der Besonderheit: Als einmal Erschienener ist der auferstandene Christus ein unverzichtbarer Beleg dafür, dass die Welt dem Individuum zugänglich ist und dass zwischen den beiden einen Zusammenhang besteht. Sollte der faktische Beleg (durch den auferstandenen Christus) bezweifelt werden, so steht das Bezogensein des Denkens auf die Welt (auf die Natur) aufs Neue in Frage. Als axiomatisches Faktum gefasst, bleibt die vermittelte Einheit (Gott und seine Erscheinung) auf der Ebene der Vorstellung, d. h., sie bleibt, aus der Perspektive der Logik gefasst, dem Denken nur bedingt – mit Unterstützung der Vorstellung – zugänglich.

III. Das oben Ausgeführte lässt sich nun, wie folgt, zusammenfassen: Während der Hegelsche Gottesbegriff, wie eingangs gesehen, davon lebt, die Einzelheit bzw. die Einmaligkeit des Gottmenschen als die logische Voraussetzung zu verstehen, dank welcher der Begriff seinen Anspruch erfüllt, für Alle zu gelten, wird diese Einzelheit seitens der Rechtshegelianer als eine ausschließliche gefasst. Es ist das Hauptanliegen der Rechtshegelianer, aus der Identität des Inhaltes – nämlich der Wahrheit –, welcher Philosophie und Religion gemeinsam ist, die Vorstellung zu legitimieren, die der Religion zugrunde liegt, d. h., das Faktum außer Zweifel zu setzen, dass es den auferstandenen Christus tatsächlich gab. In der Konsequenz bleibt aber das Moment der Allgemeinheit, der Hauptanspruch des göttlichen Inhaltes, unerfüllt. Infolgedessen entzieht sich die zu begreifende Unbedingtheit dem Menschen und bleibt ihm schließlich nur Postulat. Um bestehen zu können, muss die auf die Spitze getriebene Faktizität – und das ist das Hauptergebnis der betrachteten Argumentationen, welche die Rechtshegelianer entwickelt haben, – um jeden Preis aufrechterhalten werden. So wird aber das eigentliche Ziel – das Unbedingte mittels des Denkens zu artikulieren – aus den Augen 18  Göschel,

Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, 87.

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verloren. In der Konsequenz entgleist dem Denken das Unbedingte, zu dem es, wie Hegel ausführlich nachgewiesen hat, ohnehin gehört. Dabei verliert das Denken die kritische Funktion, die sich erst dann entwickeln kann, wenn die vorliegende Einheit nicht bloß als vorgegebene, sondern auch als mittels des Denkens zu begreifende, d. h. als dem Denkenden zugängliche, begrifflich ausdifferenziert wird.

„Der Mensch fällt auf die Erde herab“ Religion und Religionskritik bei Hegel und Marx Andreas Arndt (Berlin) „Der Religion entflieht der Himmel im wirklichen Bewußtsein – der Mensch fällt auf die Erde herab – und findet nur in der Einbildung, in ihr das religiöse – “ (GW 8, 285). Diese Worte finden sich in Hegels drittem Jenaer Systementwurf (1806/07). Sie kritisieren das religiöse Bewusstsein vom Standpunkt des wirklichen oder weltlichen Bewusstseins aus. Der Illusionen über den Himmel beraubt, fällt der Mensch auf die Erde herab, der er auf den Flügeln der Einbildungskraft zu entkommen meinte. Hegel begegnet uns hier als Religionskritiker. Wir wissen aber auch, dass Hegel die Religion als eine notwendige Gestalt der Selbstverständigung des menschlichen Geistes über sich selbst ansah und zudem als eine Gestalt, die auch vor dem philosophischen Bewusstsein sich nicht einfach auflöst und verschwindet, wie etwa Bruno Bauer es später postulieren sollte.1 Hegels Religionskritik spricht der Religion zugleich ein Wahrheitsmoment zu, auch wenn es nicht innerhalb des religiösen Bewusstseins einzuholen ist. Hierbei geht es um das Bewusstsein der Freiheit und das Interesse an der Befreiung, die damit zugleich Realisierung des religiösen Prinzips ist. Diese Wahrheit konvergiert mit der spekulativen Wahrheit, der absoluten Idee, denn diese ist das vollendete Bewusstsein der Freiheit. Hiervon handelt der erste Teil meines Vortrags (I.). Karl Marx, gemeinhin eher als radikaler Religionskritiker verstanden, der Religion abschaffen wollte, folgt Hegel weitestgehend hierin, wobei er die spekulativen Gehalte des Hegelschen Religionsbegriffs ausklammert, weil er überhaupt die spekulative Dimension Hegels nicht thematisiert. Hiervon handelt der zweite Teil meines Vortrags (II.).

1  „Der Bruch mit der Kirche und der Religion ist vollständig geworden. Die neuere Bildung und das befreite Selbstbewußtsein […] haben sich vollständig von aller Religion befreit.“ Bruno Bauer, „Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit“ (1842), in: Heinz und Ingrid Pepperle (Hg.), Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, Leipzig 1985, 472–521, hier: 504.

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I. Hegel setzt die Religion konsequent in ein Verhältnis zum Weltlichen und begreift damit religiöse Vorstellungen als Ausdruck weltlicher Verhältnisse und zugleich auch als ein normatives Ideal (Freiheit), das weltlich realisiert werden müsse. Religion hat damit einen Doppelcharakter, der im Dritten Jenaer Systementwurf (1806/07) erstmals genauer bestimmt wird. Hier bekommt die Religion ihren systematischen Ort in dem „sich als absoluter Geist wissende[n] Geist“ (GW 8, 265) in den drei Gestalten „Kunst, Religion und Wissenschaft“ (d. h. der Philosophie als Wissenschaft) (GW 8, 277). Die Religion ist die Kunst in „ihrer Wahrheit“ (GW 8, 279), bleibt aber selbst in sich widersprüchlich, weil sie dem Medium der Vorstellung verhaftet ist: „Die Religion […] ist der vorgestellte Geist, das Selbst das sein reines Bewußtseyn und sein wirkliches nicht zusammen bringt, dem der Inhalt von jenem in diesem als ein anderes gegenübertritt“ (GW 8, 282). In dieser Verkehrung gehen die „Bereiche der Wirklichkeit und des Himmels“ so aus­ einander, dass der Geist nur im „Jenseits“, aber „nicht in seiner Gegenwart“ versöhnt ist (GW 8, 281). Die Flucht in das Jenseits erfolgt dadurch, dass der Geist in der gegenwärtigen Wirklichkeit unbefriedigt und unversöhnt bleibt: „er wird durch den Krieg und die Noth […] erschüttert und flüchtet aus dem Daseyn in den Gedanken, aber es ist eine Sehnsucht des Himmels und eine Sehnsucht ebenso nach der Erde“ (GW 8, 281 f.). Was Hegel hier schreibt, entspricht dem, was Karl Marx knapp vierzig Jahre später, 1844, in dem Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern sagen wird: „Das reli­ giöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 171). Wichtig daran ist, dass das Opium hier nicht für eine Priesterbetrugstheorie steht, sondern für eine Flucht vor dem Elend; in diesem Sinne hatten bereits Heine und Moses Hess die Religion als Opium bezeichnet.2 Das religiöse Bewusstsein ist für Hegel in sich zerrissen: Himmel und Erde berühren sich und die Sehnsucht nach dem Himmel ist zugleich die Sehnsucht nach einer besseren Erde. Am Ende siegt die Schwerkraft über die Fliehkraft: Der Mensch fällt auf die Erde herab. Das Aufschlagen auf der weltlichen Realität enttäuscht das religiöse Bewusstsein. Nur in der Einbildung kann es sich in der Realität wiederfinden. Die Enttäuschung flieht dann 2  Heinrich Heine schreibt 1840, Religion sei „geistiges Opium“: Heine, Sämtliche Werke, Bd. 7, Leipzig 1890, 116; Moses Heß, Philosophische und sozialistische Schriften, Berlin 1980, 227.



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vor ihrer eigenen Konsequenz in eine neue Täuschung – ein „rastlose[r] Kreislauf von Enttäuschung und neuer Hoffnung“, den Peter Furth so auf den Punkt gebracht hat, dass er nur dadurch angehalten werden könne, dass die Enttäuschung festgehalten wird: „Aus einem Motiv der Betäubung würde ein Motiv der Erkenntnis. Wodurch aber könnte es dazu kommen, wenn nicht durch die Enttäuschung selber?“3 Auch Hegel denkt auf dieser Linie. Was der Religion fehlt, ist die Einsicht, sie bleibt in der Unmittelbarkeit der Vorstellung gefangen, in der sich die Sehnsucht nach dem Himmel und der Erde immer wieder erneuern – und immer wieder enttäuscht werden. Religion ist „der sich nur vorstellende Geist […] – d. h. daß seine Momente die Form der Unmittelbarkeit und des Geschehens haben; daß sie nicht begriffen nicht eingesehen sind. – Der Inhalt der Religion ist wohl wahr, aber diß Wahrseyn ist eine Versicherung – ohne Einsicht“ (GW 8, 286). Die Wahrheit der Religion, von der hier die Rede ist, ist aber gerade das, wodurch das religiöse Bewusstsein immer wieder enttäuscht wird: die Sehnsucht des Himmels und ebenso nach der Erde. Indem der Mensch auf die Erde herabfällt, kann er gewahr werden, dass sie dem Geist nicht gemäß ist und dieser Geist nur in der Einbildung, im Himmel Realität hat – eine eingebildete Realität, in welcher der Mensch nicht leben kann. Das religiöse Bewusstsein hat demnach einen normativen Kerngehalt: die Befreiung von Krieg, Not und Abhängigkeit. Es ist somit, wie bei Marx, in einem Ausdruck des Elends und Protestation dagegen. Gleichwohl ist es seiner Wahrheit nicht mächtig, denn es kann die Realität und seine Enttäuschung an ihr nicht festhalten. Die Einsicht in die Wahrheit der Religion durch das Erkennen ihres Verhältnisses zur Realität ist erst „die Philosophie, absolute Wissenschafft – derselbe Inhalt als der der Religion – aber Form des Begriffs“ (GW 8, 286). Dass die Philosophie denselben Inhalt habe wie die Religion, bezieht sich selbstverständlich nicht auf die religiösen Vorstellungen als solche, sondern allein darauf, was sie bedeuten: ein Selbstverhältnis des Geistes. In Kunst, Religion und Philosophie erfasst sich der Geist als solcher (und ist in dieser Selbstbezüglichkeit absoluter Geist) und deshalb ist der Inhalt der Philosophie kein anderer als der Inhalt der Religion (und auch der Kunst). Der Mensch, so heißt es in dem dritten Jenaer Systementwurf, lebt „in zwey Welten – in der einen hat er seine Wirklichkeit, die verschwindet, […] in der andern seine absolute Erhaltung […] das unwirkliche, Leben im Gedanken“ (GW 8, 284). Endlichkeit und Unendlichkeit bzw. Ewigkeit stehen sich im religiösen Bewusstsein gegenüber, aber eben dieses Gegenüber ist seine Unwahrheit, welche es in den endlosen Zirkel von Enttäuschung und neuer Täuschung treibt. Tatsächlich, so Hegel, sind endlicher und absoluter Geist 3  Peter Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, Frankfurt am Main 1991, 8.

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nur ein Geist und nicht zwei Welten: „diß Ewige hat sein Daseyn im Volksgeist – es ist der Geist, der eben nur Geist […] dem Wesen nach dasselbe“ ist (GW 8, 284). Das Ewige als Selbstbezüglichkeit des Geistes ist damit von dieser Welt, nämlich menschlicher Geist. Wo dies verkannt wird, gerate das Ewige zur Abstraktion im Gegensatz zur Welt: „Der Fanatismus der Kirche ist – das Ewige, das Himmelreich als solches auf Erden einführen zu wollen, d. h. der Wirklichkeit des Staates entgegen […] zu erhalten“; in Wahrheit aber sei „die Wirklichkeit des Himmelreichs […] der Staat“ (GW 8, 284). Diese Wirklichkeit sei im Weltlichen aber nur dort zu finden, wo Kirche, Religion und Staat miteinander versöhnt seien: „Sind sie unversöhnt – so ist der Staat und die Kirche unvollkommen“ (GW 8, 284). Anders gesagt: das versöhnte weltliche Verhältnis von Kirche (Religion) und Staat ist erst die realisierte Wahrheit der Religion, die den Zirkel von Enttäuschung und Täuschung still zu stellen vermag. Das Himmelreich oder Reich Gottes auf Erden ist der vernünftige Staat, der das Dasein in Freiheit ermöglicht. Die Depotenzierung des Ewigen zur diesseitigen Wirklichkeit der Vernunft erfüllt beides, die Sehnsucht des Himmels und die Sehnsucht nach der Erde. Hierzu zwei Anmerkungen. Erstens: Hegel begibt sich mit dieser Auffassung in eine Konfrontation mit Kant und Fichte. Kant hatte bekanntlich das politische Gemeinwesen, das in erster Linie als Rechtsgemeinschaft zu verstehen ist (eine „allgemein das Recht verwaltende[…] bürgerliche[…] Ge­ sellschaft“4), von dem ethischen Gemeinwesen unterschieden, das nicht der sinnlichen, sondern der übersinnlichen (intelligiblen) Welt angehört. Es geht hier um die „Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht, in ihrem Umfange sie zu beschließen, durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird.“5 Ein solches ethisches Gemeinwesen6 bedarf der Annahme eines „höheren moralischen Wesens“, also Gottes, denn es ist „nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich“.7 Das ethische Gemeinwesen gründet in der moralischen Vernunftreligion und stellt so eine „Annäherung“ an das Reiche Gottes dar.8 Hegel dagegen verlegt die Realität 4  Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: AA VIII, 22. 5  Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793; 294), in: AA VI, 94. 6  Vgl. Michael Städtler (Hg.), Kants „Ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin 2005. 7  AA VI, 99. 8  AA VI, 115. Kant nimmt damit den Topos zweier Gemeinschaften auf, den Augustinus in seiner Schrift De civitate dei vorgebildet hatte und der auch in der später so genannten Zwei-Reiche-Lehre Luthers noch fortwirkt: die Gemeinschaft



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des Reiches Gottes nicht nur ins Weltliche überhaupt, sondern in das politische Gemeinwesen qua Rechtsstaat, womit auch die Moralität dem Recht untergeordnet wird. Dies markiert auch einen Gegensatz zum späten Fichte, der in seinen späten Vorlesungen zur Rechts- und Sittenlehre von 1812 Recht und Staat nur als Mittel der Erziehung zu einer moralischen Vergesellschaftung verstehen.9 – Zweitens bedeutet die Realisierung des Reiches Gottes im Staat das Weltlichwerden der Religion und Philosophie; Hegel – und dies wird uns im Blick auf Marx noch beschäftigen – liefert hier, wie Walter Jaeschke bemerkt hat, das „beharrlich ignorierte“ Modell der junghegelianischen Diskurse über das Weltlichwerden und die Verwirklichung der Philosophie.10 Die hier in den Mittelpunkt gestellte Theorie Hegels im dritten Jenaer Systementwurf unterscheidet sich (von Ausdifferenzierungen im Geistesbegriff abgesehen) nicht von seinen späteren Positionen, auch wenn die Formulierungen 1806/07 zum Teil prägnanter erscheinen mögen. Ich möchte hier nur summarisch auf die entscheidenden Übereinstimmungen verweisen. Da ist zunächst (1) dieselbe Abwehr des Fanatismus der Religion, die sich gegen den Staat stellt und die formelle Trennung von Kirche und Staat bei Suprematie des Staates.11 (2) Das Reich Gottes bleibt auch, z. B. in den Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Religion, von dieser Welt. Laut der Nachschrift zum Kolleg 1827 zur vollendeten Religion, d. h. dem Christentum, spricht Hegel dementsprechend von der „Realisierung des Geistigen der Gemeine zur allgemeinen Wirklichkeit“, welche eine „entwickelte Weltlichkeit“ einschließt: es habe „das Reich Gottes, die Gemeine […] ein Verhältniß zum Weltlichen […] Für diese Weltlichkeit sind die Prinzipe vorhanden in diesem Geistigen, das Prinzip, die Wahrheit für das Weltliche ist das Geistige“ (GW 29/2, 224 f.). (3) Hierin ist wiederum auch die Figur des Weltlichwerdens der Philosophie greifbar, denn es ist die Philosophie, welche die Prinzipien des Geistes begreift und damit allererst auf die Realität beziehbar macht. (4) Schließlich vollzieht sich auch beim Berliner Hegel die Versöhnung des Himmlischen und Irdischen durch eine Depotenzierung des Reiches Gottes (civitas dei) und die irdische Gemeinschaft (civitas terrena), die aber beide innergeschichtlich in einem Verhältnis zueinander stehen; vgl. Johann Kreuzer, Augustinus, Frankfurt am Main/New York 1995, 120 ff. 9  Johann Gottlieb Fichte, Die späten wissenschaftlichen Vorlesungen, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, 73–404. 10  Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2003, 502. – Vgl. auch Andreas Arndt, „Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist. Weltgeschichte, Religion und Staat“, in: Thomas Oehl, Arthur Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 709–719. 11  Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: GW 14/1, 213–223 (§ 270, Erläuterung).

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Gottes zum vernünftigen Rechtsstaat. In den Schlussparagraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts skizziert Hegel den Gang der Moderne als einer Welt des absoluten Gegensatzes des Geistigen und Irdischen. In dem „harten Kampfe dieser Unterschiede“, verschwinde dieser Gegensatz schließlich, indem, so Hegel wörtlich, „das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet“ (GW 14/1, 281, § 360). Es handelt sich hierbei nach Hegel um das Resultat eines langwierigen Prozesses der Säkularisierung des Religiösen und insbesondre des christ­ lichen Prinzips, deren Kern das Bewusstsein der Freiheit ist, weil der Geist sich überhaupt als Freiheit erfasst. In dem Manuskript seiner „Einleitung“ zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1830/31 heißt es: Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber diß Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, diß war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfodert. Mit der Annahme der christlichen Religion hat z. B. nicht unmittelbar die Sclaverey [aufgehört], noch weniger ist damit sogleich in den Staaten die Freyheit herrschend, sind die Regierungen und Verfassungen auf eine vernünftige Weise organisirt, auf das Princip der Freyheit gegründet worden. Diese Anwendung des Princips auf die Wirklichkeit, die Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands durch dasselbe ist der lange Verlauff, welcher die Geschichte selbst. (GW 18, 152 f.)

II. Wie hält es nun Marx mit der Religion?12 Hierzu ist zunächst kurz die Ausgangssituation des jungen Marx zu vergegenwärtigen. Der Streit um Hegels Philosophie war ja zunächst vor allem ein Streit um seine Religionsphilosophie, genauer: die Christlichkeit oder Nichtchristlichkeit dieser Philosophie.13 Dieser Streit markierte auch die Bruchlinie zwischen rechten, kirch12  Vgl. Hermann Klenner, „Über Marxens Religions- und Rechtskritik“, in: Utopie kreativ, Heft 84, Oktober 1997, 5–10. 13  Vgl. „Einleitung“, in: Friedrich Wilhelm Graf, Falk Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, 24–60; Walter Jaeschke, Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 361–436; Wolfgang Eßbach, Reli­ gionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, 661–742.



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lich-orthodoxen, und linken Hegelianern seit David Friedrich Strauß, der durch seine historische Evangelienkritik die linkshegelianischen Kritiken an der Orthodoxie und schließlich an der Religion überhaupt anstieß. Dieser Diskurs ist durch eine zunehmende Radikalisierung geprägt; diese Radikalisierung beruhte nicht in erster Linie auf einer theoretischen Kritik, sondern die theoretische Kritik war wesentlich beeinflusst durch den sich immer mehr steigernden „Erwartungsaufbau“, dass in der bedrückenden politischen und geistigen Atmosphäre des Vormärz eine Revolution und der Anbruch einer neuen Zeit unmittelbar bevorstünden.14 Die Religionskritik schien vorgreifend das Erwartete nicht nur anzukündigen, sondern bereits zu etablieren und wurde, je mehr die Erwartung in der Realität enttäuscht wurde, zum Surrogat des Erhofften. Hieraus resultierte ein Überbietungsdiskurs, in dem jeweils die jüngst vorangegangene Kritik als verkappt religiös denunziert wurde, während die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse selbst vom Fiebertaumel der Kritik unberührt blieben. Zugleich sorgte die Naherwartung des Neuen dafür, dass die Auseinandersetzung mit den überlieferten theoretischen Beständen nur die Fortdauer des längst morschen Vergangenen zu befestigen schien; es wurde – zuerst und wirkungsmächtig für die ganze junghegelianische Bewegung durch Feuerbach – ein Bruch mit allem Überkommenen proklamiert, der auf die immanente theoretische Kritik Verzicht leistete.15 Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass – sollte der alte Friedrich Engels sich richtig erinnert haben – das seinem Gehalt nach ganz und gar in Hegelschen Bahnen argumentierende Wesen des Christentums (1841) als Beginn einer neuen, materialistischen Epoche der Philosophie empfunden wurde, die eine neue Realität herbeiführen sollte.16 Der junge Marx, obwohl zunächst Anhänger Feuerbachs und mit Bruno Bauer befreundet, steigt aus diesem Diskurs sehr bald aus. Er sieht ein, was die sich überschlagende und immer kritischer sich gerierende Kritik antreibt: die Enttäuschung am Ausbleiben der Revolution, die durch immer höher geschraubte Hoffnungen kompensiert wird. Die Religionskritik der Jung­ hegelianer erliegt der Dialektik, die Hegel am religiösen Bewusstsein aufgezeigt hatte und erweist sich damit selbst als religiös grundiert: Sie schafft weder ein Bewusstsein der Realität noch eine Alternative zum religiösen Bewusstsein. Für Marx stellt sich die Religionskritik der Junghegelianer 14  Vgl.

Eßbach, Religionssoziologie 1, 674–676. dazu Andreas Arndt, „Ludwig Feuerbach – Ausgang der Klassischen deutschen Philosophie?“, in: Ursula Reitemeyer, Thassilo Polcik, Katharina Gather, Stephan Schlüter (Hg.), Das Programm des realen Humanismus. Festschrift für Ludwig Feuerbach zum 150. Todesjahr, Münster 2023, 83–93. 16  Vgl. Wolfgang Lefèvre, „Das Feuerbach-Bild von Friedrich Engels“, in: HansJörg Braun (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, Berlin 1990, 713–728. 15  Vgl.

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schließlich als ein Unternehmen dar, das sich erschöpft hat. In seinem Aufsatz „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, der 1844 in den von ihm und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschien, erklärt er gleich zu Beginn: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraus­setzung aller Kritik“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 170). Diese Feststellung kann indessen nur dann angemessen verstanden werden, wenn in Rechnung gestellt wird, was Marx in diesem Zusammenhang unter „Kritik“ versteht. In einem Brief vom September 1843 an Arnold Ruge, den dieser in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlichte, hat Marx sich hierzu programmatisch geäußert. Kritik bestehe nicht darin, der Welt „doctrinär mit einem neuen Princip“ entgegenzutreten, sondern sei „Analysierung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zu Stande bringt“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 488 f.). Es geht um eine immanente Kritik, die das religiöse Bewusstsein über sich selbst aufklärt, indem sie es zur „Welt“ in Beziehung setzt. Und es geht darum, die Kritik von der Emphase eines unvermittelten Bruchs mit der Vergangenheit theoretisch und praktisch zu befreien. Kein neuer Himmel und keine neue Erde, sondern die Transformation des Gegebenen durch Einsicht in die objektiven Bedingungen einer Veränderung. Das von Marx verfolgte religionskritische Programm entspricht weitgehend dem Hegelschen. Entscheidend sind das Verhältnis zum Weltlichen und die Realisierung des Geträumten oder Gehofften unter den gegebenen, d. h. gewordenen Bedingungen. Mit Feuerbach – und im Grunde auch mit Hegel – hält Marx 1844 in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ fest, dass die Religion „das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen“ sei, aber des Menschen, „der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 170). Da der Mensch aber in einer historisch bestimmten Welt lebe („Dieser Staat, diese Societät“) sei die „Religion […] die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr encyclopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form […]. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 170). Im unmittelbaren Anschluss hieran folgt die bereits zitierte Passage, die Religion sei Ausdruck des wirk-



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lichen Elends und zugleich Protest dagegen. Dies entspricht vollständig der Position des Jenaer Hegel, wie auch die Konsequenz, die Marx daraus zieht: „Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 171). Es ist die Enttäuschung selbst, welche den Kreislauf von Enttäuschung und neuer Hoffnung unterbricht, indem sie festgehalten wird und den Menschen zu Verstand bringt. Wie bei Hegel ist es auch beim jungen Marx die Philosophie, welche die Enttäuschungserfahrung reflektiert; es sei „Aufgabe der Philosophie […], die die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 171). Der Mensch fällt auf die Erde herab, um in seinen Illusionen enttäuscht zu werden und auf ihr und unter den ihr spezifischen Bedingungen bewusst die Realität zu verändern. Diese Veränderung ist, wie gesagt, die Realisierung eines schon Vorhandenen, nicht die Schaffung eines radikal Neuen. Auch die Religionskritik negiert nach Marx die Religion nicht abstrakt, sondern hält an dem Traum des religiösen Bewusstseins von einer besseren Welt fest; sie „endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem categorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 177). Marx knüpft dabei an Hegels Erzählung der Geschichte des Freiheitsbewusstseins an,17 in der das Christentum eine wesentliche Rolle spielt und in der vor allem die Reformation das Freiheitsbewusstsein der Moderne zum Ausdruck bringt. Marx’ damaliger Freund Heinrich Heine hatte diese Erzählung auch seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1833/34) zugrunde gelegt.18 „Wie damals der Mönch“, also Luther, schreibt Marx, „so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt“; Luther habe „den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat“, womit der Protestantismus zwar „nicht die wahre Lösung“, aber doch „die wahre Stellung der Aufgabe“ sei (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 177). In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) wird dann – unter Verweis auf Friedrich Engels – eine Parallele zwischen Luther und Adam Smith konstruiert; letzterer habe den Menschen „selbst in der 17  Vgl. Andreas Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015. 18  Vgl. Andreas Arndt, „Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel“, in: Michael Hackl, Christian Danz (Hg.), Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, Göttingen 2017, 77–92.

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Bestimmung des Privateigenthums wie bei Luther der Religion gesezt […]. Unter dem Schein einer Anerkennung d[es] Menschen, ist also die Nationalökonomie, deren Prinzip die Arbeit, vielmehr nur die consequente Durch­ führung der Verläugnung des Menschen“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 384). Wie Hegel in Luther eine noch defizitäre Annäherung an das Prinzip der individuellen Freiheit sah, so folgert auch Marx aus der Bestimmung des Menschen als Privateigentümer keineswegs, dass der bourgeois in ein Kollektivwesen umgeschmolzen werden müsse, sondern dass die Persönlichkeit des Menschen jenseits seiner entfremdeten Gestalt als Privateigentümer zur Geltung zu bringen sei. Ausdrücklich polemisiert er gegen den „rohen Communismus“, der „die Persönlichkeit des Menschen überall negirt“ und damit „eben nur der consequente Ausdruck des Privateigenthums, welches diese Negation ist“, sei (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 387). Marx hält, mit leicht veränderten Bestimmungen, an diesem von Hegel übernommenen Formular einer Freiheitsgeschichte fest, in der das Bewusstsein der individuellen Freiheit das zu realisierende Ziel vorgibt. In den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) etwa wird der Kapitalismus als faktische Negation der individuellen Freiheit durch sach­ liche Abhängigkeiten kritisiert.19 Der bei Hegel stark gemachte Bezug auf das Christentum als Bestandteil der Freiheitsgeschichte entfällt dabei (erst der späte Engels wird 1894 eine solche Beziehung wieder andeuten20); 1843 jedoch, in seiner Polemik gegen Bruno Bauers Thesen zur „Judenfrage“, übernimmt Marx die Hegelsche Auffassung vom Weltlichwerden des religiösen Prinzips, wenn er schreibt: „Der religiöse Geist kann nur verwirklicht werden, insofern die Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, deren religiöser Ausdruck er ist, in ihrer weltlichen Form heraustritt und sich konstituiert. Dies geschieht im demokratischen Staat“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 154). Und weiter: „nicht der sogenannte christliche Staat, der das Christenthum als seine Grundlage, als Staatsreligion bekennt […] ist der vollendete christliche Staat, sondern vielmehr der atheistische Staat, der demokratische Staat, der Staat, der die Religion unter die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweist“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 151). Dies entspricht im Kern der 19  „Nicht die Individuen sind frei gesezt in der freien Concurrenz; sondern das Capital ist frei gesezt. […] Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornirten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Capitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen“ (MEGA2, Abt.  II, Bd. 1,2, 533–537). 20  Vgl. Friedrich Engels, „Zur Geschichte des Urchristentums“, in: MEW 22, 447–473.



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Hegelschen Auffassung in der Erläuterung zum § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, wo es heißt, es sei „die kirchliche Trennung“, also die Konfessionalisierung, kein „Unglück“ für den Staat, denn „nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit“ (GW 14/1, 223) – also die Trennung von Kirche und Staat. Bei alledem besteht Marx auf einer Negation der Religion, welche die Religion als solche „vernichtet[…]“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 411). Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine Vernichtung des religiösen Bewusstseins durch Religionskritik, sondern darum, dem religiösen Bewusstsein die weltlichen Grundlagen zu entziehen. Deshalb ist für den jungen Marx auch der Atheismus nur ein Durchgangsstadium zur Aufhebung der Religion als solcher: „Atheismus ist eine Negation des Gottes und sezt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Socialismus als Socialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr […] Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 398). Der Atheismus sei „als Aufhebung Gottes das Werden des theoretischen Humanismus“ oder Vermittlung des Humanismus, aber erst „durch die Aufhebung dieser Vermittelung – die aber eine nothwendige Voraussetzung ist – wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 413). Dazu ist zweierlei anzumerken. Erstens: Der Atheismus ist noch theoretischer Humanismus, der erst zu realisieren ist; mit seiner Realisierung werden sowohl die Religion als auch seine theoretische Negation, der Atheismus, zum Verschwinden gebracht. Zweitens: Der notwendig aus der Vermittlung hervorgehende, aber dann positiv auf sich selbst begründete Humanismus lässt nicht Feuerbachs Emphase des unvermittelten Bruchs mit dem Alten wieder aufleben, sondern modelliert den „Communismus“ als den „durchgeführte[n] Naturalismus und Humanismus“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 295) nach dem Bild des Hegelschen Absoluten: als aus der Negation der Negation hervorgehende vermittelte Unmittelbarkeit. Die Kritik an Hegel besteht hier darin, dass dieser die Aufhebung der Vermittlung (bei Hegel: die Selbstbezüglichkeit des Wissens im absoluten Wissen der Phänomenologie bzw. des Begriffs in der logischen Idee) nur im abstrakten Denken vollziehe, dem als Träger statt des „wirklichen“ Menschen ein Subjekt als „Gott, absoluter Geist“ unterlegt werde: „Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden blos zu Prädicaten, zu Symbolen dieses verborgnen unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subject und Prädicat haben daher das Verhältniß einer absoluten Verkehrung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 2, 414). Die Behauptung, die absolute Idee trete an die Stelle des wirklichen Subjekts,

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findet sich auch noch im Kapital,21 jedoch ist das wirkliche Subjekt jetzt nicht mehr ein mit den Bestimmungen des Absoluten ausgestattetes Humanum, oder, anders gesagt: Der „Communismus“ ist nicht mehr unmittelbare Realisierung des Absoluten im Endlichen wie 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten.22 Marx’ These einer „Vernichtung“ der Religion im positiven, auf sich selbst gegründeten Humanismus hängt jedoch genau daran, dass das menschliche Selbstverhältnis in der Realität die vollständige Durchsichtigkeit des absoluten Wissens oder der absoluten Idee aufweist. Nur dann kann der Religion in der Realität vollständig der Boden entzogen werden. Feuerbach dagegen hatte der Religion ein bleibendes fundamentum in re zugesprochen: Religion sei das „Bewußtsein des Unendlichen […] als das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen, Wesen“ im Bewusstsein selbst (FGW 5, 29). Anders gesagt: Religion ist (wie auch die Philosophie) Überschreiten des Endlichen, das für die Menschen als endliche Wesen tatsächlich nur geistig vollziehbar ist. Marx hat, wie gesagt, seine Position, der Kommunismus sei die Realisierung des Absoluten auf Erden, sehr bald aufgegeben. Den Anspruch, den Himmel oder das Reich Gottes auf Erden realisiert wissen zu wollen, den auch sein Freund Heinrich Heine erhoben hatte, müsste er nach Hegel deswegen nicht aufgeben: es wäre aber nur eine depotenzierte Gestalt des im religiösen Bewusstsein ursprünglich Gemeinten. Hierzu hat Marx sich nach 1844 nicht mehr geäußert. Er hat sich ebenso mit dem spekulativen Gehalt des religiösen Bewusstseins, der Überschreitung der Endlichkeit der Individuen, nicht weiter auseinandersetzt, und auch die Philosophie nur noch im Rahmen empirisch-wissenschaftlicher Methodolgien zur Geltung bringen wollen. Seit der Deutschen Ideologie zeigt sich Marx an der traditionellen Philosophie ebenso desinteressiert wie an der Religionskritik, die von nun an kein Posten mehr in seinen intellektuellen Bemühungen ist; er wendet sich dort ausdrücklich gegen alle Versuche, „die nun bis zur Ermüdung durchgepeitschte Kritik der Religion als einer eignen Sphäre weiter auszubeuten“ (MEGA2, Abt. I, Bd. 5, 290). Marx’ weitere Haltung zur Religion ist schlicht Indifferenz. Weder sieht er in ihr noch kritische Potentiale wie 1843/44, noch hält er sie – im Gegensatz etwa zu Lenin – für eine durch atheistische Propaganda und ggf. Verbote zu 21  Vgl. MEGA2, Abt. II, Bd. 6, 709: „Für Hegel ist der Denkproceß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ 22  Vgl. Andreas Arndt, „… wie halten wir es nun mit der hegel’schen Dialektik? Marx’ Lektüre der ‚Phänomenologie‘ 1844“, in: Andreas Arndt, Ernst Müller (Hg.), Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, Berlin 2004, 245–255.



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bekämpfende Ideologie. Er glaubt jedoch noch immer, sie werde in Zukunft einfach verschwinden. In einem Interview mit der „Chicaco Tribune“ äußerte er sich im Dezember 1878 wie folgt: „Wir wissen, daß Gewaltmaßnahmen gegen die Religion unsinnig sind. Nach unserer Auffassung wird die Religion verschwinden in dem Maße, wie der Sozialismus erstarkt“ (MEW 34, 514).23 In der englischen Fassung des Interviews ist, im Unterschied zum deutschen Text in den von der SED verantworteten Marx-Engels-Werken, in diesem Zusammenhang aber ausdrücklich von der Religions- und Wissenschaftsfreiheit als Ziel des Sozialismus die Rede.24 Dies ist Marx’ letztes Wort in Bezug auf die Religion.

23  „You and your followers, Dr. Marx, have been credited with all sorts of incendiary speeches against religion. Off course you would like to see the whole system destroyed, root and branch.“ „We know,“ he replied after a moment’s hesitation, „that violent measures against religion are nonsense; but this is an opinion: as socialism grows, religion will disappear. Its disappearance must be done by social development, in which education must play a part.“ 24  URL: https://www.marxists.org/archive/marx/bio/media/marx/79_01_05.htm (abge­rufen am 13.2.2023)

Epistemische Freiheit und ihr Anderes im Ausgang von Kierkegaard1 Simone Neuber (Jena/Tübingen)

I. Landschaften der hier relevanten Unfreiheit Nicht immer verhalten wir uns frei zu dem, was der Fall ist. Manchmal üben wir uns in Wunschdenken oder in Selbsttäuschung, mitunter ist unsere Offenheit durch externe Faktoren beeinträchtigt: Wir sind Opfer von Manipulation oder in umfassende Verblendungszusammenhänge eingesponnen. Es sind Sachverhalte wie diese, die ich im Folgenden als das Andere epistemischer Freiheit verstehen will. Epistemische Freiheit wird – im Gegenzug – als die hinnehmende und verstehende Offenheit für das, was der Fall ist, verstanden. Sie ist die Freiheit-für, die uns erlaubt, etwas, das sich zeigt, so wie es sich von sich selbst her zeigt, gelten zu lassen (um hier Heidegger zu paraphrasieren).2 Epistemisch unfrei kann man für Beliebiges sein. Blicken wir auf die g­ egenwärtige Debatte um Selbsttäuschung, so führt sie uns ein breites Panorama an Szenarien vor Augen, die je Gegenstand einer Selbsttäuschung (sprich: einer motivierten Nichtanerkennung von Sachverhalten) sein können: die Patientin, die sich bezüglich ihrer Heilungschancen etwas vormacht; die Ehefrau, die sich bezüglich der Treue des Ehemannes etwas vormacht; den Mitläufer, der sich vormacht, die menschenverachtende Bewegung sei doch nicht so ein großes Übel. Das Feld ist weit, auf dem wir uns etwas vormachen können. Und vormachen können wir uns auch vieles mit Bezug auf uns selbst. Manch einer meint, dass die Rede von einer Selbsttäuschung eigentlich überhaupt als eine Täuschung über sich selbst verstanden werden soll3 und nicht als eine rätselhafte Täuschung von sich selbst durch sich selbst.

1  Mein Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Förderung meiner Forschung zu Kierkegaard. 2  Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001 (im Folgenden: SZ), 34. 3  So etwa ein Vorschlag von Holton, vgl. Richard Holton, „What is the Role of the Self in Self-Deception?“, in: Proceedings of the Aristotelian Society, 101, 2001, 53–69.

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Der (philosophischen) Tradition sind derartige Phänomene vertraut, sowohl sofern ein Problem der Selbsterkenntnis in Frage steht als auch ein Problem für Erkenntnisse, die nicht Selbsterkenntnisse sind. Dabei erkennt sie an, dass bisweilen eher subjektive Faktoren die freie Sicht verstellen (in der Rede vom „Wunschdenken“ ist dies programmatisch), dass diese aber auch durch subjektexterne Zusammenhänge und Strukturen verstellt sein kann. Die Rede von „Verblendungszusammenhängen“ trägt dem Rechnung. Dass sich jemand (aktiv) etwas bezüglich eines Sachverhalts vormacht (bzw. sich betrügt), kommt hier als passende Rede an eine Grenze. Die Illusionsgeneratoren operieren hier jenseits der aktiven Einflussnahme des Einzelnen, und ihre Etablierung ist auch nicht durch ein Begehren, sich verführen zu lassen, bedingt. Wenn man Kierkegaard der existenzphilosophischen Tradition zuschreibt oder gar als einen ihrer Vordenker und Wegbereiter betrachtet, dann steht damit eine Tradition in Rede, die – zumindest in vielen ihrer Ausprägungen – ein Problem der Unfreiheit für sich selbst akzentuiert. Man denke an Heideggers Ringen um eine „Eigentlichkeit“, die einer Selbstflucht vor der eigenen „Nichtigkeit“ und Verantwortlichkeit abgerungen wird. Man denke an Sartres Ringen um eine authenticité, die an die Stelle einer umfassenden mauvaise foi treten soll, in welcher gleichfalls eine fundamentale Nichtigkeit bzw. die néant-Struktur des Bewusstseins geflohen und verleugnet wird. Dass Heideggers Denken (und über Umwege auch Sartres) unter anderem durch die Auseinandersetzung mit dem Selbst-Flucht-Theoretiker Augustinus ausgeprägt wurde, scheint in diesem Kontext an vielen Stellen durch. Denn auch bei ihm wird eine fundamentale Nichtigkeit (alias Verkehrtheit alias Sündhaftigkeit) geflohen, obschon die sie überwindende „Eigentlichkeit“ dann den Namen des Glaubens trägt. Nicht minder geflohen wird Nichtigkeit (bzw. „son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide“, L6224) bei Blaise Pascal, bei dem die Flucht dann den Namen der Zerstreuung (divertissement) trägt, deren Schwinden bekanntlich den Einzelnen in eine fundamentale Krise stürzt. Seine Reflexion auf das Unvermögen, in plötzlicher Ruhe in einem Zimmer zu sitzen (vgl. L136), ist vielzitiert. Gerade weil Kierkegaard so oft vor dieser Tradition situiert wird, lohnt es sich, dem Profil, das in ihr die Unfreiheit für sich annimmt, genauer nachzusinnen, was ich im Folgenden tun will. Hierfür erinnere ich (mit besonderem Fokus auf Sartre und Heidegger) an einige Grundzüge, welche diese Unfreiheit für sich selbst aufweist, um mich dann Kierkegaard zuzuwenden. Bei 4  „L“ steht für die Fragmentnummer nach der Zählung von Lafuma, vgl. Blaise Pascal, Pensées, Éd. par Louis Lafuma, Paris 1951 (vgl. auch OEuvres complètes, Paris 1904–1914).



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diesem akzentuiere ich einen Punkt, durch den er sich von der skizzierten Tradition unterscheidet, um dann eine Art aufzuweisen, wie er therapeutisch diesem Moment zu begegnen versucht.

II. Eine Unfreiheit-für-sich der existenzphilosophischen Tradition Leser von Heideggers Sein und Zeit und von Sartres Das Sein und das Nichts werden – das wurde angedeutet – mit einer umfassenden Anthropologie der Flucht konfrontiert. Die Annahme einer „Flucht des Daseins vor ihm selbst“ (SZ 184) prägt Sein und Zeit so sehr wie Sartres Überlegungen in Das Sein und das Nichts.5 „Alles geschieht ja so, als wenn unser wesent­ liches, unmittelbares Verhalten […] die Flucht wäre“ (SN 109). Unfreiheit für sich kommt hier also in Gestalt einer fluchtartigen Abwendung von sich. In diesen Flucht-Anthropologien sind einige Punkte bemerkenswert. Mit ihrer folgenden Anführung wird nicht beansprucht, dass sie nur für diese Tradition verbindlich sind. Doch sind sie typisch für sie. Daher sollen sie genannt werden, nämlich erstens die Verquickung einer motivierten (also auf ein subjektives Begehren verweisenden) Selbstverblendung mit einer strukturellen; zweitens die Reflexion auf ein theoretisches Erfordernis der sinnvollen Rede von einer Selbstflucht, was einen Rekurs auf Gefühle bzw. Stimmungen nach sich zieht; drittens eine hypostasierte Spannung des flüchtigen Daseins – und viertens die Krisenhaftigkeit einer Flucht-Unterbrechung. Als einen fünften Punkt möchte ich noch einen therapeutischen Zug festhalten, den zumindest Heidegger und Sartre mit ihren theoretischen Analysen verbinden. 1.  Selbstverblendung als Begehren und Produkt der Umstände: „Das Inder-Welt-Sein ist an ihm selbst versucherisch“ (SZ 177), schreibt Heidegger, um anzusprechen, dass er eine subjektiv motivierte („Wunschdenken“ etc.) Selbstverblendung nicht als Alternative zu einer strukturell bedingten („Verblendungszusammenhang“ etc.) verstehen will. Bei Heidegger – und das gilt auch für Jean-Paul Sartre oder die in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Theoretiker Blaise Pascal oder Pierre Nicole – treibt zwar in der Tat etwas „an uns“ davon weg, den Blick auf uns selbst zu wenden (Heidegger und Sartre nennen es Angst, Pierre Nicole und Blaise Pascal machen dafür ein nicht weiter benanntes Gefühl der Nichtigkeit geltend), doch resultiert diese Flucht vor je sich selbst einfach nur darin, dass man sich etablierter 5  Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, herausgegeben von Traugott König, deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Hamburg 2001 (im Folgenden: SN).

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Einrichtungen und Denkformen bedient, denen dann von Seiten des Theoretikers beigemessen wird, eine Art der entlastenden und verdeckenden Weltund Selbstsicht bereitzuhalten. Entsprechend gilt: Das hier flüchtige Dasein muss seiner nicht erst ansichtig werden und dann nach Fluchtorten suchen. Es hat sie immer schon gefunden und ist daher durch sie auch strukturell verblendet. Genuine Selbsterkenntnis ist nur sekundär. Das „Man“, so schreibt Heidegger, habe über das nächste faktische Seinkönnen des Daseins – die Aufgaben, Regeln, Maßstäbe, die Dringlichkeit und Reichweite des besorgend-fürsorgenden In-derWeltseins – je schon entschieden. Das Ergreifen dieser Seinsmöglichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen. Das Man verbirgt sogar die von ihm vollzogene stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Wahl dieser Möglichkeiten. Es bleibt unbestimmt, wer ‚eigentlich‘ wählt. (SZ 268)

Ähnliches gilt für Sartre: Für ihn hat sich das flüchtige Subjekt immer schon auf eine Welt hin entworfen, welche „Geländer gegen die Angst“ (SN 108) bereithalte – etwa in Gestalt expliziter und impliziter normativer Strukturen, an die man sich – ohne nach den Fundamenten ihrer Geltungsmacht zu fragen – hält: Die rote Ampel mahnt zum Anhalten, der Wecker mahnt zum Aufstehen. „Die Gegenstände sind stumme Forderungen“ (SN 1070), so schreibt Sartre, und wir üben uns immer schon in einem „passive[n] Gehorsam“ (ebd.). Das Problem: Die eigene Subjektivität als (wie Sartre meint) Grund aller Normen komme so im präreflexiven Vor-sichHinleben nicht in den Blick. Sie bleibe verborgen, indem man sich in vermeintlich geltende Raster fügt. Ist damit der für Sartre prävalente Verdeckungsmodus des präreflexiven Lebens angesprochen, so wird dieser von einem reflexiven Verdeckungsmodus flankiert, welcher die Hoffnung falsifiziert, dass die Reflexion ein Selbst­ ermächtigungsheilmittel darstellen könnte. Diese jedoch ist, wie Sartre notiert, zunächst „unrein“. „Unrein“ sei sie, da man sich zunächst aus der Perspektive eines Gegenübers zum Thema mache, um dabei als dieses bestimmte Subjekt mit diesem Charakter und diesen Eigenschaften zum Thema zu werden. Das Problem dieser Sichtweise ist für Sartre nicht ihre Inkorrektheit, wohl aber ihre Einseitigkeit. So nämlich werde ausgeblendet, dass Bewusstsein „immer etwas anderes [ist] als das, was man von ihm sagen kann, denn zumindest ist es das, was dieser Benennung entgeht, was schon jenseits des Namens ist, den man ihm gibt, der Eigenschaft, die man ihm zuerkennt“ (SN 763). Was manch einer als Ideal der Selbsterkenntnis preist, wird von Sartre also als Weise verstanden, sich in der Reflexion einseitig und verschleiernd zu repräsentieren. Mauvaise foi nennt Sartre das Bewusstsein, das sich in einem solchen Dunst bewegt.6



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2.  Von der Vertrautheit dessen, dafür wir je nicht offen sind: Unfreiheitfür vollzieht sich nach dieser Tradition als motivierte Hingabe-an bzw. zugespitzter: als Flucht-vor-sich (bzw. einer fundamentalen Bestimmung von sich) und als Flucht-in eine bestimmte (entlastende und verdeckende) Auslegungsstruktur. Damit ergibt sich für diese Tradition eine strukturelle Herausforderung, die mit der Rede einer (motivierten) Flucht-vor verbunden ist. Von dieser scheint nämlich nur dort sinnvoll die Rede zu sein, wo das Geflohene irgendwie als meidenswert bzw. fliehenswert bzw. bedrohlich vertraut ist, so dass diese Vertrautheit die Flucht allererst motiviert und dynamisiert. In den Worten von Pierre Nicole:7 „[O]n ne dit pas qu’un homme [évite et fuit quelque chose] lorsqu’il y en a une qu’il n’a jamais vue, & à laquelle il n’a jamais pensé“ (TGG-1, 122). Oder, wie es Heidegger ausdrückt: „nur sofern Dasein ontologisch wesenhaft durch die ihm zugehörende Erschlossenheit vor es selbst gebracht ist, kann es vor ihm fliehen“ (SZ 184). Damit ergibt sich die theoretische Aufgabe, die relevante Vertrautheit einzuholen, und zwar so, dass sie mit der gleichfalls behaupteten epistemischen Nicht-Offenheit für das Geflohene kompatibel ist. Gelöst wird sie typischerweise durch einen Rekurs auf Gefühle bzw. Stimmungen. Ihnen wird eine Art des vernehmenden Zugangs zugeschrieben, der keine erkennende Selbstbezugnahme darstellen soll und dem teils bescheinigt wird, überhaupt über das vernehmend hinauszugehen, was in der erkennenden Selbstbezugnahme erfasst werden kann. So führt Heidegger Stimmungen als eine Art der (Selbst-)Erschlossenheit ein, die weder unmittelbar aussagbare Überzeugungen nähre8 noch überhaupt in diesen aufgehen könne.9 Nach Sartre ist die relevante Vertrautheit zwar am Ursprung allen (aussagbaren) Wissens, stellt 6  Nietzsches Problematisierung „der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ‚Subjekt‘ versteht und mißversteht“ (Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin/New York 1988, 279), so dass hinter bloßer Kraftäußerung ein Etwas hypostasiert wird, das sich hierbei je äußert und dem die Äußerung prima facie zuschreibbar ist, mag hier gleichfalls genannt werden. Dass „‚der Täter‘ […] zum Tun bloß hinzugedichtet [ist]“, während „das Tun […] alles“ (ebd.) ist, ist hier zumindest auch Artefakt einer bestimmten Sprechweise, die bei Nietzsche allerdings keinen Durschlag gewinnen könnte, wenn sich das „Ressentiment“ nicht ihrer so gerne bedienen würde. 7  Pierre Nicole, Traité de la Grace Générale, Tome I & II, o. O.: 1715 (im Folgenden: TGG). 8  „Erschlossenheit besagt nicht, als solches erkannt [sein]“ (SZ 134). „Man würde das, was Stimmung erschließt und wie sie erschließt, phänomenal völlig verkennen, wollte man mit dem Erschlossenen das zusammenstellen, was das gestimmte Dasein ‚zugleich‘ kennt, weiß und glaubt“ (SZ 135). 9  Wie Heidegger betont, tragen „die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens viel zu kurz […] gegenüber dem ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das Dasein vor sein Sein als Da gebracht ist“ (SZ 134).

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aber selbst keinen solchen artikulierbaren Wissensbestand dar (vgl. etwa SN 157). Der schon genannte Pierre Nicole wiederum bemüht pensées senties, um besagte Vertrautheit zu fundieren. Abgehoben wird dabei auf Gedanken, durch die man mit etwas vertraut sei, aber „keine distinkte, greifbare und geformte Idee“ (vgl. TGG-2, 463) habe. Aufgrund der Art der Gegebenheit soll fundiert werden, dass das So-Vertraute nicht in einen offenen Konflikt mit dem tritt, was als verkehrtes Selbstbild je genossen wird. Mehr noch sind Heidegger, Sartre und Nicole der Ansicht, dass diese gefühlte Vertrautheit die Hingabe an Entlastendes allererst anleitet. Gefühle bzw. Stimmungen haben dergestalt die doppelte Funktion, nicht nur eine Erschlossenheit der eigenen Nichtigkeit zu leisten, sondern zugleich auch das Sich-Halten an die (das Erschlossene und die erschließende Angst zumal) verdeckenden Auslegungsraster attraktiv zu machen. 3. Eine spannungsvolle Existenz: So dunkel damit die konkrete Gestalt der relevanten Gefühle bzw. Stimmungen auch bleibt, klar ist, dass diese Tradition das für sich unfreie Subjekt als Schauplatz einer Disharmonie skizziert. Sie etabliert sich zwischen dem, wie die eigene Verfasstheit – zur Nichtanerkennung ihrer treibend – je erschlossen wird, und dem, wie und als was sie je anerkannt wird. Unfreiheit-für ist also spannungsvoll, wenn auch nicht als doxastischer Konflikt (Stimmung erschließt ja auf eine Weise, die einen solchen nicht fundiert), sondern als Diskrepanz zwischen vorthematischer Vertrautheit und thematischem Selbstbezug. Der Einzelne verstrickt sich weniger in Widersprüche, als er sich viel eher untreu wird. Ist die relevante Unfreiheit derartig spannungsvoll, so ist die mit ihr alternative Freiheit zugleich als eine markiert, die besagte Spannung tilgt, mithin vorthematische Selbstvertrautheit und thematisches Erschließen (und die daraus angeleitete praktische Selbstbestimmung) gleichsam versöhnt. Schon auf dieser Ebene bedeutet die Beseitigung der Unfreiheit-für also eine Art der Existenzrevolution. Sie bedeutet eine solche umso mehr, als mit dem, was je vertraut ist, der Horizont der praktischen Selbstbestimmung in Rede steht. Die für sich freie Existenz ist damit nicht nur eine jenseits besagter Spannung, sondern auch eine, die sich ihr-selbst-gemäß praktisch verhält. Heidegger spricht bekanntlich von einer eigentlichen Existenz, Sartre von einer authentischen, Nicole steht in einer Tradition, die als den der eigenen Nichtigkeit adäquaten Selbstvollzug letztlich die Hingabe an den Glauben annimmt. 4. Von der Krise der endenden Flucht: Sofern besagte Versöhnung ein Geltenlassen des je Erschlossenen impliziert, das je Erschlossene zunächst aber als bedrohlich, belastend, beängstigend usf. erschlossen war, bedeutet für die Vertreter dieser Tradition das Geltenlassen zunächst eine Krisenerfahrung. Bei Heidegger zeichnet sich die Möglichkeit eigentlicher Selbstbestim-



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mung dort als Möglichkeit ab, wo in Angst (oder dem, was Heidegger als „Angst“ versteht) die Welt krisenhaft abgleitet. Bei Sartre tun sich Blicke auf die eigene existenzielle Verfasstheit auf, wo sich der Abgrund der eigenen Freiheit zeigt. Das heißt: Freiheit für sich beginnt als Grauen, und mindestens darin weisen diese Flucht-Geschichten auf den Boden zurück, aus dem sie nicht zuletzt keimen, nämlich auf Augustins Confessiones. Wo dort die Freiheit, sich selbst in den Blick zu nehmen, durch gnadenhafte Intervention etabliert wird, wird Augustinus – so macht er uns zumindest glauben – von einem blanken Schrecken erfasst, der so durchgreifend ist, dass er alles daran setzen würde, den neu geschenkten freien Blick sogleich wieder zu verschleiern, was er nur darum nicht kann, weil Gott ihn aufhält und ihn in seiner neuen Freiheit hält. „Und ich sah mich und erschrak, aber es gab nichts mehr, wohin ich hätte vor mir fliehen können“ („et uidebam et horrebam, et quo a me fugerem non erat“, conf. 8,16, CCL 27,123/5sq.10), glossiert er die Erfahrung. Kurzum: „Mir graut vor mir“ ist der Satz der Stunde, und mit ihm soll nochmals nachdrücklich beglaubigt werden, dass die bis dato waltende Unfreiheit wirklich in einem tiefen Begehren fundiert war, das jetzt noch seine Spuren zeigt. 5. Therapien: Einige verbindende Aspekte dieser Unfreiheits-Tradition sind damit umrissen, wenn auch mit dem Stichwort der „Gnade“ zugleich ein trennender Punkt benannt wurde. Denn ein Atheist wie Sartre wird für eine Existenzrevolution hin zur Authentizität so wenig auf eine göttliche Intervention hoffen, wie der Heidegger von Sein und Zeit dies bei seinem Eigentlichkeitsentwurf tut. Hier tun sich Differenzen auf. Besonders bei Heidegger zeigt sich, wie schwer er sich damit tut, genauer anzugeben, was die Flucht vor sich denn konkret durchbrechen kann.11 Insofern gibt es das Heilmittel eines flüchtigen Daseins für ihn wohl nicht. Doch spielt er unter anderem mit dem Gedanken, dass sein eigenes Schreiben eine therapeutische Wirkung entfalten könne, sofern es „Möglichkeiten ursprünglicheren existenziellen Verstehens“ (SZ 295) freilege. Sartre greift dies auf und führt es weiter, wenn er den theoretischen Entwurf, den er in Das Sein und das Nichts präsentiert, in eine existenzielle Psychoanalyse münden lassen will, welche das freigelegte malum dann heilt. Die Theoriebildung will hier auch therapeutisch sein. Und der Wunsch zur Therapie wird uns nun auch bei Kierkegaard begegnen, wenn auch in anderer Weise.

10  Die Übersetzung orientiert sich an Confessiones. Bekenntnisse, Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch, Stuttgart 2009. 11  Ich vertiefe dies in Simone Neuber, Selbstbetrug? Eine archäologische Spurensuche, Tübingen (in Vorbereitung).

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III. Kierkegaard und eine Unfreiheit für Wissens-Aneignung 1. Verortungen Kierkegaard steht der letzten Tradition so nahe wie fern. Auch ihn bekümmert eine aus Unfreiheit ausbleibende Existenzrevolution – jene, ein Einzelner zu werden –, wobei sich die Existenzrevolution der Einzelheit im Glauben vollzieht, genauer: als eine sich vor einem richtenden Anderen verantwortende Existenz. Auch für ihn hat diese Unfreiheit den Charakter einer Selbstverfehlung. Auch für ihn hat das beginnende Selbstoffenbarwerden zunächst einen krisenhaften Charakter. Ferner kennt auch eine fundamentale Angst, zu deren Aufgabenspektrum unter anderem gehört, „sophistisch“ (SKS 4, 417/BA, 118)12 das, wovor sie in Angst liegt, zu verkehren und zu verdecken, wodurch er Heidegger und Sartre auf seine Weise nahe steht. Und schließlich arbeitet auch er sich an einer Spannung ab, die das Dasein der Unfreiheit prägt. Und dennoch weht uns aus Kierkegaard ein anderer Wind entgegen als aus der oben genannten Tradition. Das dort prominente Motiv einer Flucht vor dem doch irgendwie Vertrauten durch eine es verdeckende Auslegung ist für Kierkegaard nicht das zentrale Kümmernis. Ihn bekümmert nicht eine Flucht, die sich an der Schwelle von vorthematischer Vertrautheit und dieser nicht-reflektierender thematischer Bezugnahme ereignet. Ihn bekümmert die Beobachtung, dass – im Gegenteil – den von ihm in den Blick genommenen Selbstverfehlern oft sehr viel korrektes Wissen zuzuschreiben ist (auch sehr viel korrektes Wissen über sich selbst), welches aber existen­ ziell brachliegt. Anders gesagt: Wer gefragt wird, wie es um ihn steht, ist bei Kierkegaard oft in der Situation, wortreich viel Korrektes hersagen zu können. Aber all das Wissen steckt im Kopf und bildet sich nicht im Lebensvollzug ab. Ihm fehlt die Aneignung. Sein Inhaber ist so zwar in der Lage, „über jedwedes Ding viel zu sagen“ (SKS 4, 323/BA, 13), er verpasst es jedoch, das „Hinweisende darin … [zu] versteh[en]“ (SKS 4, 442/BA, 148), um „sich selbst [zu] verstehen in dem Gesagten“ (ebd.).

12  Ich zitiere Kierkegaard nach SKS und nach Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Gütersloh 1986 ff. Die Abkürzungen der Werktitel entsprechen den Üblichkeiten: BA: Der Begriff Angst KT: Die Krankheit zum Tode AUN 1–2: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken W: Die Wiederholung SLW: Stadien auf des Lebens Weg 2R44: Zwei erbauliche Reden 1844 WS: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller



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Stellen Sartre und Heidegger damit eine Zerrissenheit in den Vordergrund, die sich zwischen vorthematischer Selbsthabe und thematischer Selbstthematisierung (und daraus erwachsenden Formen praktischer Weltorientierung) abzeichnet, so geht es Kierkegaard zumindest auch um eine Zerrissenheit zwischen sehr wohl waltender theoretischer Durchdringung und deren fehlender Resonanz in der Praxis. Die Einsicht artikuliert sich in Thesen wie jener, dass Verstehen und Verstehen zweierlei seien (SKS 11, 203/KT, 90) – oder in jener, dass es ein Wissen gebe, das ein Pathos der Worte (vgl. SKS 7, 352/AUN 2, 92) anrege, ohne in „das existenzielle Pathos“ (ebd.) umzuschlagen, das sich „dadurch ergibt, dass die Idee sich zur Existenz des Individuums umschaffend verhält“ (ebd.). Kurzum: Ihn bekümmert, „dass all dies Wissen und Verstehen schlechterdings keine Macht über das Leben der Menschen übt, dass dies ihr Leben auch nicht im entferntesten ausdrückt, was sie verstanden haben, sondern eher das gerade Gegenteil“ (SKS 11, 203/ KT, 89 f.). Heidegger und Sartre also kämpfen mit dem Problem, dass das vorthematisch Erschlossene keine Macht über das Dasein hat, bzw. nur insofern eine Macht entfaltet, als es zu einer ihm nicht-entsprechenden Existenz führt. Kierkegaard kämpft mit dem Problem, dass Verstandenes und Hersagbares keine Resonanz in der Lebenspraxis hat. So sehr beide Probleme damit verbunden sind, einer Verstandenem entsprechenden Existenz Raum zu schaffen, ist die therapeutische Stoßrichtung je eine andere. Sartre und Heidegger sind zunächst vor die Aufgabe gestellt, das je waltende Erschlossene theoretisch freizulegen (das wir zwar irgendwie kennen, um das wir aber ohne sie nicht wissen), um auf dieser Basis eine ihm entsprechende Existenz zu skizzieren.13 Kierkegaard dagegen ist vor die Aufgabe gestellt, resonanzloses Wissen zu problematisieren. Sollte er dies gut machen, dann ist klar, dass er sich nicht darum bemühen wird, uns nur mit neuen theoretischen Thesen über Probleme brachliegenden Wissens zu versorgen. Denn in seinem Raster können wir auch ihnen zustimmen, ohne daraus fürs Leben etwas zu lernen. Er muss uns stattdessen anders in ein neues Verstehen verführen. Über Kierkegaards therapeutische Methode wurde viel geschrieben. Es ist hier nicht der Ort, die Kontroversen hierüber zu rekapitulieren oder in sie einzusteigen. Auch will ich keine allgemeine These zu dieser verbreiten. Stattdessen will ich einen beschränkten Blick auf ein Werk werfen, das in besonders nachdrücklicher Weise die angesprochene Spannung bearbeitet, um uns versuchsweise in ein neues Verstehen zu verführen, nämlich auf 13  Heidegger benennt etwa Aufgabe, das Dasein auf seine Selbst-Erschlossenheit hin „abzuhören“ (SZ 139), mit dem Zweck, das je schon Verstandene als „[d]as, was sich [in ihnen] zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen [zu] lassen“ (SZ 34).

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Der Begriff Angst. Denn das Werk richtet sich vorbildlich an eine „von vielem Wissen verwirrte Welt“ (SKS 11, 205/KT, 92), indem es einen Verwirrten vor Augen führt, der erstaunlich viel mit uns selbst (sofern wir Lesende des Werkes sind) zu tun hat. 2. Die therapeutische Arbeit an unserer Unfreiheit für Wissens-Aneignung Kierkegaards 1844 publizierte Angst-Abhandlung gilt als eines seiner p­ hilosophischsten Bücher. Johannes Climacus, eines der Kierkegaard-Pseu­ donyme, nennt die Schrift ein wenig „dozierend“ (SKS 7, 245/AUN 1, 265), wohl angesichts der Tatsache, dass das Werk vor allem in der Einleitung und im ersten Kapitel vielfach höchst gelehrt und systematisierend verfährt. Vigilius Haufniensis, der Wachsame von Kopenhagen, dem diese Schrift in die Feder gelegt wird, strahlt also irgendwie gediegenes Wissen und Wissenschaft aus, wenn er die Angst für das Nachdenken über Schuld oder, theologisch gesprochen, Sünde fruchtbar macht. Er ist es, der uns als Paradebeispiel einer „von vielem Wissen verwirrte[n] Welt“ erscheinen wird. Doch müssen wir ihm im Verlauf der Lektüre erst auf die Schliche kommen, was das Werk so herausfordernd und spannend macht.14 Die titelgebende Angst spielt im Werk in zwei Kontexten eine Hauptrolle: einmal im ersten Kapitel und einmal im vierten. Im ersten Kapitel gilt das Augenmerk der Angst vor dem Fall. Sie wird hier als Moment einer Antwort auf die Frage nach einer psychologischen Plausibilisierung des Sündenfalls präsentiert, also als das, was den ursprünglichen Übergang von Unschuld in Schuld irgendwie nachvollziehbar macht. Ihr gilt meist das theoretische Interesse der Interpreten. Das Werk erscheint dann als theoretischer Entwurf zu einer ehrwürdigen philosophischen und theologischen Debatte. Ich werde auf den Beitrag, den Vigilius hier mit der Angst beizusteuern scheint, weiter unten inhaltlich eingehen. Doch zunächst zu einer zweiten Hauptrolle. Im vierten Kapitel hat die Angst nämlich nochmals einen großen Auftritt, und zwar in ihrer Gestalt nach dem Fall. Diese ist komplex. Vigilius nennt die eine Seite Angst vor dem Guten, die andere entsprechend Angst vor dem Bösen. Beide Gestalten – daher die Rede von zwei Seiten – sind zwar begrifflich gesondert beschreibbar, aber laut Vigilius in jedem Gefallenen koinstantiiert. Wir alle also liegen nach dieser anthropologischen Skizze in dieser komplexen Angst. In der 14  Die folgenden Überlegungen bewegen sich im Horizont dessen, was ich ausführlich dargestellt und begründet habe in: „Kierkegaards Begriff Angst als ‚gottesfürchtige Satire‘ “, in: Kierkegaard Studies Yearbook, 28, 2003, 29–58. Dort gehe ich, anders als hier, auch auf die Forschungsliteratur ein.



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Angst vor dem Bösen sind wir unfrei für dieses, in der Angst vor dem Guten unfrei eben dafür. Angst-vor ist, das macht Vigilius deutlich, zu lesen als Unfreiheit-für bzw. motivierte Unfreiheit-für. Was hat es mit dieser komplexen Angst auf sich? Wie ist sie bestimmt – und was hat all dies mit einem therapeutischen Schreiben für eine mit Wissen vollgestopfte Leserschaft zu tun? Ich bleibe bei den ersten Fragen und bewege mich langsam zur dritten. Was also hat es mit dieser komplexen Angst auf sich? Wie ist sie bestimmt? Angst vor dem Bösen nennt Vigilius jene Angst einer in Schuld verstrickten Faktizität, die sie unfrei dafür mache, die schuldhafte Faktizität als das gelten zu lassen, was sie ist. Diese Unfreiheit kann laut Vigilius drei Gestalten annehmen: eine Modalverkehrung der Faktizität, ihre Milderung durch eine bloß quantitative Betrachtung und eine Verkehrung der eigenen Ohnmacht angesichts ihrer. Betrachten wir dies genauer: In allen Varianten der Angst gilt diese der eigenen Faktizität als einer unberechtigten Wirklichkeit. Diese soll nicht sein – alle Varianten der Angst sind Manifestation unglücklicher Aufhebungsversuche, die durch das Selbstverständnis geprägt sind, dass aus der unberechtigten Wirklichkeit eine Aufgabe an je mich erwächst. Die Aufhebungsversuche der ersten Gestalt findet Vigilius darin, dass die unberechtigte Wirklichkeit bloß als Möglichkeit gelten gelassen wird, worin Vigilius eine kunstvolle Sophistik findet. Die Dynamik des „Falls“ werde dabei invertiert: Werde dort „aus der Möglichkeit der Sünde, psychologisch gedacht, die Wirklichkeit hervorbr[acht]“ (SKS 4, 417/BA, 118), so richte sich nun „die Angst auf die Wirklichkeit der Sünde, aus der sie sophistisch die Möglichkeit hervorbringt“ (ebd.). Die Reflexion auf die Sünde als Möglichkeit ist hier als Kind der Angst angedeutet. Ich komme darauf zurück. Doch zur zweiten Variante. Diese erkennt die Faktizität irgendwie an, ist aber unfrei dafür, sie als qualitative Totalbestimmung gelten zu lassen. Stattdessen richtet sich die Angst nach dem Motto: „schon schlimm, vielleicht bald schlimmer“ auf den bedrohlichen Kometenschweif, der kommen könnte, der aber das, was schon eingetreten ist, als doch vergleichsweise harmlos erscheinen lässt. „Alles nochmals gutgegangen“, mag diese Angst sich sagen – bislang. Doch sie erkauft dieses Glück damit, in eine bedrohliche Zukunft zu stieren. „Das Bewusstsein der Sünde tief und ernst bekundet im Ausdruck der Reue“ (SKS 4, 416/BA, 118) sei dieser Angst fremd. Sie ist absorbiert von einer vielleicht noch grauenvolleren Zukunft. Die dritte Variante kennt diese Absorption nicht. Ihr drängt sich die eigene Faktizität auf, und zwar in der Reue. Alles also richtig? Nein, denn auch liegt für Vigilius eine Unfreiheit vor, nämlich eine Unfreiheit für die dieser Fakti-

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zität angemessene Ohnmacht und Relationalität. Die Reue ist hier nicht ein Bereuen-vor-wem, es ist nur ein Bereuen-von-etwas. Die einzige Relation, die hier besteht, ist die zwischen Tat und der Reue als meiner Möglichkeit relativ zur Tat. Zu bereuen wird zu meiner privaten Aufgabe, die immer neu scheitert und dennoch immer neu versucht wird. Während in der Angst vor dem Bösen eine Wirklichkeit nicht als sie selbst gelten darf, wird die Angst vor dem Guten als eine Unfreiheit zu dem, was Erlösung und Befreiung bringen könnte, skizziert. Die „Zuflucht zur Erlösung“ (SKS 4, 426/BA, 129) wird dabei von Vigilius als eine jederzeit ergreifbare, sich gar aufdrängende Chance gedacht. Angst vor dem Guten nährt jene Dynamik, die Chance je neu zurückzuweisen. Die Rede von einer „Zuflucht zur Erlösung“ klingt nach Christus und Glaube und das nicht ohne Grund. Aber Vigilius schreibt als Psychologe und ist darauf bedacht, mitgehörte Töne in der Darstellung nicht auszusagen. Die in der Angst vor dem Guten suspendierte Zuflucht zur Erlösung können wir daher zunächst als etwas verstehen, was die drei Formen der Unfreiheit der Angst vor dem Bösen überwinden würde. Sie ist also die Verweigerung einer Zuflucht zu jenem erlösenden Selbstoffenbarwerden, das für Kierkegaard die notwendige Grundlage für das Ergreifen der Erlösung im theologischen Sinne darstellt.15 Für die erste Gestalt hieße Erlösung dergestalt: Statt der Flucht in die Möglichkeit wird die Faktizität der Schuld anerkannt: so bin ich. Für die zweite Gestalt hieße sie: Schuld wird als qualitative Totalbestimmung anerkannt und der Einzelne vom Blick auf eine vielleicht noch schlimmere Zukunft befreit: so bin ich, und es kann nicht schlimmer sein. Für die dritte Gestalt hieße sie: Reue wird nicht als meine Aufhebungsmöglichkeit verstanden. Verstanden wird viel eher, dass ich keine Aufhebungsmöglichkeit meiner Schuld habe. So bin ich, und es kann nicht schlimmer sein – und so recht gibt es da nichts für mich zu tun. Die erwähnte Krisenhaftigkeit des Selbstoffenbarwerdens zeichnet sich hier ab. Allerdings bringt die Angst vor dem Guten noch weitere Ressourcen mit, um das Selbstoffenbarwerden eines „so bin ich – schuldig und relativ dazu auch ohnmächtig“ von sich zu weisen, und zwar durch eine bestimmte Denkungsart, die diese Angst laut Vigilius prägt. Folgen wir ihm, dann hält diese Angst das aneignende Selbstoffenbarwerden nämlich auch dadurch auf Abstand, dass sie die eigene Situation gar nicht erst als Ergebnis eines jemeinigen Handelns deuten lässt, sondern als etwas, was irgendwie über einen kam. Wer in Angst vor dem Guten befangen ist, ist laut Vigilius also einer Diskontinuitätserfahrung preisgegeben, die es verunmöglicht, sich als Freiheit, die eine Geschichte hat, zu sehen. „Plötzlich kam es über mich“; „ich weiß gar 15  Nachdrücklich

etwa in SKS 20, 69, NB:79/DSKE 4, 75.



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nicht recht, wie mir geschah“ oder auch „diese Worte kamen einfach aus mir hervor“. All dies stellen sich so als Sätze der Angst vor dem Guten dar. Sie markieren für Vigilius, dass etwas da ist, „was die Freiheit nicht durchdringen will“ (SKS 4, 431/BA, 135). Wenn Vigilius überdies betont, dass „das Plötzliche seinen Grund stets in der Angst vor dem Guten hat“ (SKS 4, 431/BA, 135), dann deutet er an, dass es eine Erfahrung von Plötzlichem gibt, die genau in einer solchen Angst gründet. Sie fundiert ein sich selbst als sprunghaft erlebendes Leben, das – so meint er – künstlerisch als sprungreiches Ballett darzustellen wäre. Die Unfreiheit gefallener Subjektivität ist damit umrissen. Um zusammenzufassen: Sie flieht die eigene Wirklichkeit, indem sie diese nur als bloße Möglichkeit in den Blick nimmt, indem sie diese als vergleichsweise harmlos auffasst oder indem sie ohnmächtig die Reue als ihr Schicksal wählt. Ein Selbstoffenbarwerden bleibt aus, auch durch eine Denkungsart, die es nicht vermag, die eigene Existenz als ein Sich-Offenbaren zu verstehen – weder als eine Existenz, die vor einem Anderen (vor ihm bereuend) offenbar wird, noch als eine Existenz, in der sich immer wieder neu meine Wahlen, meine Entscheidungen oder meine Unterlassungen offenbaren. Eine anthropologische Skizze tritt uns hier entgegen, von der noch offen ist, was sie mit einem therapeutischen Verfahren gegenüber einer mit Wissen vollgestopften Leserschaft zu tun hat. Das zeigt sich nun. Die bisherige Skizze liefert Vigilius in Kapitel 4. Viel ist zuvor geschehen, unter anderem die von der Forschung meist fokussierten Kapitel 1 und die Einleitung, in der Vigilius Programm und Methode seines Werkes vorstellt. Sein Ziel sei eine Reflexion auf die Möglichkeit der Sünde, die er als Psychologe in den Blick nehmen wolle, also hinsichtlich ihrer disponierenden Voraussetzung zum Wohle einer psychologischen Plausibilisierung des Falles. Dass diese Möglichkeit nicht allen Disziplinen würdiger Gegenstand ist, erklärt Vigilius dabei ausdrücklich, doch lässt er sich aufgrund seiner Disziplinkultur davon nicht stören. Wir lesen: Ethisch gedacht, kommt natürlich die Möglichkeit der Sünde überhaupt nicht vor, und die Ethik lässt sich nicht narren und vergeudet ihre Zeit nicht mit solch einer Überlegung. Die Psychologie hingegen liebt sie, sitzt da und zeichnet die Umrisse nach und berechnet die Winkel der Möglichkeit, und lässt sich ebenso wenig stören wie Archimedes. (SKS 4, 330/BA, 20)

Wir erfahren hier: Einige Disziplinen haben laut Vigilius ein Problem damit, Sünde nicht als etwas stets Sich-Voraussetzendes zu betrachten. Die Psychologie aber fühlt sich von derartigen Selbstvoraussetzungsansprüchen dispensiert. Sie darf die Sünde als Noch-nur-Möglichkeit betrachten. Ich komme darauf und den ungestörten Archimedes zurück.

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Doch nun einige Worte zur Pointe des Rekurses auf eine Angst vor dem Fall. Der produktive Kerngedanke von Kapitel I ist durch folgende Überlegung geleitet: Wäre Unschuld so unschuldig, dass sie durch das, wodurch sie schuldig wird, nicht einmal angezogen ist, wird die psychologische Plausibilisierung des Falls unmöglich. Wer eine Art Ekel vor dem Bösen hat, wird es nicht anrühren. Unschuld muss also offen für das sie Verkehrende sein. Doch darf sie nicht so offen sein, dass man ihr eine verkehrte Lust auf das Böse zuschreiben kann. Sonst wäre investiert, was erklärt werden soll. Die zwei Hörner des Dilemmas sind damit umrissen. Vigilius versucht, durch sie zu navigieren, indem er sich für eine 50-50-Variante ausspricht. Unschuld ist von dem, wodurch sie schuldig wird, so angezogen, wie sie davon abgestoßen ist. Sie ist also maximale Unentschiedenheit, und eben eine solche nennt er Angst. Angst ist entsprechend definiert als „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie“ (SKS 4, 348/BA, 40), und sie ist genau und nur das. Vigilius macht sich viel Mühe damit, anhand der „Paradiesgeschichte“ nachzuerzählen, wie die Unentschiedenheit durch das Verbot und die Strafandrohung eine Art Steigerung erfährt, wenn auch relativ zu etwas, wovon die in Angst Lebenden keinen Begriff haben. Sie durchlaufen alles nur als Intensitätssteigerung, die irgendwann zur Entladung führt, die dann als „Sündenfall“ in die Geschichte eingeht. Weil sich in ihm aufgestaute Zweideutigkeit nur explosiv entlädt, hat er den Charakter eines Sprunges, der zwar als Freiheitstat ausgesagt wird, der aber dennoch, so macht Vigilius deutlich, wie eine Ohnmacht über den Einzelnen fällt. Vigilius schreibt: „Angst ist eine […] Ohnmacht, in der die Freiheit das Bewusstsein verliert, psychologisch gesprochen geschieht der Sündenfall stets in Ohnmacht“ (SKS 4, 366/ BA, 61); wie im „Schwindel [und vom Schicksal überwältigt] sinkt die Freiheit zusammen […] und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet, sieht sie, dass sie schuldig ist“ (SKS 4, 366/BA, 61). Angesichts der betonten Ohnmacht ist klar: Die hier ausgesagte Ambivalenz ist nicht so zu verstehen, als ob ein gewisser Widerwille das eigene Handeln nur begleitet – so wie ich vielleicht unwillig meine Fenster putze, aber weiß, dass es dringend getan werden muss. Bei Vigilius geht es um mehr: Ausgesagt ist hier ein Widerwille, der es unmöglich macht, als Urheber von dem, was aus der Wollensambivalenz hervorbricht, dabeizusein. Ein „Ich tue“ begleitet ein solches Hervorbrechen nicht. Erst nachträglich blickt der Hier-Aufwachende auf jene Ereignisse, die nun eben eingetreten sind. „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt“ (Röm 7,19 f.), schreibt der Apostel Paulus, um eine nicht parallele, aber verwandte Situation zu be-



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schreiben und um zum Ausdruck zu bringen, dass das, was in einem solchen Zustand widerwillig hervorbricht, doch eigentlich als notorisch fremd erlebt wird. Auch bei Kierkegaard (bzw. dem Pseudonym Constantin Constantius) finden wir Worte einer verwandten Fremdheitserfahrung (bzw. Befremdlichkeitserfahrung). In Die Wiederholung lesen wir: Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, dass ich schuldig ward? Oder bin ich etwa nicht schuldig? … Ist mir nicht einfach etwas zugestoßen, ist das Ganze nicht eine Widerfahrnis? Hätte ich vorauswissen können, dass mein ganzes Wesen eine Veränderung erfahren würde, dass ich ein anderer Mensch werden würde? Ist vielleicht etwa hervorgebrochen, was dunkel schon in meiner Seele lag? Jedoch, lag es im Dunkeln, wie hätte ich es dann voraussehen sollen? Konnte ich es aber nicht voraussehen, so bin ich ja unschuldig. Falls ich einen Schlaganfall erlitten hätte, wäre ich dann auch schuldig gewesen? (SKS 4, 68 f./W, 71 f.)

Der sich hier artikulierende junge Mann teilt mit Paulus, dass auch er ein Problem damit hat, Ereignisse mit einer bestimmten Kontur (bei Paulus: nicht willentlich herbeigeführte, beim jungen Mann: nicht wissentlich herbeigeführte) als eigene Handlung anzusehen. Stellt sich für Paulus das relevante Ereignis als fremd dar, ist dem jungen Mann eine Schuldzuschreibung, wenn etwas wie ein Schlag über ihn kommt, ungereimt. Wer das Unbehagen des Paulus und des jungen Mannes teilt (und warum sollte man das nicht tun?), muss staunen, warum der bei Vigilius nach dem Sprung Erwachende kein ähnliches Problem mit seiner höchstpersönlichen Schuld hat, sondern viel eher „sieht […], dass [er] schuldig ist“. Welches Verhältnis zu seiner eigenen Schuld und zu sich als verantwortlichem Akteur kann er denn haben? Die hier nahegelegte Bereitschaft zur Schuldübernahme hat Befremdungspotential. Noch mehr hat sie es, wenn wir das, was zu Kapitel 4 skizziert wurde, im Auge haben. Denn wenn Vigilius dort Triftiges über das Fungieren der Angst nach dem Fall entfaltet, dann wissen wir, dass das im Zitat Ausgesagte („sieht sie, dass sie schuldig ist“) gerade nicht bedeuten wird, dass die eigene schuldhafte Faktizität vom Erwachenden wirklich angeeignet wird. „Sieht sie, dass sie schuldig ist“ wird viel eher das bedeuten, was wir oben hörten: Der Erwachende wird sich entweder wie wahnsinnig in das vermeintliche Schicksal des Bereuens vertiefen, die eigene Schuld durch den Blick in eine vergleichsweise noch schlimmere Zukunft mildern oder die faktische Schuld sophistisch aufheben, indem er sie als bloße Möglichkeit betrachtet, aber als Faktizität von sich selbst fernhält. Überdies ist nach Kapitel 4 davon auszugehen, dass die Selbstbetrachtung als schuldig stets von einem Diskontinuitätsschema geprägt ist. Denn wie wir hörten, wird sich nach Kapitel 4 der Erwachende als jemand präsentieren, der ganz plötzlich und sprunghaft in das kam, in dem er nun ist. Schuld wird sich als etwas darstellen, was ihn

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wie ein Schicksal überfiel, während der irgendwie „Schuldige“ selbst ohnmächtig nur das begleitete, wodurch er schuldig wurde. Die Aussage, dass der So-Fallende in der Tat sieht, dass er schuldig ist, hat also ihr Befremdliches. Befremdlich ist, dass der ohnmächtig Fallende nicht Anstoß an seiner mutmaßlichen Schuldhaftigkeit nimmt. Es scheint fast so, als kümmere den, der sich hier als schuldig erlebt, gar nicht, wie diese Zuschreibung zu ihm und seinem Lebensvollzug passt. Sollte er sich Schuld zuschreiben, könnte dies eine Variante existenziell resonanzlosen Daher­ redens bedeuten. Allerdings kann man die Sache von einer zweiten Seite betrachten. Denn es ist ja nicht nur so, dass jener, der so fällt, ein Problem mit der Übernahme der eigenen Schuld haben wird, wenn er sich nicht mit einem existenziell resonanzlosen Daherreden bescheiden will. Wir wissen auch, dass nach Kapitel 4 jener, der tatsächlich ein Problem mit der Übernahme seiner eigenen Schuld hat, eine Skizze des Schuldigwerdens präsentieren wird, die ihm erlaubt, die eigene Schuld auf Abstand zu halten. Auch wissen wir aus Kapitel 4, dass ein Auf-Abstand-Halten unter anderem genau das bedeuten kann, was Kapitel 1 selbst vormacht. Denn hier wird ja Sünde als Noch-nur-Möglichkeit betrachtet. Überdies wird das Schuldigwerden so skizziert, dass das Nachdenken von dem von Kapitel 4 ausgesagten Diskontinuitätsschema geprägt ist. Alles kam letztlich nur wie ein Schicksalsschlag über ihn, den er ohnmächtig begleitete. Das sagt Kapitel 1 – nach Kapitel 4 redet aber genau so die Angst vor dem Guten. Durch die Skizze von Kapitel 4 gerät der theoretische Entwurf von Kapitel 1 in ein Zwielicht. Stimmt das dort Ausgesagte, müsste unser Theoretiker darauf reflektieren, was seine Diagnose einer gefallenen Welt mit seiner eigenen Skizze zu tun hat. Doch das tut er nicht. Damit haben wir eine zweite Grundgestalt existenziell brachliegenden Daherredens identifiziert. Vigilius beschreibt Sophistiken in Schuld verstrickter Faktizität ganz so, als ob sie mit ihm – der doch auch in Schuld verstrickte Faktizität ist – nichts zu tun haben. Er verpasst, sich selbst aus dem, was er über gefallene Subjektivität sagt, zu verstehen. Er versteht – und versteht doch nicht. Dass sich Vigilius, wie zitiert, in der Einleitung als eine Art Archimedes skizziert, der in der Hingabe an die Möglichkeit aufgeht und sich von seiner Faktizität nicht stören lässt (die ihm unter anderem Dogmatik und Ethik als vorauszusetzende entgegenhalten), wird spätestens hier vielsagend. Wer die Legende kennt (und Kierkegaard unterstellt diese Kenntnis sicherlich), weiß, dass das Bild der Ungestörtheit trügt. Was nicht stören sollte, störte dennoch und brachte Archimedes ums Leben. Archimedes ist, wie Kierkegaard anderweitig schreibt, jener, der „in seine Berechnungen vertieft, dasaß und nicht merkte, dass er erschlagen war“ (SKS 6, 441/SLW, 510); jener, der „[sein]



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Wohlbehagen ja dem Umstand [schuldet], dass [er] Mittel hat, mit denen [er] das Erschrecken fernhält“ (ebd.). Folgen wir der Selbstpräsentation des Vigilius als Archimedes, so ist nahegelegt, dass von dem, was Vigilius nicht stören soll (sprich: von der eigenen Faktizität), genau das gilt, was vom Soldaten der Legende nach gilt. Sie schlägt in ihrer Weise zu, die in Kapitel 4 skizziert wird. Sie schlägt zu, indem sie die eigene Faktizität nicht aneignen lässt. Als Leser:innen blicken wir auf diesen Archimedes von Kopenhagen mit Befremden – zumindest zunächst. Denn die problematische Hingabe an die Frage nach der Möglichkeit ist, recht betrachtet, ja nicht nur seine Sache. Wir teilen sie schon dann, wenn wir uns dem Buch mit theoretischem Interesse an seiner Fragestellung widmen – und wir teilen sie, wenn wir das theoretische Angebot kritisch würdigen oder auf Schellings, Kants oder wessen Skizzen sonst beziehen. Das heißt: Archimedes blickt zwar für sich allein in voller Hingabe auf die Möglichkeit der Sünde. Aber letztlich sitzen wir, indem wir an der ihn beschäftigenden Frage theoretisches Interesse nehmen, immer schon neben ihm. Der Aufbau der Kierkegaard’schen Schrift zieht uns also mit ins Bild. Das Befremden über Vigilius wird dann zum Befremden über uns selbst. Es gehe nicht darum, „durch müßige Reden den Menschen Stoff zu geben zu müßiger Überlegung, sondern [zu] begreifen[…], die Gefahr gehe [einen selbst] an“ (SKS 5, 187/2R44, 97), heißt es in einer Rede des Jahres 1844. Das können wir auch für Der Begriff Angst festhalten: „Der selbstvergessene Vigilius, der da sitzt und nicht merkt, dass er ‚erschlagen‘ wird, das bin ja ich“, ist der Krisensatz von Der Begriff Angst, wenn wir es als therapeutisches Werk lesen. Der Krisensatz unterscheidet sich von Aussagen wie „alle Menschen sind Sünder“ oder Selbstprädikationen wie „ich bin Sünder“, indem seine Artikulation von jener Ressource zehrt, um die es Kierkegaard geht. Aufgehen kann bei der Lektüre dieser Krisensatz einem nämlich nur dann, wenn man – jenseits aufsagbarer Wissensbestände – auf die eigene Lebensform reflektiert, um sich auf ihrer Basis in dem Verhalten des Vigilius zu finden. Genau darum ist das Verstehen durch eine beginnende Durchsichtigkeit der eigenen Existenz geleitet. In diese aber sollten wir hineinverführt werden.

Schluss Wenn sich hier eine freie Sicht auf sich selbst auftut, so ist sie durch das Werk angeleitet, aber nicht durch es erzwungen. Kierkegaard bleibt damit seiner Programmatik treu, dass es darum gehe, Leser:in dazu zu bringen, sich

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selbst in Freiheit „Einräumungen und Zugeständnisse vor Gott“ zu machen (SKS 13, 25/WS, 14). Wie eine Schrift als Hilfsmittel dazu dienen kann, wurde gezeigt. Wie sie damit im Dienst einer Freiheit zu sich selbst steht, gleichfalls. Dass diese Freiheit zu sich selbst nicht mit dem Gewinn neuer erzählbarer Wissensbestände einhergeht, hat sich ferner abgezeichnet. Im Grunde weiß Leser:in am Ende, was sie auch vorher wusste: Dass sie Sünder ist (Kierkegaard wird dies unterstellen); sie weiß es jetzt nur anders. Allerdings kann man nicht enden, ohne darauf zu reflektieren, dass sich bei diesem Neuverstehen auch der Schuldbegriff verschoben haben wird – und die ihm entsprechende Blickrichtung. Fiel beim theoretischen Entwurf von Kapitel 1 der Blick des Vigilius auf den Urstand, um in diesen eine Zwischenbestimmung einzuzeichnen, so leitet ein kurzer Passus die Blickwendung ein. Am Ende von Kapitel 1 nämlich heißt es en passant: „Wie die Sünde in die Welt gekommen ist, das versteht ein jeder Mensch einzig und allein aus sich selbst; will er es von einem anderen lernen, so wird er es eben damit missverstehen“ (SKS 4, 356/BA, 49). Der Satz lässt aufmerken. Einerseits, weil der Blick des Vigilius an keiner Stelle auf ihn selbst fällt, was sein Unterfangen nochmals diskreditiert. Zum anderen, weil er uns darauf verweist, dass wir von Vigilius (oder vom Urstand) über Schuld eigentlich nichts lernen, was wir nicht aus uns selbst heraus verstehen können. Schau auf Dich selbst ist die Aufgabe, die uns dieser Satz mitgibt. Was sehen wir, wenn wir auf uns selbst schauen? Wie zeigt sich hier Schuldigwerden? Bleiben wir bei dem Bild, das die Schrift uns mit Archimedes anbietet, so sehen wir, wie erwähnt, nicht nur Vigilius als faktizitätsvergessenen Archimedes. Wir sehen auch uns, die wir in unserer theoretischen Hingabe an den Text und seine Problematik neben Vigilius sitzen, um bei der Hingabe an die Möglichkeitsreflexion auch unserer eigenen Faktizität ein „Störe mich nicht!“ entgegenzurufen. Erhellt das aber ein Schuldigwerden? Für Kierkegaard ist das zu bejahen. Denn schuldig werden wir ja auch hier. Wir werden schuldig an unserer Faktizität; schuldig, weil wir uns nicht auf die Krise, vor die sie uns stellt, einlassen – und schuldig, weil wir uns so nicht auf das Gute einlassen, das sich erst auf Basis einer Krise als es zeigt. Damit verstehen wir uns aber in genau jenem Sinne als schuldig, den uns das Kierkegaard-Pseudonym Johannes Anti-Climacus fünf Jahre später explizieren wird. Für Johannes Anti-Climacus ist es verfehlt, als den relevanten Gegensatz der Schuld die Unschuld (oder die Tugend) anzunehmen. „Heidnisch“ habe das zwar sein gutes Recht, christlich aber nicht. Christlich sei der relevante Gegensatz: der Glaube (SKS 11, 196/KT, 81), womit sich – so legt sich nahe – zugleich die interne Struktur des Schuldigwerdens ändert. Da Glaube von Anti-Climacus nämlich als eine stets sich aufdrängende Chance gedacht



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wird, zieht man sich ihm zufolge Schuld genau dann – und zwar immer neu16 – zu, dann man sich vom Glauben und der ihm vorausgehenden Faktizitätsaneignung ausschließt. Schuldigwerden ist immer neuer Trotz gegenüber einer Existenzmöglichkeit. Schuldigwerden ist ein immer wieder neues „störe meine Gedanken und mein sonstiges Tun nicht“. Mit Bezug auf das Schuldigwerden schlägt uns Der Begriff Angst in seiner therapeutischen Dynamik also auch einen Bildwechsel vor, um über unser eigenes Schuldigwerden nachzudenken. Der Bildwechsel rückt unser Augenmerk ab von einer Urstandsreflexion und von der ihr zugehörigen Frage, wie Unschuld verlorengehen kann, wie Gutgeschaffenes doch böse werden kann, wie ein Wille sich verkehren kann usf. Er rückt es hin zu einem Selbstansichtigwerden seiner als einer Person, die sich Schuld angstvoll immer wieder zuzieht, weil sie immer wieder neu existenzvergessen agiert – und sich so immer wieder neu in eine Unfreiheit für das, was mit ihr der Fall ist, verstrickt.

16  „Ein jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist zurückzuführen auf die Möglichkeit, jeden Augenblick, den er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeltsein zu“ (SKS 11, 130/KT, 12).

Siglenverzeichnis * Kursive Hervorhebungen entsprechen dem Orginaltext, fette Hervorhebungen sind von dem/der Verfasser/in. AA: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. GA: Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Gespräch: Johann Gottlieb Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, StuttgartBad Cannstatt 1978 ff. GW: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff. TWA: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Frankfurt am Main 1969 ff. HV: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983 ff. Brief: Briefe von und an Hegel, Hamburg 1952 ff. JWA: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Hamburg 1998 ff. NS: Novalis Schriften, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1960 ff. KGA: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1958 ff. KFSA: Friedrich Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Paderborn/München/Wien/Zürich 1958 ff. HKA: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-Kritische-Ausgabe, StuttgartBad Cannstatt 1976 ff. SW: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, Stuttgart/Augsburg 1856–1861. FGW: Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, Berlin 1967 ff. MEGA2: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Berlin 1975 ff. MEW: Marx-Engels-Werke, Berlin 1958 ff. SKS: Søren Kierkegaards Skrifter, Copenhagen 1997 ff. DSKE: Deutsche Søren Kierkegaard Edition, Berlin/New York/Boston 2005 ff.

Autorinnen und Autoren Dr. Andreas Arndt, Professor emeritus an der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin Dr. Christoph Asmuth, Professor und Rektor der Augustana-Hochschule Neuendet­ telsau Dr. Tobias Dangel, Privatdozent am Institut für Philosophie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bürgermeister in Wilhelmsfeld Dr. Michael Hackl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Carolyn Iselt, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Dr. Veronika Klauser, Lehrbeauftragte und Studienberaterin an der berufsbegleitenden Fachhochschule FOM in Berlin Dr. Anton Friedrich Koch, Professor (im Ruhestand) am Philosophischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Ryu Okazaki, Overseas Postdoctoral Fellow der Japan Society for the Promotion of Science an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Taiju Okochi, Professor an der School of Letters der Universität Kyoto Dr. Simone Neuber, Privatdozentin am Institut für Philosophie der Friedrich-SchillerUniversität Jena und Forschungsstelle (Fritz Thyssen Stiftung) an der Ev. Theol. Fakultät der Universität Tübingen Dr. Michael Städtler, apl. Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Nachwuchsgruppenleiter an der School of Education der Bergischen Universität Wuppertal Dr. Klaus Vieweg, Professor emeritus am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Goran Vranešević, Assistant Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana Dr. Christine Weckwerth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften