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German Pages [622] Year 2023
COLLEGIUM METAPHYSICUM Herausgeber / Editors Thomas Buchheim (München) Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) Beirat /Advisory Board Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Douglas Hedley (Cambridge) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Friedrike Schick (Tübingen) · Rolf Schönberger (Regensburg) Eleonore Stump (St. Louis)
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J. Winfried Lücke
Religion und Denken Die Epistemologie religiöser Überzeugungen im Spätwerk G.W.F. Hegels
Mohr Siebeck
J. Winfried Lücke, geboren 1987; Studium der Philosophie und Germanistik; seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie III an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. ISBN 978-3-16-162335-6 / eISBN 978-3-16-162523-7 DOI 10.1628/978-3-16-162523-7 ISSN 2191-6683 / eISSN 2568-6615 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Danksagung Die vorliegende Studie stellt eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die im Frühjahr 2022 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde. Eine Studie dieser Art verdankt sich nicht nur der eigenen wissenschaftlichen Anstrengung und Arbeit, sondern auch der vielfachen Unterstützungen, Anregungen, Kommentare und der Kritik, die ich in den Jahren der Ausarbeitung von Kolleginnen und Kollegen, Verwandten, Freundinnen und Freunden erhalten habe. Ein besonders großer Dank gebührt in erster Linie meinen Betreuern Prof. Dr. Friedrich Hermanni und apl. Prof. Dr. Friedrike Schick, die mir nicht nur von Beginn an unermüdlich mit Rat und Tat und ihrer profunden Kenntnis des hegelschen Systems und der zeitgenössischen Philosophie und Theologie zur Seite standen. Sie haben mich stets darin bestärkt, Hegels sperrige Texte im Spiegel systematischer Problemstellungen und der analytischen Gegenwartsdebatten zu lesen und dabei auch nicht vor ungewöhnlich scheinenden Vergleichen oder Schlussfolgerungen zurückzuschrecken, wenn es die Sachlage erfordert. In den Seminaren und Gesprächen in Tübingen habe ich neben Bestätigung auch immer in beispielhafter Weise konstruktive Kritik erhalten. An dieser Stelle habe ich daher auch besonders Dr. Christan König, apl. Prof. Dr. Burkhard Nonnenmacher, dem viel zu früh verstorbenen Prof. Dr. Christoph Schwöbel sowie allen anderen Beteiligten am Tübinger systematisch-theologischen Forschungskolloquium für ihre zahlreiche Rückfragen und Kommentare meinen herzlichen Dank auszusprechen. Darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Anton F. Koch für die Übernahme des Drittgutachtens. Thesen und Überlegungen sowie frühere Fassungen von Teilen der vorliegenden Arbeit wurden in Kolloquien und Tagungen an den Universitäten in Leuven, Zürich, München, Jena und Bamberg vorgestellt. Zu danken habe ich vor allem Prof. Dr. Christoph Halbig, PD Dr. Jörg Noller, Prof. Dr. Christian Illies, Prof. Dr. Andreas Schmidt und Prof. Dr. Henning Tegtmeyer sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien für konstruktive Rückmeldungen, Fragen und Kommentare. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Tegtmeyer für die Unterstützung, die intensive Betreuung und wertvolle Gespräche zu Hegel und zur aristotelischen Tradition während meines Forschungsaufenthalts an der KU Leuven. Dr. Jeremy Hovda, Dr. Valerian Mendonca und Dr. Joris Spigt sei an dieser Stelle ebenfalls für ihre Unterstützung sowie ihre kritischen wie interessierten Fragen herzlich gedankt.
VI
Danksagung
Entscheidend profitieren durfte ich vom Meisterkurs Vernunft und Metaphysik bei Kant mit Prof. Dr. Marcus Willaschek in München im Februar 2019, in dem wir seine damals frisch erschiene und grundlegende Studie Kant on the Sources of Metaphysics über mehrere Tage hinweg diskutieren konnten. Meine eigenen Ausführungen zu Kant konnte ich so erproben und vertiefen, wofür ich Herrn Prof. Willaschek sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Kurs herzlich danke. Ein weiterer, besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Vittorio Hösle für die zweimalige Einladung an die University of Notre Dame und für die wertvollen Gespräche über den Neuplatonismus sowie die deutsche Tradition der Geschichtsphilosophie. Von der Professorenseite habe ich schließlich Prof. Dr. Jens Halfwassen meinen Dank auszusprechen, der mir noch vor seinem viel zu frühen Tod wichtige Anregungen zum Verhältnis zwischen Hegel und Boethius gegeben hat. Ein großer Dank gebührt ferner der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mir ein dreijähriges Promotionsstipendium gewährt hat und ohne deren finanzielle und ideelle Unterstützung ich große Teile der vorliegenden Arbeit weder konzipieren noch hätte schreiben können. Ferner danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für den Druckkostenzuschuss sowie den Mitherausgebern Prof. Dr. Thomas Buchheim und Prof. Dr. Axel Hutter für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe Collegium Metaphysicum. Meine Freundinnen und Freunde Charles Ducey, PD Dr. Marko Fuchs, Florian König, Jonas Leister, Dr. Hannes Gustav Melichar, Alisa Müller, Florian Neuner, Dr. Christoph Poetsch, Dr. Simon Schüz, Vitaly Wirthl und Dr. Manuel Zelger haben mich mit zahlreichen Korrekturvorschlägen, aufmunternden Gesprächen sowie kritischen Kommentaren gerade in den letzten Etappen der Dissertation und den allseits bekannten schwierigen Monaten des Jahres 2020 vielfach unterstützt. Auch ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Für Anregungen und kontroverse Diskussionen gerade in der Konzeption und Anfangsphase der Dissertation möchte ich mich zudem bei meinen Freunden und Weggefährten PD Dr. Stefan Gerlach, Dr. Friedhelm Meier, Dr. Gheorghe Pas¸cala˘u, Dr. Ermylos Plevrakis, Dr. Sebastian Stein und PD Dr. Roberto Vinco bedanken. Ebenso danke ich herzlich Rahel Gerrens, Mattis Oetelshofen, Robert Stenzel und Josia Nathanael Sturm für zahlreiche formale Verbesserungsvorschläge. Meiner geliebten Frau Dr. Johanna E. Blume schulde ich tiefe Dankbarkeit für ihre unermüdliche und intensive Unterstützung gerade in langen Durststrecken und besonders für die formalen Korrekturen meiner Texte – trotz bisweilen nachvollziehbarer innerer Widerstände gegenüber Hegels Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Ohne ihre Hilfe und ihr Verständnis für die Höhen und Abgründe des Promovierens wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.
Danksagung
VII
Zu guter Letzt danke ich von ganzem Herzen meinen Eltern Sybille und Dr. J. Christoph Lücke sowie meinen Geschwistern Dorothea, Ulrich und Jonathan Lücke für ihre Förderung, Zuwendung und durchgängige Unterstützung, ohne die dieses Buch niemals hätte entstehen können. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Tübingen, im November 2022
J. Winfried Lücke
Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen und zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Teil I: Religion, Glaube und Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung . . . . . . .
31
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
2.1 Die Natur epistemischer Bewertung und Hegels Begriff der ,Vernunft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
2.2 Die Momente des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands . . . . . . . . . . . . . .
73
4. Non-Kognitivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
4.1 Emotivismus und R. B. Braithwaites Non-Kognitivismus . . . . . . . . . . .
83
4.2 Funktionalistische Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
4.3 Abschlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
5. Typen der Basalitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
5.1 F.H. Jacobis starke Basalitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
X
Inhaltsverzeichnis
5.3 Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
Teil II: Denken in der Religion: Hegels Interpretation der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
1. Kantianismus und natürliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Exkurs: Hegels Verhältnis zur Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
163
2.1 Kurze Übersicht über Kants allgemeine Widerlegungsstrategie . . . . . .
163
2.2 Kants Thesen zum kosmologischen Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
208
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments . . . . . . . . . . . . .
226
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien und die rechtfertigungstheoretischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
263
3.1 Zwischen Physikotheologie und Moraltheologie: Kants Thesen zum teleologischen Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik und seine Bewertung des teleologischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz . . . . . . . . . . .
315
4. Das System der Gottesbeweise und die Bedeutung des ontologischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell . . . . . . .
346
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
355
4.3 Abschlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
390
5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Inhaltsverzeichnis
XI
Teil III: Denken, Vorstellen und Hegels Deutung der Religionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401
1. Einleitendes über einige Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423
3.1 Hegels allgemeine Charakterisierung der ,Vorstellung‘ . . . . . . . . . . . . .
424
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis . . . . . . . . . . . .
431
3.3 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
452
3.4 ,Vorstellung‘ und das Rechtfertigungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
4.1 Hegels ,kritischer Inklusivismus‘ und dessen epistemologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
465
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
4.3 Abschlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
493
5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
499
5.1 Hermeneutische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
499
5.2 Monismus und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
504
5.3 Die Personalität des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
513
5.4 Die Notwendigkeit der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
520
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes . . .
530
5.6 Christentum und spekulative Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
551
Schluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
557
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571
1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Texte von Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Weitere klassische Texte und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571 571 572
Texte zu Hegel und weitere Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
574
2.
XII
Inhaltsverzeichnis
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
601
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen und zur Zitierweise 1) Zur Zitierweise im Allgemeinen: Hegels Werke werden nach den Bänden der Gesammelten Werke (= GW) zitiert, die in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurden. Einige der Werke Hegels werden mit einer Sigle unter Angabe der Band- und Seitenzahl der GW zitiert, also z.B. WdL II, GW 12, S. 237 oder GVL, GW 18, S. 278. Bei den in Paragraphenform verfassten Werken wird zusätzlich die Paragraphenzahl angegeben und zitierte Anmerkungen zu Paragraphen werden mit dem Kürzel ,A‘ hinter der Paragraphenzahl gekennzeichnet, also z.B. Enz. § 50A, GW 20, S. 87 oder GPR § 124A, GW 14/1, S. 110. Für die Vorlesungszusätze wird auf die Werke in zwanzig Bänden (= TWA) zurückgegriffen, die auf der Grundlage der „Werke“ von 1832–1845 in der Redaktion von E. Moldenhauer und K. M. Michel herausgegeben wurden. Vorlesungszusätze werden dann mit dem Kürzel ,Z‘ hinter der Paragraphenzahl gekennzeichnet und unter Angabe der Band- und Seitenzahl der TWA zitiert, also z.B. Enz. § 213Z, TWA 8, S. 369. Manuskripte und Nachschriften von Hegels Vorlesungen werden, wenn nicht anders angegeben, mit einer Sigle und der Band- und Seitenzahl der Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte zitiert, also z.B. VPR 3, S. 141 f. (Auf die Bände der TWA wird nur bei Parallelstellen hingewiesen, etwa bei TWA 16.) Alle anderen Werke von Hegel, wie etwa kleinere Texte und Gelegenheitsschriften, werden ohne Sigle und nur unter Angabe der Band- und Seitenzahl der GW (z.B. GW 16, S. 201 f.) zitiert. Technische Ausdrücke Hegels, wie z.B. ,absolute Idee‘, und anderer Autoren werden mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet. Sperrdrucke in den zitierten Originaltexten werden kursiviert wiedergegeben. Die Werke von Platon und Aristoteles werden wie Thomas’ Summa theologica nach üblichen Standards zitiert. Angaben zu besonderen Zitierweisen bei den anderen Originaltexten finden sich im nachstehenden Siglenverzeichnis.
XIV
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen und zur Zitierweise
2) Verzeichnis der verwendeten Siglen: Im Haupttext werden folgende Siglen verwendet. Die genauen bibliographischen Angaben zu allen Texten sowie, bei fremdsprachlichen Texten, die Angaben zur verwendeten Übersetzung, sind unten in der Bibliographie aufgelistet. Mon. Pros. De an. Met. Poet. De ver. rel. TWA GW PhG GPR Enz. WdL I/1 WdL I/2
WdL II GVL VPK 2 VPR 3 VPR 4 VPR 5 VGP 9 VL 10 VPWG 12
VPhG 13
PhK
Anselm von Canterbury, Monologion. Anselm von Canterbury, Proslogion. Aristoteles, De anima. Über die Seele. Aristoteles, Metaphysik. Aristotles, Poetik. Aurelius Augustinus, De vera religione. Über die wahre Religion. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erstes Band. Die Lehre vom Sein (1832). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik. Zweites Buch. Die Lehre vom Wesen (1812/1813). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff (1816). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Daseyn Gottes. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H.G. Hotho. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2: Die bestimmte Religion. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Logik. Berlin 1831. Nachgeschrieben von K. Hegel. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/1823. Nachschriften von K.G.J. v. Griesheim, H.G. Hotho und F. C. H. V. von Kehler. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828. Nachgeschrieben v. J.E. Erdmann u. F. Walter. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826.
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen und zur Zitierweise SP
AA EMBG
GMS
KrV KpV
KU
DW LW CP RBG WCD WPF WCB WCRL Phaid. Pol. Soph. Tim. SW
ChG
Eth. SCG STh
XV
Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Zitiert wird unter der Angabe der Seitenzahl der Zweit- und Drittauflage. Immanuel Kant, Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Zitiert wird nach der Paginierung des zweiten Bandes der Akademieausgabe (= AA II). Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Zitiert wird nach der Paginierung des vierten Bands der Akademieausgabe (= AA IV). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Zitiert wird nach der Paginierung der Erst- (= A) und Zweitauflage (= B). Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Zitiert wird nach der Paginierung der Erstauflage (=A) und des fünften Bands der Akadamieausgabe (= AA V). Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Zitiert wird unter Angabe des jeweiligen Paragraphen und nach der Paginierung der Zweitauflage der KU (=B). Die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft wird hingegen unter Angabe der Seitenzahl der Akademie-Ausgabe (= AA XX) zitiert. Meister Eckhart, Die deutschen Werke. Meister Eckhart, Die lateinischen Werke. Charles Sanders Peirce, Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Zitiert wird unter Angabe des Bandes und des Paragraphen. Alvin Plantinga, Reason and Belief in God. Alvin Plantinga, Warrant. The Current Debate. Alvin Plantinga, Warrant and Proper Function. Alvin Plantinga, Warranted Christian Belief. Alvin Plantinga, Where the Conflict Really Lies. Science, Religion, and Naturalism. Platon, Phaidon. Platon, Politeia. Platon, Sophistes. Platon, Timaios. Friedrich Wilhelm Joseph v. Schelling. Sämmtliche Werke. Zitiert wird unter Angabe der Abteilungsnummer (römische Ziffer) und der Bandzahl (arabische Ziffer). Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche dargestellt. Zweite Auflage (1830/1831). Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Thomas v. Aquin, Summa contra gentiles. Thomas v. Aquin, Summa theologica.
XVI
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen und zur Zitierweise
3) Abkürzungsverzeichnis EN ER KA TA OA PZG PDB PNW
Ens necessarium Ens realissimum Kosmologisches Argument Teleologisches Argument Ontologisches Argument Prinzip vom zureichenden Grund Prinzip der durchgängigen Bestimmung Prinzip vom Nicht-Widerspruch
Einleitung Im Jahr 1997 erschien in der einflussreichen Zeitschrift The Monist ein Artikel des amerikanischen Philosophen H. Putnam unter dem Titel „Thoughts Addressed to an Analytical Thomist“. Wie der Titel schon andeutet, reflektierte und formulierte er darin sein Verhältnis zum neu erwachten Interesse an klassischen Themen der hochmittelalterlichen Philosophie. Dabei bezog er Stellung zu zwei der großen Diskussionskomplexe, die im Zuge der Wiederentdeckung aristotelisch-thomistischer Philosophie wieder in den Fokus der Gegenwartsdebatte gerückt waren. Sie betrafen zum einen die Frage nach der Form und Funktion von Argumenten für die Existenz Gottes, wie zum anderen die Möglichkeit deskriptiver Aussagen über einen Referenzgegenstand, der die normalen Kategorien unserer Rede so weit zu übersteigen scheint. Als praktizierender Jude, der zudem nach eigener Auskunft einen anderen Philosophiestil pflegte, konnte und wollte Putnam sich zwar nicht dem ,Analytischen Thomismus‘ verschreiben, dem die Monist-Ausgabe gewidmet war. Dennoch nutzte Putnam, der sich gleich eingangs vorsichtig als „Analytical Maimonidean“1 bezeichnete, die Gelegenheit, um gegen einige der gängigen Vorurteile Stellung zu beziehen, die in Teilen der Gegenwartsphilosophie vorherrschten. Das Ziel war es dabei, nicht nur mögliche Missverständnisse über die Konzeption und Zielsetzung theistischer Argumente zu klären, sondern vor allem auf einen latenten Doppelstandard hinzuweisen, mit dem diese zumeist traktiert wurden. In der Regel werde an sie nämlich, so Putnam, der strengste Maßstab deduktiver Beweise herangetragen, die aus universell akzeptierten Prämissen in der korrekten Anwendung von Schlussregeln zu einer Konklusion kommen sollten, die keine rationale Person mehr abweisen könne. Eine solche Form der Bewertung stehe aber nicht nur in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Umstand, dass vermutlich kein einziges Argument der neueren Philosophie diesem Standard genüge.2 Die Behauptung, Gottesbeweise seien formal ungenügende und durchweg schlechte zirkuläre Argumente, würden zudem höchstens Strohmänner treffen, die mit traditionellen Formen wenig zu tun hätten.
1
P 1997a, S. 487. In Putnams Worten: „Why the arguments of analytical philosophers themselves – not even the philosophical, as opposed to technical logical arguments of Frege, of Russell, or Quine, or Davidson, or David Lewis – all fail to meet this test is not something that analytical philosophers discuss a great deal.“ (ebd., S. 487 f.) 2
2
Einleitung
Am Beispiel mittelalterlicher, kausaler Argumente, die von der metaphysischen Kontingenz der Gesamtwirklichkeit auf die Existenz eines notwendigen Grundes schließen, räumte Putnam zum einen das Klischee aus, sie könnten nicht in eine logisch gültige Form übersetzt werden.3 Zum anderen machte er deutlich, dass solche Argumente zwar nicht für jede Person zu allen Zeiten de facto akzeptabel sein könnten, wohl aber fundamentale, metaphysische Intuitionen zum Ausdruck brächten, die zugleich mit dem natürlichen Selbstverständnis vernünftiger Individuen intrinsisch verwoben seien.4 Er schrieb: Certainly, this [=das Kontingenzargument, W.L.] is not a ,proof‘ in the (absurd) sense of an argument which will convince everyone who reads it, for the very simple reason that the premisses will not be accepted universally; it does nevertheless do a certain service – a service, I think, which even the atheist should grant – namely the service of bringing out one source of our present idea of God, a source which is deep in a very natural conception of reason itself. The fact that one philosopher felt that he had to end a book vigorously defending atheism with the words, ,Still why is there something rather than nothing?‘ testifies to the depth of this intellectual urge, or idea, or intuition, or whatever you want to call it.5
Putnams Überlegungen waren und sind nicht nur ein geradezu paradigmatischer Ausdruck für das wiedererwachte Interesse an klassischen, besonders aristotelisch-scholastischen Fragestellungen der Metaphysik und der Religionsphilosophie, die spätestens seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts eine regelgerechte Renaissance feiert.6 Sie zeigen vor allem, wie ein weniger vorurteilsbela3 Putnam verweist im Text auf einen von ihm selbst inspirierte, logisch einwandfreie Rekonstruktion von R. Meyer. Vgl. ebd., S. 498 Fn. 1 und M 1987. Dass traditionelle aposteriorische Argumente zusamt ihrer spezifischen Auffassung von Kausalität eine logisch gültige Formalisierung erlauben, hatte P.T. Geach fast dreizig Jahre zuvor betont. Vgl. G 1969, S. 75–85. 4 Ähnlich heißt es kurz darauf: „[E]ven if in the end you reject the view of reason which is implicit in the proofs – that is, the view according to which reason itself tells us that contingent existence requires a cause outside itself, and tells us, moreover, that there have to be necessities which are not simply ,conceptual‘ – you ought, I think, to recognize that the view of reason speaks to and expresses intuitions which are very deep in us (and the idea that those intuitions are ones which have been ,refuted‘ by modern scientific way of thinking is one which deserves critical examination).“ (P 1997a, S. 489) 5 Ebd. 6 Vgl. hierzu etwa S 2007 und W 2007. Qu. Smith datiert den Beginn der von ihm so genannten „desecularization“ der anglophonen Philosophie-Departments auf das Escheinen von A. Plantingas God and other Minds im Jahr 1967. Vgl. S 2001, S. 196. Man kann nicht sagen, dass das Interesse an klassischer Metaphysik und Religionsphilosophie seitdem abgebrochen wäre. Davon zeugen nicht zuletzt neuere und neueste Aufsatzbände etwa zu theistischen Argumenten. Vgl. etwa nur die Bände C/M (Hg.) 2009 oder W/D (Hg.) 2018, die nur die Spitze eines längst unüberschaubaren Eisberges an Literatur darstellen. Ähnliches ließe sich von der Wiederentdeckung aristotelischer Themen sagen, die spätestens mit G.E.M. Anscombe und P.T. Geach in den Fokus der Gegenwartsphilosophie gerückt sind. Vgl. u.a. die Bände N/N (Hg.) 2014 und ferner S/K/T (Hg.) 2018.
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dener Blick über Epochen- und Schulgrenzen hinaus die Funktion und Zielsetzung traditioneller Gottesbeweise neu erschließen kann.7 Obwohl Putnam deren argumentativen Charakter keinesfalls anzweifelt, der sich durchaus im Rahmen üblicher Standards bewegt, sind sie für ihn keine artifiziellen Produkte randständiger, akademischer Debatten. Sie machen vielmehr die natürliche Grundlage transparent, die die Bildung des Gottesgedankens überhaupt möglich macht. Bezeichnenderweise findet Putnam die genannte Vernunftkonzeption und deren Konsequenzen nicht nur bei mittelalterlichen Autoren wie Maimonides und Thomas v. Aquin wieder, sondern weist explizit darauf hin, dass noch Kant auf sie in anderer Form zugegriffen habe. In ihr drückt sich nach Putnam die positive Selbstbeurteilung vernünftigen Erkennens aus, die Frage nach einer Erklärung der Existenz und der Struktur der kontingenten Wirklichkeit sinnvoll zu stellen und mit Blick auf ein letztes ,Unbedingtes‘ sogar beantworten zu können.8 Was Putnam dabei vielleicht nicht bewusst war, ist, dass sich die Wirkungsgeschichte der genannten Einschätzung vernünftigen Lebens noch über Kant hinaus auf den wohl bekanntesten nachkantischen Philosophen, G.W.F. Hegel, erstreckt. Dies scheint zwar typisch für die neuere Religionsphilosophie, deren Rezeption klassischer Autoren zumeist bei Leibniz oder Kant endet. Es gibt aber starke Gründe, so die Leitthese der vorliegenden Untersuchung, den systematischen Fokus auch auf die nachkantische Philosophie und insbesondere die Religionsphilosophie Hegels auszudehnen. Das zeigt sich schon daran, dass Hegel selbst die erwähnte Rationalitätskonzeption auch und v.a. in direkter Auseinandersetzung mit Kant aufgreift und weiterentwickelt. Wie Kant (und Putnam) entwickelt er dabei die These, der Gedanke des metaphysisch notwendigen ,Unbedingten‘ sei unseren rationalen Fähigkeiten gewissermaßen von Natur aus einbeschrieben. Daher mag es wenig überraschen, dass Hegel diese Überzeugungen in seiner Antwort auf Kants Kritik am kosmologischen und teleologischen Argument9 zum Ausdruck bringt. In der langen Anmerkung zu § 50 der Letztfassung seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften drückt er sie besonders konzise aus:
7 Putnam selbst bezieht sich auf die in Buchform geführte Debatte um Gottes Existenz zwischen J.J.C. Smart und J. Haldane – dem Herausgeber der genannten Monist-Ausgabe –, die 2003 in der zweiten, erweiterten Auflage erschienen ist, in der beide Autoren auf das breite Echo reagieren. Vgl. S/H 22003 und P 1997a, S. 492. 8 „But (as Immanuel Kant recognized), even if it goes beyond what we have come to call ,scientific thinking’ to apply this to the universe as a whole, there is something in the human mind itself that makes us think that there is a cause of anything whose existence is contingent (and ultimately makes us want to posit an ,unconditioned‘ cause for everything that is ,conditioned,‘ to put it in Kantian language).“ (ebd., S. 488) 9 Ich übernehme hier und im Folgenden zumindest verbal die Bezeichnungen, die seit Kants Einteilung der Gottesbeweise weitestgehend konventionell geworden sind. Wie besonders in II.4.1 gezeigt wird, sind sie aber ebenso irreführend und korrekturbedürftig wie Kants Systematisierungsversuch selbst, der der Vielfalt und Eigentümlichkeit der konkreten Formulierungen der vermeintlich ,drei‘ großen Beweisarten schlicht nicht gerecht wird.
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Weil der Mensch denkend ist, wird es eben so wenig der gesunde Menschenverstand als die Philosophie sich je nehmen lassen, von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu Gott zu erheben. Dieses Erheben hat nichts anderes zu seiner Grundlage, als die denkende, nicht blos sinnliche, thierische Betrachtung der Welt. Für das Denken und nur für das Denken ist das Wesen, die Substanz, die allgemeine Macht und Zweckbestimmung der Welt. Die sogenannten Beweise vom Daseyn Gottes sind nur als die Beschreibungen und Analysen des Ganges des Geistes in sich anzusehen, der ein denkender ist und das Sinnliche denkt. Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit der Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Uebersinnliche gemacht werde, alles dieses ist das Denken selbst, diß Uebergehen ist nur Denken. (Enz. § 50A, GW 20, S. 87)
Liest man diese Passage, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, vor dem Hintergrund von Putnams Überlegungen, fallen sogleich zwei Dinge auf: Erstens betont Hegel in aller Deutlichkeit, der Gottesgedanke verdanke sich in erster Linie dem „Denken“ (ebd.), unter dem Hegel ganz traditionell den Inbegriff der rationalen Fähigkeiten der Begriffs-, Urteils- und Schlussbildung versteht.10 ,Denken‘ ist dabei nicht ein beliebiges menschliches Vermögen unter anderen, sondern vielmehr dasjenige, was Personen als solche auszeichnet. Analog zu Putnam begründet Hegel daher seine eigene Rede von der Natürlichkeit des Gottesgedankens mit dem – modern gesprochen – generischen Urteil, dass „der Mensch denkend ist“ (ebd.).11 Urteile und Aussagen über Gott sind damit nicht nur ein Proprium bestimmter religiöser oder akademischer Personen und Personengruppen, sondern – zugespitzt formuliert – der religionsübergreifende Ausdruck der Natur rationaler Akteure selbst. Nun stehen Urteilsgehalte schon aufgrund ihrer propositionalen Struktur in möglichen Folgerungsbeziehungen. Mit dem verwendeten Partizip Präsens Aktiv ,denkend‘ macht Hegel dabei deutlich, dass theologische Urteile schon Resultate der Ausübung der inferentiellen Fähigkeit des Schließens darstellen, in denen diese Beziehungen transparent werden. Wenn Hegel daher sagt, im „Denken“ würden Menschen „von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu Gott […] erheben“ (ebd.), dann meint er also, sie würden aus Alltagsüberzeugungen – sagen wir der Kontingenz der Welt – gewissermaßen Schlüsse ziehen, die Gottes Existenz und seine Wesenszüge zum Inhalt haben. Dies rückt seine
10 Vgl. Enz. § 467, GW 20, S. 464 f. Traditionell versteht man unter ,Vernunft‘ zum einen die Fähigkeit der Einsicht in die Erstprinzipien des Erkennens und Denkens, deren logische Konsequenzen zum anderen von der ,Vernunft‘ als Schlussvermögen gezogen werden können. Hegel selbst fasst hingegen beide Bedeutungen lediglich als zwei Aspekte und Momente ein und derselben Fähigkeit auf. Vgl. etwa WdL II, GW 12, S. 90 f. Wenn nicht anders angegeben, werde ich im Folgenden ,Denken‘ und ,rationale‘ bzw. ,vernünftige Fähigkeiten‘ weitestgehend synonym verwenden. 11 In schwächerer Form spricht Putnam von religiöser Sprache als einer „basic human potentiality“ (P 1997a, S. 492), die sich aber nicht jeder Mensch notwendigerweise aneignet. Analog heißt bei Hegel: „Ein anderes aber ist der Religion fähig zu seyn […], ein anderes, Religion zu haben.“ (Enz. § 71, GW 20, S. 112 Fn.)
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Aussagen in einer zweiten Hinsicht in die deutliche Nähe zu Putnam. Denn eine Hauptaufgabe der Ausarbeitung und Formulierung von Argumenten besteht darin, die mindestens latent bewussten, logischen Konsequenzen vollständig explizit zu machen, auf die man sich mit der Akzeptanz bestimmter Aussagen festlegt. Ähnlich wie Putnam kann Hegel daher behaupten, Gottesbeweise besäßen die Funktion, den Weg der rationalen Überzeugungsbildung in eine formal hinreichende, syllogistische Form zu übersetzen, in der Prämissen und Konklusion der impliziten und vermutlich enthymematischen Schlüsse klar unterschieden und artikuliert werden.12 Für Hegel wie für Putnam sind Gottesbeweise daher „keine Erfindungen einer künstelnden Reflexion“, sondern vielmehr ein Ausdruck der „eigenen, nothwendigen Vermittlungen13 des Geistes“ (Enz. § 68A, GW 20, S. 109). Hegels Theorie des religiösen Denkens, wie ich sie im Folgenden nennen werde, hat allerdings tiefergreifende Implikationen und Konsequenzen, die weit über einen bloßen Konsens mit Putnam und traditionellen Denkfiguren hinausgehen. Warum es lohnenswert ist, diesen systematisch nachzugehen, möchte ich vorgreifend mit zwei Überlegungen zuspitzen: Erstens weist Hegel im oben zitierten Paragraphen die These zurück, dass die Selbstauffassung menschlichen Denkens lediglich in der formal korrekten Artikulation direkter deduktiver Argumente angemessen ausgedrückt wird. Es ist für ihn vielmehr „der große Irrthum die Natur des Denkens nur in dieser Verstandesform erkennen zu wollen“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 87). Mit dieser Behauptung zielt Hegel aber nicht nur auf die lediglich psychologische These ab, dass die fundamentalen Formen und Prozesse der Urteils- und Schlussbildung in der ausgearbeiteten, syllogistischen Fassung nicht faktentreu abgebildet werden. Denn wenn schon in diesen Denkformen die entsprechenden inferentiellen Konsequenzen gezogen werden, dann werden deren Resultate – mit W. Sellars’ Metapher gesprochen – in den Raum rationaler Begründungen gestellt, in dem eine normative Bewertung von Urteilen überhaupt möglich wird. Daraus ergibt sich die zweite, in diesem Kontext entscheidende Konsequenz: In Begründungen verfügen Personen über Mittel, um anderen und sich selbst anzuzeigen, dass ihre Meinungen und Überzeugungen tatsächlich gebildet oder vertreten werden sollten – und zwar weil sie im besten Falle transparent machen können, dass die fragliche Meinung korrekt und wahr ist. Wenn Hegel daher sagt, in der spezifischen Ausübung rationaler Fähigkeiten vollziehe sich schon der inferentielle Übergang von fundamentalen Alltagsüberzeugungen zu Gott, so folgt zunächst, dass Personen durch die Bildung des Gottesgedankens rationale 12 Mit C.S. Peirce könnte man auch zwischen ,Argumenten‘ im Denken als solchem und ,Argumentationen‘ bspw. der Philosophie unterscheiden: „An ,Argument‘ is any process of thought reasonably tending to produce a definite belief. An ,Argumentation‘ is an Argument proceeding upon definitely formulated premisses.“ (CP, 6.456) 13 ,Vermittlung‘ ist für Hegel selbst im normalen und besten Falle inferentiell. Vgl. u.a. Enz. § 189, GW 20, S. 197.
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Begründungsleistungen erbracht haben.14 Dem fügt Hegel aber die wesentlich stärkere These hinzu, in dieser „Erhebung“ zu Gott manifestiere sich geradezu die „wahrhafte Natur des wesentlichen Denkens“ (ebd., S. 88). Die normale Umsetzung dieser Denkform genügt damit in paradigmatischer Weise dem, was Begründungen in normativer Hinsicht zu leisten haben. Religiöses Denken führt für Hegel also nicht nur unweigerlich zur Bildung und Aufrechterhaltung von Überzeugungen und Meinungen über Gott; es gewährleistet vielmehr ipso facto dessen epistemische Begründung und Rechtfertigung. Die Tragweite dieser These, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, wird besonders deutlich, wenn man sie mit gängigen Formen der Kritik religiöser Überzeugungen vergleicht. Gegen diese Überzeugungen wird für gewöhnlich eingewandt, dass sie schon deshalb auf starke Gründe angewiesen sind, weil sie Behauptungen über einen Gegenstand treffen, der den normalen Referenzrahmen unseres Denkens und Handelns weit übersteigt. Wenn man nun aber solche Wahrheitsansprüche erhebt, sollte man – so der Einwand weiter – auf überzeugende Belege verweisen können, die deren Anmaßung in nachvollziehbarer Weise rechtfertigen. Hierfür kämen nun allerhöchstens diejenigen deduktiven oder induktiven Argumente in Frage, die traditionell zugunsten des Gottesglaubens vorgebracht wurden. Da aber keines dieser Argumente das leiste, was es zu leisten verspreche, seien theologische Behauptungen unter keinen Umständen gerechtfertigt und rational. Vor dem Hintergrund dieser Kritik, die ich am Anschluss an die neuere Debatte den ,evidentialistischen Einwand‘ nennen werde,15 wird die provokative Stoßkraft der hegelschen Thesen besonders deutlich: Denn Hegel stuft genau denjenigen Typ argumentativer Rechtfertigung als defizient ein, den der Einwand allein für aussichtsreich hält, und führt dagegen diejenige Form der Begründung an, die schon der Bildung der strittigen Überzeugungen selbst zukommen soll. Analysiert man die klassischen Gottesargumente also im Hinblick darauf, was in ihnen eigentlich zum Ausdruck kommen soll, wird man nach Hegel nicht nur zum Kern traditioneller Beweisversuche vorstoßen, sondern auch Geltung und Genese des Gottesglaubens selbst erfassen.
14 Diese These scheint Putnam nicht in gleicher Weise zu akzeptieren. Für ihn sind theistische Argumente eher Mittel, um den Ursprung theologischer Ausdrücke und deren Rolle in religiösen Überzeugungssystem offenzulegen, deren Sinn man aber erst im Rahmen der ausgeübten religiösen Praxis vollständig erschließen kann. Vgl. P 1997a, S. 490–498. Seine eng an den späten Wittgenstein anschließende Auffassung religiöser Rede wird instruktiv diskutiert in W 2007, S. 116–130 und in H 2015. 15 Vgl. W 1983, S. 6. Spätestens seit A. Plantingas Reason and Belief in God bildet dieser Einwand einen der wesentlichen Streitgegenstände in der Epistemologie religiöser Überzeugungen. Vgl. zur Übersicht etwa D/T 2015 und F 2017.
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Zum Stand der Forschung Diese Überzeugung ist nun keine randständige Behauptung in Hegels Werk, sondern vielmehr eine wesentliche These seiner späten Religionsphilosophie, die er seit 1821 bis zu seinem Tod im Jahr 1831 in vier Vorlesungszyklen ausgearbeitet und vorgetragen hat. Umso erstaunlicher mag es scheinen, dass gerade Hegels Theorie religiösen Denkens – bislang zumindest – noch nicht in seiner vollen systematischen und erkenntnistheoretischen Tragweite in den Fokus der einschlägigen Forschung gerückt zu sein scheint.16 Auseinandersetzungen mit Hegels später Würdigung der Gottesbeweise gibt es zwar sicherlich spätestens seit der Erstveröffentlichung seiner Vorlesungen über die Beweise vom Daseyn Gottes wie der Nachschriften seiner religionsphilosophischen Kollegien.17 Auch ist den Lesern Hegels Rede von der ,Erhebung des Menschen zu Gott‘ nicht entgangen, die daher vermutlich in fast jeder einschlägigen Veröffentlichung mindestens dem Wortlaut nach genannt wird. Die Tatsache, dass Hegel mit dieser Wendung auf die Formen des Denkens verweist, die seiner Meinung nach von gläubigen Personen selbst und zwar in der Regel adäquat ausgeübt werden, ist in all seinen Konsequenzen aber offenbar noch nicht hinreichend gewürdigt worden. Mögliche Gründe hierfür lassen sich dabei zunächst auf Hegel selbst zurückführen. Zwar sind ihm seine Thesen zum religiösen Denken und zu den Gottesbeweisen offenbar so wichtig, dass er sie allein in der Letztausgabe der Enzyklopädie gleich mehrfach wiederholt.18 Allerdings unterscheidet Hegel dort gleich anfangs das „Denken“ im Allgemeinen vom spezifischen „Nachdenken“ (Enz. § 2A, GW 20, S. 41), das insbesondere von Philosophen praktiziert werde. Um Religion im engeren Sinne davon spezifisch zu unterscheiden, weist Hegel ihr schließlich in den Schlussstücken seines Hauptwerks die Erkenntnisform der sog. „Vorstellung“ (Enz. § 565, GW 20, S. 551) zu, die weder mit dem ,Denken‘ noch mit dem ,Nachdenken‘ zusammenfallen soll.19 Diese epistemologische Kategorie ist ein schillernder und nicht immer leicht eingrenzbarer Begriff, der, vorläufig gesprochen, auf den Umstand verweist, dass sich religiöse Personen ihren Be16 Mit Blick auf Hegels Gottesbeweisvorlesungen spricht zwar M. Westphal ausdrücklich von „Hegel’s Theory of Religious Knowledge“ (W 1974, S. 30). In seinem Aufsatz begnügt er sich dann aber mit einer Übersicht über Hegels spekulative Rekonstruktion des kosmologischen und des ontologischen Arguments und spart eine Untersuchung ihrer Relevanz für seine Theorie des religiösen Denkens weitestgehend aus. Ähnliches ließe sich m.E. über die neuere Abhandlung von R. Williams sagen. Vgl. W 2017. 17 Eine Übersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema bis 1981 bietet J 1983, S. 120–133. 18 Nach der oben zitierten Anmerkung von Enz. § 50 greift er diese Thesen nicht weniger als fünf Mal in Enz. §§ 68A, 193A, 204A, 398A und 552A auf, nachdem er schon gleich zu Anfang in Enz. § 2A auf sie angespielt hat. 19 In der Zuspitzung V. Hösles formuliert: „In der Kunst werde [nach Hegel, W.L.] das Absolute angeschaut, in der Religion vorgestellt und in der Philosophie gedacht.“ (H 1987, Band 2, S. 592) Diese einfache Zuordnung wird von Hösle selbst und anderen zu Recht kritisiert. Vgl. auch J 1983, S. 113 f. und M 2018, S. 77 f.
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zugsgegenstand in der Regel dadurch erschließen, dass sie ihn mit denjenigen Gegenstandsbereichen ins Verhältnis setzen, mit denen sie in ihrer alltäglichen Praxis eher vertraut sind. Aussagen und Urteile über Gott erhalten so einen wesentlich figurativen Ausdruck, in dem die bekannteren Referenzgegenstände gewissermaßen als Vergleichsmodelle dienen, mittels derer man sich Gott so-undso ,vorstellen‘ kann.20 Wie wir sehen werden, folgt für Hegel daraus keinesfalls die Leugnung seiner Ausgangsthese. In der Zuspitzung verschiebt dies allerdings den Fokus auf eine andere Fähigkeit, deren spezifisch religiöse Ausübung zwar Denkleistungen voraussetzt, deren Produkte aber nicht mit den Urteilen und Argumenten philosophischer Praxis identisch sind.21 Diese Denkleistungen und -formen wird man unter Hegels Prämissen nur dann erfassen können, wenn man sich den Details seiner Interpretation der Gottesbeweise zuwendet. Dies zeigt sich schon daran, dass Hegel den Religionstypen jeweils einen Gottesbeweis und den darin involvierten Gottesbegriff zuweist und sie von dort her zu systematisieren versucht.22 Sieht man folglich von der Gottesbeweisthematik ab, wird man fast zwangsläufig Hegels konkrete Thesen zum religiösen Denken aus dem Blick verlieren. Zwei Beispiele aus der neueren Hegelforschung mögen an dieser Stelle hierfür als Indizien genügen. 1960 erschien D. Henrichs einflussreiche Studie zur Geschichte des ontologischen Beweises seit Descartes. In ihr betont Henrich völlig zu Recht die herausragende Rolle, die der Beweis in neuzeitlichen Systemen und insbesondere bei Hegel gespielt hat. Die Hauptthese des Buches besteht darin, dass sich genau zwei Unterformen des Arguments unterscheiden lassen, die entweder den Begriff des Vollkommenen oder den Gedanken absoluter Notwendigkeit als Leitprämisse voraussetzen.23 Da Henrich die Entdeckung der zweiten Argumentform Descartes zuschreibt, ergibt sich daraus nicht nur ein scheinbar klares Profil der spezifisch neuzeitlichen Fassung des Beweises.24 Er konnte zudem die zentrale Stellung Kants in der Geschichte des Arguments herausstreichen, die laut Henrich in dem Nachweis besteht, dass seine zweite Fassung die Schlüssigkeit der ersten – freilich zu ihrem Schaden – voraussetzt. 20
Zu den Details vgl. besonders unten III.3.2. Eine solche Fokusverschiebung findet etwa statt, wenn man Hegels Deutung der Beweise in erster Linie als ein Umgang mit einer bestimmten Form des philosophischen ,Nachdenkens‘ versteht. So heißt es etwa programmatisch bei W. Jaeschke: „Das dem Vorstellen entgegengesetzte begreifende Denken hat in der Religionsphilosophie seinen Platz in den Gottesbeweisen.“ (J 1983, S. 120) 22 Dies gilt nicht nur für die Kollegien von 1821, 1824 und 1831, sondern auch, wie ich in III.4 zeigen werde, für das Kolleg von 1827, wo Hegel die Gottesbeweise und die darin involvierten Gottesbegriffe nicht mehr explizit als Einteilungsmodell für Religionsformen heranzuziehen scheint. In jedem Falle werden dort die Gottesbeweise unter dem Titel „Das religiöse Wissen als Erhebung zu Gott“ (VPR 3, S. 308) diskutiert. In diesem Abschnitt heißt es ferner: „[D]ie Explikation der Beweise vom Dasein Gottes, dieses vermittelten Wissens, ist die Explikation der Religion selbst.“ (ebd., S. 310) 23 Vgl. H 1960, S. 3 f. und die Übersicht ebd., S. 131–136. 24 Vgl. etwa ebd., S. 14 und zur Kritik bes. G 2009, S. 117 f. 21
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Für die Interpretation der vorliegenden Thematik haben diese Thesen, die nach W. Jaeschke seit 1960 den Diskussionsstandard definieren,25 aber direkte Konsequenzen. Henrichs Thesen machen es nämlich für wohlwollende Rekonstruktionen erforderlich, Hegels eigene Auffassung und Würdigung der Gottesbeweise vom kantischen Problemniveau her zu verstehen. Ein solches Anliegen ist zwar sicherlich nicht unberechtigt, mit Blick auf Hegels tatsächliche Aussagen aber zumindest irreführend. Erstens nämlich weicht Hegel in der Systematisierung der Gottesbeweise so stark von der kantischen ab, dass es fraglich ist, ob er diese überhaupt für akzeptabel befunden haben kann.26 Dem liegt dabei zweitens ein spezifisches hegelsches Verständnis insbesondere des kosmologischen und ontologischen Arguments zugrunde, das durch Henrichs Thesen verdeckt wird. Während diese es nämlich nahelegen, der Gedanke eines notwendigen Wesens habe seinen einzig legitimen Ort im ontologischen Argument, ist er für Hegel für das kosmologische Argument kennzeichnend.27 Da Hegel in diesem Argument die wohl basalste Form der religiösen Denkens entdeckt, bestreitet er drittens vehement den berühmten kantischen Einwand, das kosmologische Argument sei in seiner Beweiskräftigkeit vom ontologischen abhängig, während Lesarten im Gefolge Henrichs das genaue Gegenteil behaupten.28 Eine Folge der Orientierung an Kant besteht schließlich viertens darin, sich in erster Linie dem ontologischen Argument bei Hegel zuzuwenden. Gemessen an Hegels eigener Bewertung des Beweises, der für ihn „allein der wahrhafte“ (VPR 5, S. 271) ist, ist das für sich sicherlich gerechtfertigt.29 Es geschieht aber zumeist auf Kosten der Tatsache, dass Hegel den sog. aposteriorischen Gottesbeweisen eine herausragende Rolle bei der Typologisierung von Religionen und deren Denkformen zuschreibt.30
25 Vgl. J 1983, S. 129. Nach Jaeschke unterschreiten insbesondere die früher erschienen Monographien D 1940 und O 1948 dieses Niveau. Umgekehrt ist es das Anliegen der neueren Studien D 1990, W 1996 und von W 2017 diesem Standard gerecht zu werden. 26 Das zeigt m.E. schon ein genauer Blick auf Hegels Einteilung in Enz. § 50, GW 20, S. 86 f. Diese These wird ausführlich in II.4.1 begründet. 27 Henrich meint etwa, für Kant wie für Hegel führe „der kosmologische Beweis […] ohne den ontologischen nicht einmal zu einem Begriff vom notwendigen Wesen“ (H 1960, S. 207), obwohl sein Referenztext (in GW 18, S. 321) nachweislich das Gegenteil behauptet. Vgl. hierzu bes. unten II.2.3, S. 202 f. Fn. 152. 28 Genau genommen verwirft Hegel nicht nur Kants Reduktionsargument (vgl. GW 18, S. 320–324), sondern jeden einzelnen der fünf kantischen Einwände. Vgl. ebd., S. 324–327 und die ausführliche Rekonstruktion in II.2. Interpreten, die wie Henrich selbst, Hegel die kantische Abhängigkeitsthese unterstellen, gehen auf diese Passagen in der Regel nicht ein, sondern berufen sich zumeist auf eine Bemerkung im selben Text, in GW 18, S. 327. Vgl. H 1960, S. 206 f.; D 1990, S. 294 f. und W 1996, S. 94. Darin geht es Hegel zwar um die möglichen Motive hinter dieser These, aber keinesfalls um eine Akzeptanz der kantischen Unterstellung. Vgl. unten II.2.4, S. 209 Fn. 179. 29 Die m.E. beste Studie zum Thema hat neuerdings H.G. Melichar vorgelegt. Vgl. M 2020. 30 Paradigmatisch für die Konsequenzen des genannten Fokus steht etwa die Tatsache,
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Radikalere Konsequenzen ergeben sich freilich, wenn man die hermeneutische Maxime der Orientierung an Kant noch verschärft. Hatte etwa J.N. Findlay im Jahr 1983 den Einfluss Kants auf Hegel vehement bestritten und im selben Atemzug beredt seine Hoffnung ausgedrückt, die deutsche Philosophie möge ihr Interesse an früheren Formen der Metaphysik wiedererwecken,31 erschien gut sechs Jahre später die inzwischen klassisch gewordene Monographie R. Pippins Hegel’s Idealism, die eine völlig konträre Interpretationslinie verfolgt. Pippin argumentiert darin für eine Deutungsoption, die ähnlich schon von K. Hartmann unter dem Titel „Hegel: A Non-Metaphysical View“ ins Spiel gebracht wurde.32 Darin ging es auch und v.a. um die hermeneutischen Konsequenzen des nachvollziehbaren Anliegens, Hegels Philosophie von vergleichbaren, zeitgenössischen Debatten her zu verstehen und von dort deren systematischen Gehalt zu erschließen. Der nicht- bis anti-metaphysische Charakter solcher Lesarten, die nach wie vor intensiv wie kontrovers diskutiert werden,33 ergibt sich dabei aus dem nicht unplausiblen exegetischen Prinzip, ein systematischer Anschluss an Hegel könne dort von dessen Selbstverständnis absehen und eine kohärente, moderate bis deflationäre Rekonstruktion entwickeln, wo dieses zu nachweislich inakzeptablen Konsequenzen führt.34 In Konjunktion mit der Prämisse, keine akzeptable philosophische Theorie könne hinter Kants ,kritisches Projekt‘ zurückfallen, scheint damit aber zu folgen, dass man diejenigen Teile der hegelschen Philosophie, die diesen Standard zu unterbieten scheinen,35 in der Rekonstruktion ignorieren kann und darf. Während dabei Hegels Stellung zu Kants Kritik dass sich Hegel etwa in allen vier Kollegien auch besonders ausführlich dem teleologischen Argument widmet (vgl. VPR 3, S. 319–321; VPR 4, S. 100–111, 304–321, 593–607 und 632–636), während es in der Forschung, wenn überhaupt, nur in Übersichtsdarstellungen erwähnt wird. Vgl. etwa die Darstellungen in T 1977, S. 220–224; D 1990, S. 296 f.; H 2011, S. 422 f. und W 2017, S. 87–91. 31 Gleich zu Anfang seines Texts, den er beim Hegel-Kongress zum Thema „Kant oder Hegel?“ 1981 vorstellte, heißt es provokativ: „I believe that the study of Hegel has been much hindered and confused by his close association with Kant: he has much closer affinities with the great idealistic realists of antiquity.“ (F 1983, S. 398) Und er bemerkt zum Schluss: „Your thought-future, I should hope, lies in a revival of the metaphysical tradition which began with Leibniz and Christian Wolff, and was continued by Kant and Hegel.“ (ebd., S. 407) 32 Vgl. H 1972; P 1989 und zur Diskussion bes. S 1991 und S 2009, S. 46–54. 33 Eine gute Übersicht über die inzwischen fast unüberschaubare Debatte findet sich u.a. in W 1993, S. 117–126; H 2002, S. 21–29; K 2006; B 2008, S. 1–14 und R 2020. 34 Vgl. zur Diskussion dieses Prinzips insbesondere H 2002, S. 21–29. 35 Dies schließt allerdings nicht aus, dass man in anderen Hinsichten über Kant hinausgehen kann. So wird häufig die Meinung vertreten, das von Kant herausgestellte Apriori unserer Erkenntnisse lasse sich mit Hegel in konkreten sozialen Praxeis und Institutionen verorten. In R. Brandoms Slogan ausgedrückt: „For Hegel all transcendental constitution is social institution.“ (B 1999, S. 169) Diese Deutungsoption und ihre Konsequenzen werden instruktiv diskutiert in W 1989 und K 2013, Kap. 5.1.
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an der generellen Metaphysik weiterhin ein Zankapfel bleibt, scheint zumindest ein Konsens darüber zu herrschen, dass Hegel Kants Einwände gegen die traditionellen theistischen Argumente akzeptiert oder zumindest die scharfe Trennlinie zwischen vor- und nachkantischen Formen der Theologie übernimmt.36 Gegen radikale Varianten solcher Lesarten haben Interpreten wie F. Beiser eingewandt, sie würden notwendigerweise zu einem extrem verkürzten Bild von Hegels System führen, in dem gerade die Theorie der Religion und eben auch die Gottesrede eine integrale Rolle spielt.37 Man könnte aber auch einfach mit dem systematischen Anliegen solcher Lesarten, die inzwischen längst für Hegels Religionsphilosophie herangezogen werden,38 die Gegenrechnung machen und es auf die ,post-kantianischen‘ Prämissen selbst anwenden. Zeitgenössische Religionsphilosophen haben die genannten systematischen Maßstäbe entsprechend an die kantischen Einwände angelegt und sind mit plausiblen und diskutablen Argumenten zu einem völlig konträren Ergebnis gekommen.39 Nimmt man nun die neuere, insbesondere angloamerikanische40 Debattenlage als Hintergrundfolie für eine neue Würdigung von Hegels Meta-Kritik von Kant, kann man auch zu einer ganz anderen Bewertung von Hegels Argumenten kommen.41 In diesem 36 M.E. lassen sich mind. zwei exegetische Strategien zur vorliegenden Thematik angeben. Entweder man verwirft die radikalen anti-theologischen Konsequenzen solcher Lesarten, meint aber dann, dass Hegel die Gottesbeweise unter wesentlich post-kantianischen Voraussetzungen rezipiert und rehabilitiert. Vgl. W 2017. Oder man akzeptiert die Konsequenzen, versteht Hegels Interpretation der Gottesbeweise dann aber nicht als Theorie religiösen Denkens, sondern als eine Auseinandersetzung mit einem spezifisch vorkantischen, philosophischen Denken über Religion – eben unter den genannten nicht-metaphysischen Prämissen. In diesem Sinne interpretiert etwa Th. Lewis die Sektion über das ,Denken‘ im Kolleg von 1827. Vgl. L 2011, S. 159–169. 37 Vgl. B 2008, S. 5 f. 38 Paradigmatisch steht hierfür die schon erwähnte Monographie von Th. Lewis, die Hegel im expliziten Anschluss an Pippin als Vorläufer Feuerbachs interpretiert. Vgl. L 2011. In eine ähnliche Richtung geht die neuere Studie von N. Mooren, die allerdings auch die metaphysischen bzw. monistischen Elemente bei Hegel benennt. Vgl. M 2018, S. 203 und 234; vgl. hierzu auch meine Rezension L 2020a. 39 Viele zeitgenössische Philosophen sind in detaillierten systematischen Untersuchungen zu dem Schluss gekommen, dass etwa Kants Kritik am kosmologischen und ontologischen Argument entweder keine relevanten oder zumindest keine überzeugenden Einwände enthält. Vgl. u.a. die Diskussion zu Kants Einwänden gegen das ontologische Argument in P 1966; O 1995; L 2005a; G 2009; M 2009; L 2013a und M 2020; und zum kosmologischen Argument ferner F 1993; V 2000; S 2012; T 2013 und P/R 2018. Auf diese und weitere Literatur werde ich an Ort und Stelle eingehen. 40 Anders als in der anglo-amerikanischen Religionsphilosophie und Metaphysik sind die neueren deutschen Veröffentlichungen stark an Kants Gottesbeweiskritik und bes. seiner Ethikotheologie orientiert. Vgl. etwa K 1990; R 2013; T 2015 und . 2017. Allerdings gibt es auch hier bedeutende Ausnahmen. Vgl. H 2011 und T 2013. 41 Ähnliches lässt sich hinsichtlich generell-metaphysischer Themen sagen, wie etwa R. Stern zeigt. Vgl. S 2009, S. 1–32.
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Sinne bietet das genannte Prinzip einer wohlwollenden Deutung gerade gute Gründe dafür, zumindest versuchsweise mit Hegel die These zu bestreiten, Kant habe in Sachen der Gottesbeweise und der traditionellen Theologie gewissermaßen das letzte Wort gesprochen.42 Wenn man sich nun in dieser Weise zumindest für alternative Schlussfolgerungen offenhält, kann man zudem auch den kantianischen Rahmenannahmen einen positiven Sinn abgewinnen. Schon oben wurde darauf aufmerksam gemacht, dass man Hegels Theorie des religiösen Denkens gerade als eine Variation der kantischen Überzeugung deuten kann, die Gottesrede sei ein natürliches Produkt unserer Urteils- und Schlusspraxis.43 Gleichzeitig wurde deutlich, dass Hegel trotz seiner Vorbehalte gegenüber Kant auch selbst Kritik an der syllogistischen Form der Gottesbeweise übt. Um von hier aus zum systematischen Gehalt von Hegels religionsepistemologischen Thesen vorzudringen, muss man nur zwei neuere, bislang nicht genannte Forschungstendenzen miteinander verknüpfen. Zum einen hat schon V. Hösle darauf hingewiesen, dass Hegel in seiner Analyse eine tieferliegende indirekte und apagogische Begründungsform aufzeigt, die den Gottesbeweisen zwar zugrunde liegen, in ihnen aber durch ihren direkten und linearen Argumentaufbau verdeckt werden.44 Diese Interpretationsidee, die neuerdings von H.G. Melichar insbesondere für das ontologische Argument umfassend ausgearbeitet wurde,45 hat für die genannten Untersuchungen zwar im Wesentlichen die Funktion, die besondere Methode und Argumentstruktur von Hegels WdL herauszuarbeiten. Verbindet man diese Idee zum anderen mit dem neueren Interesse an religionsepistemologischen Fragestellungen in Hegels Perspektive, bspw. den wichtigen Problemen religiöser Diversität,46 wird man schnell eine andere Facette seiner Thesen entdecken. So hat etwa F. Hermanni nicht nur in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die „Religion“ für Hegel „den innersten Sitz im Denken hat“ (VPR 3, S. 271).47 Er hat zugleich 42 Man kann sich auch generell fragen, ob und inwieweit dies in Hinblick auf Kant selbst plausibel ist. Zum einen hat schon A. Wood auf die vielen Schwächen in Kants Widerlegung hingewiesen, die seiner Meinung nach bisweilen das Niveau vormoderner und frühneuzeitlicher Theologie unterschreitet. Vgl. W 1978. Zum anderen ist es fraglich, ob Kant eine rationale Gottesrede tatsächlich nur im Rahmen der moralischen Praxis für legitim hält. Vgl. hierzu bes. C 2009a. 43 Liest man Kant nur als Metaphysikkritiker, wird man seine konstruktive Theorie aus dem Blick verlieren, deren Facettenreichtum neuerdings M. Willaschek umfänglich herausgearbeitet hat. Vgl. W 2018. 44 Vgl. H 1987, Band 1, S. 188–197. 45 Vgl. M 2020. Melichars Studie macht zudem nicht nur deutlich, wie man diese Idee auf Hegels Rekonstruktion des kosmologischen Arguments anwenden kann. Vgl. ebd., S. 521–523. Sie zeigt auch in Kap. 2 im Anschluss an die neuere analytische Debatte, warum man Kants Einwände gegen das ontologische Argument nicht ohne weiteres akzeptieren sollte. 46 Vgl. hierzu bes. S 2013; H 2013 sowie die Beiträge zu Hegel in H/ N/S (Hg.) 2015. 47 Vgl. H 2013, S. 138 f. In einer neueren Publikation spezifiziert Hermanni den
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darauf aufmerksam gemacht, dass für Hegel die normalen Denkakte und -prozesse nicht oder zumindest nicht immer bewusst ablaufen, während sie in der philosophischen Explikation als solche thematisch werden.48 Seine Studien verfolgen dabei das Ziel, Hegels Religionsphilosophie für die neuere Debatte um die Pluralität religiöser Wahrheitsansprüche produktiv zu machen, die man als wichtiges Teilproblem der generellen Frage nach deren epistemischen Bewertung verstehen kann.49 Übersicht über den Argumentationsverlauf Im Geiste der genannten Studien verfolgt die vorliegende Untersuchung das Ziel, Hegels Thesen in ihrem religionsepistemologischen Gehalt vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatten umfassend zu rekonstruieren und zu diskutieren. Im Anschluss an Hegels eigene Terminologie, verstehe ich unter ,Religionsepistemologie‘ im Wesentlichen die Untersuchung der Frage, ob und inwieweit man religiöse Überzeugungen als echte und einlösbare Erkenntnisansprüche einordnen und als solche in epistemischer Hinsicht positiv bewerten kann.50 Um diese Frage in hegelscher Perspektive so präzise wie möglich zu fassen, wird in den ersten beiden Kapiteln von Teil I der Studie zunächst der Bewertungsgegenstand (Kap. I.1) und der leitende Bewertungsstandard (Kap. I.2) bestimmt. In der ersten Hinsicht wird daher eine vorläufige Arbeitsdefinition religiöser Einstellungen entwickelt (Abschnitt I.1.1). Für eine erste Eingrenzung wird sich v.a. deren Bezugsgegenstand als hilfreich erweisen, auf den ich mich hier und im Folgenden mit der hegelschen Kennzeichnung ,das Absolute‘ beziehen werde. Sie bietet sich schon deshalb an, weil sich nach Hegel alle ,Religionsformen‘51 in ihrem konzeptuellen Fokus und den Beschreibungen ihres Referenzgegenstandes Charakter religiösen Denkens anhand der Verhältnisbestimmung von ,Denken‘ und ,Vorstellen‘. Vgl. H 2017, S. 388 f. 48 Vgl. H 2013, S. 148 f. Eine analoge Deutungslinie verfolgt neuerdings auch N. Mooren. Im Anschluss an Chr. Halbigs Untersuchungen zur hegelschen Unterscheidung von ,Denken‘ und ,Nachdenken‘ weist sie dabei explizit auf das implizite Denken in Gläubigen hin. Vgl. M 2018, S. 80–82 und 84–88; und H 2002, Kap. 4. Die komplexe Rolle der hegelschen Interpretation der Gottesbeweise blendet Mooren aber weitestgehend aus. 49 Vgl. neben H 2015, bes. S 2013 und N 2015. 50 Man kann die Frage auch schwächer auffassen, etwa indem man die positive epistemische Bewertung einer Überzeugung von der Frage ihres Erkenntnisstatus’ abkoppelt. Nicht jede vertretbare Meinung muss zugleich Wissen sein, wenn auch umgekehrt jeder eingelöste Wissensanspruch etwas ist, das man sich aneignen sollte. Zum zeitgenössischen Projekt der Religionsepistemologie vgl. etwa W 2005 und G 2017. 51 Im Anschluss an F. Schick. unterscheide ich im Folgenden zwischen ,Religionsformen‘, als Religionsarten, und deren Identifikation mit bestimmten individuellen Religionen oder, wie Hegels sagt, historischen „Gestalten der Religion“ (VPR 4, S. 415). Vgl. S 2013, S. 410 f. und ferner H 2015, S. 165 und L 2015a, S. 213 f. Die konkreten Zusammenhänge zwischen dem allgemeinen Religionsbegriff, Religionsformen und Religionsgestalten wird in III.4 näher erläutert.
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überlappen, wobei der wesentlich deskriptive Ausdruck ,Gott‘52 bei Hegel bisweilen für diejenige kohärente und vollständige Bestimmung des Absoluten steht, die zumindest im Rahmen religiöser Rede geleistet werden kann. In diesem Sinne nenne ich im Folgenden die logisch geschlossene und systematische Ordnung von Aussagen über das Absolute ,Theologie‘ im weiten Sinne. Von ihr kann man dann Theologien im engeren Sinne unterscheiden, die das Absolute unter spezifisch monotheistischen Beschreibungen auffassen.53 Unter ,Theismus‘ sei schließlich die Akzeptanz der Existenzaussagen und Beschreibungen über ,Gott‘ verstanden.54 Da theologische Aussagen zusammen mit Hegels Theorie der Denkformen in der Religion im Gesamtverlauf der Teile I und II erarbeitet und eingeführt werden, wird in Kap. I.1 weder ein vollständiger Gottesbegriff entwickelt noch eine genaue Angabe zur Rolle der ,Vorstellung‘ in der Überzeugungsbildung gemacht. Stattdessen wird nach einer ersten Übersicht über notwendige Grundzüge des Absoluten der spezifisch doxastische Aspekt einiger religiöser Einstellungen anhand von Hegels Analyse des Glaubensbegriffs genauer in den Blick genommen (Abschnitt I.1.2). Wie sich dabei zeigen wird, erschöpft sich dieser zwar nicht in der Akzeptanz von Aussagen über die Existenz und die Natur des Absoluten. Insofern Gläubige aber mit hohem Gewissheitsgrad Wahrheitsansprüche über das erheben, was unabhängig von den Überzeugungen der Fall zu sein scheint, stellt sich sachlich die Frage, ob und warum man sie vertreten sollte. Vor dem Hintergrund von Hegels Auffassung von Werturteilen im Allgemeinen und seinem Erkenntnisbegriff im Besonderen müssen daher zum einen die Natur epistemischer Bewertungen (Abschnitt I.2.1) und zum anderen die Bedingungen der Einlösung von Erkenntnisansprüchen (Abschnitt I.2.2) geklärt werden. 52 Im Anschluss an P.T. Geach verstehe ich den Ausdruck ,Gott‘ nicht primär als Eigennamen, sondern wesentlich als deskriptiven Ausdruck. Vgl. G 1969, S. 57 und 108 f. Dies deckt sich m.E. mit Hegels eigener Kritik gegenüber der sprachlichen Bezugnahme über Eigennamen, die ohne einen kohärent und methodisch kontrolliert entwickelbaren deskriptiven Gehalt keinen Standard für die Korrektheit für Beschreibungen und Prädikationen bieten. Vgl. hierzu bes. V 1988a. 53 Wenn nicht anders angegeben, bezieht sich der Ausdruck ,Theologie‘ im Folgenden daher nicht auf eine bestimmte akademische Disziplin als einer Form der wissenschaftlichen Praxis. Im Sinne der vermutlich ersten Nennung des Begriffs in Platons Politeia meint er lediglich die Rede über Gott bzw. das Absolute, die im Rahmen einer solchen Praxis entwickelt und begründet werden kann. Vgl. Pol. 379a6 und ferner etwa die differenzierten Darlegungen zum Thema in P 1977, Kap. 5, bes. S. 299–329. Dabei kann jeweils offengelassen werden, ob die Aussagen im technischen hegelschen Sinne in ,religiöser‘ oder ,philosophischer‘ Form ausgedrückt und formuliert werden. Die Besonderheit der hegelschen ,Theologie‘ kann man gerade darin sehen, in einer meta-stufigen Theorie aller möglichen Theologien selbst ein System von Aussagen über das Absolute zu entwickeln. Vgl. hierzu F 1979. 54 So formuliert ist es möglich, ein nicht-monotheistischer oder atheistischer Theologe zu sein. Jeder atheistische oder anti-monotheistische Einwand setzt ohnehin trivialerweise voraus, dass Aussagen über Gott verstanden und formuliert werden können, um dann in der Konsequenz revidiert oder verneint zu werden.
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Einen positiven epistemischen Status, den ich im Folgenden ganz generell ,Rechtfertigungsstatus‘ nennen werde, kann dabei ein Wahrheits- und Erkenntnisanspruch, grob gesprochen, nur dann besitzen, wenn der Prozess seiner Bildung von der Art ist, dass man mit ihm das essentielle Ziel der Erkenntnisbildung in der Regel erfüllt. Wie schon oben angedeutet wurde, leisten Gläubige dies laut Hegel gewissermaßen immer schon durch Begründungsformen im Denken. Dies schließt aber für ihn keineswegs aus, dass unter einer anderen Selbstauffassung rationaler Akteure und den daraus resultierenden Korrektheitsstandards nicht auch eine wesentlich negative Antwort auf das Rechtfertigungsproblem plausibel erscheinen kann. Um Hegels eigene Theorie systematisch zu profilieren, werde ich sie daher mit dem oben schon erwähnten evidentialistischen Einwand konfrontieren, der mit Hegel epistemologisch eingeordnet und historisch kontextualisiert werden soll (Kap. I.3). Die Kernidee des Einwands besteht darin, deduktive oder zumindest induktive Argumente aus wahren und rational akzeptablen Prämissen zur notwendigen und hinreichenden Bedingung der Rechtfertigung theistischer Überzeugungen zu machen. Unter solchen Umständen wird es daher auch nach Hegel erforderlich, den philosophischen Nachweis zu führen, dass solche Überzeugungen schon de facto epistemisch gerechtfertigt sind.55 Dieser Nachweis soll im Gesamtverlauf der Arbeit auf seine argumentative Schlagkraft und Tragweite hin geprüft werden. Dazu werde ich Hegels Theorie im Spiegel von vier alternativen Antwortoptionen auf den evidentialistischen Einwand rekonstruieren, mit denen Hegel nicht nur selbst konfrontiert war, sondern die auch in der heutigen Debatte in verwandter Form vertreten werden. Sie sollen dabei jeweils zunächst unter hegelschen Prämissen klassifiziert und dann im Rückgriff auf einschlägige Textpassagen systematisch diskutiert werden. Zum Abschluss von Teil I werden dabei zunächst diejenigen Optionen besprochen, die entweder den Erkenntnischarakter religiöser Überzeugungen vollständig leugnen (Kap. I.4) oder den vernünftigen Fähigkeiten des Denkens entweder gar keine (Abschnitt I.5.1) oder zumindest keine entscheidende Relevanz zusprechen (Abschnitt I.5.2). Im Sinne der erstgenannten Option des sog. ,NonKognitivismus‘ kann man dem evidentialistischen Einwand einfach dadurch entgehen, indem man die Annahme angreift, religiöse Überzeugungen könnten überhaupt epistemisch bewertet werden.56 In Kap. I.4 werde ich drei Formen 55 W. Alston hat auf die Ambiguität des Rechtfertigungsbegriffs hingewiesen, der sich sowohl auf den Zustand oder das Attribut des Gerechtfertigtseins einer Meinung oder Überzeugung als auch auf die bewusste und aktive Rechtfertigung dieses Zustands beziehen kann. Eine Person kann daher durchaus gerechtfertigter Weise eine Meinung bilden und vertreten, ohne sich selbst oder anderen unter der bewussten Angabe von Gründen aktiv gezeigt zu haben, dass dies der Fall ist. In Alstons Worten: „By justifying a belief one shows that it is justified.“ (A 2005a, S. 18) Auf diese wichtige Unterscheidung werde ich in Abschn. I.2.2 und III.2 zurückkommen. 56 In der radikalsten Fassung wird dabei dezidiert verneint, einige der sprachlichen Äußerungen von Gläubigen seien Behauptungen über das, was der Fall ist. Obwohl ich mich auch auf Hegels Einwände gegen Schleiermacher beziehe, konzentriere ich mich in I.4 im
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dieser Annahme diskutieren und dabei insbesondere auf Hegels Auffassung religiöser Gefühle, des Verhältnisses moralischer und religiöser Urteile sowie der funktionalen Rolle religiöser Praxis in der individuellen und kollektiven Lebensführung eingehen. Dabei werde ich zeigen, dass sich die religiöse Rede und Praxis für Hegel zwar nicht in ihrem kognitiven Gehalt erschöpft, aber dennoch nicht auf nicht-kognitive Aspekte reduziert werden kann, ohne das Phänomen als Ganzes zu verfehlen. Eine epistemische Evaluierung religiöser Überzeugungen ist daher für Hegel unumgänglich. Die zweite zu diskutierende Antwortoption gesteht dies nun zu, verneint aber die spezifisch evidentialistische Prämisse, dass für eine positive Bewertung propositionale oder argumentative Gründe notwendig sind. Stattdessen argumentiert sie für die These, bestimmte theistische Überzeugungen lägen in adäquater Weise in den Fundamenten religiöser Überzeugungssysteme. Nach einer kurzen Darstellung von Hegels Einwänden gegen F.H. Jacobi (Abschnitt I.5.1) werde ich dabei der Frage nachgehen, wie man die derzeit wohl am meisten diskutierte und besonders vielversprechende Variante A. Plantingas unter hegelschen Prämissen zu bewerten hat (Abschnitt I.5.2). Im Verlauf dieser Abschnitte wird gezeigt, dass man mit Hegel Jacobis und Plantingas Kritik am frühneuzeitlichen Evidentialismus einen positiven Sinn abgewinnen kann. Man sollte dabei aber der Urteils- und Schlusspraxis eine entscheidende Rolle und Begründungsrelevanz in der religiösen Überzeugungsbildung zuschreiben, die von den genannten Ansätzen nicht im selben Maße akzeptiert wird. Dies rückt Hegels Position in die Nähe der zwei verbleibenden Antwortoptionen der natürlichen Theologie57 und des Kantianismus, die untereinander in einem konträren Verhältnis stehen. Erstere versucht u.a. den Rechtfertigungsstatus des Gottesglaubens mit deduktiven oder induktiven Argumenten nachzuweisen. Letzterer meint zwar, der Gottesgedanke und seine Akzeptanz folge gewissermaßen unvermeidlich aus der Ausübung unserer vernünftigen Fähigkeiten, bestreitet hingegen er aber vehement, eine epistemische Rechtfertigung sei prinzipiell möglich. Stattdessen geht der Kantianismus davon aus, ein
Wesentlichen auf den Non-Kognitivismus als Analyse religiöser Sprachäußerungen und werde auf eine Diskussion von Schleiermachers eigenem Ansatz weitestgehend verzichten, den man am besten gar nicht – und wenn, dann nur unter Angabe eindeutiger Textbelege – als ,Non-Kognitivisten‘ bezeichnen sollte. Vgl. unten I.4, S. 84 Fn. 13. 57 ,Natürlich‘ ist diese Form der Gottesrede zum einen, weil sie im Selbstverständnis ihrer Vertreter ein gerechtfertigtes Produkt rationaler bzw. inferentieller Fähigkeiten sein soll, die menschlichen Personen von Natur aus zukommen. Zum anderen soll deren Ausgangspunkt auch und v.a. in empirisch evidenten Tatsachen der uns umgebenden Natur und deren Struktur bestehen. Vgl. C/P 2020. Darüber hinaus meint der Ausdruck ,natürliche Theologie‘ im ursprünglichen stoischen Sprachgebrauch auch diejenige Disziplin, die wahre Aussagen über die Natur Gottes aufstellen möchte, im Gegensatz zur ,mythischen‘ und ,politischen Theologie‘. Vgl. P 2015, S. 87 f. sowie zur Rezeption der Disziplin in der christlichen Theologie ebd., S. 89–93. Vom stoischen Sprachgebrauch, soweit er sich nicht mit dem erstgenannten deckt, werde ich im Folgenden absehen. Hegel selbst spricht allgemein von „natürliche[r] oder rationelle[r] Theologie“ (Enz. § 36, GW 20, S. 74).
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positives Urteil über Gottes Existenz sei für das Gelingen unserer moralischen Praxis unumgänglich und in diesem Sinne praktisch-moralisch gerechtfertigt. Teil II widmet sich detailliert beiden Positionen, anhand derer man Hegels eigene Theorie religiöser Denk- und Begründungsformen am besten herausstellen kann. Der Hauptfokus wird hierbei aus zwei Gründen auf dem Kantianismus liegen: Zum einen entwickelt Hegel seine Analyse religiöser Denkformen und ihrer Rolle in der Überzeugungsbildung im Spiegel der kantischen Auffassung und Kritik der Gottesbeweise. Zum anderen setzt er sich hier mit den scheinbar stärksten Einwänden gegen die Möglichkeit der epistemischen Rechtfertigung des Gottesglaubens auseinander. Hinsichtlich des zweiten Punkts wird gezeigt, dass Hegel sowohl Kants Unmöglichkeitsnachweis als auch seine Idee der praktischen Rechtfertigung verwirft. Wie schon oben angedeutet, hält dies Hegel zwar nicht davon ab, selbst scharfe Kritik an der Schlussform der traditionellen Beweise zu üben. Das Spezifikum der hegelschen Position besteht aber gerade darin, durch diese Kritik zur eigentlichen Denk- und Begründungsform durchzudringen und von hier aus die kantische These von der Notwendigkeit des Gottesgedankens in revidierter Form aufzugreifen. Um der Komplexität von Hegels Thesen maximal gerecht zu werden, werde ich zunächst anhand des sog. ,kosmologischen‘ und ,teleologischen Arguments‘ jeweils die kantischen Thesen entwickeln, um dann Hegels Repliken und schließlich seine eigene Theorie religiösen Denkens herausarbeiten (Kap. II.2 und II.3). Hegels eigene Kritik an der Beweisform der Gottesbeweise als auch sein Modell religiöser Denkformen soll dabei an seiner Interpretation des kosmologischen Arguments rekonstruiert werden (Abschnitt II.2.4 und II.2.5). Dieses Modell wird sich dann nicht nur für das teleologische Argument bestätigen, das zusammen mit Kants Idee moralischer Rechtfertigung diskutiert wird (Kap. II.3). Analoges gilt auch für das sog. ,ontologische Argument‘, dessen religionsepistemologische Bedeutung ich vor dem Hintergrund von Hegels Systematisierung der Gottesbeweise erschließen werde (Kap. II.4). Nach der gesonderten Analyse der Form und Begründungsfunktion des Denkens in der Religion, wird im abschließenden Teil III dessen spezifisch religiöse Dimension in den Blick genommen. Dabei wird zunächst der wesentlich nichtreflexive und implizite Charakter des normalen Denkvollzugs rekonstruiert (Kap. III.2), um von dort aus dessen herausragende Rolle für den ,vorstellenden‘ Zugang zum Absoluten allgemein zu klären (Kap. III.3). Aus der Analyse dieser epistemologischen Kategorien werden zuletzt die religionshermeneutischen Konsequenzen von Hegels Ansatz gezogen. Dabei werde ich zum einen die Frage diskutieren, wie Hegel Probleme religiöser Diversität lösen möchte und was dies genau für seine Auffassung der nicht-christlichen Religionen bedeutet (Kap. III.4). Vor diesem Hintergrund kann dann Hegels berühmte und heiß umkämpfte These von der sog. ,Inhaltsidentität‘ von Philosophie und Religion in den Blick genommen werden, die ich abschließend anhand von vier ausgewählten Problemkomplexen hinsichtlich der hegelschen Deutung der christlichen Religion diskutieren werde (Kap. III.5). Dies bietet nicht nur Gelegenheit, die Dis-
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kussionsergebnisse nochmals Revue passieren zu lassen, sondern auch die Möglichkeit, Hegels These im Abgleich mit exemplarischen, philosophischen Positionen des klassischen Theismus58 auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Mit einem Resümee und einem erneuten Ausblick auf zeitgenössische Debatten wird die Arbeit schließlich abgerundet. Marginalien zu zwei hermeneutischen Schwierigkeiten Im Anschluss an die zeitgenössische Hegelforschung versteht sich die Arbeit in erster Linie als systematische Rekonstruktion von Hegels Überzeugungen und Argumenten. Wie in den o.g. Arbeiten ist hierbei die These leitend, dass man die Intention und den Sinn der komplexen Hegeltexte erst vor dem Hintergrund einer weitgehenden Wahrheits- und Rationalitätsunterstellung wirklich erschließen kann. Das principle of charity, das spätestens seit D. Davidson in der hermeneutischen Theorie weitgehend akzeptiert ist,59 hat dabei den Vorteil, dass es im Bestfall eine Theorie auch für moderne Debatten nachvollziehbar, wenn nicht gar attraktiv machen kann. Die zeitgenössische Religionsepistemologie und Metaphysik, die mit begrifflicher Schärfe und argumentativer Schlagkraft in vorbildlicher Weise gerade traditionelle Fragestellungen, Thesen und Argumente neu erschlossen hat und nach wie vor reformuliert, wird daher in dieser Studie eine ständige Gesprächspartnerin sein.
58 Der Ausdruck ,klassischer Theismus‘ wird in der zeitgenössischen Debatte weitestgehend als Sammelbegriff für Strömungen verwendet, die weitestgehend die Grundzüge des Gottesbegriffs akzeptieren, wie er insbesondere in der (Spät)antike und im Mittelalter u.a. von jüdischen, christlichen und muslimischen Denkern vertreten und ausgearbeitet und bis in die Frühe Neuzeit hinein in der ein oder anderen Variation akzeptiert wurde. Er wird dabei zumeist als Gegenbegriff zu der Gottesauffassung einiger zeitgenössischer Philosophen eingeführt (wie z.B. A. Plantinga und R. Swinburne), die B. Davies ,theistic personalism‘ genannt hat. Vgl. D 32004, S. 9–14. Grob gesprochen verstehen klassische Theisten Gott zunächst als letztes explanans der von ihm verschiedenen Wirklichkeit und explizieren von dort aus zunächst die negativen und dann erst personalen Gottesattribute, wie Intellekt und Wille. Umgekehrt nehmen ,theistische Personalisten‘ die Personalität Gottes, die zumeist unter cartesianischen Prämissen aufgefasst wird, zum Ausgangspunkt und kommen von dort aus zur expliziten Leugnung einiger traditioneller negativer Gottesattribute, v.a. der absoluten Einfachheit, Impassibilität, Unveränderlichkeit und zeitlosen Ewigkeit. Vgl. ebd., Chap. 1. Die Bezeichnung ,klassisch‘ ist freilich immer mit Vorsicht zu genießen, zumal es nicht ausgeschlossen ist, dass es nicht auch Überlappungen oder Mittelwege zwischen klassischen und nicht-klassischen Auffassungen geben kann. Vgl. A 1989a, Chap. 6. Als grobe Richtlinie für einen Vergleich mit Hegels theologischen Aussagen ist er m.E. aber dennoch gut geeignet. 59 In der klassischen Formulierung Davidsons: „If we cannot find a way to interpret the utterances and other behaviour of a creature as revealing a set of beliefs largely consistent and true by our own standards, we have no reason to count that creature as rational, as having beliefs, or as saying anything.“ (D 1973, S. 324) Eine besonders instruktive Erläuterung und Begründung des Prinzips findet sich in H 2018, S. 301–320.
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Gleichzeitig stößt man im Falle der vorliegenden Textgrundlage gleich auf eine doppelte Schwierigkeit: Zum einen wird gegen den genannten Zugang oft geltend gemacht, er werde dem durchgängig holistischen Charakter von Hegels Systementwurf nicht gerecht, der zudem noch den Anspruch erhebt, ,voraussetzungslos‘ entwickelt zu werden.60 Zum anderen zielt der Systemteil der Religionsphilosophie selbst auf eine philosophische Interpretation religiöser Behauptungen ab, die im Sinne des principle of charity deren intrinsische Wahrheit und Vernünftigkeit erschließen will. Eine Rekonstruktion von Hegels Ansatz ist daher notgedrungen mindestens eine Interpretation zweiter Stufe,61 die Hegels Prämissen und die interpretanda seiner Religionsphilosophie ebenso klar vor Augen haben muss wie die je eigenen philosophischen Überzeugungen, die notwendigerweise den Hintergrund der Deutung bilden. Beide Aspekte stellen jeden Interpreten vor Probleme, die eine ausführliche Analyse verdienen würden, die aber an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Sie müssen allerdings nicht dazu führen, vom genannten hermeneutischen Zugang abzusehen, wie ich zumindest kurz andeuten möchte. Was das erste Problem anbelangt, so sollte die Gesamtkonzeption des hegelschen Systems nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hegels Ausarbeitung den Anspruch auf Vollständigkeit de facto nicht erfüllt. Genau genommen scheint das nicht einmal in Hegels Selbstverständnis der Fall zu sein. Hegel nennt sein Hauptwerk Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und deutet damit schon selbst an, dass dort nicht jede einzelne logische Konsequenz gezogen wird, die mit der Akzeptanz bestimmter systematischer Rahmenannahmen verbunden ist.62 Zudem besteht kaum ein Zweifel daran, dass das von ihm anvisierte Kategorien- und Aussagesystem keineswegs mit den schriftlichen und mündlichen Behauptungen der Hauptwerke wie der Vorlesungen identisch ist, in deren Rahmen Hegel seinen Systementwurf formuliert. Wäre dies der Fall, hätte Hegel die Enzyklopädie si60 Vgl. etwa als paradigmatisches Beispiel H 1999 und die Diskussion in Q 2011, Kap. 3. 61 Der Sachverhalt wird freilich noch komplexer, da die religiöse Praxis sich auch selbst philosophisch deuten kann. Nach Hegels Aussage des Hinrichs-Vorworts geschieht dies genau dann, wenn das religiöse „Bedürfniß ungetrennt von dem Bedürfnisse und der Thätigkeit des Gedankens“ ist und die „Religion […] nach dieser Seite eine Wissenschaft der Religion, – eine Theologie“ (GW 15, S. 140) erforderlich macht. Als Paradigmenfall einer solchen philosophischen Selbstdeutung und -reflexion der christlichen Religion nennt Hegel die „scholastische Theologie“ des „Mittelalter[s]“, eine „Wissenschaft, welche die Religion nach der Seite des Denkens und der Vernunft ausgebildet und sich bemüht hat, die tiefsten Lehren der geoffenbarten Religion denkend zu erfassen.“ (ebd.) In der Enzyklopädie zitiert Hegel sowohl in der Vorrede zur zweiten Ausgabe (vgl. GW 20, S. 17) als auch im Text der Letztausgabe (vgl. Enz. § 77, GW 20, S. 117 Fn.) zustimmend aus Anselms Cur Deus Homo. 62 Diese Unterbestimmtheit zeigt sich insbesondere an den gerade mal acht Paragraphen, die in der letzten Ausgabe der Enzyklopädie dem Religionsbegriff gewidmet sind. Sie lassen so viel Interpretationsspielraum, dass Hegel seinen eigenen religionsphilosophischen Entwurf im Rahmen der Vorlesungen innerhalb von ca. zehn Jahren gleich dreimal überarbeitet hat. Dazu gleich mehr in der Übersicht über die Textgrundlagen.
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cherlich nicht nach der Erstveröffentlichung gleich zweimal revidiert und überarbeitet.63 Selbst wenn man daher annimmt, Hegels Projekt einer ,Enzyklopädie‘ strebe ein inferentiell geordnetes, logisch geschlossenes und alternativloses Kategorien- und Aussagesystem an, so folgt daraus weder, dass Hegel in den überlieferten Zeugnissen alle seine Konsequenzen korrekt gezogen und explizit gemacht hat, noch dass er selbst der Meinung gewesen sein muss, in all diesen Hinsichten gewissermaßen die „letzte Antwort der Philosophie“64 ausgesprochen zu haben. Der holistische Charakter des anvisierten Systems fordert vielmehr einen Umgang geradezu heraus, der das Bewusstsein möglicher Fehleranfälligkeit zum Ausgangspunkt einer kritischen Revision der jeweiligen Behauptungen und Begründungen nimmt. Schwerer wiegt hingegen der Einwand, in der positiven Aneignung einiger hegelscher Theoriestücke lege man sich direkt auf äußerst problematische, ontologische und epistemologische Grundüberzeugungen fest, die die Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Diskurse schlicht unmöglich machen.65 Abgesehen davon, dass ein solcher Einwurf in anderer Hinsicht weitaus weniger bescheiden ist, als er auf den ersten Blick wirkt,66 scheint er aber seinerseits am Selbstverständnis des hegelschen Philosophierens vorbeizugehen, das er zum Ausgangspunkt seiner Kritik macht. Hegel ist etwa der Meinung, dass die eigenen philosophischen Überzeugungen erst darin ihre Stärke beweisen, wenn gezeigt werden kann, dass alternative Positionen nur unter der impliziten Präsupposition der fraglichen Aussagen überhaupt kohärent und konsistent vertreten werden können. Die ganze Idee der sog. ,immanenten Kritik‘ besteht folglich darin, den Nachweis zu führen, dass konträre Theorieoptionen sich selbst auf genau diejenigen Konsequenzen festlegen, die sie explizit bestreiten.67 Erst die erfolgreiche 63 Von der WdL sagt Hegel am Ende zur Vorrede der zweiten Auflage, sie hätte gemessen an ihrer Tragweite und Materialfülle eigentlich „sieben und siebenzig mal“ (WdL I/1, GW 21, S. 20) revidiert werden müssen, wenn nur genügend Zeit und Muße vorhanden gewesen wären. Anders als M. Quante glaubt, muss man sich daher nicht einmal „als überzeugter Hegelianer“ notgedrungen als „philosophisch arbeitslos“ (Q 2011, S. 65) betrachten. Denn für Hegel selbst scheint gerade nicht in jeder Hinsicht zu gelten, dass „die Arbeit des Begriffs bereits getan ist“ (ebd.). 64 Ebd. 65 So der vieldiskutierte Vorwurf R.-P. Horstmanns in H 1999. 66 Aufgrund der weitverzweigten und unüberschaubaren Gegenwartsdebatte kann man sich höchstwahrscheinlich nie sicher sein, dass die als ,extravagant‘ eingestuften Positionen nicht doch in anderem Gewand wiederkehren. Vgl. hierzu bes. K 2013, S. 313 f. Der ontologische Monismus, den etwa Horstmann unter die problematischen hegelschen Rahmenüberzeugungen zählt, wird etwa längst in der analytischen Metaphysik verteidigt (vgl. S 2010a und . 2018), sogar im Rückgriff auf neo-hegelianische Argumente (vgl. u.a. S 2010b). Auch die laut Horstmann aus der Mode gekommene „System-Philosophie“ (H 1999, S. 276) feiert nach der Aussage N. Reschers seit dem Ende des letzten Jahrhunderts geradezu eine „Renaissance“ (R 1995, S. 783), wenn auch in einer Weise, die der enormen Ausdifferenzierung und Spezialisierung Rechnung tragen möchte. Vgl. ebd., S. 783 f. und ferner R 2005. 67 In den Worten der WdL formuliert: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des
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Durchführung dieser Form der Kritik zeigt, bestätigt und bewährt, was die alternative Theorie im Sinne ihrer eigenen korrekten Voraussetzungen enthalten sollte. Und selbst dort, wo Hegel seine eigenen Schlussfolgerungen vorweg formuliert, stellt er zudem an sie die Forderung, ihre Erklärungsleistung am jeweiligen Sachbereich auszuweisen.68 Will man also in der kritischen Würdigung den hegelschen Zielsetzungen und Überzeugungen selbst gerecht werden, scheint es irreführend, eine überschaubare Anzahl von hegelschen ,Grundüberzeugungen’ aufzuzählen – und zwar mit der Absicht, sie in ihrem Anspruch mit den impliziten oder expliziten (Meta-) Philosophien zeitgenössischer Ansätze abzugleichen und zu bewerten. Im Sinne Hegels sollte man eher die möglichst besten und scheinbaren Alternativen für sich selbst sprechen lassen, um Hegels Thesen dann im Spiegel dieser Theorien auf ihre argumentative Leistungsfähigkeit und Erklärungskraft zu prüfen.69 Dieser Ansatz schließt damit keineswegs aus, dass das Ergebnis konträr zu dem ausfallen könnte, was Hegel zu zeigen beansprucht. Er misst Hegel aber mit demjenigen Maßstab, den dieser selbst an eine erfolgreiche Systemkonzeption stellt.70 Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn ausserhalb seiner selbst angreiffen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.“ (WdL II, GW 12, S. 15) Die vielbeschworene ,Dialektik‘ liegt für Hegel damit auch und vor allem in den Theorien und ihren Gegenständen selbst (vgl. Enz. § 78A, GW 20, S. 118) und besteht in keiner neuen Auffassung der Rationalität, mit der Hegel intendiert mit früheren Traditionen radikal brechen würde, wie etwa Horstmann meint. Vgl. H 1999, S. 279 f. Im Falle konträrer Annahmen macht sie nur das explizit, was dort nachweislich schon selbst stecken soll. Dies unterstreicht gerade die relative Kontinuität, die Hegel seinem Ansatz zuschreibt. Vgl. hierzu H 2002, bes. S. 190–194; und zur ,dialektischen Methode‘ die immer noch lesenswerten Ausführungen in F 1958, Chap. 3. 68 So führt Hegel bspw. gleich zu Beginn des Kollegs von 1827 seinen Religionsbegriff nur als „Lemma“ (VPR 3, S. 265f) oder „Lehnsatz“ (ebd., S. 266) ein, um den Hörern dann zu versichern: „[D]ie Wahrheit wird sich im Fortgang selbst zeigen.“ (ebd., S. 265) Nach W. Jaeschke ist dies gerade der entscheidende Motor von Hegels ständiger Revision der jeweiligen religionsphilosophischen Entwürfe. Vgl. J 1986, S. 223 f. Dies zeigt sich bspw. daran, dass er schon gut vier Jahre nach der zitierten Äußerung besonders das Mittelstück seiner Konzeption nach einem Studium der ihm verfügbaren religionswissenschaftlichen Literatur überarbeitet hat. Vgl. hierzu H 2015, S. 178–182. 69 Was M. Quante über Hegels ,Ideenlogik‘ mit Bezug auf das Leib-Seele-Problem sagt, lässt sich daher m.E. auf Hegels gesamten Systemansatz erweitern: „Die einzige Rechtfertigung, die dieses metaphysische Herzstück der Philosophie Hegels haben kann und derer es bedarf, ist gerade der Nachweis seiner problemlösenden Kraft. Eine von dieser Bewährung unabhängige Rechtfertigung ist sicher nicht in Sicht; sie ist jedoch auch weder möglich noch notwendig.“ (Q 2011, S. 155) Wie vielversprechend so ein Ansatz ist, zeigen nicht nur Quantes eigene Arbeiten im zitierten Band, sondern auch die neueren Arbeiten zu Hegels Epistemologie und Geistphilosophie (vgl. u.a. H 2002, V 1988b und W 2010) wie die o.g. Studien zum Problem religiöser Diversität bei Hegel. 70 „Das wahre System kann daher auch nicht das Verhältniß zu ihm haben, ihm nur entgegengesetzt zu seyn; denn so wäre diß entgegengesetzte selbst ein einseitiges. Vielmehr als das höhere muß es das untergeordnete in sich enthalten.“ (WdL II, GW 12, S. 14)
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Damit rechtfertigt sich der wesentlich indirekte Weg, den die vorliegende Studie einschlägt, über die Diskussion alternativer Ansätze zum Kern von Hegels Theorie religiöser Denkformen vorzustoßen. Dabei werden nun auch explizit diejenigen religionsepistemologischen Kategorien erarbeitet, die Hegel seiner Deutung der Religionen zugrunde legt. Daraus ergibt sich ein möglicher Weg, mit dem o.g. religionshermeneutischen Problem umzugehen, das man der Übersicht halber grob mit zwei Fragen umschreiben kann: (1) Auf welche Konsequenzen legt sich Hegel mit seinen eigenen philosophisch-theologischen Prämissen und religionsepistemologischen Kategorien bzgl. der Deutung religiöser Behauptungen und Äußerungen fest? (2) Wird Hegels Deutungsversuch den interpretanda und den mit ihnen verbunden religiösen und theologischen Aussagen und Selbstdeutungen de facto gerecht?
Frage (1) zielt nur auf Hegels eigene Voraussetzungen, Frage (2) hingegen auf die Korrektheit der Konsequenzen seiner Interpretation ab. Damit reformulieren sie den oben erwähnten Schluss, dass jede systematische Würdigung der hegelschen Religionsphilosophie die Interpretation einer Interpretation darstellt, die in wohlwollender Absicht Hegels eigenen Überzeugungen und denen seiner interpretanda gleichermaßen Rechnung tragen muss. Hegels zentrale These der sog. ,Inhaltsidentität‘ von Philosophie und Religion hat dabei allgemein zur Konsequenz, dass aus jeder Antwort auf (1) direkt eine Aussage darüber folgen müsste, was religiöse Personen in ihren Selbstaussagen und -deutungen denken sollten, wenn sie damit etwas Wahres über sich selbst und ihren Bezugsgegenstand zu sagen beanspruchen.71 Da diese normative Vorgabe aber selbst mit dem Anspruch auftritt, das eigentliche Selbstverständnis religiöser Praxis zu treffen, provoziert sie gerade in Hegels Sinne eine Frage vom Typ (2). Um diesen Anspruch zu überprüfen, reicht freilich eine bloße Analyse der hegelschen religionsepistemologischen Prämissen nicht aus, wie sie in der vorliegenden Studie insbesondere in Kap. III.2. und III.3 vorgenommen wird. Vielmehr müsste man zumindest diejenigen Behauptungen und ihre Begründung ausführlich zu Wort kommen lassen, die einen gewissen autoritativen und kanonischen Status in der jeweiligen Religion genießen. Im Falle des Christentums gehören dazu alt- und neutestamentliche Texte, Glaubensbekenntnisse und eine möglichst überkonfessionell akzeptable, theologische Auslegungsoption.72 71 Noch komplizierter wird es hingegen, wenn ein benevolenter Interpret Hegels philosophische Aussagen im Licht seiner Deutung für korrekt oder akzeptabel hält. Jeder Deutungsvorschlag, einschließlich des vorliegenden, sollte sich daher zumindest der Gefahr bewusst sein, mehr in den Hegel- oder religionsspezifischen interpretanda wiederzuentdecken, als in ihnen selbst liegen. Vgl. dazu allgemein auch H 2018, S. 370–374. 72 W. Jaeschke bemerkt, dass diese plausible exegetische Vorgabe nicht immer wahrgenommen, geschweige denn angewandt wird: „Der Streit um die Christlichkeit der Philosophie Hegels […] wird nur selten am Maßstab eines theologisch reflektierten Begriffs der christlichen Religion ausgefochten. Weit häufiger ist es ein vorwissenschaftliches, naives Verständnis des Christlichen, das gegen Hegels Versuch des Begreifens der Religion ausgespielt wird.“
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Da der Fokus auf Hegels Theorie des religiösen Denkens liegt, soll die hier vorgeschlagene Antwort auf Frage (2) lediglich am Ende zumindest in Grundzügen entwickelt werden.73 Wegen der Vielschichtigkeit der Frage werde ich mich dabei nur auf einige der christlichen Lehrinhalte und diejenigen theologischen Deutungstraditionen konzentrieren, die man am ehesten mit Hegels Thesen ins Gespräch bringen und bündig diskutieren kann.74 Dass hierbei die Wahl gerade auf spätantike und mittelalterliche Autoren fällt, ist sicherlich zu einem gewissen Grad kontingent, rechtfertigt sich aber m.E. nicht zuletzt aufgrund der religionsphilosophischen Wertschätzung, die Hegel ihnen gerade im Spätwerk entgegenbringt,75 wie durch die enorme Wirkungskraft, die sie bis in die Frühe Neuzeit und in die Gegenwart hinein besitzen.76 Grundsätzlich geht es in diesem abschließenden Interpretationsvorschlag lediglich um das exegetische Problem, ob und inwieweit sich sachliche prima facie-Gründe für Hegels Anspruch anführen lassen, zumindest in ausgewählten Hinsichten das theologische Selbstverständnis des Christentums zu treffen. Damit wird weder unterstellt, dass Hegel jeden der unten angeführten Autoren selbst gelesen und rezipiert hat. Noch werden traditionelle Aussagen über Gott und sein Verhältnis zur Welt und zum Menschen als Wahrheitsstandard für Hegels eigene philosophische Prämissen eingeführt. Eine Antwort auf die Frage nach der Kompatibilität oder Überlappung zweier Aussage- und Überzeugungssysteme erfordert seitens des Interpreten ohnehin weder
(J 22010, S. 508) Welche genauen hermeneutischen und interpretationstheoretischen Konsequenzen man aus dieser Beobachtung ziehen kann, wird weiter unten in III.5.1 zu fragen sein. 73 Frage (2) werde ich hinsichtlich nicht-christlicher Religionen weitestgehend unbeantwortet lassen. Ein Zugang zu Hegels Umgang mit diesen Religionen wird schon dadurch erschwert, dass Hegels eigene Typologisierung und Individuierung, wie Th. Lewis zeigt, nicht mit der heute gängigen Einteilung in ,Weltreligionen‘ zusammenfällt, die man ohnehin mit kritischer Distanz betrachten sollte. Vgl. L 2015a. Ich werde daher wie Lewis nur Hegels eigene Bezeichnungen für diese Religionsgestalten verwenden und dies, wie bei den anderen technischen Ausdrücken, durch einfache Anführungszeichen anzeigen. 74 Hegels Einschätzung der traditionellen Eschatologie werde ich in Kap. III.5 allerdings ebenso ausblenden, wie die seit D.F. Strauß diskutierte Frage, wie sich Hegel philosophisch zu den evangelischen Erzählungen des Lebens Jesu positioniert, darunter insbesondere der Streitfall seiner leiblichen Auferstehung. 75 Vgl. oben Fn. 61. Auf diese und weitere Stellen in den veröffentlichten Texten und den Vorlesungen werde ich u.a. in III.3.3 näher eingehen. Unter den wichtigsten theologischen Einflüssen auf Hegel wäre natürlich auch Luther zu nennen. Dies betrifft etwa nicht nur Hegels Glaubensbegriff (vgl. H 2015), sondern v.a. seine Deutung und Hochschätzung der lutherischen Abendmahlsauffassung, die allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden kann. Vgl. hierzu u.a. Enz. § 552A, GW 20, bes. S. 533–541. 76 Das neuere Interesse an scholastischen Themen und Fragestellungen wurde eingangs schon erwähnt; auf die Kontinuitäten zu frühneuzeitlichen Denkern wie Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz haben neuerdings besonders A. Schmidt und H. Tegtmeyer aufmerksam gemacht. Vgl. S 2009 und T 2013.
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einen ständigen Abgleich mit den je eigenen Annahmen noch eine endgültige Entscheidung über deren Wahrheit.77 Aufgrund der Komplexität von Hegels religionshermeneutischen Thesen und insbesondere seines Verhältnisses zum traditionellen Gottesgedanken wird man vermutlich kaum auf einen Forschungskonsens hinsichtlich der Fragen vom Typ (2) hoffen dürfen. Blickt man bspw. nur auf die Gegenwartsdebatte um den klassischen Theismus und um sog. alternative Gotteskonzeptionen, wird deutlich, wie groß die Bandbreite möglicher Theorieoptionen ist, die man mit Hegels Ansatz plausiblerweise in Verbindung bringen kann.78 Vergleiche dieser Art drehen sich dabei nicht primär um die Frage, wo zwei verschiedene theologische Positionen nun genau übereinkommen. Sie können vielmehr die philosophisch interessante Fragestellung aufwerfen und bestenfalls beantworten, welche systematische Rolle die jeweilige Konzeption des ,Absoluten‘ oder ,Gottes‘ genau im jeweiligen theoretischen Gesamtansatz spielt und welche Strukturanalogien sich zwischen den Ansätzen herausstellen lassen,79 um von dort aus im Idealfall selbst eigene Schlüsse ziehen zu können. Eine eigenständige Antwort in diese Richtung kann in der vorliegenden Studie aber wegen des Fokus’ auf Hegels Religionsepistemologie – wenn überhaupt – nur angedeutet werden. Welche weitergehenden systematischen Schlussfolgerungen der hier vorgeschlagene Vergleich erlaubt, dürfen daher andere entscheiden. 77 Ein linkshegelianischer Interpret wie E. Bloch kann daher sowohl Hegels besondere Hochachtung der mittelalterlichen Theologie ebenso herausstreichen wie den Umstand, dass Hegel sich bis in seine Religionshermeneutik hinein bei dieser bedient – und dies, obwohl Bloch weder alle hegelschen und scholastischen Aussagen akzeptiert noch selbst der Meinung ist, Hegel teile all ihre Konsequenzen. Er schreibt: „Hegel dagegen rühmt die Scholastiker, die den Begriff bis auf die Mysterien ausgedehnt hatten, die ihren Gott in der Wahrheit anbeten wollten. Es ist diese Art Wahrheit und auch die Wahrheit Hegels, soweit sie sich am Katechismus entlang bewegt, gewiß keine Aufhebung des mythologischen Scheins, der so weithin das Weltbild der Religionsstifter füllt. Hegel selber hat die Vernunft reichlich dazu benutzt, um in seiner Religionsphilosophie die bloße Kirchenlehre zu legitimieren, ganz so, wie es der frühe Scholastiker, Scotus Erigena [sic!], verlangt hat: das Amt der Philosophie sei ,verae religionis regulas exprimere‘, also der Vernunft die vorhandene [sic!] Religion klarzumachen.“ (B 1962, S. 316 f.) Es gehört zu den Stärken von einer Interpretation wie der blochschen, auch auf diejenigen Stellen aufmerksam zu machen, die konträr zur eigenen Deutung stehen. Vgl. etwa auch ebd., S. 327 f. 78 Zu dieser neueren Debatte vgl. u.a. die Übersicht in G 2019. F. Knappik hat, soweit ich sehen kann, als einer der wenigen in der gegenwärtigen Hegel-Forschung auf die Vielfalt zeitgenössischer Gotteskonzeptionen hingewiesen, die für eine Hegel-Interpretation herangezogen werden können. Vgl. K 2013, S. 313 f. Fn. 41. 79 Ein Vergleich mit klassisch theistischen Positionen ist zudem schon deshalb lohnenswert, da spätestens seit A. Plantingas einflussreicher Kritik ihnen gegenüber immer wieder u.a. der Vorwurf erhoben wird, sie führten in letzter Instanz zur Leugnung der Personalität Gottes. Vgl. P 1980 und zur Diskussion auch S 2016. Kennern der hegelschen Religionsphilosophie dürfte dieser Vorwurf bekannt vorkommen. In einschlägigen Publikationen zu Hegels Gottesbegriff wird diese parallele Debatte hingegen praktisch nirgendwo auch nur erwähnt.
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Zu den Textgrundlagen Die Idee einer systematischen Rekonstruktion bestimmt neben dem Textumgang auch die Textauswahl. Der Fokus wird im Folgenden hauptsächlich auf Hegels Spätwerk liegen, das sich grob in zwei Textgruppen aufteilen lässt: Zur ersten Textgruppe (A) gehören die von Hegel veröffentlichten Werke, darunter zum einen die hegelschen Hauptwerke der Wissenschaft der Logik, die Grundlinien der Philosophie des Rechts sowie der Enzyklopädie und zum anderen Hegels späte Gelegenheitsschriften.80 Die zweite Textgruppe (B) umfasst hingegen die überlieferten Zeugnisse seiner umfassenden Vorlesungstätigkeit. Hierbei lassen sich nochmals drei Untergruppen unterscheiden, nämlich (a) Hegels eigene Manuskripte, (b) Vorlesungsnachschriften und schließlich (c) Vorlesungszeugnisse, die derzeit nur in sekundärer Überlieferung zugänglich sind. Die Textgruppe (a) wird für Hegels Religionsphilosophie durch sein Manuskript des Kollegs von 1821 abgedeckt; Textgruppe (b) hingegen durch die edierten Nachschriften der Kollegien von 1824 und 1827, wohingegen das Kolleg von 1831 v.a. in Auszügen aus der Nachschrift von D.F. Strauß überliefert ist.81 Zur Textgruppe (c) schließlich gehören die hier relevanten Vorlesungen über die Beweise vom Daseyn Gottes, die zuerst von Ph. Marheineke als Anhang zur ersten Ausgabe der Religionsphilosophie herausgegeben wurde, deren Manuskriptfassung aber als verschollen gilt.82 Je nach Einschätzung des jeweiligen Überlieferungswerts kann man unterschiedliche Selektionskriterien benennen und rechtfertigen. Idealtypisch lassen sich in etwa drei Deutungsoptionen nennen: So kann man (1) die höchste Authentizität in den nachgewiesenen Originaltexten sehen und folglich nur Textgruppe (A) und von Textgruppe (B) nur oder in erster Linie Manuskripte heranziehen.83 Ein solches Auswahlkriterium ist sicherlich nachvollziehbar, wird aber, wie W. Jaeschke gezeigt hat, dem späten Textkorpus nicht gerecht: Denn abgesehen von den Gelegenheitsschriften, wie Hegels Jacobi- und Göschel-Rezension und sein Vorwort zu: H.W.F. Hinrichs Religion, bleiben von den späten Drucktexten dann nur die acht Paragraphen der Enzyklopädie übrig, die sich zudem auf eine einzige Religionsform beziehen und von Hegel allein für den mündlichen Vortrag vorgesehen waren.84 Nimmt man nun das Manuskript von 1821 als ein80 Die späten Gelegenheitsschriften sind v.a. dann interessant, wenn sie – wie bspw. Hegels Göschel-Rezension – explizite Selbstdeutungen zu strittigen Behauptungen enthalten. Vgl. unten III.5.5. Vom Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes wird im Folgenden hingegen abgesehen, da es nicht zum selben Entwicklungsstadium wie die genannten Texte gehört. Vgl. J 1986, S. 220. 81 Zu den Textgruppen (a) und (b) vgl. insbesondere den detaillierten editorischen Bericht VPR 3, S. XIX–LXXXVI. 82 Vgl. den ausführlichen editorischen Bericht in GW 18, S. 394–400. 83 Unter den neueren Monographien scheint M 2018 diese Strategie zu verfolgen, die allerdings ihre Wahl der Textgruppe (A) wie des Manuskripts, soweit ich sehen kann, nirgendwo rechtfertigt. 84 W. Jaeschke schreibt daher zu Recht: „Es steht dem Interpreten […] nicht frei, wieweit er
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ziges belastbares Zeugnis von Hegels Vorlesungstätigkeit, wird man zum einen der Tatsache nicht gerecht werden können, das Hegel in den darauffolgenden Jahren bedeutende Revisionen und Überarbeitungen vorgenommen hat.85 Aufgrund seines größtenteils notizenhaften Charakters kann das Manuskript zum anderen auch nicht das Problem der Un- bzw. Unterbestimmtheit der enzyklopädischen Paragraphen lösen, das insbesondere auch die vorliegende Thematik betrifft. Aufgrund dieser und anderer Probleme hat W. Jaeschke daher (2) einen entwicklungsgeschichtlichen Zugang vorgeschlagen, der neben den erwähnten Textgruppen zugleich alle Nachschriften der späteren Kollegien abdeckt.86 Eine solche Option muss entsprechend den jeweiligen Entwicklungsstand unter denjenigen Hinsichten wiedergeben und rekonstruieren, in denen Hegel die Konzeption und Durchführung der Religionsphilosophie geändert hat.87 Wie Jaeschke bemerkt, betrifft dies v.a. die konkrete Einführung und Entwicklung des Religionsbegriffs und seine Analyse und Interpretation der sog. ,bestimmten Religionen‘ im Lichte dieses Begriffs. Für Hegels Theorie religiösen Denkens ist zwar insbesondere die zweite Hinsicht ausschlaggebend. Denn Hegels primärer Fokus auf die Gottesbeweise und deren Begriffe des Absoluten bei der Systematisierung nicht-christlicher Religionsformen lässt sich v.a. für die Kollegien von 1821, 1824 und 1831 nachweisen. Unabhängig von Hegels Zuordnung der Gottesbeweise zu Religionsformen ist dieser Hinweis aber weniger relevant, zumal Hegel seine allgemeinen religionsepistemologischen Thesen bzgl. der Gottesbeweise auch explizit 1827 formuliert.88
sich der Vorlesungen zu bedienen gedenkt. Sie sind auch unverzichtbar für die inhaltliche Erschließung des Enzykopädietexts. Allein der Rückgriff auf die Vorlesungen hemmt das sonst freie Spiel der Assoziationen.“ (J 1986, S. 222) 85 Dies betrifft freilich nur Ansätze, die generelle Aussagen über Hegels Religionstheorie treffen wollen, nicht aber Studien, die speziell an Hegels Ausführungen im Manuskript von 1821 interessiert sind, wie etwa der erhellende und instruktive Aufsatz S 2013. 86 Man kann den Verzicht auf Nachschriften nur bedingt mit dem Vorbehalt begründen, sie würden ja nicht von Hegel selbst stammen. W. Jaeschke weist zu Recht darauf hin, dass der Rückgriff auf mehrere, voneinander unabhängige Nachschriften, die synchron oder diachron entstanden sind, die Authentizität der Wiedergabe des Wortlauts plausibel machen. Vgl. J 1986, S. 220 f. Man wird zudem die Nachschriften schon deshalb nicht unter Generalverdacht stellen können, da Hegel nachweislich bisweilen zum Vortrag auf sie zurückgegriffen hat. Vgl. J 1993, S. XXXVII. 87 Ein solcher Zugang verfolgt Jaeschke selbst in J 1986. Für den dritten Teil von Hegels Religionsphilosophie wird er bspw. von P. Hodgson in H 2005 durchgeführt. 88 Vgl. oben Fn. 22. Trotz der Varianz in den Kollegien sollte man nicht deren Kontinuitäten aus den Augen verlieren. Dies betrifft nicht nur Hegels Umgang mit den nicht-christlichen Religionen (vgl. H 2015, S. 178–182), sondern auch Hegels Einführung, Begründung und generelle Entwicklung seines Religionsbegriffs. In diesem Sinne hat etwa F. Hermanni gezeigt, dass sich die Zugänge in den Kollegien von 1821 bzw. 1824 und 1827 komplementär zueinander verhalten. Vgl. H 2013, S. 141–150. Hinsichtlich der Gottesbeweisproblematik in der Religionsphilosophie könnte man vermutlich sogar noch eine
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Vor diesem Hintergrund legt sich (3) eine letzte Deutungsoption nahe, die sich in systematischer Absicht an Textgruppe (A) und in erster Linie am vorletzten Kolleg von 1827 orientiert, das anders als das Kolleg von 1831 durch Nachschriften vollständig überliefert ist und daher für viele Detailfragen einen gewissen Vorrang genießt.89 Dieser Zugang ist besonders für die Fragen nach Hegels Religionsbegriff und seinem Umgang mit religiöser Pluralität relevant und einschlägig, bezüglich der Gottesbeweisthematik hingegen nur bedingt anwendbar. Zum einen finden sich zum teleologischen und kosmologischen Argument weitaus umfänglichere Überlegungen in den übrigen Kollegien, insbesondere im Kolleg von 1824 und den Gottesbeweisvorlesungen von 1829. Zum anderen werden in den Kollegien von 1821, 1824 und 1831 die Gründe transparenter, warum Hegel die Auffassungen des Absoluten in ausgewählten Religionsformen von den einzelnen Beweisen her erschließen möchte. Wegen des Untersuchungsgegenstands der vorliegenden Studie kann daher keine der genannten Optionen (1)–(3) unter Ausschluss der anderen akzeptiert werden. Stattdessen sollen im Haupttext jeweils diejenigen Passagen aus den Textgruppen (A) und (B) ausführlich zur Sprache kommen, mit deren Hilfe sich die jeweiligen Sachfragen am besten bearbeiten und beantworten lassen.90 Im Fortgang der Analyse sollen dann die Stellen genannt, die die jeweils angesprochenen Punkte nochmals unterstreichen oder zusätzlich begründen können, bei den Vorlesungen dabei unter Angabe des jeweiligen Kollegs. Im Sinne der Option (1) besitzt die Textgruppe (A) und das Manuskript zwar stets einen gewissen Vorrang, aber eben nur dann, wenn die jeweilige Thematik dort klar und v.a. hinreichend bestimmt herausgestellt wird. Von einer genetischen Analyse der verschiedenen Entwicklungsstufen von Hegels Religionsphilosophie im Sinne von (2) wird ferner aufgrund des problemorientierten Ansatzes weitestgehend abgesehen und nur dort herangezogen, wo es für die systematische Erschließung von Hegels Thesen relevant ist. Dies betrifft v.a. die Frage der Zuordnung der Gottesbeweise und der Begriffe des Absoluten zu Religionsformen, die in Kap. III.4 näher betrachtet wird. Von Option (3) wird schließlich v.a. die systematische Orientierung an Hegels spätesten Entwürfen übernommen. Daher werde ich Hegels Enzyklopädie ausschließlich in der letzten Ausgabe von 1830 zitieren und bei strittigen Fragen des Umgangs mit den nicht-christlichen Religionsformen in
stärkere Kontinuität aufzeigen. Sie taucht etwa explizit in dem von Ph. Marheineke herausgegeben Manuskriptbruchstück zum kosmologischen Beweis auf, das man vielleicht sogar, wie W. Jaeschke im editorischen Bericht vermutet, auf die „Zeit der abschließenden Arbeiten seiner Wissenschaft der Logik“ (GW 18, S. 402) zurückdatieren kann. Zur Bedeutung dieses Texts vgl. auch unten II.2.3. 89 Diesen Weg schlagen etwa die Arbeiten von Th. Lewis und F. Hermanni ein, der stets Seitenblicke auf die anderen Kollegien wirft. Vgl. L 2011; H 2013; . 2015 und . 2017. 90 Die Parallelstellen in den anderen Texten und Kollegien gebe ich in den Fußnoten an, die aber nicht immer im Text ausführlich zitiert werden können.
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erster Linie die letzten beiden Kollegien heranziehen. Aus Gründen, die in den Kapiteln I.1, III.4.1 und III.5.5 genauer entwickelt werden, wird Hegels spekulativer Religionsbegriff allerdings nicht analog zur Enzyklopädie und zum Kolleg von 1827 gleich von vornherein in der vollausbuchstabierten Form eingeführt und diskutiert.
Teil I
Religion, Glaube und Gotteserkenntnis
1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung Die Kernfragestellung der vorliegenden Studie besteht in dem Problem, wie man mit und im Anschluss an Hegel den Rechtfertigungsstatus religiöser Überzeugungen im Allgemeinen und des Gottesglaubens im Besonderen systematisch einzuschätzen hat. Ein korrektes Verständnis dieser Frage setzt eine Vorverständigung über den Gegenstand der Bewertung voraus. Im Folgenden soll daher mit Hegel zunächst ein erster und genereller Begriff religiöser Einstellungen entwickelt und erläutert werden, um den Untersuchungsbereich genauer einzugrenzen (I.1.1). Von hier aus wird dann im Folgeschritt die Eigenart religiöser Überzeugungen geklärt, die sie zu einem besonderen Fall kritischer Beurteilung macht (I.1.2).
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute Bei der allgemeinen Klärung des Religionsbegriffs sieht man sich gleich mit einer sachlichen Schwierigkeit konfrontiert. Schon oberflächlich betrachtet scheint nämlich jeder Definitionsversuch mit dem Dilemma zu kämpfen, sich entweder zu restriktiv auf einzelne Paradigmenfälle von Religionen zu konzentrieren oder umgekehrt den Religionsbegriff so weit auszudehnen, dass letztlich jedes weltanschauliche Überzeugungssystem eine Religion darstellen könnte.1 Meint man damit bspw. die „Beziehung des Menschen zu seinem Seinsgrund oder zum Transzendenten“,2 würde man schon per definitionem praktische und theoretische Einstellungen ausschließen, die man zwar gemeinhin als Formen religiöser Praxis anerkennt, die sich aber ihrem Selbstverständnis nach eben nicht auf Entitäten3 1 Vgl. im Folgenden A 1967; S 22005, S. 159–161 und allgemein auch S 2005, Chap. 1. 2 T 2013, S. 322. Nach Tegtmeyer gewinnt man aus dieser Bestimmung erst im Rückgriff auf spezifisch aretaische Kategorien einen hinreichenden Religionsbegriff, die er mit den klassischen Glaubenstugenden identifiziert. Vgl. ebd., S. 327–334, bes. 332 f. 3 Im Anschluss an U. Meixner verwende ich hier und im Folgenden den Terminus ,Entität‘ als Bezeichnung für Bezugsgegenstände, mit der bewusst die ontologische Klassifikation und Kategorisierung offengelassen wird. Vgl. M 22011, S. 18 f. Mit ,Entität‘ ist daher nicht automatisch eine Substanz oder ein Einzelding einer bestimmten Art gemeint. Vgl. dazu auch unten im Exkurs in II.1, S. 146 Fn. 18.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
beziehen, die sich klar von der empirischen Wirklichkeit unterscheiden lassen.4 Streicht man hingegen die genannte Auszeichnung des Bezugsobjekts, besteht zum anderen die Schwierigkeit, dass man dann auch politisch-motivierte bis materialistische Weltanschauungen wie bestimmte Strömungen des Marxismus oder den Faschismus als ,Religion‘ bezeichnen müsste. Wirft man nun vor diesem allgemeinen Hintergrund einen oberflächlichen Blick auf die Definitionen, die Hegel im veröffentlichten Werk und in den religionsphilosophischen Kollegien anbietet, dann scheinen sich die genannten Schwierigkeiten dort eher zu verschärfen als zu lösen. Nicht nur scheint Hegel Lösungsversuche auszuschlagen, die statt einer Realdefinition lediglich Familienähnlichkeiten zwischen Paradigmenfällen der Religion herausstellen wollen.5 Darüber hinaus finden sich bei Hegel mindestens drei verschiedene Religionsbegriffe, die isoliert betrachtet weder in sich selbst noch hinsichtlich ihrer Beziehungen unmittelbar einleuchten. So meint Hegel im Rahmen seines wichtigsten Definitionsversuchs, man könne (1) die „höchste Sphäre“ des sog. „absolute[n] Geist[es]“ generell als „Religion“ (Enz. § 554, GW 20, S. 542) bezeichnen.6 Dieser Gattungsbegriff der Religion im weiten Sinne lässt sich ferner für Hegel nach der Form der epistemischen Bezugnahme spezifisch unterteilen. Religion zeichnet sich demnach (2) im engeren Sinne dadurch aus, dass es sein Bezugsobjekt spezifisch repräsentiert oder, wie Hegel sagt, ,vorstellt‘.7 Neben diesen beiden Theoriebegriffen bezeichnet Hegel schließlich (3) „Religion“ bisweilen auch schlicht als das „Bewußtsein von Gott überhaupt“ (VPR 3, S. 95). Prima facie sind mit jeder dieser Begriffsbestimmungen von vornherein Verständnisschwierigkeiten verbunden. So steht (1) zwar für den von Hegel favorisierten „spekulativen Begriff der Religion“ (ebd., S. 218).8 Identifiziert man allerdings den ,absoluten Geist‘ direkt mit dem Referenten religiöser Rede, dann scheint (1) unmittelbar zu suggerieren, dass religiös zu sein gar nicht erst ein Merkmal von menschlichen Personen oder Personengruppen ist, sondern vielmehr den Bezugsgegenstands selbst kennzeichnet. Nimmt man die Speziesunter-
4 Man denke etwa an Formen der Verehrung des ,Numinosen‘ in der Natur. Vgl. K 1990, S. 155–158. Ein weiterer damit verbundener Problemfall sind etwa Religionen, die nicht nur auf keine transzendenten Entitäten Bezug nehmen, sondern auch den Anspruch auf Letzterklärung abzulehnen scheinen, wie dies etwa Formen des Buddhismus tun. Vgl. G 21958, S. 340–346. Aufgrund seiner oben zitierten Definition stellt daher etwa H. Tegtmeyer in Frage, ob einige Strömungen des Buddhismus überhaupt echte Religionen sein können. Vgl. T 2013, S. 337–339. 5 Vgl. etwa A 1967, S. 141 f. Eine gute Diskussion neuerer Ansätze dieses Typs, die sich letztlich zugunsten einer Realdefinition der ,Religion‘ entscheidet, findet sich in S 2005, S. 7–12. 6 Zum Gattungsbegriff der Religion vgl. auch etwa VPR 3, S. 142 und M 2018, S. 28 f. 7 Vgl. Enz. § 565, GW 20, S. 551 und zu dessen Ausarbeitung im Kolleg von 1827 bes. H 2013, S. 146–150. 8 Vgl. VPR 3, S. 86 und 221 f.
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute
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teilung (2) hinzu, müsste man dann sagen, ,Religion‘ bezeichne im Allgemeinen dessen Selbstbeziehung, die sich danach unterteilen lässt, welche Erkenntnisform sie jeweils realisiert. In den Worten von W. Jaeschke ist ,Religion‘ im engeren Sinne dann nichts anderes als das „Selbstbewußtsein des Geistes in Form der Vorstellung“.9 Diese Probleme lassen sich daher leicht auf den Speziesbegriff (2) übertragen, der freilich die weitere Schwierigkeit mit sich bringt, dass die Form der ,Vorstellung‘ mit der Tatsache verträglich gemacht werden muss, dass Hegel dem von ihr unterschiedenen ,Denken‘ eine herausragende Rolle in der religiösen Überzeugungsgenese zuschreibt.10 In (3) wird schließlich besonders die Einengung auf ,Gott‘ stören. Und selbst wenn man zugunsten Hegels darauf verweist, dass die Begriffsmerkmale von „Gott überhaupt“ (VPR 3, S. 95) zu Beginn von Hegels Religionsphilosophie so weit gefasst sind, dass der Ausdruck nicht direkt den Gott der drei großen monotheistischen Religionen meint,11 stellt sich für Hegel selbst ein größeres Problem: Die Bestimmung hat nämlich die besondere Schwierigkeit, zunächst ein bloßer Alltagsbegriff oder eine „Vorstellung“ (ebd.) zu sein. Untechnisch gesprochen handelt es sich hierbei nur um das, was man sich gemeinhin unter der religiösen Bezugnahme ,vorstellt‘, und dies kann für Hegel nicht alle Erklärungsleistungen eines echten ,Begriffs‘ erbringen.12 Blickt man nun genauer auf Hegels umfängliche und komplexe Ausführungen zu den drei Religionsbegriffen, dann scheinen weder die exegetischen noch die genannten sachlichen Schwierigkeiten einen schlagenden Grund darzustellen, Hegels Definitionsbemühungen sofort für unzureichend zu erklären. Zwar lassen sich einige der genannten Fragen zu (1) und (2) erst durch eine genaue Analyse der Kategorien der ,Vorstellung‘ bzw. des ,Denkens‘ sowie des Begriffs des ,absoluten Geistes‘ klären, wie sie in Teil II und III vorgenommen werden. Um aber einen Einstieg in Hegels Religionsdefinition(en) zu finden, der für eine erste Begriffserläuterung hinreichend ist, bieten insbesondere Hegels Überlegungen zum Religionsbegriff in den Kollegien von 1821 und 1824 einen vielversprechenden Kompromiss. Denn dort gibt er unzweifelhaft zu verstehen, dass sowohl die Alltagsvorstellung der Religion als auch deren Explikation in den Religionstheorien von Hegels Zeitgenossen zumindest die Grundzüge des spekulativen Religionsbegriffs enthalten.13 Sie müssen sie sogar enthalten, wenn der spekulative Begriff das leisten soll, was Hegel von Begriffen allgemein verlangt – nämlich die 9 J 22010, S. 455. Diese Aussage scheint aber – isoliert betrachtet – irreführend, weil im Phänomen der Religion die Selbstbeziehung des religiösen Bezugsobjekts in ihrer Einheit mit der menschlichen Bezugnahme gedacht werden muss. Vgl. u.a. VPR 3, S. 221 f. und ferner H 2013, S. 142–144. 10 Zu diesen und weiteren Problemen siehe unten Abschn. III.3.2. 11 Die Rede von ,Gott‘ ist nach Hegels Maßstäben deshalb gerechtfertigt, weil im monotheistischen Gottesgedanken alle Bestimmungen des Absoluten letztlich zu einem kohärenten und vollständigen Begriff zusammenlaufen. Vgl. unten Kap. III.4 und III.5. 12 Im Kolleg von 1824 nennt Hegel diesen Religionsbegriff daher eine „empirische[…] Vorstellung“ (VPR 3, S. 165). 13 Vgl. die programmatischen Überlegungen ebd., S. 95 und 165 f.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
vollständige und kohärente Erklärung seiner Propria und die Einteilung seiner Subspezies zu ermöglichen, die folglich auch der Inhalt von korrekten alltäglichen und theoretischen Intuitionen darstellen muss.14 Entsprechend begeht man m.E. keinen exegetischen Fehler, wenn man bei der Diskussion um Hegels Religionsbegriff zunächst mit dem weniger anspruchsvollen Begriff (3) beginnt.15 Zuvor könnte man aber allgemein fragen, warum für Hegel ein erfolgreicher Religionsbegriff das genannte Spektrum eigentlich abdecken muss. Schon bei genauerem Blick zeigt sich nämlich, dass die Aussagen (1)–(3) in der Konjunktion drei Adäquatheitsbedingungen erfüllen sollen, die Hegel an eine erfolgreiche definitorische Eingrenzung des Religionsphänomens stellt.16 Beschränkt sich eine Analyse nämlich nur auf (3), wird damit suggeriert, dass Religiosität nur ein menschliches Phänomen darstellt und Behauptungen über religiöse Einstellungen prinzipiell nichts Wesentliches über das ihnen eigentümliche Referenzobjekt aussagen können.17 Isoliert man hingegen die Gattungs- und Speziesbestimmung (1) und (2), folgt entweder die irreführende Schlussfolgerung, Aussagen über Religion wären nur Beschreibungen des Bezugsobjekts. Oder sie kollabieren sofort in die Angabe einer bestimmten Klasse von Propositionen, die allein ein bestimmtes Selbstverhältnis und -verständnis menschlicher Personen bzw. Personengruppen ausdrücken – nämlich dann, wenn man den Begriff des ,absoluten Geistes‘ ohne Rücksichtnahme auf (3) disambiguiert.18 Konzentriert man sich schließlich nur auf (1) und (3), wird man nach Hegel der Besonderheit der religiösen Rede und Erkenntnis nicht gerecht, die ihren Bezugsgegenstand in der Regel nicht mit einem ausgefeilten theoretischen Vokabular, sondern zumeist – wie sich in Kap. III.3 zeigen wird – figurativ und metaphorisch beschreibt. Die erste Adäquatheitsbedingung zielt folglich darauf ab, dass in allen Paradigmen-
14 Vgl. ebd., S. 299–301, die Hegels Überlegungen in Enz. §§ 79–82, GW 20, S. 118–120. entsprechen. Auf Details dieser Anforderung werde ich weiter unten in Abschn. III.3.3 und Kap. III.4 näher eingehen. 15 Dass Hegel dieses Vorgehen auch in den späteren Kollegien nicht mit der direkten Explikation des spekulativen Religionsbegriffs für inkompatibel hält, die im Kolleg von 1827 im Vordergrund steht, zeigt etwa schon die Bemerkung, die er gleich zu Beginn der Analyse des zweiten Moments des Religionsbegriffs – des „Wissen[s] von Gott“ (VPR 3, S. 277) – äußert: „Wir sind hier auf dem Standpunkt des Bewußtseins von Gott und somit erst auf dem der Religion überhaupt.“ (ebd., S. 281) Zur Komplementarität der beiden Zugänge zum Religionsbegriffs vgl. bes. H 2013, S. 144–146. 16 Wie Hegel selbst diesen Adäquatheitsbedingungen im Kolleg von 1824 in der Durchführung gerecht wird, zeigt F. Hermanni ebd., S. 142–144. 17 Vgl. H 2011, S. 206 und ferner H 1987, Band 2, S. 645. 18 „Religion“ ist daher für Hegel auch „nicht Erfindung des Menschen“ (VPR 3, S. 45). Was für die Religion gilt, gilt für Hegel auch für den Bezugsgegenstand. So heißt es in seinen Gottesbeweisvorlesungen: „Wenn in der That unter der Religion nur ein Verhältniß von uns aus zu Gott verstanden werden sollte, so würde nicht ein selbstständiges Seyn Gottes zugelassen, Gott wäre nur in der Religion, ein von uns Gesetztes, Erzeugtes.“ (GVL, GW 18, S. 253) Auf die anti-feuerbachianischen Konsequenzen dieser Stelle weisen etwa E. Bloch und M. Westphal hin. Vgl. B 1962, S. 327 f. und W 1974, S. 32.
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute
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fällen durch die menschliche Bezugnahme die Natur von dessen Bezugsobjekt zumindest ansatzweise transparent wird.19 Die zweite Adäquatheitsbedingung soll hingegen den subjektivistischen Schluss blockieren, in religiösen Aussagen sprächen Personen nur direkt über sich selbst.20 Die dritte Adäquatheitsbedingung lenkt schließlich den Blick auf die spezifischen Ausdrucksformen religiöser Erkenntnis und Rede. Um von hier aus nun zu einer vorläufigen Arbeitsdefinition zu kommen, ist es zunächst hinreichend, sich auf die erste und zweite Adäquatheitsbedingung zu konzentrieren. Nimmt man nämlich beide zusammen, dann müsste folgen, dass man die Art der Bezugnahme zusammen mit der Eigenart des Bezugsobjekts fassen könnte – und zwar in einer Weise, die das Selbstverständnis religiöser Personen treffen sollte, die gewöhnlich ihr Bezugsobjekt dem Wesen nach von sich unterscheiden. Da das Verständnis der Details des ganzen hegelschen Religionsbegriffs eine Reihe komplexer Begriffsklärungen erfordern, die im Laufe der Arbeit geleistet werden, bietet es sich hier an, einen einfacheren Einstieg zu wählen. Der eleganteste Weg, um den beiden Adäquatheitsbedingungen in einem gerecht zu werden, besteht m.E. in dem Hinweis, dass schon eine grobe Klassifikation von Einstellungen und Haltungen etwas über deren interne Normen aussagt.21 Eine Klassifikation erlaubt nämlich eine schwächere Form der objektiven Bewertung, in der reflektiert und überprüft wird, wie sich eine individuell eingenommene Einstellung zu dem verhält, was Einstellungen ihrer Art im Allgemeinen ausmacht und kennzeichnet. Dabei sind die relevanten Korrektheitsstandards sowohl durch die kognitive Perspektive der Person als auch durch ihren spezifischen Bezugsgegenstand mitdefiniert.22
19 Vgl. unten III.5.5 und III.5.6. Fasst man bspw. religiöse Überzeugungen als erfolgreiche Wissensansprüche, dann lässt sich nach Hegel über den Redegegenstand sagen, dass sein tatsächliches Erkanntwerden zu den Zügen gehört, in denen manifest wird, was oder wer er ist. Entsprechend gilt für Hegel für den Bezugsgegenstand der sog. ,vollendeten Religion‘, dass er sich wesentlich dadurch auszeichnet, erkennbar zu sein bzw. sich in letzter Instanz zu erkennen zu geben. Vgl. Enz. § 564, GW 20, S. 54. So heißt es in den Gottesbeweisvorlesungen: „Der so eben gebrauchte und getadelte Ausdruck, daß Gott nur in der Religion sey, hat aber auch den großen und wahrhaften Sinn, daß es zur Natur Gottes in dessen vollkommener, an und für sich seyender Selbstständigkeit gehöre, für den Geist des Menschen zu sein, sich demselben mitzutheilen […]. Gott ist und giebt sich im Verhältniß zum Menschen.“ (GVL, GW 18, S. 253) 20 Allerdings erwägt Hegel zumindest den Grenzfall eines quasi-atheistischen Typus der magischen Praxis, in der das religiöse Subjekt sich als geistige „Macht über das Natürliche“ (VPR 4, S. 438) gewissermaßen selbst verehrt. Vgl. u.a. ebd., S. 176–179 und 438 f. Allerdings zögert Hegel dies als ,Religion‘ zu bezeichnen. Vgl. ebd., S. 429 und 435. 21 Bei den folgenden Überlegungen richte ich mich in erster Linie nach J.N. Findlays brillanten Ausführungen zum Thema in F 1955, S. 48–50 und in . 1967, S. 78–82. 22 In diesem Sinne gehört auch für Hegel zu den Spezifika einer unmittelbaren affektiven Reaktion eine ganz bestimmte Gegenstandsauffassung oder ,Vorstellung‘ zusammen mit der Antizipation der jeweiligen Konsequenzen für das Subjekt. Vgl. hierzu auch VPR 3, S. 126–128.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
Was damit gemeint ist, lässt sich mit J.N. Findlay leicht am Beispiel einer affektiven Einstellung der ,Furcht‘ veranschaulichen:23 Um korrekt behaupten zu können, eine bestimmte Person würde sich vor etwas fürchten, muss ich erstens voraussetzen, sie beurteile eine Situation bspw. vor dem Hintergrund ihres Überlebensinteresses als bedrohlich. Und dabei unterstelle ich zweitens, dass die Person den Bezugsgegenstand so auffasst, dass er ihr im genannten Kontext aufgrund seiner wahrgenommenen Eigenschaften de facto als furchterregend erscheint.24 Diese zweite Hinsicht erlaubt nun die erwähnte schwache Form der Bewertung. Denn die Wertung und das resultierende Verhalten kann selbst als inadäquat, im Grenzfall sogar als pathologisch aufgefasst werden. Ob dies der Fall ist, hängt dabei auch und v.a. von der Korrektheit der Gegenstandsauffassung und damit von der Frage ab, ob dem Bezugsobjekt die bedrohlich-machenden Eigenschaften tatsächlich zukommen oder nicht und die Reaktion entsprechend gerechtfertigt ist. Zugleich ist diese objektive Bewertung aber schwach, da man aus ihr alleine nicht schon schließen kann, dass etwa Furcht zu haben intrinsisch wertvoll und damit allgemein erstrebenswert ist. Über eine erste Klassifikation religiöser Einstellungen und Haltungen müsste man also die Form der religiösen Bezugnahme zusammen mit seinem Objekt genauer eingrenzen können. Mittels der korrekten Beschreibung der Einstellung erfährt man nämlich etwas über den Gegenstand und dessen Auffassung, wie es die erste Adäquatheitsbedingung erfordert. Insofern ersterer nun Teil des Maßstabes einer objektiven Bewertung ist, vermeidet man zugleich gemäß der zweiten Adäquatheitsbedingung subjektivistische Fehlschlüsse. Tatsächlich findet sich an einer unscheinbaren Stelle, die vermutlich dem Kolleg von 1831 entstammt, eine Kennzeichnung, die solche Schlussfolgerungen erlaubt. Dort erinnert Hegel an eine geläufige Etymologie von ,Religion‘, die er bei Cicero zu finden meint,25 und schreibt:
23 „[F]ear is an attitude very readily evoked in situations with a character of menace or potential injury, and it is also an attitude very readily allayed by the clear perception that a given situation isn’t really dangerous.“ (F 1955, S. 49) Mit Hegel könnte man damit leicht einen analogen Fall einer religiösen Furcht erwägen. Vgl. VPR 3, S. 129; und zu den Korrektheitsstandards von Einstellungen als solchen vgl. auch F 1955, S. 49 f. und . 1967, S. 79 f. 24 Ich setze hier nicht voraus, dass die Situationsbewertung der Person notwendig in Urteilen artikuliert wird. Wie sich in I.4 zeigen wird, kennt Hegel spontane, vor-propostionale Formen der Bewertung. 25 Dass diese Etymologie vermutlich auf Laktanz zurückgehrt, ist in diesem Kontext nicht ausschlaggebend. Vgl. die Anmerkung in VPR 4, S. 795 f. Relevant scheint hier auch Augustinus’ bekannte Etymologie in De vera religione: Religet ergo nos religio uni omnipotenti deo (De ver. rel., LV. 113). Allerdings wird Augustinus in Hegels Religionsphilosophie – soweit ich sehen kann – nirgends zitiert.
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute
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So leitet auch Cicero vollkommen im Sinne des römischen Geistes die Religion von religare ab, denn in der Tat ist für diesen die Religion in allen Verhältnissen ein Bindendes und Beherrschendes gewesen. (VPR 4, S. 588 Fn.)26
Hegel spricht hier zwar weniger über den Religionsbegriff als solchen, sondern über die Selbstdeutung einer individuellen Religion, die seiner Meinung nach von Cicero korrekt erfasst worden ist. Hegel fasst die ,römische Religion‘ aber als einen Paradigmenfall einer Religionsgestalt auf. Daher muss es an dieser Stelle auch nicht stören, dass er die ,römische Religion‘ in der Theorieperspektive besonders kritisch bewertet.27 Denn dies setzt schon voraus, dass sie überhaupt im Lichte eines erfolgreichen Religionsbegriffs betrachtet werden kann, auf dessen Basis dann die entsprechenden evaluativen Rückschlüsse gezogen werden. Der Weg über die genannte Etymologie ist zudem nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil sie sich leicht mit Definitionsversuchen engführen lässt, die man in analoger Form sowohl zu Hegels Zeiten als auch noch heute vorfindet.28 In einer angereicherten Analyse erlaubt sie zugleich Rückschlüsse auf die möglichen Attribute des Bezugsobjekts selbst. Dazu muss man nur im Anschluss an J.N. Findlay überlegen, wie ein Bezugsobjekt beschaffen sein muss, um zu Recht die Haltung des ,re-ligare‘ seitens menschlicher Subjekte zu provozieren. Konkreter formuliert muss man daher nur fragen, wann es für eine Person angemessen ist, sich „in allen Verhältnissen“ (ebd.) ihrer Lebenspraxis an das Bezugsobjekt zu ,binden‘ und in diesem Sinne in ihrer ganzen Existenz ultimativ ,beherrschen‘ zu lassen. Offenbar kann dies nur dann gelingen, wenn dessen Güte und Wert so groß ist, dass die menschliche Ausrichtung auf diesen Bezugsgegenstand nicht noch einem höheren Zweck untergeordnet werden kann. In den Worten von Hegels Manuskripts wäre es damit „Prinzip und der Endpunkt, Wahrheit von allem und jedem Tun, Beginnen und Bestreben“ (VPR 3, S. 4).29 26 In der Strauß-Nachschrift heißt es analog: „Die Römer gelten für das religiöseste Volk – aber die Religion war für sie ein Anbindendes und Beherrschendes.“ (VPR 4, S. 641) 27 Dies zeigt sich schon deutlich im Manuskript, wenn Hegel etwa das Spezifikum der römischen Pietät mit Schleiermachers Begriff vom „Gefühl der Abhängigkeit“ (VPR 4, S. 115) zu fassen versucht. Vgl. ebd., S. 114 f. und 125. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, warum Hegel in der Anwendung der o.g. allgemeinen Bestimmungen auf die ,römische Religion‘ zu diesem Urteil kommen kann. Zu Hegels Einschätzung der ,römischen Religion‘ vgl. auch unten Abschn. I.4 und bes. III.4.2. 28 Noch Kant versteht „Religion“ als „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (KU § 91, B 477). Moraltheologie impliziert in diesem Sinne für ihn Religion, „weil die Erkenntnis unserer Pflicht und des darin uns durch Vernunft auferlegten Endzwecks den Begriff von Gott zuerst bestimmt hervorbringen konnte, der also schon in seinem Ursprunge von der Verbindlichkeit gegen dieses Wesen unzertrennlich ist“ (ebd.; vgl. auch KpV A 233/AA V, S. 129). In einem ausgeweiteten, aber verwandten Sinne spricht etwa H. Putnam vom „existential commitment“ (P 1997b, S. 183) in religiösen Einstellungen. 29 Diesen Endzweckcharakter betont Hegel gleich zu Beginn von allen Kollegien. Vgl. VPR 3, S. 3, 31 f., 61 f. und 351. Die ,römische Religion‘ zeichnet sich dabei für Hegel gerade dadurch aus, dass sie dies zum konstitutiven Moment ihres Selbstverständnisses macht – wenn auch unter falschen Vorzeichen. Vgl. unten III.4.2.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
Fasst man mit Findlay nun das normgebende Bezugsobjekt religiöser Einstellungen in diesem Sinne als Paradigma der „unsurpassable supremacy“30 auf, dann lassen sich daraus weitere Attribute erläutern, die – wie ich zeigen will – allesamt in Hegels eigenen präliminären Beschreibungen auftauchen.31 Damit dem Referenzgegenstand nicht andere Güter einfach beigeordnet sein können, muss es zunächst so verfasst sein, dass nichts von ihm unterschiedenes ,neben‘ ihm bestehen kann.32 In der einen Hinsicht folgt daraus, dass (a) die Güte aller anderen Entitäten in gewisser Weise in ihm enthalten sein müssen. Es muss damit alles das (mit) umfassen können, was diese Dinge ,gut‘ und damit im erweiterten Sinne zu dem macht, was sie eigentlich sind.33 In der anderen Hinsicht dürften diese nicht einfach nur für sich existieren können, sondern müssen in letzter Instanz (b) vom fraglichen Bezugsobjekt ontologisch abhängig sein, während dieses selbst unabhängig ist. Mit diesem ersten Schritt hat man nun schon zwei der Wesenszüge derjenigen Entität eingeholt, die ich hier und im Gesamtverlauf der Arbeit mit Hegel „das Absolute“ (Enz. § 85, GW 20, S. 121) nennen werde.34 Hinsicht (b) entspricht dabei dem, was Hegel auch ,Substantialität‘ nennt;35 Hinsicht (a) hingegen kommt mit Hegels Gedanken der konkreten ,Allgemeinheit‘ bzw. ,Totalität‘36 überein. 30 F 1955, S. 51. Die modale Verstärkung, die direkt eine Engführung mit Anselm erlaubt (vgl. F 1967, S. 78), ist m.E. die Kernprämisse von Findlays ganzer Argumentation. 31 Ich orientiere mich hier weitestgehend an der besonders übersichtlichen Zusammenfassung im Kolleg von 1827 in VPR 3, S. 266–269 und verweise auf Parallelstellen in anderen Texten. 32 Vgl. F 1955, S. 51 und zu den beiden oben entwickelten Hinsichten ebd., S. 51 f. Diese Bestimmung schließt nicht direkt einen Polytheismus aus. Erstens könnte man den Inbegriff des verehrungswürdigen Guten in religiöser Perspektive einfach mit dem Götterhimmel identifizieren. Zweitens weist Hegel darauf hin, dass es auch in Polytheismen jeweils höhere Ordnungsprinzipien gibt: In der ,griechischen Religion‘ entspricht dem etwa das blinde ,Schicksal‘, dem die Götter unterworfen sind. Vgl. u.a. VPR 4, S. 543. In der ,römischen Religion‘ hingegen ist es der ,Endzweck‘, der im Erhalt und in der Expansion des römischen Imperiums besteht, das durch Jupiter repräsentiert wird. Vgl. u.a. ebd., S. 580–582. Für den Hinweis auf das Polytheismusproblem danke ich H.G. Melichar. 33 Hegel spricht bisweilen auch schlicht von „Gott“ als der „Wahrheit von allem“ (VPR 3, S. 266). Vgl. zu dieser Formel bes. S 2013, S. 411–417 und auch unten II.4.2, S. 356–368. 34 Vgl. VPR 3, S. 272. Wenn nicht anders vermerkt, werde ich im Folgenden diesen Kennzeichnungsausdruck im weiten, nicht-technischen Sinn verwenden, wie er im oben zitierten Kontext der enzyklopädischen Logik vorkommt. Die Schlussfolgerung für die Bestimmung des religiösen Bezugsobjekts fasst Findlay unabhängig von Hegel prägnant zusammen: „It is an absolute since it is given as being, and as being what it is, entirely a se, in and through itself, not in virtue of anything that is not itself, and it is a religious absolute, since it is the one thing wholly fitted to satisfy the attitude of worship, of complete, unconditional self-dedication, in which religion consists.“ (F 1967, S. 78) 35 „Alles andere, was wirklich ist, ist nicht für sich wirklich, hat kein Bestehen für sich; die einzige absolute Wirklichkeit ist allein Gott. So ist er die absolute Substanz.“ (VPR 3, S. 269) Näheres dazu unten in Abschn. II.2.5 und III.5.2. 36 „Gott in seiner Allgemeinheit – dies Allgemeine, in dem keine Schranke, Endlichkeit,
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Dass Spinozas Substanzen- und Gottesdefinition im Hintergrund der beiden Bestimmungen liegt, muss hier noch nicht als ein Nachteil gewertet werden.37 Im Gegenteil: Sie erlaubt vielmehr für Hegel weitere Rückschlüsse, die wiederum mit denjenigen Findlays analog, wenn nicht identisch sind. Zum einen könnte man nämlich fragen, ob eine beliebige Entität wirklich in beiden Hinsichten ,absolut‘ genannt werden kann, wenn dessen Existenz sich einfach nur kontingenterweise vorfinden lässt.38 Möchte man diese These vermeiden, müsste man daher einen Typus der Erklärung plausibel machen, der zugleich der Unabhängigkeit oder – traditionell gesprochen – der Aseität des Absoluten gerecht werden kann, die in Spinozas Rede vom ,In-sich-sein‘ (in se esse) der Substanz anklingt. Der naheliegendste Kandidat wäre sicherlich eine Erklärung, die zumindest in letzter Hinsicht auf das rekurriert, was das Absolute eigentlich ist.39 Daraus würde nicht nur eine starke Form der metaphysisch notwendigen Existenz folgen. In einem Folgeschritt könnte man dann die zweite Frage aufwerfen, ob sich der selbsterklärende Status der Natur des Absoluten nicht auch auf diese selbst beziehen müsste. Andernfalls würde sein Wesen nämlich nur in einer losen Konjunktion verschiedener Attribute bestehen, deren Zusammenhang entweder dem Absoluten selbst äußerlich wäre oder selbst nur kontingenterweise bestehen würde.40 Sind nun Attribute und Wesenszüge notwendig für ein korrektes Erfassen einer Entität, dann kann man beide Überlegungen mit Hegels Rückgriff auf Spinoza auch so ausdrücken, dass das Absolute ,durch sich selbst begriffen‘ (per se concipi) oder erklärt werden können muss.41 Sie deuten damit schon an, warum für Hegel jede echte epistemische Bezugnahme auf das Absolute in letzter Instanz aus diesem selbst heraus erklärbar sein muss.42
Besonderheit ist, ist das absolute Bestehen und allein das Bestehen; und was besteht, hat seine Wurzel, sein Bestehen nur in diesem Einen.“ (VPR 3, S. 268 f.) Vgl. auch ebd., S. 130 f. und zum Totalitätscharakter etwa ebd., S. 22 und 106. 37 Vgl. Eth. I, def. 3 und 6, S. 4–6. Ich folge hier den instruktiven Erläuterungen in H 2008, S. 19–24. Mit G. Hindrichs gehe ich auch davon aus, dass die beiden definientia der spinozianischen Substanzendefinition den Kern des Begriffs des Absoluten erfassen. 38 Vgl. F 1955, S. 52 f. 39 Vgl. Enz. § 214, GW 20, S. 216 und ferner F 1955, S. 52. Auf Hegels religionsphilosophische Aneignung der Ontotheologie gehe ich unten in Abschn II.4.2 näher ein. 40 Zur Selbstbestimmung des Absoluten vgl. auch VPR 3, S. 268 f. und H 2008, S. 20–22. J.N. Findlay entwickelt dieselbe Schlussfolgerung aus dem klassischen Gedanken der absoluten Einfachheit Gottes. Vgl. F 1955, S. 52–54 und prägnant auch . 1970, S. 178. 41 Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur; hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat. (Eth. I, def. 3, S. 4) Hegel selbst hält „diese Begriffe“ für „tief und richtig“ (WdL I/2, GW 11, S. 376) und lehnt lediglich deren Status als vorangestellte, nicht-explizierte Definition ab. Aus der Selbstanwendung des zweiten definiens folgt nämlich: „[D]as Absolute kann nicht ein Erstes, Unmittelbares seyn, sondern das Absolute ist wesentlich sein Resultat.“ (ebd.) Die Konsequenzen für die Erkennbarkeit des Absoluten werden in unten in II.2.4 näher erläutert. 42 Dieser Gedanke steht m.E. auch im Hintergrund der Definition von ,Religion‘ im wei-
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
Die Bestimmungen der ,Totalität‘, ,Substantialität‘, der explanatorischen ,Selbstbestimmung‘ und der daraus folgenden metaphysischen ,Notwendigkeit‘ werden uns in den folgenden Abschnitten noch genauer beschäftigen. Für eine erste Zwischenkonklusion ist hier nur abschließend fragen, ob die skizzierte Analyse religiöser Haltungen nicht nur Hegels Adäquatheitsbedingungen einlöst, sondern auch eine Antwort auf die oben aufgeworfenen Sachfragen bietet. Dazu muss lediglich daran erinnert werden, dass die angestellten Überlegungen nur etwas darüber aussagen, was in der vollständigen Explikation für eine beliebige Entität gelten müsste, die – ultima facie – würdig ist, ein bzw. das religiöse Bezugsobjekt genannt zu werden. Daraus alleine folgt aber weder, dass es diese Entität tatsächlich gibt und eine entsprechende Einstellung daher prinzipiell eingenommen werden sollte.43 Noch impliziert dies, dass in der Teilnehmerperspektive jeder einzelnen Religion die genannten Bestimmungen und deren Implikationen de facto vorkommen. Unter der Voraussetzung der Korrektheit der Analyse besagt sie lediglich so viel, dass dieser Begriff zumindest ansatzweise Teil eines jeden religiösen Selbstverständnisses sein bzw. werden sollte, wenn eine religiöse Haltung eingenommen wird. In diesem Sinne ist es durchaus möglich, dass individuelle Religionen das Absolute nicht direkt als metaphysisch notwendig und selbst-erklärend konzeptualisieren. Es wäre lediglich zu erwägen, ob ihr Referenzobjekt nicht immer schon in der spezifisch religiösen Teilnehmerperspektive die Minimalbedingung erfüllen muss, in ontologischer und axiologischer Hinsicht unbedingt bzw. unabhängig zu sein.44 Ihr „Gegenstand“ wäre dann mit Hegels Manuskript gesprochen „allein durch sich selbst und um seiner selbst willen; er ist dies sich schlechthin Genügende, Unbedingte, Unabhängige, Freie, sowie der höchste Endzweck für sich.“ (VPR 3, S. 4) Ein solche Kennzeichnung des Absoluten würde damit – mit J.L. Schellenberg gesprochen – mindestens die Kriterien ontologischer und axiologischer ,Letztheit‘ („ultimacy“45) erfüllen, die sich für eine erste Arbeitsdefinition des Religiten Sinne. Denn im Sinne von (1) ist „Religion“ laut Hegel „eben so sehr vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten“ (Enz. § 554, GW 20, S. 542). Zu den Details dieser komplexen These vgl. unten II.2.4, II.4.2 und III.5.5. 43 Das zeigt sich spätestens daran, dass wenn Aseität notwendige Existenz impliziert, Aussagen über letztere aber logisch inkonsistent sind, der Atheismus deduktiv unvermeidlich wird. Vgl. F 1955, S. 54–56. Allerdings gilt unter Voraussetzung des für S5 charakteristischen Axioms auch umgekehrt, dass schon die logische Möglichkeit der Notwendigkeitsaussage deren Wahrheit impliziert. Vgl. F 1967, S. 89 und P/R 2018, S. 29 f. 44 Zum selben Ergebnis kommt J.L. Schellenberg in seinen Überlegungen zum Religionsbegriff: „The notions of an ultimate reality (notice the commonness of god-language), an ultimate human good (think of salvation or liberation), and an ultimate commitment (consider how references to devotion are woven into religious talk) appear to be at the heart of almost anything that goes by that name [= of religion, W.L.].“ (S 2005, S. 18) 45 Ebd., S. 26. Nimmt man noch hinzu, dass das axiologische Letzte in der religiösen Perspektive als höchstes Gut für den Menschen Heilsbedeutung besitzt, dann hat man alle definientia der Religion nach Schellenberg zusammen. Vgl. ebd., S. 23.
1.1 Begriff(e) der Religion und das Absolute
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onsphänomens gut eignet. Zwar werden wir insbesondere in der weiteren Analyse sehen, dass diese erste Annäherung noch nicht explizit alle metaphysischen und religionsepistemologischen Feinheiten von Hegels Religionsbegriff zusammen mit dessen Erklärungspotentialen formuliert.46 Dennoch sind sie nicht nur schon implizit in der Arbeitsdefinition enthalten. Sie reicht vielmehr schon hin, um eine erste Antwort auf die eingangs erwähnten Probleme zu geben. Zum einen muss die Kennzeichnung an dieser Stelle noch keine detaillierten Auskünfte darüber geben, ob etwa das Absolute als ultimatives explanans in der Perspektive aller Religionen einem klar unterschiedenen Gegenstandsbereich angehört. Damit ist der erste Arbeitsbegriff nämlich nicht nur weit genug, um auch Religionen einzufangen, die keine starke Transzendenzauffassung entwickeln.47 Er gibt zum anderen auch an, wann eine scheinbar bloß politische Ideologie religiöse Züge entwickelt. Sie tut es für Hegel etwa dann, wenn sie – wie die ,römische Religion‘ – die Entwicklung und Erhaltung eines bestimmten politischen Gemeinwesens als letzten finalen Existenzgrund der (aktualen) Welt konzipiert.48 Da nun in der hegelschen Theorieperspektive ein staatliches Imperium nicht alle Begriffsmomente des Absoluten erfüllen kann, entwickelt die ,römische Religion‘ eine nachweisbar fehlgeleitete Konzeption des religiösen Bezugsgegenstands und ist damit für ihn ein instruktiver Paradefall eines möglichen Selbstmissverständnisses religiöser Einstellungen. Sie zeigt aber an, dass Hegel über ein Kriterium verfügt, unter welchen Bedingungen etwa eine atheistische, politische Weltanschauung Züge einer echten Religion zu entwickeln beginnt: Sie tut dies nach dem oben Gesagten etwa dann, wenn sie erstens das, was wirklich im Fundament der uns erfahrbaren Welt liegt, mit dem u.U. rein materiellen Universum selbst identifiziert und daraus womöglich theoretische Aussagen über dessen notwendige Entwicklung gewinnt. Diese enthalten dann zweitens nicht nur Konsequenzen über die Zielrichtung der Gesamtwirklichkeit, sondern v.a. für die Frage der Erfüllung menschlichen Lebens im Spiegel der so erfassten Gegenwart oder der antizipierten Zukunft.49
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Vgl. dazu unten Kap. III.4. Man könnte höchstens mit F. v. Kutschera anmerken, dass etwa im Erleben von ,Numina‘ in Naturvorgängen und Ereignissen eine schwache Form von Transzendenz impliziert ist, eben weil bestimmte Naturgegenstände und Artefakte als religiös bedeutsam erfahren werden und damit den Bereich normaler und gewöhnlicher Gegenstände übersteigen. Vgl. K 1990, S. 168–170. Der Begriff eines ontologischen, axiologischen und soteriologischen ,Letzten‘ hält sich aber gegenüber schwachen und starken Transzendenzthesen neutral. Vgl. S 2005, S. 27. 48 Zu weiteren Details von Hegels Kritik vgl. unten I.4 und unten III.4.2. 49 So formuliert, könnte man vielleicht auch A. Plantingas tentativ geäußerte These einholen, auch beim neu-atheistischen Naturalismus handle es sich um eine „quasi-religion“ (WCRL, S. x). 47
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung Gleichzeitig zeigt die skizzierte Analyse an, dass für Hegel monotheistische Religionen nicht direkt unter denselben Schwierigkeiten zu leiden haben.50 Deren Gottesbild hat für ihn daher weitaus bessere Chancen zu einer kohärenten und vollständigen Beschreibung des Absoluten zu führen – und das selbst unter der Voraussetzung, dass religiösen Personen dies aufgrund ihrer Rede- und Ausdrucksform nicht immer (vollständig) transparent ist. Wie Hegel dieser Generalthese gerecht wird, wird im Laufe der Arbeit zu zeigen sein. Setzt man sie zumindest hypothetisch voraus, dann wird man sich an Hegels bisweilen synonymer Verwendung von ,Gott‘ und dem ,Absoluten‘ nicht stoßen. Diesem Sprachgebrauch werde ich, wenn nicht anders angegeben, folgen und unter ,theistischen Überzeugungen‘ solche verstehen, die das Absolute in der Vollbestimmung zum Inhalt haben. Damit stellt sich unmittelbar die Anschlussfrage, was nun den Charakter der mentalen Bezugnahme in der Religion genauer ausmacht und warum sie ein besonderes Objekt epistemischer Beurteilung darstellt. Versteht man dies wiederum vom o.g. Begriff der Religion als „Bewußtsein von Gott“ (VPR 3, S. 95) her und folgt allein dem technischen Wortgebrauch von Hegels Enzyklopädie, dann wird man zunächst mit einem weiteren exegetischen Problem konfrontiert. Unter ,Bewusstsein‘ versteht Hegel nämlich im engeren Sinne eine bestimmte Auffassung der Subjekt-Objekt-Beziehung in kognitiven und volitiven Einstellungen. Ihr gemäß führt die Unterscheidung spezifischer repräsentationaler Gehalte von deren Bezugsobjekten zur scheinbaren epistemischen Unzugänglichkeit der Erkenntnisgegenstände.51 Da sich beide Seiten damit gegenseitig ausschließen würden, nennt Hegel diese Vorannahme auch den „Gegensatz des Bewusstseyns“ (WdL I/1, GW 21, S. 64).52 Würde man religiösen Personen diese Auffassung unterstellen, dann würden sie sich offensichtlich in der misslichen Lage befinden, im Rahmen von Überzeugungen Erkenntnisansprüche zu erheben, die sie selbst für prinzipiell uneinlösbar halten. Dass man nicht unmittelbar zu dieser Konsequenz gezwungen ist, zeigt sich schon daran, dass Hegel zur bewussten Bezugnahme auf Gott auch kognitive 50 Ganz in diesem Sinne weist etwa B. Leftow darauf hin, dass die „Divine Ultimacy“ (L 2012, S. 3) durch den Schöpfungsglauben impliziert wird und sich folglich schon in alttestamentlichen Texten wiederfinden lässt. Vgl. ebd., S. 3–12. Dasselbe lässt sich dem Johannesprolog, den Paulusbriefen und den Kirchenvätern entnehmen. Vgl. C 2016, S. 13–40. Wie in III.5.2 zu zeigen sein wird, vertritt Hegel dieselbe Auffassung. 51 Vgl. Enz. § 414, GW 20, S. 422; und K 2014, S. 15–24. 52 Vgl. PhG, GW 9, S. 323. Dieser ,Gegensatz‘ ist freilich noch komplexer, weil man sich (implizit) in der Einstellung des ,Bewusstseins‘ zugleich auf die Trennung von Subjekt und Objekt und auf deren Überwindung verpflichtet: „Das Bewußtseyn ist daher […] der Widerspruch der Selbstständigkeit beider Seiten, und ihrer Identität, in welcher sie aufgehoben sind.“ (Enz. § 414, GW 20, S. 422) Das Paradigma dieser Auffassung findet man nach Hegel in Kants theoretischer Philosophie. Vgl. Enz. § 415A, GW 20, S. 422 f.
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung
43
Zustände zählt, die er selbst gar nicht in der enzyklopädischen Phänomenologie abhandelt. So heißt es etwa u.a. im Manuskript vom religiösen Bewusstsein: „[D]ies Bewußtsein habe nun die Form von Gefühl, Vorstellung, Erkenntnis, Begriff, Wissen, oder welche es sonst wäre.“ (VPR 3, S. 95) ,Gefühl‘, ,Vorstellung‘ und ,Begriff‘ bzw. ,Denken‘53 stehen nun bei Hegel für Fähigkeiten und Akte des Erkennens, in denen der ,Gegensatz des Bewusstseins‘ gerade aufgehoben sein soll.54 Dies schließt freilich nicht aus, dass der technische Ausdruck ,Bewusstsein‘ gänzlich irrelevant ist und keinesfalls Teil des religiösen Selbstverständnisses werden kann. Er ist für Hegel vielmehr ein integrativer Bestandteil der alternativen Religionstheorien von Autoren wie Jacobi, Schleiermacher und Kant, die sich Gläubige selbst unter Umständen aneignen werden können.55 Um aber keine terminologischen Missverständnisse zu erzeugen, wird ,Bewusstsein‘ im Folgenden als ein generischer Begriff verwandt, der die kognitiv relevante Bezugnahme in der religiösen Erkenntnis und Praxis umfasst. Will man nun Ordnung in die lose Aufzählung der Modi dieser Bezugnahme bringen, tut man aus exegetischen und sachlichen Gründen gut daran, Hegels Glaubensbegriff genauer zu betrachten. Das Spezifikum religiöser bzw. theistischer Überzeugungen besteht nämlich für Hegel gerade darin, Moment einer umfassenderen Haltung zu sein, deren komplexe Bestimmungen er besonders prägnant im Hinrichs-Vorwort zusammenfasst: Unter Glauben verstehe ich […] nicht weder [1a] das blos subjective Ueberzeugtseyn, welches sich auf die Form der Gewißheit beschränkt, und es noch unbestimmt läßt, ob und welchen Inhalt dieses Ueberzeugtseyn habe – noch auf der andern Seite [2] nur das Credo […], welches in Wort und Schrift verfaßt ist, und in den Mund, in Vorstellung und Gedächtniß aufgenommen seyn kann, ohne das Innere durchdrungen, ohne [1b] mit der Gewißheit, die der Mensch von sich hat, mit dem Selbstbewußtseyn des Menschen sich identificirt zu haben. Zum Glauben rechne ich, nach dem wahrhaften alten Sinne desselben, [3] das eine Moment eben so sehr, als das andere, und setze ihn darein, daß beide in ununterschiedener Einheit vereint sind. (GW 15, S. 126 f.)
Im Sinne der traditionellen christlichen Unterscheidung von fides qua creditur und fides quae creditur56 meint Hegel hier offenbar, ein echter Glaube beinhalte nicht nur eine ganz spezifische theoretische und praktische Haltung (= [1a] und 53 Im Kolleg von 1827 heißt es in diesem Sinne: „Wir haben unmittelbare Gewißheit von Gott, wir haben Glauben, Gefühl, Vorstellungen von ihm. Diese Gewißheit haben wir aber auch im Denken; wir nennen sie hier Überzeugung.“ (VPR 3, S. 298) 54 Vgl. Enz. §§ 438 f., GW 20, S. 433 f. Zum ,Erkennen‘ gehören in diesem Sinne ,Gefühle‘ als Teil der ,Anschauung‘ (Enz. § 447, GW 20, S. 443), alle Formen der ,Vorstellung‘ (Enz. §§ 451–464, GW 20, S. 445–463) und schließlich das ,Denken‘ (Enz. §§ 465–467, GW 20, S. 463–465). Zu Hegels Erkenntnisbegriff vgl. unten I.2. 55 Hegel ist daher durchaus konsequent, wenn er etwa im Kolleg von 1824 nach einer ausführlichen Diskussion und internen Kritik der theologischen Fassung der Unerkennbarkeitsthese den Begriff des ,Bewusstseins‘ in Bezug auf religiöse Einstellungen selbst problematisiert. Vgl. VPR 3, S. 221. 56 Vgl. zu dieser klassischen Unterscheidung etwa K 1990, S. 121.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
[1b]) zu einem bestimmten Gegenstand bzw. aussageförmigen Gehalt (= [2]). Die subjektiven und objektiven Elemente müssen so gedacht werden, dass beide eine untrennbare Einheit bilden (= [3]). Da man nach [3] kein Moment vollständig isoliert betrachten sollte, werde ich im Folgenden zunächst jedes einzelne Element kurz beleuchten und darüber deren kohärenten Zusammenhang klären. Ad [2]: Gehalt und Objekt des Glaubens. Am schnellsten lässt sich sicherlich die Objektseite des Glaubens klären. Hegels Verweis auf das Credo meint in erster Linie „das Glaubensbekenntniß der Kirche“ (GW 15, S. 127),57 das er hier offensichtlich zunächst dem propositionalen Gehalt nach betrachtet. Dies scheint zwar den Glaubensbegriff unnötig einzuengen. Da aber nach Hegel einige seiner wichtigen inhaltlichen Elemente auch in anderen monotheistischen Religionen auftauchen, spricht zunächst nichts dagegen, den Begriff etwas weiter zu fassen.58 Betrachten wir als Beispiel den ersten Teil des Nicäno-Konstantinopolitanum, der den Schöpfungsglauben enthält: Credo in unum deum, patrem omnipotentem, factorem caeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium.59 Hier wird offensichtlich eine noch näher zu bestimmende Haltung zum Bezugsobjekt ,Gott‘ zum Ausdruck gebracht, von dem das Subjekt meint, er sei der eine allmächtige Vater und Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge. Dem Gehalt nach folgt daraus erstens, dass Gott die Minimalbedingungen des Begriffs des Absoluten erfüllt: Er ist im starken Sinne ontologisch unabhängig bzw. a se und zwar, weil die Existenz aller anderen Entitäten sich seiner Tätigkeit als Schöpfer verdankt.60 Insofern eine Person befähigt ist, öffentlich das Credo zu sprechen, sind die Aussagen über Gott als Schöpfer zweitens Inhalt eines „Fürwahrhalten[s]“ (GW 15, S. 129).61 Demnach enthält das gesprochene Credo ein genuin doxastisches Element, indem die Person glaubt bzw. davon überzeugt ist, dass Gott Schöpfer ist. Wichtig ist dabei, dass eine Person nach Hegel nicht (immer) eine reflexive Haltung gegenüber ihren theologischen Meinungen und Überzeugungen einnehmen muss und diese daher auch nicht (immer) in ihren praktischen Vollzügen in ihrem Aufmerksamkeitsfeld auftreten. Dies macht Hegel etwa im Manuskript deutlich: „Es ist […] ein anderes, an Gott oder die Götter
57
Vgl. ferner VPR 3, S. 38 f. und VPR 5, S. 86. Dem entspricht Hegels allgemeine These, dass eine Religion umso vollkommener ist, je mehr sie die Konzeptionen des Absoluten der anderen Religionen einholen und kohärent fassen kann. Zu Hegels ,kritischem Inklusivismus‘ vgl. bes. H 2013 und unten Kap. III.4.1. 59 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, S. 49. 60 Zu den Details dieser These vgl. unten Abschn. III.5.4. 61 Vgl. auch VPR 3, S. 23 und ebd., S. 25. Mit dieser Aussage lässt sich Hegels Glaubensbegriff von schwächeren abgrenzen, die zwar einen propositionalen Gehalt haben und rational beurteilbar sind, aber dennoch keine Meinung oder Überzeugung implizieren, dass der entsprechende Sachverhalt besteht. Vgl. A 1991. In diesem Sinne könnte eine Person etwa unter der Annahme handeln, dass Gott nach und mit der Akzeptanz theologischer Aussagen eine Beziehung zur ihr eingeht, und ihre Lebenspraxis danach strukturieren. Vgl. zu diesen schwächeren, ,pragmatistischen‘ Glaubensbegriff S 22005, S. 147–151. 58
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung
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zu glauben, und ein ganz anderes, zu sagen: Ich glaube an Gott; hier schon Reflexion, Bewußtsein von einem Entgegengesetzten“ (VPR 3, S. 12).62 Diese Aussagen erlauben eine erste Charakterisierung des eigentümlichen Charakters religiöser Überzeugungen. Versteht eine religiöse Person im Glaubensakt die Rolle Gottes als ,Schöpfer‘, dann sieht sie zugleich ein, dass alles das, was es gibt und geben kann, in einer ontologischen und explanatorischen Abhängigkeitsbeziehung zu diesem stehen muss. Das Absolute ist folglich für sie keineswegs ein Objekt unter anderen, wie etwa raumzeitliche Einzeldinge in Alltagsüberzeugungen oder kausale Regularitäten in naturwissenschaftlichen Hypothesen.63 Denn diese werden nicht nur tendenziell isoliert betrachtet, sondern könnten selbst in der Ausarbeitung ihrer systematischen Zusammenhänge nicht im selben Maße die fraglichen Erklärungsleistungen vollbringen.64 Die Rede von der Schöpfung als einer zielgerichteten Tätigkeit ermöglicht es einer Person hingegen, in der gesamten (aktualen) Welt eine stabile Ordnung entdecken zu können, aus der sich dann ihre eigene Stellung und Rolle in der Welt erklärt.65 Sowohl durch die Reichweite als auch durch deren intrinsisch teleologische Komponente lässt sich die explanatorische Rolle damit klar von den klassischen Typen naturwissenschaftlicher Erklärung unterscheiden.66 Verwendet man einen weniger restringierten Begriff, demzufolge etwa explanantia einer Person dazu verhelfen sollen, zu verstehen, warum etwas der Fall ist,67 dann scheint die Rede 62 Vgl. auch die analoge Interpretation der zitierten Passage in M 2018, S. 42–44. In Kap. III.2 werden wir sehen, dass sich für Hegel die Bildung des Begriffes des Absoluten und mit ihm Teile der religiösen Überzeugungsbildung (in der Regel) dispositionell und implizit vollzieht. 63 Zur Erklärungsreichweite religiösen Glaubens notiert Hegel im Manuskript: „Nämlich der religiöse Standpunkt enthält α) das Objektive, Allgemeine – nicht in irgendeiner Bestimmtheit, wie z. B. Gattung ist, oder Recht, auch ein Allgemeines – […] sondern das schlechthin unbeschränkte, aber schlechthin alles in sich befassende Allgemeine, Konkrete – die natürliche und geistige Welt nach dem ganzen Umfang und der unendlichen Gegliederung ihrer Wirklichkeit; β) das Subjektive, ebenso in dem ganzen Umfang seines Selbstbewußtseins. γ) Beides sind Totalitäten, und nur dadurch und insofern, als jedes in sich die andere Seite an sich eingebildet hat“ (VPR 3, S. 130). Vgl. ferner ebd., S. 139–142. 64 Zu Hegels Unterscheidung des religiösen Glaubens von Alltagsmeinungen und wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen vgl. auch etwa GW 15, S. 129 und 134 f. 65 Auf Hegels Interpretation der Schöpfungslehre der ,jüdischen Religion‘ bzw. der ,vollendeten Religion‘ werde ich unten detaillierter in III.4.2 und III.5.4 eingehen. 66 W. Löffler weist zudem darauf hin, dass sich die Naturwissenschaft selbst nicht in den klassischen Formen der sog. deduktiv-nomologischen bzw. induktiv-statistischen Erklärung erschöpft und es auch weitere Erklärungstypen gibt, die sich tendenziell mit religiösen Erklärungsleistungen überlappen und die Löffler mit O. Muck auch „integrative Erklärung“ nennt. Vgl. L 2010. 67 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Erklären und verschiedenen Typen des Verstehens etwa K 1981, Kap. 2.1. In einem analogen, aber schwächeren Sinne spricht W. de Vries bzgl. Hegels Gesamtprojekt vom Verstehen der Wirklichkeit als Ganzer als ,Interpretation‘, in der durch eine Projektion einer teleologischen Struktur sowohl deren systematische Gesamtordnung sowie das Wesen und die Existenz von deren Elementen erklärt wird. Vgl. V 1988b, S. 15–17.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
von ,Erklärung‘ hier weniger problematisch. Die im Glauben angenommenen Bestimmungen der Natur Gottes wie dessen spezifische Tätigkeit würden in diesem Sinne nicht nur zu verstehen geben, warum es überhaupt Kontingentes gibt, sondern warum die aktuale Welt genau so und nicht anders verfasst ist.68 Ein doxastischer Glaube, der das Absolute zum Inhalt hat, gibt Personen in ihrer Perspektive Antworten auf sog. ,letzte Fragen‘, denen durch ihre Natur nicht wiederum mit Warum-Fragen höherer Stufe begegnet werden kann.69 Der „Gegenstand der Religion“ ist dann – wie Hegel im Manuskript vermerkt – „die Region, in der alle Rätsel der Welt, alle Widersprüche des Gedankens, alle Schmerzen des Gefühls gelöst sind“ (VPR 3, S. 3). Der Schöpfungsglaube bildet daher gewissermaßen das Zentrum des religiösen Überzeugungssystems, vor dessen Hintergrund die kontingente Wirklichkeit als Ganze gefasst und verstanden wird. In diesem Sinne befriedigen religiöse Überzeugungen also auch einige unserer fundamentalen theoretischen Interessen. Ad [1]: Vertrauen, Gewissheit und Überzeugung. Hegels Charakterisierung geht aber noch weiter, wenn er meint, dass nicht nur solchen Personen kein echter Glaube zugesprochen werden kann, die zwar auffassen können, was mit dem Geglaubten gemeint ist, die Aussagen selbst aber nicht akzeptieren. Auch der bloße Hinweis auf die doxastische Zustimmung reicht offensichtlich nicht aus, wenn sie nicht zugleich Folgen für die ganze Lebenspraxis einer gläubigen Person besitzt. Dies wird besonders deutlich, wenn Hegel etwa im Manuskript darauf abhebt, dass sich im religiösen Glauben das dispositionelle oder reflektierte Für-WahrHalten mit „Zutrauen“ (VPR 3, S. 12) verbinden. Hegel nennt nun an diversen Stellen verschiedene Kandidaten für das Referenzobjekts des fiduziellen Glaubens,70 die sich nach dem oben gesagten in etwa folgendermaßen systematisieren 68 In diesem Sinne löst der Gottesglaube, wie Hegel in seiner Berliner Antrittsrede notiert, den „Widerspruch“ der „objectiven aüssern Welt – in sich selbst – ein buntes Reich des Zufälligen – und Nothwendigen – bald scheint diß, – das Leben Zweck zu seyn, bald ebenso vergänglich – das Allgemeine, Gesetze in ihr selbst Mannichfaltiges – eine Sammlung – in welcher noch keine Harmonie ist, diejenige Zusammenstimmung und Einheit – welche zugleich von der Vernunft – als Grund gefordert wird“ (GW 18, S. 21). Vgl. ferner auch VPR 3, S. 3 f. und 22. 69 Vgl. zu diesem Grundzug religiöser Überzeugungen auch K 1990, S. 220 f. Letzterklärung von Sachverhalten – etwa, dass diese Welt und keine andere aktual ist – ist allerdings zu unterscheiden von der Letztbegründung theologischer Aussagen wie ,Gott hat die Welt erschaffen‘. Letztbegründungen müssen in der Regel zeigen, dass die fraglichen Aussagen bzw. Meinungen in inferentieller und epistemischer Hinsicht keinen derivativen Status besitzen. Der Schöpfungsglaube kann aber eine Erklärungsleistung für Gläubige vollbringen, ohne dass diese dazu in der Lage wären, einen epistemologischen Letztbegründungsnachweis zu erbringen. So verstehe ich M. Quantes Hinweis auf das „philosophische Missverständnis“, die „existenzielle Unmittelbarkeit“ religiösen Glaubens „im Sinne eines fundamentistischen Anspruchs auf Letztbegründung [zu] deuten“ (Q 2011, S. 86 Fn. 19). 70 Zum Unterscheid zwischen doxastischem und fiduziellen Glauben vgl. etwa K 1990, S. 120–125. Wenn Hegel in der oben zitierten Passage vom Glauben „nach dem wahr-
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung
47
lassen: Vom Credo aus betrachtet liegt es zunächst nahe, das „Zutrauen […] des Menschen zu Gott“ (ebd.) zu betrachten. Der Glaube an Gott bedeutet dann zunächst so viel, dass diejenigen Ziele, die Gott im Rahmen seiner Schöpfung mit jedem einzelnen Menschen verfolgt und die der Gläubige kennt, von Gott garantiert und auf längere Sicht auch tatsächlich verwirklicht werden71 – zumindest dann, wenn er wirklich der ist, der er ist. Insofern sich nun Gottes Vorsehung auf die ganze aktuale Welt erstrecken soll, kann sich der fiduzielle Glaube indirekt auch auf andere Entitäten und Individuen richten. Geht der Gläubige etwa davon aus, dass aus der Güte Gottes gleichbleibende und unveränderliche Zielsetzungen folgen, dann kann er bspw. ein Vertrauen darein setzen, dass natürliche Vorgänge nicht nur gesetzlich reguliert sind,72 sondern auch, dass sie ein moralisch und religiös gerechtfertigtes Verhalten nicht behindern oder in letzter Instanz sogar befördern. Schließlich kann die Person ihren Glauben in diejenigen Institutionen und Personen setzen, von denen sie begründet meinen kann, dass sie die Sache Gottes in dieser Welt vertreten.73 Daraus ergibt sich etwa, dass sie historische Zeugnisse akzeptieren kann, für deren Inhalt sie selbst keine anderweitigen empirischen Belege zur Verfügung hat.74 Nimmt man den genannten Zusammenhang zwischen den doxastischen und fiduziellen Elementen an, dann folgt, dass die Stärke des Fürwahrhaltens zugleich das Vertrauen vergrößern muss. Darauf deutet besonders Hegels Betonung der ,Gewissheit‘ im Glauben, die er zugleich objekt- und subjektbezogen zu verstehen scheint (s.o. [1a] und [1b]). Technischer gesprochen könnte man dies zunächst von der subjektiven Wahrscheinlichkeitszuordnung her verstehen, die eine Person mit der Wahrheit der entsprechenden theologischen Proposition ver-
haften alten Sinne desselben“ (GW 15, S. 127) spricht, meint er wahrscheinlich den lutherischen Glaubensbegriff, der die Haltungen und Akte der notitia, der fiducia und des assensus zugleich umfassen soll. Vgl. hierzu S 22005, S. 142–147. 71 Diese Seite des Glaubens als „absolute Zuversicht“ (VPR 4, S. 344) als Kehrseite der Gottesfurcht fasst Hegel am deutlichsten in seinen Überlegungen zur ,jüdischen Religion‘ zusammen. Vgl. u.a. ebd., S. 573 und ferner unten Abschn. III.4.2. 72 Hegel ist daher der Meinung, der Gedanke der naturgesetzlichen Ordnung habe seinen Ursprung im Schöpfungsglauben. Vgl. VPR 4, S. 331 und 568 f. N. Mooren erläutert Hegels Rede vom ,Zutrauen‘ analog mit dem Hinweis auf praxisrelevante, allgemein-metaphysische Hintergrundüberzeugungen. Vgl. M 2018, S. 43. 73 „Der christliche Glaube schließt“ daher für Hegel „eine Autorität der Kirche in sich“ (Enz. § 63A, GW 20, S. 103). 74 Über diese Form des „Glaubensgrund[s]“ heißt es im Kolleg von 1827, er bestehe in der „Autorität, daß andere – die für mich gelten, […] zu denen ich das Zutrauen habe, sie wissen, was wahr ist – dies glauben, daß sie im Besitz dieses Wissens sind. Der Glaube beruht auf dem Zeugnis, so hat er Grund.“ (VPR 3, S. 284 f.) Die Autorität bei der Frage nach der Akzeptanz theologischer Aussagen kann für Hegel im religiösen Selbstverständnis auch Gott selbst sein: „Aber der absolute eigentliche Grund des Glaubens, das absolute Zeugnis von dem Inhalt einer Religion ist das Zeugnis des Geistes, nicht Wunder, nicht äußere Beglaubigung.“ (ebd., S. 285) Vgl. H 2005, S. 108.
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
bindet. Wenn eine Person demgemäß gewiss ist, dass p, dann nicht nur weil sie implizit alle Alternativen zu p für weniger wahrscheinlich hält. Vielmehr tendiert für sie die zugeschriebene Wahrscheinlichkeit, dass nicht-p, stark gegen null.75 Von diesen rein formalen Überlegungen ausgehend lassen sich mit Hegel verschiedene Voraussetzungen der ,Gewissheit‘ unterscheiden. Zunächst folgt schon aus seiner Rede von der ,Selbstgewissheit‘ (= [1b]), dass sich eine Person ihrer selbst darin sicher sein können muss, dass sie von Gottes Existenz und Natur überzeugt ist. Daraus ergibt sich für Hegel (i) ein Minimalsinn von Gewissheit, der schlicht „in der empirischen Thatsache“ besteht, „daß das im Bewußtseyn ist, was man glaubt, daß man somit wenigstens davon weiß“ (Enz. § 63A, GW 20, S. 102). Im schwächsten Sinne heißt dies dann schlicht, dass der Glaubensinhalt der Person kognitiv zugänglich sein muss.76 Im stärkeren Sinne ist die Gewissheit, dass p, wiederum selbst Inhalt eines höherstufigen Glaubens, nämlich „daß, was man glaubt, als etwas Gewisses im Bewußtseyn ist, daß man es also weiß.“ (ebd.)77 In einem epistemologisch interessanteren Sinne ist für Hegel eine Person dann gewiss, dass p, wenn sie (ii) „unmittelbares Wissen“ (ebd.) hat, dass p. Dies bedeutet, dass ihre zentralen religiösen Überzeugungen nicht aus expliziten78 Schlussfolgerungen gewonnen wurden und damit mindestens in einem schwachen Sinne evident sind.79 Hegels Rede von der ,Selbstgewissheit‘ kann man dann vorläufig grob so verstehen, dass bestimmte Aussagen für Gläubige so unkontrovers sind wie die eigene Existenz – und zwar weil ihr Bewusstsein über das, was
75
Vgl. K 1981, S. 2 und S 2001, S. 34–38. Vgl. zu dieser Lesart bes. H 2002, S. 291. 77 Zur Deutung dieser schwierigen Stelle vgl. auch M 2018, S. 48 f. Man könnte diese Stelle auch mithilfe von F. v. Kutscheras Prinzip deuten, dem zufolge aus der Aussage ,Person S glaubt, dass p‘ die Aussage ,Person S weiß, dass sie glaubt, dass p‘ gefolgert werden kann. Vgl. K 1981, S. 13. Kutschera weist allerdings an derselben Stelle darauf hin, dass dieses Prinzip nicht für alle Wissensdefinitionen gelten kann. 78 Dass die jeweilige Überzeugung nicht explizit von Gläubigen inferentiell gewonnen wird, bedeutet hier allerdings nicht, dass sie de facto nicht-inferentiell ist. Hegel lehnt ohnehin die schlichte Opposition von ,Vermittlung‘ und ,Unmittelbarkeit‘ ab (vgl. I.5.1) und nimmt zudem nicht-bewusste Formen der inferentiellen Praxis an (vgl. III.2). 79 Im Kontrast zu einem starken Evidenzbegriff folgt hier aus ,p ist für S evident‘ nicht zugleich ,p ist wahr‘, sondern es gilt lediglich, dass ,S glaubt, dass p‘ eine notwendige Bedingung für ,p ist für S evident‘ darstellt. Vgl. zu dieser Unterscheidung K 1981, S. 37 f. und ferner Enz. § 64, GW 20, S. 104. Die Rede von einer ,schwachen‘ Evidenz bietet sich hier schon deshalb an, weil für Hegel nicht in jedem der Fälle von ,Wissen‘ als ,Gewissheit‘ auf die ,Wahrheit‘ von dessen Inhalt geschlossen werden kann. Im Kolleg von 1824 heißt es etwa: „Wir wissen, daß Gott ist, und wir wissen dies unmittelbar. Was heißt ,Wissen‘? Das Wissen ist vom Erkennen unterschieden. Wir haben auch den Ausdruck ,gewiß‘ und setzen Wissen der Wahrheit entgegen. Ich weiß etwas, aber darum ist es noch nicht wahr.“ (VPR 3, S. 168) Der Stelle wird man nur mithilfe schwächerer Evidenzbegriffe und einer Analyse des Wahrheitsprädikats gerecht, das sich für Hegel nicht direkt mit propositionaler Korrektheit deckt. Vgl. unten I.2.1. Andernfalls wären diese Äußerungen kontra-intuitiv, da ,wissen‘ in der Regel als Erfolgsverb aufgefasst wird. 76
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung
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sie ausmacht, im Glauben mit der Überzeugung von Gottes Existenz intrinsisch verwoben ist. In den Worten des Kollegs von 1827: Mein Geist weiß von sich selbst, von seinem Wesen – das ist auch ein unmittelbares Wissen, das ist die absolute Beglaubigung von dem ewig Wahren, die einfache, wahrhafte Bestimmung dieser Gewißheit, die Glauben heißt. (VPR 3, S. 285)80
Aus diesem Umstand folgt für Hegel allerdings nicht, dass die jeweilige Überzeugung für die Gläubigen notwendig grundlos ist. In der religiösen Binnenperspektive kann sie zum einen etwa durch Zeugnisse anderer oder Autoritätsbeweise gestützt werden.81 Zum anderen deutet Hegel bisweilen auf eine rationale Fähigkeit, die als Quelle der Gewissheit angegeben werden kann: Allein wenn vom Glauben an das Wahre und Ewige die Rede ist, davon, daß Gott in dem unmittelbaren Wissen, Anschauen geoffenbart, gegeben sey, so sind diß keine sinnlichen Dinge, sondern ein in sich allgemeiner Inhalt, nur Gegenstände für den denkenden Geist. (Enz. § 63A, GW 20, S. 102)
Da für Hegel ,Anschauung‘ ein kognitives Vermögen ist, kann man dies auch als Hinweis für eine stärkere Form der Evidenz lesen. Als Zustands- oder Aktbeschreibung würde der Ausdruck dann bedeuten, dass etwa der Sachverhalt, dass Gott existiert, ohne bewusst gezogene Inferenzen und damit erstpersonaler Perspektive zunächst intuitiv gewusst wird. Und da Gott offensichtlich nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, wäre diese Intuition ein wesentlich „denkendes Anschauen“ (ebd.).82 Im Anschluss an eine neuere Terminologie könnte man in diesem Sinne die Überzeugung, dass Gott existiert, als ein Resultat rationaler oder apriorischer Intuition auffassen.83 Im Kontext der genannten Stelle scheint dieser Umstand für Hegel weniger spektakulär zu sein und zwar, weil er sich in erster Linie lediglich auf die Meinung beschränkt, dass Gott – im hegelschen Sinne – ,ist‘.84 Zudem werden wir sehen,
80
Vgl. ferner auch VPR 3, S. 169 und ferner GVL, GW 18, S. 242. Die Autorität kann dabei auch der Bezugsgegenstand des Glaubens selbst sein. Vgl. oben Fn. 74 und ferner VPR 3, S. 306 f. und VPR 5, S. 85. Wie Hegel diese Typen der „Beglaubigung“ (ebd., S. 181) philosophisch aus- bzw. bewertet, wird unten in III.2 und III.5.5 zu fragen sein. 82 „Reines Anschauen ferner ist nur ganz dasselbe, was reines Denken ist.“ (Enz. § 63A, GW 20, S. 103) Der Anschauungscharakter verliert übrigens für Hegel auch dann nicht an Relevanz, wenn dessen Inhalt vollständig expliziert ist. Am Ende der ganzen Begriffsentwicklung in der WdL behauptet Hegel in diesem Sinne, man könne das „Denken[…]“ des ,Seins‘ am Anfang der Logik „wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches Anschauen nennen“ (WdL II, GW 12, S. 239). 83 Vgl. etwa A. Plantingas und G. Bealers Argumente für den Wissensstatus von a prioriIntuitionen in WPF, Chap. 6 und B 1999. Ich fasse hier den Terminus weiter. Denn für gewöhnlich betreffen rationale Intuitionen nur die Wahrheit nicht-empirischer und zumeist notwendiger Aussagen etwa der Logik, Mathematik und der Metaphysik. 84 Aufgrund der Unterschiedslosigkeit des ,Seins‘ als vollständiger Raum möglicher Bestimmungen folgt für Hegel, dass das Erkenntnissubjekt und -objekt hier zusammenfallen 81
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1. Hegels Begriff der Religion und religiöse Überzeugung
dass der Gottesglaube für Hegel nicht im Rekurs auf vernünftige Intuitionen ultima facie gerechtfertigt werden kann. Sie geben aber zumindest in psychologischer Hinsicht einen weiteren Hinweis auf den schon angesprochenen Überzeugungscharakter des Gottesglaubens. Dies kann man dann nicht nur als Synonym der genannten doxastischen Gewissheit verstehen. Hegel meint damit auch und v.a. eine affektive und emotionale Dimension, die sich daraus erklärt, dass der Glaube zur Identität der jeweiligen Person gehört.85 In diesem Sinne führt Hegel im Kolleg von 1827 aus: Man verlangt, daß wir von Gott, Recht usf. nicht nur wissen, Bewußtsein haben, überzeugt seien, sondern daß dies auch in unserem Gefühl, in unserem Herzen sei. Das ist eine richtige Forderung; sie bedeutet, daß diese Interessen wesentlich die unseren sein – daß wir als diese Subjekte uns mit solchem Gehalt identifiziert haben sollen. Ein Mensch, der das Recht im Herzen hat, der ist mit dem Geist identifiziert; ebenso ,die Religion im Herzen‘ drückt diese Identifizierung des Inhalts mit der Subjektivität, Persönlichkeit des Individuums aus. (VPR 3, S. 286 f.)
Welche Tragweite religiöse Gefühle für Hegel haben, werden wir unten in Kap. I.4 genauer untersuchen. Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen zum fiduziellen Glauben kann man den Kerngehalt der zitierten Passagen vielleicht so zusammenfassen: Versteht eine Person im Glauben die Existenz und das So-Sein der Gesamtwirklichkeit von Gott her, dann folgt für sie, dass auch das, was sie selbst ausmacht, wesentlich durch ihre Beziehung zu Gott mitbestimmt ist. Die Interessen und Ziele, die sie selbst im Glauben mit Gott verbindet, sind damit in dem Sinne zentral und grundlegend,86 dass das, was es mit der Wirklichkeit als solcher auf sich hat, zugleich ihr eigenes existenzielles und lebenspraktisches Selbstbild konstituiert.87 Es kann daher für Hegel keinen echten religiösen Glaumüssen. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 68 f. und K 2014, S. 62–69. Dann aber scheint schon die triviale Gewissheit, dass ich existiere, für die genannte Intuition, dass Gott ,ist‘ auszureichen. Vgl. etwa VPR 3, S. 173 f., wo Hegel eine solche Argumentationslinie andeutet. 85 Vgl. VPR 3, S. 180 f. Eine neuere Analyse der emotionalen bzw. affektiven Dimension religiös-fiduziellen Glaubens findet sich in S 2005, S. 85–87. 86 F. v. Kutschera spricht an anderer Stelle etwa von dem „fundamentale[n] Interesse“ von Personen in ihren Wertüberzeugungen. Vgl. K 2012, S. 50. 87 Analog versteht auch M. Quante religiöse Überzeugungen von ihrem „,existenziellen Verpflichtungscharakter‘“ her, da sie wesentlich „die Lebensführung einer Person konstituieren“ (Q 2011, S. 86 Fn. 19). Seine These, es handle sich „bei religiösen Überzeugungen nicht um Fakten-, sondern um Wertfragen, in denen jemand zum Ausdruck bringt, wer er ist und sein will“ (Q 2002, S. 352), beruht aber nach den obigen Überlegungen auf einer einseitigen und damit falschen Beschreibung des Glaubensphänomens. Auch nach W. James, auf den Quante sich hier beruft, beruht die ,religiöse Hypothese‘ erstens auf inhaltlich bestimmten Auffassungen des höchsten Guts, das im Monotheismus wesentlich in der personalen Beziehung zu einem ebenfalls personal gedachten Ursprung der Welt bestehen soll. Vgl. J 1979, S. 31. Das setzt aber gerade voraus, dass man eine „religiöse Behauptung“ (Q 2002, S. 346) darüber treffen kann, dass dies tatsächlich der Fall ist. Zweitens kann nach James die Akzeptanz der Aussagen über die Existenz Gottes und die Beziehung zum höchsten Gut dazu beitragen, dass diese Aussagen sich in und durch unsere Lebenspraxis
1.2 Gottesglaube und religiöse Überzeugung
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ben geben, bei dem die ganze Person nicht schon von dessen Inhalt und Referenzgegenstand in einem vorpropositionalen Modus betroffen gemacht wird. Ad [3]: Die Einheit des Glaubens. Mit der Erklärung dieser Elemente kann man den Glaubensbegriff nun vorläufig so zusammenfassen: Eine Person glaubt nach Hegel nur dann an Gott, wenn es für sie (a) im schwachen oder starken Sinne evident ist, dass Gott existiert oder so-und-so ist; und zwar so, dass sie (b) aus ihrer Überzeugung heraus ein Zutrauen zu Gott zusamt der genannten Konsequenzen schöpft, das wiederum (c) ihre grundlegenden Interessen und damit ihr existenzielles Selbstverständnis bestimmt. Mit dieser Grobübersicht wird nun klar, warum Hegel meinen kann, die Trennung der Elemente des Glaubensbegriff würde unweigerlich das Phänomen zum Verschwinden bringen: Konzentriert man sich lediglich auf den Gewissheits- und Überzeugungscharakter (= [1]), verfehlt man gerade den Umstand, dass die eigentümliche subjektive Einstellung durch ihren Inhalt spezifiziert werden muss. Isoliert man hingegen den objektiven Teil zusammen mit dem doxastischen Charakter des Glaubens (= [2]), wird man der fundamentalen Funktion des Glaubens für die Lebensführung und das Selbstbild des Gläubigen nicht mehr gerecht. Wenn eine gläubige Person sich wesentlich von ihrer Gottesbeziehung her versteht, wird schließlich klar, warum die Gewissheit von Gott für Hegel mit ,Selbstbewusstsein‘ verbunden ist. Die eigene Selbstgewissheit, dass man als gläubige Person wesentlich in der Gottesbeziehung steht, bedeutet dann zugleich die Gewissheit, dass Gott existiert und zur gläubigen Person die genannte Beziehung eingeht. Dieser Umstand wird im Falle des traditionellen christlichen Glaubens für Hegel noch dadurch verstärkt, dass in ihm transparent werden soll, dass das mögliche Wissen von Gott sich in letzter Instanz Gott selbst verdankt. Der Gottesglaube wird in dieser Hinsicht, wie Hegel im Manuskript festhält, „notwendig G G ausgesprochen.“ (VPR 5, S. 85)88
erfüllen. Vgl. J 1979, S. 30 f. Dies setzt aber nicht nur akzeptierte Aussagen über die Natur Gottes voraus, sondern auch die Korrektheit der instrumentellen Meinung, dass ich mit dem Für-Wahr-Halten das Ziel einer Beziehung zu Gott erreichen kann. Dabei muss man zudem die Existenz des so verstandenen Gottes zu einem bestimmten Grad für epistemisch wahrscheinlich halten. Vgl. S 22005, S. 149 f. Mit der Behauptung, in religiösen Haltungen gehe es nicht auch um Tatsachenfragen, führt man die Tatsachen-Werte-Dichotomie wieder ein, die man mit Wittgenstein, James und Putnam gerade vermeiden wollte. Vgl. Q 2002, S. 347. 88 Vgl. Enz. § 554 f., GW 20, S. 542 f. und unten III.5.5. Zum lutherischen Hintergrund dieses Gedankens bei Hegel vgl. auch H 2015, S. 260 f.
2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung Wie wir zuletzt gesehen haben, kann man den genuin doxastischen Charakter des Gottesglaubens nach Hegel nicht ohne den Rückbezug auf seine anderen, nichtdoxastischen Momente korrekt auffassen und klassifizieren. Da aber eine Person im Glauben an Gott immer zugleich einen echten Wahrheitsanspruch mit hoher Glaubensstärke erhebt, lassen sich theistische Überzeugungen auch nicht gegenüber epistemischen Bewertungen abschirmen. Dies hat nun nicht nur mit deren Gewissheitsgrad, sondern zugleich mit dem ontologischen Status des Bezugsgegenstandes selbst zu tun, dessen sich die Gläubigen bewusst sind. Im Kolleg von 1827 heißt es etwa: Das Bewußtsein von Gott aber fassen wir so auf, daß er zugleich ist – nicht bloß der meinige, ein Subjekt in mir, sondern unabhängig von mir, von meinem Vorstellen und Wissen: Er ist an und für sich. Das liegt in diesem Inhalt selbst. Gott ist diese an und für sich seiende Allgemeinheit, außer mir, unabhängig von mir, nicht bloß für mich seiend. (VPR 3, S. 282)
Versteht man also, was mit dem deskriptiven Ausdruck ,Gott‘ eigentlich gemeint ist, dann folgt nach Hegel, dass man im Gottesglauben zugleich davon überzeugt sein sollte, dass bspw. das Bestehen des Sachverhalts, dass er existiert, unabhängig davon ist, ob eine beliebige Person sich dessen bewusst sein und meinen kann, dass er existiert. Dies folgt schlicht aus der Tatsache, dass Gott als das hinsichtlich seiner Existenz und seines Wesens Unbedingte und Absolute im geradezu paradigmatischen Sinne ontologisch selbstständig oder „an und für sich“ (ebd.) ist.1 Jedes Erkenntnissubjekt, das in diesem Sinne glaubt, dass Gott existiert und so-und-so ist, erhebt damit mit hohem oder maximalem Gewissheitsgrad den Anspruch, dass dies objektiv der Fall ist.2 Damit sind die Korrektheitsstandards
1 Im Kolleg von 1824 kann Hegel daher sagen, dass aus der Leugnung von Gottes „Objektivität“ direkt „Atheismus“ (VPR 3, S. 51) folgt. Zu den Objektivitätsansprüchen in religiösen Überzeugungen vgl. ferner u.a. ebd., S. 25 und 100 f. 2 Dass für einige Entitäten gilt, dass diesen einige ihrer Eigenschaften und Attribute unabhängig davon zukommen, was endliche Personen darüber sagen und meinen, impliziert nicht, dass dies auch unabhängig von jeder möglichen Erkenntnis der Fall ist. Hegel nimmt nämlich aufgrund der notwendigen begrifflichen Struktur jeder Sache die prinzipielle Erkennbarkeit aller Entitäten an. Vgl. dazu unten S. 59 f. Zudem schließt die obige Erläuterung
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
solcher Überzeugungen ungleich stärker als Meinungen, die eine Person über die eigenen okkurrenten mentalen Zustände vertritt, zu denen sie einen relativ unproblematischen und direkten erstpersonalen Zugang besitzt. Dies provoziert sofort die Anschlussfrage, ob eine Person einen solchen Objektivitätsanspruch berechtigterweise vertreten darf oder sogar sollte. Bevor eine erste Antwort auf diese Frage gegeben wird (I.3), muss zunächst gefragt werden, wie man sie mit Hegel genau zu verstehen hat. Dazu werde ich zunächst die Wesenszüge epistemischer Bewertung mithilfe von Hegels Begriff des ,Erkennens‘ rekonstruieren (I.2.1). Von dort ausgehend werde ich in einem zweiten Schritt mit Hegel diejenigen Minimalbedingungen grob skizzieren, die für den Rechtfertigungsstatus benötigt werden (I.2.2). Im Rückbezug auf Hegels Rede vom religiösen Denken wird dabei zugleich Hegels eigene Lösung der Frage umrissen.
2.1 Die Natur epistemischer Bewertung und Hegels Begriff der ,Vernunft‘ „Die höchste Stufe der Selbsttätigkeit und Bestimmung des Geistes aber ist in der Seite des Wissens die Wahrheit, in der Seite des Wollens das Gute, und beides ist ein und dasselbe.“ (VPR 4, S. 624)
Aus Gründen, die gleich noch deutlicher werden, lohnt es sich bei der Frage nach dem, was es mit epistemischen Evaluierungen auf sich hat, zunächst einen Blick auf die formalen Beschaffenheiten zu werfen, die Wertungen überhaupt möglich machen. Im besten Falle vollziehen sie sich nach Hegel in einer Form von Urteilen, die er auch „Urtheil[e] des Begriffs“ (WdL II, GW 12, S. 84)3 nennt. Paradigmenfälle solcher Urteile sind für Hegel Sätze wie: „Diß Haus ist schlecht, diese
nicht aus, dass jeder echte Erkenntnisvollzug das Absolute in letzter Instanz zur notwendigen Bedingung hat. Vgl. dazu unten II.2.4, II.4.2 und III.5.5. Vielmehr ist dies für Hegel der Ort, wo die ,Objektivität‘ des Absoluten erst wirklich zum Tragen kommt. Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 128; Enz. § 562A, GW 20, S. 548; und zu Hegels Objektivitätsbegriffen im allgemeinen auch H 2002, S. 243–249. 3 Diese Bezeichnung führt Hegel auf dem Umstand zurück, dass in Werturteilen die „Beziehung“ einer beliebigen Entität „auf den Begriff vorhanden“ ist: „Dieser ist darin zu Grund gelegt, und da er in Beziehung auf den Gegenstand ist, als ein Sollen, dem die Realität angemessen seyn kann oder auch nicht.“ (WdL II, GW 12, S. 84) Diese evaluative bzw. deontische Relation erläutert Hegel dabei wie folgt: „Solches Urtheil enthält daher erst eine wahrhafte Beurtheilung; die Prädicate gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf. drücken aus, daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen, und in Uebereinstimmung mit demselben ist, oder nicht.“ (ebd.)
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Handlung ist gut.“ (ebd., S. 85) Die Besonderheit dieser Urteilsklasse besteht für Hegel darin, dass der jeweilige evaluative Term ,gut‘ von den anderen Elementen von Werturteilen nicht ablösbar ist.4 Diese komplexe Struktur kann man sich leicht anhand Hegels Analyse des zitierten Satzes verdeutlichen: „[D]ieses – die unmittelbare Einzelnheit, – Haus, – Gattung, so – und so beschaffen – Besonderheit – ist gut oder schlecht“ (Enz. § 179, GW 20, S. 190). Im vorliegenden Urteil wird ein individueller Fall des Artefakttyps ,Haus‘ bewertet, auf den der Subjektterm referiert. Die positive oder negative Wertung in der Prädikation ,… ist gut bzw. schlecht‘ drückt dabei einen Vergleich zwischen diesem einzelnen Token und dem, was ein Haus als solches ausmachen sollte. Ein solches Urteil ist damit selbst begründungsbedürftig.5 Denn die Entscheidung über die Güte des Objekts setzt eine korrekte Aussage darüber voraus, welche Eigenschaften diesem Vorkommnis zukommen und ob es genau diese Beschaffenheiten sind, die dieses Haus zu einem Normalfall eines Hauses im nicht-statistischen Sinne machen.6 Ein Haus, das so ,beschaffen‘ ist, dass sein Dach kurz vor dem Einsturz steht, ist nicht bewohnbar und kann in diesem Sinne nicht die Propria besitzen, die ein bestimmtes architektonisches Gebilde zu einem Haus im Normal- bzw. Idealfall machen. Der Wertungsstandard erklärt sich danach für Hegel aus den Merkmalen des Typenbegriffs, der zugleich angibt, was es mit einer Sache einer bestimmten Art auf sich hat.7 Im Falle von Artefakten entsprechen dem v.a. die Ziele und Zwecksetzungen von Personen, die diese – womöglich im Auftrag anderer – hervorbringen. Hegel vertritt allerdings die wesentlich stärkere Überzeugung, dass von jeder beliebigen Entität gelten muss, dass ihre spezifische Identität dadurch definiert ist, dass sie ein Exemplar einer natürlichen Art ist: „Alle Dinge sind eine Gattung (ihre Bestimmung und Zweck) in einer einzelnen Wirklichkeit von einer besondern Beschaffenheit“ (ebd., S. 190 f.).8 Urteilsförmige Wertungen müssen 4 Vgl. im Folgenden die Ausführungen in S 1990, S. 64 f.; K 2013, S. 140–153 und S 2018, S. 503–505. 5 In diesem Sinne unterteilt Hegel die Klasse der Begriffsurteile noch feiner dadurch, ob die Übereinstimmung mit dem jeweiligen Begriff – im sog. „assertorische[n] Urtheil“ (WdL II, GW 12, S. 85) – nur behauptet wird, das Ausstehen der Begründung – im sog. „problematische[n] Urtheil“ (ebd., S. 86) – thematisch und problematisiert wird oder ob die Begründungsleistung – im „apodiktische[n] Urtheil“ (ebd., S. 87) – dann auch tatsächlich erbracht wird. Im Folgenden werde ich mich der Einfachheit halber nur auf ,apodiktische Urteile‘ beziehen. 6 Die Struktur ,apodiktischer Urteile‘ fasst Hegel in der WdL in diesem Sinne folgendermaßen zusammen: „Das Subject des apodiktischen Urtheils […] hat an ihm erstens das Allgemeine, was es seyn soll, zweytens seine Beschaffenheit; diese enthält den Grund, warum dem ganzen Subject ein Prädicat des Begriffs-Urtheils zukommt oder nicht, d.i. ob das Subject seinem Begriff entspricht oder nicht […].“ (ebd., S. 87 f.) 7 Ein wertender Prädikatsausdruck wie ,gut‘ wird daher für Hegel attributiv gebraucht, wie man im Anschluss an P.T. Geach sagen könnte. Vgl. G 1956. 8 F. Knappik weist daher zu Recht darauf hin, dass Hegel einen Essentialismus natürlicher Arten vertritt. Vgl. K 2016; ferner S 1990, S. 58 f. und H 2005, S. 151–158. Der Ausdruck ,natürliche Art‘ ist hier nicht auf biologische Spezies beschränkt, sondern ist der Gegenbegriff zur künstlichen Klassifikation von Entitäten, die nicht in letzter Instanz auf
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sich nach Hegel daher prinzipiell auf alles erstrecken können, wovon überhaupt die Rede sein kann9 – darunter dann auch kognitive Einstellungen und deren personale Träger. Um also zu beurteilen, wann etwa eine Person einen berechtigten Erkenntnisanspruch erhebt und dieser damit in epistemischer Hinsicht positiv bewertet werden muss, muss man nur den relevanten Begriff des ,Erkennens‘ untersuchen, durch den dessen nicht-statistischer Normal- bzw. Idealfall definiert ist. Den Schlüssel zu Hegels Auffassung findet man in den Eingangsparagraphen zum theoretischen Teil seiner Psychologie.10 Dort schreibt Hegel über die „Intelligenz“: Ihre Thätigkeit hat es mit der leeren Form zu thun, die Vernunft zu finden und ihr Zweck ist, daß ihr Begriff für sie sey, d.i. für sich Vernunft zu seyn, womit in Einem der Inhalt für sie vernünftig wird. Diese Thätigkeit ist Erkennen. (Enz. § 445, GW 20, S. 439)
Versteht man diese dichte Passage von der Struktur von Wertungen her, dann ergibt sich, dass als Objekt der Bewertung zunächst zumindest die ,Intelligenz‘ angegeben wird. Als Wertungsstandard wird ein Ziel oder ,Zweck‘ angegeben, der offenbar einen Doppelaspekt besitzt:11 Zum einen soll sich die Intelligenz ihres Zweckes oder ,Begriffs‘ bewusst sein, d.h. sie muss mit dem zumindest vertraut sein, was sie selbst ausmacht – nämlich ,Vernunft‘ zu sein.12 Erreicht sie das abzielt, was die Entität objektiv ausmacht. Vgl. K 2016, S. 762–764 und L 1976. 9 Hegel merkt allerdings an, dass Wertungen eigentlich nur dort vorkommen, wo das fragliche Subjekt die positive oder negative Entsprechung zum je eigenen ,Begriff‘ mind. empfinden kann: „Im Todten ist kein Uebel noch Schmerz, weil der Begriff in der unorganischen Natur seinem Daseyn nicht gegenüber tritt, und nicht in dem Unterschiede zugleich Subject bleibt. Im Leben schon und noch mehr im Geiste ist diese immanente Unterscheidung vorhanden, und tritt hiemit ein Sollen ein; und diese Negativität, Subjectivität, Ich, die Freiheit, sind die Principien des Uebels und des Schmerzes.“ (Enz. § 472A, GW 20, S. 470) Der Frage, ob evaluative Terme in analoger Erweiterung auch auf anorganische Entitäten angewendet werden können, kann ich hier nicht nachgehen. Vgl. hierzu etwa O 2014. 10 Hegels allgemeiner Begriff des ,Erkennens‘ ist allerdings weitaus komplexer als hier dargestellt werden kann, da er epistemische und praktische Haltungen bisweilen mitumfasst (vgl. u.a. Enz. § 225, GW 20, S. 222 f.) und zudem das definiens des Endziels des ganzen sog. ,subjektiven Geistes‘ darstellt, der auch prä-intentionale und nicht-kognitive Formen des mentalen Lebens einschließt. Vgl. Enz. § 387, GW 20, S. 386 f. In den beiden Logiken handelt Hegel zudem detailliert die Definitions-, Einteilungs- und Beweispraxis in verschiedenen Wissenschaften ab (vgl. Enz. §§ 226–232, GW 20, S. 223–227; WdL II, GW 12, S. 199–230), deren Tauglichkeit für eine philosophische ,Wissenschaft der Logik‘ im Methodenteil nochmals beurteilt wird. Vgl. Enz. §§ 238–243, GW 20, S. 229 f.; WdL II, GW 12, S. 238–252. Da es hier um epistemische Bewertungen von Überzeugungen geht, werde ich mich im Folgenden weitestgehend auf den theoretischen Teil der Psychologie beschränken. Zu Hegels Erkenntnisbegriffen und deren Zusammenhang vgl. H 2002, S. 82–87. 11 Zur Interpretation der komplexen Entsprechungsverhältnisse zwischen ,Begriff‘ und ,Realität‘ im Erkennen vgl. auch die Ausführungen Halbigs ebd., S. 79–81. 12 Vgl. ferner auch u.a. WdL I/1, GW 21, S. 111. Wie der parallele Ansatz von Aristoteles ist Hegels ,Epistemologie‘ damit im Kern ,essentalistisch‘. Vgl. T 2016a. Sie macht damit nicht nur Aussagen über das, was Erkennen ermöglicht, sondern was Wesen im Allgemeinen ausmacht, die fähig sind, erfolgreiche Wissensansprüche zu erheben.
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dieses Ziel, dann wird sie sich zugleich dessen bewusst, dass auch ihr ,Inhalt‘ ,vernünftig‘ ist. Der Typus der Aktivität, mit dem sie diesen Ideal- bzw. Normalzustand erreicht, ist schließlich das ,Erkennen‘. Im Vergleich mit der Bewertung von Artefakten lässt sich damit schon hier dreierlei festhalten: Erstens verdankt die ,Intelligenz‘ das Ziel, durch das sie real definiert ist, nicht der vorhergehenden Zwecksetzung eines Konstrukteurs; sondern es erklärt sich aus der ihr eigentümlichen Natur oder spezifischen Identität.13 Dieses intrinsische Ziel, das – wie sich zeigen wird – für sie ein ,Endzweck‘ darstellt, ist zweitens etwas, das für sie selbst im besten Falle transparent wird und in diesem Sinne mindestens kognitiv zugänglich sein muss.14 Schließlich hängt die epistemische Bewertung der ,Intelligenz‘ drittens an der Ausübung der Erkenntnisfähigkeit, deren Erfolg wiederum auf der ,Vernünftigkeit‘ des ,Inhalt‘ ihres Resultats beruht. Ob eine Person in ihrer Erkenntnisbildung positiv evaluiert werden kann, hängt damit von der spezifischen Güte des Gehalts ihrer epistemischen Einstellung ab. Aufgrund der Verschachtelung dreier Bewertungsobjekte scheint es daher schwierig, Hegels Überlegungen eindeutig einer bekannten Theorieoption zuzuordnen. Denn weder scheinen hier die epistemische ,Tüchtigkeit‘ von Personen noch die Zuverlässigkeit epistemischer Fähigkeiten und Prozesstypen oder isolierte Meinungen und Überzeugungen allein relevant zu sein.15 Da es im Rahmen dieser Arbeit in erster Linie um die Bewertung mindestens dispositioneller Über-
13 Dies unterscheidet ihn von gegenwärtigen epistemologischen Ansätzen, die zwar auch auf teleologisches Vokabular zurückgreifen, aber dies wesentlich von Akteursintentionen her analysieren. Vgl. etwa A. Plantingas Rede vom ,design plan‘ und dessen Erläuterung u.a. in P/T 2008, S. 20–30 und hierzu auch unten I.5.2. 14 Hegels Rechtfertigungstheorie hat damit grundsätzlich einen, modern gesprochen, ,internalistischen‘ Zug. Vgl. B 2002. Eindeutige Zuordnungen zu zeitgenössischen Theorieoptionen sind allerdings schon deshalb schwierig, weil es, wie wir sehen werden, für Hegel kein echtes Erkennen ohne die Ausübung zuverlässiger Erkenntnisfähigkeiten geben kann und der Bewusstseins- und Reflexionsgrad für verschiedene Erkenntnistypen jeweils differenziert werden muss. 15 Führt man die Rede von der ,Intelligenz‘ mit Personen und ihren Fähigkeiten eng, dann scheint es zwar naheliegend, dass epistemische Wertungsterme auf Personen angewendet werden, wie dies etwa sog. ,tugendepistemologische‘ Ansätze tun. Das Zuverlässigkeitskriterium wie die Wahrheits- und Wissensausrichtung könnte dann von deren intrinsisch guten, robusten und stabilen Charaktermerkmalen her verstanden werden. Vgl. etwa Z 1996, S 165–184; und zur Unterscheidung von ethischen und intellektuellen Tugenden auch H 2013a, S. 78–82. Solche Engführungen sind zwar erhellend (vgl. K 2016, S. 765 f.), scheinen aber in zweierlei Hinsicht von Hegel abzuweichen: Erstens scheint Hegel in der Analyse epistemischer Normativität im engeren Sinne weder aretaisches noch deontologisches Vokabular zu verwenden. Zweitens beschränkt sich seine Rede von der ,Intelligenz‘ aufgrund der intrinsischen Intersubjektivität kognitiver Akte nicht nur auf einzelne Personen. Epistemische Zustände und Akte sind immer allgemein (mit-)teilbare Akte. Hegels relative Neutralität in beiden Fragen macht seine Position zwar unscharf, legt ihn aber auch nicht auf bestimmte, möglicherweise kontroverse Zusatzannahmen fest.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
zeugungen geht, bietet es sich aber an, von dem Gütekriterium des ,Inhalts‘ auszugehen und den Begriff der ,Vernunft‘ näher zu beleuchten. Hegel schreibt dazu unmittelbar vor den Eingangsparagraphen der Psychologie: Das Selbstbewußtseyn so [a] die Gewißheit, dass seine Bestimmungen eben so sehr gegenständlich, [b] Bestimmungen des Wesens der Dinge, als [c] seine eigenen Gedanken sind, ist die Vernunft, welche als diese [d] Identität nicht nur die absolute Substanz, sondern die [e] Wahrheit als Wissen ist. (Enz. § 439, GW 20, S. 434)
,Vernunft‘ wird hier als ein exemplarischer Fall selbstbewusster (u.U. propositional gegliederter) Gewissheit (= [a]) aufgefasst, auf deren Objektseite eine komplexe Identitätsbeziehung (= [d]) steht. Demnach ist ein selbstbewusstes ,vernünftiges‘ Subjekt sich dessen gewiss, dass die Relata [b] und [c] im Kern dasselbe sind. Dabei kommen offenbar für Hegel in erster Linie die ,Gedanken‘ (= [c]) des Subjekts und nicht etwa jeder beliebige mentale Zustand in Frage. ,Gedanken‘ sind nun für Hegel in der Regel aussage- bzw. urteilsförmig.16 Unter den Urteilsklassen nimmt nun, wie wir schon gesehen haben, das Werturteil in seiner begründeten, – wie Hegel sagt – ,apodiktischen‘ Form eine herausragende Stellung ein. Zur Illustration eines ,Gedankens‘ kann man daher einen Urteilsgehalt U der Form ,Dies Exemplar e der Art A ist aufgrund seiner Eigenschaften F1, …, Fn ein gutes Exemplar seiner Art‘ heranziehen. Eine Person ist nach Hegel in diesem Falle nur dann ,vernünftig‘, wenn es für sie mindestens im schwachen Sinne evident ist, dass die „Bestimmungen“ von U zugleich „gegenständlich“, d.h. die „Bestimmungen des Wesens der Dinge“ (ebd.) sind. Nach Hegels Strukturanalyse von Werturteilen müsste man noch konkreter sagen, dass solche ,Bestimmungen‘ diejenigen nicht-kontingenten ,Beschaffenheiten‘ F1, …, Fn von e darstellen, die Exemplaren der Art A wesentlich zukommen und die demnach die Erklärung für die Güte von e sind, die in U ausgedrückt wird. Aufgrund der Wahrheitsbedingung (= [e]) liegt es nun nahe, das fragliche Gewiss-Sein faktiv zu verstehen. Entsprechend kann man die definientia des Gehalts ,vernünftiger‘ Gewissheit zunächst als eine Erläuterung der propositionalen Korrektheit von ,Gedanken‘ wie U auffassen: U ist demnach nur dann ein korrektes oder, wie Hegel sagt, ein ,richtiges‘ Urteil, wenn dessen propositionaler Gehalt, dass ,e (wesentlich) so-und-so ist‘, modern gesprochen, den bestehenden Sachverhalt ausdrückt, dass e (wesentlich) so-und-so ist. Im Falle des korrekten 16 Zum ,Denken‘ als Erkenntnisfähigkeit gehören für Hegel alle klassischen rationalen Vermögen, nämlich Begriffs- bzw. Urteilsbildung und Schlussfolgerung. Vgl. bes. Enz. § 467, GW 20, S. 464 f. Mit ,Gedanken‘ meint Hegel allerdings nicht nur Urteilsakte, sondern auch den begrifflichen oder propositionalen Gehalt solcher Akte, der sich aus dem Verhältnis des Referenzgegenstands und seiner Eigenschaften ergibt, wie es in der jeweiligen Urteilsform betrachtet wird. In diesem Sinne spricht Hegel bekanntlich, ähnlich wie später G. Frege, von „objective[n] Gedanken“ (Enz. § 24, GW 20, S. 67; vgl. ferner Enz. § 167, GW 20, S. 183 f.). Damit vermeidet er mögliche psychologistische Missverständnisse. Vgl. H 1987, Band 1, S. 70 f. und S 2000, S. 135.
2.1 Die Natur epistemischer Bewertung
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Werturteils U tritt aber noch der besondere Umstand ein, dass der fragliche Sachverhalt für Hegel ein Fall nicht-propositionaler ,Wahrheit‘ ist.17 Ist e nämlich tatsächlich seiner Art nach ,gut‘, dann muss es in seiner konkreten Existenz dem entsprechen, wodurch seine Art definiert ist, und damit im hegelschen Sinne ein ,wahres‘ Exemplar seiner Art sein.18 e muss dies dabei in nicht-zufälliger Weise tun, um überhaupt in einem nicht-trivialen Sinne mit sich selbst identisch zu sein, nämlich um das zu sein, was es ist oder sein sollte.19 Seine essentielle Konstitution, die nach Hegel zugleich dessen Existenzform und sein Verhalten erklärt,20 ist damit gewissermaßen identisch mit seiner Spezieszugehörigkeit oder der Exemplifikation des Artbegriffs A. Das Haben der nicht-kontingenten Eigenschaften oder Propria und damit das Bestehen des fraglichen Wertsachverhalts ist damit selbst ein Ausdruck derselben ,begrifflichen‘ Struktur, die im korrekten Urteil U subjektseitig als ,Gedanke‘ auftritt. Ganz im Sinne des oben entwickelten essentialistischen Rahmens entwickelt Hegel damit eine Variante der aristotelischen These, dass in echten kognitiven Zuständen, das, was deren Gehalt seiner Form nach ausmacht, mit der substantiellen oder akzidentellen Form identisch ist, die der extramentale Referenzgegenstand besitzt oder ,ist‘. Die einschlägige Stelle in Aristoteles’ De Anima übersetzt Hegel selbst wie folgt: „Das Wissen, das actu ist, ist dasselbe mit der Sache“ (GW 10/2, S. 521).21 Ein korrektes Urteil über die Güte einer Sache nimmt deshalb eine herausragende Sonderrolle in Hegels Urteilslogik ein, weil es nicht nur die ontologische Entsprechung einer Sache mit dem, was es seinem Begriff
17 Hegel unterscheidet generell zwischen der „Richtigkeit“ von Aussagen und der ontologischen „Wahrheit“ (WdL II, GW 12, S. 65) der Bezugsgegenstände solcher Aussagen. Vgl. ferner u.a. Enz. § 213A, GW 20, S. 215 und H 2002, S. 183–190. Im Sinne der generischen Bestimmung von „Wahrheit“ als „Uebereinstimmung“ (WdL II, GW 12, S. 60) oder stärker als „Identität des Begriffs selbst und der Realität“ (ebd., S. 199) folgt, dass auch Aussageformen als Referenzgegenstände höherstufiger Aussagen selbst als ,wahr‘ oder ,unwahr‘ im ontologischen Sinne bewertet werden können. Vgl. H 2002, S. 214 f. Warum gerade ,apodiktische‘ Urteile in diesem Sinne nach Hegel „die Wahrheit des Urtheils“ (WdL II, GW 12, S. 88) darstellen, wird sich gleich noch zeigen. 18 Vgl. ebd., S. 200. Zu den Details von Hegels Begriff ,ontologischer Wahrheit‘ vgl. bes. H 2002, S. 189–195 und S 2009, S. 77–79. 19 Vgl. H 2002, S. 185. 20 In der konzeptuellen Subsumtion „erklärt […] der Verstand das Einzelne aus seinen Allgemeinheiten (den Kategorien)“ (Enz. § 467, GW 20, S. 465). Hegels allgemeine These ,begrifflicher‘ Erklärungen diskutiert neuerdings J. Kreines unter dem Label „concept thesis“ (K 2015, S. 22). 21 Vgl. De an. III, 430a20 f. Den parallelen Passus ebd., 430a5–7 übersetzt Hegel wie folgt: „[D]enn im Immateriellen, ist das Denken und das Gedachte dasselbe; wie denn die theoretische Wissenschaft und das Gewußte ein und dasselbe ist“ (GW 10/2, S. 519). Zu Hegels De Anima-Übersetzung vgl. auch K 1961, S. 55–88. Eine neuere, ausführliche Verteidigung der aristotelischen Identitätsthese entwickelt R. Koons in K 2019. Hegels Theorie der Wahrheit singulärer Gedanken habe ich an anderer Stelle im Hinblick auf ihre möglichen aristotelischen Quellen systematisch rekonstruiert. Vgl. L im Erscheinen a).
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
nach ist, in einer Satzform artikuliert. Darüber hinaus bringt sie die Identität seines Urteilsgehalts mit der Sache und damit die begriffliche Struktur der Bezugsgegenstände selbst zumindest in Ausschnitten selbstbewusst zum Ausdruck.22 Reflektiert man auf die Form von Werturteilen selbst, dann wird also das transparent, was Hegel über die ,Intelligenz‘ im ,Denken‘ im Allgemeinen sagt: So ist die Intelligenz für sich an ihr selbst erkennend, – an ihr selbst das Allgemeine, ihr Product, der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjectiven und Objectiven. Sie weiß, daß was gedacht ist, ist, und daß was ist, nur ist in so fern es Gedanke ist […]. (Enz. § 465, GW 20, S. 464)23
Zusammengefasst kann ein Individuum für Hegel nur dann in ihren selbstbewussten kognitiven Einstellungen ,vernünftig‘ sein, wenn es für dieses gewiss ist, dass die genannte Identitätsbeziehung zwischen ihrem Gedanken und dem Wesen der Dinge besteht. Grob gesprochen heißt dies, dass in der propositionalen Korrektheit bestimmter Urteile – wie korrekter Werturteile – zugleich die ontologische ,Wahrheit‘ mit einleuchten muss, wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält und dass dies der Inhalt des fraglichen Urteils ist. „Vernunft“ ist damit, in Hegels Worten, wesentlich „die Wahrheit als Wissen“ (Enz. § 439, GW 20, S. 434). Hegels Behauptungen sind nun weit genug formuliert, um der Minimalbedingung der Explikation und Analyse epistemologischer Terme gerecht zu werden. Ausdrücke und Propositionen einer epistemologischen Theorie müssen nämlich stets dem Umstand Rechnung tragen können, dass sie selbst Fälle dessen darstellen, was sie zu beschreiben und zu erklären versuchen.24 Die Aussagen über die ,Vernunft‘ in Enz. § 439 unterliegen damit selbst denjenigen Standards, die sie formulieren. In meta-epistemologischer Hinsicht ist daher zu überprüfen, ob zumindest Hegels Aussagen über das Erkennen selbst ,vernünftig‘ sind und nach seinen Maßstäben epistemisch positiv bewertet werden können. Diese Anforderung wird noch dadurch verschärft, dass Hegel in seiner Rede vom ,Erkennen‘ nicht nur epistemologische Thesen aufstellen möchte. Vielmehr meint er, ,Vernunft‘ sei nicht nur das, was die ,Intelligenz‘, sondern auch das, was den ,Geist‘ als solchen kennzeichnet: „Diese wissende Wahrheit ist der Geist.“ (Enz. § 439, GW 20, S. 434)25 Da zumindest menschliche Personen geistige Wesen sind, hängt 22 „Wenn die objective Wahrheit zwar die Idee selbst, als die dem Begriffe entsprechende Realität, und ein Gegenstand insofern an ihm Wahrheit haben kann oder nicht, so ist dagegen der bestimmtere Sinn der Wahrheit dieser, daß sie es für oder im subjectiven Begriff, im Wissen sey. Sie ist das Verhältniß des Begriffs-Urtheils, welches als das formelle Urtheil der Wahrheit sich gezeigt hat; in demselben ist nemlich das Prädicat nicht nur die Objectivität des Begriffes, sondern die beziehende Vergleichung des Begriffs und der Wirklichkeit derselben.“ (WdL II, GW 12, S. 200) Zu Hegels Identitätstheorie propositionaler Wahrheit im Allgemeinen vgl. bes. H 2002, S. 209–217 sowie B 2004. 23 Den aristotelischen Hintergrund erläutert erhellend J.N. Findlay in F 1958, S. 48. 24 Vgl. K 1981, S. IXf. 25 Im Rahmen der Einleitung in das Erkenntniskapitel der WdL spricht Hegel daher schon von der „Idee des Geistes“ (WdL II, GW 12, S. 198; vgl. ebd., S. 196).
2.1 Die Natur epistemischer Bewertung
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die Güte von Hegels eigener Begriffsexplikation damit an der Frage, ob diese sich tatsächlich von dem zitierten ,kategorischen Urteil‘26 angesprochen fühlen müssen oder sollten. Wenn dies der Fall ist, dann müsste zumindest gelten, dass Personen in ihren berechtigten Wahrheitsansprüchen zugleich dessen gewiss sind, dass deren Inhalt mit den Sachverhalten identisch ist. Versteht man dies so, dass Personen immer ein wohlartikuliertes propositionales und explizit inferentielles Wissen zweiter Stufe haben müssen, dass die Korrektheit und ,Wahrheit‘ objektstufiger Aussagen zum Inhalt hat, dann scheint damit aber ein Wissenskriterium formuliert, dass höchstwahrscheinlich in den wenigsten Fällen tatsächlich erfüllt bzw. als Norm vielleicht gar nicht erfüllbar ist.27 Ein solcher Einwand würde aber Hegel schon deshalb nicht gerecht werden, weil er unterstellt, für Hegel wären der Idealund der Normalfall von Wissen einfach identisch. Zwar scheint es richtig, dass für Hegel Erkennen im besten Falle eine analoge Struktur besitzt und in einer möglichst alternativlosen, geschlossenen und sich selbst einholenden philosophischen Theorie zumindest in Grundzügen entfaltet wird, die Hegel in diesen Paragraphen selbst vorgreifend formuliert.28 Gleichzeitig geht er aber davon aus, dass es Fälle von wirklichem Erkennen gibt, die weder im stärksten Sinne und in vollständig artikulierter Weise propositional selbstbewusst sind noch in explizite Überzeugungen resultieren müssen. Wie man diese implizite oder dispositionelle Meinungsbildung genau zu verstehen hat, werden wir in III.2 noch deutlicher sehen. Hier reicht zunächst der Hinweis, dass Hegels Rede von der ,Gewissheit‘ per se keine direkten Rückschlüsse über die geforderte Stärke des Selbstbewusstseins epistemischer Akte erlaubt. Sie könnte nämlich genauso gut auch in einem obliquen Modus vorliegen. Dass dies tatsächlich für Hegel der Regelfall ist, deutet sich schon durch seine bisweilen synonyme Verwendung von ,Gewissheit‘ und ,Glauben‘ an, etwa wenn er schreibt:
26 Dies ist Hegels Ausdruck für Wesensaussagen. Vgl. WdL II, GW 12, S. 77 f. und Enz. § 177, GW 20, S. 189. 27 Normativ formuliert scheint bei der These, dass ein beliebiger Wissensanspruch nur dann einen positiven epistemischen Status hat, wenn zugleich eine höherstufige, ebenfalls ,vernünftige‘ Überzeugung vorliegt, ein infiniter Regress unvermeidlich zu sein. Vgl. zu diesem Problem A 1989b, S. 233 f. 28 Entsprechend könnte Hegel sagen, dass gerade die Aussagen in Enz. § 439 schon deshalb der erste paradigmatische Ausdruck von ,wissender Wahrheit‘ sind, weil er zuvor in über dreihundert Paragraphen die allgemeine kategoriale Struktur der Wirklichkeit in der Logik, sodann deren natürliche Seite in der Naturphilosophie entwickelt hat, um dann – im Rahmen der Anthropologie und Phänomenologie – die spezifischen Folgen und subjektseitigen Voraussetzungen ihrer Erkennbarkeit zu explizieren, die dann in der Psychologie voll entfaltet werden. Grundsätzlich scheint Hegel die erwähnten Regressprobleme durch die Annahme zu umgehen, dass es bestimmte Formen selbstreflexiver Urteile gibt, in denen keine starke Trennung zwischen Objekt- und Meta-Ebene vorliegen kann – und zwar weil sie, wie die Aussagen über ,Vernunft‘, ein Fall desjenigen Urteilstyps sind, den sie selbst formulieren.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
Die Widerlegung des Scheins, das Vernünftige zu finden, die das Erkennen ist, geht [aus] von der Gewißheit, d.i. dem Glauben der Intelligenz an ihre Fähigkeit vernünftig zu wissen, an die Möglichkeit, sich die Vernunft aneignen zu können, die sie und der Inhalt an sich ist. (Enz. § 445, GW 20, S. 440; der Zusatz in eckigen Klammern stammt vom Hrsg.)
Um erkennen zu können, wird also nach Hegel die Minimalbedingung erfordert, dass Personen mindestens einen fiduziellen Glauben, d.h. ein grundsätzliches Vertrauen in die Zuverlässigkeit ihrer kognitiven Fähigkeiten haben.29 Ein fiduzieller Glaube an X ist aber, wie wir in I.1.2 gesehen haben, nicht notwendig eine explizite Meinung, dass X so-und-so ist. Genau genommen lassen sich bei Hegel Argumente für die stärkere These finden, dass ein implizites Zutrauen in der Erkenntnispraxis immer schon vorliegen muss. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Rede von der Zuverlässigkeit der Erkenntnisfähigkeiten und -akte genauer anschaut. Hegel unterscheidet sie nämlich scharf von der Zuverlässigkeit gewöhnlicher artifizieller ,Instrumente‘. Ein Thermometer ist etwa dann zuverlässig, wenn der Stand der Thermometersäule in der Mehrzahl der Fälle die korrekte Temperatur anzeigt; die Erkenntnisfähigkeit hingegen, wenn sie im Regelfall ,Wahrheit als Wissen‘ hervorbringt. Bei einem gewöhnlichen Instrument liegt es nahe, dass wir vor dessen Gebrauch durch andere Hilfsmittel schon überprüft haben, ob es tatsächlich seinen Zweck erfüllen kann.30 Aufgrund der potentiellen Reflexivität rationaler Aktivität ist dies aber in der epistemischen Praxis geradezu unmöglich: Will man sich […] nicht mit Worten täuschen, so ist leicht zu sehen, daß wohl andere Instrumente sich auf sonstige Weise etwa untersuchen und beurtheilen lassen, als durch das Vornehmen der eigenthümlichen Arbeit, der sie bestimmt sind. Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesen sogenannten Werkzeugen heißt dasselbe untersuchen, nicht anders als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist eben so ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage. (Enz. § 10A, GW 20, S. 50)
In jedem Erkenntnisakt setzt man also immer schon dessen prinzipielle Zuverlässigkeit voraus: Jede mögliche Antwort auf die Frage, ob unser Erkenntnisvermögen zuverlässig ist, muss daher von der jeweiligen Person als ein Resultat von dessen Ausübung verstanden werden.31 Dies scheint selbst für die agnostische
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Vgl. auch Enz. § 21A, GW 20, S. 66. Ich bemerke hier nur am Rande, dass dieses Verfahren nur dann zielführend sein kann, wenn man schon voraussetzt, dass wir in kognitiv zuverlässiger Weise feststellen können, dass bspw. zwei Thermometer unter denselben Umständen dieselbe Temperatur anzeigen. Zu den o.g. Merkmalen der Zuverlässigkeit kognitiver Aktivität im Unterschied zu Instrumenten vgl. auch V/T 2000, S. 77–82. 31 Vgl. auch die Skizze eines retorsiven Arguments in L im Erscheinen a). Im Sinne des Kollegs von 1824 konzentriere ich mich hier auf Akte des ,Denkens‘: „Die Vernunft soll untersucht werden – wie? Sie soll vernünftig untersucht werden, soll erkannt werden; dies ist nur durch vernünftiges Denken, vernünftiges Erkennen möglich, auf jedem anderen Wege unmöglich. Es liegt hierin sogleich eine Forderung, die sich selbst aufhebt. Wenn wir nicht ans 30
2.1 Die Natur epistemischer Bewertung
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Antwort der Form zu gelten: ,Es ist prinzipiell unentscheidbar, ob unsere kognitiven Fähigkeiten im Regelfall vernünftige und korrekte Meinungen hervorbringen‘. Denn als Erkenntnisanspruch könnte sie paradoxerweise nur dann rationalerweise behauptet werden, wenn man zugleich implizit annimmt, dass sie falsch ist. Andernfalls könnte diese Aussage überhaupt keinen Fall einer möglicherweise zutreffenden und vernünftigen Meinung darstellen. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der vernünftigen Fähigkeiten ist mithin eine pragmatische32 Voraussetzung jedes Erkenntnisakts und muss für Hegel immer schon vorliegen, bevor man sich über die Konstitution solcher Akte bewusst verständigt. Transzendentale Argumente dieser Art können daher zumindest die implizite Vertrautheit mit der Form unserer Erkenntnisakte plausibilisieren, die sich im genannten epistemischen ,Glauben‘ ausdrückt.33 Aus dieser Annahme ergeben sich wichtige Konsequenzen, die zum Abschluss kurz genannt sein sollen: Sind Erkenntnisansprüche im angegebenen Sinn für uns unhintergehbar, dann ergibt sich, „daß es ungereimt ist, von der Intelligenz und doch zugleich von der Möglichkeit oder Willkühr des Erkennens zu sprechen.“ Denn dann steht es uns niemals zur Wahl, „das Erkennen zu treiben oder aber es zu unterlassen“ (Enz. § 445A, GW 20, S. 441).34 Daraus folgt nach Hegel nicht nur, dass ein Philosophieren gehen sollten, ohne die Vernunft vernünftig erkannt zu haben, so ist gar nichts anzufangen, denn indem wir erkennen, begreifen wir vernünftig; dies sollen wir aber lassen, da wir eben die Vernunft erkennen sollen.“ (VPR 3, S. 53; vgl. auch GVL, GW 18, S. 233 f.) Wie Alston gezeigt hat, lässt sich das Problem der sog. „epistemischen Zirkularität“ ohne weiteres auch mit anderen doxastischen Praktiken durchspielen. Vgl. A 1991, Chap. 3 und die Generalisierung ebd., S. 146–148. 32 Analog spricht W. Alston von der ,praktischen Rationalität‘ der Zuverlässigkeitsannahme in doxastischen Praktiken. Vgl. ebd., S. 178–180. Seine spätere Kritik an dieser Redeweise (vgl. A 2005a, S. 221) scheint mir aber wenig an seiner früheren These zu ändern, dass man sich selbst in jedem Erkenntnisakt pragmatisch auf eine positive Beurteilung der Zuverlässigkeit festlegt. Vgl. A 2006, S. 102–104. In Hegels berühmten Worten: „Inzwischen wenn die Besorgniß in Irrthum zu gerathen, ein Mißtrauen in die Wissenschaft setzt, welche ohne Bedenklichkeiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein Mißtrauen in diß Mißtrauen gesetzt, und besorgt werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrthum selbst ist.“ (PhG, GW 9, S. 54) Vgl. S 2009, S. 220–222 und Q 2011, S. 286–288. 33 Die Aufgabe einer ,Phänomenologie des Geistes‘ könnte man entsprechend darin sehen, möglichst alle berechtigten Zweifel an diesem Vertrauen durchzuspielen und zu widerlegen. Vgl. S 2009, S. 218–225. In diesem Sinne hätte man nicht nur Alstons These der Alternativlosigkeit bestimmter sozial etablierter und praktisch rationaler doxastischer Praktiken eingeholt (vgl. A 1991, S. 169), sondern zugleich die Zuverlässigkeitsthese ultima facie gerechtfertigt. 34 Man könnte hier einwenden, dass Hegel lediglich von Erkenntnis-, aber nicht von Überzeugungsbildung spricht und behaupten, dass dies keinen doxastischen Voluntarismus ausschließt. Solange man aber meint, in allen Erkenntnisansprüchen ziele man auf das ab, was der Fall ist, und nicht auf das, was man als Tatsache zu glauben wünscht, ist diese Unterscheidung irrelevant. Wie R. Swinburne zeigt, hebt sich jede beliebige Meinung selbst auf, bei der man zugleich weiß, dass sie Produkt unserer Absichten und Wünsche ist. Vgl. S 2001, S. 39 f.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
grundsätzlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit wegen der genannten pragmatischen Voraussetzung niemals rationalerweise geäußert, geschweige denn durchgeführt werden kann. Es wird zugleich selbst zweifelhaft, ob Erkenntnisakte als solche andere Zielsetzungen verfolgen können als die der selbstbewussten Wahrheitsakquirierung, die im besten Falle in einem vollartikulierten Wissen um sich selbst besteht.35 Für Hegel stellt sie in jedem Falle den „Endzweck“ (Enz. § 442A, GW 20, S. 337)36 des Erkenntnisprozesses dar und man könnte fragen, ob Zielsetzungen, die sich neutral gegenüber der Zuverlässigkeitsvoraussetzung verhalten oder der Wissensausrichtung übergeordnet werden, nicht zu eben der Skepsis führen müssten, die Hegel prinzipiell für instabil hält.37
2.2 Die Momente des Erkennens Als erste Zwischenkonklusion lässt sich damit festhalten, dass nach Hegel ein Subjekt nur dann erkennen kann, wenn es sich (i) im ,Glauben‘ an seine Fähigkeiten zumindest dessen implizit bewusst ist, dass in deren korrekter Ausübung (ii) der Erkenntnisgehalt identisch mit der Sache ist, auf die sich das Subjekt im jeweiligen Erkenntnisakt bezieht. Unter diesen Voraussetzungen kann man den Wahrheits- und Erkenntnisansprüchen des Subjekts einen minimalen, epistemischen Rechtfertigungsstatus zusprechen, wenn diese unter weiteren Bedingungen gebildet wurden, von denen gleich noch zu sprechen sein wird. Zwei Dinge sollten zunächst festgehalten werden: Erstens ist die Erfüllung der Voraussetzungen (i) und (ii) graduierbar und je nach Wissenstyp spezifisch zu differenzieren. Der ,Glaube‘ kann – und sollte sich – im besten Falle für Hegel in einer Theorie bewähren, die nicht nur Aussagen über das Erkennen im angedeuteten, reflexiven Sinne plausibiliert, sondern zugleich auch auf der Objektseite die Erkennbarkeit der Wirklichkeit im stärkeren Sinne nachweist.38 Eine selbstbewusst und vollständig entwickelte Theorie würde damit Aussagen formulieren, die nicht nur korrekt sind, sondern die ontologische ,Wahrheit‘ der Sachen selbst zum Inhalt haben. Ein philosophisches System, das die Struktur des Erkennens und der 35
Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 16 und unten Abschn. II.4.3. Vgl. Enz. § 445A, GW 20, S. 441 f. und ferner H 2002, S. 102–105. 37 A. Plantinga hat dafür argumentiert, dass schon die Annahme, dass etwa menschliche Überzeugungsbildung nur eine funktionale Rolle in der Selbst- und Arterhaltung spielt, die epistemische Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeitsthese in einem Maße senkt, dass die Skepsis unvermeidlich wird. Vgl. u.a. WCRL, Chap. 10. 38 Nachweis bedeutet hier nicht, dass aus einer überschaubaren Anzahl selbst-evidenter Axiome die Konklusion deduktiv bewiesen wird. Zum einen zweifelt Hegel daran, dass die axiomatisch-deduktive Methode philosophische Probleme hinreichend lösen kann. Vgl. F 1958, Chap. 3, bes. S. 58–71 und unten Abschn. II.2.4. Zum anderen gehört zum optimalen Nachweis einer Theorie die möglichst vollständig durchgeführte ,immanente Kritik‘ alternativer Theorien, die nicht mit deduktiven Beweisen identisch ist. Vgl. die Ausführungen in der Einleitung oben auf S. 20 f. 36
2.2 Die Momente des Erkennens
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erkennbaren Wirklichkeit erklärt, wäre damit Teil eines epistemisches Idealzustands und im hegelschen Rahmen folglich das, was im Höchstmaß epistemisch erstrebenswert wäre.39 Epistemische Einstellungen im Alltag, in den empirischen Wissenschaften und in der Philosophie könnten in diesem Sinne allesamt Fälle von Wissen sein, obwohl Hegel darauf beharren müsste, dass je nach Grad der ,Wahrheit‘, der selbstbewussten Artikulation des Wahrheitsanspruchs und dessen Begründung ein besserer oder schlechterer Erkenntnistyp vorliegt. Die Erfüllung eines solchen philosophischen Desiderats stellt aber nicht den Normalfall, sondern eben nur den idealen Grenzfall des Erkennens dar.40 Pointierter gesagt, muss für Hegel nicht jeder Mensch unter allen Umständen im hegelschen Sinne erfolgreich ,philosophieren‘, um erkennen zu können, was jeweils der Fall ist.41 Stuft man die beiden Voraussetzungen von ,Selbstbewusstsein‘ und ,Wahrheit‘ entsprechend ab, dann sollte nach Hegel in jedem Wissensakt zwar mindestens eine schwache epistemische Zugänglichkeit des jeweiligen Überzeugungsfundaments, z.B. in Form des impliziten Glaubens an die eigenen Erkenntnisfähigkeiten, vorliegen. Was im jeweiligen Kontext zudem erwartet werden darf, müsste man dann je nach Überzeugungstyp und Erkenntnisgegenstand näher differenzieren.42 Im Gesamtverlauf der Arbeit wird sich dabei zeigen, dass dies a fortiori für religiöse bzw. theistische Überzeugungen der Fall ist. 39 Der optimale Grenzfall wäre für Hegel ein Akt des Selbsterkennens, in dem im expliziten Wissen um das, was ihn selbst ausmacht, zugleich all das erkannt werden kann, was überhaupt erkannt werden kann. Dem entspricht, was Hegel die ,absolute Idee‘ nennt (vgl. u.a. Enz. §§ 236 f., GW 20, S. 228 f.), dessen kohärente explikative Darstellung für Hegel die Hauptaufgabe der Philosophie darstellt. Vgl. WdL II, GW 12, S. 236 und unten Abschn. II.4.2 und II.4.3. 40 In diesem Sinne ließe sich etwa das Methodenkapitel der WdL im Anschluss an R. Pasnau als eine ,Idealtheorie‘ des Wissens deuten (vgl. P 2013), die in der Rekapitulation der ganzen Begriffsentwicklung ihre eigene Adäquatheit bestätigt. Vgl. H 2002, S. 72 f. und unten II.4.3. Ähnlich heißt es bei L. Siep, Hegel zeige im Kapitel zur ,Idee des Erkennens‘, „dass die unterschiedlichen Modelle und Formen wissenschaftlicher Erkenntnis, vor allem der ,strengen‘ mathematischen und philosophischen, als Annäherungen an die wahre Idee von Erkenntnis verstanden werden können.“ (S 2004, S. 354) Eine solche Lesart hätte nicht nur den Vorteil, dass man Alltagsformen des Erkennens und nicht-philosophischen Wissenschaften einen positiven epistemischen Status nicht vollständig absprechen müsste, man deren Güte aber durch ihre Nähe und Ähnlichkeit zum formulierten Ideal bemessen könnte. 41 Hegel behauptet etwa im Manuskript: „[N]icht erst auf Philosophie haben die Menschen zu warten gehabt, um das Bewußtsein, die Erkenntnis der Wahrheit zu empfangen.“ (VPR 3, S. 159) Nach der obigen Interpretation heißt dies so viel, dass Menschen immer schon ein theologisches Wissen im Rahmen ihrer religiösen Praxis ausbilden und dazu nicht von jedem erwartet werden muss, eine Vorlesung über Religionsphilosophie halten zu können. Dies schließt aber nicht aus, dass es vom optimalen Grenzfall her betrachtet besser wäre, wenn es so wäre. 42 Analog hat etwa M. Quante mit Blick auf Hegels Moralitätskritik darauf hingewiesen, dass die Anforderung an die Philosophie, eine ethische Praxis extern zu rechtfertigen, für Hegel nicht schwächere Rechtfertigungstypen sittlicher Überzeugungen im Alltag – etwa nach dem default and challenge-Modell – ausschließt. Vgl. Q 2011, S. 293–297.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
Zusammen mit Hegels These, der Erkenntnisprozess stünde nicht in unserer Willkür, ergeben sich zweitens einschränkende Bedingungen für den Typ epistemischer Normen. In keinem Falle können Erkenntnisakte mit Entscheidungssituationen in gewöhnlichen Handlungen enggeführt werden, sodass Terme wie ,Rechte‘ und ,Pflichten‘ hier nicht anwendbar zu sein scheinen.43 Gleichzeitig ist die Selbstbewusstseinsbedingung stark genug, um epistemische Normen etwa von bloß kausalen Regularitäten und auch von Normen zu unterscheiden, deren instinktive Erfüllung lediglich zur Selbst- und Arterhaltung beitragen. Die oben eingeführte Rede vom ,Rechtfertigungszustand‘ wird sich in diesem Rahmen bewegen und verpflichtet sich nicht von vorneherein auf bspw. deontologische Auffassungen epistemischer Normen.44 In den bisherigen Überlegungen ist bislang wenig darüber ausgesagt worden, wie Personen nun genau zumindest den Normalzustand des Erkennens erreichen können bzw. sollten und welche konkreten Folgen dies für den Gottesglauben besitzt. Dazu lohnt es sich, einen genaueren Blick auf diejenigen Passagen zu werfen, in denen Hegel besonders auf Normverletzungen verweist, die zu einem epistemisch inakzeptablen Ergebnis führen. So heißt es etwa in Enz. § 447A: Wenn ein Mensch sich über Etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anders zu thun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolirte Subjectivität, die Particularität, abschließt. (Enz. § 447A, GW 20, S. 444)
43 Nach einer deontologischen Auffassung der Rechtfertigungsnorm wäre man zu einer Überzeugung genau dann ,berechtigt‘, wenn man keine relevanten Pflichten verletzt. Vgl. zur Kritik u.a. A 1989b, S. 115–152; und unten I.5.2. Da nach Hegel Erkenntnisbildung nicht zu unserer Disposition steht, wäre hier nicht nur das für Rechte und Pflichten relevante, kantische Prinzip ,Sollen impliziert Können‘ unerfüllbar. Versteht man „Pflicht“ zudem mit Kant als „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, AA IV, S. 400) würde man gerade dem teleologischen Charakter epistemischer Praxis nicht mehr gerecht werden. Die Güte eines Wahrheitsanspruchs richtet sich für Hegel danach, ob man das uns essentielle Ziel erreicht, ,vernünftig‘ zu sein, und nicht, ob man in der Überzeugungsbildung ohne weitere Zielverfolgung einem deontisch notwendigen und strikt universellen ,Gesetz‘ entspricht. 44 Im Folgenden orientiere ich mich grob an Alstons ,evaluativer‘ Analyse der Rechtfertigungsnorm, die ohne deontologisches Vokabular auskommt. Vgl. etwa A 1989b, S. 105 f. Ein wesentlicher Unterschied zu Alstons Ansatz, den er auch in seiner späten epistemisch-pluralistischer Neukonzeption in Teilen aufrechterhält, liegt allerdings darin, dass sich für Hegel die Güte eines Erkenntnisanspruchs nicht nur danach richtet, ob der Prozess seines Entstehens die Norm propositionaler Wahrheit erfüllt oder zumindest höchstwahrscheinlich erreicht. Vgl. A 2005a, S. 29–34. Was entscheidend ist, ist dessen ,Vernünftigkeit‘, die aber von ihm weiter gefasst wird als Wahrheitserwerb und Irrtumsvermeidung. Da echtes Wissen für Hegel mit Formen der Erklärung verbunden ist (vgl. K 2013, S. 376–379), wäre eine Engführung mit Aristoteles’ Rede vom menschlichen Interesse am Ursachen-Wissen eine damit kompatible Deutungsmöglichkeit. Vgl. Met. I, 980a21 und Z 1996, S. 165–176.
2.2 Die Momente des Erkennens
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Hegels komplexe Überlegungen zur Rolle von Gefühlen in der Überzeugungsbildung wird uns unten in I.4 noch genauer beschäftigen. An dieser Stelle ist lediglich zu fragen, warum die Berufung auf Gefühle keine hinreichende Rechtfertigungsgrundlage für Hegel darstellen kann. Liest man diese Passage von den obigen Überlegungen her, scheint die Antwort klar: Fälle ich bspw. ein Werturteil über eine beliebige empirische Entität X, dann verpflichte ich mich nach Hegel schon aufgrund von dessen Form, eine Aussage darüber treffen zu können, (i) was es mit X seiner „Natur“ (ebd.) nach auf sich hat und (ii) ob X tatsächlich so beschaffen ist, dass es den Standard erfüllt, der mit seinem Artbegriff gegeben ist. Von hier aus lassen sich rechtfertigungstheoretische Minimalbedingungen in etwa wie folgt skizzieren: Um diese Aussage treffen und äußern zu können, müssen für Hegel drei verschiedene Erkenntnisfähigkeiten – oder wie er sagt – „Thätigkeitsweisen des Geistes“ (Enz. § 440A, GW 20, S. 434) in komplexer Weise ausgeübt werden. Um feststellen zu können, dass X faktisch so-und-so beschaffen ist, muss ich mich erstens in einer konkreten Anschauungssituation befinden oder befunden haben, in der ich sehe bzw. gesehen habe, dass X so-und-so ist.45 Damit ich dieselbe Aussage auch zu späteren Zeitpunkten treffen kann, muss ich mich zweitens über diese Situation hinaus auf denselben Sachverhalt beziehen können, etwa indem ich ihn mir in Erinnerung rufe, oder wie Hegel sagt, ihn mir ,vorstelle‘.46 Schließlich benötige ich drittens im engeren Sinne rationale Fähigkeiten, die es mir prinzipiell ermöglichen, begründete Urteile zu fällen.47 Verkürzt gesprochen setzt dies für Hegel ebenfalls eine komplexe Verschaltung verschiedener Formen der Urteilsbildung und Schlussfolgerung voraus. Die Behauptung, dass X ein Exemplar der Art A ist, beruht danach auf der diskriminativen Fähigkeit, mithilfe eines Speziesbegriffs die Art A von anderen Arten unterscheiden können. Neben der allgemeinen taxonomischen Einordnung, die nach Hegel bestenfalls in Form disjunktiver Schlüsse geschieht,48 muss ich zudem in der Lage sein, aus der Artzugehörigkeit auf die normalen Merkmale von Artexemplaren zu schließen.49 Um schließlich X im hegelschen Sinne bewerten zu können, ist ein 45 Vgl. Enz. §§ 446–449, GW 20, S. 442–445. Ich konzentriere mich hier lediglich auf die synchrone Rechtfertigung empirischer Prämissen in Werturteilen durch Wahrnehmung. Begründung durch Hörensagen wird dadurch nicht ausgeschlossen. 46 Vgl. Enz. §§ 452–454, GW 20, S. 446–448. Auf die genauen Beziehungen zwischen ,Anschauung‘ und ,Vorstellung‘ gehe ich weiter unten in Abschn. III.3.1 und III.3.2 näher ein. 47 Vgl. Enz. § 467, GW 20, S. 464 f. Allerdings sind Denkakte – insbesondere der Begriffsbildung – für Hegel in genetischer Hinsicht abhängig von Assoziations- bzw. Abstraktionsleistungen sowie von der Bildung sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen. Vgl. Enz. §§ 455–459, GW 20, S. 448–453. Was diese Formen der (Inter-)dependenz zwischen ,Vorstellen‘ und ,Denken‘ für die religiöse Erkenntnisbildung bedeuten, wird sich bes. in Abschn. III.3.2 und III.3.3 zeigen. 48 Zu den formalen und inhaltlichen Anforderungen disjunktiver Schlüsse bzw. ,Einteilungen‘ vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 123–125 und 215–220. Eine gute Übersicht bieten K 2013, S. 237–240 und S 2018, S. 549–555. 49 Dem entsprechen bei Hegel die anderen Formen des „Schluss[es] der Notwendigkeit“ (WdL II, GW 12, S. 118). Vgl. ebd., S. 118–123 und Enz. § 191, GW 20, S. 199.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
Vergleich der entsprechenden Konklusion mit dem konkreten empirischen Urteil erforderlich, der dann einen positiven oder negativen Ausschlag ergibt. Wie formal ausgereift und selbstbewusst diese Form der Urteilsbildung geschieht, lässt die obige Passage mehr oder weniger offen. Hegel scheint es vielmehr in erster Linie darum zu gehen, dass eine Person dazu in der Lage sein muss, spätestens auf Nachfrage hin eine Begründung für ihre Meinung im Rückgriff auf eine „Verstandesallgemeinheit“ (Enz. § 447A, GW 20, S. 444) anbringen zu können, die sich im obigen Rahmen bewegt. Folgt man der obigen Skizze, dann wäre der relevante ,Grund‘ im Falle einer Bewertung dabei das empirische Urteil, das X so-und-so beschaffen ist, das zusammen mit den mindestens impliziten Inferenzen aus Arturteilen dann das ganze Werturteil ergibt. Da die Stärke der Begründung einer Konklusion je nach dem Rechtfertigungsgrad der Prämissen variiert, muss freilich auch das empirische Urteil entsprechend gut begründet sein. Wie die obige Skizze zeigt, sind im Falle empirischer Entitäten trivialerweise Rückbezüge auf Wahrnehmungssituationen in ,Anschauungen‘ bzw. ,Vorstellungen‘ relevant. Damit ich aber ein bestimmtes empirisches Urteil, dass X sound-so ist, mit dem Hinweis begründen kann, dass ich sehe bzw. gesehen habe, dass X so-und-so ist, können beide Formen epistemischer Akte nicht vollständig isoliert von begrifflichen Fähigkeiten vollzogen werden.50 Nimmt man die obigen Überlegungen zu Hegels Begriff propositionaler Wahrheit hinzu, müsste man vielmehr annehmen, dass (a) schon der Umstand, dass X so-und-so beschaffen ist, sich von dem relevanten ,Begriff‘ von X her erklärt, der dann im selben Maße (b) den für den epistemischen Zugang zu X konstitutiv sein muss.51 In diesem Sinne kann ein Subjekt meinen, ein beliebiger empirischer Sachverhalt begründe selbst die jeweilige empirische Meinung, weil er ihm – im Wortsinne – direkt vor Augen steht.52 Im hegelschen Rahmen vermag ein Subjekt daher seine empirische Meinung, dass p, nur dann mit seinem perzeptiven Zugang zum bestehenden Sachverhalt, dass p, begründen, wenn auch die Wahrnehmung sich nach denselben Prinzipien richtet, die objektseitig die Sache selbst strukturieren.53 Eine Grundlage für eine Meinung oder Überzeugung sind ,Anschauungen‘ und ,Vor50 Dem entspricht W. Sellars’ vielzitierte kritische Anfrage an den von ihm so genannten ,Mythus des Gegebenen‘, wie etwas scheinbar Nicht-Begriffliches, wie Wahrnehmungszustände oder extramentale Sachverhalte, Teil des Begründungsraums für aussageförmige Wahrheitsansprüche sein kann. Vgl. die instruktive Rekonstruktion und Diskussion von Sellars’ „master argument“ in V/T 2000, S. 67–107. 51 F. Knappik weist im Anschluss an Enz. § 448 auf den Umstand hin, dass nach Hegel schon in der anschaulichen Einordnung eines Einzeldings in ein raumzeitliches Bezugssystem diskriminativ-begriffliche Fähigkeiten ausgeübt werden. Vgl. K 2015, S. 100–103. 52 Zu diesem hegelschen direkten Realismus vgl. H 2002, S. 360–371. 53 Im Anschluss an die o.g. aristotelische These der formalen Identität zwischen Erkenntnisgehalt und Gegenstand könnte man auch sagen, die extramentale Sache sei die ,Formursache‘ der Wahrnehmung. Zur Rolle der ,Formalursächlichkeit‘ in epistemischen Akten vgl. u.a. H 1996, S. 291 und K 2019, S. 96–100.
2.2 Die Momente des Erkennens
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stellungen‘ daher unter der Bedingung, dass in ihnen selbst schon Formen begrifflicher Fähigkeiten am Werk sind – wenn auch in einem rezeptiven Modus.54 Mithilfe dieses Beispiels, wie Anschauungen und Erinnerungen als Gründe für empirische Urteile fungieren, die wiederum implizite Prämissen für Werturteile darstellen können, lassen sich Hegels Äußerungen zum Erkenntnisprozess weiter präzisieren und von dort seine These näher erläutern, warum der Verweis aufs Gefühl im genannten Sinne defektiv ist. Erstens zeigt sich in der komplexen Verschaltung der Ausübung verschiedener Erkenntnisvermögen, dass sie sich nicht voneinander vollständig isolieren können. „Anschauen, Vorstellen, Erinnern u.s.f.“ sind damit im Erkennen „Momente seiner realisirenden Thätigkeit“ (Enz. § 445A, GW 20, S. 441).55 Behandelt man etwa Anschauungen als mögliche Gründe für empirische Urteile, dann scheint sich damit zweitens die schon erwähnte These der dispositionellen Meinungs- und Überzeugungsbildung zu bestätigen: Wenn ich etwa sehe, dass p der Fall ist, dann kann ich selbst dann der Meinung sein, dass dem so ist, wenn diese nicht (immer) direkt in meinem Aufmerksamkeitsfeld erscheint oder ich sie für mich oder andere ausspreche. Bietet die Anschauung nicht nur eine Erklärung für die Meinung, sondern eben auch (in der Regel) einen echten Grund für ihre Korrektheit, wenn die Meinung auf ihr tatsächlich beruht,56 dann lässt sich zugleich drittens der Rechtfertigungsbegriff präzisieren. Mit W. Alston gesprochen, macht es nämlich einen Unterschied, ob sich eine Überzeugung in einem Rechtfertigungszustand befindet oder ob die Person, die sie vertritt, einen bewussten Nachweis leistet bzw. geleistet hat, dass sie das tut.57 Im Falle einer Wahrnehmungsmeinung wäre ersteres nach Alston schon der Fall, wenn sie auf einer Wahrnehmung basiert und die Person keine ihr vor Augen stehenden Gegengründe hätte, die ihren Glauben an die Zuverlässigkeit ihrer Wahrnehmung in diesem Kontext erschüttern könnte. Ein aktiver Rechtfertigungsnachweis wäre etwa dann gegeben, wenn die Person ihre Überzeugung im Rekurs auf ihre Wahrnehmungsleistung aktiv und explizit für sich selbst oder andere begründet. Insofern nun schon der Rechtfertigungsstatus einer Meinung es ermöglicht, ihn anderen Personen auf Nachfrage hin offen zu legen, folgt schließlich viertens, dass die Gründe für eine Überzeugung im Prinzip immer intersubjektiv und öf54 So die vieldiskutierte These von J. McDowell, die er in Hegels Kantkritik in Glauben und Wissen wiederfindet. Vgl. MD 2007, S. 170 f. und GW 4, S. 327–329. Zu McDowells Hegelrezeption vgl. S 1999 und H 2006. 55 Vgl. Enz. § 380, GW 20, S. 381. Chr. Halbig spricht Hegel daher zu Recht einen vermögenstheoretischen „Holismus“ zu. Vgl. H 2002, Kap. 3, bes. S. 131–137. 56 Eine Meinung oder Überzeugung hätte nur dann in einer Tatsache, einer Erfahrung oder einer anderen Meinung einen, wie Alston sagt, ,adäquaten‘ epistemischen Grund, wenn dies für deren propositionale Korrektheit sorgt oder zumindest die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie korrekt ist. Vgl. A 1989b, S. 96–113 und ebd., S. 227–233. In analoger Weise führt A. Kern den „Begriff eines wahrheitsgarantierenden Grundes“ (K 2006, S. 64) ein. Vgl. ebd., S. 42–44 und 64–68. 57 Vgl. im Folgenden A 1989b, S. 82 f. und . 2005a, S. 18.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
fentlich mitteilbar sein müssen. Rechtfertige ich etwa meine Wahrnehmungsmeinung durch meine Anschauung und Erinnerung an die entsprechende Situation an diesem Ort und zu dieser Zeit, dann präsupponiere ich offenbar, dass jede erkenntnisfähige Person dem Gehalt nach dieselbe Überzeugung hätte ausbilden müssen bzw. sollen, wenn sie sich in meiner Position befunden hätte.58 Die potentielle Allgemeinheit und Intersubjektivität wird für Hegel selbst dann nicht aufgegeben, wenn ich in der Äußerung meiner Überzeugung notgedrungen auf indexikalische Terme zurückgreifen muss, wie dies etwa bei Wahrnehmungsmeinungen der Fall ist. Denn, so Hegel: Wenn ich sage, das Einzelne, dieses Einzelne, Hier, Jetzt, so sind diß Allgemeinheiten; Alles und Jedes ist ein Einzelnes, Dieses, auch wenn es sinnlich ist, Hier, Jetzt. Ebenso wenn ich sage: Ich; meyne ich Mich als diesen alle Andern ausschließenden, aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle Andern von sich ausschließt. (Enz. § 20A, GW 20, S. 65)59
Selbst wenn ich also mittels des Ausdrucks ,ich‘ auf mich – als dieser individuelle Mensch – Bezug nehme, um mir bspw. im öffentlichen Kontext einen beliebigen Erkenntnisanspruch zuzuschreiben, dann kann ich dies nach Hegel nur dann tun, wenn ich zugleich präsupponiere, dass jeder andere Mensch unter den gleichen Umständen dasselbe tun könnte und sollte. Ohne die Angabe des genauen Kontextes sind Indexwörter prinzipiell auf jeden Ort und auf jede Zeit im selben Raumzeitsystem anwendbar ebenso wie jede erkenntnisfähige Person auf das Personalpronomen ,ich‘ zurückgreifen kann. Die kompetente Verwendung von Indexikalia und Personalpronomina geschieht daher für Hegel schon implizit unter der Voraussetzung, dass es keinen echten Erkenntnisanspruch geben kann, der nicht zumindest im Prinzip intersubjektiv mitteilbar ist.60 Die Fähigkeit, die dabei relevanten sprachlichen Anwendungsregeln korrekt und sinnvoll umzusetzen, zeugt daher von der ,vernünftigen‘ Natur der Person, die sie ausübt.61
58 Das liegt schon daran, dass dasselbe raumzeitliche Bezugssystem von allen der Anschauung fähigen Subjekten geteilt werden kann bzw. muss. Vgl. Enz. § 448, GW 20, S. 444 f. und hierzu nochmals K 2015, S. 100–103. Setzt man zudem mit Hegel voraus, dass jede ,vernünftige‘ Person an ,Wahrheit‘ interessiert ist, dann folgt trivialerweise, dass ich mit jeder wahren Überzeugung zugleich implizit mitbeanspruche, dass jede andere Person sie ebenfalls vertreten sollte. 59 Zur Bedeutung und zur Referenz des Ausdrucks ,Ich‘ bei Hegel vgl. bes. V 1988b, S. 89–107. 60 Hegel spricht daher an anderer Stelle auch vom „allgemeine[n] Selbstbewußtseyn“ (Enz. § 436, GW 20, S. 432). Für dieses gilt, was Findlay über Hegels Begriff des ,Geistes‘ im Allgemeinen sagt: „It is not my exclusive Spirit or your exclusive Spirit, but something which by its nature transcends the distinction of persons. […] I may try to use the pronoun ,I‘ to stand for my single self, but cannot succeed in meaning by it anything not shareable and public. Our most absolute privacy is most essentially everyone shares, and our first-person autobiographies narrate the story of Everyman in a language intelligible to everyone.“ (F 1958, S. 42) 61 „Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist.“ (Enz. § 20A, GW 20, S. 64 f.) Die Rede vom ,Ich‘ steht für Hegel
2.2 Die Momente des Erkennens
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Mit diesen Präzisierungen erklärt sich schließlich, warum der Hinweis auf das Gefühl für Hegel keinen echten Rechtfertigungsnachweis darstellen kann: Zwar können Stimmungen und Gefühle erstpersonal ein Indikator dafür sein, dass sich eine Person eine bestimmte Überzeugung so angeeignet hat, dass sie zu dem zählt, was sie als diese Person in ihrem Selbstbild eigentlich ausmacht.62 Gefühle und Stimmungen, die ich mit einer Überzeugung verbinde, sind aber für Hegel allein nicht hinreichend, um unterscheiden zu können, ob die emotionale Bewertung des entsprechenden Sachverhalts nur auf meine individuelle Selbsterhaltung und -verwirklichung bezogen ist oder auch für alle anderen zu gelten hat.63 Sage ich in diesem Sinne etwa, dass ich ein gutes Gefühl dabei habe zu meinen, dass der Sachverhalt p besteht, dann ist daraus allein nicht ablesbar, ob ich mir dies vor dem Hintergrund meiner egozentrierten Präferenzen lediglich wünsche oder nicht. Und dies scheint auch dann der Fall zu sein, wenn in meiner Bewertung unbewusst korrekte Hintergrundmeinungen eine Rolle spielen. Für eine Begründung meiner Meinung, dass p, auf Basis der positiven emotionalen Bewertung, dass p, kann damit für Hegel nicht einmal die Intersubjektivitätsbedingung für Rechtfertigungsnachweise erfüllt sein. Ein Mensch, der dies dennoch tut, obwohl er es besser wissen sollte, ist folglich nach Hegel „stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolirte Subjectivität, die Particularität, abschließt.“ (Enz. § 447A, GW 20, S. 444) Mit diesen allgemeinen Überlegungen zu den Momenten und Bedingungen des Erkennens lassen sich abschließend erste epistemologische Rückschlüsse aus Hegels allgemeiner These ziehen, „daß die Religion den innersten Sitz im Denken hat“ (VPR 3, S. 271). Mit der der Zentralstellung des ,Denkens‘ verpflichtet sich Hegel direkt auf die Annahme, dass religiöse und theistische Überzeugungen echte und erfüllbare Erkenntnisansprüche darstellen. Daraus ergibt sich zum einen, dass Hegels Rede vom „religiöse[n] Bewußtsein“ (ebd., S. 203)64 in keinem Falle nur auf den privaten Zustand einer einzelnen Person abzielt, sondern auf das, was alle erkenntnisfähigen Wesen teilen müssten und sollten, wenn sich diese Ansprüche als ,vernünftig‘ erweisen.65 Zugespitzt formuliert kann es daher für Hegel immer nur im Singular auftreten. Zum anderen muss es sich als Produkt unserer Urteils- und Schlusspraxis immer in Aussagen über das Absolute und immer im Zusammenhang eines mind. impliziten ,Ich denke‘ und damit im Kontext möglicher Urteile und Schlüsse. Vgl. V 1988b, S. 95 f. 62 „[I]n der Empfindung […] ist solcher Inhalt Bestimmtheit meines ganzen, obgleich in solcher Form dumpfen Fürsichseyns; er ist also als mein eigenstes gesetzt. Das Eigene ist das vom wirklichen concreten Ich ungetrennte, und diese unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer Substanz und dem bestimmten Inhalte derselben ist eben diß Ungetrenntseyn, insofern es nicht zum Ich des Bewußtseyns, noch weniger zur Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt ist.“ (Enz. 401A, GW 20, S. 397) 63 Vgl. auch Enz. § 471A, GW 20, S. 468 f. 64 Vgl. VPR 3, S. 216 und 267. 65 Präziser müsste man auch hier mit Hegel von ,Geist‘ sprechen. Vgl. hierzu F 1958, S. 42 f.
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2. Theistische Überzeugungen und epistemische Rechtfertigung
seine Natur überführen lassen können. Mit deren Akzeptanz stellt man sie dann zugleich in einen intersubjektiv geteilten und potentiell öffentlichen ,Raum der Gründe‘ und legt sich damit selbst auf die epistemische Norm fest, ihre jeweiligen Grundlagen unter Umständen und im unterschiedlichen Maße offenzulegen.66 Gleichzeitig haben wir gesehen, dass Hegels Erkenntnisbegriff zumindest die Tatsache einfangen kann, dass die eingegangen epistemischen Normen in Normalfällen für die Subjekte nicht immer als solche vollständig transparent sein müssen. Erkenntnisansprüche können sich daher im Zustand des Gerechtfertigtseins befinden, ohne dass ein Subjekt dies für sich oder andere aufgezeigt hat. Mithilfe dieser Unterscheidung von W. Alston werde ich im Gesamtverlauf der Arbeit für die weitergehende exegetische These argumentieren, dass nach Hegel Personen zwar (i) durch die spezifische Ausübung ihrer rationalen Fähigkeiten korrekte theistische Überzeugungen ausbilden und sich diese damit immer im Rechtfertigungszustand befinden. Aufgrund des spezifischen Charakters religiöser Überzeugungsbildung muss aber (ii) spätestens unter bestimmten erkenntnisund religionsskeptischen Voraussetzungen ein Nachweis des Rechtfertigungszustands gegeben werden, den nicht jede Person unter allen Umständen in der Rolle als Gläubige leisten kann. Um die argumentative Schlagkräftigkeit von Hegels Theorie zu prüfen, werde ich sie im nächsten Kapitel mit einem Einwand konfrontieren, der schon die schwächere These (i) bestreitet. In der Diskussion alternativer Reaktionen auf diese Kritik wird dann in den Folgeschritten die prinzipielle Relevanz des ,Denkens‘ für die religiöse Überzeugungsbildung und dessen rechtfertigende Rolle genauer in den Blick genommen werden.
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Vgl. K 2006, S. 38–40.
3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands Schon die obigen Überlegungen zu Hegels Erkenntnisbegriff werden spätestens bei dessen erstaunlich liberaler Ausweitung auf den Gottesglauben Verdacht hervorrufen, die im Verlauf der nächsten Kapitel genauer betrachtet wird. Kritische Vorbehalte scheinen hingegen schon deshalb naheliegend, weil sich der religiöse Glaube nach Hegel auf einen Referenzgegenstand richtet, der sich nicht unter diejenigen Entitäten reihen lässt, mit denen Personen alltäglich und – außerhalb der Theologie – wissenschaftlich zu tun haben. Behauptet man nun, dass religiöse Personen einen einlösbaren Erkenntnisanspruch erheben, dass etwa das Absolute tatsächlich existiert, dann verpflichtet man sich auf die Annahme, sie hätten einen Zugang zu einer Entität, die ihrem Wesen nach in allen Hinsichten unabhängig davon ist, was endliche Personen über sie sagen und meinen. Hegel ist sich dieses Vorbehalts nun wohl bewusst und bemerkt im Manuskript, dass spätestens in der reflexiven Haltung gegenüber dem eigenen Glauben das „Bedürfnis nach Rechtfertigung“ (VPR 3, S. 12) entstehen muss. Die Motive der Suche nach Rechtfertigungsnachweisen sind nun vielschichtig und können nach Hegel dadurch unterschieden werden, ob sie von außen an Gläubige herangetragen werden oder schon aus ihrem eigenen Selbstverständnis folgen. In der letzteren Hinsicht meint Hegel an einigen Stellen im Manuskript, die Forderung „Ihr sollt Gott erkennen“ sei dasjenige, „[w]as die christliche Religion wie alle Religionen, für das Höchste, das absolute Gebot erklärt“ (ebd., S. 6).1 Tatsächlich lässt sich nach Hegel die ganze Religionsgeschichte als ein Prozess verstehen, in dem das religiöse Bewusstsein nicht nur sukzessive einen adäquateren Begriff des Absoluten, sondern in diesem Rahmen auch ein ihm jeweils angemessenes Selbst- und Weltbild entwickelt.2 Der Verweis auf Hegels Entwicklungsthese reicht aber sicherlich nicht aus, die Stärke skeptischer Vorbehalte zu verstehen. Denn in der genannten Hinsicht wird allerhöchstens verhandelt, wie das Absolute genau aufzufassen ist, während die Annahme von dessen tatsächlicher Existenz und explanatorischer Kraft für das religiöse Bewusstsein unproblematisch bleibt. Es gibt aber durchaus starke Mo-
1 Vgl. auch VPR 3, S. 22–24. Hegel begründet die oben zitierte Aussage dort und den späteren Partien des Manuskripts mit Matth 5, 48, und im Kolleg von 1824 – nach Hotho – auch mit Joh 4, 24. Vgl. VPR 3, S. 204 Fn. und VPR 4, S. 104; und den analogen Gedankengang in L 1994, S. 201 f. 2 Vgl. dazu unten III.4.2.
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3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
tive, genau diese fundamentale Voraussetzung zu bezweifeln, wie Hegel besonders klar sowohl zu Beginn des Manuskripts als auch im Hinrichs-Vorwort betont.3 Sie speisen sich dabei in erster Linie aus einer besonderen epistemologischen Auszeichnung der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die wiederum tiefere Wurzeln im Selbstverständnis frühmoderner Gesellschaften hat. Was damit gemeint ist, wird deutlicher, wenn man zunächst Hegels allgemeine Charakterisierung wissenschaftlicher Praxis genauer betrachtet. Im Hinrichs-Vorwort heißt es: In der That geht die weltliche Wissenschaft auf Erkennen des Endlichen; indem sie in das Innere desselben hineinzusteigen sich bemüht, sind Ursachen und Gründe das Letzte, bei welchem sie sich beruhigt. Aber diese Ursachen und Gründe sind wesentlich ein dem zu Erklärenden Analoges, und darum sind es gleichfalls nur endliche Kräfte, welche in ihren Bereich fallen. (GW 15, S. 134)4
Der offenbare Erfolg naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung und Erklärung ist nun für Hegel per se noch kein Grund, warum man andersgelagerte Erkenntnisformen über einen ganz anderen, nicht-empirischen Gegenstandsbereich für illegitim halten sollte – zumal kausale Regularitäten an sich für Hegel nicht im strengen Sinne empirisch wahrnehmbar sind. Denn die Kompatibilität mit theologischen Aussagen scheint sich einfach daraus zu ergeben, dass sich die wissenschaftliche Hypothesenbildung auf andere Referenzgegenstände unter anderen Fragestellungen bezieht.5 Darin wird aber gleichzeitig deutlich, dass eine besondere Auszeichnung dieses Erkenntnistyps zusammen mit seinem intrinsischen Korrektheitsstandards notgedrungen den Referenzrahmen echter Erkenntnisse einschränken muss. In Hegels Worten: „[W]enn auf die Erkenntniß der Wahrheit überhaupt Verzicht geleistet ist, dann hat das Erkennen nur Einen Boden, den Boden der Erscheinung.“ (ebd., S. 134 f.) Eine solche Einengung der Erkenntnis- und Rationalitätsstandards ist aber nicht einfach nur eine willkürliche Annahme. Sie erklärt sich nach Hegel vielmehr durch die spezifisch frühneuzeitlichen Zielsetzungen wissenschaftlicher Praxis. Genauer meint Hegel, dass Menschen zu einer höheren Bewertung ihrer eigenen Fähigkeiten kommen, wenn sie sehen, dass bspw. in der mathematisch-experimentellen Methode natürliche Phänomene und Vorgänge nicht nur besser erklärt
3 Diese aufklärerischen Motive hat Hegel vermutlich auch bei der oben zitierten Rede vom „Bedürfnis nach Rechtfertigung“ (VPR 3, S. 12) vor Augen. Vgl. etwa die gleichlautenden Passagen in VPR 5, S. 94 f. 4 Vgl. auch die parallelen Stellen im Manuskript in VPR 3, S. 19–22. 5 „Wenn nun gleich diese Wissenschaften ihre Erkenntnisse nicht zur Region des Ewigen, – welches nicht nur ein Uebersinnliches ist, denn auch jene Ursachen und Kräfte, […] sind nicht ein Sinnliches – hinüber führen, indem sie nicht das Geschäft dieser Vermittlung haben, so ist doch die Wissenschaft des Endlichen durch nichts abgehalten, eine göttliche Sphäre zuzugeben.“ (GW 15, S. 134) Dies schließt freilich nicht aus, dass die Gegenstandsbereiche sich jeweils überlappen – etwa indem man die Struktur der empirischen Wirklichkeit von der „Region des Ewigen“ (ebd.) her versteht.
3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
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werden, sondern unter diesen methodischen Vorgaben simuliert und gewissermaßen technisch reproduziert werden können. Die Einsicht in den intrinsischen Zusammenhang wissenschaftlicher Erklärung und technischer Reproduzierbarkeit ruft daher für Hegel eine für die Neuzeit charakteristische Selbstbeurteilung hervor, die er im Manuskript wie folgt beschreibt: [S]o ist die Erforschung und die Erkenntnis sowie das Wollen und die Wirklichkeit jener Zwecke W M, des menschlichen Verstandes; er ist nicht bloß dies wissend, diese Rechte habend usf., es ist, was er vor sich gebracht hat; er ist hier in seinem E, das er nicht bloß empfangen hat; er geht zwar von dem aus, was ist, was er vorfindet; aber was er in der Erkenntnis und in dem Willen daraus macht, dies ist seine Sache, sein Werk; er hat das Bewußtsein, das dies sein Werk ist, [das er] produziert hat. Diese Produktionen machen daher seine Ehre und seinen Stolz aus […]. (VPR 3, S. 14; der Zusatz in der Klammer stammt vom Hrsg.)
Diese Hochschätzung wissenschaftlicher Kausalerklärungen beruht daher nicht zuletzt auf der Annahme, dass sie die praktischen Möglichkeiten der Menschen scheinbar unbegrenzt erweitern können.6 Und dies ist wiederum nur möglich, weil dem menschlichen Handlungswissen und dem Bewusstsein, erklärbare Vorgänge und Phänomene selbst hervorbringen zu können, ein hoher, wenn nicht der höchste Wert zugeschrieben wird. Wie Hegel im Manuskript ausführt, erklärt sich daraus nicht nur eine stärkere Ausdifferenzierung profaner und sakraler Lebensbereiche, in denen der Natur als Ganzer mit einer anderen Haltung begegnet wird.7 Sie macht zugleich plausibel, warum das Interesse an theologischem Wissen schwinden muss, sobald ,Gott‘ in der Bildung spezifischer Hypothesen und empirischen Einzelerkenntnissen keine explanatorische Rolle mehr besitzt.8 Während also theologisches und naturwissenschaftliches Wissen für Hegel inhaltlich kompatibel sein kann, lässt sich gleiches nicht von der spezifischen Selbstauffassung sagen, die mit der jeweiligen Erkenntnispraxis verbunden ist. Folgt man nun einer Variante der kantischen These, dass einlösbare Wissensansprüche für uns immer im Kontext möglicher empirischer Wahrnehmung stehen, ergibt sich sofort die entscheidende Konsequenz, gerade den epistemischen Status des Gottesglaubens radikal in Frage zu stellen. In der Tat kann man diesen Vorbehalt relativ leicht in eine argumentative Form bringen, wenn man die eben genannten modernen Rationalitätskriterien als Prämisse heranzieht. Dessen prominentester und einflussreichster Kandidat ist nun sicherlich der aufklärerische
6 Zum modernen Freiheitsverständnis als „Emanzipation“ und dessen Implikationen vgl. R 1977, S. 219–231 und allgemein etwa S 1994, S. 234–247. 7 Vgl. hierzu bes. VPR 3, S. 11–15. Diese von Hegel diagnostizierte „Entzweiung“ (VPR 3, S. 11) wird von F. v. Kutschera kommentiert und in seinen Konsequenzen ausbuchstabiert. Vgl. K 1990, Kap. 4.2, bes. S. 251 f. 8 So die Schlussfolgerung in VPR 3, S. 22 f. Hieraus erklärt sich nach Hegel übrigens auch die Instabilität der frühneuzeitlichen Physikotheologie, die sich nach Hegel um einen Ausgleich theologischer und wissenschaftlicher Praxis bemüht hat – zum Schaden beider Disziplinen. Vgl. ebd., S. 17–19.
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3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
Einwand aus mangelnden Belegen, der im zeitgenössischen Sprachgebrauch auch ,evidentialistischer Einwand‘ genannt wird.9 Soweit ich sehen kann, wird diese Kritik bei Hegel zwar nicht in einer geschlossenen Form präsentiert.10 Sie kann aber Hegel vermutlich schon deshalb vor Augen gestanden haben, weil er in den oben zitierten Passagen deren Prämissen mitformuliert.11 Tatsächlich benötigt der Einwand zum einen eine Variante kantischer Erkenntnisprinzipien, die die Erfolgsbedingungen für Wissensansprüche definiert, die nicht in den Bereich empirisch begründeter Alltagsmeinungen oder wissenschaftlicher Hypothesen fallen. Sie lässt sich in etwa wie folgt paraphrasieren:12 (1) Rechtfertigungsbedürftige Überzeugungen sind dann und nur dann rational akzeptabel, wenn sich entsprechende Belege für sie anführen lassen.
Diese erste Prämisse operiert mit einer normativen Regel, der zufolge die Stärke einer Überzeugung auf deren konditionale Wahrscheinlichkeit relativ zu den verfügbaren Belegen abgestimmt werden soll.13 Diese werden von Vertretern des Einwands in der Regel als korrekte deduktive, induktive oder zumindest abduktive Argumente aufgefasst. Deren Prämissen entsprechen dabei in etwa denjenigen Klassen von Meinungen und Überzeugungen, die Hegel in den obigen Zitaten unter dem Schlagwort ,Erkennen des Endlichen‘ zusammenfasst – nämlich in der Regel durch empirische Wahrnehmung gerechtfertigte Meinungen, die dann wiederum die Belegbasis hypothetischer Generalisierungen darstellen.14 9
Vgl. oben S. 6 Fn. 15. Nahe an die erste Prämisse des Einwands kommt eine Bemerkung in einem Vorlesungszusatz: „Vormals betrachtete man den Schluß als die absolute Regel alles Erkennens, und eine wissenschaftliche Behauptung galt nur dann als gerechtfertigt, wenn dieselbe als durch einen Schluß vermittelt nachgewiesen wurde.“ (Enz. § 183Z, TWA 8, S. 335) Hegel spricht hier zwar nur von „wissenschaftlichen Behauptung[en]“ und nicht von rechtfertigungsbedürftigen Meinungen überhaupt und könnte hier genauso gut den traditionell aristotelischen Gedanken vor Augen haben, dass eine Aussage idealiter durch einen Syllogismus der ersten Figur begründet wird. Vgl. P 2013, S. 990 f. Den Einwand gewinnt man aber leicht durch die Verallgemeinerung der zugrundeliegenden Rechtfertigungsanforderungen. 11 Zudem lassen sich Teilprämissen des Einwands auf J. Locke und Descartes zurückführen, die Hegel natürlich kannte. Vgl. zu den historischen Ursprüngen dieser Prämissen auch WCB, S. 71–79. 12 Vgl. zur Rekonstruktion auch die feinkörnigere Analyse in D/T 2015, S. 552 und zu den epistemologischen Hintergrundannahmen bes. WCB, S. 81–88. Auf die Details von Plantingas einflussreicher Analyse und Kritik werde ich unten in I.5.2 näher eingehen. 13 Vgl. Plantingas Rekonstruktion der entsprechenden Aussagen bei J. Locke in WCB, S. 79. L. Zagzebski weist zwar gegen Plantinga darauf hin, dass die evidentialistische Regel bei Locke nicht für Wissen im Allgemeinen, sondern nur für besondere Formen des Glaubens gilt. Vgl. Z 1996, S. 33 f. Da es hier aber speziell um den Gottesglauben geht, ist diese Differenzierung hier nicht weiter relevant. 14 Vgl. zu dieser Meinungsklasse auch WCB, S. 82–85. Mit Kant könnte man vielleicht noch die transzendental gerechtfertigten Prinzipien der wissenschaftlichen Praxis, bspw. das Kausalprinzip anführen. 10
3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
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Fallen nun bestimmte Überzeugungstypen nicht in diese Klasse, sind sie nach (1) auf einen argumentativen Nachweis ihres Rechtfertigungsstatus’ angewiesen.15 Folgt man nun den von Hegel genannten modernen epistemologischen Intuitionen, dann ergibt sich nicht nur, dass der Gottesglaube aufgrund des hohen Gewissheitsgrads seines Objektivitätsanspruchs auf entsprechende Belege angewiesen ist.16 Vielmehr scheinen im Rahmen der genannten Erkenntnispraxis überhaupt keine Belege auffindbar zu sein. Daher scheint die Konjunktion zu gelten: (2) Der Gottesglaube ist rechtfertigungsbedürftig und es lassen sich keine Belege für ihn anführen.
Mit dem ersten Konjunkt von (2) fällt der Gottesglaube in den Skopus der evidentialistischen Prämisse (1), während das zweite den Grund angibt, warum er eben deshalb rational inakzeptabel ist.17 Beide Prämissen verpflichten jeden Gläubigen also darauf, die jeweilige theistische Überzeugung zurückzuziehen und sich mindestens mit Urteilsenthaltung zu begnügen. Und da eine Person unter keinen Umständen einen Erkenntnisanspruch erheben kann, den sie selbst für uneinlösbar hält, scheint der Einwand zugleich ein starker Grund gegen Hegels These vom Denken in der Religion darzustellen. Die Eleganz und Attraktivität der evidentialistischen Kritik zeigt sich zum einen in der Sparsamkeit ihrer Prämissen und deren Anfangsplausibilität. Anders als alternative Einwände wie die von Freud und Marx, die ebenfalls auf die Verletzung epistemischer Normen hinweisen, ist sie nämlich nicht auf eine Religionstheorie angewiesen, die bspw. religiöse Überzeugungsbildung aus Selbstentfremdungsprozessen oder aus Wunschdenken heraus erklärt und darüber deren Zuverlässigkeit und Wissensausrichtung bezweifelt.18 Zum anderen kann sich ein Vertreter des Einwands neutral gegenüber der möglichen Geltung des propositionalen Gehalts des Gottesglaubens verhalten – zumindest dann, wenn er der spätestens seit E.L. Gettier gängigen Prämisse folgt, dass ,Wahrheit‘ und ,Rechtfertigung‘ keine ko-extensiven Begriffe darstellen. Damit ist diese Kritiklinie auch nicht auf den Erfolg von atheistischen Argumenten angewiesen, die etwa Inkonsistenz- oder Unwahrscheinlichkeitsnachweise zu führen versuchen.19 15 Die oben verwendete Formulierung von (1) ist für den Einwand nicht unbedingt notwendig. Man kann sich auch mit einer schwächeren Fassung begnügen, die Belege nur als notwendige Bedingung für deren Begründung angibt. 16 Vgl. hierzu etwa VPR 3, S. 20 f. und GW 15, S. 134 f. 17 Nebenbei bemerkt ist es natürlich möglich, (1) zusammen mit dem ersten Konjunkt zu akzeptieren, das zweite aber zu bestreiten, wie das nach Plantinga etwa J. Locke selbst getan hat. Vgl. WCB, S. 90. T. Dougherty und Ch. Tweedt unterscheiden daher feiner zwischen „evidentialism“ und „hyperevidentialism“ in D/T 2015, S. 552. 18 Vgl. die instruktive Rekonstruktion in WCB, Chap. 5 sowie zur Kritik auch K 1990, S. 271–286. 19 Dazu gehören Argumente, die entweder die Inkonsistenz einzelner Vollkommenheitsattribute bzw. deren gegenseitige Inkompatibilität aufweisen wollen oder die zu zeigen bean-
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3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
Darüber hinaus bietet sich der evidentialistische Einwand schon deshalb an, weil sich mit seiner Hilfe diejenigen alternativen Antwortversuche ordnen lassen, mit denen sich Hegel selbst umfänglich auseinandergesetzt hat und die auch heute noch vertreten werden.20 Insgesamt lassen sich dabei vier verschiedene traditionelle und zeitgenössische Verteidigungslinien des Gottesglaubens voneinander unterscheiden, die in der einen oder anderen Form auch in Hegels Spätwerk präsent sind: Die erste Option des sog. Non-Kognitivismus verneint die in Prämisse (2) unterstellte Annahme, dass einige der relevanten sprachlichen Äußerungen von Gläubigen wahrheitsfähig sind und als Erkenntnisansprüche auftreten können. Der zweite Antwortversuch bestreitet hingegen die Rechtfertigungsbedürftigkeit durch Argumente, indem er entweder mit F.H. Jacobi bestimmte theistische Überzeugungen als ,unmittelbar gewiss‘ oder sie mit A. Plantinga als ,angemessen basal‘ ausweist. Der dritte Typ der Verteidigung akzeptiert die evidentialistische Regel (1), leugnet aber das zweite Konjunkt in (2), indem er (i.d.R.) deduktive Gottesbeweise vorlegt. Dem entspricht eine wesentliche Zielsetzung der sog. natürlichen Theologie. Die vierte Antwortoption des Kantianismus konzediert schließlich sowohl Prämisse (2) als auch die Leugnung der epistemischen Rechtfertigung des Gottesglaubens. Sie weist aber Prämisse (1) mit dem Einwand zurück, dass für theologische Aussagen praktisch-moralische Rechtfertigungen zur Verfügung stehen, die sie zumindest in der Abwesenheit von überzeugenden atheistischen Gegengründen rational akzeptabel machen. Obwohl für Hegel in jeder der vier Optionen eine richtige Einsicht steckt, lässt sich seine eigene These vom religiösen Denken keiner einzigen zuordnen. Warum dies der Fall ist und welche Gründe Hegel aufbietet, um gegen die genannten Alternativen eine stark abweichende, fünfte Position zu beziehen, werden wir im Folgenden sehen. Dazu werde ich in einem ersten Schritt mit Hegel zeigen, warum der Gottesglaube nicht nur kognitiv verstanden werden muss (Kap. I.4), sondern auch auf inferentielle Gründe angewiesen ist (Kap. I.5). In der Auseinandersetzung mit den klassischen Gottesbeweisen und der kantischen Kritik bzw. Moraltheologie wird dann in Teil II mit Hegel die spezifische Form und
spruchen, dass Gottes Existenz (logisch oder probabilistisch) unverträglich ist mit der Existenz innerweltlicher Leiden und Übel. Entsprechend unterscheidet Plantinga prominent inhaltlich-atheistische de facto-Einwände von de jure-Einwänden, die die Verletzung epistemischer Normen kritisieren. Vgl. zu dieser Unterscheidung WCB, S. viiiff. 20 St. Houlgate hat in seinen Ausführungen zu Hegels Verhältnis zu R. Dawkins’ Religionskritik als einer der wenigen in der Hegel-Forschung auf die evidentialistische Kritik hingewiesen. Vgl. H 2015, S. 267. Die Antwort, die im Folgenden gegeben wird, weicht aber von Houlgates Deutung in doppelter Hinsicht ab: (i) ist der Gottesglaube für Hegel wesentlich mehr als ein bloß „gefühlsmäßiges Zeugnis der geistigen Wahrheit in diesen [i.e. „religiösen“, W.L.] Vorstellungen“ (ebd.). Denn dessen Bildung ist (ii) im ,Denken‘ Teil der Urteils- und Schlusspraxis, die Houlgate selbst nur dem ,Verstandesdenken‘ zuschreibt (vgl. ebd., S. 259) – und dies, obwohl sich für Hegel die Fähigkeit, „vernünftig zu denken“ (ebd.), v.a. in der Schlusspraxis ausdrückt. Vgl. u.a. Enz. § 181, GW 20, S. 191. Beide Thesen werde ich insbesondere in Teil II, in Kap. III.2 und III.3 ausführlich begründen.
3. Die Relevanz des evidentialistischen Einwands
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Begründung der religiösen Urteils- und Schlusspraxis konkretisiert und herausgearbeitet. Die wichtigsten erkenntnistheoretischen Anschlussprobleme werden dann in Teil III zusammen mit deren religionshermeneutischen Konsequenzen behandelt.
4. Non-Kognitivismus Die erste Antwortmöglichkeit auf die im letzten Kapitel skizzierte Religionskritik lässt sich als Reaktion auf eine verschärfte Fassung ihrer evidentialistischen Ausgangsprämisse verstehen. Worin diese Radikalisierung genau besteht, kann man mit einer Passage aus Hegels Manuskript etwas genauer fassen. Dort notiert Hegel: Dies Erkennen webt und bewegt sich in Verhältnissen und Zusammenhängen der Ursachen und Wirkungen, der Gründe und Folgen, die […] selbst sein sollen, bemächtigt sich des Endlichen, zieht es in seinen Kreis, findet [es] unangemessen dem Unendlichen […]. Aller Inhalt fällt ihm anheim, und Erkennen heißt, solches Zusammenhangs und solcher Notwendigkeit des Endlichen sich bewußt zu werden. (VPR 3, S. 21 f.: der Zusatz in eckigen Klammern stammt vom Hrsg.)1
Diese Aussagen formulieren nicht nur mögliche Erfolgskriterien von Wahrheitsansprüchen, sondern definieren die Bedingungen für die ,Bestimmtheit‘ von Erkenntnisinhalten überhaupt. Wenn in diesem Sinne alles, was ,bestimmt‘ gewusst werden kann, in den Gegenstandsbereich der alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnispraxis fällt,2 so kann eine Überzeugung, die sich auf das Absolute oder das ,Unendliche‘ bezieht, nicht einmal im strengen Sinne gehaltvoll sein, sodass man bei ihr vielleicht nicht einmal wissen kann, was sie eigentlich aussagt.3 Eine solche These könnte man relativ leicht durch zwei Zusatzprämissen stützen – nämlich, indem man (i) annimmt, ein echter repräsentationaler Gehalt unserer Aussagen sei nur im Rückgriff auf Begriffe der allgemeinsten Züge von Referenzobjekten möglich, die aber für uns (ii) nur in empirischen Gegenstandsbereichen Anwendung finden können. Für beide Prämissen könnte man sich dann scheinbar auf Kants Aussage über unsere Gegenstandskategorien berufen, dass nur „[u]nsere sinnliche empirische Anschauung […] ihnen allein Sinn und Bedeutung 1
Vgl. auch GW 15, S. 134 f. Diese quasi-empiristische bzw. -szientistische Prämisse formuliert Hegel im vorliegenden Kontext auch so: „Denn was eine Sache ist, ergibt sich aus ihrer Wahrnehmung und Beobachtung […]. Ferner, wodurch diese Dinge sind, fragt man, nach ihren Gründen und Ursachen, und diese Frage hat hier die Bedeutung, nach ihren spezifischen, besonderen Ursachen, Verhältnissen.“ (VPR 3, S. 20) 3 Als Zwischenschritt lässt sich hier noch Hegels Verweis auf die Aufklärungstheologie einbauen, die zwar noch an Erkenntnissen über Gott festhält, aber unter den genannten Prämissen Gott lediglich negativ – unter Abzug von jeglichem endlich-empirischen Gehalt – kennzeichnet. Vgl. u.a. GW 15, S. 130 f. und Enz. § 36, GW 20, S. 74. 2
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4. Non-Kognitivismus
verschaffen [kann].“ (KrV B 149)4 Nicht erkenntnis-, sondern vielmehr sinnkritisch gelesen würde dies in der stärksten Fassung bedeuten, dass speziell-metaphysische Behauptungen über nicht-empirische Gegenstände im Wortsinn sinnlos sein müssten. Eine solche Konsequenz wäre zwar nicht im kantischen Sinne, da sinnlose Aussagen nicht einmal die moralisch-praktische Funktion erfüllen könnten, die Kant theologischen Behauptungen zuschreibt.5 Sie zeigt aber zumindest eine mögliche Lesart der von Hegel rekonstruierten Schlussfolgerung an, deren prominenteste Vertreter sicherlich im Umkreis des sog. ,logischen Positivismus‘ zu suchen sind.6 Man könnte nun vermuten, dass sich mit dem Scheitern der Versuche, empiristische Sinnkriterien erfolgreich zu formulieren,7 eine Diskussion dieser Position in hegelscher Perspektive von alleine erledigen sollte. Und da Hegel – wie sich zeigen wird – nicht einmal die erkenntniskritischen bis szientistischen Prämissen teilt, aus denen sie gewonnen werden können, scheint ein argumentativer Abgleich mit Hegels Religionsepistemologie kaum der Mühe wert zu sein.8 Weitaus interessanter ist allerdings der Umstand, dass diese Form der Religionskritik zumindest die Frage provoziert, ob sich religiöse Äußerungen tatsächlich in rein deskriptiven Aussagen erschöpfen müssen. Um dieses Problem kreisen nun insbesondere die radikalen Fassungen sog. anti-realistischer Auffassungen religiöser Rede, die sich allesamt als eine Antwort auf die oben skizzierte Sinnkritik verstehen lassen.9 In diesem Sinne loten diese Theorieoptionen die Möglichkeiten aus, wie man religiösen Sprachäußerungen gerade unter diesen verschärften Bedingungen noch eine plausible und nachvollziehbare Funktion in der menschli-
4 Zu dieser kantischen These schreibt P.F. Strawson: „This is the principle that there can be no legitimate, or even meaningful, employment of ideas or concepts which does not relate them to empirical or experiential conditions of their application.“ (S 1966, S. 16) 5 Vgl. unten II.3.1. Es ist zudem eine schwierige Frage der Interpretation, ob Kant tatsächlich den repräsentationalen Gehalt speziell-metaphysischer Aussagen für die Theorie vollständig leugnet oder ob er lediglich behaupten will, dass wir mit theoretischen Mitteln nicht entscheiden können, ob er tatsächlich wahr ist. Vgl. hierzu die hilfreiche Übersicht über starke, moderate und schwache Lesarten in W 2018, S. 254–256. 6 Eine ähnliche Engführung zwischen den genannten kantianischen Prämissen und dem logischen Positivismus findet sich etwa in W 1974, S. 33 f. 7 Vgl. etwa G 2019, S. 209–211 und die instruktive Diskussion in W 2007, S. 22–39. Weidemann weist ebd., S. 39 f. zudem darauf hin, dass die Motive hinter sinnkritischen Vorbehalten damit nicht einfach verschwinden. 8 Im Jahr 1998 konstatiert etwa Chr. Jäger: „Dominierend in den Diskussionen der letzten Jahre ist indessen der theologische Realismus.“ (J 1998, S. 15) 9 Ich konzentriere mich hier auf starke semantische Positionen, die den propositionalen Gehalt theologischer Rede leugnen. Darüber hinaus gibt es allerdings auch schwächere Varianten, die den deskriptiven Gehalt zugestehen, aber die ontologisch-realistische These leugnen, das Bestehen des jeweils ausgedrückten Sachverhalts sei unabhängig von unseren Meinungen und Überzeugungen. Zum semantischen und metaphysischen theologischen (Anti-) Realismus im Allgemeinen vgl. u.a. G 2019, S. 209–216; H 2001, S. 281 f. und W 2007, S. 167 f.
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chen Lebenspraxis zuschreiben kann. Zudem bieten sie zugleich eine mögliche Antwort auf den evidentialistischen Einwand: Denn wenn man tatsächlich keine religiöse Äußerung als Behauptung über das, was objektiv der Fall ist, verstehen kann, dann kann sie offenbar auch kein Gegenstand der epistemischen Bewertung sein. Selbst wenn man daher mögliche einseitige Reduktionsversuche nicht teilt, könnte man zumindest dem Vorbehalt gegenüber dem verengten szientistischen Verständnis sinnvoller Rede etwas abgewinnen und von dort aus die eigene theoretische Beschreibung religiöser Aussagen erweitern. Darüber hinaus findet sich bei Hegel eine umfängliche kritische Würdigung bestimmter alternativer Religionstheorien, deren Ergebnisse sich leicht auf anti-realistische Ansätze übertragen lassen. Um die argumentativen Potentiale von Hegels eigener Auffassung von religiöser Überzeugungsbildung freizulegen, lohnt es sich daher durchaus seine Kritik in der genannten Hinsicht systematisch auszuwerten. Im Folgenden werde ich mich dabei nur auf solche Ansätze beschränken, die denjenigen Theorieoptionen hinreichend ähnlich sind, die Hegel selbst diskutiert und kommentiert. Die Rekonstruktion von seinen Einwänden soll dabei in erster Linie dem Zweck dienen, seinem eigenen Verständnis des Religionsphänomens in seiner ganzen Komplexität gerecht zu werden. Ob seine Kritik alle möglichen Anti-Realismen der Sache nach trifft, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht vollständig untersucht werden.
4.1 Emotivismus und R. B. Braithwaites Non-Kognitivismus Die von Hegel sicherlich am ausführlichsten diskutierte und kritisierte Antwortoption nennt er gleich im Anschluss an die eingangs zitierte Passage im Manuskript. Er schreibt: Die Religion schrumpft damit in das einfache Gefühl, in das inhaltslose Erheben des Geistes zu einem Ewigen usf. zusammen, von dem es sich aber nichts zu sagen hat und weiß, denn alles, was ein Erkennen wäre, wäre ein Herabziehen desselben in diese Sphäre und Zusammenhang des Endlichen. (VPR 3, S. 22)10
Mithilfe der obigen Interpretation kann man dieser Passage zwei unterschiedlich starke Reaktionen auf den Evidentialismus und auf den möglichen Sinnlosigkeitsverdacht entnehmen. In der schwächeren Variante würde diese Antwortoption in dem Hinweis bestehen, dass nicht jeder mentale Zugang zum religiösen Bezugsgegenstand notwendigerweise mit der gewöhnlichen Erkenntnispraxis identisch sein muss, die normalerweise in aussageförmige Überzeugungen über bestimmte empirische Sachverhalte mündet. Stattdessen könnte man zumindest überlegen, dass sich der Gottesglaube nicht-propositionalen Formen religiösen
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Vgl. auch die parallelen Behauptungen im Hinrichs-Vorwort in GW 15, S. 34 f.
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Erlebens, etwa Gefühlen, verdankt. Von dort ausgehend könnte die stärkere Variante11 auf nicht-deskriptive Sprachfunktionen aufmerksam machen und religiöse Äußerungen expressivistisch als bloßen Ausdruck solcher Gefühle auffassen und den Behauptungscharakter des sprachlich ausgedrückten Gottesglaubens leugnen.12 Was Hegel selbst hier konkret vor Augen steht, ist natürlich Schleiermachers berühmte Rede vom ,Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘,13 deren scheinbar kontra-intuitive Konsequenzen er besonders scharf im Hinrichs-Vorwort kritisiert. Im Kern rekurriert er dabei auf die Annahme, dass man plausiblerweise auch Tieren nicht-propositionale mentale Einstellungen zuschreiben kann, die sich zumindest in der Theorieperspektive mit Schleiermachers Vokabular beschreiben lassen. Ist dies aber tatsächlich der Fall, dann „wäre“ – so Hegel – der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses [= das Abhängigkeitsgefühl, W.L.] am stärksten in sich, und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung gegeben wird. (GW 15, S. 137)
Liest man diese Passage nun isoliert von Hegels eigenen Überlegungen zum vorpropositionalen religiösen Erleben, wird man in dieser Polemik vermutlich kaum einen interessanten Einwand entdecken. Denn selbst wenn sich Schleiermacher von diesem Einwand angesprochen fühlen sollte,14 wäre die einfache Gleichset-
11 Diese Variante ist deshalb stärker, weil nicht jede Theorie, die meint, das Wesen des Absoluten oder Gottes sei nur in Erkenntnisformen zugänglich, die die intentionale SubjektObjekt-Unterscheidung unter- bzw. überschreiten, eine non-kognitivistische Auffassung religiöser Rede impliziert. Vgl. zur Diskussion etwa K 2012, S. 101–104. 12 Dem entsprächen sog. ,emotivistische‘ Theorien religiöser Rede. Vgl. K 1990, S. 100 f. 13 Vgl. ChG I § 4, S. 32 und A 2005, S. 35–40. Bisweilen wird Schleiermachers Gefühlstheologie in der Hegelliteratur mit non-kognitivistischen Ansätzen in Verbindung gebracht – so z.B. die Vermutung in M 2018, S. 55 f. Eine solche Einordnung scheint aber schon deshalb irreführend, weil Schleiermachers Glaubenslehre in einer theoretischen Explikation des Abhängigkeitsgefühls theologische Aussagen über dasjenige macht, was als plausibler Kandidat dessen in Frage kommt, wovon sich Gläubige als unbedingt abhängig erleben. Vgl. A 2005, S. 37 f. und ebd., S. 43 f. R. M. Adams hat daher vorgeschlagen, Schleiermachers methodischen Ansatz von der klassischen aposteriorischen Theologie her zu verstehen, die von einem bestimmten innerweltlichen Sachverhalt ausgehend auf die Verfassung ihrer Ursache schließt. Vgl. A 2011, S. 455 f. Im Selbstverständnis der via causalitatis ist dies mit der Tatsache kompatibel, dass Gott nur in seiner Rolle als explanans, aber nicht in seinem Wesen zugänglich ist. Selbst wenn man diese Annahme für inkohärent hält, wird man dennoch dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass sie im beschränkten Maße Aussagen über Gott erlaubt. Und dies wird von expressivistischen Theorien gerade bestritten. 14 P. Hodgson meint etwa, Schleiermacher verstehe unter ,Gefühl‘ „a pre-reflective awareness of the whence and whither of all existence“ (H 2005, S. 110; vgl. ebd., S. 46), während Hegel Gefühle mit sinnlicher Empfindung gleichsetze, um damit zu seiner Schlussfolgerung zu kommen. Vgl. ebd., S. 110 f. und A 2011, S. 454. Worauf aber Hegel m.E. abzielt, ist der unübersetzbare nicht-propositionale Charakter des Gefühls und deshalb
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zung von Emotionen mit dem tierischen Bewusstseinsleben überhaupt nicht in Hegels eigenem Sinne. Wie schon oben in I.1.2 angedeutet wurde, ist ein solches vorpropositionales und -intentionales Erleben für Hegel ein wichtiger Indikator für den Umstand, dass sich Personen den Gehalt religiöser Überzeugungen im starken Sinne angeeignet haben und diese daher deren lebenspraktisches und existenzielles Selbstverständnis mitkonstituieren.15 Was mit diesem abstrakten Punkt gemeint ist, lässt sich schnell anhand der formalen Struktur sog. „praktische[r] Gefühl[e]“ (Enz. § 471, GW 20, S. 467) erläutern.16 Diese ermöglichen nach Hegel im Allgemeinen eine Form der Wertung bestimmter Situationen, die keinen Umweg über vorgängig gebildete Aussagen über diese Sachverhalte machen muss. In Gefühlen werden diese vielmehr direkt im Spiegel der je eigenen Präferenzen und Interessen als zu- oder abträglich erfahren.17 Nimmt man nun den hegelschen Gedanken hinzu, dass das menschliche Selbstverständnis durch moralische und religiöse Überzeugungen geformt wird,18 dann kann zu diesen Präferenzen auch ein grundlegendes Interesse an religiöser und ethischer Selbstverwirklichung gezählt werden. Vor diesem Hintergrund können folglich auch ganz anders gelagerte Situationen emotional bewertet werden: Ein atheistisches Argument kann in diesem Sinne als beunruhigend empfunden werden, ebenso wie eine Behauptung über die pathologische Irrationalität von Gläubigen unmittelbar Ärger hervorrufen kann.19 Hegels Hundevergleich sollte vor diesem Hintergrund also nicht so verstanden werden, dass die Rede von religiösen Gefühlen Menschen letztlich auf Tiere
scheint diese Unterscheidung, die Hegel übrigens selbst vornimmt (vgl. Enz. § 402, GW 20, S. 400), weniger relevant zu sein. 15 Vgl. u.a. Enz. § 400A, GW 20, S. 397. 16 Vgl. Enz. § 471f, GW 20, S. 467–470. 17 „Das praktische Gefühl enthält das Sollen, seine Selbstbestimmung als an sich seyend, bezogen auf eine seyende Einzelnheit, die nur in der Angemessenheit zu jener gültig sey. Da beiden in dieser Unmittelbarkeit noch objective Bestimmung fehlt, so ist diese Beziehung des Bedürfnisses auf das Daseyn das ganze subjective und oberflächliche Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen.“ (Enz. § 472, GW 20, S. 469) Das Hegel hier nicht nur leibliche Bedürfnisse meint, geht aus der Bemerkung im vorhergehenden Paragraphen hervor, dass der „praktische Geist“ im „praktische[n] Gefühl“ den „Inhalt der Vernunft […] als unmittelbar einzelnen“ (Enz. § 471, GW 20, S. 467) habe. Wenn dem nicht so wäre, könnte Hegel etwa schwerlich von einem „Bedürfniß der Philosophie“ (Enz. § 11, GW 20, S. 51) sprechen. 18 In diesem Sinne meint Hegel sogar, man solle sittliche und religiöse Überzeugungen in diesem Sinne kultivieren und im Gefühl habitualisieren: „Es ist dies hinzuzufügen, daß nicht nur aller Inhalt im Gefühl sein kann, sondern daß auch der wahrhafte Inhalt in unserem Gefühl sein muß. Man sagt mit Recht, man soll Gott im Herzen haben, man soll Sittlichkeit im Herzen haben.“ (VPR 3, S. 179; vgl. ebd. S. 286 f.) Als solche gehören sie dann nach Hegel zu dem, was meinen individuellen Charakter auszeichnet, und konstituieren damit eine stabile Handlungspraxis im Sinne dieser Überzeugungen. Vgl. ebd., S. 179 f. und hierzu auch M 2018, S. 109–116. 19 Ein analoges Beispiel gibt W. de Vries für sittliches Rechts- bzw. Unrechtsempfinden bei Hegel. Vgl. V 1988b, S. 62 f.
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reduzieren würde.20 Benevolenter gelesen lässt er sich zunächst als eine Anfrage an Theorien verstehen, die behaupten, vorpropositionales Erleben sei für uns der einzige Zugang zum fraglichen Bezugsobjekt oder die religiöse Rede würde sich im nicht-deskriptiven Ausdruck dieses Erlebens erschöpfen.21 Denn da man plausiblerweise auch Tieren spontane Situationsbewertungen zuschreiben kann,22 muss ein solcher Ansatz dazu in der Lage sein, dessen spezifisch religiöse Variante von nicht-religiösen zu unterscheiden. Hier stellt sich aber ein entscheidendes Problem: [H]eißt es, daß wir Gott nicht erkennen […], wie sollen wir denn sagen, daß er im Gefühl sei? Erst müssen wir uns sonst im Bewußtsein nach Bestimmungen des Inhalts, der vom Ich unterschieden ist, umgesehen haben, dann erst können wir das Gefühl als religiös nachweisen, insofern wir nämlich diese Bestimmungen des Inhalts darin wiederfinden. (VPR 3, S. 288 Fn.)
Diese kritische Anfrage lässt sich m.E. auf zwei Ebenen durchspielen. Für die drittpersonale Theorieperspektive könnte man zunächst fragen, wie man eigentlich ohne Rückgriff auf deskriptive Gehalte religiöse Gefühle überhaupt als solche klassifizieren und einordnen kann.23 Da solche Zustände die intentionale Unterscheidung in subjektive und objektive Elemente unterschreiten,24 könnte eine solche Klassifikation offensichtlich nur extern, etwa durch die Angabe des Ursprungs dieser Zustände vollzogen werden, d.h. durch das, worauf das hervorgerufene Gefühl jeweils reagiert und wie es dies tut. Möchte man aber nun nicht jeden Hund mit Hegel zum Christen erklären, dann muss man in der Lage sein, ein genuin religiöses Abhängigkeitsgefühl von dem des Hundes zu unterscheiden, der die Angewiesenheit auf seinen Besitzer und damit seine eingeschränkte Handlungsfreiheit im analogen Sinne empfinden kann.25 Verweist man aber daraufhin etwa auf die religiös erlebte Kontingenz der Gesamtwirklichkeit, die sich aus dem Schöpfungsglauben erklären lässt, dann greift man entweder auf gehaltvolle Aussagen zurück, die nach den theorieimmanenten Annahmen selbst expressivistisch gedeutet werden müssten. Oder man versucht diesen Zirkel zu durchbrechen und widerspricht damit der grundlegenderen Prämisse, man ver20 Eine solche Interpretation provozieren allerdings die genannten Passagen im HinrichsVorwort: „Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen, so ist er dem Thiere gleichgesetzt […].“ (GW 15, S. 137) Vgl. auch Enz. § 400A, GW 20, S. 398. 21 Da ich ausschließlich non-kognitivistische Ansätze diskutiere, beziehen sich die folgenden Kritikpunkte in erster Linie auf die o.g. zweite Alternative. 22 W. de Vries vergleicht daher in instruktiver Weise Hegels Rede vom ,Gefühl‘ mit dem scholastischen Begriff der tierischen vis aestimativa bzw. dem menschlichen Äquivalent der vis cogitiva. Vgl. V 1988b, S. 72 f. 23 Vgl. zu diesem Problem im Allgemeinen auch T 2013, S. 5–8 und zur Klassifikation von Emotionen und Affekten auch K 1989, S. 52 f. 24 Vgl. Enz. § 400, GW 20, S. 396 f.; und ferner VPR 3, S. 122 f., 176 und 287. Eine ähnliche Analyse des „vorintentionale[n] Bewusstsein[s]“ (K 2012, S. 13) in Empfindungen und im Erleben entwickelt etwa F. v. Kutschera. Vgl. u.a. ebd., S. 11–16. 25 Vgl. VPR 3, S. 184–186.
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füge eben über keinen echten urteilsbasierten Zugang zu den fraglichen Sachverhalten.26 Diese missliche Lage wird noch dadurch verschärft, dass eine solche Theorie spätestens an den Äußerungen scheitern muss, mit denen Gläubige selbst aus der eigenen Perspektive heraus ihre Empfindungen beschreiben. In diesem Sinne weist Hegel im Manuskript darauf hin, dass typische Fälle religiöser Empfindungen zumindest eine „Vorstellung“ (VPR 3, S. 126) des Absoluten seitens der Gläubigen voraussetzen, in deren Spiegel dann die Beziehung zu diesem Gegenstand unmittelbar empfunden werden kann. Wir haben schon in Abschnitt I.1.1 mit J.N. Findlay gesehen, dass ein Grundzug religiöser Haltungen gerade in der Anerkennung der Verehrungswürdigkeit von deren Referenzobjekt liegt. Verschiedene Typen emotionaler Reaktionen könnte man in diesem Sinne danach ordnen, welche spezifische Selbst- und Fremdbeziehung in der affektiven Wertung jeweils zum Ausdruck kommt. In seiner skizzenhaften Typologisierung der „Arten der Empfindung“ (VPR 3, S. 125) spielt Hegel diesen Grundgedanken im Manuskript anhand von Paradigmenfällen durch: In religiöser „Furcht“ empfindet ein Subjekt etwa „seine wesentliche Nichtigkeit“ als auch seine „positive[…] Existenz, die sich will“ (ebd., S. 129). Darin wird es sich nach Hegel dessen bewusst, „daß das Allgemeine das Substantielle ist“ (ebd.), und verspürt vor diesem Hintergrund sowohl seine Niedrigkeit vor der Größe dessen, was eigentlich wirklich ist, als auch seinen individuellen Selbsterhaltungswillen.27 Verneint man hingegen die Egozentrierung und besitzt darin „das Selbstbewusstsein zugleich auf der Seite des Allgemeinen“, ergibt sich für Hegel daraus „die Empfindung der Reue, des Schmerzes über sich“ (ebd.).28 Damit meint er, dass man sich in dieser Empfindung der Selbstentäußerung zugleich mit dem Objekt verbunden fühlt, vor dem man sich erniedrigt und reumütig ist. Analog verhält es sich mit der Haltung und Empfindung des ,Danks‘: Seine empirische Existenz im ganzen oder nach irgendeiner besonderen Seite gefördert fühlend, und zwar nicht sowohl etwa durch eigene Selbsttätigkeit einer außer seiner Kraft und Klugheit liegenden Verknüpfung und Macht – die als das an und für sich seiende Allgemeine vorgestellt, also ihr zugeschrieben wird –, gibt die Empfindung der Dankbarkeit […]. (ebd.) 26 Nach S. Gäb lässt sich dieses Problem ohne weiteres generalisieren und stellt damit ein Grundproblem jeglicher non-kognitivistischer Deutung religiöser Rede dar. Vgl. G 2019, S. 212. 27 So lässt sich m.E. Hegels dichte Notiz deuten, die im Zusammenhang vollständig lautet: „In der Bestimmtheit der Trennung und zugleich, daß das Allgemeine das Substantielle ist, gegen welches das empirische Bewußtsein, das sich fühlt, zugleich auch seine wesentliche Nichtigkeit, und zwar seiner noch positiven Existenz, die sich will, so ist diese Vorstellung oder Bestimmtheit überhaupt die Empfindung der Furcht.“ (VPR 3, S. 129) 28 Die vollständige Bemerkung lautet: „Die eigene, innere Existenz und Gesinnung, sich als nichtig fühlend, und das Selbstbewußtsein zugleich auf der Seite des Allgemeinen – und jene verdammend – gibt die Empfindung der Reue, des Schmerzes über sich usf.“ (ebd.)
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Auch hier verbindet sich die Selbstauffassung, dass man für seine Existenz nicht verantwortlich sein kann, mit deren allgemeiner Wertschätzung und dem Bewusstsein, dass man diese einer ,Macht‘ verdankt, die man für befähigt hält, dem Gläubigen zuträgliches zu tun. Tut sie dies in dessen Perspektive, dann fühlt er sich ihr gegenüber zum Dank verpflichtet. Würde man diesen Zuständen und Empfindungen nun deren spezifische Gegenstandsauffassung entziehen, würde man nach Hegel das ganze Phänomen nicht nur missverstehen. Vielmehr gilt: „[S]chwindet der Gegenstand aus der Vorstellung, so verschwindet die Empfindung […].“ (ebd., S. 127)29 Damit befinden sich aber besonders sog. emotivistische Theorien in einer ungünstigen Lage. Denn die phänomenologische Beschreibung dessen, was hier zum Ausdruck kommt, kann für Hegel nur dann der erstpersonalen Perspektive der Gläubigen adäquat sein, wenn man den Inhalt ihrer ,Vorstellung‘ ernst nimmt, der sich wiederum leicht in Aussagesätze überführen lässt. Und dies ist schwerlich mit Theorien kompatibel, die gerade den deskriptiven Charakter theologischer Rede vollständig abstreiten wollen. Allerdings wird das gesamte Spektrum non-kognitivistischer Interpretationen längst nicht durch Spielarten des Emotivismus ausgeschöpft. So zeigt etwa schon der viel diskutierte Ansatz von R. Braithwaite,30 dass mittels der expressiven Sprachfunktion eine ganze Reihe unterschiedlicher Dinge in nicht-deskriptiver Weise zum Ausdruck gebracht werden können. Er weist dabei auf den doppelten Umstand hin, dass etwa auch moralische Behauptungen positivistischen Sinnkriterien zum Opfer fallen und emotivistische Rettungsversuche diesbezüglich ebenso unbefriedigend sind wie die analogen Analysen religiöser Äußerungen, die er etwa J.M.E. McTaggart zuschreibt.31 Die parallele Problematik moralischer und religiöser Aussagen nimmt Braithwaite damit zum Ausgangspunkt seines Versuchs, religiösen ,Behauptungen‘ trotz positivistischer Vorbehalte noch einen Sinn abzugewinnen. Knapp zusammengefasst lässt er sich als eine doppelte reduktive Analyse verstehen: Ausgehend von der scheinbaren Plausibilität non-kognitivistischer Theorien ethischer Aussagen versucht Braithwaite erstens religiöse ,Behauptungen‘ rein als moralische Äußerungen zu verstehen. Um dabei den Problemen des Emotivismus zu entgehen, schlägt er zweitens vor, deontische Aussagen „konativ“ zu deuten: Sie
29 Dies bestätigt sich nach Hegel durch die Gegenprobe, ob die Empfindungen tatsächlich noch vorhanden sind, wenn ihnen der Gegenstand entzogen wird: „[E]s ist ein Mittel, die Empfindung zu schwächen, den Geist zu zerstreuen, ihm andere Gegenstände vor die Anschauung und Vorstellung zu bringen – in andere Situationen, Umstände zu bringen, in welchen jene mannigfaltigen Beziehungen für die Vorstellung nicht vorhanden sind […].“ (ebd., S. 127 f.) 30 Vgl. im Folgenden auch die instruktive Diskussion von Braithwaites Thesen in S 1993, S. 88–91; K 1990, S. 101–104; W 2007, S. 60–66 und G 2019, S. 211 f. 31 Vgl. B 1971, S. 79.
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machen demnach für Braithwaite keine Behauptungen über das, was der Fall sein soll, sondern ein Sprecher erklärt mit ihnen lediglich seine Absicht, die im propositionalen Gehalt anvisierten Sachverhalte bewirken zu wollen.32 Äußert etwa ein Utilitarist in diesem Sinne seine Kernintuition bzgl. moralischer Gebotssätze, dann lässt er mit dieser Äußerung lediglich öffentlich verlautbaren, dass er so zu handeln gedenkt, dass dadurch das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl verwirklicht wird.33 Um nun die offenbare spezifische Differenz zu Gebotssätzen plausibel zu machen, fügt Braithwaite hinzu, dass Absichtserklärungen in religiösen ,Behauptungen‘ immer mit Geschichten verbunden werden, in denen die Aneignung der Handlungsmaximen exemplarisch anhand herausragender Individuen, etwa der Religionsstifter, dargestellt werden. Diese Geschichten haben für Braithwaite zwar immer auch einen empirisch verifizierbaren Kern. Um sich der in ihnen codierten policy verbunden zu fühlen, müssen Gläubige aber keinesfalls vom Bestehen der historischen Sachverhalte überzeugt sein. Äußert etwa ein Christ die theologische Aussage „Gott ist Liebe“ (1. Joh 4, 16 EÜ), dann tut er nach Braithwaite nichts anderes als seine Zielsetzung und Selbstverpflichtung öffentlich zur Sprache zu bringen, ein Leben im Sinne der karitativen Liebe zum Nächsten zu führen, wie dies paradigmatisch in der Geschichte Jesu vollzogen wurde.34 Um als Christ gelten zu können, reicht es aus, wenn er seine Absichtserklärung mit den evangelischen Erzählungen assoziiert. Und da sich ein Christ nicht auf deren Wahrheit festlegen muss, ist dies für Braithwaite auch dann möglich, wenn sich alle empirischen Behauptungen als falsch oder inkonsistent erweisen. Das Ergebnis seiner Analyse fasst Braithwaite folgendermaßen zusammen: A religious assertion, for me, is the assertion of an intention to carry out a certain behaviour policy, subsumable under a sufficient general principle to be a moral one, together with the implicit or explicit statement, but not the assertion, of certain stories.35
32 In Braithwaites Worten: „The form of ethics without propositions which I shall adopt is […] a conative rather than an emotive theory: it makes the primary use of a moral assertion that of expressing the intention of the asserter to act in a particular sort of way specified in the assertion.“ (ebd., S. 78) 33 „A utilitarian, for example, in asserting that he ought to act so as to maximize happiness, is thereby declaring his intention to act, to the best of his ability, in accordance with the policy of utilitarianism: he is not asserting any proposition, or necessarily evincing any feeling any approval; he is subscribing to a policy of action.“ (ebd.) 34 „Unless a Christian’s assertion that God is love (agape) – which I take to epitomize the assertions of the Christian religion – be taken to declare his intention to follow an agapeistic way of life, he could be asked what is the connection between the assertion and the intention, between Christian belief and Christian practice.“ (ebd., S. 81) 35 Ebd., S. 89. Mit dieser Analyse kann man moralische und religiöse Überzeugungen dann so definieren: „A moral belief is an intention to behave in a certain way: a religious belief is an intention to behave in a certain way (a moral belief) together with the entertainment of certain stories associated with the intention in the mind of the believer.“ (ebd.)
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4. Non-Kognitivismus
Schon aufgrund ihres umwegigen Charakters scheint diese Analyse unnötig komplex und es ist mehr als offensichtlich, dass Hegel die zentralen reduktiven Annahmen Braithwaite verwerfen würde. Zwar würde er Braithwaite sicherlich darin zustimmen, dass jede Religionstheorie eine plausible Erklärung dafür geben muss, wie Gläubige ihre jeweiligen moralischen und religiösen ,Überzeugungen‘ in ihrer ganzen Lebenspraxis konkret umsetzen.36 Tut man dies aber, indem man, wie Braithwaite, Überzeugung und Umsetzung miteinander sprechaktanalytisch identifiziert, muss man unweigerlich den Charakter theologischer und moralischer Aussagen in einem verfehlen. Dies lässt sich leicht anhand von Braithwaites eigenen Beispielen zeigen: Im christlichen Selbstverständnis steht etwa das Gebot der Nächstenliebe gleichrangig neben dem Gebot der Gottesliebe.37 Nach Braithwaite müsste die Gottesverehrung und die mitgeforderte Willensausrichtung auf Gott bloß kontingenterweise mit der erklärten Verpflichtung verbunden sein, Nächstenliebe zu üben – etwa indem religiöse Personen sie im deklarativen Sprechakt mit der Lehre Christi ,assoziieren‘. Streicht man aber so den deskriptiven Gehalt theologischer Aussagen vollständig, resultiert unweigerlich das theoretische Problem, dass man Religionen miteinander engführen, wenn nicht identifizieren muss, die offensichtlich miteinander unverträglich sind. Betrachten wir bspw. Hegels Überlegungen zur ,römischen Religion‘. Wie schon oben in Abschnitt I.1.1 angedeutet wurde, soll sich diese Religionsgestalt gerade dadurch auszeichnen, das sie das individuelle und kollektive menschliche Leben als solches für den passendsten Kandidaten einer letzten Wirklichkeit hält.38 Unter diesen Prämissen scheint nicht nur zu folgen, dass die Gesamtwirklichkeit in seiner Struktur ultima facie so verstanden werden muss, dass sie nur um der menschlichen Selbsterhaltung willen existiert und daher in ein Gemeinwesen münden muss, dass diesem Gedanken am ehesten gerecht wird.39 In jedem Fall folgt aus der religiösen Selbstbewertung, die sich nach Hegel schon in der
36 Dies zählt Braithwaite explizit zu den entscheidenden Vorteilen seiner Theorie. Vgl. ebd., S. 79 und 81. 37 Vgl. Matth. 22, 37–39 und im Folgenden auch W 2007, S. 66. 38 Programmatisch heißt es im Kolleg von 1827 zum Vergleich der ,jüdischen‘ und der ,römischen Religion‘: „Die Religion der Erhabenheit verliert die Richtung auf das Eine, Ewige und Überirdische. Verbunden werden sie zu einem zunächst empirischen allgemeinen, zu einem ausführlichen allgemeinen Zweck; in der Religion der Zweckmäßigkeit ist der Zweck dies Umfassende, aber ein äußerlicher, der dann in den Menschen fällt. Dieser Zweck soll realisiert werden, und der Gott ist die Macht, ihn zu realisieren.“ (VPR 4, S. 580; vgl. ferner u.a. ebd., S. 129 f. und 398 f.) Auf Hegels Überlegungen zur ,römischen Religion‘ in den Kollegien von 1827 und 1831 gehe ich in III.4.2 genauer ein. 39 Daraus erklärt sich für Hegel zum einen, warum das Florieren des Gemeinwesens bzw. der „Fortuna publica“ (VPR 4, S. 584; vgl. ebd., S. 118 f.) die zentrale Bedeutung in der Bestimmung des letzten Zwecks zukommt; zum anderen meint Hegel daraus auch die Herrschaftserweiterung und -erhaltung des römischen Reichs nach innen und außen ableiten zu können. Vgl. u.a. ebd., S. 118 f. und 589.
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römischen Rechtspraxis niederschlägt,40 dass jedem Individuum als Bürger der höchste denkbare Wert zugeschrieben werden müsste. Und da in der ,römischen Religion‘ diese Form der Selbstverehrung folgerichtig ontologische und axiologische Priorität besitzt, ist die Annahme von Göttern schließlich nur dann relevant, wenn sie den einzelnen und kollektiven Interessen jeweils dienlich sein können.41 Entsprechend vermerkt Hegel im Manuskript: Hier nun aber die objektiven Mächte Götter, Religion, Nützlichkeitsreligion. Es ist die Selbstsucht der Verehrenden, die sich in ihnen als Macht anschaut und die in und von ihnen die Befriedigung eines subjektiven Interesses sucht […]. (VPR 4, S. 114)
Eine solche Religion wäre dabei nicht nur ein hervorragender Analysegegenstand für Braithwaites Religionstheorie. Denn Göttergeschichten wären einfach nur der allegorische42 Ausdruck der Vorrangstellung menschlicher Werte und Ziele und damit beliebig austauschbar. Unabhängig von den unterschiedlichen metaphysischen und theologischen Hintergrundannahmen scheint aber die ,römische Religion‘ zum selben Resultat wie Braithwaites Rede vom „agapeistic way of life“43 zu führen – in Hegels Worten ausgedrückt, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Werth hat“ (Enz. § 482A, GW 20, S. 477).44 Während dies aber in der ,römischen Religion‘ aus der genannten menschlichen Selbstverehrung folgt, ergibt es sich im Christentum aus der Verehrung Gottes, der nicht nur die menschliche Natur angenommen hat, sondern um der ganzen Menschheit willen den „T M“ (VPR 5, S. 64) gestorben ist.45 Die Identifi40
Vgl. u.a. ebd., S. 134 und 590. „Wir sehen […], daß die Römer die Götter verehren, weil sie sie brauchen und wenn sie sie brauchen, besonders in Zeiten besonderer Nöte. Die Not ist bei den Römern die allgemeine Theogonie, aus welcher die Götter bei ihnen entstehen.“ (ebd., S. 588 f.) Vgl. ferner u.a. ebd., S. 114 ff. 42 Vgl. ebd., S. 124. 43 B 1971 S. 81. 44 Die religiöse Verehrung des Kaisers (vgl. VPR 4, S. 129 f. und 589 f.), die Entdeckung und Etablierung des rechtlichen Personenstatus (vgl. ebd., S. 134 und 590) und schließlich die Fähigkeit, sich im Rahmen des radikalen Skeptizismus aus der Welt hinaus zu reflektieren (vgl. ebd., S. 133; VPR 5, S. 232), sind für Hegel daher Indizien, dass in der ,römischen Religion‘ die gottmenschliche Einheit unter verkehrten Vorzeichen antizipiert wird. So heißt es etwa zum römischen Kaisertum im Manuskript: „Die Göttlichkeit, das göttliche Wesen […] ist zur Einzelheit dieses Individuums herausgetreten, geoffenbart, daseiend. Ein Herabsteigen der Idee zur Gegenwart, aber so, daß es der Verlust ihrer in sich seienden Allgemeinheit, Wahrheit, Anundfürsichseins, somit Göttlichkeit ist; es ist die zur Einzelheit vollendete Bestimmung der Macht, aber das Allgemeine ist entflohen; es die Welt des äußerlichen Glücks und die Macht desselben gegenwärtig – das ungeheure Unglück.“ (VPR 4, S. 130) Vgl. hierzu auch L 1975, S. 233–235. 45 Mithilfe dieser Prämisse kann Hegel im Manuskript auf die Umkehrung der Wertordnung durch das Christentum schließen: „So ist das für das Niedrigste, Verachtetste Geltende zum Höchsten gemacht. Hier liegt der unmittelbare Ausdruck der Revolution gegen das Bestehende, in der Meinung Geltende. […] Indem die Entehrung der Existenz zur höchsten Ehre 41
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4. Non-Kognitivismus
kation der beiden religiösen Axiologien wäre damit nicht nur kontra-intuitiv, sondern schlicht inkorrekt. Dies wird für Hegel noch durch den radikalen jesuanischen Aufruf bestätigt, sich vollständig aus einem sittlichen und religiösen Umfeld zurückzuziehen,46 dessen Grundüberzeugungen mit dem christlichen Glauben inkompatibel sind. Der mögliche Hinweis auf den radikalen Egozentrismus in der ,römischen Religion‘ würde dabei wenig ändern. Denn man könnte den Inhalt der ,römischen Religion‘ dann einfach soweit kontrafaktisch variieren, dass alle Römer aus ihren religiösen Gründen Altruisten wären, und käme zum selben Resultat. Und selbst wenn man per impossibile annehmen würde, dass der erste Reduktionsschritt Braithwaites gelingen könnte, scheitert die Analyse spätestens an seiner konativen Theorie moralischer Rede. Dazu bieten gerade Hegels Zweifel an der rechtfertigenden Kraft vorpropositionaler, emotionaler Wertungen eine gute Grundlage. Wie sich oben gezeigt hat, haben diese nach Hegel die formale Struktur, dass durch sie spontan festgestellt werden kann, ob eine beliebige Situation oder Tatsache dem entspricht, was ich in meinem Interesse prinzipiell für erstrebenswert halte oder nicht. Das positive Gefühl in der Konfrontation mit dieser Situation zeigt mir ohne ein explizites Urteil an, dass sie sich so verhält, wie sie sich im Lichte meiner Präferenzen verhalten sollte. Bei einem negativen Gefühl gilt hingegen genau das Gegenteil, sodass es direkt mit einem Handlungsimpuls begleitet wird, diesen Umstand zu verändern.47 Auf Basis dieser Handlungsmotivation könnte dann eine entsprechende Verhaltensmaxime gebildet werden, deren öffentlich erklärte Verfolgung unter Braithwaites Prämissen schon einen Normsatz ergeben müsste. Da aber Gefühle nur eine Übereinstimmung oder Nicht-Entsprechung mit schon vorhandenen Präferenzen anzeigen, lässt sich nach Hegel an der bloßen Nennung einer positiven oder negativen emotionalen Wertung deren ethische Güte per se gar nicht ablesen: „[D]enn das Böse mit all seinen Schattierungen und Modifikationen ist ebenso im Gefühl wie das Gute […].“(VPR 3, S. 291)48 Das Verhalten eines blutrünstigen Mörders lässt sich daher mit Hegel nur dann erklären, wenn man ihm beim Töten seiner Opfer eine implizite positive Situationsbewertung zuschreibt, die seine Handlungsmotivation begleitet. Denn auch „[d]er Mörder fühlt, daß er so tun müsse“ (ebd.).
gemacht ist, so sind alle Bande des menschlichen Zusammenlebens in ihrem Grunde angegriffen, erschüttert, aufgelöst.“ (VPR 5, S. 65) 46 Vgl. etwa ebd., S. 55; 148 f. und 241 f. 47 Vgl. Enz. § 473, GW 20, S. 470. 48 „Es kann keine trivialere Erfahrung geben als die, daß es wenigstens gleichfalls böse, schlechte, gottlose, niederträchtige usf. Empfindungen und Herzen gibt; ja daß aus dem Herzen nur solcher Inhalt kommt, ist in den Worten ausgesprochen: Aus dem Herzen kommen hervor arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Lästerung u.s.f.“ (Enz. § 400A, GW 20, S. 397 f.) Vgl. auch GW 15, S. 136 und VPR 3, S. 176 f.
4.1 Emotivismus und R. B. Braithwaites Non-Kognitivismus
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Im Rahmen einer gewöhnlichen moralischen Bewertung würde man dabei wahrscheinlich so weit gehen, schon den Umstand als moralisch verwerflich einzuschätzen, bei der bloßen Vorstellung eines kaltblütigen Mordes einer unschuldigen Person Freude zu empfinden. Übernimmt man nun die in Abschnitt I.2.1 angedeuteten Grundzüge von Hegels Analyse von Werturteilen, könnte man dies als Ergebnis einer Schlussfolgerung ansehen, die den gegebenen Fall unter eine allgemeine Prämisse subsumiert, die das zum Ausdruck bringt, was einen moralischen Akteur als solchen ausmachen sollte.49 Daraus würde in der Konsequenz folgen, dass eine bestimmte Handlung unterlassen und ein zugrundeliegendes Interesse entsprechend modifiziert werden sollte, wenn es mit dem echten moralischen Selbstverständnis inkompatibel ist und daher nicht im Sinne des „vernünftigen Willens“ (ebd., S. 289) aller moralischen und sittlichen Akteure sein kann.50 Braithwaites Analyse deontischer Aussagen besitzt hingegen den entscheidenden Nachteil, dass sie nicht nur offensichtlich unfähig ist, einfache moralische Schlussfolgerungen zu erklären; sie bringt vielmehr den normativen Charakter von deren Konklusionen ganz zum Verschwinden. Denn zum einen ist überhaupt nicht zu sehen, wie man im Falle des Mordgedankens noch zur entsprechenden evaluativen Schlussfolgerung kommen kann,51 wenn man zuvor unter Verrenkungen aus der Aussage ,Ein gutes Gefühl bei der Vorstellung an sinnloses Töten ist moralisch verboten‘ irgendeine Erklärung einer nicht-vorhandenen Handlungsabsicht herausgelesen hat.52 Zum anderen könnte sich ein Mörder die kon49 Formuliert man diese Prämisse auf diese Weise, bleibt offen, ob diese nur das jeweilige, historisch-kontingente Selbstverständnis einer bestimmten sittlichen Gemeinschaft wiedergibt oder es doch eine überzeitlich wahre Aussage über die Natur rationaler Akteure oder den Inhalt eines selbstbewussten „freie[n] Willens“ (Enz. § 481, GW 20, S. 476) gibt, der dann philosophisch expliziert und ausgewiesen werden könnte. Zur Frage des normativen Charakters von Hegels Rechtsphilosophie vgl. u.a. H 1987, Band 2, S. 417–423. Da aber in beiden Fällen zumindest der deskriptive Gehalt nicht geleugnet wird, ist die folgende Kritik unabhängig von einer konkreten Entscheidung, die m.E. zugunsten der zweiten Alternative ausfallen sollte. Vgl. S 2016. 50 Der Rekurs auf Hegels Begriff des ,vernünftigen‘ Willens ist im Kolleg von 1827 das Hauptargument gegen die Rechtfertigung aus Gefühlen: „Als Wille bin ich in meiner Freiheit, […] in der Allgemeinheit meiner Selbstbestimmung […]. Der vernünftige Wille ist von dem zufälligen, dem Wollen nach zufälligen Trieben und Neigungen, sehr unterschieden; er bestimmt sich nach seinem Begriff, und der Begriff, die Substanz des Willens ist die reine Freiheit.“ (VPR 3, S. 289) Vgl. zu Hegels Willensbegriff auch Q 2011, S. 264–270. 51 P. Geach hat dafür argumentiert, dass nicht-deskriptive Auffassungen von Werturteilen jeden wertenden Syllogismus in einen Äquivokationsfehlschluss verwandeln. Bspw. wäre im vorliegenden Fall das evaluative Prädikat im Obersatz: ,Morden ist eine moralisch schlechte Handlung‘ nicht mehr gleichbedeutend mit dem in der Konklusion ,Person a vollzieht eine moralisch schlechte Handlung‘, die mithilfe des deskriptiven Untersatzes ,Person a ermordet Person b‘ gewonnen wird. Vgl. G 1965, S. 463 f. Auf die Relevanz des ,Frege-GeachProblems‘ für non-kognitivistische Theorien theologischer Rede weist auch S. Gäb hin. Vgl. G 2019, S. 212. 52 Vgl. die Kritik in K 1990, S. 102 f. und W 2007, S. 63–65. Weidemann
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4. Non-Kognitivismus
ative Analyse zunutze machen und aus seiner Äußerung ,Ich erkläre hiermit, in solchen Situationen immer meinen mörderischen Intentionen zu folgen‘ einen entsprechenden Gebotssatz entwickeln. Braithwaite scheint sich damit direkt auf die ebenfalls moralisch fragwürdige Annahme festzulegen, dass prinzipiell jede sprachliche Kundgabe der Übereinstimmung einer beabsichtigten Handlung mit den Maximen einen echten Gebotssatz bzw. eine Wertaussage ergeben müsste.53
4.2 Funktionalistische Alternativen Die bislang diskutierten anti-realistischen Ansätze sind daher kaum erfolgsversprechend. Allerdings könnte man zumindest allgemein erwägen, ob die religiöse Praxis nicht auch dann als solche gelingen und weiterhin bestehen könnte, wenn sich die entsprechenden religiösen Überzeugungen als falsch oder zumindest als epistemisch ungerechtfertigt erweisen. Dazu müsste man nur einen Finalgrund ausfindig machen, der sich zwar nicht aus religiösen Tatsachenbehauptungen erklären lässt und von den Gläubigen auch nicht (immer) selbst intendiert sein muss, der aber zumindest die religiös-neutrale Güte der Glaubenspraxis herausstellen könnte, die deren Fortexistenz allgemein erstrebenswert macht. Eine solche Theorieoption taucht besonders deutlich in Hegels Manuskript im Kontext der Frage nach der „Notwendigkeit des religiösen Standpunkts“ (VPR 3, S. 108) auf.54 Damit stellt er zunächst seine philosophische Religionstheorie unter die allgemeine Anforderung, in der wissenschaftlichen Behandlung eines beliebigen Gegenstandbereiches eine hinreichende Erklärung dafür zu geben, warum es diesen überhaupt gibt bzw. warum er so verfasst ist, wie er verfasst ist. Um zunächst den relevanten Erklärungstyp genauer zu fassen, grenzt Hegel diesen von einem alternativen Notwendigkeitsnachweis ab, den er auch die „Betrachtung äußerer Notwendigkeit“ (ebd.) nennt. In ihm soll der Satz „Also ist die Religion notwendig“ (ebd., S. 109) als Konklusion einer Art praktischer Inferenz sein, in der der Modaloperator aus der Angabe des Mittels folgt, das jeweils erforderlich ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.55 So heißt es u.a. in der Aufzählung möglicher Zwecke im Christentum:
bemerkt dabei zu Recht, dass der semantische Unterschied zwischen Sätzen wie „Das Quälen kleiner Kinder ist unter allen Umständen moralisch verwerflich“ und „Ich habe unter keinen Umständen die Absicht, kleine Kinder zu quälen“ (ebd., S. 64) selbst dann besteht, wenn der starke moralische Realismus falsch sein sollte. 53 Vgl. K 1990, S. 103. 54 Vgl. dazu auch unten Abschn. III.1. 55 Hegel nennt dies an dieser Stelle auch einen „Schluß der Reflexion“ (VPR 3, S. 110), meint aber wahrscheinlich eher eine Form des Schlusses der sog „äusser[en] Zweckmässigkeit“ (WdL II, GW 12, S. 156), den er im Teleologiekapitel der beiden Logiken analysiert. Vgl. ebd., S. 160–172; Enz. §§ 204–212, GW 20, S. 209–214 und unten Abschn. II.3.1.
4.2 Funktionalistische Alternativen
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,Das Glück, Fortkommen der Individuen beruht oder wird gefördert durch ihre religiöse Empfindung‘; die Rechtschaffenheit wird nur etwas Festes, indem die Religion ihr zu Grunde liegt, indem ihr Innerstes, das Gewissen, darin erst absolute, wahrhafte Verpflichtung, absolute Sicherheit seiner Verpflichtung hat; ferner, die Religion tröstet das Individuum im Leiden, Unglücksfallen und im Tod; der Staat muß wesentlich auf Religion beruhen, die Sicherheit der Gesinnung, der Pflichten gegen denselben wird erst absolut darin […]. (ebd.)
Der Tenor all dieser Beispielfälle scheint darin zu liegen, dass sie jeweils diejenigen Zielsetzungen benennen, deren Erfüllung entweder zum Gelingen individuellen Lebens oder zum Florieren sozialer Gebilde führen bzw. dazu einen erheblichen Beitrag leisten. Im Rahmen eines praktischen Syllogismus könnte man daher einen Obersatz formulieren, der besagt, dass die Erfüllung all dieser Zwecke zur individuellen oder kollektiven Selbstverwirklichung bzw. -erhaltung notwendig sind. Der Untersatz könnte dann die religiöse Praxis als alternativloses Mittel zur Erreichung dieser Zwecke angeben und die gewünschte Schlussfolgerung wäre damit gegeben.56 Die von Hegel genannten Ziele bilden nun zusammen mit seinen Thesen zum praktischen Notwendigkeitsnachweis eine Theorieoption, die gut zur obigen Überlegung passt. Denn wenn die religiöse Praxis per se notwendig zum Gelingen des individuellen und sozialen Lebens beiträgt, könnte man überlegen, welche Relevanz dem doxastischen Für-Wahr-Halten darin genau zukommen kann. In diesem Sinne argumentieren sog. funktionalistische Religionstheorien dafür, dass das Fortbestehen religiöser Praktiken schon deshalb notwendig ist, weil sie Personen und Personengemeinschaften dazu verhelfen, mit inner- oder gesamtweltlichen Umständen umzugehen, deren mögliche Beseitigung uns nicht zur Disposition stehen kann.57 Nach H. Lübbes vieldiskutierter Rede von der „Religion“ als „Kontingenzbewältigungspraxis“58 besteht etwa die Leistung von Glaubenspraktiken gerade darin, Fragen der Form ,Warum ist die Welt so, wie sie ist?‘ anzuerkennen, die außerhalb des Kompetenzbereichs der Wissenschaften und des sozialen Fortschritts liegt. Da es in ihnen nur oder in erster Linie darum gehen soll, ein erfülltes Leben zu führen, könnte man daher den assertorischen Charakter einiger religiöser Äußerungen in der Theorieperspektive entweder ganz streichen oder zumindest erheblich abschwächen – etwa indem man Gottes Exis56 „Aber wenn der Schluß der Reflexion jetzt so lautet: Also ist die Religion für die Zwecke der Individuen, Regierungen, Staaten usf. nützlich, so wird damit ein Verhältnis eingeführt, womit die Religion als Mittel gesetzt wird; der Zweck, das Erste, ist ein anderes“ (VPR 3, S. 110). 57 Vgl. etwa L 1986, Kap. 3.2 und 3.3; und zur Diskussion bes. S 2007 und W 2007, S. 66–81. 58 L 1986, S. 149. Analog heißt es bei N. Mooren über Kunst, Religion und Philosophie bei Hegel: „Durch sie ist Selbstverständigung überhaupt möglich, durch sie schafft sich der Mensch vermittels seiner Subjektivität Ausdruckswelten, die er den Notwendigkeiten der Welt, wie er sie tagtäglich erfährt, gegenüber- und entgegenstellen kann.“ (M 2018, S. 32)
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4. Non-Kognitivismus
tenz als ,nützliche Fiktion‘ versteht oder sein Leben unter der bloßen Annahme führt, als ob sie wahr wäre.59 Denn um mit Kontingenzfragen trotzdem leben zu können, würde es in der Perspektive des Funktionalismus schon ausreichen, dass man seine Lebenspraxis nur nach dem genannten Gottesbild ordnet und einrichtet, dessen objektive Korrektheit aber offenlässt. Nun drückt schon Hegels Terminologie seine Einschätzung dieses Erklärungstyps aus: Denn weil die Notwendigkeit eines Mittels von den jeweiligen Zwecken abhängt, folgt für ihn die Kontingenz der Religionspraxis aus der Kontingenz der mit ihnen verbundenen Zielsetzungen. Und die lässt sich nach Hegel schon deshalb nicht beseitigen, weil diese der Natur der Sache eben ,äußerlich‘ sein soll.60 Von einer solchen Kritiklinie müsste sich ein Funktionalist aber kaum beeindrucken lassen. Denn wenn es tatsächlich in der Religion nur um ein gelingendes individuelles und kollektives Leben geht, indem sie zur ,Kontingenzbewältigung‘ oder zur Stabilisierung sozialer Gemeinschaften beiträgt, dann hat man damit gerade das ausgedrückt, was es mit dem Phänomen als solchem auf sich hat.61 Die Aussage, diese Zielsetzungen seien dem Phänomen äußerlich, ist damit noch kein Einwand, sondern einfach nur die religionstheoretische Gegenbehauptung. Zudem könnte sich ein Vertreter des Funktionalismus darauf berufen, dass Hegel einige der oben zitierten Aussagen an anderen Stellen selbst offen vertritt. Die Aussagen etwa, dass „der Staat wesentlich auf Religion beruhen“ müsse oder diese zumindest die „Sicherheit der Gesinnung, der Pflichten gegen denselben“ (VPR 3, S. 109) gewährleiste, könnte man nämlich als Paraphrasen von Hegels eigenen Thesen zum Verhältnis von Religion und Staat verstehen.62
59 Der ersten Option entspräche dann ein ,Fiktionalismus‘ (vgl. G 2019, S. 214–216), der letzteren hingegen eine im weitesten Sinne pragmatistische Auffassung religiösen Glaubens (vgl. S 22005, S. 148–151). Da letzteres aber zumindest die schwache Meinung des Akteurs voraussetzt, dass die jeweils vollzogenen Handlungen ihre Ziele erreichen können (vgl. ebd., S. 149 f.), konzentriere ich mich in erster Linie auf den Fiktionalismus in der normativen Variante, der nicht voraussetzt, dass Gläubige selbst Funktionalisten sind. Vgl. auch W 2007, S. 73 f. 60 „Es gibt eine Betrachtung äußerer Notwendigkeit, welche die Religion zu einem Mittel, einem Absichtlichen macht, das eben damit in die Zufälligkeit zugleich herabgesetzt wird, welches nicht an und für sich, sondern ein willkürlicher Gedanke von mir ist, den ich auch entfernen kann, der nichts Objektives an und für sich hat, sondern den ich mit Absicht hervorbringe.“ (VPR 3, S. 108) Zu Hegels Kritik am Funktionalismus vgl. auch H 2013b, S. 193 f. 61 Entsprechend bemerkt H. Lübbe bspw. gegen R. Spaemann, dass „,Kontingenzbewältigung‘ ein Begriff zur Analyse der aufklärungsüberdauernden anthropologisch-ontologischen Nötigkeitsbedingungen eben derjenigen Religionen [ist], die es nach der Aufklärung tatsächlich gibt.“ (L 1986, S. 150 Fn. 15; vgl. auch ebd., S. 154) 62 „Der Staat beruht […] auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen. Indem die Religion das Bewußtseyn der absoluten Wahrheit ist, so kann was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d.i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur in sofern gelten, als es Theil an jener Wahrheit, unter sie subsumirt ist und aus ihr folgt.“ (Enz. § 552A, GW 20, S. 532) Das hier genannte geltungstheoretische Fundierungsverhältnis hängt
4.2 Funktionalistische Alternativen
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Dieser Umstand scheint Hegel nicht entgangen zu sein. Denn im selben Kontext des Manuskripts notiert er: „Die wahrhafte Ansicht, substantielles Verhältnis und schiefes, falsches Verhältnis liegen sehr nahe aneinander.“ (ebd., S. 108)63 Mit Blick auf die obigen Überlegungen zur ,römischen Religion‘ wird man Hegel vielleicht sogar noch eine stärkere These unterstellen dürfen. Denn sie bietet ein gutes Beispiel dafür, wie eine bestimmte religiöse Praxis aussehen könnte, die gerade die theoretischen Aussagen des Funktionalismus in ihr eigenes Selbstverständnis integriert hat: Religiöse Praktiken wären in diesem Falle nichts anderes als ein Ausdruck der Höchstbewertung individueller und kollektiver Selbsterhaltung und -verwirklichung, zu deren Zweck diese Praktiken ebenso existieren sollen wie deren mögliche Bezugsobjekte. Zudem benutzt Hegel seine Überlegungen zur ,römischen Religion‘ bisweilen selbst als Modell für seine Beschreibung der Konstitution und der Rolle der Glaubenspraxis in seiner eigenen Zeit.64 Als generelles Analyseinstrument beschränken sie sich also nach Hegel nicht auf Thesen über sozio-religiöse Verhältnisse vergangener Epochen. Paradoxerweise scheint aber gerade das, was oberflächlich gesehen am deutlichsten bei Hegel für eine funktionalistische Theorie spricht, den stärksten Einwand gegen sie darzustellen, der sich bei ihm auffinden lässt. Wäre sie adäquat, dann müsste sich nämlich mindestens an der ,römischen Religion‘ zeigen lassen, dass sie vollständig ohne religiös geartete Wissensansprüche auskommen könnte. Selbst wenn man aber bspw. im Anschluss an Hegels Rede von den römischen Göttern als ,Allegorien‘ die Göttergeschichten zu bloß nützlichen ,Fiktionen‘ mit lebenspraktischen ,Placebo-Effekten‘65 erklärt, wird man den kognitiven Charakter religiöser Einstellungen nicht loswerden können und dies aus folgendem Grund: Das, was die Praxis der ,römischen Religion‘ ja gerade ermöglichen soll, ist die vorgängige Überzeugung, dass der letzte Zweck der Gesamtwirklichkeit im Erhalt und in der Expansion desjenigen Staatsgebildes beruht, das dem individuellen Selbsterhaltungsstreben in der Perspektive seiner Bürger am meisten Raum bietet. Anders ausgedrückt: Was das Selbstbild des ,römischen Imperi-
aber an der inhaltlichen Füllung des Religionsbegriffs. Vgl. M/R/Q 2018, S. 660–662. Behauptet man etwa mit Th. Lewis, Gott sei für Hegel nur eine soziale Konstruktion und Gottesvorstellungen seien daher nur menschliche ,Projektionen‘ (vgl. L 2011, S. 12 f.), hat man scheinbar die Prämissen für eine hegelsche Variante des normativen Fiktionalismus beieinander, die exegetisch betrachtet aber keineswegs alternativlos ist. Vgl. unten III.3.2 und III.5. 63 Ähnlich heißt es kurz darauf: „Es ist auch überhaupt ganz richtig, daß die Zwecke, Ansichten der Individuen, der Regierungen, Staaten, selbst nur ein Bestehen, Festigkeit, begründet auf die Religion. Aber das Schiefe ist, daß, was im Verhältnis eines Mittels genommen wird, zu einem Zufälligen zugleich herabgesetzt wird; Bedingung, Ursache ist ein anderes […].“ (VPR 3, S. 110) 64 Vgl. bes. VPR 5, S. 94 f. und 104; und ferner M 2018, S. 118 f. 65 Gegen den Placebo-Vorwurf von R. Spaemann wendet Lübbe ein, Placebos würden nachweislich auch dann nicht ihre Wirkung verlieren, wenn die Patienten um den PlaceboEffekt wissen. Vgl. L 1986, S. 220 f. und zur Diskussion W 2007, S. 76 f.
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4. Non-Kognitivismus
ums‘ gerade religiös macht, sind deren metaphysische Aussagen über die Natur und Verfassung des Absoluten bzw. der letzten Wirklichkeit.66 Als ,funktionalistische‘ Religion kann es also überhaupt nur deshalb existieren, weil das Imperium sich selbst den maximalen Wert zuschreibt und in dieser Perspektive an der Spitze der Hierarchie aller alternativen Einzelzwecke steht. Nimmt eine bestimmte Religion den Funktionalismus in ihr eigenes Selbstverständnis auf, dann scheint sich also die Zweck-Mittel-Relation zu verkehren, die der Funktionalismus als non-kognitivistische Religionstheorie benötigt: Es sind dann gerade die religiösen Wahrheitsansprüche, die angeben, was ultima facie und im Höchstmaß als erstrebenswert gelten muss,67 die der Funktionalismus wiederum nur zu einem wesentlich nicht-epistemischen Mittel erklärt. Dies ist der Kerngedanke Hegels, den er im Manuskript folgendermaßen zuspitzt: Objektive Zwecke fordern das Aufgeben subjektiver Interessen, Meinungen und Zwecke, und dies Negative ist darin enthalten, wenn gesagt wird, die Verehrung Gottes gründet das wahre Wohl der Individuen, Völker, Staaten, Regierungen usf., dies ist eine Folge von jener; so ist jene die Hauptsache, hat ihre Bestimmung und Bestimmtheit für sich, reguliert die Zwecke und Ansichten der Menschen; sie sind nicht das erste, sich für sich bestimmen Sollende. (VPR 3, S. 111)
Um den kognitiven Charakter religiöser Überzeugungen dennoch für irrelevant zu erklären, müsste eine funktionalistische Theorie also zu der stärkeren Annahme Zuflucht nehmen, auch und gerade die religiösen Wertüberzeugungen im o.g. Sinne anti-realistisch zu deuten. Und dafür gibt es, wie wir gesehen haben, schwerlich gute Gründe. Es ist nun Hegels Überzeugung, dass die religiösen Axiologien von der jeweiligen Konzeption des Absoluten her erklärt werden können, deren Kohärenz sich wiederum spätestens in theoretischer Perspektive prüfen lässt.68 Eine funktiona66 Vgl. zu dieser Kritiklinie am Funktionalismus im Allgemeinen bes. K 1990, S. 105 Fn. 12; S 2007, S. 115–120 und W 2007, S. 77. 67 In R. Spaemanns Worten: „Im Begriff des ,höchsten Guts‘ aufgeklärter Hochreligionen ist der Begriff des Sittlichen zwar ,aufgehoben‘, aber nicht durch eine funktionale Mediatisierung, sondern dadurch, daß das Gute selbst den letzten Referenzrahmen aller Relativierungen bezeichnet: das Absolute.“ (S 2007, S. 104) Vgl. auch ebd., S. 106 f. 68 Vgl. unten III.4.1. Hegel scheint noch die stärkere These zu vertreten, dass religiöse Axiologien mit einem ,wahren‘ Begriff des Absoluten auch für sittliche Überzeugungen bestimmend sein sollen: „Daß aber das wahrhafte Sittliche Folge der Religion sey, dazu wird erfordert, daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d.i. die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sey.“ (Enz. § 552A, GW 20, S. 532; vgl. auch ebd., S. 540 f.) Diese Stelle lässt sich allerdings auch mit dem weiten Religionsbegriff in Enz. § 554 verstehen, der auch noch Philosophie mit umfassen soll. Eine solche Lesart passt zudem besser zu der Tatsache, dass Hegel Rechtsbegriffe nicht auf Basis von Prämissen der Religion (im engeren Sinne) entwickelt (vgl. S 2015, S. 11 f.) und zudem die Legitimierung von Gesetzen als göttlicher Gebote explizit kritisiert (vgl. VPR 3, S. 340–342 und 361). Das Verständnis der Geltungsabhängigkeit sittlicher Überzeugungen hängt dann an der weitergehenden Frage nach dem spezifischen theologischen Gehalt der Philosophie selbst. Vgl. M/R/Q 2018, S. 661 f. und zum Thema allgemein auch K 2020.
4.3 Abschlussbemerkungen
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listische Theorie müsste sich daher generell die Frage gefallen lassen, wie es eigentlich genau um eine religiöse Praxis bestellt ist, in der die scheinbar geglaubten Sachverhalte nur denjenigen Interessen dienen, zu deren Aufgabe oder radikalen Überprüfung Religionen gerade aufrufen.69 Wir haben oben schon gesehen, dass nicht einmal der Fall einer ,Religion der Zweckmäßigkeit‘ vom non-kognitivistischen Funktionalismus plausibel gemacht werden kann. Wie eine solche Theorie dann aber noch Religionsformen erklären kann, deren Wahrheitsansprüche gerade auf den personalen Ursprung der Gesamtwirklichkeit abzielen, ist daher kaum abzusehen. In ihnen wäre die religiöse Praxis nicht nur wesentlich mehr als etwa die bloße Anerkennung von Unverfügbarkeiten in der ,Kontingenzbewältigung‘.70 Die Praxis müsste sich vielmehr selbst unterminieren, wenn es sich selbst nach den genannten Theorievorgaben verstehen würde: Dasjenige, was nach dem Funktionalismus nur dazu da ist, um unsere Lebenspraxis zu ermöglichen, könnte in derselben Perspektive nur dann seine Funktion erfüllen, wenn es zugleich dasjenige ist, wovon die ganze kontingente Wirklichkeit – einschließlich unserer selbst – abhängig sein soll.71 Entgegen ihrem Anspruch hätte eine solche Theorie damit nicht etwa das notwendige Fortbestehen von Religionen im ,Zeitalter der Aufklärung‘ erklärt, sondern vielmehr deren höchstwahrscheinliches Absterben vorhergesagt.
4.3 Abschlussbemerkungen Theorieansätze, die die Erkenntnisansprüche in religiösen Überzeugungen für irrelevant halten, um auf diese Weise evidentialistischen Einwürfen zu begegnen, teilen damit in hegelscher Perspektive ein gemeinsames Problem: Auf der einen Seite weisen sie zwar allesamt auf wichtige, wenn nicht essentielle Momente und Konsequenzen der religiösen Praxis hin. Auf der anderen Seite stellen sie die Phänomene, auf die sie es eigentlich abgesehen haben, geradezu auf den Kopf, indem sie diese vollständig vom kognitiven Gehalt des religiösen Glaubens isolieren. So sind bspw. vor-propositionale Wertungen in Gefühlen und deren Konsequenzen für den Lebensvollzug für Hegel nur möglich, wenn schon entsprechende sittliche und religiöse Hintergrundüberzeugungen vorliegen. Ebenso kann die religiöse Praxis für ihn nur dann einem stabilen individuellen und kollektiven Leben dienlich sein, wenn dieses mit der jeweils im Glauben akzeptieren
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Vgl. S 2007, S. 106 f. Vgl. K 1990, S. 105 Fn. 12. Wie R. Spaemann ausführt, besteht ein Wesenszug des Gottesglaubens gerade darin, die Kontingenz der Welt überhaupt erst einsichtig zu machen und im Rekurs auf die Schöpfungsfreiheit Gottes bestehen zu lassen. Vgl. S 2007, S. 109–111. 71 „Die Unangemessenheit jeder funktionalen Deutung der Religion läßt sich auf die einfache Formel bringen, daß die Relativierung des Absoluten gleichbedeutend ist mit dessen Verschwinden.“ (Ebd., S. 106) 70
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4. Non-Kognitivismus
Zweckhierarchie kompatibel ist. Würden Gläubige als Gläubige solche Theorien adaptieren, würden sie mithin die Praxis als Ganze aufheben – zusamt den affinen Bereichen moralischer und sittlicher Wertsetzungen und Überzeugungen. Damit sind die Möglichkeiten des theologischen Anti-Realismus zwar nicht erschöpft, den man als Antwort auf den evidentialistischen Einwand verstehen kann. Denn man könnte etwa den propositionalen Gehalt religiöser Überzeugungen zwar annehmen, die Explikation epistemischer Normen wie ,Rechtfertigung‘ und ,Wahrheit‘ aber als eine rein sprachspielimmanente Aufgabe auffassen, wie dies etwa Anhänger des sog. ,wittgensteinianischen Fideismus‘72 versuchen. Um aber erfolgreich gegen die Forderung nach allgemein überzeugenden Gründen zu argumentieren, müsste sich das Sprachspiel des Gottesglaubens mindestens gegenüber der sprachspielübergreifenden, generellen und speziellen Metaphysik abschirmen lassen. Und dieser argumentative Zug ist weder systematisch aussichtsreich noch mit Hegels Prämissen kompatibel.73 Die Prämissen des evidentialistischen Einwands gegen den Gottesglauben bleiben damit von non-kognitivistischen Repliken unberührt. Für Hegel würden Versuche, den Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen gänzlich weg zu analysieren oder die epistemischen Normen radikal zu relativieren, den falschen szientistischen Prämissen ohnehin schon zu viel zugestehen. Weniger umständlich wäre vielmehr ein direkter Angriff – etwa indem man sie einfach nur danach befragt, ob sie überhaupt ihrem eigenen Anspruch gerecht werden können.74 Dass die Antwort auf diese Frage ungünstige bis desaströse Konsequenzen zeitigt, hat das Schicksal des ,logischen Positivismus‘ zu Genüge gezeigt.
72 So die geläufige Bezeichnung nach N 1967. Die Ansätze von D.Z. Philips und P. Winch werden ausführlich und instruktiv diskutiert in A 1995; W 2007, S. 102–107 und G 2019, S. 212–214. 73 Nach W. Alston benötigt etwa D.Z. Philips’ Ansatz nicht nur eine Annahme über die Sprachspielabhängigkeit des Wahrheitsbegriffs, der zugleich rein epistemisch aufgefasst werden muss (vgl. A 1995, S. 21–24), sondern auch eine starke Autonomiethese des sog. religiösen Sprachspiels (vgl. ebd., S. 19–21). Selbst wenn man beide Prämissen akzeptieren würde, müsste man aber zugestehen, dass schon einige biblische Texte ohne den jeweiligen philosophischen Kontext gar nicht verständlich sind. Vgl. u.a. C 2016, S. 13–24. Diese nachweisbare Überlappung des metaphysischen und des religiösen Sprachspiels bestätigt Hegels These, dass schon in der Bildung von Gottesbildern kategoriales Denken involviert ist. Vgl. unten III.3.2. 74 Vgl. G 2019, S. 210.
5. Typen der Basalitätsthese Die im letzten Kapitel rekonstruierte Kritik am theologischen Anti-Realismus hat nochmals bestätigt, dass nach Hegel sowohl der mentale Zugang zu Gott als auch dessen Ausdrucksformen als Erkenntnisansprüche verstanden werden sollten. Mit diesem Zugeständnis an den evidentialistischen Einwand, sind aber freilich nicht alle möglichen Repliken erschöpft: Anstatt den deskriptiven Gehalt theistischer Überzeugungen zu leugnen, könnte man auch lediglich die Annahme bestreiten, dass deren Rechtfertigungsstatus an einem deduktiven oder induktiven Nachweis hängt. Eine solche Strategie scheint sich sogar teilweise mit Hegels Glaubensbegriff zu decken. Denn schon in Abschnitt I.1.2 hat sich gezeigt, dass die dem Glauben eigentümliche Gewissheit in erstpersonaler Perspektive weder auf einem expliziten, argumentativen „Räsonnement“ (GW 15, S. 140) beruht. Noch muss dies die Basis möglicher Begründungen darstellen, auf die Gläubige in der Verteidigung ihrer Überzeugungen intendiert zurückgreifen.1 Um erfolgreich gegen den evidentialistischen Einwand argumentieren zu können, muss der Rekurs auf die Glaubensgewissheit mindestens zwei Dinge leisten können: Erstens muss gezeigt werden, dass die Geltungsdomäne seiner ersten Prämisse2 sich auch unabhängig vom Rechtfertigungsproblem religiöser Überzeugungen bestreiten lässt. Konkreter formuliert müsste eine Verteidigung in meta-epistemologischer Hinsicht gute Gründe dafür aufbringen, warum nach den zugrunde gelegten Rationalitätskriterien zu viele Überzeugungstypen in die Klasse rechtfertigungsbedürftiger Meinungen fallen würden. Im Anschluss daran muss zweitens plausibel gemacht werden, dass auch der Gottesglaube jenem Typus von Wahrheitsansprüchen angehört, deren Legitimität weder durch argumentative Gründe entschieden werden muss noch prinzipiell auf diese angewiesen ist. Beide Voraussetzungen stellen den kleinsten gemeinsamen Nenner derjenigen religionsepistemologischen Position dar, die ich im Folgenden im Anschluss an die gegenwärtige Strömung der sog. Reformed Epistemology die These der berech1 ,Räsonnements‘ zählen Hegel allerdings zu den Typen der „Beglaubigung“ (VPR 5, S. 182), die Gläubige bisweilen de facto vorbringen. Vgl. ebd., S. 182 f. und ferner GW 15, S. 139 f. In welcher Beziehung dies zur These vom religiösen Denken steht, werde ich unten in Kap. III.2. kurz besprechen. 2 In der obigen Rekonstruktion in Kap. I.3 wurde Prämisse (1) des evidentialistischen Einwands wie folgt formuliert: ,Rechtfertigungsbedürftige Überzeugungen sind dann und nur dann rational akzeptabel, wenn sich entsprechende Belege für sie anführen lassen.‘
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5. Typen der Basalitätsthese
tigten Basalität (kurz: Basalitätsthese) nennen werde. Zu den gegenwärtig einflussreichsten Vertretern gehört sicherlich A. Plantinga, der die Rede vom Gottesglauben als properly basic belief wie kaum ein anderer geprägt hat. Ein hegelianischer Blick auf dessen Werk bietet sich schon deshalb an, weil sein Ansatz nachweislich die Probleme der stärkeren Fassung der Basalitätsthese vermeidet, die Hegel selbst ausführlich diskutiert. Neben der kritischen Prüfung der argumentativen Schlagkräftigkeit der hegelschen Alternative kann ein Abgleich beider Positionen zugleich die oben erwähnte Behauptung der nicht-argumentativen Glaubensgewissheit weiter profilieren. Um den Rahmen der Diskussion zu eröffnen, werde ich zunächst Hegels allgemeine Überlegungen zum sog. ,unmittelbaren Wissens‘ skizzieren (Abschnitt I.5.1). Daran anschließend werde ich zeigen, warum Plantingas Basalitätsthese zwar nicht in dasselbe Raster der Kritik fallen kann, aber in hegelscher Perspektive dennoch keine gute Alternative darstellt (Abschnitt I.5.2).
5.1 F.H. Jacobis starke Basalitätsthese In Hegels Rekonstruktion der These des „unmittelbare[n] Wissen[s]“ (Enz., GW 20, S. 100) in der Enzyklopädie, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde, beginnt diese zunächst mit einer Darstellung des Erkenntnistyps des „beschränkte[n] Denken[s]“ (Enz. § 62, GW 20, S. 100), für das es „keinen Uebergang“ zum „Unendliche[n]“ bzw. „Wahre[n]“ (ebd.) geben kann. Dies gilt aus folgendem Grund: Diese Denkbestimmungen werden auch Begriffe genannt; und einen Gegenstand begreifen heißt in sofern nichts als ihn in der Form eines Bedingten und Vermittelten fassen, somit in sofern er das Wahre, Unendliche, Unbedingte ist, ihn in ein Bedingtes und Vermitteltes verwandeln und auf solche Weise, statt das Wahre zu denkend zu erfassen, es vielmehr in Unwahres zu verkehren. (ebd.)
Versteht man die Rede vom ,Begreifen‘ hier grob als das Erkennen dessen, was es mit einer Sache auf sich hat, dann lässt sich die Kernprämisse in Hegels Rekonstruktion in etwa so wiedergeben: (1) Alles, was erkennbar ist, hat Bedingungen, aus denen es erkannt werden kann.
Aus ihr folgt dann trivialerweise: (2) Alles, was keine Bedingungen hat, ist unerkennbar.
Und aus der analytischen Wahrheit: (3) Das, was seiner Natur nach unbedingt ist (= Gott), hat keine Bedingungen.
Ergibt sich dann schließlich mit (2):
5.1 F.H. Jacobis starke Basalitätsthese
103
(4) Das Unbedingte bzw. Gott ist unerkennbar.
Wollte man unter diesen Prämissen die zweite Konklusion (4) bestreiten, müsste man also scheinbar die definitorische Aussage (3) im Sinne dieses Schlusses in einer Weise umformulieren, die direkt Gottes Aseität kompromittieren und sie damit „in Unwahres verkehren“ (ebd.) würde. In Hegels Darstellung lässt sich nun die These des ,unmittelbaren Wissens‘ als Reaktion auf diese Schlussfolgerung erklären, die man knapp als zweischrittige Verteidigungsstrategie auffassen kann. Zunächst argumentiert sie dafür, dass Prämisse (1) eine alternativlose Beschreibung der diskursiven Erkenntnisform darstellt und damit die Natur unserer Urteils- und Schlusspraxis hinreichend erfasst, um dagegen dann den wesentlich nicht-diskursiven Zugang zum Unbedingten zu profilieren. Der erste Schritt mag dabei dem unscharfen Begriff des „Bedingten, Abhängigen, Vermittelten“ (ebd.) geschuldet sein. Blickt man aber auf Hegels Referenztext, die sog. VII. Beilage zu Jacobis Spinoza-Briefen,3 auf die Hegel in Enz. § 62A explizit verweist, kann man diesen Begriff nach der jeweiligen Klasse des ,Bedingten‘ wie folgt präzisieren:4 In einer ersten Hinsicht kann man das zu Erkennende als die Wahrheit einer Aussage p verstehen, sodass sich als mögliche logische Bedingung eine andere Aussage q ergibt, aus der p deduktiv folgt und daher in einer „Demonstration“ (SP, S. 398/127) gewonnen werden kann.5 In einer zweiten Hinsicht kann das Bedingte für eine beliebige Sache stehen, deren Natur man in einer Realdefinition erfasst. Hier wären dann offenbar die definientia die Bedingungen, aus denen das definiendum erkannt wird.6 Schließlich könnte man die Bedingungen kausal auffassen. Das Bedingte wäre hier ein Ereignis oder ein Sachverhalt, dessen Bestehen durch die Angabe von Antezedensbedingungen und Naturgesetzen erklärt werden kann.7 Wenn Hegel nun in Bezug auf Jacobi schreibt: „Erklären und Begreifen heißt […] Etwas als vermittelt durch ein Anderes aufzuzeigen“ (Enz. § 62A, GW 20, S. 101), dann scheint er auf eine besondere Pointe der VII. Beilage abzuheben, die 3 Ob und inwieweit Hegel in der Enzyklopädie Jacobis Ansatz tatsächlich gerecht wird, ist freilich umstritten. Vgl. im Folgenden auch u.a. W 1989; H 2002, Kap. 8; . 2005 und S 2010. 4 Neben der Vermittlung zwischen Individuen, Ereignissen, Begriffen und Aussagen diskutiert Hegel noch die Vermittlung zwischen Gedanken und ihrer Objektivität. Vgl. Enz. § 69 f., GW 20, S. 110 und hierzu bes. W 1989, S. 140–142. Da es mir hier in erster Linie um Formen des nicht-inferentiellen Wissens geht, werde ich diesen Typus der Vermittlung weitestgehend ausblenden. 5 Hegels eigene Rede von ,Bedingung‘ als ,Vermittlung‘ deutet auch auf die aristotelische Syllogistik, in der der Subjekt- und Prädikatsterm durch einen terminus medius in zwei Prämissen ,vermittelt‘ werden. Vgl. Enz. § 182, GW 20, S. 192. Man denke etwa an Standardbeispiele der ersten syllogistischen Figur im Modus Barbara. 6 Dem entspricht Jacobis Prinzip des Begreifens, von dem gleich noch die Rede sein wird. Vgl. SP, S. 419 f./149 Fn. und ebd., S. 424/153. 7 Soweit ich sehen kann, vertritt Jacobi in der VII. Beilage eine Art Regularitätstheorie der Ereigniskausalität. Vgl. SP, S. 431/159 f. und zu dieser Deutung auch W 1989, S. 138.
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5. Typen der Basalitätsthese
einen direkten Zusammenhang zwischen den Typen des inferentiellen, definitorischen und kausalen Erkennens herzustellen versucht.8 Im Hintergrund steht dabei vermutlich die traditionelle These, dass das Erkennen einer beliebigen Sache darauf abzielt, einzusehen, was es mit ihr ihrem Wesen nach auf sich hat.9 Um von hier aus zu den beiden anderen Erkenntnistypen zu kommen, muss man in die epistemologische Auffassung von Realdefinitionen lediglich ein kausales Element einbauen. Demnach würde man die Natur einer beliebigen Entität nur dann wirklich verstehen können, wenn man weiß, wie sie zustande gebracht werden kann.10 In Jacobis Worten: Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihren nächsten Ursachen herleiten können, oder ihre unmittelbaren Bedingungen der Reihe nach einsehen: was wir auf diese Weise einsehen, oder herleiten können, stellt uns einen mechanischen Zusammenhang dar. (SP, S. 419/149 Fn.)
Aus diesem Prinzip des Begreifens folgt sofort der Übergang zum kausalen Erkennen. Denn eine Entität könnten wir dann nur unter der Voraussetzung verstehen und begreifen, wenn wir die relevanten Anfangsbedingungen und Naturgesetze kennen würden, die deren Existenz bzw. Sosein bewirken.11 Und da sich Erklärungen dieser Form leicht in eine Schlussform übersetzen lassen,12 hätte man damit zugleich die Brücke zur inferentiellen Erkenntnispraxis gebaut. Paradoxerweise scheint nun die zentrale Prämisse, mit deren Hilfe Jacobi sein Prinzip stützt, zugleich einer der wesentlichen Gründe zu sein, warum er dessen Alleinstellung bezweifelt. Nach Jacobi wurzelt nämlich das Prinzip wie der Kausalitätsbegriff in einem ursprünglicheren, impliziten Praxiswissen,13 das sich insbesondere im Erleben unserer Fähigkeit niederschlägt, Ereignisse mittels freier Handlungen bewirken zu können: Ich habe schon anderwärts das Verfahren beleuchtet, und, wie ich glaube, hinlänglich dargetan, daß der Begriff von Ursache, in so fern er sich von dem Begriffe des Grundes unterscheidet, ein Erfahrungsbegriff ist, den wir dem Bewußtsein unserer Kausalität und Passivität zu verdanken haben […]. (SP, S. 415/145)14 8
Vgl. hierzu auch H 2002, S. 298 f. Zum Begriff der Realdefinition vgl. O 2007, S. 86–92. 10 Im Hintergrund steht hier vermutlich die Auffassung Spinozas, dass Realdefinitionen in der Regel sog. ,genetische Definitionen‘ darstellen sollten. Vgl. hierzu S 2009, S. 217–224. 11 Vgl. SP, S. 431/159. 12 Etwa in Form einer deduktiv-nomologischen Erklärung. Vgl. K 1981, S. 95 f. Der Zusammenhang zwischen diesem Erklärungstyp und modus ponens-Regel steht vermutlich auch im Hintergrund von Kants ,metaphysischer Deduktion‘ des Kausalitätsbegriff aus dem hypothetischen Urteil. Vgl. K 2006, S. 477–479. 13 „Das Prinzip aller Erkenntnis ist lebendiges Dasein; und alles lebendige Dasein geht aus sich selbst hervor, ist progressiv und produktiv.“ (SP, S. 402/130) Vgl. im Folgenden bes. S 2009, S. 264 f. 14 Dieser Gedanke passt übrigens gut zu Hegels Thesen der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaftspraxis aus der besonderen Selbsteinschätzung und -bewertung des menschli9
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Vergisst man nun im wissenschaftlichen und metaphysischen Gebrauch dieser Prinzipien zugleich deren Quelle, wird man unweigerlich zu Ergebnissen kommen, die mit unserer wirklichen Handlungserfahrung inkompatibel sind: Denn dann betrachtet man sich offensichtlich nicht mehr in der erstpersonalen Akteurs-, sondern in der drittpersonalen Theorieperspektive und fasst irrigerweise auch diejenigen Ereignisse bloß als nomologisch notwendige Konsequenzen auf, die de facto die intendierten Ergebnisse unserer Handlungspraxis sind.15 In analoger Erweiterung betrifft das dann auch die Frage nach dem Ursprung der Welt, wie Jacobi ausführt: Zum einen ist es gerade unser Handlungswissen, was uns dazu führt, Erklärungen auch in diesem Bereich zu erwarten.16 Zum anderen scheint man sich mit dem Prinzip des Begreifens auf die Unmöglichkeit solcher Erklärungen festzulegen. Denn unter Voraussetzung dieses Prinzips ergeben sich laut Jacobi nur zwei epistemisch mögliche Optionen, die aber jeweils zu inkonsistenten Ergebnissen führen:17 Denn entweder man wendet das Prinzip – wie Spinoza – konsequent an, muss dann aber wegen der erneuten Anwendbarkeit eine aktual unendliche Vergangenheit der Welt annehmen.18 Oder man leugnet diese für Jacobi widersprüchliche Konsequenz mit dem Hinweis auf den freien Schöpfungsakt. Unter Rückgriff auf das Prinzip des Begreifens müsste man dann aber zeitlich frühere und kausale Bedingungen des Akts im wesentlich ewigen und selbstgenügsamen Willen Gottes annehmen.19 Beschreibt dieses Prinzip nun tatsächlich den Kern unseres diskursiven Wissens, dann lässt sich das zweite Horn des Dilemmas ohne weiteres generalisieren: Es ist dann nämlich keineswegs mehr ersichtlich, wie wir überhaupt Zugang zu einer Entität gewinnen können, die gerade den Inbegriff aller endlichen kausalen Bedingungen überhaupt übersteigen soll.20
chen Praxiswissens, die auf der Einsicht in den Zusammenhang bestimmter Formen der Kausalerklärung mit der technischen Reproduzierbarkeit beruht. Vgl. VPR 3, S. 14 und dazu auch oben I.3. 15 Vgl. SP, S. 414–417/144–147 und S 2009, S. 270 f. Da unser Selbstverständnis als frei handelnde Akteure für Jacobi u.a. die Überzeugung mit sich bringt, in einer raumzeitlichen Außenwelt verkörpert zu sein und darin andere Akteure anzutreffen (vgl. SP, S. 216/211), lässt sich diese fehlgeleitete Konklusion auch auf andere Alltagsmeinungen übertragen. 16 Vgl. ebd., S. 423–427/153–156. 17 Vgl. im Folgenden auch H 2002, S. 299. 18 Vgl. SP, S. 406–408/134–136 und ebd., S. 417–419/147–149. 19 Vgl. bes. ebd., S. 418/148. 20 „Denn wenn alles, was auf eine uns begreifliche Weise entstehen und vorhanden sein soll, auf eine bedingte Weise entstehen und vorhanden sein muß; so bleiben wir, so lange wir begreifen, in einer Kette bedingter Bedingungen. Wo diese Kette aufhört, da hören wir auf zu begreifen und da hört auch der Zusammenhang, den wir Natur nennen, selbst auf. […] Soll nun ein Begriff dieses Unbedingten und Unverknüpften – folglich Außernatürlichen [Hervorhebung im Orig. fett, W.L.] werden: so muß das Unbedingte aufhören das Unbedingte zu sein; es muß selbst Bedingungen bekommen; und das absolut Notwendige muß anfangen, das Mögliche zu werden, damit es sich konstruieren lasse.“ (SP, S. 425 f./154 f.)
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5. Typen der Basalitätsthese
Dass wir aber überhaupt Aussagen über Gott als dem Unbedingten treffen, zeigt hingegen, dass dieser Schluss für Jacobi nicht das letzte Wort haben kann. Zudem macht schon der Verweis auf das implizite Handlungswissen deutlich, dass nicht alle möglichen Formen unseres bewussten Weltzugangs diskursiv verfasst sein müssen. Wenn es also einen mentalen Zugang zu Gott gibt, kann er unter keinen Umständen in die Klasse des Erkennens aus Bedingungen fallen und muss daher in einer wesentlich „unmittelbaren Gewißheit“ (SP, S. 215/210)21 bestehen. Jacobis Argumentation in der VII. Beilage erfüllt damit prima facie die einleitend erwähnten Grundvoraussetzungen der Basalitätsthese: Zum einen greift er die Alleinstellung des diskursiven Denkens an, die in spezifischer Form auch dem evidentialistischen Einwand zugrunde liegt, indem Jacobi darauf hinweist, dass dieses Denken seine Quellen im Praxiswissen verrät. Zum anderen meint er zeigen zu können, dass der Gottesglaube in analoger Erweiterung aus unserer Handlungserfahrung gewonnen werden kann und daher gegenüber der evidentialistischen Kritik immun ist.22 Schon der Umstand, dass Hegel selbst auf die Rolle unmittelbarer Gewissheit im Gottesglauben hinweist, zeigt deutlich, dass sich seine Einstellung zur starken Basalitätsthese nicht in bloßer Kritik erschöpfen kann. Und bei genauerem Blick zeigt sich zudem, dass sich Elemente von Jacobis Überlegungen auch bei Hegel in anderer Form wiederfinden,23 selbst wenn er nicht immer dazu bereit zu sein scheint, dies zuzugeben. Im Kontext seiner Diskussion in der Enzyklopädie, auf die ich mich hier in erster Linie konzentriere, bestreitet er allerdings explizit sowohl die positiven als auch die negativen Elemente der obigen Überlegungen: Weder kann es für Hegel ein ,unmittelbares Wissen‘ unter Ausschluss diskursiver Vermittlung geben, noch legt man sich im diskursiven Denken notwendig auf die o.g. agnostische Konklusion (4) fest.24 Grob gesprochen führt Hegel dazu zwei Daher müssen auch aposteriorische Gottesbeweise für Jacobi zum Scheitern verurteilt sein. Einen ähnlichen Einwand formuliert auch Kant gegen das kosmologische Argument. Näheres dazu unten in Abschn. II.2.2 und II.2.4. 21 „Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Dasein dieselbige [„Vorstellung“, W.L.], ja noch eine größere Gewißheit, als wir von unserem bedingten Dasein haben.“ (SP, S. 423 f./153) Vgl. Hegels Rekonstruktion in Enz. § 63, GW 20, S. 102. 22 Vgl. SP, S. 428f/157 f. B. Sandkaulen bemerkt hierzu: „Nirgends sonst als in unserem Handlungsbewusstsein, nämlich insofern wir trotz unseres Eingelassenseins in die Zusammenhänge der Natur in der Überzeugung eines freien ursächlichen Anfangenkönnens handeln, erschließt sich uns auch die metaphysische Dimension eines schlechthin unbedingten Anfangs überhaupt.“ (S 2009, S. 271) 23 Zu Hegels Kritik an der Form direkter Beweise vgl. unten II.2.4 und zum ,impliziten Wissen‘ ferner III.2. B. Sandkaulen weist selbst auf jacobische Elemente im Denken des frühen Hegels hin. Vgl. S 2009, S. 267. 24 Vgl. die Zusammenfassung seiner Kritik in Enz. § 75, GW 20, S. 114 f. Eine hervorragende Übersicht und Einteilung der Einwandtypen in der Dritten Stellung des Denkens zur Objektivität findet sich in H 2002, S. 279–281. Im Folgenden konzentriere ich mich auf
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Gruppen von Einwänden an, die entweder die Korrektheit der kritischen und konstruktiven Aussagen Jacobis direkt angreifen oder auf deren falsche bis inakzeptable Konsequenzen hinweisen. Im Folgenden werde ich jeder Gruppe jeweils denjenigen Einwand entnehmen, der sich als besonders vielversprechend und instruktiv erweist. Unabhängig vom Hegeltext könnte man zunächst allgemein fragen, wie plausibel Jacobis Prinzip des Begreifens ist, das in der stärksten Fassung jedes Verstehen einer Sache von deren möglicher Reproduzierbarkeit abhängig zu machen scheint. Wenn ich etwa mit Hegel eingesehen habe, dass sich erkenntnisfähiges Leben dadurch auszeichnet, auf die Bildung ,vernünftiger‘ und ,wahrer‘ ,Gedanken‘ ausgerichtet zu sein,25 habe ich verstanden, was es heißt ,Geist‘ zu sein, oder zumindest etwas Wesentliches davon erfasst. Wozu muss ich dann aber – mit Jacobis Prinzip gesprochen – seinen „Mechanismus […] entdeckt haben“, um ihn damit, „wenn die Mittel selbst in unsern Händen sind, auch hervor[zu]bringen“ (SP, S. 424/153)? Wohlwollender gelesen müsste das Prinzip dann eher bedeuten, dass wir uns als geistige Lebewesen erst dann verstehen können, wenn wir uns selbst aus der eingenommenen Vollzugsperspektive verstehen, die dann auch einen drittpersonalen, wissenschaftlich-technischen Umgang mit der Welt ermöglicht.26 Urteile ich z.B. selbstbewusst, dass ich als geistiges Wesen wesentlich „wissende Wahrheit“ (Enz. § 439, GW 20, S. 434) bin, dann expliziert der Urteilsakt performativ diese Aussage und schafft damit gewissermaßen erst die Tatsache, die durch die Aussage ausgedrückt wird.27 Eine solche Lesart28 scheitert aber spätestens an Entitäten, deren kategoriale Eigenschaften ein ,Begreifen‘ in diesem Sinne unmöglich macht, wie dies z.B. bei mathematischen und logischen Wahrheiten der Fall ist. Jacobi scheint nun selbst eine Lösung dafür zu bieten, wenn er andeutet, dass für das Verständnis wesentlich die Ausführung der jeweiligen Erkenntnispraxis relevant ist, in der dann die ihr eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten eingesehen werden.29 Es mag nun zwar plausibel klingen, dass etwa die modus die Einwände in Enz. §§ 66–74, GW 20, S. 107–114. Zu den Inkonsistenzvorwürfen in Enz. § 63A vgl. H 2002, S. 284–297. 25 Vgl. oben I.2.1. 26 Vgl. S 2009, S. 268 f. 27 Daraus lässt sich dann mit J.N. Findlay der aktivische und selbstexplikative Charakter geistigen Lebens erläutern: „For Hegel the spiritual ,I‘ of self-consciousness must be conceived, not as a Substance, but as a Subject, by which he means that it must not be looked on as something antecedently there, from which certain activities spring, and on which these activities throw light. It cannot, in fact, be separated from its conscious and self-conscious activities: it may, paradoxically, be said to ,constitute‘ or to ,posit‘ itself in them.“ (F 1958, S. 40) Vgl. V 1988b, S. 25 f. 28 Wie sich gleich zeigen wird, werden in dieser Aussage Jacobis Prinzipien und Konklusionen schwächer aufgefasst, als er sie vermutlich selbst verstehen würde, weil sie zumindest unterstellt, implizites Handlungswissen ließe sich in basale Urteile übersetzen. Vgl. allerdings S 2009, S. 264 und 269. 29 „So begreifen wir […] die syllogistischen Formeln, wenn wir die Gesetze, welchen der Menschliche Verstand im Urteilen und Schließen unterworfen ist, seine Physik, seinen Mechanismus wirklich erkannt haben […].“ (SP, S. 419/149 Fn.)
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5. Typen der Basalitätsthese
ponens-Regel erst dann wirklich nachvollziehbar und praktikabel wird, wenn man sie tatsächlich schon einmal bewusst angewendet hat. Inferentielle Akte fallen aber in ein Zeitintervall und sind logisch kontingent, während von der Schlussregel das genaue Gegenteil gilt.30 Und da Notwendigkeit, Überzeitlichkeit und Universalität zum modus ponens wesentlich gehört, kann die Ausübung inferentieller Fähigkeiten allein weder diese Tatsache erst hervorbringen noch unter allen Umständen einsichtig machen. Die kausale Ordnung von Ereignissen und Akten ist nicht immer identisch mit der logischen Ordnung von Aussagen und es ist daher alles andere als ersichtlich, dass man Gottes kausale und ontologische Unabhängigkeit direkt durch einen Schluss auf seine Existenz negieren muss.31 Zudem sind mögliche Gottesbeweise nicht auf Schlüsse aus der Existenz von Kontingentem beschränkt.32 Aufgrund seiner Verteidigung des ontologischen Arguments in der Enzyklopädie, die der Jacobi-Kritik vorausgeht, wäre es für Hegel daher naheliegend, etwa dessen modale Variante als ein Gegenbeispiel zum o.g. Erkenntnisprinzip (1) heranzuziehen. Als Hauptprämisse setzt dieses keinerlei Aussagen über Bedingtes, sondern nur die metaphysische Möglichkeit der Existenz Gottes voraus und macht daher scheinbar gar keinen inferentiellen Übergang vom Bedingten zum Absoluten.33 Hegel selbst vertritt aber die stärkere These, dass sich das eingangs genannte Erkenntnisprinzip (1) bei genauerem Blick als inkohärent erweist – auch und vor allem dann, wenn man das Unmittelbare bzw. Unbedingte davon abschirmen möchte.34 Hegel schreibt: Dem Besondern gibt die Form der Unmittelbarkeit die Bestimmung zu seyn, sich auf sich zu beziehen. Das Besondere ist aber eben diß, sich auf Anderes außer ihm zu beziehen; durch jene Form wird das Endliche als absolut gesetzt. (Enz. § 74, GW 20, S. 114)
Hegels Aussagen sind zwar selbst ambig, weil nicht immer klar wird, ob er ,Vermittlung‘ hier logisch oder ontologisch versteht. In beiden Hinsichten gelesen 30 Ebd., S. 414 f./145 f. meint Jacobi, der Schein der Notwendigkeit von Kausalbeziehungen entstehe dadurch, indem man das Kausalprinzip unabhängig vom Handlungskontext als analytische Wahrheit formuliert. Ebd., S. 237–239/231–233 Fn. vertritt er die weitergehende These, dass dasselbe auch für geometrische Aussagen gelten soll. Damit schränkt er alle Formen der Notwendigkeit auf die logische Notwendigkeit in analytischen Aussagen ein und vertritt damit noch eine radikalere Position als Kant, die sich schon mit guten Gründen bestreiten lässt. Vgl. unten II.2.6. 31 In den Gottesbeweisvorlesungen weist Hegel auf die klassische Unterscheidung zwischen ordo essendi und ordo probandi und deren Gegenläufigkeit in aposteriorischen Argumenten hin. Vgl. GVL, GW 18, S. 289 f. und H 1987, Band 1, S. 190 f. 32 Vgl. Enz. § 50, GW 20, S. 86, wo Hegel auf propter quid-Beweise hinweist. Vgl. hierzu Kap. II.4.1. 33 Vgl. hierzu etwa P/R 2018, S. 29 f. und zur leibnizianischen Fassung A 1994, Chap. 5. Hegel diskutiert allerdings in den entscheidenden Passagen hauptsächlich die anselmianische Variante des Arguments zusammen mit der cartesischen und spinozianischen. Vgl. dazu auch unten II.4.2. 34 Vgl. zum Folgenden auch H 2002, S. 302–304.
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scheint sein Hauptvorbehalt aber darin zu liegen, dass die vollständige Isolation des Unbedingten vom Bedingten eigentlich nur dann durchführbar ist, wenn der ganze Bereich des Bedingten wiederum als selbstständig und damit als unvermittelt durch anderes verstanden wird.35 Sieht man allerdings, dass selbst in der unendlichen Summierung des Bedingten keineswegs die kategoriale Bestimmung des Bedingtseins durch anderes verschwindet, dann folgt zum einen die Inkonsistenz der angenommenen Isolation der beiden genannten Bereiche. Zum anderen deutet gerade deren Selbstaufhebung unter negativen Vorzeichen an, warum der ganze Bereich des Endlichen nicht ohne ein von ihm unterschiedenes und ungetrenntes Absolutes existieren kann.36 Die echte „Einsicht“ in den „Inhalt“ dessen, was es heißt, bedingt bzw. endlich zu sein, zeigt daher für Hegel, „daß er nicht selbstständig, sondern durch ein Anderes vermittelt ist“, und dies „setzt ihn auf seine Endlichkeit und Unwahrheit herab“ (ebd.). Im Nachweis der Selbstaufhebung der Annahme der Unabhängigkeit des Endlichen sieht man dann aber zugleich ein, was es nun heißt, unbedingt und unvermittelt zu sein. So gewinnt man darin ein Wissen um das Wesen des Unbedingten, das offenbar das Resultat einer Schlussfolgerung ist, die vom Unbedingten selbst ermöglicht wird.37 Anders formuliert: In Jacobis Verabsolutierung und Universalisierung der endlichen Vermittlung zeigt sich ein möglicher Weg, wie sich „in der Vermittlung diese Vermittlung selbst aufheb[t]“ (Enz. 75, GW 20, S. 115)38 und wie man dar35 K. Westphal weist darauf hin, dass für Hegel die Identität endlicher Einzeldinge eine holistische Eigenschaft darstellt. Vgl. W 1989, S. 146–148. Als Einwand gegen das ,unmittelbare Wissen‘ als subjektseitiges Gegenstück müsste man dann aber Jacobi einen „ontological atomism“ (ebd., S. 146) unterstellen, den aber das o.g. Erkenntnisprinzip (1) gerade zu bestreiten scheint. 36 Damit ergibt sich eine Erläuterung der folgenden Bemerkung Jacobis: „Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu teilen, und finde daß sein Bewußtsein aus zwei ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt ist. Beide sind unzertrennlich mit einander verknüpft, doch so, daß die Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt, und in dieser nur gegeben werden kann.“ (SP, S. 423/152) 37 Da die Selbstaufhebung nur durch das Unbedingte einsichtig wird, meint Hegel, dass sich das Unbedingte in der Einsicht in diese Selbstaufhebung ,mit sich selbst vermittelt‘: „Solche Einsicht, weil der Inhalt die Vermittlung mit sich führt, ist ein Wissen, welches Vermittlung enthält. Für das Wahre aber kann nur ein Inhalt erkannt werden, in so fern er nicht mit einem Andern vermittelt, nicht endlich ist, also mit sich selbst vermittelt, und so in Eins Vermittlung und unmittelbare Beziehung auf sich selbst.“ (Enz. § 74, GW 20, S. 114; vgl. Enz. § 69, GW 20, S. 110 und VPR 3, S. 304) Weil dies für Hegel der Fall ist, lässt sich auch ein negatives Argument in die andere Richtung formulieren, indem man hypothetisch das Unbedingte vom Bedingten isoliert und damit ,abstrakt‘ auffasst. Vgl. Enz. § 74, GW 20, S. 114. 38 In der Jacobi-Rezension fasst Hegel diese zweite Vermittlung als eine vermittelte Erkenntnis höherer Stufe auf, die die Selbstaufhebung des Erkenntnisprinzips (1) zum Inhalt hat: „Dies zweyte Erkennen ist daher einerseits selbst vermittelt, denn es ist wesentlich auf jenes erste Erkennen bezogen, hat dasselbe zu seiner Voraussetzung und Gegenstande; andererseits ist es Aufheben jenes ersten Erkennens; – also […] ein Vermitteln, welches Aufhebung der Vermittlung ist […]. Das Erkennen, als Aufheben der Vermittlung, ist eben damit unmittelbares Erkennen […].“ (GW 15, S. 12)
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5. Typen der Basalitätsthese
über einen inferentiellen Zugang zum Unvermittelten gewinnt, den das o.g. Erkenntnisprinzip (1) gerade blockieren möchte. Mit diesem allgemeinen Versuch, Jacobis Prinzipien gegen sich selbst zu kehren, deuten sich schon Hegels kategorientheoretische Überlegungen an, auf die unten in II.2.5 noch ausführlicher eingegangen wird. Selbst wenn man nicht jedem der argumentativen Züge folgen kann, so weisen sie zumindest darauf hin, dass Jacobis Erkenntnisprinzip zu einer Auffassung von Beweisen führt, für die sich leicht Gegenbeispiele anführen lassen: Ein kosmologisches Argument, das etwa vom Kontingenten auf das metaphysisch Notwendige schließt, macht nicht etwa letzteres vom ersteren ontologisch ,abhängig‘, sondern zeigt gerade im inferentiellen Übergang zum Unbedingten die Abhängigkeit des Kontingenten auf.39 Doch selbst unter der Voraussetzung, dass die bislang geäußerten Vorbehalte haltlos wären, lassen sich Jacobis Prämissen kaum aufrechterhalten. Betrachtet man nämlich das Prinzip des Begreifens in der Opposition zu dem alternativen Zugang zur Welt und zu Gott, den wir in der unmittelbaren Selbstgewissheit der Handlungspraxis besitzen sollen, dann scheint dies drastische Konsequenzen für das zu haben, was hierin überhaupt erschlossen werden kann. Jacobis Prinzip formuliert ja eine globale These, was geleistet werden muss, damit wir erkennen, warum eine Sache so-und-so ist oder sein kann. Seine Pointe soll es aber gerade sein, dass ein solches propositionsförmiges Erkennen durch die unmittelbare Gewissheit ermöglicht wird und diese daher nicht selbst in dessen Skopus fällt.40 Dies scheint aber zur Folge zu haben, dass das, was in ihr erschlossen wird, schon aus prinzipiellen Gründen nicht in die inhaltliche Bestimmtheit von Aussagen übersetzt werden kann. Hegel schlussfolgert daher kurz und knapp: „Endlich soll das unmittelbare Wissen von Gott sich nur darauf erstrecken, daß Gott ist, nicht was Gott ist; denn das letztere würde eine Erkenntniß seyn und auf vermitteltes Wissen führen.“ (Enz. § 73, GW 20, S. 113) Ist diese Konklusion korrekt, dann scheint eine Lesart Jacobis schon prinzipiell verkehrt, die seine Rede von ,unmittelbarer Gewissheit‘ schwächer als eine epistemisch basale, aber dennoch propositionale Form der Überzeugung interpretiert. Obwohl sich einige Aussagen Jacobis in diese Richtung deuten lassen,41 39 Vgl. GVL, GW 18, S. 290. Hegel nimmt Jacobis Einwände dennoch so ernst, dass er sie selbst meta-theoretischer Hinsicht mit Bezug auf die allgemeine Form direkter Beweise reformuliert. Vgl. unten Abschn. II.2.4. 40 Anders als die cartesische Form des Fundamentalismus, die – so Hegel – „von […] unbewiesenen und unbeweisbar angenommenen Voraussetzungen fort zu weiterer entwickelter Erkenntniß“ (Enz. § 77, GW 20, S. 116) übergehe, sind Schlussfolgerungen aus der jacobischen unmittelbaren Gewissheit daher aufgrund des Ausschlusses diskursiven Denkens per se unmöglich. Jacobi „verlangt“ daher „an das Bewußtseyn von Gott, daß es bei jenem und zwar ganz abstracten Glauben stehen bleibe.“ (ebd., S. 117) 41 B. Sandkaulen vergleicht etwa SP, S. 215 f./210 f. mit Aristoteles’ Hinweis auf die Inkonsistenz der Annahme, dass jede Behauptung in direkten, deduktiven Argumenten bewiesen werden muss (vgl. S 2009, S. 264; und Enz. § 76, GW 20, S. 115), meint aber,
5.1 F.H. Jacobis starke Basalitätsthese
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scheinen seine Erkenntnisprinzipien ihn auf die o.g. Konsequenzen festzulegen. Sie bestehen dabei nicht nur darin, dass es einen vorpropositionalen Zugang zur Welt und zu Gott in unserem impliziten Handlungswissen gibt, das auch Hegel kennt. Vielmehr soll und kann dies offenbar nur im Ausschluss von diskursivem Erkennen gedacht werden und es ist gerade das strikt disjunktive „Entweder – Oder“ (Enz. § 64, GW 20, S. 106), das Hegel für falsch hält.42 Im Falle unserer Gewissheit von Gott würde dann nämlich folgen, dass „Gott als Gegenstand der Religion ausdrücklich auf den Gott überhaupt, auf das unbestimmte Uebersinnliche beschränkt, und die Religion […] in ihrem Inhalt auf ihr minimum [Hervorhebung im Original fett, W.L.] reducirt [ist]“ (Enz. § 73, GW 20, S. 113).43 Mit der These, dass unsere ,Gewissheit‘ nicht in inhaltliche Aussagen übersetzbar ist, hätte man diese zwar von unserer inferentiellen Praxis gänzlich abgeschirmt und insofern von möglichen Einwänden und Gründen unabhängig gemacht, aber eben nur unter der Annahme, dass sie überhaupt keine Erkenntnis darstellen kann.44 Damit würde Jacobis These vom „Für-wahr-halten ohne Gründe“45 lediglich eine Spielart des Non-Kognitivismus darstellen und müsste sich damit zumindest den Einwänden stellen, die oben in Kap. I.4 mit Hegel entwickelt wurden. Darüber hinaus ist kaum ersichtlich, wie ein vom diskursiven Denken isolierter Zugang zu Gott überhaupt die religiöse Praxis als solche ermöglichen kann, aus deren Perspektive heraus Gottes Existenz ,unmittelbar gewiss‘ sein soll. Es sind ja gerade Aussagen über Gott, die von gläubigen Personen als Gründe angeführt werden können, wenn sie danach gefragt werden, warum
Jacobi lege sich nicht auf eine Art des epistemologischen Fundamentalismus fest, weil „Jacobi die Evidenzbasis nicht innerhalb der Erkenntnis sucht.“ (S 2009, S. 269) 42 Zur exegetischen Korrektheit dieser Diagnose vgl. H 2002, S. 302 und S 2010, S. 169. 43 Genau genommen ist es nach Hegel unter Jacobis Prämissen nicht einmal möglich, diesen Schritt zu gehen. Denn das würde – so Hegel im Kolleg von 1824 – eine Abstraktionsleistung voraussetzen, die in der Konsequenz zumindest an den allgemeinsten Bestimmungen festhalten müsste, unter denen ,Gott überhaupt‘ ein möglicher Referenzgegenstand sein kann. Bspw. müsste er mind. triviale Selbstidentität bzw. „Beziehung auf sich“ (VPR 3, S. 171) besitzen und damit prinzipiell bestimmungsfähig sein, um von ihm überhaupt ,sagen‘ zu können: „[E]r ist.“(ebd.) Ein solcher Zug ist aber ein Schluss auf generellste Eigenschaften und damit ein Fall von diskursivem Denken: „Indem man schließt, fängt man von besonderen unterschiedenen Stoffen und Bestimmungen an und verwandelt sie in Allgemeines; es ist vermittelndes Denken, aber das bloß Allgemeine, unbestimmt Allgemeine ist sein unmittelbares Produkt“ (ebd.). Daher gilt für Hegel: „Es ist die größte Unwissenheit, wenn man glaubt, das unmittelbare Wissen sei außer der Region des Denkens“ (ebd., S. 173). 44 Hegel unterscheidet in diesem Sinne in den Kollegien von 1824 und 1827 diesen Typ ,unmittelbarer Gewissheit‘ von der echten Erkenntnis des Wahren in seiner Notwendigkeit (vgl. VPR 3, S. 168 f. und 283) und von der schwächeren Form des Erkennens in der ,Anschauung‘ (vgl. ebd., S. 305). 45 S 2009, S. 264. Bei Jacobi heißt es: „Dieses führt zu dem Begriffe einer unmittelbaren Gewißheit, welche nicht allein keiner Gründe bedarf, sondern schlechterdings alle Gründe ausschließt“ (SP, S. 215/210).
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5. Typen der Basalitätsthese
sie ihr Leben genau in dieser Weise führen.46 Hätte Jacobi Recht, könnte eine solche Begründung nicht einmal in der kürzesten, enthymematischen Form geäußert werden und dies aufgrund des Umstands, dass mentale Zustände ohne propositional gegliederten Gehalt überhaupt keine Inferenzen erlauben.47 In der Konsequenz würde man aber damit vermutlich nicht einmal dem Erleben der einfachsten Alltagshandlungen gerecht werden können: Gehe ich bei Anbruch der Nacht zum Lichtschalter, dann in der Erwartung, dass, wenn ich ihn betätige, das Licht im Zimmer angehen wird. Dabei gibt es keinerlei prinzipielle Hürden für mich, die befolgte Regel in eine generelle Aussage mit dem groben Schema: ,F-tun ist ein Mittel M, um ein Resultat R zu erreichen‘ zu übersetzen. Unter Jacobis Prämissen würde mit dem Wechsel von der erst- zur drittpersonalen Perspektive hingegen ein Erklärungsanspruch eingegangen werden, der meine Erfahrung als freier Akteur und mit ihr deren teleologische Dimension zerstören würde. Eine solche Schlussfolgerung scheint aber nicht nur einer plausiblen phänomenologischen Beschreibung von Handlungen zu widersprechen. Sie könnte dann auch nicht mehr als ein Einwand gegen die These angeführt werden, Kausalität würde sich in der rein mechanischen Verursachung von Ereignissen erschöpfen.48 Denn damit würde man voraussetzen, das Erleben in der Vollzugsperspektive in deskriptiven Gegenbehauptungen ausdrücken zu können. Will man also Jacobis Einsicht gerecht werden, mithilfe unserer Handlungserfahrung berechtigte Einsprüche gegen zu restriktive und mechanistisch verkürzte Analysen des Kausalitätsbegriffs zu erheben, dann tut man gut daran, die non-kognitivistischen Konsequenzen von Jacobis Ansatz zu vermeiden und stattdessen diese Annahmen direkt anzugreifen.49 Ein solcher Weg wird frei, wenn man sich mit Hegel von den Prämissen befreit, die die Isolation unserer praktischen Selbstgewissheit von unserer diskursiven Erkenntnispraxis unvermeidlich werden lassen.
46 Vgl. oben Abschn. I.1.2. Eine einfache traditionelle Begründung wäre beispielsweise: ,Ich nehme an Gottesdiensten teil, weil Gott als allgütiger Schöpfer Verehrung verdient.‘ Hegel weist explizit auf revisionäre Konsequenzen von Jacobis Thesen für die religiöse Praxis hin. Vgl. Enz. § 71 f., GW 20, S. 111–113 und hierzu H 2002, S. 312–315. 47 Chr. Halbig und M. Quante argumentieren in diesem Sinne für die These, dass Jacobi sich letztlich auf eine Variante des ,Mythos des Gegebenen‘ festlegt. Vgl. H 2002, S. 286–288; . 2005, S. 270 und Q 2011, S. 49 f. 48 Jacobi scheint im Rückgriff auf Spinoza zu unterstellen, die Leugnung von Finalkausalität und die fatalistischen Konsequenzen würden schon direkt aus dem „Uralte[n]: a nihilo nihil fit“ (SP, S. 24/56) folgen. Das Argument scheint aber schlecht zirkulär, weil es schon die Annahme voraussetzt, dass Effizienzkausalität per se keinerlei teleologische Dimension besitzt. Die gegenteilige Auffassung schreibt Jacobi in der VII. Beilage „den trüben Zeiten scholastischer Alleinherrschaft“ (ebd., S. 403/132) zu, die allerdings mit diesem Hinweis keineswegs systematisch erledigt ist. Vgl. u.a. O 2017. 49 Entsprechend versucht Hegel gerade den Nachweis zu leisten, dass ein vollständig mechanistisches Weltbild nicht einmal konsistent vertreten werden kann. Vgl. unten Abschn. II.3.3.
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
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5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese Das Ergebnis des letzten Abschnitts schließt nicht aus, dass nicht auch schwächere Varianten der Basalitätsthese vertretbar wären. Wie eingangs schon erwähnt, findet sich in A. Plantingas einflussreicher Epistemologie des Gottesglaubens eine weitere, besonders vielversprechende Antwort auf den evidentialistischen Einwand. Ein Vergleich zwischen beiden Positionen bietet sich dabei schon deshalb an, weil sein Ansatz bereits in den Grundprämissen gegen die oben entwickelten Einwände immun zu sein scheint. Anders als Jacobi verzichtet Plantinga nämlich auf eine Art apriorischen Unmöglichkeitsnachweis der diskursiven Gottesrede und hält den klassischen Ansatz der natürlichen Theologie prinzipiell für ein sinnvolles Unterfangen, selbst wenn diese für ihn nicht in der Lage ist, Beweise für Glaubensinhalte im strikten Sinne des Worts zu liefern.50 In anderer Hinsicht ist für Plantinga natürliche Theologie sogar unverzichtbar, da er – wiederum im Unterschied zu Jacobi – nicht der Meinung ist, religiöse Überzeugungen erhielten ihre Berechtigung allein durch die Gewissheit eines unmittelbaren Handlungswissens. Vielmehr geht er davon aus, dass Personen in (fast) allen ihren Überzeugungen fallibel sind und religiöser Glaube auch keine Ausnahme bildet.51 Der natürlichen Theologie kommt daher zumindest die Rolle der Verteidigerin zu, die bei Plantinga mit komplexen epistemologischen Überlegungen zur Funktion sog. epistemischer defeater noch untermauert wird. Damit vermeidet er von vorneherein eine starke Opposition zwischen intuitivem und diskursivem Denken und legt sich auch nicht auf eine non-kognitivistische Deutung religiöser Rede fest. Vielmehr lehnt Plantinga solche Deutungen strikt ab und führt zudem plausible Argumente gegen die kantianisch inspirierte These an, Gott sei schon prinzipiell unerkennbar, sodass sich überhaupt kein epistemisches Rechtfertigungsproblem ergäbe.52 Aus dieser positiven Aneignung der natürlichen Theologie sollte man allerdings nicht schließen, dass Plantingas Verhältnis zur traditionellen philosophischen Gottesrede vollständig ungebrochen wäre. Vielmehr glaubt er, dass v.a. in ihre frühneuzeitliche Form epistemologische Annahmen eingeflossen sind,53 die dem Evidentialismus unnötige Zugeständnisse machen. Mithin gilt es, diese ge50 Vgl. etwa P 1991 und . 1992. Zu Plantingas Einschätzung der Rolle und der Güte theistischer Argumente vgl. ferner bes. . 2007, S. 203–209. 51 In WPF, S. 41 vermutet Plantinga allerdings, dass etwa Meinungen über die eigenen okkurrenten mentalen Zustände oder selbstevidente Wahrheiten infallibel sind. 52 Vgl. RBG, S. 18–20 und WCB, S. 7 f. Zur Kritik an Kants, Kaufmanns und Hicks theologischen Anti-Realismus vgl. insbesondere P 1980, S. 10–26 und WCB, Part I. 53 Der wichtige, von Plantinga anerkannte Unterschied zwischen der hochmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Form natürlicher Theologie liegt darin, dass erstere Existenzbeweise nur für den Aufbau der Theologie als scientia verlangt, die nach der aristotelischen Wissenschaftstheorie die Existenz ihres Gegenstandsbereich sichern muss. Daraus folgen aber keine epistemischen Pflichten für den Gottesglauben als solchem. Vgl. WCB, S. 82 Fn. 17 und hierzu allgemein bes. W 1986.
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5. Typen der Basalitätsthese
meinsamen Annahmen zunächst einer meta-epistemologischen Revision zu unterwerfen, bevor man dem Rechtfertigungsproblem mit einer eigenen konstruktiven Theorie begegnet. Plantingas Kritik am evidentialistischen Einwand Ganz im Sinne der o.g. Minimalkriterien der Basalitätsthese lässt sich Plantingas Antwort auf den Evidentialismus in einen destruktiven und einen konstruktiven Teil gliedern. Im destruktiven Teil führt Plantinga den evidentialistischen Einwand besonders auf zwei erkenntnistheoretische Annahmen zurück, deren Quellen er bei Locke und Descartes zu finden meint:54 (i) wird die Rede von ,Rechtfertigung‘ gewissermaßen wörtlich genommen und in diesem Sinne deontologisch gedeutet. Eine Überzeugung besitzt demnach genau dann Rechtfertigungsstatus, wenn die Person in ihrer Bildung keine relevanten epistemischen Pflichten verletzt. Positiv formuliert darf eine Person eine bestimmte Meinung, dass p, genau dann vertreten, wenn es zum Zweck des Wahrheitserwerbs und der Irrtumsvermeidung erlaubt ist, zu glauben, dass p.55 (ii) wird die Pflichterfüllung und -verletzung nach klassisch fundamentalistischen Kriterien bemessen. Ihnen zufolge liegen in den Fundamenten rationaler Überzeugungssysteme sog. angemessen oder richtigerweise basale Überzeugungen (= ,properly basic beliefs‘), auf denen dann alle anderen zumeist inferentiell gewonnenen Meinungen basieren sollten. Erstere Überzeugungsklasse teilt sich dann in der neuzeitlichen Auffassung in solche, die (a) selbstevidente Wahrheiten – wie ,2+2=4‘ – zum Inhalt haben oder (b) auf unkorrigierbaren Wahrnehmungserlebnissen beruhen.56 Wenn der religiöse Glaube keiner dieser Klassen angehört, ergibt sich die Schlüssigkeit des evidentialistischen Einwands. Denn dann besteht für jeden Gläubigen die Pflicht, für die Aufrechterhaltung ihrer Überzeugungen den Nachweis zu leisten, dass diese aus angemessen basalen, rationalen oder empirischen Meinungen deduktiv folgen oder zumindest durch sie höchstwahrscheinlich gestützt werden. Unter der Prämisse, ein solcher Nachweis sei nicht verfügbar, wäre daher eine radikale
54 Im Folgenden richte ich mich nach RBG, S. 47–59 und WCB, S. 81–92. L. Zagzebskis Kritik, dass insbesondere das erste Kriterium bei Descartes nicht auftaucht und bei Locke nicht als Wissenskriterium eingeführt wird (vgl. Z 1996, S. 33–35), ist für den hier vorliegenden Kontext nicht ausschlaggebend, da Locke deontologische Rechtfertigung sehr wohl als Norm zur Regulierung religiösen Glaubens heranzieht. Vgl. zitierte Stelle ebd., S. 33 f. 55 Wie Plantinga besonders in WCD, S. 15–25 ausführt, impliziert der Deontologismus unmittelbar eine internalistische Auffassung der Rechtfertigungsnorm. Denn man kann nur auf solche Normen verpflichtet werden, die für die jeweilige Person kognitiv zugänglich sind. Allerdings gilt keineswegs auch die Umkehrung wie Plantinga in WPF, S. 36–38 suggeriert. Vgl. Z 1996, S. 31–36. Wie wir gesehen haben, vertritt bspw. Hegel einen schwachen Internalismus, ohne sich auf die Rede von epistemischen Pflichten festzulegen. Vgl. oben I.2.2. 56 Vgl. RBG, S. 55–59 und WCB, S. 82–85.
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
115
Revision des eigenen Glaubenssystems im echten Sinne geboten, um Verletzungen epistemischer Pflichten zu vermeiden. Plantinga hält diesen epistemologischen Rahmen nun aus mehreren Gründen für unhaltbar:57 Erstens lässt sich schon die deontologische Analyse des Rechtfertigungsbegriff von Descartes und Locke bezweifeln.58 Gilt für Pflichten im Allgemeinen Kants Prinzip ,Sollen impliziert Können‘, dann folgt aus (i) direkt, dass Personen sich in freien Wahlakten dafür entscheiden können, was sie für richtig und für falsch halten. Eine direkte Verfügung über unsere Überzeugungsbildung ist uns aber – so Plantinga – unmöglich, wie schon einfache Suggestivfragen zeigen können.59 Zweitens ist der klassische Fundamentalismus nach Plantinga zu restriktiv. Aufgrund der genannten Kriterien dürfte gleich eine ganze Reihe von Überzeugungen – wie etwa Erinnerungsmeinungen oder Überzeugungen über Fremdpsychisches – nicht mehr ohne Argumente akzeptiert werden und vermutlich stehen für sie nicht einmal prinzipiell Argumente zur Verfügung.60 Drittens scheitert der klassische Fundamentalismus an der Selbstanwendung: Da er keineswegs selbstevident ist noch eine Wahrnehmungsmeinung darstellt und zudem weder induktiv noch deduktiv bewiesen wurde, ist er nach seinen eigenen Maßstäben ungerechtfertigt.61 Zudem ist zumindest fraglich, ob ein solcher deduktiver oder zumindest induktiver Nachweis prinzipiell gelingen kann, da womöglich dessen epistemologische Prämissen immer den genannten Standards zum Opfer fallen müssten. Für einen induktiven Nachweis wären bspw. höherstufige Meinungen über einzelne Elemente einer Auswahlmenge von Meinungen erforderlich, die nach den o.g. Kriterien entweder berechtigt oder unberechtigt basal wären. Und es ist nach Plantinga keineswegs einsichtig, dass diese Meinungen selbstevidente Überzeugungen aus rationaler Intuition darstellen.62
57
Vgl. hierzu RBG, S. 59–63 und WCB, S. 93–99. Plantinga greift damit allerdings nur den de facto vertretenen Voluntarismus von Descartes und Locke an, meint aber, der Deontologismus impliziere diesen nicht per se. Vgl. WCD, S. 23–25. 59 Plantinga nennt etwa Beispielfragen der Form: ,Würdest Du glauben, dass die Welt nur fünf Minuten alt ist, wenn ich Dir dafür eine Milliarde Dollar bieten würde?‘. Vgl. etwa WCD, S. 23 f. und WCB, S. 96. W. Alston argumentiert noch feiner, dass der doxastische Voluntarismus entweder unrealistisch ist oder dort, wo er tatsächlich zuzutreffen scheint, für die epistemische Rechtfertigung von Überzeugungen irrelevant ist. Vgl. A 1989b, S. 115–152. 60 Vgl. RBG, S. 59 f. und WCB, S. 97–99. Zur Bekräftigung dieses Arguments kann man hinzufügen, dass schon der bloße Versuch, bspw. den Rechtfertigungsstatus von Erinnerungsüberzeugungen zu beweisen, diesen selbst voraussetzt. Denn um überhaupt in der Lage zu sein, den entsprechenden Schluss zu ziehen, muss ich mich im nächsten Augenblick daran erinnern können, was ich schon als Prämissen akzeptiert habe. Dies wäre ein klassischer Fall der von Alston diagnostizierten ,epistemischen Zirkularität‘. Vgl. oben S. 62 f., Anm. 31. 61 Vgl. RBG, S. 60–62 und WCB, S. 94 f. 62 Dies wendet Plantinga mehrfach gegen Ph. Quinn ein. Vgl. P 1986, S. 299–302 und WCB, S. 95–97. 58
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5. Typen der Basalitätsthese
Gesetzt nun diese Einwände sind erfolgreich, dann lässt sich nach Plantinga ein bestimmter Typ von religiösen Überzeugungen nicht mehr als unberechtigt ausweisen, ohne einen Willkürverdacht auf sich zu ziehen. Im Rekurs auf Calvins Institutio nennt Plantinga in Reason and Belief in God folgende Beispiele: (1) „God is speaking to me“. (2) „God has created all this“. (3) „God disapproves of what I have done“. (4) „God forgives me“. (5) „God is to be thanked and praised.“63
Folgt man der Terminologie W. Alstons, dann handelt es sich hierbei um sog. manifestation-beliefs (im Folgenden = M-Überzeugungen).64 M-Überzeugungen werden in entsprechenden Umständen, womöglich aufgrund episodischer und u.U. nicht-sinnlicher Erlebnisse gebildet, in denen Gott dem Erfahrungssubjekt direkt oder indirekt präsent ist.65 Jede dieser Überzeugungen ist basal, weil sie nicht aufgrund anderer Überzeugungen akzeptiert werden. Sie sind aber ebenso wenig grundlos wie etwa Wahrnehmungsüberzeugungen, weil sie in einem ihnen angemessenen Umfeld gebildet wurden.66 Dazu gehört eine entsprechende kognitive Umwelt und eine Erfahrung, in der die jeweilige Proposition erstpersonal als richtig und unabweisbar erlebt wird.67 Da nach Plantingas Kritik als einziges Kriterium für die ohnehin strittige Rede von ,epistemischen Pflichten‘ nur noch das o.g. Ziel gerechtfertigter Meinungsbildung bleibt, so ist nicht einzusehen, inwiefern Gläubige diese verletzen sollten.68 Denn M-Überzeugungen dienen Gläubigen in der Regel der Wahrheitsfindung; und wenn sie sich ernsthaft mit Religionskritik auseinandergesetzt haben, diese aber in der gründlichen Abwägung letztlich für unplausibel halten, scheint ein Vorwurf der groben Pflichtverletzung nicht nachvollziehbar. Ohne eine höherstufige Rechtfertigung der entsprechenden Kriterien angemessener Basalität scheint eine Restriktion auf nicht-theistische Meinungstypen wie eine
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Alle Zitate stammen aus RBG, S. 81. Die Nummerierung der Aussagen stammt von mir,
W.L. 64 Vgl. A 1991, S. 1. Alston greift selbst auf seine Bezeichnung in seiner Diskussion von Plantingas Ansatz zurück. Vgl. A 1985, S. 290. 65 Vgl. zu den verschiedenen Typen von direkten und indirekten Quasi-Perzeptionen Gottes A 1991, S. 20–28. Alston weist allerdings darauf hin, dass nur Überzeugungen wie die o.g. Beispiele (2) und (3) auf indirekten bzw. direkten Präsenz-Erfahrungen beruhen können und dass sich Plantinga nicht darauf festlegt, dass sie es tun müssen. Vgl. ebd., S. 196 f. 66 Vgl. RBG, S. 81. Die Umstände müssen allerdings für Plantinga nicht unbedingt subjektseitig Präsenz-Erfahrungen genetisch bzw. rechtfertigungstheoretisch voraussetzen, wie sich gleich zeigen wird. Vgl. WCB, S. 180–182. 67 Vgl. ebd., S. 183. 68 Vgl. ebd., S. 99–101. Gestützt werden kann diese Argumentation m.E. durch Alstons Beispiele der ,kulturellen Isolation‘ und der ,kognitiven Defizienz‘ in A 1989b, S. 145–147.
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
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ad hoc-Maßnahme, die sich nach den obigen Überlegungen ohnehin direkt Paritätsargumente seitens der Theisten einhandelt. Selbst wenn man nun Plantingas Zweifel am klassischen Fundamentalismus teilt, wird man in hegelscher Perspektive seine konkreten Schlussfolgerungen nicht vollständig akzeptieren können: Plantinga hat zwar vermutlich darin recht, dass Gläubige nicht gleich jede beliebige Meinung in der Binnenperspektive als berechtigt ansehen müssen, wenn sie den modernen Fundamentalismus ablehnen. Es ist aber nicht klar, warum in der epistemologischen Theorieperspektive aufgrund der übrigbleibenden losen Kriterien nicht prinzipiell jede Überzeugung als angemessen basal angesehen werden könnte.69 Auf diesen Einwand reagiert Plantinga mit dem konstruktiven Teil seiner Religionsepistemologie, der im Laufe seiner Entwicklung zwei verschiedene Formen annimmt: In Reason and Belief in God schlägt er zunächst eine induktive Begründung der Kriterien für berechtigte Basalität vor. Nach dem Modell enumerativer Hypothesenbildung besteht sie in der Bildung einer Menge positiver und negativer Daten, mit deren Hilfe die Vorhersagen in Form hypothetischer Allsätze über berechtigte und unberechtigte basale Meinungen getestet werden sollen.70 Die Schwierigkeiten dieses von Plantinga nicht weiter ausgeführten Vorschlags sind schon früh besonders von Ph. Quinn beanstandet worden.71 Da sie sich diese Einwände in instruktiver Weise mit Hegels Jacobi-Kritik stützen lassen, soll darauf ein kurzer Blick geworfen werden. Wohl aufgrund seiner Vorbehalte gegenüber Erkenntnistheorien, die Rechtfertigungsbedingungen von oben zu diktieren scheinen, geht Plantinga davon aus, dass jede Gemeinschaft von Gläubigen und Anders- bzw. Nicht-Gläubigen zunächst selbst für ihre Datenmenge verantwortlich sein sollte. Da aber nicht alle Mitglieder immer dazu bereit und in der Lage sind, die eigenen fundamentalen Meinungen erkenntnistheoretisch zu reflektieren, müsste jede Gemeinschaft jeweils ihre eigenen Epistemologen rekrutieren, die dann aufgrund eigener und fremder Zeugnisse ihre Basismenge entwickeln und daran ihre Hypothesen überprüfen. Woher soll aber wiederum die Forschergruppe wissen, welche Meinungen in dieser Hinsicht als positiv oder negativ gewertet werden müssen, wenn die leitenden Normen für die Gläubigen eben nicht immer transparent sind und schon gar nicht von allen Menschen geteilt werden? Zudem gibt Plantinga selbst zu bedenken, dass höherstufige Aussagen über Normen berechtigter Basalität in 69 In diesem Sinne lässt sich etwa die sog. ,Great Pumpkin Objection‘ reformulieren. Vgl. v.a. RBG, S. 74–78 und WCB, S. 342–351. Eine ausführliche Diskussion der wichtigsten Fassungen dieses Einwands findet sich in W 2015, S. 93–100. 70 In Plantingas Worten: „[T]he proper way to arrive to arrive at such a criterion is […] inductive. We must assemble examples of beliefs and conditions such that the former are obviously properly basic in the latter, and examples of beliefs and conditions such that the former are obviously not properly basic in the latter. We must then frame hypotheses as to the necessary and sufficient conditions of proper basicality and test these hypotheses by reference to those examples.“ (RBG, S. 76) 71 Vgl. besonders Q 1985.
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5. Typen der Basalitätsthese
der Theorieperspektive keineswegs selbstevident sind.72 In der Konsequenz scheint sich Plantinga auf eine Variante einer Position festzulegen, die Hegel bei Jacobi wiederzufinden meint: [W]eil nicht die Natur des Inhalts, sondern das Factum des Bewußtseyns als das Kriterium der Wahrheit aufgestellt wird, so ist das subjective Wissen, und die Versicherung, daß Ich in meinem Bewußtseyn einen gewissen Inhalt vorfinde, die Grundlage dessen, was als wahr ausgegeben wird. (Enz. § 71, GW 20, S. 111)
Zwar spricht Hegel hier in erster Linie von der propositionalen Korrektheit der jeweiligen Meinung bzw. der ontologischen Wahrheit von dessen Gehalt. Versteht man ,Wahrheit‘ als normatives Prädikat der Überzeugungsbildung selbst, die, wie in I.2.1 gezeigt wurde, im hegelschen Sinne ,vernünftig‘ sein sollte, dann lässt sich der Einwand für den vorliegenden Kontext in etwa wie folgt reformulieren: Wenn Annahmen über das, was für basale Meinungen gelten sollte, weder aus den Selbstzeugnissen der doxastischen Alltagspraxis folgen noch für sich selbst einleuchten, bleibt den jeweiligen theistischen oder atheistischen Erkenntnistheoretikern in der Konsequenz nur der Verweis auf die Tatsache, dass sie und ihre Gleichgesinnten den Gottesglauben oder sein konträres bzw. kontradiktorisches Gegenstück in sich ,vorfinden‘. Daraus ergibt sich nicht nur sofort ein Relativismus-Verdacht.73 Noch schwerer wiegt der Umstand, dass sich die jeweilige Gruppe von Theoretikern nicht einmal intendiert auf einen Relativismus zurückziehen könnte, wenn berechtigte Basalität zugleich eine Norm für Meinungen per se sein soll. Die Erklärung einer Gemeinschaft, dass ihre fundamentalen Überzeugungen epistemisch angemessen sind, enthält eben die Forderung, dass jede erkenntnisfähige Person sie unter denselben Umständen akzeptieren sollte.74 Damit scheint folgende hegelsche These über Jacobi, die man in die erste Person Plural übersetzen könnte, unvermeidlich: „Was Ich in meinem Bewußteyn vorfinde, wird dabey dazu gesteigert, in dem Bewußtseyn Aller sich vorzufinden und für die Natur des Bewußtseyns selbst ausgegeben.“ (ebd.) Diese Form der Verallgemeinerung ist aber in diesem Fall noch problematischer als herkömmliche Induktionsschlüsse auf empirische Allaussagen: Was hier gerechtfertigt werden soll, sind epistemologische Normsätze, die universal und deontisch notwendig gelten, während die herangezogene Datenmenge im Rückgang auf das faktische Vorliegen einzelner theistischer oder nicht-theistischer Meinungen gebildet wird.75 Da sich die internen Normen einer Sache für Hegel 72
Vgl. P 1986, S. 300–302. Zum Relativismus-Vorwurf vgl. Q 1985, S. 473. Eine analoge Konsequenz zieht auch Hegel aus dem oben zitierten Einwand gegen Jacobi. Vgl. Enz. § 72, GW 20, S. 113 und hierzu auch H 2002, S. 312–314. 74 Vgl. oben Abschn. I.2.2. Diese Schlussfolgerung folgt auch aus Hegels These, dass induktive Generalisierungen letztlich implizit ,kategorische‘ Urteile und Schlüsse über die Natur und die Propria der jeweiligen Entitäten zu ihrer Gültigkeit voraussetzen. Vgl. K 2013, S. 224–226. 75 Besonders aufgrund der unterschiedlichen Modalität der empirischen Basis und der 73
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
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aus dem ergeben, was diese jeweils spezifisch auszeichnet, müsste eine höherstufige Rechtfertigung vielmehr auf das rekurrieren, was rationaler Erkenntnisund Überzeugungsbildung eigentümlich ist. Nach Hegel müsste also „die Natur dieses Bewußtseyns […] selbst untersucht“ werden, wofür eine „mühsame Operation des Nachdenkens“ (Enz. § 71A, GW 20, S. 111)76 erforderlich wäre. Dem entspräche der in Kap. I.2 skizzierten reflexiven Rechtfertigung epistemischer Normen. In der Explikation epistemischer Normen muss man sich deshalb immer schon außerhalb der vorgeschlagenen Methode enumerativer Hypothesenbildung bewegen. Plantingas Neuansatz: Die Idee der Umkehr der Beweislasten Es ist nun bemerkenswert, dass Plantinga schon vor der Ausarbeitung seines Hauptwerks Warranted Christian Belief einen analogen Einwand antizipiert hat. In seiner Replik auf Quinn weist er etwa explizit darauf hin, dass in der Formulierung dessen, was als relevante epistemische Norm für basale Meinungen zählen kann, schon theoretische Intuitionen darüber einfließen, was denn nun menschliche Personen ihrem Wesen nach sind.77 Dieser Gedanke mag eine wesentliche Brücke zu Plantingas neuerer epistemologischer These gewesen sein, der zufolge sich die Güte einer basalen Überzeugung nicht ohne teleologische Kategorien verstehen lässt.78 Ähnlich wie Hegel geht er dabei davon aus, dass der positiv epistemische Status einer Überzeugung jeweils aus der Angemessenheit der Ausübung der Erkenntnisfähigkeiten erklärt werden muss, die die jeweilige Überzeugung hervorbringt. Und dies definiert sich nach Plantinga dadurch, ob die jeweilige Erkenntnisbildung auf zuverlässige Weise das den kognitiven Prozessen eigentümliche Ziel erreicht, das mindestens im Erwerb propositionaler Wahrheit besteht. Ebenso parallel zu Hegel meint Plantinga, dass sich aus diesem Grundgedanken eine hinreichende Analyse der Erfolgskriterien von Erkenntnisakten entwi-
normativen Konklusion steht die induktive Rechtfertigung von Normen sofort unter Zirkelverdacht, wie Chr. Illies hervorhebt: „[I]nduction fails as a suitable method because it cannot simply start from ,normative elements‘ without already applying a standard that allows the selection of some elements as good, some as bad, and others as neutral and hence irrelevant for the inductive process.“ (I 2003, S. 18 f.) 76 Das „Nachdenken“, in dem „das an- und für-sich Allgemeine […] allein herausgefunden werden kann“ (Enz. § 71, GW 20, S. 111), muss man als technischen Ausdruck für den reflexiv-explikativen Prozess der Begriffsentwicklung verstehen. Vgl. hierzu H 2002, S. 174–179. 77 „Here I should add that what I say about the proper way to arrive at criteria of proper basicality in R&BG needs supplementation and revision. For example, various constraints on such criteria may indeed be self evident; more important, there are theoretical constraints arising from one’s general philosophical views as to what sorts of beings human beings are.“ (P 1986, S. 313 Fn. 6) Vgl. ferner auch . 1992, S. 309 f. 78 Vgl. im Folgenden auch die Darstellung des Neuansatzes in L im Erscheinen b).
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ckeln lässt. Das heißt für ihn konkret, dass man mit dieser These das entscheidende analysans derjenigen Bedingung besitzt, deren Erfüllung eine beliebige wahre basale Meinung zu einem Fall von Wissen macht und die Plantinga mit dem technischen Ausdruck ,epistemic warrant‘79 benennt. Seinen Vorschlag, der das Resultat seiner detaillierten, kritischen Auseinandersetzungen alternativer Entwürfe ist, formuliert Plantinga in Warranted Christian Belief auch so: Put in a nutshell, then, a belief has warrant for a person S only if that belief is produced in S by cognitive faculties functioning properly (subject to no dysfunction) in a cognitive environment that is appropriate for S’s kind of cognitive faculties, according to a design plan that is successfully aimed at truth. We must add, furthermore, that when a belief meets these conditions and does enjoy warrant, the degree of warrant it enjoys depends on the strength of the belief, the firmness with which S holds it. (WCB, S. 156)
Im Zentrum dieser Analyse, die an Präzision und Begründungsaufwand Hegels Überlegungen zum Erkenntnisbegriff übersteigt, steht damit die teleologische Bedingung des kognitiven Designs.80 Mit dem Minimalkriterium der Wahrheitsausrichtung gibt es grob an, wann eine bestimmte kognitive Fähigkeit korrekt ausgeübt wird und welches Umfeld jeweils zu dieser Ausübung passend oder unpassend sein kann, das dann nach Art der Erkenntnisfähigkeit jeweils spezifiziert werden muss. Die Nähe und Ferne zu Hegels Erkenntnisbegriff wird uns gleich noch genauer beschäftigen. Hier reicht zunächst der Hinweis, dass aus Plantingas Rede vom epistemischen design plan direkt die Abhängigkeit der Analyse epistemischer Normen von allgemein- und speziell-metaphysischen Intuitionen folgt: Materialisten, Szientisten oder Atheisten werden auf Basis ihrer Selbst- und Weltauffassung andere Elemente in der Klasse ,gewährleisteter‘ wahrer Meinungen aufnehmen als Plantinga oder Hegel. Folglich müssen sie auch hinsichtlich der Funktion kognitiver Fähigkeiten und ihrer zweckgemäßen Umsetzung ganz andere Meinungen vertreten als Denker, die etwa das Wissen um Gott oder das Absolute als konstitutives Ziel menschlichen Lebens ansehen. Versteht man also epistemische Normen von der essentiellen Zielrichtung von epistemischen Prozessen her und ist die konkrete Auffassung solcher Ziele niemals vom jeweiligen Selbstbild rationaler Akteure zu trennen, dann verschiebt sich das Problem der epistemischen Angemessenheit des Gottesglaubens zu der Frage der Geltung und Wahrheit des jeweiligen metaphysischen Selbstverständnisses.81 In Plantingas Worten: 79 Im Folgenden greife ich der Einfachheit halber auf J. Schultes Übersetzung ,gewährleistet‘ zurück. Vgl. A. P, Gewährleisteter christlicher Glaube, übers. v. J. Schulte, Berlin/Boston 2015. 80 Vgl. zu den einzelnen Komponenten der Analyse bes. WPF, Chap. 1 und zur Übersicht auch WCB, S. 153–161. 81 W. Alston hat m.E. zu Recht darauf hingewiesen, dass bestimmte Typen dieser allgemeinen Abhängigkeitsthese zu Zirkelproblemen führen können, wenn man die höherstufige Frage nach der Berechtigung der metaphysischen bzw. theologischen Annahmen aufwirft. Vgl. A 2006. Zwar können Plantingas konditionale Aussagen dieses Problem entschärfen (vgl. ebd., S. 91 f.). Schwieriger wird es hingegen, wenn man zu den christlich-theologi-
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And so the dispute as to whether theistic belief is rational (warranted) can’t be settled just by attending to epistemological considerations; it is at bottom not merely an epistemological dispute, but an ontological or theological dispute. (ebd., S. 190)
In dieser These deutet sich direkt Plantingas generelle Antwort auf das Rechtfertigungsproblem an. Denn aus der These folgt direkt, dass jedem möglichen Einwand, der die Berechtigung theistischer Wissensansprüche bezweifelt, mit einer Beweislastumkehr begegnet werden kann: Bevor dem christlichen Glauben der warrant-Status verweigert werden kann, muss dann zunächst durch eine schlüssige atheistische Kritik dessen Falschheit nachgewiesen werden. Diesen Gedanken spitzt Plantinga in seinem bekannten rechtfertigungstheoretischen Bikonditional zu, demzufolge gilt: ([P]robably) Christian belief has warrant if and only if it is true, so that any argument for the conclusion that it lacks warrant will have to constitute an argument for the conclusion that it isn’t true.82
Obwohl Plantinga in Warranted Christian Belief hauptsächlich die Konditionalaussage begründet, dass der Gottesglaube genau unter der Bedingung seiner Wahrheit einen positiven epistemischen Status besitzt, zeigt ein kursorischer Blick auf sein Gesamtwerk, dass er letztlich für eine sehr viel stärkere Position argumentiert.83 Denn erstens ist er der Überzeugung, dass die naturalistische Alternative zum Theismus in mehrfacher Hinsicht eine selbstwidersprüchliche Theorieoption darstellt und daher bei genauerem Blick hier keine epistemische Parität zum Gottesglauben bestehen kann.84 Zweitens sprechen nach Plantinga für den Theismus gut zwei Dutzend gute Argumente, wenn diese auch, anders als angemessene basale Überzeugungen, für eine echte Gotteserkenntnis nicht hinreichend sind.85
schen Aussagen mit Plantinga auch proto-epistemologische Annahmen zählt, die, wie bspw. die Überzeugungen vom Gottesglauben als Wirkung und Zeugnis des Hl. Geistes, von Gläubigen selbst etwa auf Basis von Schriftstellen akzeptiert werden. Vgl. WCB, S. 283 und dazu allgemein unten III.5.5. Analoges gilt für die christlichen Aussagen über konträre Meinungen als Effekt der Erbsünde. Vgl. hierzu auch L im Erscheinen b). In beiden Fällen lässt sich Plantingas klare Differenzierung in theologische Sätze und in epistemologische Aussagen über deren Berechtigung nicht mehr aufrechterhalten und ein Zirkelvorwurf höherer Stufe scheint damit unvermeidlich. Zu weiteren Zirkelproblemen in Plantingas Ansatz vgl. auch W 2015, S. 87–93. 82 P 2001, S. 216. Vgl. auch WCB S. 186–190. 83 D. Schönecker hat daher zu Recht betont, dass man die Zielsetzungen von Plantingas Religionsepistemologie vom Kontext seines ganzen neueren Werks verstehen sollte. Vgl. S 2015, S. 34–38, bes. S. 36–38. Dies folgt m.E. schon aus Plantingas Thesen zum Zusammenhang zwischen Epistemologie und Metaphysik. 84 Eine hervorragende Zusammenstellung von Plantingas anti-naturalistischen Argumenten findet man in P/T 2008, S. 20–69. 85 Vgl. P 2007. Plantingas Skizzen der gut zwei Dutzend Argumente sind neuerdings von mehreren zeitgenössischen Religionsphilosophinnen und Religionsphilosophen umfänglich ausgearbeitet worden. Vgl. W/D (Hg.) 2018.
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5. Typen der Basalitätsthese
Da beide Aspekte in erster Linie für die philosophische Frage nach der richtigen Theoriewahl relevant ist und nicht unbedingt Plantingas Religionsepistemologie betreffen, werde ich mich im Folgenden nur auf letztere beziehen und deren Voraussetzungen kritisch beleuchten. Allgemein hängt der Erfolg von Plantingas Idee der Beweislastumkehr an mindestens drei Bedingungen:86 (1) muss gezeigt werden, ob und wie die epistemische ,Gewährleistung‘ des Theismus aus seiner Wahrheit folgt. Dies ergibt sich schon als allgemeine Forderung aus Plantingas grundlegender These der gegenseitigen Abhängigkeit von Epistemologie und Metaphysik. (2) muss Plantinga ein konkretes Modell für die warrantZuschreibung aufbieten, das nicht nur in einem weiten Sinne logisch, sondern seiner eigenen Auffassung nach auch epistemisch möglich ist. Dies bedeutet, dass es mit allem kompatibel sein muss, was wir für gesichertes Wissen halten dürfen. Daraus ergibt sich für Plantinga schließlich (3), dass sich der christliche Glaube trotz seiner Fallibilität gegen die wichtigsten Kandidaten anti-theistischer defeater verteidigen lassen muss. Im Folgenden sollen v.a. die ersten zwei Voraussetzungen in hegelscher Perspektive kritisch befragt werden. Dazu werde ich zunächst zeigen, dass Plantingas Argument für (1) an seinen allgemeinen metaphysischen Hintergrundannahmen scheitert. Daran anschließend werde ich dann gegen (2) argumentieren, dass Plantinga kein plausibles Modell theistischer Überzeugungsbildung vorlegt. Zum Abschluss werde ich in Abschnitt I.5.3 auf die Konsequenzen von Plantingas Ansatz für (3) eingehen und von dort aus generelle Rückschlüsse zu Hegels Verhältnis zur Basalitätsthese ziehen. Ad (1): Theismus, Design und positiver epistemischer Status Gemessen an der Tragweite der ersten Voraussetzung präsentiert Plantinga ein relativ knappes Argument, das er folgendermaßen zusammenfasst: [1] If it [= theism, W.L.] is true, then there is, indeed, such a person as God, a person who has created us in his image […], who loves us, who desires that we know and love him, and who is such that it is our end and good to know and love him. [2] But if these things are so, then he would of course intend that we be able to be aware of his presence and to know something about him. [3] And if that is so, the natural thing to think is that he created us in such a way that we would come to hold such true beliefs as that there is such a person as God, that he is our creator, […] and so on. [4] And if that is so, then the natural thing to think is that the cognitive processes that do produce belief in God are aimed by their designer at producing that belief. [5] But then the belief in question will be produced by cognitive faculties functioning properly according to a design plan successfully aimed at truth: [6] it will therefore have warrant.“ (WCB, S. 188 f.)
Plantingas Argumentationslinie scheint klar zu sein:87 Mit den ersten beiden Schritten behauptet er zunächst, dass, wenn der Theismus wahr ist, Gott in seiner 86 87
Ich orientiere mich hierbei an WCB, S. 168–170 und 325. Vgl. im Folgenden auch die hervorragende Rekonstruktion in W 2007, S. 420.
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Vollkommenheit existiert, die Gotteserkenntnis für uns der höchste Endzweck ist (= [1]) und dies daher auch von Gott aufgrund seiner Benevolenz und seines Wissens gewollt und beabsichtigt wird (= [2]). Daraus schließt er im Folgeschritt, dass unter dieser Bedingung Gott uns nicht nur mit der bloß logischen Möglichkeit der Gotteserkenntnis erschaffen (= [3]), sondern uns mit konkreten Fähigkeiten ausgestattet hat, die in ihrer Anlage so gestaltet sind, dass ihre korrekte Ausübung in den richtigen Umständen auf zuverlässige Weise Wissen um Gott in uns produziert (= [4]). Unter der Ausgangsvoraussetzung erfüllen daher einige menschliche Meinungen über Gott die warrant-Analyse (= [5]) und sind folglich – wenn der Theismus wahr ist – im starken Sinne epistemisch berechtigt (= [6]). An der Grundintuition dieser Argumentation scheint nun oberflächlich betrachtet in hegelscher Perspektive nichts auszusetzen zu sein. Trotz einiger bedeutender Differenzen im Details, bspw. in der Auffassung von Gottes Personalität,88 finden sich auch bei Hegel parallele Begründungsstränge, die aus der Existenz des Absoluten auf dessen Erkennbarkeit und Erkannt-Werden im Menschen schließen.89 Der Schein einer möglichen Einhelligkeit rührt zunächst daher, dass Plantinga in seinem Argument wenig darüber aussagt, in welcher Weise wir genau zur Gotteserkenntnis gelangen.90 Allerdings ergeben sich aus der vorausgesetzten warrant-Analyse einschränkende Bedingungen. Denn diese zeichnet in erster Linie basale Überzeugungen aus, deren epistemischer Wert sich nach der Weise ihrer Hervorbringung im Rahmen der Umsetzung der entsprechenden Erkenntnisvermögen bemisst. Nach dieser groben Richtlinie scheint es daher für Plantinga naheliegend, Meinungen wie M-Überzeugungen ins Zentrum der epistemologischen Überlegungen zu rücken. Konkreter gesprochen meint Plantinga, dass unser kognitiver design plan ein Vermögen enthält, das dafür sorgt, dass in angemessenen Umständen M-Überzeugungen (von den o.g. Typen) in uns gebildet werden, und das Plantinga im Anschluss an Calvin auch sensus divinitatis nennt.91 So soll etwa schon die einfache Betrachtung eines erhabenen oder schönen Naturschauspiels veranlassen können, dass der ,göttliche Sinn‘ in mir die Überzeugung hervorruft, dass ein allmächtiges und weises Wesen dies alles hervorgebracht haben muss. Unter der Voraussetzung des Theismus gilt dann, dass diese Fähigkeit aufgrund von Gottes Absichten und Macht auf die zuverlässige Produktion von wahren, theistischen Meinungen ausgerichtet wurde.92 88 Vgl. dazu auch unten Abschn. III.5.3. Zudem argumentiert Hegel – anders als Plantinga – nicht nur für die hohe Wahrscheinlichkeit, sondern die Notwendigkeit der Konklusion. Vgl. auch L im Erscheinen b). Auf die genaue Bedeutung von Hegels Schöpfungs-Nezessitarismus gehe ich unten in Abschn. III.5.4 näher ein. 89 Vgl. stellvertretend für viele Stellen Enz. § 564A, GW 20, S. 549 f. und VPR 3, S. 279. Eine kurze Rekonstruktion von Hegels Grundintuitionen gebe ich unten in Kap. III.1. 90 Vgl. zu diesem Punkt etwa W 2007, S. 424. 91 Vgl. im Folgenden besonders WCB, S. 170–179. Der Einfachheit halber sehe ich hier von der spezifisch christlichen Erweiterung von Plantingas Modell ab. 92 Plantingas Übernahmen von Calvin und Thomas v. Aquin haben – nebenbei bemerkt –
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5. Typen der Basalitätsthese
Plantingas Modell soll dabei vier Voraussetzungen erfüllen, die für ihn den Rahmen einer plausiblen Phänomenologie religiösen Erkennens bilden und die bei ihm in Anlehnung an Wahrnehmungs- und Erinnerungsmeinungen und anderen Typen basaler Überzeugungen entwickelt werden: (i) verfügen Gläubige in der spontanen Bildung von M-Überzeugungen in der Regel über kein höherstufiges Wissen über diese Überzeugungen und die ihnen zugrunde liegenden kognitiven Prozesse.93 Nach Plantingas rechtfertigungstheoretischem Externalismus ist es für das tatsächliche Erkennen nicht einmal erforderlich, dass deren Grundlage für die Gläubigen in einem schwachen Sinne kognitiv zugänglich ist. Als basale Meinungen werden M-Überzeugungen (ii) weder mittels komplexer Argumente noch durch Formen ,schneller Inferenzen‘ gewonnen. Gläubige bilden sie daher auch nicht auf Basis einer nicht-theologischen Überzeugung – bspw. über eine zweckmäßig geordnete und ästhetisch ansprechende Naturszenerie, die sich ihnen bietet –, mit der sie ohne Zusatzprämissen Gottes Existenz erschließen.94 (iii) stehen M-Überzeugungen im Moment ihres Auftretens nicht zur unseren freien Disposition. Ebenso wenig wie bei Wahrnehmungen oder bei mooreschen Gewissheiten entscheiden wir uns willentlich dafür, den fraglichen Aussagegehalt zu akzeptieren oder nicht.95 Die entscheidende Differenz zu Wahrnehmungsüberzeugungen besteht schließlich (iv) darin, dass einer M-Überzeugung nicht notwendigerweise eine analog gedachte Präsenserfahrung zugrunde liegen muss.96 Entscheidend ist vielmehr v.a. die Einlösung der warrant-Bedingungen unter der Bedingung des Theismus, die lediglich die Erfüllung des design plans unter den genannten Umständen vorsieht. Es ist nun diese letzte These und damit der Inhalt der Konklusionen [5] und [6] von Plantingas Argument, die es in hegelscher Perspektive angreifbar macht. Wir haben zwar schon in Abschnitt I.2.1 gesehen, dass auch Hegel glaubt, dass man epistemische Normen in erster Linie aus den essentiellen Zielen der Erkenntnisbildung heraus erklären muss. Anders als Hegel geht Plantinga aber davon aus, Ähnlichkeiten mit Hegels Deutung von Jacobis ,Glauben‘, und genauer mit dem, „was sonst Eingebung, Offenbahrung des Herzens, ein von Natur in den Menschen eingepflanzter Inhalt […] genannt worden ist“ (Enz. 63A, GW 20, S. 104). Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass Plantingas sensus divinitatis eben ein Vermögen und keine fertige Überzeugung darstellt. Ferner wird seine Existenz von Plantinga auch nicht als ein „Princip“ (ebd.) angenommen, sondern er behauptet lediglich, sie werde von der Wahrheit des Theismus impliziert. 93 Entsprechend heißt es bei Plantinga: „It is not the case […] that a person who acquires belief by way of the sensus divinitatis need have any well-formed ideas about the source or origin of the belief, or any idea that there is such a faculty as the sensus divinitatis. (Just as most of us don’t have well-developed ideas as to the source and origin of our a priori beliefs.)“ (WCB, S. 179) 94 Vgl. ebd., S. 175–177. Entsprechend fasst Plantinga den nicht-argumentativen Kerngehalt des sog. ,argument from design‘. Vgl. seine Ausführungen zum ,design discourse‘ in WCRL, S. 236–248. 95 Dies folgt aus Plantingas Ablehnung des doxastischen Voluntarismus. Vgl. dazu auch WCB, S. 96 f. und 172 f. 96 Vgl. oben Fn. 66.
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
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dass der allgemeine Begriff zweckmäßiger Entitäten und Prozesse ausschließlich von den Intentionen und Zwecksetzungen einer Person her expliziert werden muss. Plantingas Rede vom kognitiven Bau- und Gestaltungsplan ist daher – wie er selbst erklärt – „wörtlich“97 zu verstehen: Es bezeichnet das, was Gott, wenn er existiert, mit uns als Menschen eigentlich intendiert hat, als er uns erschaffen hat. Und der wesentliche Unterschied zwischen Gott und einem menschlichen Designer liegt dann offenbar nur in der Tatsache, dass Gott das Material zur Umsetzung seiner Pläne nicht einfach vorfindet, sondern zugleich miterschafft. Es ist bemerkenswert, dass Hegel diese letztlich frühneuzeitliche Auffassung98 der Finalkausalität einer scharfen Kritik unterzogen hat, deren Tenor er in der WdL auch so zusammenfasst: Je mehr das teleologische Princip mit dem Begriffe eines ausserweltlichen Verstandes zusammengehängt, und insofern von der Frömmigkeit begünstigt wurde, destomehr schien es sich von der wahren Naturforschung zu entfernen, welche Eigenschaften der Natur nicht als fremdartige, sondern als immanente Bestimmtheiten erkennen will, und nur solches Erkennen als ein Begreiffen gelten läßt. (WdL II, GW 12, S. 155)99
An dieser Stelle bringt Hegel seine Überzeugung zum Ausdruck, dass eine echte Erklärung zweckmäßigen Verhaltens in natürlichen Entitäten in letzter Instanz auf das verweisen muss, was diese ihrer Natur und ihrer spezifischen Identität nach sind. Verlegt man hingegen diese intrinsische Zwecke allein in die Absichten eines ,außerweltlichen Verstandes‘, dann legt man sich darauf fest, dass es keine innere Zielgerichtetheit in den natürlichen Entitäten geben kann und diese – ohne Gottes Tätigkeit – mithin vollständig a-teleologisch verstanden werden müssen. Wir werden unten noch sehen, dass Hegel die Konsistenz einer mechanistischen Auffassung aller natürlicher Prozesse hinterfragt.100 Darüber hinaus meint er, dass eine Analyse von Zweckmäßigkeit, wie Plantinga sie vorschlägt, mindestens implizit „innere[…] Zweckmässigkeit“ (ebd., S. 157) voraussetzt. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass er eine Variante dieser Analyse in ihrer Anwendung auf kognitives Leben bestreitet, die er etwa in der empirischen Psychologie seiner Zeit vorfindet. Diese operiert zwar nicht mit göttlichen Absichten, wohl aber mit einer Form der extrinsischen Zweckmäßigkeit, die die Einheit der jeweils postulierten Vermögen von ihrer „Nützlichkeit“ (Enz. § 442A, GW 20, S. 437) für wesentlich nicht-epistemische Zwecke versteht.101 97 „The sensus divinitatis is a belief-producing faculty (or power, or mechanism) that under the right conditions produces belief that isn’t evidentially based on other beliefs. On this model, our cognitive faculties have been designed and created by God; the design plan, therefore, is a design plan in the literal and paradigmatic sense. It is a blueprint or plan for our ways of functioning, and it has been developed and instituted by a conscious, intelligent agent.“ (WCB, S. 179) Vgl. ferner P 1992, S. 310. 98 Vgl. allgemein hierzu etwa O 1996. 99 Vgl. auch WdL II, GW 12, S. 156 f. 100 Vgl. unten II.3.3. Auf Hegels Kritik an der Alleinstellung äußerer Zweckmäßigkeit gehe ich unten in Abschn. II.3.2 genauer ein. 101 Vgl. zu dieser Kritik bes. H 2002, S. 71–74. Im Rekurs auf Enz. § 136A kritisiert
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Die schon in Kap. I.2 genannte hegelsche Prämisse, der „Endzweck“ (ebd.) geistigen Lebens müsse in letzter Instanz aus dem Begriff des Erkennens erklärt werden, lässt sich nun m.E. durch eine ,immanente Kritik‘ Plantingas aufzeigen. Dazu muss man zunächst nur die Frage aufwerfen, warum und wie die Absichten Gottes für die erschaffenen Individuen eigentlich verbindlich sein können. Wie Plantinga selbst sieht, lässt sich dieses Problem nämlich ohne weiteres auch auf nicht-personale und anorganische Entitäten übertragen. Zwar lässt sich deren Verhalten nicht direkt durch Ziele erklären, die sie bewusst oder halb-bewusst anstreben, sondern gewöhnlich durch Naturgesetze und erfüllte Anfangsbedingungen. Doch Plantinga bemerkt zu Recht, dass nomologische Erklärungen nur dort gelingen können, wo man plausibel machen kann, warum sich Individuen nach den Gesetzen richten müssen; und dies in einer Weise, die zugleich den Unterschied nomologischer Notwendigkeit zur logischen Notwendigkeit markiert, ohne dabei in vollständige Kontingenz umzuschlagen.102 Analog zu seiner Analyse teleologischer Prozesse behauptet Plantinga nun, dass naturgesetzliche Aussagen im Kern beschreiben, wie Gott generell seine Absichten verwirklicht, nämlich dann, wenn er nicht speziell – etwa durch Wunder – handelt.103 Die Formel für Naturgesetzlichkeit lautet daher für ihn allgemein: „When God is not acting specially, p.“ (WCRL, S. 282)104 Eine solche Auffassung hat für Plantinga nicht nur Vorzüge gegenüber alternativen Auffassungen der sog. ,akzidentellen Notwendigkeit‘.105 Sie löst zugleich die humeschen Probleme von Regularitätsaussagen. Denn auf Basis bloßer Beobachtung ist es auch nach Plantinga keineswegs offensichtlich, dass eine reguläre Konjunktion zweier Ereignistypen als Kausalbeziehung verstanden werden muss. Baut man hingegen als möglichen Übergang ein göttliches Fiat ein, werden korrekte Behauptungen über kausale Regularitäten im eingeschränkten Sinne notwendigerweise und sogar evidentermaßen wahr.106 Plantingas Modell von Teleologie, seine Hegel in Enz. § 442A zudem den Erklärungswert der methodischen Vorgabe, zu jeder empirischen Äußerung des kognitiven Lebens eine entsprechende Kausalkraft zu postulieren. Vgl. hierzu H 2002, S. 74 f. 102 Vgl. WCRL, S. 278–280 und ferner P 2016, S. 127–133. 103 Analoge Überlegungen formuliert Hegel etwa in VPR 4, S. 331. Vgl. dazu auch unten II.3.3, S. 326 Fn. 231. 104 Das Gesetz, dass kein materieller Gegenstand schneller als Lichtgeschwindigkeit (= c) beschleunigen kann, lässt sich mit Plantinga dann so auffassen: „When God is not acting specially, no material object accelerates from a speed less than c to a speed greater than c.“ (WCRL, S. 282) Gegen den Einwand, Gottes Handeln in der Welt würde gegen Erhaltungssätze verstoßen, argumentiert Plantinga u.a., dass diese nur unter der vorgängigen Annahme gelten, dass die Welt kausal geschlossen ist. Vgl. ebd., S. 76–84. 105 Vgl. ebd., S. 278–280 und P 2016, S. 128–132. 106 „Divine causality […] just goes by way of divine fiat: God says, ,Let there be light‘ and there is light. God wills that there be light, or that there be light at a particular time and place, and there is light then and there. And the connection between God’s willing that there be light and there being light is necessary in the broadly logical sense: it is necessary in that sense that if God wills that p, p occurs.“ (ebd., S. 137) Vgl. P 1992, S. 309.
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Auffassung der Naturgesetze und seine neuerdings explizite Leugnung sekundärer Kausalkräfte implizieren sich daher gegenseitig. Gleichzeitig sieht sich sein Ansatz mit folgendem Problem konfrontiert: Wenn Gott offensichtlich für alle Kausalprozesse in der Welt vollständig verantwortlich ist, kann ich dann als Akteur überhaupt noch meinen, dass ich es bin, der meine beabsichtigten Handlungsziele durch eigens vollzogene Handlungen erreicht?107 Plantingas Antwort auf dieses Problem besteht nun wesentlich darin, seinen Okkasionalismus dahingehend abzuschwächen, dass Gott nicht unsere Absichten, sondern lediglich deren Verwirklichung verursacht, wenn es die Gelegenheit jeweils erfordert.108 Eine solche Abschwächung wirkt aber nicht nur unweigerlich wie eine ad hoc-Lösung. Es ist darüber hinaus fraglich, ob sie überhaupt innerhalb von Plantingas Ansatz konsistent formuliert werden kann. Handlungsabsichten beruhen mindestens auf Wünschen, die sich in Urteilen über das, was ein Akteur für gut und erstrebenswert erachtet, artikulieren lassen.109 Zudem setzen sie Überzeugungen darüber voraus, welche Ereignistypen in der Regel bewirkt werden müssten, um das jeweils gewünschte Ziel zu erreichen. In beiden Hinsichten setzen die Absichten also eine vorgängige Meinungsbildung voraus. Aufgrund seiner Ablehnung des doxastischen Voluntarismus ist basale Meinungsund Überzeugungsbildung für Plantinga aber niemals ein von uns intendiert und bewusst vollzogener Prozess. Folglich müssen wir uns mit einigen Überzeugungen, die unser Erkennen und Handeln leiten, einfach ,vorfinden‘.110 Entgegen Plantingas Annahme scheint daraus aber zu folgen, dass auch die Ausübung unserer kognitiven Fähigkeiten, die zu unseren jeweiligen Absichten führen, letztlich nur in den kausalen Verantwortungsbereich Gottes fällt.111 Die Frage, ob es wirklich meine Ziele sind, die in Handlungen und Meinungsbildungsprozessen bisweilen erreicht werden, stellt sich damit erneut. Denn die Pointe von Plantingas Analyse der Teleologie soll ja gerade darin liegen, dass
107 Dies wendet Plantinga selbst gegen starke Formen des Okkasionalismus ein. Vgl. P 2016, S. 138 f. 108 Vgl. ebd., S. 141. 109 Ich orientiere mich hier an der von F. v. Kutschera vorgeschlagenen Analyse in Kutschera 1981, S. 110–112. Die o.g.Vorgaben ergeben sich schon grob aus Hegels Bestimmung des „freie[n] Willen[s]“ als „Einheit des theoretischen und praktischen Geistes“ (Enz. § 481, GW 20, S. 476). Vgl. hierzu bes. Q 2011, S. 24 f. und zu Hegels Handlungstheorie ebd., S. 199–205. 110 Darüber hinaus verweist Plantinga bisweilen selbst auf eine eigene kognitive Fähigkeit, die moralische Richtigkeit bzw. Güte einer Handlung oder eines Vorgangs in basaler Weise einschätzen zu können. Vgl. in WCB, S. 146. 111 Damit lässt sich auch die Grenze zwischen natürlichen und übernatürlichen Prozessen nicht mehr nachvollziehen, die Plantinga etwa für die Erweiterung seines Modells benötigt. Denn die setzt gerade voraus, dass spezifisch christliche Überzeugungen nicht durch unsere natürlichen Vermögen, sondern durch den Hl. Geist bewirkt werden. Die analogen Einwände, die J. Beilby mit K. Lehrer gegen letztere These vorbringt, unterstützen damit die oben vorgebrachte Kritik. Vgl. B 2007, S. 151–153.
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unsere Ausrichtung auf Wahrheit in kognitiven Prozessen und auf Güte in Handlungen, letztlich nur der von Gott entworfene und verwirklichte Plan ist, Individuen nach seinem Bilde hervorzubringen.112 Wenn dieses Ziel aber das definiert, was uns in unserer Identität auszeichnet,113 ist überhaupt nicht klar, wie Plantinga noch sagen kann, dass Gott mit uns als rationalen Akteuren seine Pläne und Absichten verfolgt. Zugespitzt formuliert kann dies dann nicht mehr bedeuten, als dass eine Uhr etwa im metaphorischen Sinne ,kooperiert‘, wenn sie – wie vom Uhrmacher intendiert – die Zeit korrekt anzeigt.114 Nun ist es aber offensichtlich, dass Personen ihre jeweiligen Erkenntnisansprüche und deren Bildung sich selbst zuschreiben können. Gerade dieses Selbstbewusstsein kognitiver Akte scheint hingegen in Plantingas Analyse von Zweckmäßigkeit und deren theistischen Prämissen nicht mehr nachvollziehbar zu sein. Eine beliebige epistemische Einstellung, die – kantisch gesprochen – nicht vom ,Ich denke‘ einer wesentlich an Erkenntnis interessierten Person ,begleitet‘ werden kann, wird aber wohl kaum diesen Namen verdienen.115 Die teleologische Dimension seiner warrant-Analyse, die Plantinga gerade für den größten Vorzug seines Modells hält, blockiert damit genau den Schluss, den er für seine Idee der Beweislastumkehr benötigt. Die These, dass der Gottesglaube ein erfüllter Erkenntnisanspruch menschlicher Personen sein muss, wenn Gott existiert, muss daher entweder verworfen werden, wenn man Plantingas Analyse von Zweckmäßigkeit für alternativlos hält.116 Oder aber man rettet des112
Vgl. WCB, S. 204. Es ist auch fraglich, ob daraus nicht die Leugnung echter spezifischer Identität im aristotelischen Sinne folgen muss. A. Freddoso hat etwa ausführlich dafür argumentiert, dass sich von den drei wichtigsten Typen des Okkasionalismus nur derjenige gegen aristotelische Einwände verteidigen lässt, der sich explizit auf eine anti-essentialistische Position zurückzieht. Vgl. F 1988, bes. S. 105–111. Diese Situation verschärft sich noch, wenn man mit F. Hermanni annimmt, dass bestimmte Wünsche und Überzeugungen zu den konstitutiven und individuellen Charaktermerkmalen von Personen gehören, aus denen heraus sie selbstbestimmt handeln. Vgl. H 2011, S. 105. Wenn nämlich ,ich‘ nicht deren Autor und Besitzer sein kann, kann es ,mich‘ als diesen rationalen Akteur vermutlich gar nicht geben. 114 Plantingas Vergleiche mit Thermometern, Radios und anderen Artefakten sind daher auch weniger überraschend. Vgl. u.a. WPF, S. 26–28; WCB, S. 146, 187, 486. Zu Plantingas Epistemologie bemerkt L. Zagzebski daher zu Recht kritisch: „In Plantinga’s discussions the primary image that comes to mind is the well-oiled machine – a machine whose functioning is not primarily accessible to its consciousness at all, much less to self-reflective control, and where the functioning of such a machine is unaffected by the functioning of the machines around it.“ (Z 1993, S. 221) 115 Zudem lässt sich zeigen, dass Plantingas Modell mit der Zusatzprämisse des starken Externalismus die Zuverlässigkeitsannahme in der Perspektive der gläubigen Personen unterminiert und damit den positiven epistemischen Status gefährdet. Vgl. L im Erscheinen b) und zu weiteren rechtfertigungstheoretischen Problemen in tugendepistemologischer Perspektive bes. Z 1993, S. 217–222. 116 Plantinga meint zwar, seine wörtliche Rede von design sei für die Analyse des proper functioning unumgänglich. Vgl. u.a. P/T 2008, S. 20–30. Soweit ich sehen 113
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sen Grundintuition im Rückgriff auf Hegels These der intrinsischen Zweckmäßigkeit in epistemischen Prozessen, muss dann aber plausibel machen, wie sie genau mit der Annahme eines personalen Ursprungs der Wirklichkeit zusammenhängt, um die gewünschte Konklusion in alternativer Form aufrechtzuerhalten. Plantingas eigenes Argument scheint daher gerade aufgrund seiner metaphysischen Hintergrundannahmen wenig aussichtsreich.117 Ad (2): Plantingas Modell religiöser Überzeugungsbildung Aber nicht nur scheinen Plantingas allgemeine ontologische Hintergrundannahmen defizient. Auch seine Aussagen über die religiöse Überzeugungsbildung lassen sich in hegelscher Perspektive anfechten. Das wird deutlich, wenn man sich die Stellung von M-Überzeugungen im gesamten Überzeugungssystem religiöser Personen genauer betrachtet. Zwar liegt Plantingas Fokus auf vereinzelten und instantan ausgebildeten theistischen Überzeugungen. Dieser täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Überzeugungen zumeist mit anderen eine komplexe Netzwerkstruktur bilden. Soweit ich sehe, finden sich bei Plantinga zwar keine weitläufigen Überlegungen zu dieser Frage. Allerdings ergeben sich aus dem erkenntnistheoretischen Gesamtrahmen in etwa folgende Grundannahmen: A. Nach Plantinga gehört der sensus divinitatis zur natürlichen Erkenntnisausstattung des Menschen und muss daher streng in Analogie zur Wahrnehmung, Erinnerung, a priori-Intuition oder dem Bewusstsein von Fremdpsychischen etc. verstanden werden.118 Ebenso wie uns sinnliche Wahrnehmung einen Zugang zur physischen Außenwelt oder unser Erinnerungsvermögen einen Zugang zu vergangenen Ereignissen eröffnet, so ist der sensus divinitatis die erste, wenn auch nicht einzige Quelle unseres Wissens über Gott.119 B. Aus dem moderat fundamentalistischen Rahmen von Plantingas Epistemologie ergibt sich dann, dass in rationalen Überzeugungssystemen die Produkte natürlicher Erkenntnisvermögen die epistemischen Ausgangspunkte des vernünftigen Lebens bilden (sollten).120 Im Falle des Gottesglaubens gilt folglich, dass (fast) alle übrigen theistischen Meinungen auf M-Überzeugungen oder ähnlichen Meinungen basieren (sollten). Aufgrund ihrer Stärke können M-Überzeugungen daher nicht ohne möglichen Verlust ihres warrant-Status und ihrer Glaubensstärke zu nicht-basalen Überzeugungen umgewandelt werden.121
kann, diskutiert er aber nirgends ausführlich aristotelische oder hegelsche Alternativen, die ohnehin mit seinem Okkasionalismus inkompatibel wären. 117 Zu weiteren Einwänden gegen Plantingas Argument vgl. auch die kluge Kritik von Ch. Weidemann in W 2007, S. 421–436. 118 Vgl. u.a. WPF, S. 42, 48 und 183; ferner WCB, S. 148. 119 Vom sensus divinitatis sagt Plantinga entsprechend, er sei „a natural, inborn sense of God, or of divinity, that is the origin and source of the world’s religions“ (ebd.). Daran ändern im Übrigen auch die durch den Hl. Geist bewirkten Prozesse nicht viel, die eine Person christliche Wahrheiten einsehen lässt. Denn diese sollen nach Plantinga u.a. eine Art „cognitive regeneration“ (ebd., S. 281) des sensus divinitatis sein. 120 Vgl. WCD, S. 80. 121 Vgl. WPF, S. 95 f., wo Plantingas gegen Quinns gegenteilige These bzgl. Wahrneh-
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5. Typen der Basalitätsthese
Beide Thesen scheinen aber in hegelscher Perspektive unplausibel. Gegen die These (A) lässt sich der oben in I.5.1 referierte hegelsche Vorbehalt gegen Jacobi reformulieren, dass unmittelbare und nicht-inferentielle Zugänge zu Gott nicht in Abgrenzung zu Formen des ,Denkens‘ verstanden werden können. Dieser Gedanke lässt sich unter Plantingas Annahme zuspitzen, man könne M-Überzeugungen analog zu Wahrnehmungsmeinungen verstehen. Denn, wie Hegel bemerkt: In unserem gewöhnlichen Bewußtseyn sind die Gedanken mit sinnlichem und geistigem geläufigen Stoffe angethan und vereinigt, und im Nachdenken, Reflectiren, und Raisonniren vermischen wir die Gefühle, Anschauungen, Vorstellungen mit Gedanken, (in jedem Satze von ganz sinnlichem Inhalte: ,diß Blatt ist grün‘ sind schon Kategorien, Seyn, Einzelnheit, eingemischt). (Enz. § 3A, GW 20, S. 42)
Grob gesprochen bedeutet dies, dass Wahrnehmungsüberzeugungen in der propositionalen Form ,Dies x ist ein F‘ nur durch die Ausübung begrifflich-diskriminativer Fähigkeiten zustande kommen können,122 in der zumindest implizit auf hochstufige und allgemeinste Kategorien zurückgegriffen wird. Solche Typen der begrifflichen Vermittlung müssen für Hegel, wie wir sehen werden, nicht Inhalt von höherstufigen Meinungen sein und sich daher auch nicht immer im Bewusstseinsfeld der jeweiligen Person befinden. Da aber ohne den impliziten Rekurs auf allgemeinste Mittel der Einteilung – wie allgemeinontologische Kategorien von Einzeldingen und ihren Eigenschaften – für Hegel gar kein rationaler Gegenstandsbezug möglich ist,123 muss das gleiche auch für alle anderen Meinungs- und Überzeugungstypen gelten. Zwar scheinen Wahrnehmungsmeinungen schon aufgrund ihrer indexikalischen Elemente einen Sonderfall darzustellen. Hegel würde aber auch in diesem Fall mit guten Gründen darauf beharren können, dass die regelgeleitete Verwendung von Indexwörtern ohne begriffliche Fähigkeiten nicht möglich ist.124 Und selbst wenn eine direkte Referenz in diesem Falle zumindest denkbar wäre, würde die Analogie mit religiöser Überzeugungsbildung spätestens durch die Tatsache unterminiert werden, dass Gott wesentlich nicht raumzeitlich verkörpert sein soll. Daher können sogar in M-Überzeugungen, die in Wahrnehmungssituationen gebildet werden, keine direkten Korrelationen zwischen Erfahrungsgehalt und dem Überzeugungsinhalt auftreten. Hegels eigene Theorie, warum in der mungsüberzeugungen argumentiert. Aus ähnlichen Gründen begegnet Plantinga einer probabilistischen Form der natürlichen Theologie a` la R. Swinburne mit grundsätzlichem Misstrauen. Vgl. WCB, S. 271–280. 122 Auf diese, neuerdings etwa von J. McDowell wieder in die Diskussion gebrachte hegelsche These wurde oben in Abschn. I.2.2 hingewiesen. 123 Vgl. unten Abschn. III.2 und die dort gegebene Erläuterung des oben zitierten Beispiel Hegels. 124 Es ist Hegels allgemeine Überzeugung, dass eine erfolgreiche indexikalische Bezugnahme immer einen möglichen deskriptiven Kontext benötigt. Vgl. dazu bes. V 1988a. Dies gilt nach Hegel auch für das Personalpronomen ,ich‘, wie oben in I.2.2 dargelegt wurde.
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
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Perspektive mancher Religionsformen gerade die anschauliche Präsenz des Absoluten in der Welt erfahren wird, kann diese These, wie wir sehen werden, sogar noch unterstreichen.125 Gerade wegen der Transzendenz Gottes scheinen daher für die theistische Überzeugungsbildung a fortiori die von Hegel angedeuteten Bedingungen zu gelten, wie ich im Folgenden mit W. Alston näher ausführen möchte.126 Erstens muss eine Person in der Bezugnahme auf den Gegenstand ihrer Aussage ,X ist so-und-so‘ in der Lage sein, den Gegenstand X korrekt zu identifizieren.127 Für gewöhnlich verfügt sie dabei über eine Reihe von Merkmalen, die hinreichend zuverlässige Indikatoren dafür sind, dass es sich bei dem fraglichen Gegenstand tatsächlich um X handelt. Im Falle von M-Überzeugungen sind dies theologisch signifikante Kategorien, die die Referenz vermittels des Ausdrucks ,Gott‘ stabilisieren können. Dies deckt sich mit den Überlegungen in Abschnitt I.1.1. Denn dort haben wir gesehen, dass eine beliebige Entität für Hegel die Minimalbestimmungen des Begriffs des Absoluten erfüllen muss, um ein bzw. der Gegenstand religiöser Einstellungen und Rede sein zu können. Im technischen hegelschen Sinne gehören dazu u.a. die Bestimmungen der ,Unendlichkeit‘, der ,Substantialität‘, der absoluten ,Notwendigkeit‘ und der ,Selbstbestimmung‘. Wie wir noch ausführlich in Teil II sehen werden, bilden diese theologischen Bestimmungen ein System, in denen jeweils der logisch spätere Begriff durch eine explikative Operation aus dem früheren gewonnen werden kann.128 Mit dem deskriptiven Terminus ,Gott‘ beziehen sich Gläubige nach Hegel im Bestfall auf dasjenige religiöse Redeobjekt, das die maximale Anzahl derjenigen Bestimmungen, die für das religiöse Bewusstsein zugänglich sind. Für M-Überzeugungen wie ,Gott vergibt mir‘ oder ,Gott hat dies alles erschaffen‘ müssen dabei besonders teleologische, moralisch-axiologische und personale Attribute eingesehen werden, um überhaupt die hierin ausgedrückte individuelle Gott-Mensch- bzw. Gott-WeltBeziehung nachvollziehen zu können. Und da diese Attribute im Falle Gottes nur unter der Voraussetzung der genannten Minimalbestimmungen anwendbar sind, wird zudem klar, dass sie im echten Sinne Sonderfälle der Kategorien intentionalen Verhaltens darstellen müssen. Eine persönliche Zuwendung eines unendlichen und metaphysisch notwendigen Absoluten ist von derjenigen radikal verschieden, die ein Mensch von einem anderen erfährt.129 125 Vgl. dazu unten III.4.2. Wie an dieser Stelle Anschauen, Denken und Vorstellen zusammenspielen, erläutere ich genauer in Kap. III.3. 126 Zu den im Folgenden mit W. Alston entwickelten Identifikations- und Adäquatheitsbedingungen in empirischer und theistischer Meinungsbildung vgl. bes. A 1991, S. 84–88 und 91–99. 127 Vgl. ebd., S. 91–93. 128 In Abschn. II.4.1 fasse ich die wichtigsten Elemente dieser These nochmals zusammen. 129 Dies schließt freilich nicht aus, dass sie im impliziten Vergleich mit uns vertrauten Normalfällen gebildet werden. Dies ist die Kernthese von Hegels Theorie der religiösen ,Vorstellung‘. Vgl. unten III.3.2. Alston äußert eine ähnliche Überzeugung mit Bezug auf die klassische Theorie der analogen Gottesrede. Vgl. A 1995, S. 37 f.
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5. Typen der Basalitätsthese
Damit diese Bestimmungen als solche erfasst werden können, müssen Gläubige über nicht-sinnliche, rationale Fähigkeiten verfügen, die Hegel mit dem allgemeinen Ausdruck ,Denken‘ benennt.130 Dies wird besonders deutlich, wenn man mit W. Alston noch auf einen weiteren Aspekt empirischer Meinungsbildung und deren religiöses Analogon verweist. Vor der subjektseitigen Ausbildung eines Kategoriensystems müssen nämlich zweitens komplexe Adäquatheitsbedingungen erfüllt sein. Sie sorgen dafür, dass die Art und Weise, wie ein Gegenstand X bspw. in einer Erfahrung präsent ist, in den entsprechenden Umständen tatsächlich ein zuverlässiger Hinweis für die Existenz von X und sein So-sein darstellt.131 Wie schon oben in I.2.2 dargelegt wurde, ist dieser Sachverhalt alles andere als trivial. Um behaupten zu können, dass die Gegebenheitsweise eines Gegenstandes ein angemessener Hinweis auf diesen selbst ist, muss zumindest die Prämisse plausibel gemacht werden, dass der Bezugsgegenstand selbst eine Norm und einen Korrektheitsstandard für den jeweiligen Erfahrungs- oder Überzeugungsgehalt darstellen kann. Eine Möglichkeit besteht nun darin, mit Hegel eine ,Identität‘ der begrifflichen Struktur des jeweiligen wahren Gedankens mit der Natur der Sache anzunehmen,132 was im Umkehrschluss nochmals die oben zitierte These Hegels unterstreicht, dass die Ausübung vernünftiger Fähigkeiten auch in allen kognitiven Akten mitinvolviert sein muss. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es nun bemerkenswert, dass Plantinga selbst an anderer Stelle vermutet, dass Wahrnehmungsmeinungen nur partiell basal bzw. quasi-inferentiell sind. Grob gesprochen scheint er damit zu meinen, dass eine Person für die Bildung einer empirischen Meinung wie ,Dies X ist ein F‘ (i) eine basale Wahrnehmungsüberzeugung der Form ,X sieht so-und-so aus‘ und (ii) einen generelle Meinung der Form ,Alles, was so-und-so aussieht, ist ein F‘ voraussetzt.133 Die erstgenannte Aussage würde dann zusammen mit der Korrektheit der zweiten die Adäquatheitsbedingungen einlösen, die eine beliebige empirische Meinung zu einem zuverlässigen Indikator einer Tatsache machen. Die Analogie zu M-Überzeugungen würde hier jedoch abermals zusammenbrechen, weil schon Aussage (i) hier kein direktes Äquivalent zu haben scheint.134 Konfrontiert man also Plantingas Theorie des sensus divinitatis mit den möglichen Identifikations- und Adäquatheitsbedingungen in der Bildung von M-Überzeugungen, wird man die eingangs erwähnte These (A) nicht aufrechterhalten können: Selbst wenn ein individuierbares Vermögen existieren sollte, durch das Gott ohne explizite Inferenzen unmittelbar zugänglich ist, kann es nicht ohne Rückgriff auf rationale Fähigkeiten ausgeübt werden, mit deren Hilfe Gläubige ein System theologischer Kategorien bilden. Und da die genannten 130
Vgl. ferner auch Enz. § 2A, GW 20, S. 40 f. Vgl. A 1991, S. 84. 132 Zur dieser Identitätsthese vgl. auch oben I.2.1. 133 Vgl. WPF, S. 99 f. 134 Dies ist ja gerade der Punkt, den Plantinga mit Bezug auf Alston betont. Vgl. oben Fn. 66. 131
5.2 A. Plantingas moderate Basalitätsthese
133
Gelingensbedingungen für alle Typen theistischer Meinungen gelten, scheint auch Plantingas Versuch, spezifisch christliche Überzeugungen allein durch den Hinweis auf das Wirken des Hl. Geistes zu erklären, wenig aussichtsreich.135 Es ist daher auch kaum verwunderlich, dass analoge Schwierigkeiten für die Überzeugungsebene folgen müssen, die in der o.g. These (B) angesprochen wird. Denn aus ihr folgt unmittelbar, dass theistische Meinungen wie ,Gott existiert‘ oder ,Gott ist in allen Hinsichten vollkommenen‘ auf M-Überzeugungen basieren, weil sie diese etwa implizieren.136 Eine solche These scheint aber wenig plausibel. Erstens dürften die genannten generellen theistischen Überzeugungen für die meisten Gläubigen zumindest in der nachträglichen Reflexion weitaus unproblematischer als M-Überzeugungen sein, mit denen man sich nur in bestimmten Umständen vorfindet. Zweitens ist die von Plantinga genannte Anzahl der Paradigmen-Fälle zu gering und seine Phänomenologie religiöser Überzeugungsbildung nicht hinreichend, um zu klären, ob und wie nun genau die abstrakteren Meinungen über Gott in rationalen Überzeugungssystemen auf den basalen M-Überzeugungen beruhen sollen.137 Schließlich wäre drittens im Sinne der Ausführungen in Abschnitt I.1.2 daran zu erinnern, dass für wahr gehaltene Aussagen über die Existenz des Schöpfer für die Gläubigen jeweils fundamentale Erklärungsleistungen vollbringen, indem sie Antworten auf die Frage nach der Existenz und Verfassung der kontingenten Wirklichkeit bieten. Solche zentralen Überzeugungen über Gott bilden daher den notwendigen Hintergrund, vor dem Präsenzerlebnisse und Meinungen über seine Manifestation in der Welt in dieser Form allererst möglich werden.138 Plantinga erkennt diesen Sachverhalt an und bezeichnet weltanschauliche Rahmenannahmen sogar als ,basal‘. Allerdings glaubt er, dass (i) niemand sein kognitives Leben mit ihnen beginnt und sie deshalb (ii) von lokalen Meinungen zwar nicht inferentiell, wohl aber genetisch abhängig sein müssen.139 So müsste z.B. eine Person eine Meinung wie ,Peter ist fröhlich‘ zuvor ausgebildet haben, bevor sie allgemein an das mentale Leben anderer glaubt, aber ohne dass sie diese generelle Überzeugung aus einzelnen Fremdzuschreibungen von Bewusstseinszuständen schlussfolgern würde. Wenn aber M-Überzeugungen nur vor dem 135
Zur Erläuterung dieser These in hegelscher Perspektive vgl. unten III.5.5. An anderer Stelle zieht Plantinga daraus die Konsequenz, dass Überzeugungen wie ,Gott existiert‘ gar nicht basal sind: „It is not the relatively high-level and general proposition God exists that is properly basic, but instead propositions detailing some of his attributes or actions“ (RBG, S. 81). 137 Plantinga könnte diese Frage wiederum im Rückgriff auf den Wirkungen des Hl. Geistes beantworten. Zu den oben schon genannten Problemen würde dann aber die weitere Schwierigkeit hinzukommen, dass Plantingas Rede vom sensus divinitatis nur noch auf die christliche Überzeugungsbildung anwendbar wäre. Dies würde aber gegen seine eigene These sprechen, der ,göttliche Sinn‘ sei der Ursprung aller religiösen Überzeugungen. Vgl. WCB, S. 148. 138 Diesen Punkt betont zu Recht W. Löffler. Vgl. L 2015, bes. S. 76 f. 139 Vgl. hier besonders Plantingas Antwort auf Löffler in P 2015, S. 243–245. 136
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5. Typen der Basalitätsthese
Hintergrund eines Systems theologischer Kategorien gebildet werden, dann scheinen diese Thesen zumindest in diesem Fall nicht anwendbar zu sein. Die Meinung, dass Gott sich einem Gläubigen in seiner Güte zuwendet oder für die Erhabenheit und Schönheit des Universums verantwortlich ist, kann dann kein isoliert auftretendes Element im Überzeugungssystem von Gläubigen mehr sein, aus denen dann der Glaube an Gottes Güte und Schöpfertätigkeit gewonnen werden kann. Vielmehr machen solche Meinungen das allgemein schon Geglaubte in individuellen Situationen in neuen Aspekten transparent und augenscheinlich.140
5.3 Abschließende Überlegungen Als Fazit der Diskussion lässt sich damit folgendes festhalten: Erstens legt sich Plantinga in seinem Argument für die Abhängigkeit der warrant-Zuschreibung von der Wahrheit des Theismus auf bestimmte metaphysische Annahmen fest, die sich nicht nur allgemein bestreiten lassen, sondern das kognitive Leben und die Wissensbildung unverständlich machen müssten. Selbst wenn man Plantinga diesen Schluss dennoch zugestehen möchte, lässt sich mit Hegel zweitens plausibel gegen seine Theorie des sensus divinitatis und damit gegen seine These argumentieren, dass sich ein Modell religiöser Meinungsbildung in enger Analogie zu anderen Klassen basaler Überzeugungen bilden lässt. So setzt der sensus divinitatis gleich auf mehreren Ebenen ein komplexes theologisches Kategoriensystem voraus, deren Quelle sicherlich in religiöser Erziehung und den individuellen vernünftigen Fähigkeiten der Gläubigen liegt.141 M-Überzeugungen sind schließlich drittens auch keine Ausgangspunkte für das kognitive Leben und müssen daher, wenn es sie denn gibt, eine ganz andere Rolle spielen als in Plantingas Modell. In hegelscher Perspektive haben alle diese Einwände eine gemeinsame Grundlage. Sie besteht darin, dass das Augenmerk von Plantingas Wissensanalyse in erster Linie auf die Angemessenheit der epistemischen Vorgänge gerichtet ist, die sich wiederum an Zielen bemisst, die letztlich nicht die unsrigen sind. Auf der einen Seite beruht sie auf Plantingas spezifischer Auffassung von Teleologie und
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In diesem Sinne versteht etwa W. Alston M-Überzeugungen. Vgl. etwa A 1991,
S. 3. 141 Vgl. hierzu auch III.2. Die Möglichkeit und Wirklichkeit religiöser Erziehung und Bildung wird schon durch das in I.2.2 genannte Intersubjektivitätskriterium von Erkenntnisakten gewährleistet. Dass in religiöser Erkenntnisbildung neben den horizontalen Beziehungen zwischen Gläubigen nach Hegel auch und v.a. die vertikale Beziehung zum Absoluten eine entscheidende Rolle spielt, wird schließlich unten zu zeigen sein. Vgl. III.5.5. Im Übrigen ist Plantingas eigener Anschluss an die Rede vom ,inneren Zeugnis des Hl. Geistes‘ offen genug, um noch eine hegelsche Ausdeutung in Erwägung zu ziehen: Denn: „This process can go on in a thousand ways“ (WCB, S. 251).
5.3 Abschließende Überlegungen
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Kausalität. Auf der anderen Seite tendiert sie dazu, vom Inhalt der jeweiligen Überzeugungen und deren holistischen Eigenschaften abzusehen.142 Ein solch einseitiger Fokus auf den Ursprung unserer Überzeugungen führt aber nicht nur zu den o.g. Problemen. In der Konsequenz ergeben sich zugleich wenig befriedigende Antworten auf die wichtigsten Gründe, die gegen den Gottesglauben zu sprechen scheinen. Dies zeigt schon ein kurzer Blick auf Plantingas Strategie, mit dem Problem des Übels epistemologisch umzugehen, das gemeinhin als der stärkste Grund gegen den Theismus gilt.143 Gegen die probabilistische Fassung des Problems wendet er zunächst allgemein ein, dass prinzipiell jede Alltagsüberzeugung mit Blick auf ein bestimmtes Belegmaterial als unwahrscheinliche Hypothese aufgefasst werden könne. So wäre etwa die Aussage (a) ,Ich höre einen Hund bellen‘ auf Basis der Aussage (b) ,Ich befinde mich in einem Hundezwinger‘ auch dann als Hypothese verstanden deutlich wahrscheinlicher als auf Basis von (c) ,Ich sitze an meinem Schreibtisch‘, wenn ich tatsächlich Sachverhalt (c) wahrnehmen und dennoch einen Hund bellen hören würde, der direkt neben meinen Schreibtisch liegt.144 Der Grund, warum man sie dennoch nicht aufgibt, liegt nach Plantinga natürlich darin, dass (c) eine basale Wahrnehmungsmeinung darstellt und eben keine Hypothese mit explanatorischer Kraft hinsichtlich einer bestimmten Datenmenge.145 Wenn das aber der Fall ist, dann könnte sich nach Plantinga auch ein Christ mit gleichem Recht auf den nicht-inferentiellen Ursprung seiner Überzeugungen berufen, die sich in seiner Perspektive entweder dem regenerierten sensus divinitatis oder den Wirkungen des Hl. Geistes verdanken.146 Dem Protest von Nicht-Gläubigen könnte er dann mit dem Hinweis begegnen, dass der tatsächliche Unglaube gerade durch die Erbsünde zu erwarten ist und man als Christ diesem Gedanken Glauben schenken darf, solange keine schlagenden Gründe gegen ihn vorliegen. Die Berechtigung des christlichen Theismus angesichts der offensichtlichen Übel in der Welt liegt damit wiederum in der Angemessenheit der epistemischen Prozesse. Und da sich diese in der theistischen Perspektive aus dem göttlichen Bau- und Gestaltungsplan ergibt, kann die epistemische Berechtigung konträrer Meinungen wiederum unter Voraussetzung der Wahrheit des Theismus bestritten werden. Die Schwierigkeiten einer solchen Antwortstrategie liegen auf der Hand. Denn durch sie kann nicht nur jeder probabilistische Einwand als undurchführbar abgewiesen werden.147 Sie führt auch zu einer kaum wünschenswerten Patt142 Vgl. zu diesem allgemeinen Punkt gegen Plantingas Externalismus etwa L 1996, bes. S. 30–36. W. Löffler führt hingegen Plantingas defizientes Modell von Überzeugungssystemen auf seine Orientierung am Fundamentalismus zurück. Vgl. L 2015, S. 72–75. 143 Vgl. WCB, Chap. 14. 144 Dies ist eine leicht variierte Fassung des Beispiels, das Plantinga in WCB, S. 475 anführt. Vgl. auch die Diskussion in W 2007, S. 311 f. 145 Vgl. WCB, S. 476–478. 146 Vgl. ebd., S. 478–480. 147 Vgl. dazu I 2015, S. 207–209. Plantingas zweites Argument gegen das evidentielle
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5. Typen der Basalitätsthese
situation zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Plantinga erwägt selbst den Gedanken eines „inverse sensus divinitatis“, der es Atheisten ermögliche, die Falschheit des Theismus unmittelbar einzusehen, und nennt diesen nicht-argumentativen defeater sogar „the best version of the atheological case from evil“ (WCB, S. 484). Und das einzige, was er dagegen zu sagen hat, ist wiederum der Hinweis auf die kognitiven Effekte des Sündenzustands.148 Man sieht aber nicht, inwiefern damit irgendein argumentativer Fortschritt erreicht wäre. Denn erstens könnte sich jetzt der Nicht-Gläubige auf seinen korrekt funktionierenden ,atheistischen Sinn‘ berufen und dem Christen kognitive Dysfunktion vorwerfen.149 Der Weg zu einer inhaltlichen philosophischen Diskussion ist nun sicherlich nicht verbaut, da Plantinga bspw. eine Reihe von anti-naturalistischen Argumenten vorbringt. Aber auch diese Argumente würden kaum zu einer positiven Entscheidung im Glaubensstreit führen können. Denn der Naturalismus mag den Atheismus implizieren, die Umkehrung gilt aber nicht immer.150 Zudem ist Plantingas Gottesverständnis so eng formuliert, dass er einige dezidiert anti-naturalistische Metaphysiker – inklusive Hegel – als Atheisten bezeichnen muss.151 Zweitens wird Plantingas Selbstimmunisierungsstrategie selbst Gläubige nicht befriedigen können. Plantinga müsste nämlich auch jedem Christen, der sich von (nicht-)argumentativen Problemen des Übels beeindrucken lässt, gravierende Schäden in seiner kognitiven Kondition unterstellen – eine Konsequenz, die Plantinga bisweilen tatsächlich zieht.152 Plantingas moderate Basalitätsthese überzeugt daher in der Konsequenz ebenso wenig, wie die stärkere Fassung, die Jacobi vertritt. Dies schließt aller-
Problem der Übel ist der Grundgedanke des sog. ,skeptischen Theismus‘, dem zufolge Gott Übel zugunsten eines höheren Gutes zulassen könnte, von dem wir aber womöglich prinzipiell nichts wissen könnten. Vgl. WCB, S. 466–468. Diese Strategie steht aber nachweislich in Spannung mit Plantingas Behauptung, dass sich Gott aufgrund seiner Güte höchstwahrscheinlich zu erkennen gibt. Vgl. W 2007, S. 422 f.; I 2015, S. 205 f. und zur Diskussion auch M 2017. 148 Vgl. WCB, S. 485–493. 149 Chr. Illies fasst den genannten gegenseitigen Vorwurf prägnant zusammen: „,He that hath ears to hear, let him hear. But your ears do not function and you will therefore not fully understand how things truly are.‘“ (I 2015, S. 207 f.) 150 Vgl. die instruktive Diskussion in A 2012, die allerdings zum gegenteiligen Schluss kommt. 151 Vgl. P/T 2008, S. 19. Ferner sei darauf hingewiesen, dass etwa die metaphysischen Ansätze von J. Leslie, Th. Nagel und N. Rescher atheistisch formuliert werden (können), aber nicht von Plantingas Argumenten betroffen sind. Vgl. unten Abschn. II.3.3. So hat bspw. Th. Nagel überhaupt keine Schwierigkeiten, Plantingas evolutionäres Argument gegen den Naturalismus für seinen eigenen anti-naturalistischen Entwurf zu übernehmen. Vgl. N 2012, S. 27 f. 152 „Indeed, it is the person who gives up belief in God under these circumstances who displays cognitive dysfunction; for such a person, the sensus divinitatis must be at least partly disordered.“(WCB, S. 492) A. Chignell hat daher Plantingas Ansatz treffend als eine ,Epistemologie für Heilige‘ bezeichnet. Vgl. C 2002 und ferner B 2007, S. 146.
5.3 Abschließende Überlegungen
137
dings nicht aus, dass sowohl die kritischen als auch die konstruktiven Elemente in beiden Ansätzen in anderer Form aufrechterhalten werden können. Zum einen wird sich später zeigen, dass Hegel in seiner Diskussion der Gottesbeweise Jacobis Kritik an der Alleinstellung diskursiven Denkens in einem alternativen Rahmen reformuliert.153 Plantingas Kritik am neuzeitlichen Fundamentalismus findet wiederum in Hegels liberalem Erkenntnisbegriff Rückhalt, der explizit etwa ästhetische und religiöse Wissensansprüche einholen möchte. Zum anderen wurde schon deutlich, dass Hegels Ansatz wesentliche Momente von Jacobis und Plantingas Religionsepistemologie übernimmt bzw. übernehmen könnte. Nicht nur taucht Jacobis Betonung des impliziten Wissens bei Hegel in anderer Form wieder auf.154 Seine eigene Explikation des Erkenntnisbegriffs bestätigt zudem Plantingas Intuition, dass die Analyse epistemischer Normen auf ein irreduzibel teleologisches Element zurückgreifen muss, das sich bei Hegel aus der spezifischen Verfassung geistiger Lebewesen erklärt. Nimmt man mit hinzu, dass sich diese intrinsischen Ziele im Denken des Absoluten erfüllt, lässt sich schließlich Plantingas Rede vom sensus divinitatis ein neuer und vielleicht überzeugender Sinn verleihen.155 Ob eine solche Lesart auch systematisch aussichtsreich ist, lässt sich erst nach der Rekonstruktion von Hegels Theorie des religiösen Denkens entscheiden, die uns jetzt genauer beschäftigen wird.
153
Vgl. unten Abschn. II.2.4. Vgl. unten Abschn. III.2. 155 Siehe dazu auch die Überlegungen unten im Resümee. 154
Teil II
Denken in der Religion: Hegels Interpretation der Gottesbeweise
1. Kantianismus und natürliche Theologie In der bisherigen Diskussion hat sich Hegels Ansatz als vielversprechende Alternative zum Non-Kognitivismus und zu Paradigmenfällen des religionsphilosophischen Fundamentalismus ergeben. In diesem Sinne konnte mit Hegel erstens gegen die These argumentiert werden, die Gottesrede könne unter keinen Umständen echte Erkenntnisansprüche enthalten (Kap. I.4). Zweitens erwiesen sich gerade solche Varianten der Basalitätsthese als wenig überzeugend, die entweder rationalen Fähigkeiten keine entscheidende Rolle in der Überzeugungsgenese zugestehen oder die Schlusspraxis gegen diese sogar vollständig abzugrenzen versuchen (Kap. I.5). Nimmt man nun die in Hegels Augen triviale These hinzu, dass Denken wesentlich ein Vermögen des Urteilens und Schließens ist, dann scheint es zunächst naheliegend, seine Theorie religiösen Denkens direkt mit der klassischen Tradition der natürlichen Theologie engzuführen. Mit ihr könnte man den in Kap. I.3 genannten evidentialistischen Einwand einfach dadurch beseitigen, indem man für Gottes Existenz ein schlüssiges deduktives oder induktives Argument aus religiös-neutralen und rational akzeptablen Prämissen vorgelegt. Eine solche Engführung wäre zwar nicht vollständig falsch, wohl aber einseitig bis irreführend.1 Denn oberflächlich betrachtet, zeigt das bisherige Interpretationsergebnis eine fast ebenso große Affinität zu derjenigen Position, die Hegel zusammen mit den Gottesbeweisen am ausführlichsten diskutiert – den Kantianismus. Die Stärke dieses Ansatzes liegt nicht zuletzt darin, dass er zwar ohne weiteres jede der bislang entwickelten Rahmenbedingungen akzeptieren könnte, die nach Hegel für die Lösung des Rechtfertigungsproblems notwendig ist. Gleichzeitig ist er seinem eigenen Anspruch nach gerade die konträre Gegenposition zur natürlichen Theologie. Kants eigenen Entwurf kann man in diesem Sinne vorgreifend als Konjunktion dreier Thesen verstehen. (1) enthalten theistische Überzeugungen nach Kant Wissensansprüche, die ohne die spezifische Ausübung inferentieller Fähigkeiten nicht denkbar wären. Ebenso wie Hegel meint Kant dabei nicht nur, dass das Schlussvermögen – die ,Vernunft‘ – als solches zu dem gehört, was menschliche Personen auszeichnet. Ebenso sehr gehört das Ziel, mittels der Vernunft einen
1 In Hegels Augen wäre sie genau dann falsch, wenn man meinen würde, religiöses Denken sei mit der Argumentationspraxis natürlicher Theologen identisch. Vgl. Enz. § 2A, GW 20, S. 40 f. und ferner unten Abschn. II.2.4 und III.2.
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1. Kantianismus und natürliche Theologie
Begriff des ,Unbedingten‘ zu bilden und für dessen Existenz zu argumentieren, zu deren spezifischer Natur und ist für uns Menschen daher unumgänglich.2 Dieser These der Notwendigkeit des Gottesgedankens fügt Kant nun bekanntlich eine radikale, metaphysikkritische These hinzu. Demgemäß gilt nach Kant, dass es (2) einen erfolgreichen (deduktiven) Beweis für Gottes Existenz prinzipiell nicht geben kann. Diese Unmöglichkeitsthese muss zumindest in der Fassung, wie sie Kant in der KrV vertritt und entwickelt, von schwächeren Thesen abgegrenzt werden. Legt man bspw. nur die gängigen Beweiskriterien zugrunde, auf die Kant noch in der Methodenlehre der KrV zurückgreift,3 könnte man These (2) mit dem Einwand begegnen, dass es, wenn überhaupt, nur sehr wenige Argumente in der Philosophie gibt, die aus selbstevidenten, relevanten und allgemein akzeptierten Prämissen die gewünschte Konklusion deduktiv schlüssig und überzeugend nachweisen.4 Daraus folgt aber nicht die stärkere Annahme, Argumente könnten aus prinzipiellen Gründen nichts zum Rechtfertigungsstatus des Gottesglaubens beitragen. Und genau dies ist es, was aus Kants Prämissen in der KrV folgt – trotz der andersgelagerten theoretischen Rolle, die er dem Gottesgedanken bisweilen zuschreibt.5 Ungeachtet der Unmöglichkeitsthese können Personen für Kant aber dennoch am Gottesglauben festhalten. Denn er nimmt bekanntlich (3) an, dass ohne die Annahme von Gottes Existenz die moralische Handlungspraxis für uns unmöglich wäre, obwohl die Akzeptanz moralisch-deontischer Aussagen und strikt verallgemeinerungsfähiger Handlungsmaximen nicht an der Wahrheit theologischer Prämissen hängt.6 Das Gelingen des Kantianismus hängt damit elementar an zwei Voraussetzungen, die im Verlauf dieses Teils en de´tail diskutiert werden. Zunächst müssen (i) plausible Argumente dafür geliefert werden, warum die traditionelle natürliche Gottesrede schon in ihrem Anspruch scheitern muss, die Gottesfrage theo2 Zu den Details vgl. unten II.2.2. M. Willaschek nennt in seiner grundlegenden Untersuchung diese kantische Theorie „Kant’s account of the rational sources of metaphysics“ (W 2018, S. 3). Vgl. auch die Übersicht über die relevanten Thesen ebd., S. 3–6. 3 Vgl. KrV A 782–794/B 810–822 und zu Kants Kriterien der Beweiskräftigkeit eines Arguments etwa V 2000, S. 441 f. 4 Vgl. etwa die in der Einleitung schon erwähnten Überlegungen in P 1997a, S. 487 f. und ferner P 1992, S. 293 f. 5 Die Annahme von Gottes Existenz hat in der (wissenschaftlichen) Erkenntnispraxis zumindest den Status eines ,regulativen Prinzips‘ oder gar eines ,doktrinellen Glaubens‘. Vgl. C 2007, S. 345–352 und dazu auch unten Abschn. II.2.2, II.2.6 und II.3.1. 6 Vgl. unten II.3.1. Soweit ich sehen kann, finden sich in zeitgenössischen Wiederaufnahmen des Kantianismus abgeschwächte Varianten von (2) und (3), die zudem die praktische Rechtfertigung auf andere existenzielle Aspekte der menschlichen Lebenspraxis erweitern. So argumentiert etwa F. v. Kutschera in K 1990, Kap. 1 gegen die bisherigen klassischen Versuche eines Beweises für Gottes Existenz, um dann Kap. 4.1 eine im Anschluss an W. James vorgenommene praktische Beglaubigung religiöser Haltungen zu entwickeln, die nicht von der starken Evidenz des Sittengesetzes ausgeht. Vgl. auch ebd., S. VIIIf. Analoge Variationen und Abschwächung der kantischen Thesen finden sich auch in den Ansätzen in R 2013 und T 2015.
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retisch zu entscheiden. Die Unmöglichkeitsthese begründet Kant weitestgehend mit zwei Argumentationssträngen. Zum einen folgt sie direkt aus den oben schon kurz erwähnten, notwendigen Bedingungen des repräsentationalen Gehalts theoretischer Urteile und Aussagen,7 die nach Kant für den Gottesglauben nicht erfüllt sein können. Unabhängig davon gibt er einen Unmöglichkeitsnachweis, dessen Prämissen – zumindest in Kants Selbstverständnis – von dem genannten erkenntniskritischen bis semantischen Prinzip unabhängig sind und daher dessen Konklusion zusätzlich unterstützen soll.8 Wenn es aber dennoch möglich ist, am Gottesglauben festzuhalten, darf der Verzicht auf natürliche Theologie (ii) nicht zugleich zur Instabilität einer moralischen Rechtfertigung des Glaubens führen. Gleiches betrifft dann die Kriterien für die Wahrheitsfähigkeit und den repräsentationalen Gehalt theologischer Überzeugungen, deren Formulierung nicht sofort einen Sinnlosigkeitsverdacht ergeben sollte, wenn man zugleich an Kants Metaphysikkritik und an seiner Ethikotheologie festhalten möchte. Kant selbst versucht diese zweite Voraussetzung dadurch einzulösen, indem er für die Behauptung argumentiert, das moralische Interesse an der Wahrheit des Gottesglaubens sei in letzter Instanz höher anzusetzen als das theoretische Interesse an begründeten Erkenntnisansprüchen wie an der Vermeidung von Irrtümern – allerdings nur unter der Bedingung, dass sich Gottes Existenz weder schlüssig beweisen noch widerlegen lässt.9 Wie sich zeigen wird, meint Hegel über gute Gründe zu verfügen, um beide Voraussetzungen radikal in Frage zu stellen. Denn nicht nur verwirft er (fast) alle Prämissen von Kants Unmöglichkeitsnachweis. Er glaubt auch nicht, dass die Idee einer moralisch-praktischen Rechtfertigung im kantischen Rahmen konsistent durchgeführt werden kann. Dies hält Hegel freilich nicht davon ab, selbst scharfe Kritik an der Form direkten, deduktiven Schließens zu äußern. Seiner Meinung nach ist diese einem gehaltvollen Begriff des Absoluten unangemessen, der schon implizit im religiösen Denken gebildet wird und in einer umfassenden metaphysischen Kategorienlehre expliziert werden kann.10 Um Hegels Theorie religiösen Denkens sowohl mit der klassischen natürlichen Theologie als auch mit dem Kantianismus vergleichen zu können, werde ich mich im Folgenden besonders auf die kantischen Thesen der Notwendigkeit des 7 Vgl. oben I.4. Argumente aus Kants „principle of significance“ (S 1966, S. 16) diskutiere ich im folgenden Exkurs und gehe dabei in erster Linie von einer starken Lesart dieses Prinzips aus, die neben Strawson auch etwa M. Willaschek vertritt. 8 Zur Übersicht über die Prämissen von Kants Unmöglichkeitsnachweis vgl. unten Abschn. II.2.1 und II.4.1. Dass die Ergebnisse der Dialektik der KrV die unabhängigen Ergebnisse der Analytik zusätzlich unterstützen, behauptet Kant explizit etwa in KrV A 642/B 670. 9 Dem entspricht Kants berühmte These vom ,Primat der praktischen Vernunft‘, deren anti-evidentialistische Stoßkraft neuerdings von M. Willaschek besonders klar herausgearbeitet wurde. Vgl. W 2009 und . 2010. Die Einzelheiten und Probleme diskutiere ich unten in Abschn. II.3.1 und II.3.2. 10 Vgl. dazu unten II.2.4.
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Gottesgedankens und der Unmöglichkeit natürlicher Theologie konzentrieren. Dies bietet sich zum einen schon deshalb an, weil Hegels Rede vom Denken des Absoluten starke Ähnlichkeiten mit der erstgenannten kantischen These hat. Zum anderen lässt er sich sowohl die Auswahl als auch die Wiedergabe der klassischen Gottesbeweise weitestgehend von Kant vorgeben. Der Argumentationsverlauf dieses Teils gliedert sich dabei wie folgt: Nach einem Exkurs zu Hegels allgemeiner Beziehung zur vorkantischen Metaphysik soll in Detailanalysen jeweils Kants Kritik am sog. kosmologischen Argument und am sog. teleologischen Argument und daran anschließend Hegels komplexer Antwortversuch untersucht werden (Kap. II.2. und II.3). Dabei werde ich jeweils darauf eingehen, wie Kant (a) sowohl die These von der Notwendigkeit des Gottesgedanken anhand seiner Rekonstruktion der Argumente klärt als auch in der konkreten Kritik die Prämissen des Unmöglichkeitsbeweises einlöst (Abschnitte II.2.2 und II.3.1). Die konkrete Spezifikation dieser Thesen werde ich dann (b) in Hegels Perspektive ausführlich kommentieren und dabei auch und vor allem die religionsepistemologische Dimension seiner Gottesbeweisinterpretation herausarbeiten (Abschnitte II.2.3-II.2.6 und II.3.2). Aufgrund seiner engen Verwandtschaft mit dem teleologischen Argument werde ich Kants Idee der moralischen Rechtfertigung zusammen mit diesem Argumenttyp diskutieren. Die Detailanalysen zu den Gottesbeweisen geben dann Anlass, mit Kant und Hegel den systematischen Zusammenhang der rekonstruierten Argumentformen und der darin implizierten Gottesbegriffe näher zu untersuchen (Kap. II.4). Darin wird sich nicht nur zeigen, dass Hegels Systematisierung von derjenigen Kants scharf abzugrenzen ist (Abschnitt II.4.1), sondern auch, welche besondere religionsphilosophische Rolle das sog. ontologische Argument darin spielt, das Hegel ebenfalls gegen die kantische Kritik verteidigt (Abschnitt II.4.2). Mit einer kurzen Zwischenbilanz zu den Implikationen für Hegels Lösung des Rechtfertigungsproblems (Kap. II.5) wird Teil II schließlich abgerundet.
Exkurs: Hegels Verhältnis zur Metaphysik Exegetische Thesen wie die oben vertretenen stehen in einem starken Kontrast zu einem Strang innerhalb der zeitgenössischen Hegelforschung, der zumeist mit K. Hartmann mit dem Stichwort ,nicht-metaphysische Hegellesart‘ bezeichnet wird.11 Eines der Hauptmotive dieser exegetischen Option liegt in dem Umstand, dass eine wohlwollende Interpretation Hegels systematischem Ansatz nicht Annahmen und Prämissen unterstellen sollte, die sich durch Kants groß angelegte
11 Vgl. H 1972 und die Bemerkungen unten in der Einleitung. Zusammenfassungen der Debattenlage geben u.a. W 1993, S. 117–126; K 2006 und R 2020. Zur Diskussion vgl. ferner etwa R 1988; W 1989; S 1991 und S 2009, S. 1–34.
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Metaphysikkritik als obsolet erweisen könnten.12 Aus einer solchen interpretatorischen Maxime folgt zwar nicht unbedingt, dass sich überhaupt keine Elemente der klassischen Metaphysik bei Hegel finden lassen. Untersuchungen, die gerade auf Hegels fast durchweg ablehnende Haltung gegenüber Kants Kritik an der klassischen Theologie abheben, lassen sich damit aber mit dem Verdacht begegnen, der Stärke und Intention von Hegels Ansatz nicht gerecht zu werden.13 Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich beinahe alle an der Gegenwartsdiskussion Beteiligten zumindest darin einig zu sein scheinen, dass Hegel nicht nur alle kantischen Vorbehalte gegenüber der natürlichen Theologie teile, sondern das sog. ,kritische Projekt‘ Kants in der theoretischen Philosophie fortsetze oder sich zumindest in dessen Rahmen bewege. Solche exegetischen Grundätze stehen daher von vorneherein konträr zur hier vorgeschlagenen Interpretationslinie. Um möglichen Verdachtsmomenten zu begegnen, möchte ich im Folgenden darlegen, warum es mindestens prima facie gerechtfertigt ist, Hegel nicht als Metaphysikkritiker oder gar als Anti-Metaphysiker im Sinne Kants zu bezeichnen. Dabei gehe ich grundsätzlich von der Annahme aus, dass sich jede mögliche Antwort auf die Frage, ob und inwiefern Hegel nun als ,Metaphysiker‘ exegetisch einzuordnen ist oder nicht, zumindest an seiner eigenen Begrifflichkeit messen lassen muss. Der naheliegendste Einstieg ist hier sicherlich Hegels Auseinandersetzung mit der sog. „[e]rsten Stellung des Gedankens zur Objectivität“ (Enz., GW 20, S. 69) im Vorbegriff zur enzyklopädischen Logik.14 Dabei fällt bei einem oberflächlichen Blick auf, dass Hegel den Terminus „Metaphysik“ zunächst mit dem Zeitindex „vormalig[…]“ versieht. Damit meint er genauer diejenige Metaphysik, „wie sie vor der Kantischen Philosophie bei uns beschaffen war.“ (Enz. § 27, GW 20,
12 In R. Pippins Monographie Hegel’s Idealism heißt es in diesem Sinne programmatisch: „More to the general and more obvious point […] much of the standard view of how Hegel passes beyond Kant into speculative philosophy makes very puzzling, to the point of unintelligibility, how Hegel could have been the post-Kantian philosopher he understood himself to be; that is, how he could have accepted, as he did, Kant’s revelations about the fundamental inadequacies of the metaphysical tradition, could have enthusiastically agreed with Kant that the metaphysics of the ,beyond,‘ of substance, and of traditional views of God and infinity were forever discredited, and then could have promptly created a systematic metaphysics as if he had never heard of Kant’s critical epistemology. Just attributing moderate philosophic intelligence to Hegel should at least make one hesitate before construing him as a post-Kantian philosopher with a precritical metaphysics.“ (P 1989, S. 7) 13 Eine solche Skepsis findet man etwa in Reaktionen auf W 2017. So meint etwa P. Redding in seiner Rezension, dass die von R. Williams unterstellte positive hegelsche Aneignung der Gottesbeweise mit der gleichzeitigen Annahme in Konflikt gerät, Hegel sei ein wesentlich nachkantischer Denker: „Hegel’s critical appropriation of Kant’s critique allows him to construct a new form of metaphysics that is able to retrieve ontotheology, but this all means that Williams must walk a tight-rope and avoid the traps of traditional metaphysics and theology on the one side and what he takes to be the ,anti-metaphysical‘ consequences of Pippin-like readings on the other.“ (R 2019, S. 601) 14 Vgl. hierzu auch H 2002, Kap. 6.
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S. 70) Dadurch wird nicht nur deutlich, dass Hegel eine ganz bestimmte systematische Position im Blick hat, die im Rahmen einer bestimmten Zeitspanne in Deutschland vertreten wurde. Es entlastet ihn zugleich von Beweispflichten und löst mögliche Spannungen, die sich sonst innerhalb seiner Beurteilung verschiedener Typen der klassischen Metaphysik ergeben würden. Zum einen ist nämlich fraglich, ob seine tatsächliche Einschätzung wirklich auf alle metaphysischen Positionen zutreffen kann. Zum anderen zieht Hegel an anderen Stellen deutliche Trennlinien zwischen der sog. leibniz-wolffschen Schulphilosophie einerseits und der (spät)antiken und mittelalterlichen Metaphysik andererseits.15 Wer sich nun genau von Hegels Überlegungen angesprochen fühlen sollte, hängt dabei von seinen allgemeinen Kennzeichnungsversuchen ab, die sich auf drei Thesen zuspitzen lassen. Die erste, inhaltliche These besagt, dass der Themenbereich der Metaphysik mit der klassischen Disziplin der ,Ontologie‘ zusammenfällt. Anders als heutige quineanische Ansätze beschränkt sie sich nach Hegel nicht darauf, ontologische Verpflichtungen von als fundamental angenommenen Theorien zu untersuchen, die dann innerhalb des Theorierahmens zur Bindung von prädikatenlogischen Variablen führen und auf ihre Tugenden wie Sparsamkeit, Erklärungskraft und -reichweite etc. geprüft werden.16 Vielmehr geht es um die klassische und fundamentalere Frage nach dem, was es in Wahrheit gibt. Naturgemäß differenziert sich diese nun in mehrere Teilfragen aus, die im Folgenden kurz benannt werden sollen. Will man wissen, was es überhaupt wirklich gibt, muss man (1) wissen, wie sich all diejenigen Entitäten, die gemeinhin als existent angenommen werden können, in allgemeinsten Hinsichten einteilen lassen. Hegels erste These erfordert damit eine Angabe und Analyse derjenigen obersten Begriffe, mit deren Hilfe man all das, worauf man überhaupt Bezug nehmen kann, sortieren und klassifizieren kann.17 In diesem Sinne hat, wie Hegel sagt, die ältere Metaphysik die allgemeine „Natur des Ens“ (WdL I/1, GW 21, S. 48)18 bzw. die „Grundbestimmungen der Dinge“ (Enz. § 28, GW 20, S. 70) betrachtet, die ich im Folgenden ganz klassisch als ,Kategorien‘ bezeichnen werde.19
15 Vgl. etwa unten III.3.3. Die im Folgenden vertretene Auffassung deckt sich weitestgehend mit der folgenden These J. N. Findlays: „For Kant did not really abolish die vormalige Metaphysik, but merely pushed it into a region, where its objects could be thought but not known. And Hegel did destroy it, but sublimated it by marvellous borrowings from Plato, and from Aristotle read in the light of Plato.“ (F 1983, S. 407) 16 Vgl. zur Diskussion und Kritik dieses Ansatzes etwa S 2009, bes. S. 356–373. 17 Vgl. H 1987, Band 1, S. 69 f. und H 1990, S. 12–14. Eine explizite Engführung mit Aristoteles findet sich u.a. in Hegels Erläuterung der genannten Paragraphen in der Logik-Vorlesung von 1831. Vgl. VL 10, S. 25 und WdL I/2, GW 11, S. 259. 18 Entsprechend wurde der Terminus ,Entität‘ oben mit U. Meixner als ontologisch neutrale oder transkategoriale Bezeichnung für Redegegenstände überhaupt eingeführt. Vgl. oben S. 31 Fn. 3 und M 22011, S. 18 f. Eine ,Entität‘ muss damit nicht automatisch als ein Individuum, eine Substanz oder gar als ein ,Ding‘ im technischen hegelschen Sinne aufgefasst werden. 19 Zum Begriff oberster Einteilungsbegriffe oder Kategorien vgl. ebd., S. 18–20. Ich ver-
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Kategorien sind in diesem Sinne nicht nur allgemeine, sondern zudem metaphysisch notwendige Bestimmungen und damit solche ohne welche alle Entitäten nicht das wären, was sie sind.20 Von dieser allgemeinen kategorientheoretischen und klassifikatorischen Fragestellung der sog. metaphysica generalis lässt sich (2) die spezifischere abgrenzen, die – grob gesprochen – die Verfassung der Wirklichkeit als Ganzer und die Rolle und Stellung des Menschen in ihr betreffen.21 Metaphysica specialis erfordert in diesem Sinne eine Klärung der Frage, was es mit der „Seele, der Welt, Gott“ (Enz. § 31, GW 20, S. 71) auf sich hat. Die interne Systematik, die zur Auswahl gerade dieser Gegenstände führt, wird von Hegel an der genannten Stelle nicht explizit genannt. Aber es aus der o.g. Ausgangsfrage wird deutlich, dass sich zumindest die Gottesfrage zum Teil aus ihr ergibt. Traditionell gesehen bietet die allgemeine Ontologie nämlich nicht nur eine Verständigung über allgemeinste Bestimmungen. Sie gibt auch Antworten darauf, was wirklich, d.h. unabhängig von anderem existieren kann und was es genau heißt, dies tun zu können. In diesem Sinne entwickelt sie nicht nur oberste Begriffe wirklicher und möglicher Entitäten, sondern ordnet diese danach, ob sie zumindest tendenziell selbständig wirklich sein können oder hierzu auf die Wirklichkeit anderer Entitäten angewiesen sind.22 Blickt man auf die Überlegungen in Abschnitt I.1.1, wird man das Absolute oder ,Gott‘ als den paradigmatischen Fall von etwas selbständig Existentem ansehen.23 Dieser generellen Themeneingrenzung fügt Hegel zweitens eine erkenntnistheoretische These der Metaphysik hinzu. Ihr zu folge gilt, „daß das, was ist, damit daß es gedacht wird, an sich erkannt werde“ (Enz. § 28, GW 20, S. 70). Damit mein Hegel genauer den „Glauben“24, „daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objecte wahrhaft sind, vor das Bewußtseyn gebracht werde.“ (Enz. § 26, GW 20, S. 69) Wenn Hegel hier allgemein von ,Nachdenken‘ spricht, dann zielt er darauf ab, dass allgemeinontologische und kate-
wende den Ausdruck im weiten und nicht im eingeschränkten Sinne der Kategorien der Seinslogik (vgl. etwa WdL I/2, GW 11, S. 394), was Hegel bisweilen selbst tut. Vgl. Enz. § 3A, GW 20, S. 42 oder WdL I/1, GW 21, S. 10. 20 Vgl. M 22011, S. 20. Nimmt man etwa mit Hegel an, dass ,Leben‘ eine allgemeinontologische Kategorie darstellt, müsste man sagen, dass Winfried Lücke nicht der wäre, der er ist, wenn er für den gesamten Zeitraum seiner Existenz kein Lebewesen, sondern stattdessen etwa eine Maschine wäre. Vom „Inhalt der Logik“ sagt Hegel daher auch, er bestehe in der Untersuchung der „Natur der reinen Wesenheiten“ (WdL I/1, GW 21, S. 8). Vgl. auch Enz. § 24, GW 20, S. 67 f. 21 Vgl. Enz. §§ 34–36, GW 20, S. 73 f. 22 Zur aristotelischen Ontologie-Konzeption vgl. S 2009, S. 350–356. 23 Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es andere relativ selbstständige Individuen geben kann. Zur Frage des Monismus bei Hegel vgl. H 1990 und unten Abschn. III.5.2. 24 Man vergleiche dies mit Hegels Rede vom „Glauben“ in Enz. § 445, von dem oben in Abschn. I.2.1 ausführlich die Rede war. Vgl. ferner auch Enz. § 21A, GW 20, S. 66.
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gorientheoretische Fragen nicht allein durch Beobachtung oder empirische Hypothesenbildung beantwortet werden können – und zwar schon aus dem einfachen Grund, dass die empirische Theoriebildung immer schon ein metaphysisches Kategoriensystem als Vorbedingung voraussetzt.25 Beobachtet man etwa, dass sich raumzeitliche und relativ selbständige Individuen einer bestimmten Klasse unter bestimmten reglementierten Umständen gleich oder regelmäßig verhalten, hat man mit diesen allgemeinen Bestimmungen schon eine Vorentscheidung getroffen, was als jeweiliges Beschreibungsvokabular in Frage kommen kann. Und dieses zu explizieren, fällt weder für Hegel noch für die klassische Metaphysik allein in den Kompetenzbereich naturwissenschaftlicher Forschung. Wenn Hegel nun sagt, die vorkantische Ontologie habe den ,Glauben‘ vorausgesetzt, durch das Nachdenken zur ,Wahrheit‘ der Sachen selbst zu gelangen, so bedeutet dies, dass in dieser Perspektive die jeweiligen Bezugsgegenstände als solche oder ,an sich‘ epistemisch zugänglich sein müssen.26 Dieser epistemologische Realismus setzt dabei voraus, dass es den Gegenstandsbereich metaphysischer Aussagen wirklich gibt und als solcher meinungsunabhängig ist.27 Im stärkeren Sinne bedeutet der implizierte ontologische Realismus der Metaphysik, dass mentale Akte und Zustände von menschlichen Subjekten im Allgemeinen weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Existenz und die kategoriale Struktur von Entitäten überhaupt darstellt.28 Eine solche Aussage folgt schon aus der Modalität, mit der Entitäten kategoriale Bestimmungen exemplifizieren, die aber nicht gleichermaßen für das Vorliegen mentaler Akte gilt: Wenn eine beliebige Entität bspw. ,etwas‘ oder ein ,Einzelnes‘ ist, dann ist sie dies notwendigerweise und sie lässt sich dann analog zu „objectiven Gesetzen“ verstehen, „die ohne subjectiven Ursprung und keiner Willkühr und ihre Nothwendigkeit verkehrenden Behandlung fähig sind.“ (WdL II, GW 12, S. 131)29 Diesen beiden Thesen fügt Hegel schließlich drittens eine methodologische Beobachtung hinzu. Seiner Meinung nach hat die vorkantische Metaphysik allgemein- und speziell-ontologische Fragen nach dem, was bestimmte Entitäten wirklich sind, durch einen bestimmten Gebrauch des Urteils zu beantworten versucht, den Hegel gleich in seiner Darstellung als defektiv einstuft: 25 Vgl. Enz. § 9, GW 20, S. 49. Dies schließt freilich nicht aus, dass etwa Entdeckungen oder Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft Einfluss auf die philosophische Explikation von Kategorien nehmen oder ihr zumindest vorarbeiten. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 11 f.; H 1987, Band 1, S. 79–99 und S 2018, S. 780–783. 26 Vgl. H 2002, S. 221 f. 27 Vgl. H 1993, S. 15 f.; H 2002, S. 357–359 und O 2007, S. 18. 28 Mit M. Willaschek könnte man hier noch präziser zwischen einer ,kausalen‘ und ,begrifflichen‘ Unabhängigkeit unterscheiden. Vgl. W 22015a, S. 30 f. Letztere würde im vorliegenden Fall bedeuten, dass nicht alle materialen Inferenzen einer beliebigen metaphysischen Aussage in letzter Konsequenz Aussagen über menschliche mentale Zustände oder Akte darstellen. Dem entspricht ungefähr die erste der beiden Bedeutungen von Hegels Objektivitätsbegriff. Vgl. WdL II, GW 12, S. 87 und 131; und hierzu H 2002, S. 246 f. 29 Vgl. dieser weiteren, entscheidenden Bedeutungsdimension des Objektivitätsbegriffs auch WdL II, GW 12, S. 87 und H 2002, S. 247.
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Jene Metaphysik setzte überhaupt voraus, daß die Erkenntniß des Absoluten in der Weise geschehen könne, daß ihm Prädicate beigelegt werden, und untersuchte weder die Verstandesbestimmungen ihrem eigenthümlichen Inhalte und Werthe nach, noch auch diese Form, das Absolute durch Beilegung von Prädicaten zu bestimmen. (Enz. § 28, GW 20, S. 70 f.)
Eine hegelsche Metaphysikkritik lässt sich daher in erster Linie als eine Kritik der üblichen Urteils- und Definitionspraxis verstehen. Ob und inwiefern tatsächlich jede Urteilsform von Hegels Kritik betroffen ist,30 hängt daher davon ab, wie Hegel seine Kritik genau entwickelt. Betrachten wir daher zwei von Hegels Beispielen. (1) „[D]ie Seele ist einfach“ (Enz. § 28A, GW 20, S. 71). (2) „Gott ist ewig“ (Enz. § 31A, GW 20, S. 72).
In beiden Fällen handelt es sich um zwei speziell-metaphysische Aussagen und bei (2) sogar um eine, die Hegel inhaltlich für korrekt hält.31 Was er an beiden Fällen genauer für problematisch hält, ist der Anspruch, der mit diesen Aussagen verbunden ist. Denn da sie philosophische Aussagen darstellen, die über das Alltagswissen hinausgehen, treten sie mit der Absicht auf, dass „erst durch das Prädicat (d.i. in der Philosophie durch die Denkbestimmung) angegeben werden soll, was das Subject d.i. die anfängliche Vorstellung sey.“ (Enz. § 31, GW 20, S. 72)32 Eine informative Auskunft, was man nun eigentlich meinen sollte, wenn man von der ,Seele‘ oder von ,Gott‘ spricht, erhält man also dieser These gemäß erst durch die Aussage, die Seele habe keinerlei körperliche Teile oder Gott sei nichtzeitlich. Da es aber keinesfalls offensichtlich ist, dass etwa mentale Zustände nur einer unkörperlichen Substanz zugeschrieben werden können oder dass Gott vollständig jenseits der Zeit existiert, provoziert dies sofort die hegelsche Forderung, die jeweiligen Satzprädikate „ihrem eigentümlichen Inhalte und Werthe nach“ (Enz. § 28, GW 20, S. 70 f.) genauer zu untersuchen. Wie kann man aber entscheiden, ob die fraglichen Prädikate überhaupt auf den Referenzgegenstand zutreffen, wenn man nicht zugleich voraussetzt, dass die implizite Kennzeichnung im Satzsubjekt den „Maßstab“ dafür bildet, „ob die Prädicate passend und 30 Dies suggeriert Hegel etwa in Enz. § 31A GW 20, S. 72. Eine solche pauschale Kritik wirkt aber nicht nur selbstwidersprüchlich, weil Hegel sie selbst in Urteilen äußert. Vgl. H 1990, S. 26. Misst man sie an dem Umstand, dass es nach Hegel vier Urteilsformen mit jeweils drei Unterformen gibt, dann ist sie zugleich wenig informativ. Sind etwa ,apodiktische‘ Werturteile, deren inferentielle Grundlage hinreichend artikuliert wird, ebenso von der Kritik betroffen wie unbegründete, ,assertorische‘ Urteile über individuelle und kontingente empirische Sachverhalte? Im Folgenden werde ich Hegels sog. ,Urteilskritik‘ nur in dem oben entwickelten, eingeschränkten Sinne verstehen. Vgl. im Folgenden auch H 1990, S. 23–40; H 2008, S. 126–129 und M 2020, Kap. 5.2. 31 Vgl. unten III.5.5. 32 Zum Verhältnis zwischen der Alltagssprache und den Definitionsbemühungen der vorkantischen Metaphysik in hegelscher Perspektive, vgl. auch F 1975, S. xf.
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genügend seyen oder nicht“ (Enz. § 30, GW 20, S. 71)? Der methodologische Anspruch, erst durch die Prädikation sagen zu können, was etwas wirklich ist, kann also nur dann eingelöst werden, wenn man wiederum auf eine implizite Beschreibung des Referenzgegenstands rekurriert.33 Aber die Übersetzung dieser Kennzeichnung in eine echte Realdefinition ist es ja gerade, was die Prädikation leisten soll. Bevor man in diesem Sinne bspw. Satz (2) bildet, „wird“ ja von „Gott“ eben „noch nicht gewußt“, „was er ist“, und „erst das Prädicat sagt aus, was er ist“ (Enz. § 31A, GW 20, S. 72). Den einzigen Ausstieg aus diesem Zirkel sieht Hegel nun für die vorkantische Metaphysik darin, dass die Definitionsversuche jeweils auf das zurückgreifen, was man sich gemeinhin unter der ,Seele‘ oder ,Gott‘ – im technischen Sinne – ,vorstellt‘.34 Dabei vervollständigt man dann die jeweils übernommenen definiten Beschreibungen durch eine lose Konjunktion gewöhnlicher Attributionen und prüft das Endprodukt schließlich auf seine logische Konsistenz.35 Eine solche Praxis wird aber nicht nur ihrem Anspruch nicht mehr gerecht, über die Alltagsauffassungen hinaus zu gehen. Da sie zudem die Kategorien eben nicht methodisch kontrolliert expliziert, folgt darüber hinaus, dass die jeweils zugeschriebenen Prädikate nicht einmal „der Fülle der Vorstellung (von Gott, Natur, Geist u.s.f.)“ (Enz. § 29, GW 20, S. 71) entsprechen, die zudem das einzige Kriterium bildet, warum gerade diese Prädikate in dieser Anzahl dem Subjekt zukommen müssen und keine anderen. Folgt man nämlich dem streng disjunktiven Schema solcher Prädikationen,36 dann wird man selbst Alltagsintuitionen nicht mehr gerecht werden können. Sagt man etwa, die Seele sei ausschließlich körperlos, wird man das Erleben der je eigenen raumzeitlichen Verkörperung verfehlen. Und behauptet man von Gott, er habe keinerlei Beziehung zur Zeit, dann wird nicht mehr klar, wie er seine Schöpfung zu jedem Zeitpunkt ihres Bestehens noch in der Existenz erhalten kann.37 Ob diese Kritik tatsächlich auf einer benevolenten Interpretation vorkantischer Metaphysik beruht, kann hier nicht entschieden werden. Wichtiger in diesem Kontext ist, was daraus für Hegels Verhältnis zum Gesamtprojekt der Metaphysik folgt. Offensichtlich bestreitet er keineswegs, dass es sinnvoll ist, die allgemeinsten Begriffe der Klassifikation aller Entitäten (vollständig) zu explizieren,38 um von dort aus spezifischere Aussagen darüber treffen zu können, was 33
Vgl. zu dieser hegelschen Kritiklinie auch H 1990, S. 36. Vgl. Enz. § 30, GW 20, S. 71. Zum hier verwendeten Begriff der ,Vorstellung‘ und deren Genese vgl. unten III.3.3. 35 Vgl. Enz. § 33, GW 20, S. 72 f. 36 Vgl. Enz. § 32, GW 20, S. 72. 37 Zum Verhältnis des Absoluten zur Zeit vgl. unten Abschn. III.5.5. 38 Dies deckt sich noch mit K. Hartmanns Lesart, der Hegel wesentlich als Kategorientheoretiker versteht. Die nicht-metaphysische Dimension besteht nach Hartmann vielmehr darin, dass Hegels Ontologie (i) auf Existenzerklärungen von Dingen verzichtet (vgl. H 1972, S. 117 f.), wohl aber die Instantiierung der Kategorien voraussetzt (vgl. ebd., S. 110). (ii) soll Hegels Kategorienlehre nicht auf einen Reduktionismus oder Typenmonis34
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es etwa mit mentalem Leben oder Gott auf sich hat. Da Hegel selbst mit der Enzyklopädie ein umfassendes Kategoriensystem vorlegt, eine philosophische Psychologie zumindest in Grundzügen ausgearbeitet hat und im Rahmen der beiden Logiken und der Religionsphilosophie den Gottesbegriff vollständig zu entwickeln versucht, wäre eine fundamentale Metaphysikkritik offensichtlich selbstwidersprüchlich.39 Was Hegel tatsächlich kritisiert, ist die Art und Weise, wie man zu seinen jeweiligen Aussagen gelangt. Nimmt man die o.g. Kritik als Negativfolie, so folgt daraus, dass eine echte begriffliche Bestimmung einer Sache nicht alltägliche Kennzeichnungen ohne weitere Kriterien und ohne Prüfung ihrer Kohärenz in einer willkürlichen Konjunktion zusammenfassen sollte. Vielmehr muss ein Begriff über ein immanentes Kriterium verfügen, alle möglichen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zu explizieren. Im Folgenden werden wir genauer sehen, wie Hegel etwa anhand des Begriffs des Absoluten zeigt, wie man jeweils durch die begriffliche Explikation einer theologischen Kategorie zur nächsten übergehen kann.40 Als erstes Zwischenergebnis lässt sich aber festhalten, dass Hegel zwar die unreflektierte Methode der vorkantischen Metaphysik, aber nicht deren Untersuchungsvorhaben als Ganzes in Frage stellt.41 Für nicht- bis anti-metaphysische Hegellesarten bleiben daher im Sinne der genannten Thesen nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder man bestreitet den von Hegel der Metaphysik unterstellten epistemologischen Realismus.42 Oder man gesteht dies zu, versucht aber mit Hegel bestimmte traditionelle speziellmetaphysische Aussagen zu bestreiten – allen voran etwa klassische Aussagen über Gott und seine Existenz.43 Beide Möglichkeiten lassen sich dabei auf das gemeinsame Motiv zurückführen, Hegel in erster Linie als nachkantischen Philosophien zu verstehen. Denn beide Optionen wären nichts anderes als Varianten oder Verschärfungen der kantischen Kritik.44 mus festgelegt sein (vgl. ebd.). Einen kantischen Anti-Realismus hält Hartmann hingegen mit Hegel für selbstwidersprüchlich (vgl. ebd., S. 117). 39 In der Logik-Vorlesung von 1831 heißt es daher über das „Denken“ der Metaphysik: „Dieses Denken kann echt spekulatives Denken sein oder ein Denken, das sich in endlichen Bestimmungen hält, ein Denken des Wahrhaften oder des Endlichen, was keine Wahrheit hat […].“ (VL 10, S. 24) 40 Vgl. die Ergebnisse in der Übersicht in II.4.1. 41 Hegel ist daher in seiner Metaphysikkritik durchaus konsequent, wenn er selbst noch der „Kantische[n] Philosophie“ vorwirft: „Sie läßt die Kategorien und die Methode des gewöhnlichen Erkennens ganz unangefochten.“ (Enz. § 60A, GW 20, S. 98) 42 Vgl. u.a. P 1989, S. 98 f. 43 In der Literatur wird dies zumeist mit der These zugespitzt, Hegel verneine die Existenz von ,transzendenten‘ Entitäten, deren Annahme dann der klassischen Metaphysik unterstellt werden. Vgl. u.a. F 1958, S. 348 f.; R 1988, S. 255; H 2005, S. 138 f.; S 2009, S. 61 und R 2017, S. 361. Allerdings ist hier der Transzendenzbegriff nicht immer klar. Vgl. unten III.5.2. Versteht man darunter etwa mit M. Rosen „objects beyond the range of sensible experience“ (R 1988, S. 255), würde etwa schon der oben in I.1.1 eingeführte Begriff des ,Absoluten‘ eine transzendente Entität bezeichnen – von abstrakten Entitäten ganz zu schweigen. 44 Dabei geht es in erster Linie nur um systematische Fortsetzungen und Verschärfungen
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Wäre eine der beiden Interpretationsmöglichkeiten exegetisch korrekt, dann würde die hier vorgeschlagene Hegellesart in offensichtliche Schwierigkeiten geraten: Aus der ersten Option würde folgen, dass etwa theologische Wahrheitsansprüche nicht im hegelschen Sinne objektiv wären, was aber mit dem bislang entwickelten Begriff des Absoluten inkompatibel wäre.45 Nach der zweiten Option müsste das Rechtfertigungsproblem hingegen direkt zugunsten des Atheismus gelöst werden. Was von der zweiten Option zu halten ist, wird im Gesamtverlauf von Teil II deutlich werden. Daher werde ich mich hier lediglich der ersten Deutungsoption zuwenden. Dabei wäre zunächst zu fragen, was genau die kantische Gegenposition zu der epistemologischen „Voraussetzung“ sein soll, „daß das, was ist, damit, daß es gedacht wird, an sich erkannt werde“ (Enz. § 28, GW 20, S. 70). Offensichtlich müsste das zumindest bedeuten, dass die kategoriale Natur aller Entitäten nicht etwas ist, was diese selbst ausmacht, sondern nur bezüglich desjenigen Kategoriensystems besteht, auf das wir zurückgreifen, wenn wir Entitäten zu erkennen beanspruchen. Mithilfe kantischer Kategorien gesprochen heißt das: Jeder mögliche Referent unserer Aussagen kann nur dann bspw. ein numerisch einzelner, relativ selbständiger, kontingenter und raumzeitlich verkörperter Eigenschaftsträger sein und in naturgesetzlich geregelten Kausalbeziehungen stehen, wenn es ein von uns in Urteilsakten verwendetes Kategoriensystem gibt, in Bezug zu dem der Referent seine kategoriale Struktur besitzt bzw. besitzen muss.46 Analysiert man in diesem Sinne dann genauer, was es für eine beliebige Entität X heißt, ein raumzeitlich identifizierbares Einzelding zu sein, dann trifft man nur eine Aussage über das, was in unseren Aussagen über X (womöglich notwendigerweise) involviert ist, nicht aber das, was X im hegelschen Sinne ist. Nur in dieser Hinsicht sind dann – in Kants berühmter Formulierung – „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung […] zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (KrV A 158/B 197). Eine solche Auffassung unterscheidet sich aber wesentlich von der Erkennbarkeitsthese, die Hegel nicht nur der vormaligen Metaphysik, sondern auch sich
von kantianistischen Annahmen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine epistemologischrealistische Kantlesart möglich, wenn nicht sinnvoll ist. Vgl. etwa K 2004, S. 108–110 und ebd., S. 121 f. Auf Kants Beziehung zum Theismus in theoretischer und praktischer Hinsicht gehe ich unten in II.2.2 und II.3.1 genauer ein. 45 Vgl. oben Kap. I.2. 46 „Indeed, Kant argued convincingly that the possibility of any cognitive relation to objects presupposed an original and constitutive ,relation to self.‘ Thereafter, instead of an a priori science of substance, a science of ,how the world must be‘ (even, as in early modern philosophy, the world of mental substance or mental content), a putative philosophical science was directed to the topic of how any subject must ,for itself‘ take or construe or judge the world to be.“ (P 1990, S. 839) Ähnlich heißt es an anderer Stelle über die gemeinsame Basis von Kant und Hegel: „They […] agree that, contrary to the rationalist tradition, human reason can attain nonempirical knowledge only about itself, about what has come to be called recently our ,conceptual scheme‘ […].“ (P 1989, S. 8)
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selbst zuschreibt. Sie folgt aus den zwei Überzeugungen, von denen oben schon in Abschnitt I.2.1 die Rede war. Hegel vertritt erstens die Aussage, dass von jeder Entität gilt, dass sie eine natürliche Art bzw. einen ,Begriff‘ exemplifizieren muss und sich daraus ihr So-Sein und ihr eigentümliches Verhalten erklären lässt.47 Zweitens meint Hegel, dass die Gehalte von wahren Urteilen, in denen die Natur einer Sache zum Ausdruck gebracht wird, strukturell mit dem identisch sind, was die Sache selbst zu dem macht, was sie ist.48 Aus der ersten Überzeugung folgt dann zum einen, dass jede Entität nur das sein kann, was sie ist, wenn sie genau diese kategoriale Struktur instantiiert.49 In Konjunktion mit der zweiten These ergibt sich zum anderen, dass die kategoriale Struktur nicht nur die spezifische Identität einer Entität konstituiert, sondern sie zugleich zu einem möglichen Bezugsgegenstand eines dann ebenfalls möglichen, ,wahren‘ und ,vernünftigen‘ Urteils über sie macht.50 Eine solche Erkennbarkeitsthese ist insofern stärker als der oben genannte epistemologische Anti-Realismus, weil das, was eine Entität jeweils erkennbar macht, auf das zurückführbar ist, was diese ihrer Art und Natur nach selbst ist und nicht lediglich mit den (notwendigen) Bedingungen unserer Urteilspraxis identisch ist. Während also nach Hegels Auffassung, die wahre Aussage ,X ist ein raumzeitlich verkörpertes Einzelding‘ nur dann möglich ist, weil X dies selbst seiner Natur nach ist und darin „an sich erkannt“ (Enz. § 28, GW 20, S. 70) werden kann, entfällt diese Bedingung für den Anti-Realismus. Da Hegel sich diese stärkere These selbst zuschreiben muss, erklärt sich nicht nur leicht, wie Hegel zu Urteilen über die vorkantische Metaphysik wie dem folgenden kommen kann: „[S]ie stand durch diese Voraussetzung, daß das, was ist, damit, daß es gedacht wird, an sich erkannt werde, höher als das spätere kritische Philosophiren.“ (ebd.)51 Mögliche nicht-metaphysische Hegellesarten 47 Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 87–89, Enz. § 179, GW 20, S. 190 f. und zu Hegels Essentialismus im Allgemeinen u.a. S 1990, Chap. 3; H 2005, S. 152–158 und K 2016. 48 Vgl. Enz. § 439, GW 20, S. 434 und die Erläuterung in Abschn. I.2.1. Chr. Halbig bemerkt treffend, dass sich ein Anti-Realismus auf eine asymmetrische Abhängigkeitsbeziehung der Bezugsgegenständige unserer Urteile zu unseren mentalen Akten festlegt, die mit der Symmetrie der Identitätsbeziehung in Hegels Erkennbarkeitsthese inkompatibel ist. Vgl. H 2002, S. 367. 49 Aufgrund der artübergreifenden Allgemeinheit von Kategorien folgt z.B. aus der Aussage ,x ist ein tierisches Lebewesen‘ die allgemeinontologische Aussage ,x ist ein raumzeitlich verkörpertes Individuum‘. Die Instantiierung einer natürlichen Art ist damit zugleich die Exemplifikation einer Kategorie. 50 Da der Essentialismus natürlicher Arten und die kognitive Identitätsthese Grundbestand aristotelischen Denkens ist, kann daher auch ein mittelalterlicher Aristoteliker sagen: „Der dem Verstand [intellectus] eigene Gegenstand ist […] das Seiende als geistig Erkennbares [ens intelligibile]. Und dieses umfasst alle Unterschiede und Arten des Seienden, die möglich sind [omnes differentias et species entis possibile]. Denn alles, was sein kann, das kann auch geistig erkannt werden.“ (SCG II, Kap. 98, S. 497) Zu Thomas’ These universeller Erkennbarkeit vgl. K 1997, S. 188. 51 Vgl. Q 2011, S. 51 f.
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müssen sich aber nicht nur an den genannten Ansprüchen von Hegels Philosophie messen lassen. Sie müssen ebenfalls der Tatsache Rechnung tragen, dass Hegel diese Thesen gerade gegen die kantische Version des epistemologischen Anti-Realismus in Stellung bringt.52 Zu ihr gehört die modal verstärkte Annahme, dass kategoriale Bestimmungen nicht nur als essentielle Konstituenten von Entitäten aufgefasst werden müssen, sondern zugleich notwendige Ermöglichungsbedingungen unserer Urteilspraxis darstellen, in der wir auf diese Entitäten Bezug nehmen.53 In diesem Sinne wird etwa notwendigerweise in jeder empirischen Elementaraussage der Form ,a ist F‘ der Referent des singulären Terminus ,a‘ als raumzeitliche ,Substanz‘ aufgefasst. Da nun aber diese kategorische Einordnung nur relativ zu unserem Kategoriensystem gelten soll, ergänzt Kant diese erste Annahme bekanntlich durch die These, dass die Bezugsgegenstände unserer Urteile ,an sich‘ ganz anders verfasst sein können, als sie für uns ,erscheinen‘.54 In Hegels Worten ausgedrückt besteht also die Aufgabe der kantischen Kategorienlehre nicht nur darin, „daß sie […] die Begriffe betrachte, die sich a priori [Hervorhebung im Original fett, W.L.] auf Gegenstände beziehen“. Auch und v.a. geht es ihr um den „Ursprung unserer Erkenntniß […], insofern sie nicht den Gegenständen zugeschrieben werden könne.“ (WdL I/1, GW 21, S. 47)55 Nun ist es für Hegel nicht ausgeschlossen, die erste Annahme zu akzeptieren, die zweite aber zu verneinen.56 Unabhängig davon ist es aber ohne weiteres offensichtlich, dass Hegel die zweite Annahme verwirft. Genau genommen kann sie nach Hegel in der Konjunktion mit der ersten überhaupt nicht konsistent vertreten werden: Da man sich transzendentalphilosophisch nach Kant nur über das verständigen kann, wie wir in jeder möglichen propositionalen Bezugnahme de-
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Vgl. H 2002, S. 221 f. Die Grundüberlegung der sog. ,metaphysischen Deduktion‘ scheint zu sein, dass schon die logische Form etwa eines singulären Elementarsatzes oder einer konditionalen Aussage zu einer bestimmten ontologisch-kategorialen Auffassung des jeweiligen Bezugsgegenstandes verpflichtet. Vgl. bes. die Rekonstruktion in K 2004, S. 122–134. Diesen Zusammenhang zwischen Logik und Ontologie übernimmt Hegel in anderer Form. Vgl. V 1993, S. 228. 54 Vgl. u.a. KrV A 27/B 44; A 369; A 490 f./B 518 f.; und hierzu auch W 2018, S. 138. 55 Vgl. zur exegetischen Korrektheit dieser These etwa H 2002, S. 236–239 und S 1966, S. 20–22. 56 In diesem Sinne scheint Hegel Kants Grundgedanken der ,metaphysischen‘ Deduktion in sein eigenes Projekt einer ,Wissenschaft der Logik‘ zu integrieren und die beiden Teile der objektiven Logik mit Kants ,transzendentaler Logik‘ engzuführen: „Das, was hier objective Logik genannt worden, würde zum Theil dem entsprechen, was bei ihm [=Kant, W.L.] transcendentale Logik ist.“ (WdL I/1, GW 21, S. 47) Dass Hegel diesen Grundgedanken nicht auf die ,Begriffslogik‘ ausdehnt, hat m.E. weniger damit zu tun, dass er in deren Rahmen keine Geltung mehr besitzen würde, sondern damit, dass Hegel die Behandlung der Kategorien bei Kant und der vorkantischen Metaphysik inhaltlich für defizient hält. Dem entspricht der Umstand, dass Hegel selbst eine Ontologie der Einzeldinge u.a. im Rahmen der Urteils- und Schlusslogik entwickelt. Vgl. etwa S 1990, Chap. 3 und K 2013, Kap. 4. 53
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ren Referenten auffassen müssen, folgt mit der zweiten Annahme, dass die Referenzgegenstände in ihrer geistunabhängigen Existenz und Verfassung für uns prinzipiell epistemisch unzugänglich sind. Zu dieser Kombination eines epistemologischen Anti-Realismus mit einem maximal reduzierten ontologischen Realismus der sog. ,Dinge an sich‘ schreibt Hegel: Das Ding an sich […] drückt den Gegenstand aus, in sofern von Allem, was er für das Bewußtseyn ist, […] abstrahirt wird. Es ist leicht zu sehen, was übrig bleibt, – das völlige Abstractum, das ganz Leere, bestimmt nur noch als Jenseits […]. Ebenso einfach aber ist die Reflexion, daß dies Caput mortuum [Hervorhebung im Original fett, W.L.] selbst nur das Product des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraction fortgegangenen Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht. Die negative Bestimmung, welche diese abstracte Identität als Gegenstand erhält, ist gleichfalls unter den Kantischen Kategorien aufgeführt, und ebenso etwas ganz bekanntes, wie jene leere Identität. – Man muß sich hiernach nur wundern so oft wiederholt gelesen zu haben, man wisse nicht, was das Ding-an-sich seye; und es ist nichts leichter, als diß zu wissen. (Enz. § 44A, GW 20, S. 81)
Anders formuliert: Da wir alle substantiellen kategorialen Bestimmungen abziehen müssen, um von ,Dingen an sich‘ sinnvoll zu reden, folgt nicht nur, dass das ,Ding an sich‘ – entgegen der Ausgangsbehauptung – selbst ein Produkt des denkenden Subjekts ist.57 Es bleibt auch als einziges Kriterium der Bezugnahme nur noch die höherstufige Eigenschaft numerischer Identität übrig: Denn diese Eigenschaft muss angenommen werden, damit das ,Ding an sich‘ überhaupt als möglicher Referent einer rein negativen Aussage identifiziert werden kann.58 Da numerische Identität aber zu denjenigen Eigenschaften gehört, die man am leichtesten erkennen kann, ist Kant zu der Annahme gezwungen, das ,Ding an sich‘ zugleich für prinzipiell unerkennbar und im höchsten Maße für erkennbar zu halten. Allerdings sind damit die Ressourcen für eine anti-realistische Lesart Hegels noch nicht erschöpft. Denn den Inkonsistenznachweis könnte man genauso gut als ein Argument zu ihren Gunsten auslegen. In diesem Sinne könnte man gerade den epistemologischen Anti-Realismus als Prämisse für ein Argument gegen Kants Aussage anführen, dass es einige Entitäten gibt, die geistunabhängig existieren. Entsprechend müsste Hegel jegliche Form des ontologischen Realismus leugnen und alle möglichen hochstufigen Aussagen über die kategoriale Struktur 57 Mit L. Puntel könnte man daher sagen, dass Kant in seiner Rede vom ,Ding an sich‘ den Geltungsskopus transzendentaler Sätze pragmatisch so ausdehnt, dass er nicht mehr mit demjenigen übereinstimmt, den Kants Transzendentalphilosophie ihnen explizit zuschreibt. Vgl. P 1983, S. 214 f. und zu Hegels Kritik an Kants Annahme von ,Dingen an sich‘ auch M 2020, S. 151–156. 58 Es ist auch fraglich, ob man überhaupt eine beliebige Entität als existent annehmen kann, von der man die Merkmale und Eigenschaften ebenso wenig kennen kann wie ihre spezifische Identität. Unter der gängigen Quantorenanalyse des Existenzprädikats, die Kant bisweilen unterstellt wird, ist dies schon prinzipiell unmöglich, wie etwa M. Willaschek zeigt. Vgl. W 22015a, S. 14.
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aller Entitäten als Aussagen über unsere Urteilsakte und den notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit auffassen.59 Eine solche Lesart gerät aber nicht nur mit der Tatsache in Konflikt, dass Hegel die These bestreitet, das System der Kategorien, das er auch den ,Begriff‘ im Singular nennt,60 sei identisch mit möglichen Urteilsakten oder Weisen der ,Synthesis‘ des ,empirisch Mannigfaltigen‘.61 Neben Hegels anti-psychologistischen Grundüberzeugungen stellt sich in systematischer Hinsicht noch ein tiefergehendes Problem. Dies wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, wie ein Anti-Realismus eigentlich aussehen müsste, der zwar Kants reduzierten ontologischen Realismus verwirft, an der modalen These über die notwendigen Erkenntnisbedingungen hingegen festhält.62 Offenbar bleiben dem Anti-Realisten nur zwei Optionen: Entweder er beschränkt sich lediglich auf die Annahme, dass wir uns die kategoriale Struktur von Entitäten, auf die wir Bezug nehmen, nicht anders denken können. Dann würde man aber kaum über die dargestellte hegelsche Position hinausgehen. Formuliere ich in diesem Sinne etwa eine beliebige korrekte Behauptung über ein endliches Individuum X von einer bestimmen Art,63 dann bleibt für mich nicht nur deshalb kein großer allgemeinontologischer Spielraum, weil die entsprechende Kategorie die propositionale Bezugnahme ermöglicht. Eine mögliche alternative Auffassung wird zudem dadurch blockiert, dass X selbst mit metaphysischer Notwendigkeit unter die Kategorie des ,Einzelnen‘ fallen muss.64 Ein radikalisierter Anti-Realismus müsste daher also die o.g. 59 In diese Richtung geht deutlich die Lesart Pippins, wenn er Hegels Idealismus mit der Form des ,internen Realismus‘ in Verbindung bringt, die H. Putnam zeitweilig prominent vertreten hat. Vgl. P 1989, S. 98 f. und zu dieser Einordnung auch S 2009, S. 47. 60 Vgl. u.a. Enz. § 160, GW 20, S. 177 und WdL I/1, GW 21, S. 17. 61 Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 20 und 22 f. sowie Enz. § 167, GW 20, S. 183 f. Den Unterschied zwischen subjektiven Urteilsakten und deren objektiven propositionalen Gehalt macht Hegel an Stellen wie der letztgenannten deutlich: „Jenem bloß subjectivseynsollenden Sinn des Urtheils, als ob Ich einem Subjecte ein Prädikat beylegte, widerspricht der vielmehr objective Ausdruck des Urtheils: die Rose ist roth, das Gold ist Metall u.s.f.; nicht Ich lege ihnen etwas erst bey.“ (ebd., S. 183) Aufgrund solcher Überlegungen wird daher auch gegen Pippins Lesart argumentiert. Vgl. S 1991, S. 65; S 2009, S. 48–50; und M 2020, S. 445; zu Hegels Anti-Psychologismus im Allgemeinen vgl. ferner H 1987, Band 1, S. 70 f.; S 2000, S. 134 f. und W 2010, S. 78 f. 62 Diese Kritiklinie entwickelt R. Stern zu Recht gegen Pippin. Vgl. hierzu und im Folgenden u.a. S 2009, S. 53 f. 63 Da Anti-Realismen im Gefolge Kants global formuliert sind, müssten auch Aussagen über kognitive Akte und Zustände bezüglich eines Kategoriensystems relativiert werden, wobei in der Konsequenz auch dessen ontologischer Status selbst relativiert werden müsste. Zu diesem Regressproblem vgl. bes. A 2001, S. 32 f. Die anti-ontologische Haltung wird daher, wie F. Knappik zeigt, in nicht-metaphysischen Hegellesarten auch nicht konsequent durchgehalten. Vgl. K 2013, S. 183–185. 64 In diesem Sinne lässt sich W. Alstons rhetorische, an Kant gerichtete Frage reformulieren: „If we cannot even conceive the abstract possibility of alternative conceptualizations (perhaps for other cognitive subjects), if our way of doing it is the one and only possible way, then how does that differ from holding that (apart, of course, from mistakes in details) our way of representing reality is just the way it is in itself?“ (A 2001, S. 28)
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hegelsche epistemische Identitätsthese angreifen. Damit würde er sich aber in Hegels Sinne die Beweispflicht auflasten, dass ein hinreichender Grund zum Zweifel an dieser These tatsächlich gegeben ist.65 Wie aber könnte ein solcher Nachweis aussehen? Offensichtlich müsste er spätestens im Schlusssatz zu ihrer Leugnung führen. Damit würde sich der Anti-Realist aber gleich im doppelten Sinne selbst widersprechen, worauf Kritiker solcher Hegel-Lesarten hingewiesen haben: Denn einerseits müsste es dem Anti-Realisten eben möglich sein, zu denken, dass es sich anders verhalten könnte.66 Dies würde aber schon der restringierten, modalen Fassung seines Anti-Realismus’ widersprechen, dem zufolge dies jedem menschlichen Erkenntnissubjekt gerade unmöglich sein soll. Kategorien sollen ja notwendige Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnisansprüche darstellen – einschließlich der höherstufigen Aussagen über diese Bedingungen selbst. Andererseits müsste er – wenn er dies denn überhaupt könnte – auf die mögliche Diskrepanz zwischen dem, was wir denken müssen, und dem, was wirklich der Fall ist bzw. sein kann, verweisen.67 Damit hätte er aber wiederum eine dem ,Ding an sich‘ analoge Entität ins Spiel gebracht und könnte nicht mehr Hegels Inkonsistenznachweis als definiens seiner eigenen Position anführen.68 Für eine Hegellesart, die den epistemologischen und ontologischen Realismus der vorkantischen Metaphysik leugnet, bleibt daher exegetisch und vermutlich auch systematisch gesehen wenig Spielraum. Hegels Kritik richtet sich daher auch nicht gegen die epistemologische Annahmen der Metaphysik, sondern vielmehr gegen den Inhalt ihrer kategorientheoretischen Aussagen, deren Bildung seiner Meinung nach nicht hinreichend methodisch kontrolliert ist und deren Begründung daher schwach bis intransparent bleibt.69 Für eine Metaphysikkritik 65 Vgl. S 2009, S. 51 f. Die exegetische Frage ist dann freilich, wie man Hegel einen solchen Zweifel zuschreiben kann, wenn dieser zugleich der Überzeugung ist, in der Phänomenologie des Geistes schon alle Zweifelsmöglichkeiten einer immanenten Kritik unterzogen zu haben. Vgl. Enz. § 25A, GW 20, S. 68 f.; § 78A, GW 20, S. 117 f. und S 1991, S. 66. 66 Vgl. S 2009, S. 53 f. 67 Vgl. zu diesem Problem K 2013, S. 183. 68 Der einzige Ausweg müsste dann darin bestehen, die These der Alternativlosigkeit unseres Kategoriensystems zu verwerfen und stattdessen eine Pluralität möglicher Begriffsschemata anzunehmen. Wie W. Alston zeigt, lässt sich eine globale These der multiplen ,konzeptuellen‘ Relativität aller Entitäten aber nicht kohärent vertreten. Bspw. müsste eine solche Annahme zumindest davon ausgehen, dass unterschiedliche Aussagen über bestimmte Entitäten in alternativen Kategoriensystemen inkompatible Wahrheitswerte haben. Wie können aber zwei Aussagen in zwei Systemen miteinander inkompatibel sein, wenn man nicht über ein und dieselbe Entität spricht, der dann in beiden Systemen kontradiktorische Eigenschaften zugeschrieben werden? Nach Alston müsste sich eine solche These entweder selbst relativieren, womit sich das Problem von neuem stellen würde. Oder man müsste doch die Existenz einer konzeptuell neutralen Entität annehmen, die aber gerade ausgeschlossen werden soll. Vgl. A 2001, S. 33 f. 69 Hegel schreibt Kant immerhin die Leistung zu, den antinomischen Charakter des Inhalts einiger klassischer Kategorienanalysen aufgezeigt zu haben, hält aber gerade Kants Anti-Realismus für die falsche Therapie. Vgl. hierzu u.a. Enz. § 48A, GW 20, S. 84 f. und unten Abschn. II.2.6.
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im Sinne Kants bleibt damit nur eine Interpretationsoption übrig, die bei Hegel Einwände an speziell-metaphysischen Thesen der klassischen Metaphysik nachweist – darunter bestimmte theologische Überzeugungen.70 Auch hier müsste freilich gezeigt werden, ob Hegel solche Aussagen im Gefolge Kants vollständig ablehnt und nicht etwa nur revidiert bzw. modifiziert. Und wie schon eingangs deutlich wurde, erfordert dies einen genauen Blick auf Hegels Umgang mit Kants tatsächlichen Einwänden. In den folgenden Abschnitten werde ich ausführlich dafür argumentieren, dass Hegel fast alle Prämissen von Kants Argument für die Unmöglichkeit natürlicher Theologie verwirft und stattdessen eine ganz andersgelagerte Kritik vorlegt. Dies schließt freilich zunächst nur Kants Kritik in der transzendentalen Dialektik, nicht aber mögliche Einwände aus der Analytik aus. Akzeptiert man etwa Kants grundlegende These, dass Kategorien „bloße Gedankenformen ohne objektive Realität“ sind, wenn „wir keine Anschauung zur Hand haben“ (KrV B 148),71 dann folgt, dass ein propositionaler Wahrheitsanspruch über Gott als einem wesentlich nicht-empirischen Individuum im strengen Sinne keinen repräsentationalen Gehalt haben kann.72 Denn von Kategorien gilt laut Kant, dass „[u]nsere sinnliche und empirische Anschauung ihnen allein Sinn und Bedeutung verschaffen [kann]“ (ebd., B 149). Hegel äußert sich zu diesem kantischen „principle of significance“73 und seinen vermeintlichen Konsequenzen für metaphysische ,Ideen‘ zwar zumeist bloß polemisch.74 Das bedeutet allerdings nicht, dass eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Kants Prämisse nicht gerechtfertigt wäre, wie ich abschließend zumindest kurz andeuten möchte.
70 Für gewöhnlich wird der Ausdruck ,nicht-metaphysisch‘ in der Gegenwartsdebatte nicht nur als Synonym für ,anti-realistisch‘ verwendet, sondern auch als Abgrenzung gegenüber sog. ,monistischen‘ Lesarten gebraucht, darunter dann auch Varianten theistischer Metaphysik. Vgl. P 1989, S. 3 f. Dass diese Begriffsverwendung, univok verstanden, zu Widersprüchen führt, zeigt sich bspw. daran, dass Interpreten wie J.N. Findlay als ,nichtmetaphysisch‘ eingestuft werden (vgl. R 1988, S. 253–255 und R 2017), obwohl Findlay nicht nur selbst eine ,monistische‘ Hegellesart vertritt (vgl. F 1979 und . 1967, S. 100–102), sondern Hegels Ansatz auf Basis seiner eigenen Theorie des Absoluten sogar kritisiert. Vgl. ebd., S. 102–107 und F 1979, S. 10. 71 Vgl. auch KrV A 155 f./B 194 f. 72 Mit M. Willaschek interpretiere ich die genannte Argumentationslinie hier so stark wie möglich. Vgl. W 2018, S. 256–262. Eine solche Lesart ist aber, wie auch Willaschek bemerkt, keinesfalls alternativlos. So heißt es etwa bei A. Wood: „If Kant does mean to argue in this fashion, […] he never tells us explicitly what his argument is.“ (W 1978, S. 96) Selbst in einer benevolenten Lesart hält Wood eine solche argumentative Strategie zudem für kaum überzeugend. Vgl. ebd. und ferner C 2009a, S. 127 f. 73 S 1966, S. 16. Auf Strawsons Bezeichnung werde ich im Folgenden durchgängig zurückgreifen. 74 „Hätte man es je denken können, daß die Philosophie den intelligiblen Wesen darum die Wahrheit absprechen würde, weil sie des räumlichen und zeitlichen Stoffes entbehren?“ (WdL II, GW 12, S. 23) Vgl. auch WdL I/1, GW 21, S. 29 f. und ferner unten II.2.3.
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Dazu muss man Kants Ansatz nur mit der Konklusion eines Arguments konfrontieren, das unter seinen Prämissen kaum wünschenswert sein kann. So wird bisweilen gegen die semantische Variante der o.g. Erkennbarkeitsthese, der zufolge für jede wahre Aussage gilt, dass sie im Prinzip gewusst werden kann, eingewandt, dass sie scheinbar absurde Konsequenzen zeitigt. Denn in Konjunktion mit relativ unproblematischen modalen und epistemischen Zusatzprämissen und der Annahme einer gegenwärtig nicht erkannten Proposition impliziert sie nachweislich, dass alle wahren Propositionen (gegenwärtig) gewusst werden.75 Da nun diese Aussage als Konklusion eines deduktiven Arguments aus notwendigen Prämissen selbst notwendigerweise wahr ist, folgt zugleich die notwendige Existenz derjenigen Personen oder Personengruppe, der dieses Wissen zugeschrieben werden kann.76 Ein solches Argument ist kein Problem für eine theistische Variante des semantischen Anti-Realismus,77 wohl aber für eine atheistische Version des Kantianismus, für den der semantische Anti-Realismus gewissermaßen unvermeidlich ist. Die naheliegendste Reaktion müsste dann darin bestehen, mit Kants o.g. Bedeutungsprinzip den Schluss auf die notwendige Existenz des Wissenden anzugreifen. Denn dann würde dieser für uns keine Aussage mit echtem repräsentationalen Gehalt mehr darstellen können, weil sein Gegenstand nicht im Kontext möglicher Wahrnehmung steht.78 Wie steht es dann aber mit der anti-realistischen Prämisse,79 dass es für uns keine wahre Aussage geben kann, von der wir nicht wissen können, ob sie wahr ist? Im Sinne des Bedeutungsprinzips müsste sie ebenfalls auf Urteilsgehalte eingegrenzt werden, deren Kategorien einen möglichen Bezug zu raumzeitlichen Individuen erkennen lassen. Es ist aber keinesfalls selbstverständlich, warum diese Einschränkung vorgenommen werden sollte. Denn selbst wenn man annimmt, dass unsere Urteilsbildung in erster Linie auf die Erkenntnis empirischer Individuen und Tatsachen ausgerichtet ist, folgt daraus noch nicht, dass es uns vollständig unmöglich ist, 75 Ich folge hier der Rekonstruktion des sog. Fitch-Paradoxes in B/S 2019. Vgl. ferner auch die kürzere Darstellung in W 2007, S. 37 f. 76 Diese Konsequenz findet man in Plantingas paralleler reductio gegen den semantischen Anti-Realismus. Vgl. P 1982, S. 64–66. 77 Vgl. u.a. ebd., S. 70 und H 2003, S. 384–394. Wie V. Hösle zeigt, ist dies auch unter allgemeinen objektiv-idealistischen Prämissen durchaus akzeptabel. Vgl. H 2015, S. 41–47. 78 Analog argumentiert Kant selbst gegen das kosmologische Argument, indem er das Bedeutungsprinzip auf unsere Modalkategorien anwendet. Vgl. KrV A 610/B 638 und dazu unten II.2.2. 79 Die anderen epistemologischen und modallogischen Prämissen wird ein Kantianer kaum bestreiten wollen. Sie bestehen nach Brogaard und Salerno zunächst in den unproblematischen Aussagen, dass (i) Wissen ein Erfolgsverb ist und (ii) jeder, der weiß, dass p und q, auch die Konjunkte einzeln weiß. Hinzu kommen die zwei ebenfalls unproblematischen Prämissen, dass (iii) alle abgeleiteten Theoreme notwendige Wahrheiten sind und (iv) die Aussage, notwendigerweise nicht-p, äquivalent ist mit der Aussage, dass p unmöglich ist. Vgl. B/S 2019, Sec. 2.
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auch wahrheitsfähige Aussagen über nicht-empirische Entitäten zu bilden – zumal, wenn man mit Kant eine analoge Erweiterung unserer normalen Kategorienverwendung erwägt.80 Um einen möglichen Willkürlichkeitsverdacht abzuwehren, könnte man dann etwa auf Kants These zurückgreifen, dass eine erfolgreiche Erkenntnis einen kausalen Kontakt des Erkenntnisgegenstands mit unserer Wahrnehmung als notwendige Bedingung voraussetzt.81 Ein solcher Zug scheint zwar prima facie plausibel, denn er gibt zumindest eine Erklärung, warum unsere epistemische Praxis notwendig anschauungsbezogen ist. Zusammen mit anderen kantischen Annahmen würde er aber unweigerlich einen Willkürverdacht zweiter Stufe hervorrufen. Denn nicht nur behauptet Kant, dass diejenigen logisch nicht-tautologischen Aussagen, die eine erfolgreiche naturwissenschaftliche Forschung möglich machen, gerade a priori zugänglich sind. Darüber hinaus vertritt er explizit die These, dass man etwa theologischen Aussagen im Rahmen der praktischen Philosophie indirekt einen echten repräsentationalen Gehalt zuschreiben kann82 – und dies auf Basis eines moralischen Grundprinzips, dass ebenfalls a priori zugänglich sein und zudem einen nicht-derivativen epistemischen Status besitzen soll. Im ersten Fall müsste Kant zumindest zugeben, dass etwa transzendentale Argumente einen Erkenntnisanspruch bspw. bezüglich nomologisch notwendiger, kausaler Regularitäten einlösen können.83 Im zweiten Fall müsste er hingegen zumindest für unsere moralische Praxis eine Form nicht-empirischer Intuition erlauben84 – etwa, dass nur diejenigen Handlungen moralisch erlaubt sein können, die auf strikt universalisierbaren Handlungsmaximen beruhen. Eine Fähigkeit, bestimmte nicht-empirische Aussagen auch ohne explizite Schlussfolgerungen einsehen zu können und für zwingend zu halten,85 wäre sicherlich nicht zu verwechseln mit derjenigen ,intellektuellen Anschauung‘, mit der Gott im Wissen um sich selbst in einem Akt zugleich alle von ihm unterschiedenen Dinge erkennt.86 Nimmt man die Fähigkeit rationaler Intuition aber zusammen mit der Legitimität transzendentaler Argumente für be80 So die vorsichtige Vermutung u.a. in KrV A 678/B 706. Auf dieser Basis argumentiert auch A. Wood gegen Argumente aus Kants Bedeutungsprinzip in W 1978, S. 96. 81 Vgl. etwa KrV A 19/B 33; A 92/B 124 f. und A 251 f. Ich folge hier der instruktiven Rekonstruktion in W 2015b und in . 2018, S. 251–254. 82 Vgl. KpV A 243/AA V, S. 135 und hierzu W 2010, S. 190 f. 83 So etwa Kants transzendentales Argument für das Kausalprinzip in der ,dritten Analogie der Erfahrung‘. Vgl. KrV A 189–211/B 233–256. 84 Vgl. Kants Rede vom „Faktum der Vernunft“ in KpV A 55 f./AA V, S. 31. 85 Zur Phänomenologie von menschlichen, nicht-empirischen Anschauungen vgl. bes. B 1992, S. 100–104 und WPF, S. 103–108. Analog lassen sich Hegels Äußerungen zum Thema deuten. Vgl. etwa oben I.1.2 und auch Enz. § 572, GW 20, S. 554 f. 86 In Kants Terminologie entspräche dem ein intuitiver „Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde“ (KrV B 135). In der Hegelliteratur wird diese göttliche ,intellektuelle Anschauung‘ bisweilen mit dem o.g. Typus rationaler Intuition identifiziert. Vgl. P 1989, S. 9 und K 2006, S. 473 f. Ein weitaus differenzierteres Bild von Kants Konzeption des anschauenden Verstands, das solche Fehlidentifikationen vermeidet, zeichnet hingegen H. Tegtmeyer in einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel „Augustinian Analogies? Kant and Hegel on Understanding Divine
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stimmte Fälle an, müsste man ein Entscheidungskriterium aufbieten können, warum in diesen Fällen das Bedeutungsprinzip und mit ihm die These vom kausalen Kontakt nicht verletzt wird. Andernfalls wären Paritätsargumente seitens des Rationalismus unvermeidlich.87 Der m.E. aussichtsreichste argumentative Zug müsste darin bestehen, mit Kant eine schwache Kausalbeziehung vom Subjekt aufs Objekt anzunehmen, in der sich die Form, nicht aber die Existenz der Erkenntnisgegenstände unseren kognitiven Akten verdankt.88 Damit würde aber nicht nur das kantische Kausalprinzip soweit aufgeweicht werden, dass der metaphysikkritische Zug des Bedeutungsprinzips womöglich nicht mehr nachvollzogen werden könnte.89 Darüber hinaus ist es fraglich, ob wirklich alle Klassen von legitimen Aussagen von beiden Prinzipien eingefangen werden können. Da Sätze wie das Bedeutungsprinzip etwa eine Aussage darüber erlauben, was überhaupt berechtigterweise geglaubt werden darf, müsste etwa plausibel gemacht werden, warum nicht auch Aussagen über epistemische Normen Kants Kriterien erfolgreicher Wissensansprüche zum Opfer fallen würden. Denn deontisch notwendige Aussagen folgen sicherlich nicht aus Aussagen über selbstbewirkte Sachverhalte ohne naturalistische Fehlschlüsse. Und wie steht es schließlich mit den erkenntnistheoretischen Aussagen, die über transzendentale ,Grundsätze‘ und diejenigen Prinzipien sprechen, die sie ermöglichen sollen? Ist etwa Kants sog. ,synthetische Einheit der Apperzeption‘ die Möglichkeitsbedingung für unsere legitime Anwendung der Kausalitätskategorie, dann kann sie nicht selbst in deren Skopus fallen. Aussagen über solche Prinzipien könnten dann aber nicht mehr die kausale Anforderung erfüllen und hätten daher für uns keinen positiven epistemischen Status.90
Intellect“, in dem er als einer der wenigen Interpreten die Beziehungen zwischen Augustinus einerseits und Kant und Hegel anderseits auslotet. Für die Einsichtnahme in das Manuskript sei H. Tegtmeyer an dieser Stelle herzlich gedankt. 87 Akzeptiert jemand aus seiner rationalen Intuition heraus ein schwaches Prinzip vom zureichenden Grund, aus dem die Existenz eines notwendigen Wesens folgt, könnte Kant nicht mehr die prinzipielle Zuverlässigkeit dieser Fähigkeit bezweifeln, ohne mit eigenen Annahmen in Konflikt zu geraten. Und selbst wenn Kant dazu in der Lage wäre, würde ihm dies nicht helfen können. Denn es gibt sehr wohl komplexe transzendentale Argumente für ein solches Prinzip. Vgl. C 1980, S. 267; K 2008 und P 2009, S. 28. 88 In dieser Weise kann man etwa Kants Bemerkung verstehen, „daß wir […] von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen.“ (KrV B XVIII) Ich folge hier wieder der Lesart in Willaschek 2015b, S. 140–142. 89 Wenn man etwa schon grundsätzlich die formierende Kraft epistemischer Akte anerkennt, warum dann nicht auch eine solche, die möglicherweise von Gott ausgeübt wird, wenn wir Überzeugungen über abstrakte und nicht-empirische Gegenstände bilden? Mit einer solchen These verbindet etwa A. Plantinga die kausalen Anforderungen der Erkenntnisbildung mit unserer Fähigkeit der rationalen Intuition. Vgl. WPF, S. 120 f.; WCRL, S. 290 f. und zur Diskussion K 2018. Zudem ist der Kausalitätsbegriff in der o.g. Kausalitätsbedingung für Erkenntnisse ohnehin schon viel weiter gefasst als in Kants Regularitätstheorie. Vgl. W 2015b, S. 133. 90 So argumentiert etwa Hegel in der Logik-Vorlesung von 1831, dass Kants transzenden-
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1. Kantianismus und natürliche Theologie
Ein möglicher Ausweg würde freilich darin bestehen, Formen rationaler Intuition auch hier anzunehmen, womit man aber keine nicht-zirkulären Gründe gegen erneute rationalistische Paritätsargumente mehr zur Verfügung hätte. Die einzige Alternative wäre dann, Kants transzendentalphilosophisches Projekt aufzugeben und sich ganz zum Empirismus zu bekennen. Ob ein solcher Zug systematisch vielversprechend wäre, lasse ich dahingestellt.91 Er würde sich ohnehin außerhalb des kantischen Rahmens bewegen und damit nicht mehr für eine entsprechende Hegellesart attraktiv sein. Kants Ansatz als Vorbild für eine benevolente Hegelinterpretation heranzuziehen, die die möglichen metaphysischen Restbestände auf ein Minimum reduziert oder ganz tilgt, erscheint mir daher weder exegetisch noch systematisch aussichtsreich.
talphilosophische Behauptungen selbst ein Beispiel ,transzendenter Metaphysik‘ sind, eben weil etwa die ,synthetische Einheit der Apperzeption‘ einen empirischen Objektbezug überhaupt ermöglicht und damit den Bereich empirischer Tatsachen übersteigen muss. Vgl. VL 10, S. 43 f. und auch Enz. § 42 Z2, TWA 8, S. 118. Eine analoge Kritiklinie entwickelt H.G. Melichar mit Hegel in M 2020, S. 132 f. 91 Zur (In)kohärenz des Empirismus vgl. etwa B 1992.
2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument 2.1 Kurze Übersicht über Kants allgemeine Widerlegungsstrategie Kants allgemeine Grundeinstellung zur natürlichen Theologie ist Teil einer umfassenderen These, die sich prägnant in den berühmten Worten der Vorrede zur A-Auflage der KrV zusammenfassen lässt: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (KrV A VII)
Die Gottesfrage bildet nun für Kant einen, wenn nicht den wichtigsten Spezialfall der Probleme, die sich uns zwar unweigerlich stellen, die wir aus prinzipiellen Gründen aber nicht lösen können. Die zitierten Sätze drücken damit die in II.1 erwähnten kantischen Thesen der Notwendigkeit des Gottesgedankens und der Unmöglichkeit natürlicher Theologie aus. Bevor wir uns Kants Thesen und dem kritischen Kommentar Hegels zuwenden, ist es zunächst ratsam, sich eine Übersicht über Kants Hauptgrund für seine zweite fundamentale These zu verschaffen. Das zentrale Argument äußert Kant im Gesamtverlauf des letzten Teils der sog. ,transzendentalen Dialektik‘ und wird von ihm selbst bekanntermaßen als ein Nachweis der prinzipiellen Unmöglichkeit natürlicher Theologie verstanden – zumindest dann, wenn man ein erfolgreiches und beweiskräftiges Argument als deren notwendige Bedingung auffasst. Grob schematisch lassen sich dabei Kants Prämissen ungefähr so wiedergeben:1 1. Es kann nur genau drei Arten von Beweisen für Gottes Existenz geben: den ontologischen, den teleologischen und den kosmologischen Beweis.2
1 Vgl. KrV A 590 f./B 618 f. und dazu bes. W 1978, S. 96–100 und M 2020, S. 19 und 52. 2 Vgl. KrV A 590 f./B 618 f. Ich verstehe den von Kant verwendeten Kollektivsingular schwächer als Artname. Da Kant aber, wie wir sehen werden, durchgängig nur eine Instanz der jeweiligen Beweisspezies diskutiert, kann man ihn auch stärker als Eigenname interpretieren.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
2. Der kosmologische Beweis ist genau dann beweiskräftig, wenn der ontologische Beweis beweiskräftig ist.3 3. Der teleologische Beweis ist genau dann beweiskräftig, wenn der kosmologische Beweis beweiskräftig ist.4 4. Der ontologische Beweis ist ungültig.5
Setzt man hierbei voraus, dass ein deduktives Argument nur dann beweiskräftig sein kann, wenn es formal korrekt ist, dann folgt aus (2)–(4), dass keiner der drei Argumenttypen Aussicht auf Erfolg haben kann. Denn, wie sich zeigen wird, meint Kant, dass jeweils die zweiten Beweisschritte der Alternativen zum ontologischen Beweis, die eigentlich erst Gottes Existenz aufzeigen sollen, nur im direkten oder indirekten Rückgriff auf diesen Beweis gültig sein können.6 Der ontologische Beweis enthält aber nach Kant einen schlichten Fehlschluss, der auf einer falschen Auffassung der semantischen Rolle des Existenzprädikats beruht. Zumindest in dieser Hinsicht könnte man daher sagen, dass Kant nicht nur Beweiskräftigkeit, sondern auch die formale Güte der Schlüsse insgesamt bezweifelt.7 Wenn dies aber der Fall ist, folgt natürlich aus (2)–(4) in Konjunktion mit (1), dass kein theistisches Argument beweiskräftig oder im Hauptteil schlüssig sein kann.8 Im Gesamtverlauf der nächsten Kapitel werden wir sehen, dass Hegel zwar Kants These von der Notwendigkeit des Gottesgedanken variiert und für seine
3
Vgl. ebd., A 606–609/B 634–637. Vgl. ebd., A 629/B 657. Ebd., A 628/B 656 scheint Kant zu meinen, dass das teleologische Argument direkt vom Gottesbegriff des ontologischen abhängig ist. Für Kants Konklusion ist diese alternative Formulierung von (3) aber irrelevant. 5 Vgl. ebd., A 592–602/B 620–630. 6 Vgl. unten II.2.2 und II.3.1 und ferner W 1978, S. 99. 7 W. Vallicella zählt sechs Bedingungen für ein beweiskräftiges Argument im Sinne Kants auf (vgl. V 2000, S. 441 f.): Ihnen zufolge müssen dabei (i) wahre Prämissen, die (ii) tatsächlich gewusst werden, (iii) mit korrekt angewendeten Schlussregeln (iv) auf nicht-zirkuläre Weise (v) zu einer relevanten Konklusion führen. Ein metaphysischer Beweis im strengen Sinne ist unter diesen Bedingungen für Kant erst dann gegeben, wenn noch (vi) die Möglichkeit der notwendig wahren Konklusion selbst einsichtig gemacht wird (vgl. KrV A 789 f./B 817 f.; B XXVI), die im Rahmen eines direkten Arguments mit evidenten Prämissen gewonnen werden muss (vgl. ebd., A 789/B 817 und ferner C 2009b, S. 189 f.) M.E. bestreitet Kant mit den o.g. Prämissen (2)–(4) jeweils Bedingung (iii) und auch (ii). Einwände aus Kants Bedeutungsprinzip, wie der oben im Exkurs diskutierte, leugnen hingegen direkt (ii) und in der stärksten Variante (i) – dann nämlich, wenn man Prämissen wie bestimmte Formulierungen des Prinzips vom zureichenden Grund nur für eingeschränkt wahrheitsfähig hält. Vallicella hingegen argumentiert, dass zwar Kants eigenes Argument für (2) scheitert, man aber im Rückgriff auf Bedingung (vi) ein stärkeres Argument entwickeln kann, dass jedes kosmologische Argument von der Möglichkeitsprämisse im modalen ontologischen Argument abhängig macht. Vgl. V 2000, S. 447–450. 8 Dies betrifft nicht nur deren deduktive Fassungen. Denn probabilistische Argumente sowie Analogieschlüsse hält Kant im Falle von Gottes Existenz ebenfalls für unmöglich. Vgl. unten II.3.1, S. 276 f. 4
2.1 Kurze Übersicht über Kants allgemeine Widerlegungsstrategie
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Religionsepistemologie produktiv nutzt, bis auf Aussage (3) aber keine der kantischen Prämissen des Unmöglichkeitsbeweises akzeptiert. Um dies zu zeigen, werde ich mich zunächst Kants Thesen zum kosmologischen Argument zuwenden (Abschnitt II.2.2) und sie zusammen mit Hegels Meta-Kritik (Abschnitt II.2.3) und seiner eigenen Beurteilung der Gottesbeweise (Abschnitte II.2.4–II.2.6) umfassend diskutieren. Daran anschließend werde ich im selben kritischen Modus Kants Einschätzung des teleologischen Arguments zusammen mit dessen moraltheologischer Reformulierung prüfen (Kap. II.3). Mit der Übersicht und Rekonstruktion der genannten Haupttypen theistischer Argumente werden wir dann mit Hegel Prämisse (1) zusammen mit Prämisse (4) diskutieren können (Kap. II.4). Bevor wir in die Diskussion des kosmologischen Arguments einsteigen, könnte man zunächst allgemein fragen, wie sinnvoll und aussichtsreich eigentlich eine Widerlegungsstrategie wie die kantische ist. Sieht man von den möglichen metaphysikkritischen Argumenten in der Analytik der KrV ab,9 dann erregt schon der Anspruch eines Beweises der prinzipiellen Unmöglichkeit natürlicher Theologie von vorneherein Verdacht. Vergleicht man etwa Prämisse (1) nur mit den gut ,zwei Dutzend‘ Skizzen für theistische Argumente, die A. Plantinga in den 1980er Jahren vorgetragen hat und die inzwischen detailliert ausgearbeitet wurden,10 wird man Kants modal verstärkte Behauptung, es könne nicht mehr als diese drei Gottesbeweisarten geben, zumindest mit einem Fragezeichen versehen.11 Und da Kant jeweils hauptsächlich die zweiten Beweisschritte des kosmologischen und teleologischen Arguments anzweifelt, indem er sie vom ontologischen Argument abhängig macht, erscheint seine tatsächliche Kritik viel schwächer als Einwände a` la Hume, die de facto vorgebrachte Argumente jeweils Schritt für Schritt zu widerlegen versuchen.12 Damit steht schon der Gesamtauf9 Für die, wie wir oben im Exkurs in II.1 gesehen haben, ohnehin nicht viel spricht. Vgl. ferner auch W 1978, S. 95 f. und M 2020, S. 131–133. 10 Vgl. P 2007, S. 210–227; . 1992, S. 295 und W/D (Hg.) 2018. Die Unerlässlichkeit der Vollständigkeitsprämisse (1) für Kants Widerlegung betont zu Recht auch H.G. Melichar. Vgl. M 2020, S. 37. 11 „Der erste Beweis ist der physikotheologische, der zweite der kosmologische, der dritte der ontologische Beweis. Mehr gibt es ihrer nicht, und mehr kann es auch nicht geben.“ (KrV A 591/B 619) Selbst wenn man meint, diese Aussage wäre mit Blick auf die Gottesbeweistradition korrekt – was sich m.E. bezweifeln lässt –, scheitert sie spätestens an den zahlreichen Reformulierungen der genannten Argumenttypen, die in diesem und letztem Jahrhundert vorgelegt wurden. Vgl. etwa nur die Abhandlungen in C/M (Hg.) 2009 und B u.a. (Hg.) 2012. 12 In diesem Sinne heißt es etwa bei A. Wood: „By leaving virtually unchallenged the arguments for a necessary being and the intelligent designer of nature, Kant is in effect conceding some very controversial points to the speculative theist.“ (W 1978, S. 99) Wood fügt dieser Kritik noch hinzu, dass das Unmöglichkeitsargument schon durch ein einziges erfolgreiches ontologisches Argument widerlegt wäre, und bewertet daher die Reichweite von Kants Kritik daher als insgesamt sehr beschränkt: „On both counts, the scope of Kant’s ,world destroying‘ criticism of the traditional theistic proofs is sharply limited by his strategy
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
bau von Kants Widerlegungsstrategie in einem starken Kontrast zu dem Anspruch, den Kant mit ihr verbindet. Aus dieser allgemeinen Bemerkung folgt zwar weder, dass Kants Beweis unschlüssig ist, noch, dass es nicht auch unabhängig von Kant gute Gründe gegen jedes einzelne theistische Argument geben kann. Sie zeigt aber die Beweislasten an, die mit jeder der kantischen Prämissen genau verbunden sind, und es ist zumindest fraglich, ob Kants Teilargumente wirklich befriedigen können.
2.2 Kants Thesen zum kosmologischen Argument Kants destruktiver und konstruktiver Umgang mit der natürlichen Theologie lässt sich exemplarisch für das sog. kosmologische Argument (im Folgenden = KA) durchführen. Dies hat v.a. mit der kantischen Überzeugung zu tun, dass eine genaue Analyse der Genese wie der Form des KA etwas Grundlegendes über die Entstehung des Gottesgedankens und die Annahme seiner Existenz aussagen kann, wie sie – mehr oder weniger – in jedem Menschen vorkommen muss. Seine Besonderheit liegt nämlich für Kant nicht zuletzt darin, dass er eine Antwort auf ein fundamentales metaphysisches Problem zu geben scheint, das sich schon aus einfachen, nicht-religiösen Alltagserfahrungen ergibt. Das Verständnis des Problems setzt damit zwar nicht direkt einen theologischen Hintergrund voraus. Kant meint aber, dass spätestens eine genaue theoretische Reflexion zeigt, dass die Annahme von Gottes Existenz zur Lösung des Problems alternativlos ist. Mit diesem metaphysischen Grundproblem meint nun Kant eine Variante der berühmten leibnizianischen Frage, warum es überhaupt etwas (Kontingentes) gibt oder zumindest, warum die aktuale Welt nun so ist, wie sie ist.13 Zusammen mit der Vollständigkeitsprämisse in Kants Unmöglichkeitsnachweis folgt daraus, dass die durch Kant gängig gewordene Rede von dem KA entweder auf ein einziges Argument oder zumindest auf eine klar abgrenzbare Gattung von Schlüssen aus der Kontingenz der Wirklichkeit verweist. Selbst wenn man die wohlwollendere, zweite Deutungsoption wählt, ist eine solche Redeweise aber problematisch. Kants eigene Rekonstruktion des KA stellt nämlich bestenfalls eine Schwundform des Kontingenzarguments dar, wie es etwa von Leibniz oder besonders ausführlich von Samuel Clarke ausgearbeitet wurde.14 Und selbst
of focusing his attacks on the ontological arguments as the ,only possible ground of proof‘ for God’s existence.“ (ebd., S. 99 f.) 13 Vgl. KrV A 604/B 623. Mit U. Meixner kann man insgesamt mind. drei Varianten dieses Problems unterscheiden, nämlich (i) die Frage nach der Aktualität von Entitäten überhaupt, (ii) die Frage nach der Aktualität bzw. Existenz von kontingenten Entitäten bzw. Individuen überhaupt und schließlich (iii) die Frage nach der Aktualität dieser Welt. Vgl. M 2016, S. 533. Im Folgenden werde ich mich mit Kant weitestgehend auf Frage (ii) konzentrieren. 14 Zu den Einordnungsproblemen vgl. u.a. T 2013, S. 236 f. und M 2020, S. 41. Man vergleiche etwa nur Kants ,Wiedergabe‘ des KA in KrV A 604 f./B 632f mit der
2.2 Kants Thesen zum kosmologischen Argument
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wenn man hier natürliche Ähnlichkeiten entdeckt, schließt diese Eingrenzung der Gattungsbestimmung des KA schon von vorneherein eine ganze Reihe verwandter Argumente aus, die spätestens seit Platon und Aristoteles entwickelt wurden. Unabhängig von Kant werden die verschiedenen Formen des KA in der Regel nach zwei Kriterien typologisiert: (i) durch die in ihnen formulierten Regresse und (ii) durch die lokalen oder global formulierten (Kausal)prinzipien.15 Kriterium (i) lässt sich wiederum danach weiter spezifizieren, ob die jeweils betrachten Regresse prinzipiell für möglich gehalten werden oder nicht. So argumentiert bspw. die sog. kalam-Version des KA für die Unmöglichkeit eines aktual unendlichen temporalen Regresses und schließt von dort aus zunächst auf den zeitlichen Beginn des Universums und dann mittels eines generellen Kausalprinzips auf eine erste Ursache.16 Aristotelische Varianten des KA gestehen hingegen die Möglichkeit der aktualen Unendlichkeit des temporalen und eines bestimmten kausalen Regresses zu, schließen aber auf Basis eines ebenfalls globalen Kausalprinzips zusammen mit der Unterscheidung zweier Klassen von Kausalreihen auf die Existenz eines Erstbewegers bzw. -verursachers.17 Die Standardformen des KA, die Kant im Blick zu haben scheint, rechnen schließlich mit temporalen und kausalen Regressen der genannten Arten, kommen aber ausgehend von der metaphysischer Kontingenz der aktualen Welt und mittels eines starken oder schwachen Prinzips vom zureichenden Grund zur gewünschten Konklusion.18 Wir werden zwar sehen, dass Kants eigener Einteilungsversuch mit einem Kriterium operiert, dass die ganze Familie der KA scheinbar einfangen kann.19 Die Tatsache, dass sich Kant in der Diskussion ausschließlich auf eine eigentümliche Variante des Kontingenzarguments bezieht, erweckt allerdings sofort weitere Zweifel an Kants Vollständigkeitsbehauptung. Da es hier zunächst nur um Kants Überlegungen zu der genannten Form des KA gehen soll, können solche Bedenken zunächst im Hinblick auf mögliche
umfassenden Rekonstruktion von Samuel Clarkes Version in R 1975 oder mit den verschiedenen Varianten des Kontingenzarguments bei Leibniz. Vgl. die Übersicht mit Textbelegen in C 1980, S. 268–273. 15 Für Details dieser Typologie vgl. ebd., S. 282 f. und H 2011, S. 15 f. 16 Vgl. u.a. C/S 2009. Eine Variante der kalam-Version bekommt man, wenn man etwa den ersten Teilbeweis der Thesis der ersten und den Beweis der Thesis der dritten kantischen Antinomie miteinander kombiniert. Vgl. KrV A 426/B 454; A 444/B 472 und ferner A 450/B 478, wo Kant explizit auf den aristotelischen Schluss auf einen Erstbeweger verweist. 17 Paradigmenfälle sind sicherlich Aristoteles’ Argumente für den Erstbeweger in der Physik und der Metaphysik (vgl. etwa T 2015a) und Thomas’ erste drei Beweiswege in STh I. qu.2. a.3. Vgl. u.a. S/H 22003, S. 116–126; F 2009, S. 65–99 und T 2013, S. 195–214. Eine neuere Verteidigung dieses Argumenttyps findet sich etwa in F 2017, Chap. 1. 18 Vgl. dazu auch die kurze Rekonstruktion unten S. 175. 19 ,Scheinbar‘, weil sein Kriterium so weit gefasst ist, dass es etwa theistische Argumente als ,kosmologisch‘ einstufen müsste, die offensichtlich keine sind. Vgl. unten II.4.1.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Motive von Kants einseitigem Fokus zurückgestellt werden. Sie liegen höchstwahrscheinlich in seiner Überzeugung der fundamentalen Rolle der Kontingenzproblematik, die in seinen Augen für die Erklärung der Entstehung des Gottesgedankens besonders signifikant ist. Daraus wird auch deutlich, warum sein Umgang mit dem KA nicht in einer bloßen Widerlegung besteht. Er verbindet diese vielmehr mit einer kritischen Rekonstruktion der Problemgenese sowie mit Überlegungen zum möglichen Nutzen der involvierten Prinzipien und Entitäten für die menschliche Erkenntnis- und Theoriebildung. Grob gesprochen lässt sich Kants Position damit auf folgende drei Basisthesen bringen: (1) Die beiden im KA involvierten Begriffe Gottes und die Akzeptanz ihrer Exemplifikation sind für Kant zunächst Formen eines fundamentalen ,natürlichen Scheins‘,20 da beides nach Kant in der Natur unseres Schlussvermögens angelegt ist. Die inferentielle Unvermeidlichkeit des Gottesglaubens will Kant aber (2) in einer minutiösen Kritik des KA als echten ,Schein‘ entlarven. Trotz des Scheiterns des KA als Beweis gilt für Kant aber schließlich (3), dass die Prinzipien des KA sowie die Annahme von Gottes Existenz theoretisch sinnvoll sind, wenn sie auch nicht konstitutiv für unser Wissen und seine Gegenstände gelten, sondern lediglich eine regulative Funktion für unsere Erkenntnispraxis besitzen. These 1): Der Gottesgedanke ist ein natürlicher Schein. Die konziseste Zusammenfassung von Kants erster These findet sich unmittelbar vor seinem Vollständigkeitsnachweis und der Kritik der einzelnen Gottesbeweise. Darin stellt er zunächst die Frage, was Menschen überhaupt dazu motiviert, die Existenz eines Wesens wie Gott anzunehmen,21 und gibt dabei folgende Antwort: Dieses ist nun der natürliche Gang, den jede menschliche Vernunft, selbst die gemeineste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält. Sie fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruhet. Dieser selber aber schwebet ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllet und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt, d.i. der Realität nach unendlich ist. (KrV A 584/B 612)
Hier wird deutlich, wie Kant seine These der Notwendigkeit des Gottesgedankens verstanden haben möchte. Grob gesprochen könnte man diesen als eine nicht20 Vgl. KrV A 297 f./B 353 f. und W 2018, S. 135 f. Kant spricht hier sowohl von ,Schein‘ als auch von ,Illusion‘. M.E. ist der letztgenannte Ausdruck zumindest irreführend, da etwa eine Wahrnehmungsmeinung, die auf einer perzeptuellen Illusion basiert, falsch ist, wohingegen Kant einen inhaltlichen Atheismus expressis verbis ablehnt. 21 Im vorhergehenden Abschnitt hat Kant die Genese des Begriffs eines Ens realissimum zu erklären versucht und meint, dass niemand bereit sein könnte, ein so offensichtliches „Selbstgeschöpf unseres Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen“ (KrV A 584/B 612).
2.2 Kants Thesen zum kosmologischen Argument
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kontingente Eigenschaft menschlicher Lebewesen verstehen, die Menschen zumindest in den meisten Fällen vollständig oder zu einem bedeutenden Teil ausbilden.22 Die Rede von der ,Notwendigkeit‘ kann hier also nicht heißen, dass alle Menschen unter allen möglichen Umständen gottesgläubig sein müssen. Vielmehr zeigt der erste Satz an, dass die Bildung des Gottesgedankens eine essentielle Disposition vernünftiger Individuen darstellt, selbst wenn diese nicht immer und unter allen denkbaren Umständen in einem explizitem Wissensanspruch manifest wird. Oberflächlich betrachtet scheint diese These zwar nicht originell, zumindest dann, wenn man sie mit den verwandten Überzeugungen in der aristotelischen Tradition vergleicht, dass Menschen von Natur aus nach Erstprinzipien suchen und fragen.23 Das Spezifikum der kantischen Variante wird aber deutlich, wenn man Kants technische Ausdrücke und Annahmen genauer analysiert: Genau genommen beruht sie nicht nur auf der unproblematischen Voraussetzung, dass menschliches Leben wesentlich vernünftiges Leben ist und sich durch diskursive Fähigkeiten auszeichnet. Dieser Prämisse fügt Kant vielmehr zwei weitere, kontroversere Annahmen hinzu: Erstens meint er, im Gebrauch unserer inferentiellen Fähigkeiten würden wir ebenfalls von Natur aus dazu neigen, die jeweils akzeptierten Aussagen in eine systematische Ordnung zu bringen.24 Und dies bedeutet genauer, dass wir zum einen dazu tendieren, möglichst alle Implikationen auszubuchstabieren, auf die wir uns durch die Akzeptanz bestimmter Propositionen festlegen. Zum anderen sind wir auch dazu disponiert, die akzeptierten Aussagen selbst als Konklusionen höherstufiger Argumente zu behandeln und dann deren Prämissen vollständig zu formulieren, die im besten Falle sowohl in inferentieller als auch epistemischer Hinsicht keinen derivativen Status mehr besitzen. Diese Disposition lässt sich laut Kant in der Form einer „logische[n] Maxime“ explizit machen, die die Norm aufstellt, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet
22 M. Willaschek nennt das oben zitierte Argument daher auch das „,natural‘ argument for God’s existence“ (W 2018, S. 218). Anders als Willaschek werde ich allerdings im Folgenden von der These ausgehen, dass dieses Argument in Kants Selbstverständnis mit dem KA identisch ist und nicht nur eine analoge Variante darstellt. Vgl. ebd., S. 234. Zum einen scheint die Einführung eines vierten Arguments Kants Vollständigkeitsprämisse zu widersprechen. Zum anderen sind die Unterscheidungskriterien, die Willaschek ebd., S. 233 ausführt, nicht auf alle Stellen im Text anwendbar. Näheres dazu unten S. 182, Fn. 76. 23 Im impliziten Rückverweis auf Met. I, 980a21–983a23 heißt es in diesem Sinne etwa bei Thomas: Inest enim homini naturale desiderium cognoscendi causam, cum intuetur effectum; et ex hoc admiratio in hominibus consurgit. (STh I. qu.12 a.1co) An anderer Stelle habe ich daher dafür argumentiert, dass man Kants Notwendigkeitsthese in der zitierten Stelle systematisch und unabhängig von Kant unter aristotelischen Prämissen gewinnen kann. Vgl. meine Skizze eines Arguments im Anschluss an Kant in L 2020b, S. 165–174. 24 Ich folge hier den instruktiven wie präzisen Ausführungen in W 2018, S. 47–56. Vgl. ferner auch W 2016, S. 1038 f.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
wird.“ (KrV A 307/B 364)25 Zwar setzt Kant in seiner Analyse die Gültigkeit, Natürlichkeit und Vollständigkeit der traditionellen Syllogistik voraus.26 Seinen Grundgedanken kann man aber leicht anhand von Konklusionen sog. ,hypothetischer Schlüsse‘ konkretisieren. Lässt sich demnach eine beliebige Aussage Q als eine solche Konklusion identifizieren, fordert die ,logische Maxime‘ dazu auf, die vollständige Konjunktion ihrer Prämissen P1 & … & Pn zu suchen, aus denen Q mit der gültigen Anwendung der entsprechenden modus ponens-Regel folgt, wobei die Aussagen P1 & … & Pn im besten Falle allgemein akzeptabel sind und nicht wiederum aus einer Konjunktion höherstufiger Prämissen gefolgert werden können. Auf die genaue Funktion der ,logischen Maxime‘ bei der systematischen Artikulation und Organisation unserer Erkenntnisse werde ich unten in Abschnitt II.3.1 noch genauer eingehen. Wichtiger ist hier der Umstand, dass Kant im oben zitierten Kontext zwar direkt auf die ,logische Maxime‘ hinweist, ihr aber zugleich einen neuen Sinn zu geben scheint. Genau genommen meint Kant, Gottes Existenz würde die menschliche Vernunft nicht annehmen müssen, wenn sie nicht wodurch anders gedrungen würde, irgendwo ihren Ruhestand, in dem Regressus vom Bedingten, das gegeben ist, zum Unbedingten, zu suchen, das zwar an sich und seinem bloßen Begriff nach nicht als wirklich gegeben ist, welches aber allein die Reihe der zu ihren Gründen hinausgeführten Bedingungen vollenden kann. (KrV A 584/B 612)
In dieser Passage deutet sich die zweite Annahme an, die Kant für seine Notwendigkeitsthese benötigt. Genauer betrachtet wird hier ein ontologisches Gegenstück zur ,logischen Maxime‘ formuliert. Dessen Gegenstandsbereich besteht nicht mehr in Aussagen bzw. Wissensansprüchen, die in logischen Beziehungen stehen, sondern vielmehr u.a. in extramentalen Objekten bzw. Individuen, die auf ihre – wie Kant bisweilen sagt – „realen Bedingungen“ (ebd., A 583/B 611) hin befragt werden.27 Um von hier aus zur natürlichen Notwendigkeit des Gottesgedankens zu kommen, muss dieses ontologische Prinzip wesentlich stärker formuliert sein als eine bloße Maxime. Entsprechend meint Kant, unter ganz bestimmten und klar herausstellbaren Hintergrundannahmen würde sich der schwächere Grundsatz, dass man zu jedem bedingten Objekt jeweils die vollständige Anzahl seiner ontologischen Bedingungen zu suchen hat, in das stärkere „Principium der reinen Vernunft“ (ebd., A 307/B 364) verwandeln, demzufolge diese Bedingungen jeweils tatsächlich und notwendigerweise vorliegen. In Kants Formulierung im Antinomien-Kapitel lautet es entsprechend: „[W]enn das Be-
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Vgl. hierzu W 2018, S. 56–64. Vgl. zur Kritik bspw. S 1966, S. 156f; W 2018, S. 172 f. und M 2020, S. 23 f. Eine interessante wie bedenkenswerte Verteidigung Kants entwickelt A.F. Koch in K 2004, S. 128–133. 27 Vgl. hierzu im allgemeinen W 2018. Anders als Watkins setze ich hier nicht voraus, dass es eine klar umrissene Gattungsbestimmung ,realer‘ Bedingungen gibt. Vgl. zur Kritik etwa W 2018, S. 75–79. 26
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dingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.“ (ebd., A 409/B 436)28 Wie nun der natürliche Übergang von der scheinbar unproblematischen logischen Maxime zu dem genannten Vernunftprinzip nach Kant genau vor sich geht, kann in diesem Zusammenhang nicht in allen Details dargestellt werden.29 Vereinfacht gesprochen meint Kant, dass wir in unserem natürlichen Vernunftgebrauch implizit voraussetzen, dass die logische Ordnung unserer Aussagen der vernünftigen Ordnung von deren jeweiligen Bezugsobjekten und deren realen Beziehungen zu anderen Objekten entspricht.30 Ist dies nun tatsächlich der Fall, dann lässt sich mit dem genannten Vernunftprinzip zunächst auf die scheinbar harmlose Tatsache schließen,31 dass mit dem Bedingtsein eines einzelnen Objekts zugleich auch alle realen Bedingungen erfüllt sein müssen, die für das Bedingtsein einzeln notwendig und zusammen hinreichend sind. In diesem Sinne gilt für Kant, dass für die Existenz und Verfassung jedes einzelnen raumzeitlichen Individuums genau vier verschiedene Formen ,realer Bedingungen‘ vorliegen:32 Dieses ist immer (a) messbar und daher raumzeitlich begrenzt; es ist (b) teilbar und mithin mereologisch bedingt durch seine körperlichen Teile; und es ist (c) kausal abhängig und schließlich (d) kontingent und damit in modaler Hinsicht abhängig von anderen Individuen.33 Wendet man nun 28 Analog heißt es an früherer Stelle: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben, (d.i. in dem Gegenstande uns seiner Verknüpfung enthalten.)“ (KrV A 308/B 364) Zu den Details dieses Prinzips vgl. u.a. W 2010, S. 250; W 2016, S. 1041–1043 und W 2018, Chap. 3. 29 Vgl. bes. die ausführliche Rekonstruktion ebd., Chap. 5. Wie Willaschek detailliert zeigt, beruht die Komplexität von Kants Theorie nicht zuletzt auf seiner Unterscheidung zwischen einem illegitimen und einem legitimen Übergang. Letzterer besteht in der Annahme des Vernunftprinzips als einem regulativen Prinzip (vgl. ebd. S. 128–134), während bei erstem das Vernunftprinzip realistisch und damit als konstitutiv für die Bezugsgegenstände unserer Erkenntnis aufgefasst wird. Vgl. bes. ebd., S. 145–147. 30 Dem entspricht Kants Rede vom sog. ,transzendentalen Realismus‘ der klassischen Metaphysik. Vgl. u.a. KrV A 491/B 519 und W 2018, S. 143 f. 31 Diese Tatsache ist freilich für Kant alles andere als harmlos. Denn unter Voraussetzung des ,transzendentalen Idealismus‘ folgt für Kant, dass der Ausdruck ,das Bedingte‘ in den beiden Prämissen des Schlusses äquivok verwendet wird. Vgl. KrV A 498–501/B 525–529. Während im Vernunftprinzip das ,Bedingte‘ als ,Ding an sich‘ behandelt wird, ist es in empirischen Prämissen der Form ,Es gibt Bedingtes‘ lediglich eine ,Erscheinung‘. Da aber nach Kant nur letztere Inhalt einer echten Erkenntnis sein können, kann der deduktive Übergang zu vollständigen Bedingungsreihe keinen Wissensfortschritt darstellen. Er besagt dann nicht, dass alle notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen wirklich „gegeben“ sind, sondern nur, dass die Suche nach der vollständigen Reihe uns in Form eines ,regulativen Prinzips‘ „aufgegeben“ (ebd., A 498/B 526) ist. Vgl. hierzu auch W 2010, S. 257–259 und W 2018, S. 207 f. 32 Vgl. KrV A 405–420/B 432–448. Vgl. ferner auch W 2010, S. 247 f. und W 2018, S. 202–207. 33 Die genaue Unterscheidung zwischen modalen und kausalen Abhängigkeitsbeziehun-
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das Vernunftprinzip an, ergibt sich, dass für jedes raumzeitliche, kontingente Individuum die vollständige Reihe seiner raumzeitlichen, mereologischen, kausalen und modalen Bedingungen vorliegen muss, um wirklich bzw. existent zu sein. Und die Totalität dieser Bedingungen nennt Kant bekanntlich die ,Welt‘.34 Mit dieser Anwendung des Vernunftprinzips hat man zwar einen möglichen Sinn des Schlusses auf das ,Unbedingte‘ geklärt, das nach dem bislang Gesagten einfach nur in der Summe bzw. in der Aggregation der genannten realen Bedingungen besteht.35 Damit alleine ist aber überhaupt nichts darüber ausgesagt, ob alle ihre Teile jeweils gleich verfasst sind oder ob sich unter ihnen Entitäten finden, die nicht im selben Maße und in denselben Hinsichten bedingt sind.36 Auf diesen stärkeren Sinn des Begriffs des Unbedingten deutet aber Kant explizit in der eingangs zitierten Passage hin, wenn er sagt, dass in der Perspektive unserer Vernunft der „Boden“ kontingenter Objekte „sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruhet.“ (KrV A 584/B 612) Diese Aussage wendet sich der Reihe der modalen Bedingungen der Existenz kontingenter raumzeitlicher Individuen zu und meint, dass diese nur dann existent sein können, wenn eine Entität existiert, der die kontradiktorisch entgegengesetzte Eigenschaft der absoluten Notwendigkeit zukommt. Wie rechtfertigt man aber genau ein Konditional der Form: „Wenn etwas, was es auch sei, existiert, so muß auch eingeräumt werden, daß irgend etwas notwendigerweise existiere“ (ebd.)? Einen Hinweis gibt Kant in seiner Diskussion des KA in einer Fußnote, in der er folgende Zusatzprämisse andeutet:
gen ist bei Kant nicht immer scharf, da er etwa in Beweisen der vierten Antinomie durchweg von kausalen Bedingungen spricht. Mit A. Wood gehe ich im Folgenden davon aus, dass sich die Beweise der vierten Antinomie spezifisch auf die modalen Eigenschaften von innerweltlichen Wirkungen und ihrer Erstursache konzentrieren, die in der dritten Antinomie offen gelassen werden. Vgl. W 2010, S. 256 und auch KrV A 559/B 587. 34 Gemäß der Binnendifferenzierung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien unterscheidet Kant noch feiner zwischen ,Welt‘ und ,Natur‘. Vgl. ebd., A 418 f./B 446 f. 35 Die Prämisse wäre hier dann einfach, dass die Totalität aller realen Bedingungen einer Art nicht im selben Maße ,bedingt‘ sein kann, wie ihre Teile; oder, weil sie alles real Bedingte dieser Art als Teil enthält, ist sie selbst nicht- bzw. ,un-bedingt‘. Vgl. W 2016, S. 1042 f. und W 2018, S. 97 f. Wir werden allerdings sehen, dass ein solcher, tendenziell deflationärer Begriff des ,Unbedingten‘ unter kantischen Prämissen auf modale Abhängigkeitsbeziehungen nicht anwendbar ist. 36 In diesem Sinne unterscheidet M. Willaschek einen engen und einen weiten Begriff des ,Unbedingten‘ bei Kant, nämlich zum einen das Unbedingte als Totalität von Bedingungen – „the unconditioned as a totality of conditions“ (ebd., S. 96) – und zum anderen die unbedingte Bedingung – „the unconditioned condition“ (ebd., S. 87). Allerdings scheint Kants Begriff eines modal unabhängigen ,Unbedingten‘ stärker zu sein als die Analyse, die Willaschek ebd. vorschlägt, da von diesem nicht nur mind. eine Entität, sondern alle möglichen und wirklichen Entitäten abhängig sein müssen. Vgl. unten S. 180 Fn. 68.
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Sie beruht auf dem vermeintlich transzendentalen Naturgesetz der Kausalität: daß alles Zufällige seine Ursache habe, die, wenn sie wiederum zufällig ist, eben sowohl eine Ursache haben muß, bis die Reihe der einander untergeordneten Ursachen sich [sic!] bei einer schlechthinnotwendigen Ursache endigen muß, ohne welche sie keine Vollständigkeit haben würde. (ebd., A 605/B 633 Fn.)
Der Gedanke ist also grob, dass die Reihe der notwendigen, kausalen Bedingungen der Existenz bzw. des Entstehens von Individuen nur dann vollständig sein kann, wenn diese Reihe durch ein erstes Glied abgeschlossen wird, das die genannten starken modalen Eigenschaften hat. Während also das o.g. Vernunftprinzip per se noch keine Aussage über den Charakter der einzelnen Bestandsstücke von Bedingungsreihen trifft, erweitert die genannte Kausalprämisse das Prinzip um eine notwendige Voraussetzung für die Existenzbedingungen kontingenter Entitäten. Dass diese Voraussetzung aber in der Existenz einer notwendig existenten Entität bestehen soll, versteht sich keineswegs von selbst. Denn für Kant gilt, dass für jeden einzelnen der Schlüsse auf eine vollständige Reihe von ,realen‘ Bedingungen (scheinbar) immer die epistemisch mögliche Alternative zur Verfügung steht, für die Reihe ein solches erstes Glied anzunehmen oder nicht. Und da sich für beide Disjunkte scheinbar schlüssige indirekte Argumente finden, erscheint der ganze Weltbegriff als in sich widersprüchlich oder – wie Kant sagt – ,antinomisch‘.37 Um dennoch an seiner Notwendigkeitsthese festzuhalten, muss Kant also zumindest die hohe prima facie-Plausibilität des Schlusses auf das sog. Ens necessarium (im Folgenden = EN) nachvollziehbar machen, um sie gegen die konträre Intuition ausspielen zu können. Wie ich im Folgenden kurz zeigen möchte, besteht seine Kernprämisse darin, dass das Kontingenzproblem im Rahmen kosmologischer Untersuchungen unlösbar ist, dies aber nicht die logische Möglichkeit eines transzendenten bzw. supramundanen notwendigen Wesens ausschließt, mit dem das Problem beantwortet werden könnte.38 Um Kants Begründung dieser These zu rekonstruieren, gehe ich in zwei Schritten vor: Zunächst werde ich die Gründe nachzeichnen, die (a) für die These sprechen, dass ein EN nicht zur Welt als Ganzer gehören kann, und die (b) gegen die Einwände sprechen, ein EN könne unter keinen Umständen transzendent sein. Im zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, wie und warum Menschen nach Kant dazu kommen, ein solches transzendentes EN mit Gott zu identifizieren. Für den ersten Schritt der Begründung muss man sich nur vergegenwärtigen, dass die ,Antinomie‘ im Weltbegriff, die spezifisch das Kontingenzproblem be-
37 Vgl. KrV A 420 f./B 449 f. Vgl. hierzu auch W 2010, S. 248 f. und W 2018, S. 209–212. 38 Vgl. auch die Deutung in H 1960, S. 153 f. Diese Lösung deutet sich schon im oben zitierten Passus an, wenn Kant vom „Felsen des Absolutnotwendigen“ sagt: „Dieser selber aber schwebet ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllet und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt, d.i. der Realität nach unendlich ist.“ (KrV A 584/B 612)
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trifft, von Kant selbst durch die (scheinbar) kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen ausgedrückt wird, dass ein EN entweder weltimmanent ist oder nicht. Weltimmanent ist ein EN entsprechend genau dann, wenn es entweder selbst Teil der Welt ist oder mit dem Weltganzen identisch ist.39 Ist aber die Existenz eines welttranszendenten EN zumindest logisch möglich, dann sind Thesis und Antithesis der Antinomie keine kontradiktorischen Gegensätze mehr.40 Für diese Option lässt sich, wie ich zeigen möchte, paradoxerweise mit einem der zwei Einwände argumentieren, die Kants Antithetiker gegen die Immanenz des EN vorbringt. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf das Argument, das scheinbar für die These zu sprechen scheint: Um zu dieser Konklusion zu kommen, greift Kants Thetiker – analog zum obigen Zitat – auf ein globales Kausalprinzip zurück und verknüpft es mit dem verstärkten Vernunftprinzip, um von der Tatsache der vollständigen Reihe kausaler Bedingungen zum Unbedingten im Sinne des EN zu kommen.41 Sein Kausalprinzip setzt dabei voraus, dass jedes kausale Antezedens immer zeitlich früher ist als seine Folgen.42 Daher meint der Thetiker – im Einklang mit seinem Gegner – zugleich schließen zu können, dass, wenn es denn ein EN gibt, es in der Zeit seine Kausalkräfte ausüben und folglich zumindest Teil einer raumzeitlichen Wirklichkeit sein muss.43 Gegen dieses Argument wendet nun der Antithetiker erstens ein, dass das Kausalprinzip mit dem erweiterten Vernunftprinzip inkompatibel ist. Denn wenn es universal gilt, dann muss natürlich für jedes Ereignis gelten, dass es einen zeitlichen und kausalen Vorgänger hat, aus dem es mit nomologischer Notwendigkeit folgt – und das ist es gerade, was das erweiterte Vernunftprinzip leugnet.44 Zugleich kann aber auch nicht die Welt als Ganze als ein EN aufgefasst werden. 39 Die Antithesis formuliert Kant zwar auch folgendermaßen: „Es existiert überall kein schlechthinnotwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache.“ (KrV A 453/B 481) Allerdings wird, wie wir sehen werden, die Außerweltlichkeit des EN im zweiten Teil des Beweises mit demselben Argument bestritten, auf das auch der Thetiker zurückgreift und das sich mit Kant selbst anfechten lässt. 40 Noch präziser gesprochen, verwandelt sich der kontradiktorische Gegensatz in ein subkonträres Verhältnis beider Aussagen, weil es dann logisch möglich wird, dass beide wahr sind. Vgl. ebd., A 562/B 590 und W 2010, S. 259. 41 In den Worten des Thetikers: „Nun setzt ein jedes Bedingte, das gegeben ist in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein absolutnotwendig ist.“ (KrV A 452/B 480) Ich bemerke hier nur am Rande, dass – anders als bei den anderen Antinomien – der erste Teilbeweis der Thesis kein negatives Argument darstellt. 42 Diese Prämisse formuliert der Thetiker auch so: „Eine jede Veränderung aber steht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach vorhergeht, und unter welcher sie notwendig ist.“ (ebd.) 43 Vgl. jeweils den zweiten Teilbeweis der Thesis und Antithesis ebd. und ebd., A 453/ B 481. 44 Vgl. ebd. Das Argument ist damit – mehr oder weniger – identisch mit dem Argument des Antithetikers in der dritten Antinomie ebd., A 445/B 473, das ebenfalls auf Kants Regularitätstheorie der Kausalität zurückgreift. Allerdings scheinen damit beide Argumente die
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Denn zweitens gilt, dass „das Dasein einer Menge nicht notwendig sein kann, wenn kein einziger Teil derselben ein an sich notwendiges Dasein besitzt.“ (KrV A 453/B 481)45 Blickt man von hier aus auf gängige Formulierungen des KA, dann kann man sich paradoxerweise den zweiten Einwand des Antithetikers zunutze machen, um gerade erfolgreich für ein transzendentes EN zu argumentieren.46 Dazu muss man nur das Kausalprinzip des Thetikers als ein schwaches Prinzip vom zureichenden Grund (im Folgenden = PZG) reformulieren, demzufolge es für jede kontingente Existenztatsache einen Erklärungsgrund gibt.47 Aus dem zweiten Einwand des Antithetikers folgt dann (i), dass die vollständige Konjunktion aller kontingenter Existenztatsachen (bzw. -aussagen) selbst kontingent ist, was sich mit der Intuition deckt, dass auch in der Aggregation kontingenter Individuen deren modale Attribute gleich bleiben.48 Mit dem schwachen PZG ergibt sich dann (ii), dass es einen Erklärungsgrund für diese Konjunktion geben muss. Da das explanans des Kontingenten das explanandum nicht enthalten kann, folgt schließlich (iii), dass die Existenz des explanans nicht zur Konjunktion gehören kann und mithin metaphysisch notwendig sein muss.49 Ein solcher Schluss versteht sich zwar keinesfalls von selbst.50 Den einzigen Einwand gegen ein transzendentes EN, den Kant sowohl dem Antithetiker als weitere kantische These vorauszusetzen, dass objektive Zeitverläufe nicht nur naturgesetzlich geordnet sein müssen, sondern dass die Zeit als Ganze weder entstehen noch vergehen kann. Letzteres kann man aber bestreiten. 45 Für eine neuere Verteidigung dieses Prinzips vgl. K 1997, S. 198 f. Hegel greift in seiner Wiedergabe des KA in den Gottesbeweisvorlesungen ebenfalls auf dieses Prinzip zurück. Vgl. GVL, GW 18, S. 274 und 280. 46 Ich richte mich im Folgenden besonders nach P 2009, S. 77 f. und P/R 2018, S. 34–47. 47 Insgesamt lassen sich mehrere Varianten von PZG formulieren, die sich u.a. dadurch unterscheiden, ob die explananda Propositionen, Sachverhalte oder Individuen (bzw. deren Eigenschaften) darstellen, ob PZG lediglich für (kontingente und/oder notwendige) Existenzsachverhalte oder für alle Sachverhalte (oder Propositionen, Individuen etc.) gilt. W. Rowe weist m.E. zu Recht darauf hin, dass für das KA die oben paraphrasierte schwächere Formulierung von PZG ausreicht, die lediglich über kontingente Existenztatsachen quantifiziert. Vgl. R 1975, S. 113 f. und die offenere Formulierung in P 2009, S. 25 f. 48 Auf diese Intuition greift auch Leibniz zurück. Vgl. hierzu etwa C 1980, S. 268 f. und 274. 49 Vgl. P/R 2018, S. 45–47. und zum systematischen Problemkomplex auch L 2020b, S. 171 f. 50 Um diesen Schluss zu garantieren, müsste man mind. folgende Zusatzprämissen akzeptieren: (I) Es gibt keine hinreichende ,immanente‘ Erklärung des Aggregats aller kontingenten Individuen. (Pace Hume/Edwards) (II) Die Existenz eines EN ist selbsterklärend, obwohl sie keine Kausalerklärung besitzen kann. (Pace Schopenhauer) (III) Das Aggregat aller kontingenten Individuen kann nur durch die kausale Wirklichkeit eines notwendigen Wesens und nicht alternativ durch metaphysische Prinzipien erklärt werden. (Pace N. Rescher)
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auch dem Thetiker unterstellt, besteht aber – wie schon angedeutet – in der impliziten Prämisse, dass jedes EN kausal wirksam sein muss, woraus unter den o.g. Prämissen folgt, dass ein EN seine Kausalkräfte zeitlich früher ausüben und damit immer Teil der Welt sein müsste. Bei genauerem Blick zeigt sich allerdings, dass dieser Schluss weder systematisch zwingend ist noch von Kant akzeptiert werden kann. Erstens nämlich folgt aus ihm nur, dass ein EN in der Zeit sein müsste, aber nicht, dass es auch zur Pluralität kontingenter Individuen gehört. Und selbst wenn die stärkere Konklusion folgen würde, könnte man zweitens schon die Universalität des vorausgesetzten Kausalprinzips angreifen. Zum einen schließt es nämlich per se alle Paradigmenfälle simultaner Kausalität aus. Zum anderen ist es nicht ohne weiteres offensichtlich, dass kein ewiger Akt Folgen haben könnte, die in die Zeit fallen.51 In jedem Falle müsste man drittens zumindest Kant diese These unterstellen. Denn er argumentiert in der Auflösung der dritten Antinomie dafür, dass Freiheit nur dann möglich ist, wenn es eine Form der spontanen Kausalität von Akteuren gibt, die nicht in den Skopus desjenigen Kausalprinzips fällt, das die gesetzliche Ordnung von objektiven Zeitverläufen garantiert.52 Wenn aber für die zeitliche Sukzession der naturgesetzliche Determinismus gilt, dann müssen sich freie Handlungen und ihr personaler Ursprung außerhalb der Zeitordnung befinden, obwohl sie in der Zeit beobachtbare Wirkungen zeitigen.53 Ist diese Option zumindest, wie Kant glaubt, unter Voraussetzung des ,transzendentalen Idealismus‘ widerspruchsfrei denkbar, dann natürlich auch die An-
(IV) Ein transzendentes EN, dessen Existenz mind. metaphysisch möglich ist (pace Hume, Russell, Findlay), kann kausal wirksam sein. Wie wir sehen, greifen die beiden Beweise in der vierten Antinomie direkt (IV) an und, wie sich weiter unten zeigen wird, hat Kant auch starke kritische Vorbehalte gegenüber (II). Auf (III) werde ich unten in Abschn. II.3.3 eingehen. (I) hingegen reagiert auf den seit Hume gängigen Standardeinwand, dass, wenn es für die Existenz jedes einzelnen kontingenten Individuums eine Erklärung in einem anderen kontingenten Individuum gibt, die Existenz der ganzen Reihe kontingenter Individuen erklärt ist. Dieser Einwand ist allerdings keineswegs schlagend. Vgl. u.a. H 2011, S. 33–35; R 2016, S. 222–224 und P/R 2018, S. 49–53. 51 Argumente für die gegenteilige These finden sich u.a. in G 1969, S. 73 f.; S/ H 22003, S. 136 und ebd., S. 180 und ferner D 2006, S. 72 f. Eine solche Option ist nicht nur möglich, sondern folgt aus der klassischen, boethianischen Konzeption der Ewigkeit, der zufolge eine (echte) ewige Entität zu allen Zeitpunkten – in nicht-zeitlicher Weise – gleichermaßen präsent ist. Vgl. S/K 1981 und unten Abschn. III.5.5. 52 Vgl. KrV A 542–557/B 570–585 und W 2010, S. 263–265. Diese Lösung impliziert Kants Unterscheidung zwischen dem „intelligibelen“ und dem „empirischen Charakter“ (KrV A 539/B 567) 53 Vgl. ebd., A 544–546/B 572–574. Wie schon oben in Fn. 33 angemerkt, besteht der Unterschied zwischen der ersten und dritten Antinomie vermutlich darin, dass in ersterer spontane Akteurskausalität überhaupt diskutiert wird, während die vierte Antinomie die Frage aufwirft, ob es unter den Akteuren auch solche geben kann, die notwendigerweise existieren. Vgl. zu dieser Deutung W 2010, S. 256.
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nahme eines transzendenten EN, dass die Existenz aller kontingenten Individuen erklärt.54 Um nun aber die zentrale These der Notwendigkeit des Gottesgedankens abzuschließen, benötigt man nach Kant ein zusätzliches Argument dafür, dass das erschlossene EN unter diejenige definite Beschreibung fällt, die zugleich der Inhalt eines echten Gottesbegriffs sein sollte. Diese deutet er schon gleich in der eingangs zitierten Passage an, wenn er schreibt: Dieser [= der „Felsen des Absolutnotwendigen“, W.L.] selber aber schwebet ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllet und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt, d.i. der Realität nach unendlich ist. (KrV A 584/B 612)
Dasjenige Wesen, dass „der Realität nach unendlich ist“ (ebd.), ist für Kant nun Gott bzw. genauer das sog. Ens realissimum (im Folgenden = ER). Mit der Einführung dieser Kennzeichnung wird nun Kants Notwendigkeitsthese erheblich verkompliziert. Denn zwar ist die Bildung des Begriffs eines ER einem vernünftigen Wesen ebenfalls ganz natürlich. Ihr liegt aber nicht eine Variante von PZG, sondern vielmehr das sog. „Principium der durchgängigen Bestimmung“ (ebd., A 572/B 600; im Folgenden = PDB) zugrunde.55 Dieses Prinzip zur Bildung von Individuenbegriffen besagt, dass jedes de re mögliche Individuum hinsichtlich seiner intrinsischen Eigenschaften vollständig bestimmt, aber nicht überbestimmt ist.56 Das heißt, von jedem möglichen kontradiktorischen Paar nichtrelationaler Prädikate muss ihm genau eines zukommen. In Kants Worten formuliert: Ein jedes Ding […], seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß. (ebd., A 571 f./B 599 f.)57
54 Dies entspricht Kants Auflösung der vierten Antinomie, die zugleich zu seiner Kritik an der rationalen Theologie überleitet. Vgl. KrV A 559–567/B 587–595. Zudem umgeht diese Lösung sowohl den o.g. Einwand des Antithetikers aus der Regularitätstheorie der Ereigniskausalität wie auch Kants Vorwurf der Verwechslung von ,logischer‘ und ,empirischer‘ Kontingenz in der Anmerkung zur Thesis der vierten Antinomie (vgl. ebd., A 458–460/ B 486–488), der sich aber ohnehin bestreiten lässt. 55 Zu den Details und den Voraussetzungen von Kants Ableitung des Gottesgedankens aus PDB vgl. bes. W 1978, S. 28–59; W 2018, S. 219–231 und M 2020, S. 31–37. 56 Vgl. hierzu auch R 1978 und zum Verhältnis zwischen der sog. ,ersteigenschaftlichen Maximalkonsistenz‘ von Entitäten und Individualität im Allgemeinen bes. Meixner 2 2011, S. 52–60. 57 Mit A. Wood gehe ich im Folgenden davon aus, dass Kant PDB in der KrV in erster Linie als ein Prinzip für die nicht-epistemische Möglichkeit de re von Individuen verwendet. Vgl W 1978, S. 42–50. Das scheint sich interessanterweise im opus postumum zu ändern. Dort behauptet Kant mit Chr. Wolff: omnimoda determinatio est existentia (zit. nach R 1978, S. 177). Aus diesem starken Prinzip würde aber vermutlich folgen, dass nicht mehr alle kontrafaktischen Aussagen über existente bzw. wirkliche Entitäten einen Wahrheitswert hät-
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Kant scheint nun zu glauben, dass PDB genau dann anwendbar ist, wenn eine Basismenge von solchen intrinsischen Eigenschaften existiert, deren Teilmengen wiederum gewöhnliche Individuen darstellen.58 Wenn nun dieses Derivationsverhältnis tatsächlich besteht, muss die Basismenge zwar einerseits alle möglichen intrinsischen Prädikate abdecken können; andererseits darf sie auch nicht in einer widersprüchlichen Vereinigung kontradiktorischer Eigenschafen bestehen. Um die Maximalkonsistenz dieser Basismenge garantieren zu können, nimmt Kant im Anschluss an Leibniz an, dass sie als Elemente „Realitäten“ (ebd., A 575/B 603) enthalten muss, d.h. aus ,einfachen‘ und rein ,positiven‘ Eigenschaften besteht.59 Während das erste Kriterium der Nicht-Analysierbarkeit den nicht-derivativen Status solcher Eigenschaften gewährleistet, ermöglicht das zweite Kriterium, dass alle Realitäten untereinander im leibnizianischen Sinne kompossibel sind, um damit zumindest die logische Möglichkeit ihrer Vereinigung sicherstellen.60 Wenn dies aber der Fall ist, dann kann – so Kant – PDB auf die Basismenge selbst angewendet werden, woraus sich dann (scheinbar) unmittelbar ergibt, dass das „All der Realität“ (ebd., A 575 f./B 603 f.) ein Individuum oder ein ,Ens‘ sein muss. In Kants Worten ausgedrückt: Es ist aber auch durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Ding an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt, und der Begriff eines entis realissimi ist der Begriff eines einzelnen Wesens, weil von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten eines, nämlich das, was zum Sein schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen wird. (ebd., A 576/B 604)
Die Ableitung des Begriffs des ER stimmt in Kants Meinung zum einen mit seiner grundlegenden Überzeugung überein, dass sich alle relevanten metaphysischen
ten, da deren Gegenstücke in anderen möglichen Welten nicht mehr maximal bestimmt wären. 58 Vgl. KrV A 573 f./B 601 f. Im Hintergrund steht hier vermutlich die Überzeugung des vorkrititschen Kants, dass jede mögliche (Ko-)Instantiierung von Prädikaten, die mind. in einem Derivationsverhältnis zu ,Realitäten‘ stehen, durch die metaphysisch notwendige Exemplifikation von Realitäten in einem EN begründet wird. Vgl. die instruktive systematische Diskussion dieser Prämisse in C 2009b, S. 177–186. 59 Dies ist vermutlich der Kerngedanke der besonders dunklen Stelle in KrV A 574–576/B 602–604. Höchstwahrscheinlich denkt Kant hier an Leibniz’ Beweis für die Möglichkeit von Gottes Existenz. Vgl. hierzu die instruktiven Rekonstruktionen in A 1994, Chap. 5 und H 2011, S. 54 f. 60 Aufgrund der ,Positivität‘ müssen ,Realitäten‘ wesentlich nicht-privative Eigenschaften darstellen. Vgl. KrV A 574 f./B 602 f. Um dies zu gewährleisten, darf eine ,Realität‘ einen nicht überbietbaren Steigerungsgrad besitzen. Vgl. hierzu C 2009b, S. 166 Fn. 19 und . 2012, S. 640 f. So ist bspw. für Kant „Unwissenheit“ (KrV A 575/B 603) ein Beispiel für eine derivative Eigenschaft, die folglich auf der nicht-privativen ,Realität‘ des höchsten Wissens beruhen müsste, dessen Inhalt dann schlicht in allem bestehen muss, was überhaupt gewusst werden kann. (Ich lasse es hier offen, ob ohne die gleichzeitige Annahme der absoluten Einfachheit Gottes das Attribut ,Wissen‘ tatsächlich das Kriterium der Nicht-Analysierbarkeit erfüllt.)
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,Ideen‘ einer bestimmten Verwendung des o.g. Vernunftprinzips im Rahmen der klassischen Schlussformen verdankt.61 Im vorliegenden Fall folgt nämlich aus PDB und seiner metaphysischen Voraussetzung, dass es für die Bildung eines jeden vollständigen Individuenbegriffs einen schlüssigen disjunktiven Syllogismus gibt, dessen Obersatz in irgendeiner Form einen Verweis auf die omnitudo realitatis und folglich auf die Natur des ER enthalten muss.62 Zum anderen soll PDB die metaphysische Möglichkeit von Individuen erklären, die man aber nach gängigen modalen Intuitionen selbst als metaphysisch notwendig einstufen kann.63 Wenn aber PDB selbst nur unter der Voraussetzung eines ER wahr sein kann, dann deutet der von Kant rekonstruierte Schluss auf das ER implizit auf ein mögliches Argument für dessen notwendige Existenz hin.64 In dieser Skizze zeigt sich daher in Umrissen ein möglicher Übergang von der Kennzeichnung des ER zu derjenigen des EN. In der KrV betrachtet Kant eine solche Schlussfolgerung allerdings als einen Scheinschluss und meint, dieser sei – anders als das KA – so leicht zu durchschauen, dass die Ableitung des ER nicht wirklich erklären könnte, was Menschen überhaupt dazu motiviert, Gottes Existenz zu beweisen.65 Damit muss er aber ein weiteres Argument dafür aufbieten, warum nun zumindest der umgekehrte Schluss von der Existenz des EN zur derjenigen von ER zumindest naheliegt. Im Rahmen seiner Diskussion des KA deutet Kant folgendes Argument an: Nun schließt der Beweis weiter: [i] das notwendige Wesen kann nur auf eine einzige Art, d.i. in Ansehung aller möglichen entgegengesetzten Prädikate nur durch eines derselben, bestimmt werden, folglich muß es [ii] durch seinen Begriff durchgängig bestimmt sein. Nun ist [iii] nur ein einziger Begriff von einem Dinge möglich, der dasselbe a priori durchgängig bestimmt, nämlich der des entis realissimi: Also ist [iv] der Begriff des allerrealsten Wesens der einzige, dadurch ein notwendiges Wesen gedacht werden kann, [v] d.i. es existiert ein höchstes Wesen notwendiger Weise. (KrV A 605 f. /B 633 f.)
Prämisse [i] des Arguments setzt zur Anwendung von PDB mindestens die metaphysische Möglichkeit des EN voraus, die man aber aus dem Schluss des KA auf dessen Existenz relativ leicht gewinnen kann.66 Allerdings impliziert die erste 61 Auf die Details dieses komplexen Verfahrens kann ich hier nicht eingehen. Vgl. W 2018, Chap. 6 und M 2020, S. 19–31. 62 Vgl. KrV A 577/B 605 und zur Rekonstruktion bes. W 1978, S. 50–55 und H 2008, S. 112–114. 63 In diesem Sinne unterstellt etwa A. Chignell Kants vorkritischen Möglichkeitsbeweis für Gottes Existenz das für das System S5 charakteristische Axiom, demzufolge ,Möglicherweise p‘ die Aussage ,Notwendigerweise, möglicherweise p‘ impliziert. Vgl. C 2009b, S. 167. 64 Ein analoges Argument, das allerdings nicht auf PDB als Möglichkeitsprinzip zurückgreift, hat Kant in seiner vorkritischen Phase entwickelt. Vgl. EMBG, AA II, S. 77–91 und die ausführliche Rekonstruktion in C 2012, S. 638–657; und zu Kants späterer Beurteilung des Arguments vgl. W 1978, S. 71–79. Was dies für den Begriff der notwendigen Existenz bedeutet, wird weiter unten in Abschn. II.2.6 näher beleuchtet. 65 Vgl. KrV A 583 f./B 611 f. 66 Denn gewöhnlich gilt ja die bekannte Regel: Ab esse ad posse valet consequentia.
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Zwischenkonklusion [ii] eine von Kant nicht explizit gemachte, stärkere Lesart von [i], der zufolge die durchgängige Bestimmung nicht nur aus der Existenz des EN, sondern vielmehr aus der Tatsache folgt, dass es „durch seinen Begriff“ (ebd.) vollständig bestimmt ist. Soll nun daraus zusammen mit der zweiten Prämisse [iii] die Identifikation von EN und ER in [iv] folgen, muss die Wendung ,durch seinen Begriff bestimmt sein‘ mit der epistemologischen These der apriorischen Zugänglichkeit der durchgängigen Bestimmung synonym sein, die in [iii] angeführt wird. Eine solche Interpretation ist zwar nicht selbstverständlich und Kant gibt auch wenig Hinweise, wie er dazu kommt. Die m.E. nachvollziehbarste Erklärung gibt er in einem analogen Argument für die Identifikation des EN mit dem ER, in dem er vom „Begriff“ des EN behauptet, er müsse „zu allem Warum das Darum“ (ebd., A 585/B 613) enthalten.67 Da hierzu auch der Umstand gehört, dass das EN – wenn es existiert – durch all seine wesentlichen Attribute vollständig bestimmt ist, dann scheint aus dieser Anforderung zu folgen, dass diese Tatsache allein durch den Begriff des EN erklärt werden und damit erfahrungsfrei zugänglich sein muss.68 Meint man nun, dass nur ein ER diese Voraussetzung erfüllen kann (= [iii]), ergibt sich zunächst, dass jedes EN ein ER sein muss (= [iv]), und zusammen mit dem Schluss auf die Existenz des EN dann auch die Existenz des ER (= [v]). Der äußerst verschlungene Weg, mit dem Kant zu seiner Notwendigkeitsthese kommt, lässt sich damit abschließend nochmals im Rekurs auf die eingangs zitierte Passage zusammenfassen. Ihr gemäß ist jede menschliche Vernunft auf Basis eines intuitiv akzeptierten Prinzips dazu disponiert, von der Tatsache, dass es überhaupt kontingente Dinge gibt, auf deren Erklärung in einem absolut notwendigen Wesen zu schließen.69 Wie wir gesehen haben, lässt sich dieser Schluss am besten mithilfe einer Variante von PZG rekonstruieren, die auf die Totalität 67 Vgl. zu dieser Lesart bes. H 2012, S. 364 f. Im Hintergrund von Kants Thesen steht ferner vermutlich die leibnizianische Behauptung, dass jedes vollkommene Wesen einen selbst-erklärenden Status besitzen muss. Vgl. hierzu A 1994, S. 151–153. Vom EN behauptet Kant nämlich an derselben Stelle, es sei „in keinem Stücke und in keiner Hinsicht defekt“ (KrV A 585/B 613). 68 Nimmt man Kants vorkritischen Gottesbeweis aus den Möglichkeiten de re als Hintergrundfolie, dann ergibt sich aus der oben zitierte Stelle noch eine damit verwandte Lesart. Denn dort erklärt Kant, dass ein EN „selbst keiner Bedingung bedarf“, wenn es sich im „Selbstbesitz aller Bedingungen zu allem Möglichen“ (ebd.) befindet. Das Antezendens dieses Konditionals gewinnt man dann aus der stärkeren Auffassung des „Begriffe[s] der unbedingten Notwendigkeit“ (ebd.), dem zufolge ein EN die Erklärung der Wirklichkeit und Möglichkeit aller anderen Entitäten enthalten muss. Vgl. zu dieser Engführung von EN und ER auch F 1981, S. 231. 69 „Dieses ist nun der natürliche Gang, den jede menschliche Vernunft, selbst die gemeineste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält. Sie fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruhet.“ (KrV A 584/B 612)
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aller kontingenten Entitäten angewendet wird. Dies zeigt zugleich, dass – wenn es überhaupt ein EN gibt – es nicht zu der Totalität aller kontingenten Entitäten gerechnet werden kann, deren Existenz das EN gerade erklären soll. Versteht man unter dieser Totalität das Weltganze, ergibt sich daraus, dass der natürliche Schluss auf das EN dieses zugleich als transzendent auffassen muss. Eine Entität, die in allen Hinsichten unbedingt ist, muss aber zugleich einen selbsterklärenden Status besitzen. Daher neigen Menschen im natürlichen Vernunftgebrauch laut Kant dazu, das EN mit dem ER zu identifizieren,70 dessen Kennzeichnung sich in einem analogen rekonstruktiven Verfahren ebenfalls als natürlicher Vernunftbegriff verstehen lässt. These 2): Das KA ist ein ungültiges Argument. Die natürliche wie notwendige Annahme der Existenz des EN wie des ER erklärt sich daher aus einer äußerst komplexen Verschaltung der Anwendung der Vernunftprinzipien PZG und PDB. Gleichzeitig meint Kant, dass der resultierende Gottesgedanke nicht nur ganz ,natürlich‘, sondern auch zugleich auf Trugschlüssen beruht und daher zunächst einen bloßen ,Schein‘ darstellt, wenn er auf diese Weise gewonnen wird. Diese Behauptung setzt die zweite These Kants voraus, dass das KA kein erfolgreiches Argument darstellt. Um zu sehen, woran es nun nach Kant genau scheitert, lohnt es sich zunächst, eine grobe Übersicht über das Gesamtargument zu gewinnen, wie es bislang rekonstruiert wurde.71 Wie wir schon gesehen haben, versucht dessen erster Schritt – analog zum Beweis der Thesis der vierten Antinomie – zunächst die Existenz mindestens eines EN bewiesen:72 (1) Für jedes kontingente Individuum x: x existiert genau dann, wenn die Reihe seiner notwendigen (kausalen) Existenzbedingungen vollständig ist. (2) Die Reihe der Existenzbedingungen für ein jedes kontingentes Individuum x ist genau dann vollständig, wenn ein kausal wirksames, notwendiges Wesen existiert, das die Existenz aller von ihm verschiedenen Wesen erklärt. (3) Mindestens ich existiere.
70 Damit erklärt sich der direkte Folgesatz: „Dieser selber aber schwebet ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllet und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt, d.i. der Realität nach unendlich ist.“ (ebd.) 71 Die folgende informelle Rekonstruktion setzt mit Kant voraus, dass ein KA eine deduktive Form haben muss. Eine solche Auffassung ist allerdings nicht alternativlos. Eine probabilistische Fassung des KA hat etwa R. Swinburne vorgelegt (vgl. S 22004, Chap. 7) und neuerdings weist etwa H. Tegtmeyer darauf hin, aristotelische Formen des KA seien Paradigmenfälle der von ihm sog. „speculative induction“. Vgl. T 2015a, S. 781. 72 Den ersten Teilschritt formuliert Kant so: „Wenn etwas existiert, so muß auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren. Nun existiere, zum mindesten, ich selbst: also existiert ein absolut notwendiges Wesen.“ (KrV A 604/B 632)
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Daher: (4) Ein kausal wirksames, notwendiges Wesen (= EN) existiert.
Prämisse (1) stellt dabei eine Subspecies des o.g. allgemeinen Vernunftprinzips dar, dass das Bestehen eines jeden ,real‘ bedingten Sachverhalts jeweils von dem tatsächlichen Erfülltsein all seiner notwendigen, ,realen‘ Bedingungen abhängig macht. Prämisse (2) führt eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Vollständigkeit der Reihe realer Existenzbedingungen ein, die man im Sinne der obigen Überlegungen am besten mithilfe eines schwachen PZG plausibilisieren kann.73 Zusammen mit der harmlosen Prämisse, dass zumindest ich – als kontingentes Individuum – existiere, folgt dann die gewünschte Zwischenkonklusion (4). Im zweiten Teilargument versucht das kantische KA nun auf die notwendige Existenz eines realsten Wesens (= ER) zu schließen.74 Wie schon oben angedeutet wurde, rekurriert es dabei auf die Prämisse: (5) Jedes EN ist ein ER.75
Zusammen mit (4) wäre damit zwar schon der schwache Schluss gegeben, dass es mindestens ein ER geben muss. In seiner Begründung für (5) meint Kant aber, dass das KA für die stärkere Konklusion argumentiert, dass „der Begriff des allerrealsten Wesens der einzige [ist], dadurch ein notwendiges Wesen gedacht werden kann“ (KrV A 605 f./B 634 f.).76 Für diese stärkere These referiert Kant 73 Vgl. zu dieser Interpretation auch H 2011, S. 40 und M 2020, S. 42–44. In diesem Sinne lässt sich m.E. auch der oben schon zitierte, kantische Zusatz zu seiner Rekonstruktion erläutern: „Diese Schlußfolge ist zu bekannt, als das es nötig wäre, sie hier weitläufig vorzutragen. Sie beruht auf dem vermeintlich transzendentalen Naturgesetz der Kausalität: daß alles Zufällige seine Ursache habe, die, wenn sie wiederum zufällig ist, eben sowohl eine Ursache haben muß, bis die Reihe der einander untergeordneten Ursachen sich [sic!] bei einer schlechthinnotwendigen Ursache endigen muß, ohne welche sie keine Vollständigkeit haben würde“ (KrV A 605/B 633 Fn.) Zum Verhältnis zwischen Kants Vernunftprinzip und dem starken PZG bei Kant vgl. W 2018, S. 98–102. 74 Vgl. im Folgenden KrV A 608 f./B 636 f. 75 „[E]in jedes schlechthinnotwendiges Wesen ist zugleich das allerrealste Wesen“ (ebd., A 608/B 636). Wegen Kants Formulierung von unten (6) interpretiere ich diese Prämisse hier schwächer ohne Kennzeichnungsausdrücke. 76 Diese stärkere These macht deutlich, warum das zweite Teilargument nicht auch schwächer als ein bloß abduktiver Schluss verstanden werden kann, wie etwa M. Willaschek im Anschluss an KrV A 586/B 614 annimmt. Vgl. W 2018, S. 233. Ein Schluss auf die beste Erklärung müsste voraussetzen, dass zumindest alternative Optionen möglich wären, dass EN aufzufassen. Kant behauptet aber auch an dieser Stelle, dass nur der Begriff des ER „dem Begriffe der unbedingten Notwendigkeit Genüge tut, darin es kein anderer Begriff ihm gleichtun kann“ (KrV A 585 f./B 613 f.; meine Hervorhebung, W.L.). Diese Interpretation ist damit auch unabhängig von der m.E. exegetisch falschen These Willascheks, dass das oben rekonstruierte Argument für Gottes Existenz ebd., A 584/B 612 nicht mit dem KA zusammenfällt. Vgl. oben S. 169 Anm. 22.
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nun folgendes Zusatzargument. Zunächst glaubt er, dass (5) als Allsatz per accidens konvertibel ist und mithin: (6) Einige ER sind EN.77
impliziert.78 Da nun aber der Begriff des ER per definitionem alle Realitäten enthält, müssen zwei ER hinsichtlich ihrer intrinsischen Eigenschaften ununterscheidbar sein. Daher folgt gemäß Leibniz’ Identitätsprinzip die sog. Konversion simpliciter, also: (7) Jedes ER ist ein EN.79
Da es nur genau ein ER geben kann, kann man auch alternativ Kennzeichnungsausdrücke verwenden, etwa: (7’) Das ER ist das EN. Sollte es also tatsächlich ein EN geben, ist es nach (5) und (7’) mit Gott bzw. dem ER identisch. Bezeichnenderweise nennt Kant Aussage (5) den „nervus probandi des kosmologischen Beweises“ (KrV A 608/B 637) und deutet damit schon an, dass für ihn das Hauptproblem des KA im zweiten Teilargument steckt. Bevor ich Kants Gründen für diese Vermutung nachgehe, werde ich noch kurz auf die übrigen Einwände eingehen, die von Kant en passant angeführt werden und die sich in erster Linie gegen den ersten Schritt richten. (a) Die Einwände gegen den ersten Beweisschritt Gleich im Anschluss an seinen Haupteinwand gegen das KA behauptet Kant, in ihm halte „sich ein ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen verborgen […], welches die transzendentale Kritik leicht entdecken und zerstören kann.“ Konkret erwähnt er vier solcher Einwände, deren Ausarbeitung er „dem schon geübten Leser überlassen“ (KrV A 609/B 637) möchte. Aus Gründen, die im Folgenden noch deutlicher werden, gebe ich zunächst nur den ersten und den vierten Zusatzeinwand an und folge dabei der Zählung von Kant: Da befindet sich denn z.B. 1) der transzendentale Grundsatz, vom Zufälligen auf eine Ursache zu schließen, welcher nur in der Sinnenwelt von Bedeutung ist, außerhalb derselben aber auch nicht einmal einen Sinn hat. Denn der bloß intellektuelle Begriff des Zufälligen kann gar keinen synthetischen Satz, wie den der Kausalität, hervorbringen, und der
77 „[E]inige allerrealste Wesen sind zugleich schlechthinnotwendige Wesen.“ (KrV A 608/B 636) 78 Vgl. ebd., A 608/B 636. Es wird in der Literatur oft darauf hingewiesen, dass Kants Schluss nur dann gültig ist, wenn die im Allsatz verwendeten Terme nicht leer sind. Andernfalls wäre es bspw. formal korrekt, von der Aussage ,Alle Einhörner haben vier Beine‘ auf die Aussage ,Einige vierbeinige Lebewesen sind Einhörner‘ zu schließen. Für Kants KA bedeutet dies, dass die Konversion von (5) nur in Konjunktion mit (4) gelingen kann, da aus dieser folgt, dass es zumindest eine Entität gibt, die zugleich ein EN und ein ER ist. Zur Diskussion dieses Übergangs vgl. bes. S 1955, S. 36 f.; W 1978, S. 126 f. und F 1993, S. 7. 79 „[E]in jedes allerrealste Wesen ist ein notwendiges Wesen.“ (KrV A 608/B 636)
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Grundsatz des letzteren hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs, als nur in der Sinnenwelt […]. (ebd.) 4) Die Verwechslung der logischen Möglichkeit eines Begriffs von aller vereinigten Realität (ohne Widerspruch) mit der transzendentalen, welche ein Principium der Tunlichkeit einer solchen Synthesis bedarf, das aber wiederum nur auf das Feld möglicher Erfahrungen gehen kann, u.s.w. (ebd.)
Der erste Einwand greift nun die Anwendung des Kausalbegriffs in den Prämissen (1) und (2) des KA an, während sich der vierte Einwand in erster Linie auf die behauptete Modalität des ER in Prämisse (5) und Konklusion (7) richtet. Allerdings macht der zuletzt zitierte Nebensatz deutlich, dass Kant die erforderliche ,transzendentale Möglichkeit‘ indirekt wieder von derselben Bedingung abhängig macht, die schon im ersten Einwand auftaucht. Denn diese Form der Möglichkeit erfordert für Kant die Durchführbarkeit der Zusammenstellung aller Realitäten, die aber nur „im Feld möglicher Erfahrungen“ (ebd.) Aussicht auf Erfolg haben soll. Im selben Sinne behauptet der erste Einwand, dass die Verwendung der Kausalitätskategorie im KA die raumzeitliche, kontingente Wirklichkeit und damit die „Sinnenwelt“ (ebd.) verlässt, in der sie nach Kant allein sinnvoll angewendet werden kann.80 Beide Einwände greifen damit ohne weitere Begründung auf das kantische Bedeutungsprinzip zurück,81 das in der stärksten Lesart unter quasi-empiristischen Kriterien festlegt, welchem unserer propositionaler Wahrheitsansprüche ein echter repräsentationaler Gehalt zugesprochen werden kann.82 Im vierten Einwand geschieht dies indirekt durch die angedeutete Zusatzbedingung, dass die ,transzendentale Möglichkeit‘ des ER an einer synthetischen Leistung des Subjekts hängt,83 deren „Principium der Tunlichkeit“ (ebd.) wiederum am Bedeutungsprinzip hängt. Da damit ein allgemeines restringierendes Kriterium für Möglichkeitsbehauptungen eingeführt wird, lässt sich der Einwand wahrscheinlich auch auf die Modalbegriffe erweitern, die in den Prämissen und der Konklusion des ersten Teilarguments verwendet werden.84 Beide Einwände bestreiten 80 Zur Diskussion dieses Standard-Einwands gegen das KA vgl. bes. auch H 2011, S. 37 f. 81 Vgl. zu dieser Interpretation auch W 1978, S. 98. 82 Den Terminus ,Bedeutungsprinzip‘ übernehme ich hier – wie oben auf S. 158 – von P. Strawson, der vom „principle of significance“ (S 1966, S. 16) spricht. Zum empiristischen Hintergrund des Prinzips vgl. ebd., S. 18. 83 Eine Leistung, die nach Kant zwar gefordert, aber niemals vollständig durchgeführt werden kann. Vgl. KrV A 573/B 601. Dieser vierte kantische Einwand ist damit noch stärker als der gängige Einwand gegen die Annahme der metaphysischen Möglichkeit von Gottes Existenz, der lediglich bestreitet, dass diese Aussage gewusst werden kann. Solche Zweifel lassen sich ohne Kants kritische Modaltheorie formulieren, wie Kant es teilweise selbst tut. Vgl. hierzu C 2009b, S. 186–188. 84 Ich äußere dies hier nur als Vermutung. Denn in der Analyse modaler Terme, die Kant in der Analytik der KrV anbietet, ist überhaupt gar nicht klar, ob die gängige reziproke Definition der Modalbegriffe ,möglich‘ und ,notwendig‘ überhaupt durchführbar ist. Vgl. hierzu die instruktive Diskussion in M 2020, S. 91 f.
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daher offensichtlich nicht die Korrektheit der einzelnen Prämissen bzw. die Gültigkeit der Schlussfolgerung, sondern bezweifeln in der stärksten Interpretation vielmehr schon die bloße Wahrheitsfähigkeit der verwendeten Prinzipien wie der Konklusion. Allerdings führt Kant im Anschluss an den ersten Zusatzeinwand einen weiteren Einwand an, der insbesondere Prämisse (2) des kantischen KA unabhängig von den Ergebnissen der Analytik der KrV anzugreifen scheint: 2) Der Schluß, von der Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe über einander gegebener Ursachen in der Sinnenwelt auf eine erste Ursache zu schließen, wozu uns die Prinzipien des Vernunftgebrauchs selbst in der Erfahrung nicht berechtigen, vielweniger diesen Grundsatz über dieselbe (wohin diese Kette gar nicht verlängert werden kann) ausdehnen können. (KrV A 637 f./A 609 f.)
Dieser Einwand bestreitet weder die Wahrheit noch die Wahrheitsfähigkeit des Erklärungsprinzips (2) bzw. der Zwischenkonklusion (4), sondern vielmehr dessen epistemische Berechtigung. Allerdings führt Kant nicht direkt aus, was uns nun nach den „Prinzipien des Vernunftgebrauchs“ (ebd.) genau erlaubt sein soll. Vermutlich denkt er dabei an seine eigene Regularitätsanalyse der Kausalität, die gerade voraussetzt, dass jedes Ereignis einen kausalen und temporalen Vorgänger haben muss.85 Wie dies allerdings mit den kantischen Sonderbedingungen der Kausalität freier Akteure kompatibel ist, wird hier nicht deutlich.86 Zudem passt Kants Charakterisierung der ersten Zwischenkonklusion überhaupt nicht mit dem „Beweis, den Leibnitz auch den a contingentia mundi nannte“ (ebd., A 604/B 632), zusammen. Denn solange PZG zusammen mit dem Prinzip gilt, dass die Größe der Anzahl der Elemente einer Pluralität von kontingenten Individuen keinen Einfluss auf deren modale Eigenschaften hat, ist die Frage nach der Möglichkeit einer aktual unendlichen Kausalreihe für die Gültigkeit des KA irrelevant. Da dies nun aber das Spezifikum des leibnizianischen Kontingenz-
85 Vgl. KrV A 189/B 232 und ferner oben S. 174. Alternativ könnte man Kants Einwand auch von der Prämisse her verstehen, mit der Kant an anderer Stelle den Schluss von einem gegebenen ,real Bedingten‘ auf das Bestehen der notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen zu blockieren versucht. Vgl. u.a. KrV A 498–501/B 525–529 und oben Fn. 31. Der Gedanke scheint hier zu sein, dass die Totalität der Bedingungen selbst niemals Inhalt eines begründeten empirischen Urteils sein kann und daher nur der Schluss gerechtfertigt ist, in der Suche nach weiteren Bedingungen die komplette Reihe hypothetisch anzunehmen, ohne von dessen Abschluss überzeugt zu sein. Vgl. hierzu W 2010, S. 258 f. Kant greift hier aber explizit sowohl auf das Bedeutungsprinzip als auch den ,transzendentalen Idealismus‘ zurück. Von hierher interpretiert wäre der zweite kantische Zusatzeinwand daher nur eine Spezifikation des ersten. Zudem würden Kants Prämissen, wie A. Wood zeigt, direkt alle Schlüsse auf nicht-beobachtbare Entitäten blockieren, die zur Erklärung wahrnehmbarer Tatsachen postuliert werden, was wiederum mit Kants eigenen Annahmen inkompatibel wäre. Vgl. ebd., S. 259–261. 86 Auf die Paritätsprobleme, die sich aus Kants Analyse der Akteurskausalität mit Bezug auf seine Einwände gegen die Anwendung der Kausalbegriffe auf Gott ergeben, weist auch P. Rohs hin. Vgl. R 2013, S. 75 und ähnlich auch S 2007, S. 309 f.
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arguments darstellt,87 zeigt sich schon jetzt, dass der erste und der vierte Einwand wesentlich aussichtsreicher sind, wenn sie auch von einem anfechtbaren Prinzip abhängig sind (b) Kants Reduktionsargument Neben den genannten drei Einwänden führt Kant noch zwei weitere Einwände an, die aber nicht Kants Bedeutungsprinzip voraussetzen. Darunter befindet sich dasjenige Gegenargument, das Kant am ausführlichsten entwickelt und das ich im Folgenden das ,Reduktionsargument‘ nennen werde.88 Wie oben schon angedeutet hat, richtet es sich nicht gegen den ersten, sondern vielmehr gegen den zweiten Beweisschritt und zwar v.a. gegen die Weise, wie Prämisse (5) zustande kommt. Im Anschluss an das oben rekonstruierte kantische Zusatzargument für (5) meint Kant, die Suche nach den weiteren Eigenschaften des EN könne nur bei einem ER enden. Denn dieses enthalte unter allen möglichen Entitäten allein „die erforderlichen Bedingungen […] zu einer absoluten Notwendigkeit in sich“. Hieraus werde aber „klar“, daß man hiebei voraussetzt, der Begriff von der höchsten Realität tue dem Begriffe der absoluten Notwendigkeit völlig genug, d.i. es lasse sich aus jener auf diese schließen; ein Satz, den das ontologische Argument behauptete, welches man also im kosmologischen Beweise annimmt und zum Grunde legt, da man es doch hatte vermeiden wollen. (KrV A 607/B 635)
Genau genommen scheint dieses Argument nicht die Wahrheit von (5) und (7) anzugreifen, sondern nur dessen doxastische Akzeptanz von einer epistemischen Anforderung der folgenden Form abhängig zu machen: (A) Ein (bzw. das) EN kann dann und nur dann ein (bzw. das) ER sein, wenn man vom Begriff des ER auf den Begriff des EN a priori schließen kann.
Leider gibt Kant auch an dieser Stelle kaum Hinweise, warum auch ein Vertreter des KA sich nun genau auf (A) verpflichtet fühlen sollte.89 Der Hauptgrund für die Anforderung (A) besteht aber m.E. in der an derselben Stelle geäußerten modaltheoretischen Annahme, dass „die absolute Notwendigkeit ein Dasein aus bloßen Begriffen“ (KrV A 607/B 635.) ist.90 Da (A) nun die Brücke zum cartesi87 Vgl. C 1980, S. 271 f. und 276 f.; H 2011, S. 31 f. und ferner die Ausführungen oben S. 167. 88 Vgl. auch die Rekonstruktionen in F 1993, S. 5 f.; V 2000, S. 443 f. und H 2011, S. 39 f. 89 Zudem ist Kants Anforderung mehrdeutig, wie J.W. Forgie zu Recht betont. Vgl. F 1993, S. 9. Darauf wird unten zurückzukommen sein. Vgl. unten II.2.3. 90 Vgl. auch die Rekonstruktion in P/R 2018, S. 57 f. Pruss und Rasmussen interpretieren die modaltheoretische Prämisse mit der These, dass die Möglichkeit eines EN dessen Existenz impliziert. Diese These ist allerdings nicht auf Kants Reduktion absoluter Notwendigkeit auf die Notwendigkeit analytischer Sätze festgelegt.
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schen OA bauen soll, das Kant schon im vorhergehenden Kapitelabschnitt ausführlicher diskutiert hat,91 meint er mit dieser These wohl, dass die notwendige Existenz einer Entität X nur dann zugesprochen werden kann, wenn die Aussage ,X existiert‘ de dicto notwendig ist.92 Dies ist nach Kant nämlich nur dann möglich, wenn in einer solchen Aussage das Existenzprädikat analytisch im Subjektterm enthalten ist. Und eine solche Aussage scheint im Falle des ER sogar gegeben zu sein – etwa, wenn man mit Descartes annimmt, dass Existenz eine ,Vollkommenheit‘ ist, deren Gesamtheit wiederum Inhalt der Definition des ER sein soll. Wenn das aber der Fall ist, ergibt sich eine mögliche Begründung für die rechte Seite der Anforderung (A): Denn ebenso, wie ich aus der Tatsache, dass Peter ein Junggeselle ist, analytisch schließen kann, dass Peter noch nicht geheiratet haben kann, so soll nun Kants modaltheoretische Erläuterung ,absoluter Notwendigkeit‘ dazu führen, dass allein aus dem Begriff des ER gefolgert werden kann, dass er notwendigerweise instantiiert ist. Aus Kants modaltheoretischer Annahme folgt daher, dass sich jede scheinbar vernünftige Rede von einem EN direkt auf die strittigen Prämissen und Ansprüche des cartesischen OA festlegt. Mit der Gültigkeit der Anforderung (A) scheint damit nicht nur der zweite Teilschritt des KA gefährdet. Genau genommen folgt aus ihr, dass allein der Begriff Gottes für den Schluss auf seine Existenz hinreichend sein muss, um überhaupt sagen zu können, dass etwas mit absoluter Notwendigkeit existiert.93 Dann ergibt sich folgendes Dilemma für das KA: Entweder nämlich ist diese Bedingung erfüllbar. Dann würde sich aber der ganze Beweis erübrigen, weil man dann gleich auf das cartesische OA zurückgreifen könnte. Oder sie ist nicht erfüllbar und ein Schluss allein aus dem Begriff oder der Definition des ER ist – wie Kant meint – aus prinzipiellen Gründen ungültig. Dann muss aber auch das KA
91 Kant nennt das OA auch den „ontologischen (cartesianischen) Beweis[…]“ (KrV A 602/B 630) und macht damit deutlich, dass er höchstwahrscheinlich in erster Linie Descartes’ Argument aus der V. Meditation vor Augen hat, das er auch als negatives Argument aufzufassen scheint. Vgl. ebd., A 594–596/B 623–625 und ferner W 2018, S. 231. Die formalen Eigenheiten von Kants Rekonstruktion werden unten in II.4.2 genauer beleuchtet. 92 Entsprechend unterscheidet Kant die „unbedingte Notwendigkeit der Urteile“ von der „Notwendigkeit der Sachen“ (KrV A 593/B 621) und unterstellt dem cartesischen OA in seiner Widerlegung erstere Auffassung. Vgl. ebd., A 596 f./B 624 f. Eine hervorragende Analyse und Kritik von Kants Unterscheidung und der zugrundeliegenden Theorie ,logischer‘ und ,realer‘ Modalitäten entwickelt H.G. Melichar. Vgl. M 2020, S. 76–83 und 86–94. Auf die Details dieser Widerlegung gehe ich ebenfalls unten in II.4.2 näher ein. 93 In diesem Sinne schreibt Kant: „Weil nun dieser Satz bloß aus seinen Begriffen a priori bestimmt ist: so muß der bloße Begriff des realesten Wesens auch die absolute Notwendigkeit desselben bei sich führen; welches eben der ontologische Beweis behauptete, und der kosmologische nicht anerkennen wollte, gleichwohl aber seinen Schlüssen, obzwar versteckter Weise, unterlegte.“ (KrV A 608 f./B 637 f.; meine Hervorhebung, W.L.)
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selbst ungültig sein und kann daher auch keine Alternative mehr zu apriorischen Argumenten darstellen.94 (c) Kants Argument gegen die ,falsche Selbstbefriedigung der Vernunft‘ im KA Man könnte nun fragen, was Kant zu dieser Anforderung und deren modaltheoretische Hintergrundannahmen bringt. Aus dem Kontext wird es aber leider nicht hinreichend ersichtlich, wie Kant beides eigentlich genauer begründet. Einen Hinweis gibt allerdings ein letzter kantischer Einwand, der sich unter den oben schon erwähnten vier zusätzlichen Kritikpunkten findet, die Kant im Anschluss an sein Reduktionsargument äußert. Darin behauptet Kant, es finde sich im KA [d]ie falsche Selbstbefriedigung der Vernunft, in Ansehung der Vollendung dieser Reihe, dadurch, daß man endlich alle Bedingung, ohne welche doch kein Begriff einer Notwendigkeit stattfinden kann, wegschafft, und, da man alsdann nichts weiter begreifen kann, dieses für eine Vollendung seines Begriffes annimmt. (KrV A 610/B 638)
Für sich betrachtet erscheint dieser Einwand völlig dunkel. Der Kerngedanke scheint aber darin zu bestehen, dass das KA nach Kant die Erklärungsreihe in illegitimer Weise abbricht – und zwar indem er eine weitere Erklärung der Existenz des EN schlicht für unnötig erklärt.95 Würde dies tatsächlich zutreffen, dann würde sich auch die Behauptung in Prämisse (2) als willkürlich erweisen, dass nur ein EN die ganze Kausalreihe abschließen kann.96 Was mit diesem Einwand vielleicht gemeint ist,97 wird deutlich, wenn man nochmals einen Blick auf das erste Teilargument wirft. Genau genommen scheint PZG nämlich zunächst nur den Schluss auf ein ontologisch und kausal unabhängiges Wesen zu erlauben; und das heißt genauer: den Schluss auf eine Entität
94 Vermutlich könnte man nach (A) nicht einmal die Behauptung aufstellen, dass es zur Definition Gottes gehören muss, mit metaphysischer Notwendigkeit zu existieren, und gleichermaßen seine Existenz leugnen, wie dies etwa J.N. Findlay in seinem atheistischen Argument in F 1955 tut. Denn schon die Behauptung ,Gott ist ein notwendiges Wesen‘ würde ihn mit (A) direkt dazu verpflichten, ein erfolgreiches OA vorzulegen. 95 In dieser Überzeugung sehen J.N. Findlay und H.G. Melichar daher völlig zu Recht das treibende Motiv hinter Kants Abhängigkeitsbehauptung. Vgl. F 1981, S. 238 f. und M 2020, S. 60–64. Soweit ich sehen kann, führen beide dies nicht direkt mit dem obigen Einwand eng. 96 Ohne diese Erklärung wäre damit für Kant die Behauptung von der Vollständigkeit der Erklärungsreihe ein Beispiel des Fehlschlusses der „faule[n] Vernunft (ignava ratio)“ (KrV A 689/B 717): „Man kann jeden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe.“ (ebd., A 689 f./B 717 f.) 97 Da Kant diesen Zusatzeinwand nur benennt und – wie bei den anderen Zusatzeinwänden – es vollständig dem „schon geübten Leser“ überlässt, „den trüglichen Grundsätzen weiter nachzuforschen und sie aufzuheben“ (ebd., A 609/B 637), möchte ich mit der folgenden Rekonstruktion nicht beanspruchen, sie sei die einzig mögliche.
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X, die (i) notwendigerweise die Existenz aller anderen Individuen erklärt, die aber (ii) so verfasst ist, dass ihre Existenz von nichts anderem erklärt werden kann.98 Kants Einwand scheint nun darauf zu zielen, dass das zweite Kriterium keinen informativen Grund angibt, warum der Erklärungsprozess mit X zum Halten kommt – und dies wohl, weil (ii) rein negativ formuliert ist und für X damit alle möglichen explanatorischen Bedingungen „weg[ge]schafft“ (ebd.) werden. Die einfachste und in Kants Augen wahrscheinlich einzige Lösung scheint nun darin zu bestehen, Kriterium (ii) modal zu interpretieren und die Existenz von X als metaphysisch notwendig zu erklären.99 Allerdings würde dabei die Nominaldefinition von ,Notwendigkeit‘ nicht weiterhelfen, weil diese selbst rein negativ ist: Zu sagen, dass das EN existiert, weil es unmöglich ist, dass es nicht existiert, scheint in Kants Augen wiederum weitere explanantia für unnötig zu erklären und daher die Ausgangsfrage willkürlich abzuweisen.100 Da es nach Kant zwei Hauptformen von Notwendigkeit gibt, stünden dem Vertreter des KA nur folgende Optionen offen: Er könnte die Existenz von X entweder als logisch notwendig (im engeren Sinne)101 interpretieren und würde damit in die Falle tappen, die das Reduktionsargument bereithält. Denn dann müsste die Aussage ,X existiert‘ ein analytischer Satz sein, was aber nach Kant gerade eine falsche Auffassung von Existenzsätzen darstellt. Oder aber er greift auf Kants sog. ,empirische‘ Notwendigkeit zurück.102 Diese wäre ein Fall dessen, 98 Mit W. Rowes im Anschluss an J. Hick und A. Plantinga entwickelte Terminologie, könnte man noch feiner zwischen einem „faktisch“ und einem „kausal“ notwendigen Wesen unterscheiden. Vgl. R 1975, S. 169–171. Die angegebene Definition eines ,unabhängigen Wesens‘ ist identisch mit letzterem Begriff, demgemäß beide Kriterien de dicto notwendig sind. Man könnte natürlich auch ganz klassisch von ,Aseität‘ statt von ,Unabhängigkeit‘ sprechen. 99 Kant würde daher deflationäre Strategien abweisen, die bestreiten, dass ein KA auf ein logisch notwendiges Wesen schließen muss. Vgl. S 2007, S. 306 und . 2012, S. 332 f. Swinburnes These beruht allerdings auf einer komplexen Modaltheorie, die ich hier nicht diskutieren kann. Vgl. L 2010. 100 Der ganze Einwand sollte daher vor dem Hintergrund des Anfangs von Kants Widerlegung des ontologischen Arguments gelesen werden: „Man hat zu aller Zeit von dem absolutnotwendigen Wesen geredet, und sich nicht sowohl Mühe gegeben, zu verstehen, ob und wie man sich ein Ding dieser Art auch nur denken könne, als vielmehr dessen Dasein zu beweisen. Nun ist zwar eine Namenserklärung von diesem Begriffe ganz leicht, daß es nämlich so etwas sei, dessen Nichtsein unmöglich ist; aber man wird hiedurch um nichts klüger als in Ansehung der Bedingungen, die es unmöglich machen, das Nichtsein eines Dinges undenklich anzusehen, und die eigentlich dasjenige sind, was man wissen will, nämlich, ob wir uns durch diesen Begriff überall etwas denken, oder nicht.“ (KrV A 592 f./B 620 f.) 101 Ich folge hier der Unterscheidung von P 1974a, Chap. 1. Wie sich zeigen wird, ist Kants Identifikation beider Formen von logischer Notwendigkeit keinesfalls unproblematisch. Vgl. u.a. P/R 2018, S. 12 f. 102 Die Unterscheidung zwischen ,logischer‘ und ,empirischer‘ Kontingenz findet sich in der Anmerkung zur Thesis der vierten Antinomie. Vgl. KrV A 458/B 486. Im Hintergrund steht Kants Modaltheorie in den sog. ,Postulaten des empirischen Denkens‘ ebd., A 218/B 265 f. Dort ist allerdings das Notwendigkeitskriterium weiter gefasst, weil es nicht in
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
was man heute ,kausale‘ oder ,nomologische‘ Notwendigkeit nennen würde. Ihr gemäß folgt das Bestehen eines Sachverhalts aus Anfangsbedingungen und der Wahrheit einer Konjunktion naturgesetzlicher Aussagen. Dies aber würde entweder bedeuten, dass es eine Kausalerklärung für die Existenz von X im angegebenen Sinne geben muss, was offensichtlich absurd ist. Oder aber es würde besagen, dass das Kausalgesetz auf X schlicht nicht anwendbar ist.103 Dies ist es aber genau, was die modale Interpretation des Kriteriums (ii) gerade erklären sollte. Der Vertreter des KA hätte in diesem Sinne keine weiteren Ressourcen mehr zur Verfügung, um die Unabhängigkeit oder Aseität von X zu erklären und könnte daher keinen informativen Grund angeben, warum X überhaupt in Prämisse (2) des KA als hinreichende Erklärung fungieren kann.104 Damit wird m.E. deutlich, wie Kant seine epistemische Anforderung für die Konklusion des KA zusätzlich begründen kann. Offensichtlich ist er nicht bloß der Meinung, nach dem Schluss auf die Existenz des EN suche man nur nach weiteren Attributen, die die Identifikation mit dem ER rechtfertigen.105 Er vertritt vielmehr die stärkere These, dass das EN nur dann in seiner explanatorischen Rolle plausibel gemacht werden kann, wenn das cartesische OA als Erklärung für seine Existenz fungiert. Nur diese könnte dann über die bloße Angabe der Unmöglichkeit von seiner Nicht-Existenz hinausgehen. Kants Einwand gegen die ,falsche Selbstbefriedigung‘ gibt daher nicht nur einen weiteren Hinweis darauf, was die Bildung von Prämisse (5) und mit ihr den Schluss auf die Identität von EN und ER motiviert. Er versucht zugleich zu zeigen, dass ohne diesen Schluss nicht einmal die Aseität des EN und mit ihr die Erklärung der kontingenten Gesamtwirklichkeit nachvollziehbar wäre.106
erster Linie auf die Übereinstimmung mit Naturgesetzen, sondern auf den „Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung“ (ebd., A 218/B 266) abzielt, zu denen nach Kant – neben dem Kausalgesetz – auch Anschauungsformen gehören. 103 P. Strawson weist allerdings darauf hin, dass Kant im Anschluss an den Beweis der ,ersten Analogie der Erfahrung‘ die Existenz einer empirisch notwendigen Substanz akzeptieren müsste und Kant daher zu inkonsistenten Aussagen neigt. Vgl. S 1966, S. 216 f. M.E. lässt sich damit einer der hegelschen Einwände gegen Kants Kritik stützen. Vgl. unten II.2.3. 104 Vgl. zu dieser Schlussfolgerung auch M 2020, S. 62 f. 105 Eine solche Lesart findet sich etwa in K 2012, S. 348 und ferner auch in Hegels Diskussion von Kants Kritik in GW 18, S. 320 und 323. Kant legt selbst bisweilen eine solche Interpretation nahe. Vgl. KrV A 606 f./B 634 f. 106 Die schlichte Identifikation dieses Einwandtyps mit Kants Reduktionsargument, wie sie etwa R. Williams ohne weitere Differenzierung vornimmt (vgl. W 2017, S. 54), scheint mir trotzdem problematisch. Denn nicht nur zählt ihn Kant zu den vier Zusatzeinwänden. Selbst in der Lesart, die hier vorgeschlagen wurde, ist er im besten Falle ein Teilargument für die modaltheoretischen Prämissen, die Kant für seine Reduktion benötigt.
2.2 Kants Thesen zum kosmologischen Argument
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These 3): Der Gottesgedanke des KA und seine Prämissen sind regulative Prinzipien. Kants Reduktionsargument und seine Kritik an illegitimen Regressabbrüchen scheinen nun die Vermutung nahe zu legen, dass er etwa im Anschluss an die empiristische Tradition schon die bloße Konzeption metaphysisch notwendiger Existenz verwirft.107 Interessanterweise ist es aber seine These der natürlichen Notwendigkeit des Gottesgedankens, die einen solchen Schluss zu blockieren scheint. So heißt es z.B. zu Beginn des Anhangs zur transzendentalen Dialektik: Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Mißverstand verhüten und die eigentliche Richtung derselben ausfindig machen. (KrV A 642 f./B 670 f.)108
Besitzen Menschen von Natur aus die Fähigkeit, Prinzipien wie PZG zu bilden, und folgt aus dessen konsequenter Anwendung die Existenz einer kausal unabhängigen und metaphysisch notwendigen Entität, dann müssen sowohl die Prinzipien als auch die deduktiv erschlossenen Entitäten nach Kant selbst dann einen Zweck erfüllen, wenn sich Schlüsse wie das KA als Trugschlüsse erweisen. Dieser Zweck muss dann so bestimmt werden, dass er nicht mit Kants Einwänden in Spannung gerät. Die Kernidee seiner Lösung fasst Kant im Anschluss an seine Kritik am KA folgendermaßen zusammen: Wenn ich zu existierenden Dingen überhaupt etwas Notwendiges denken muß, kein Ding aber an sich selbst als notwendig zu denken befugt bin, so folgt daraus unvermeidlich, daß Notwendigkeit und Zufälligkeit nicht die Dinge selbst angehen und treffen müsse, weil sonst ein Widerspruch vorgehen würde (KrV A 616/B 644).
In diesem Passus deuten sich zwei Annahmen an, mit denen Kant den Widerspruch zwischen der Akzeptanz und der Negation der Existenz des EN vermeiden möchte. Wie die zitierte Passage zeigt, greift er dazu erstens auf seine epistemische 107 Am geläufigsten ist sicherlich der humesche Einwand, dass die Unmöglichkeit eines EN schon aus der Tatsache folgt, dass es von jeder Entität denk- und vorstellbar ist, dass sie nicht existiert. Vgl. die ausführliche Diskussion in H 2011, S. 39 f. und in P/R 2018, S. 47 f. und ebd., S. 173–179; zur Engführung zwischen Humes und Kants Einwänden gegen die Annahme des EN vgl. ferner H 1960, S. 133 und 170 f. 108 Vgl. KrV A 669/B 697. Kant scheint hier auf ein aristotelisches Prinzip zurückzugreifen, nach dem die Verfolgung bestimmter Ziele genau dann als sinnvoll gerechtfertigt werden kann, wenn es sich aus der Natur einer Sache erklären lässt. So bemerkt Thomas etwa: Naturale […] desiderium non potest esse inane. (STh I. qu.75 a.6co; vgl. auch STh I. qu.12. a.1co) Allgemeiner formuliert, kann man dieses Prinzip auch so verstehen, dass natürliche Fähigkeiten von Lebewesen und die Ziele in deren Ausübung nicht nutzlos sein können. So heißt es z.B. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „In den Naturanlagen eines organisierten, d.i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug zu irgendeinem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist.“ (GMS, AA IV, S. 395)
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Analyse der Modalitäten zurück und verbindet dies mit dem ,transzendentalen Idealismus‘. Daraus ergibt sich, dass unsere Einschätzung, ob etwas möglich oder notwendig ist, von der spezifischen Verfassung der Fähigkeiten abhängig ist, mit denen wir Menschen modale Beurteilungen vornehmen. Personen, deren ganze Erkenntnispraxis notwendig anschauungsbezogen ist, sind daher für Kant unter keinen Umständen in der Lage, erfolgreiche Wissensansprüche über die Modalitäten nicht-empirischer Entitäten zu bilden.109 Die fehlende Einsicht in das, was es für eine Entität heißen könnte, mit absoluter Notwendigkeit zu existieren, lässt sich damit auf unsere Erkenntniskonstitution zurückführen.110 In der Konjunktion mit dem ,transzendentalen Idealismus‘ folgt daraus allerdings, dass die Bezugsgegenstände unserer Erkenntnis nur dann kategoriale und damit auch modale Eigenschaften besitzen, wenn sie Inhalt unserer empirischen Urteile werden können.111 Kants Einwände aus seinem Bedeutungsprinzip erlauben daher nur Schlüsse über die Wirklichkeit, wie sie uns ,erscheint‘, aber nicht wie sie unabhängig von unserem epistemischen Zugriff ,an sich‘ verfasst ist.112 Da es nun für Kant zumindest widerspruchsfrei denkbar ist, dass es nichtempirische Entitäten mit entsprechend radikal verschiedenen modalen Eigenschaften geben könnte, kann Kant meinen, dass empiristische Einwände gegen die Existenz eines EN unzutreffend sind.113 Um aber gleichzeitig rationalistische Schlüsse auf ein EN zu blockieren, stuft Kant zweitens PZG zusammen mit dem Gottesgedanken zu ,regulativen Prinzipien‘ ab.114 PZG fungiert demnach lediglich als Hypothese zur Systematisierung und Vervollständigung unserer Gesamterfahrung, die für Kant keine doxastische Akzeptanz implizieren muss.115 In die-
109 Modalitätsbeurteilungen müssen für Kant immer im Rahmen der ,Postulate des empirischen Denkens‘ verlaufen. Vgl. oben Fn. 102. 110 Daraus folgt auch, dass für Personen, deren Erkenntnisfähigkeiten nicht gleichermaßen restringiert sind, ein theistisches Argument gültig und schlüssig sein könnte. Die Widerspruchsfreiheit dieses Gedankens räumt Kant etwa explizit in der KU ein. Vgl. KU § 76, B 340 f. und hierzu M 2020, S. 123 f. 111 Vgl. auch oben S. 154. 112 Vgl. KrV A 616 f./B 644 f. Kants allgemeine Lösung ist daher m.E. mit seiner Auflösung der vierten Antinomie weitestgehend identisch. 113 Die humeanische These, dass es kein EN geben kann, weil für jede Entität gilt, dass deren Nicht-Existenz vorstellbar ist (vgl. H 2011, S. 39 f.), ist daher mit Kants Analyse der Modalitäten in Konjunktion mit dem ,transzendentalen Idealismus‘ inkompatibel. Da Widerspruchsfreiheit aber für Kant keine hinreichende Bedingung für metaphysische Möglichkeit darstellt, kann er auch dem leibnizianischen OA skeptisch gegenüberstehen. Vgl. C 2009b, S. 188–191. 114 Vgl. KrV A 616 f./B 644 f. 115 Ich folge hier insbesondere der Auffassung von M. Willaschek. Laut Willaschek sind ,regulative‘ Prinzipien zwar deskriptiv und objektbezogen; ihr Gebrauch soll aber keine Entscheidung über deren Wahrheit oder Falschheit seitens des Forschenden erfordern. Vgl. W 2018, S. 112–118. Eine solche Lesart ist damit schwächer als Interpretationen, nach denen wir uns im Gebrauch von Vernunftprinzipien implizit darauf verpflichten, sie für wahr zu halten, wenn sie auch für uns keinen einlösbaren Erkenntnisanspruch darstellen können.
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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sem abgestuften Sinne bedeutet PZG dann nur noch so viel, dass wir in unserer Erkenntnispraxis mit der hypothetischen Annahme operieren dürfen, dass es zu jeder kontingenten Tatsache eine hinreichende Erklärung in Form der vollständigen Reihe seiner ,realen‘ Bedingungen gibt, ohne dabei glauben zu müssen, dass die Reihe tatsächlich vollständig ist. Dieses Ergebnis lässt sich auch auf das erweitern, was mit PZG scheinbar deduktiv unvermeidlich ist. Entsprechend folgt aus PZG als regulativem Prinzip für uns die epistemische Vorschrift: [I]hr sollt so über die Natur philosophieren, als ob es zu allem, was zur Existenz gehört, einen notwendigen ersten Grund gebe, lediglich um systematische Einheit in eure Erkenntnis zu bringen, indem ihr einer solchen Idee […] nachgeht. (ebd.)
Um den kritischen Impetus seiner Einwände Rechnung zu tragen, fügt Kant dieser theoretischen Vorschrift noch einen zweiten „Grundsatz“ hinzu. Dieser nämlich warnet euch, keine einzige Bedingung, die die Existenz der Dinge betrifft, für einen solchen obersten Grund, d.i. als absolutnotwendig anzunehmen, sondern euch noch immer den Weg zur ferneren Ableitung offen zu erhalten, und sie daher jederzeit noch als bedingt zu behandeln. (KrV A 616 f./B 644 f.)
Mit der Abstufung zum regulativen Prinzip meint Kant daher zeigen zu können, worin nun genau die indispensable theoretische Rolle von Prinzipien von PZG wie des Begriffs des EN besteht, ohne damit dem KA Zugeständnisse zu machen, die mit seinen Einwänden inkompatibel wären. Mit seiner Analyse der Modalitäten in Konjunktion mit dem ,transzendentalen Idealismus‘ versucht Kant hingegen empiristische Schlüsse auf die Unmöglichkeit des EN oder – stärker – auf die Sinnlosigkeit seines Begriffs zu blockieren, die sich auf sein Bedeutungsprinzip berufen könnten.
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant Hegels Programm: Religiöses Denken, Gottesbeweise und die metaphysischen Begriffe des Absoluten Hegels komplexe Beziehung zur natürlichen Theologie sowie zur kantischen Kritik lässt sich schwerlich auf ein einziges Stichwort bringen. Dies gilt a fortiori für seine eigene Einschätzung der kantischen Thesen zum KA, denen er sich besonders ausführlich und detailliert in einem Manuskriptbruchstück (im Folgenden = Fragment) widmet, das Ph. Marheineke zusammen mit Hegels Gottesbeweisvorlesungen herausgegeben hat.116 Zwar fällt dessen Entstehung vermutlich sogar Vgl. W 2016, S. 1043 und ähnlich auch C 2009b, S. 190 f. Solchen stärkeren Lesarten werde ich weiter unten in II.2.6 und II.3.1 nachgehen. Sie passen allerdings nicht recht zu Kants Überlegungen zu PZG und v.a. zum Schluss auf das EN. 116 Vgl. GW 18, S. 318–336.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
schon mit der Ausarbeitung der WdL zusammen117 und lässt sich damit deutlich früher datieren als etwa sein fast fertig ausgearbeitetes Manuskript zu den klassischen Gottesbeweisen oder seine religionsphilosophischen Kollegien, in denen sich deutliche Anspielungen auf das Fragment finden lassen.118 Da Hegel aber nicht nur schon hier alle wesentlichen Überzeugungen äußert, sondern auch in verhältnismäßig klarer Weise vier der fünf kantischen Einwände ausführlich diskutiert,119 wird das Fragment im Zentrum der folgenden Rekonstruktion stehen, die ich durch Verweise zu später entstandenen Texten exegetisch zusätzlich stützen werde. Eine besonders prägnante Übersicht über seine eigene Einstellung zum KA gibt Hegel am Ende des Fragments. Er notiert dort: Der kosmologische sogenannte Beweis ist für nichts anders anzusehen, als für das Bestreben, dasjenige zum Bewußtseyn zu bringen, was das Innere, das rein Vernünftige der Bewegung in sich selbst ist, welche als die subjektive Seite die religiöse Erhebung heißt. Wenn diese Bewegung zwar in der Verstandesform […] nicht so, wie sie an und für sich ist, aufgefaßt worden, so verliert der Gehalt dadurch nichts, der zu Grunde liegt. Dieser Gehalt ist, der durch die Unvollkommenheit der Form durchdringt und seine Macht ausübt, oder vielmehr die wirkliche und substantielle Macht selbst ist. Die religiöse Erhebung erkennt deswegen sich selbst in jenem obgleich unvollständigen Ausdruck und hat dessen inneren, wahrhaften Sinn vor sich gegen die Verkümmerung desselben durch die Art des Verstandesschlusses. (GW 18, S. 335 f.)
Grob gesprochen sind es drei Aussagen, die Hegel hier äußert und die sich mit seinen später veröffentlichten Überlegungen zu den aposteriorischen Gottesbe-
117 Diese Vermutung äußert W. Jaeschke mit Bezug auf Hegels Ankündigung in der WdL, er habe die Absicht, bei einer „andere[n] Gelegenheit, den vielfachen Mißverstand, der durch den logischen Formalismus in den ontologischen, so wie in die übrigen sogenannten Beweise vom Daseyn Gottes gebracht worden ist, wie auch die Kantische Kritik näher zu beleuchten, und durch Herstellen ihrer wahren Bedeutung die dabey zu Grunde liegenden Gedanken in ihren Werth und Würde zurückzuführen.“ (WdL II, GW 12, S. 129) Vgl. den editorischen Bericht zum Fragment in GW 18, S. 400–402. 118 Jaeschke verweist ebd., S. 401 Fn. 174 völlig zu Recht auf Stellen im Manuskript von 1821 (vgl. VPR 4, S. 6–10 und 38–40) sowie aus dem Kolleg von 1824 (vgl. ebd., S. 167–171). Auf diese und weitere Stellen werde ich im Verlauf des Kapitels näher eingehen. 119 Im editorischen Bericht heißt es zum Fragment im Vergleich zu den späteren Gottesbeweisvorlesungen: „Es fehlt ihm der freiere Umgang mit der Materie, der diese auszeichnet.“ (GW 18, S. 401) Allerdings kann man den „gelegentlich fast etwas schülerhafte[n]“ (ebd.) Umgang mit dem kantischen Haupttext gerade als einen entscheidenden Vorteil der ganzen Textgestaltung werten. Erstaunlich ist jedenfalls, warum der vergleichsweise klare und ausführliche Kommentar zu Kant gerade in der neueren Literatur so wenig Beachtung findet. Knapp dargestellt wird er etwa in H 2011, S. 420; beiläufig erwähnt hingegen in H 1960, S. 206 f.; D 1990, S. 295; W 1996, S. 93 f. und W 2017, bes. S. 69–71. Selbst dort, wo in der Literatur das Fragment etwas ausführlicher zusammengefasst wird (etwa in H 2007, S. 21–25), enthält man sich weitestgehend des Urteils, ob Hegels Einwände nun zutreffend sind. Vgl. auch H 2011, S. 428 Fn. 20.
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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weisen weitestgehend decken.120 Erstens stellt das KA für Hegel eine Art metatheoretische Reflexion auf dasjenige dar, was Personen schon geleistet haben, wenn sie den Gottesgedanken ausbilden oder – in Hegels Worten – sich zu Gott ,erheben‘. Darin wird die formale Struktur der religiösen Überzeugungsgenese und -begründung in eine vollständig artikulierte, inferentielle Ordnung bzw. „Verstandesform“ (ebd., S. 335) übersetzt, die aber zweitens gegenüber dem ursprünglichen schlussförmigen „Gehalt“ der „religiöse[n] Erhebung“ (ebd.) defizient ist.121 Die Inadäquatheit der Schlussform des KA soll sich aber schließlich drittens gerade nicht negativ auf den Gehalt auswirken, sodass sich das religiöse Bewusstsein im KA trotz der formalen Mängel ohne weiteres wiederfinden kann. Diese drei Aussagen enthalten in nuce das gesamte Programm, mit dem Hegel den drei kantischen Thesen zum KA begegnet. In diesem Sinne deutet schon Hegels Rede vom „rein Vernünftige[n] der Bewegung in sich selbst“ (ebd.),122 das das KA unvollkommen artikulieren soll, darauf hin, dass Hegel das KA und das, was ihm zugrunde liegen soll, gegen Kants kritische Würdigung verteidigen muss. Die im letzten Abschnitt rekonstruierte, theologiekritische These (2) ist für Hegel daher in der von Kant vorgebrachten Form inakzeptabel.123 Zugleich legt ihn diese Meta-Kritik auf eine besondere Auffassung von Kants These (1) vom ,natürlichen Schein‘ im KA fest. Da sich die direkte Form der Schlussfolgerung, die Hegel kritisiert, explizit in Kants Rekonstruktion des KA findet, kann er zwar die Rede von möglichen Trugschlüssen in einem alternativen Rahmen aufrechterhalten. Gleichzeitig soll sich aber gerade diese Schlussform nicht mit dem decken, was Personen der Regel nach tatsächlich tun, wenn sie den Gottesgedanken ausbilden und implizit begründen. Selbst wenn man daher dessen Genese aus der vernünftigen Natur des Menschen erklären kann, wie auch Hegel glaubt,124 muss 120 Vgl. insbesondere Enz. § 50A, GW 20, S. 87 f. und zu diesem Passus auch die Ausführungen oben in der Einleitung. 121 Im Sinne dieser beiden Thesen heißt es an anderer Stelle im Rückbezug auf Enz. § 50A: „Es ist schon bemerkt worden, daß die sogenannten Beweise vom Daseyn Gottes, welche von dem endlichen Seyn ausgehen, diese Erhebung ausdrücken und keine Erfindung einer künstelnden Reflexion, sondern die eigenen, nothwendigen Vermittlungen des Geistes sind, wenn sie auch in der gewöhnlichen Form jener Beweise nicht ihren vollständigen und richtigen Ausdruck haben.“ (Enz. § 68A, GW 20, S. 109 f.) F. Wagners Behauptung, Hegel diagnostiziere in der Erhebung zu Gott und den klassischen theistischen Argumenten wie dem KA ein und dasselbe entscheidende (formale) Problem (vgl. W 1996, S. 108), wird man auf Basis dieser Stellen wohl bestreiten müssen. Vgl. auch unten III.2. 122 Kurz zuvor im Fragment behauptet Hegel sogar, dass „die religiöse Erhebung der vernünftige Gehalt selbst ist“ (GW 18, S. 333). Vgl. hierzu W 2017, S. 52 und zum Thema der Erhebung im Denken auch ebd., S. 45–49. 123 Hegel resümiert seine Meta-Kritik Kants im Fragment daher auch so: „Es ist daher für sich von der größten Wichtigkeit gewesen, daß Kant die sogenannten Beweise vom Daseyn Gottes um ihr Ansehen gebracht, und die Unzulänglichkeit derselben freilich zu mehr nicht als zum Vorurtheil gemacht hat. Allein seine Kritik derselben für sich ist selbst unzulänglich, außerdem, daß er die tiefere Grundlage jener Beweise verkannt, und ihrem wahrhaften Gehalte somit nicht auch die Gerechtigkeit hat widerfahren lassen können.“ (GW 18, S. 333) 124 Um nochmals Hegels programmatische These zu den aposteriorischen Gottesbeweisen
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
eine solche Religionstheorie unter hegelschen Prämissen von Kants Modell in den entscheidenden Details stark abweichen. In der Konsequenz adaptiert und modifiziert Hegel deutlich Kants allgemeine These von der natürlichen Notwendigkeit125 des Gottesgedankens und insbesondere der Kennzeichnungen des Ens realissimum und des Ens necessarium, verwirft aber in seiner eigenen Explikation des natürlichen inferentiellen Ganges sowohl Kants eigenen Rekonstruktionsversuch wie dessen Einwände. Das Ergebnis dieser komplexen Aneignung bildet darüber hinaus auch und v.a. die Grundlage für Hegels Theorie des religiösen Denkens und damit für seine Lösung des Rechtfertigungsproblems. Wie schon das Fragment126 und später insbesondere die Kollegien von 1821 und 1824 deutlich machen, ist Hegel der Überzeugung, dass der freigelegte, wahre Schlussgehalt die korrekte und kohärente Bildung desjenigen Begriffs des Absoluten einsichtig machen kann, der sich seiner Meinung nach mit der impliziten konzeptuellen Perspektive auf das Absolute in Religionsformen und historischen Religionsgestalten decken muss.127 Mit seiner Interpretation der Gottesbeweise beabsichtigt Hegel also nicht etwa eine Rehabilitation der klassischen natürlichen Theologie in der herkömmlichen Form. Seine tieferliegende Intention besteht vielmehr darin, natürlich gebildete Begriffe des Absoluten zu explizieren und zu systematisieren. Wie wir noch genauer sehen werden, stehen solche „metaphysische[n] Begriff[e]“ (VPR 4, S. 5)128 des Absoluten sowohl untereinander in inferentiellen Relationen als auch in besonderen Beziehungen zu den Kategorien, die unsere alltägliche Bezugnahme auf kontingente Einzeldinge wie deren Existenzform und So-Sein selbst ermöglichen. Die vollständige Artikulation solcher Beziehungen bietet daher nicht nur eine kohärente Beschreibung des Absoluten, sondern zugleich einen Einblick in diejenigen Formen der Begründung, die sowohl der religiösen Erkenntnisbildung als auch den Gottesbeweisen selbst zugrunde liegen.129 zu zitieren: „Weil der Mensch denkend ist, wird es eben so wenig der gesunde Menschenverstand als die Philosophie sich je nehmen lassen von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu Gott zu erheben. Dieses Erheben hat nichts anderes zu seiner Grundlage, als die denkende, nicht blos sinnliche, thierische Betrachtung der Welt.“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 87) 125 Vgl. auch unten II.5. 126 Vgl. etwa GW 18, S. 333. 127 Zu den Details dieser These vgl. insbesondere unten Kapitel III.4. Dabei werde ich auch dafür argumentieren, dass Hegel diese Generalthese auch im Kolleg von 1827 implizit aufrechterhält, obwohl er den Aufbau seiner Theorie nicht-christlicher Religionsformen bekanntlich modifiziert. 128 Vgl. VPR 3, S. 28 und 56 f. Eine gute Übersicht über die Gottesbeweise und die implizierten Gottesbegriffe bei Hegel findet sich in C 1967, S. 302–310, bes. 309 f. und in H 2011. 129 Dabei deutet Hegel bisweilen selbst an, dass die Zahl theologischer und alltäglicher Kategorien bei weitem die der Schlussformen übersteigt, die in den historischen Gottesbeweisen tatsächlich entwickeln wurden. Vgl. bes. VPR 3, S. 318 und GVL, GW 18, S. 278. Die Verschaltung solcher Kategorien mit religiösen Begründungsformen und historischen Religionen legt Hegel damit nicht von vornherein auf die absurde These fest, es könne etwa im
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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Zwei solcher Begriffe des Absoluten finden sich nun im KA und der religiösen Erhebung, die es zu analysieren versucht. Schon im Fragment identifiziert Hegel in diesem Sinne Kants Begriffe des Ens necessarium und des Ens realissimum mit der „Bestimmung des Absolut-Nothwendigen und Unendlichen“ (GW 18, S. 322) und, wie wir sehen werden, hält Hegel dies in den späteren Kollegien durch. Zusammen mit den anderen Grundprämissen von Hegels Programm folgt direkt, dass man der kantischen These der inferentiellen Unvermeidlichkeit des KA mit einer ganz anderen Haltung begegnen sollte. Anstatt dessen epistemischen Status direkt wegen seiner natürlichen Notwendigkeit anzugreifen,130 muss man die Begründungsform des KA vielmehr gerade wegen ihres vernünftigen Ursprungs prima facie positiv bewerten.131 Eine solche These lässt sich nur dann gegen Kant aufrechterhalten, wenn man gute Gründe aufbringt, warum dessen inhaltliche Kritik scheitert. Daher werden zunächst noch in diesem Abschnitt Hegels Repliken zu Kants Einwänden aus dem Bedeutungsprinzip und zu dessen Reduktionsargument diskutiert. Im Anschluss an die Diskussion von Kants Kritik der ,falschen Selbstbefriedigung‘ der Vernunft im KA wird in einem Folgeschritt Hegels eigene Kritik an der Schlussform der klassischen Gottesbeweise vorgestellt und seine Generalthese skizziert, wie man den schlussförmigen Gehalt religiösen Denkens genauer zu verstehen hat (Abschnitt II.2.4). Daran anschließend werde ich zeigen, wie Hegel diese allgemeinen Überlegungen anhand seiner kategorientheoretischen Explikation der Begriffe der ,wahrhaften Unendlichkeit‘ und der ,absoluten Notwendigkeit‘ bzw. der „Macht“ (VPR 3, S. 140) des Absoluten ausarbeitet (Abschnitt II.2.5). Welche Konsequenzen dies für seine Einschätzung von Kants Abstufung beider Begriffe zu bloß regulativen Prinzipien hat, wird abschließend zu fragen sein (Abschnitt II.2.6).
Sinne der kantischen Taxonomie der Gottesbeweise nur drei Religionen geben. Zum System der Gottesbeweise und der ,metaphysischen Begriffe‘ nach Hegel vgl. auch unten II.4.1. 130 In diesem Sinne interpretiert etwa M. Willaschek Kants Rede vom ,natürlichen Schein‘ als „debunking argument“ (W 2018, S. 262 Fn. 27) gegen die theoretische Annahme der Existenz metaphysischer Entitäten. Eine solche Kritik setzt aber – wie Willaschek selbst deutlich macht – Kants Bedeutungsprinzip voraus. Ohne dieses Prinzip könnte man dem Verweis auf den ,subjektiven Ursprung‘ metaphysischer Ideen (vgl. ebd., S. 261) mit Paritätsargumenten begegnen. Denn das gleiche könnte man mit Kant natürlich auch von Kategorien und Anschauungsformen sagen. 131 Vgl. W 1974, S. 44 und unten II.5. Mit Bezug auf KrV A 615/B 643 und A 623 f./B 651 f. bemerkt Hegel daher gleich am Anfang des Fragments: „Wenn der zuerst angeführte Beweis [= das KA, W.L.] eine unumgängliche Folgerung ausdrücke […] und es ganz umsonst seyn würde, dem Ansehen des zweiten [= dem TA, W.L.] etwas anhaben zu wollen, und die Vernunft nie so soll niedergedrückt werden können, um sich dieses Ganges zu entschlagen, und sich in ihm nicht zum unbedingten Urheber zu erheben: so müßte es doch wunderbar seyn, wenn man jene Forderung umgehen, wenn die Vernunft doch so niedergedrückt werden müßte, diesem Beweis kein Ansehen mehr einzuräumen.“ (GW 18, S. 318.)
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Hegels Antwort auf Kants Einwände aus dem Bedeutungsprinzip Im Allgemeinen folgt Hegel im Fragment dem Gesamtaufbau der kantischen Kritik und widmet sich daher Kants Reduktionsargument am ausgiebigsten. Von den vier Zusatzeinwänden, die Kant im Anschluss an seinen Haupteinwand äußert, diskutiert er den dritten132 Zusatzeinwand wohl aufgrund seiner besonderen Tragweite für seine eigene Theorie absoluter Notwendigkeit besonders eindringlich. Die kritische Würdigung des vierten Einwands, der insbesondere die Annahme der Möglichkeit des Ens realissmum bezweifelt, verschiebt Hegel hingegen auf eine spätere „Betrachtung der Kantischen Kritik des ontologischen Beweises“ (GW 18, S. 326), die allerdings im Fragment nicht ausgeführt wird. Da dieser vierte Zusatzeinwand, wie wir schon oben gesehen haben, auf das kantische Bedeutungsprinzip zurückgreift, kann man aber auch Hegels Replik auf den ersten Einwand entnehmen, wie er auf Kants Aussagen über unsere Fähigkeit der Möglichkeitsbeurteilung reagieren könnte. Ich werde daher zunächst auf Hegels Antwort auf den ersten und den zweiten kantischen Zusatzeinwand eingehen, bevor ich mich dann mit Hegel dem Reduktionsargument und dem Einwand aus der ,falschen Selbstbefriedigung‘ genauer zuwende. Hegel sieht im ersten kantischen Zusatzeinwand zwei Behauptungen versteckt,133 von denen die eine besagt, die Kausalitätskategorie könne nur in empirischen Urteilen sinnvoll verwendet werden. Die zweite meint hingegen, dass aus dem Begriff metaphysischer Kontingenz kein dem Kausalprinzip analoger ,Grundsatz‘ gebildet werden kann.134 Mit beiden Thesen meint Kant die Wahrheitsfähigkeit desjenigen schwächeren Prinzips vom zureichenden Grund (= PZG) angreifen zu können, mit dessen Hilfe das KA auf die Existenz eines transzendenten Ens necessarium schließen möchte. Während die zweite These eine Form der transzendentalen Rechtfertigung von PZG für unmöglich erklärt, wie sie Kant für das Kausalprinzip vorschwebt, schränkt schon die erste dessen möglichen Geltungsskopus mithilfe des Bedeutungsprinzips auf die empirische Wirklichkeit ein. Gegen Kants Bedeutungsprinzip führt Hegel nun im Fragment lediglich eine Suggestivfrage an, da eine Diskussion des Bedeutungsprinzip für ihn nicht in eine „Abhandlung“ der kantischen Kritik am KA gehört:
132 Der Einfachheit halber übernehme ich in diesem Abschnitt – wie schon auf S. 183 f. – Kants eigene Zählung der Zusatzeinwände in KrV A 609 f./B 637 f. 133 Vgl. im Folgenden GW 18, S. 324. 134 In der kantischen Formulierung: „Da befindet sich denn z.B. 1) der transzendentale Grundsatz, vom Zufälligen auf eine Ursache zu schließen, welcher nur in der Sinnenwelt von Bedeutung ist, außerhalb derselben aber auch nicht einmal einen Sinn hat. Denn der bloß intellektuelle Begriff des Zufälligen kann gar keinen synthetischen Satz, wie den der Kausalität, hervorbringen, und der Grundsatz des letzteren hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs, als nur in der Sinnenwelt […].“ (KrV A 609/B 637) Wie oben im Exkurs und in Abschn. II.2.2 gehe ich im Folgenden von der stärksten Interpretation des Bedeutungsprinzips aus. Vgl. oben S. 158.
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
199
[W]as aber darüber zu sagen ist, läßt sich in die [sic!] Frage zusammenfassen, wenn das Denken nicht über die Sinnenwelt hinauskommen soll, so wäre im Gegenteil vor Allem begreiflich zu machen, wie das Denken in die Sinnenwelt hineinkomme? (GW 18, S. 324)
Prima facie scheint diese Frage wenig relevant, denn sie wird ja von Kant mit großem Aufwand zunächst in der sog. ,transzendentalen Deduktion‘ und dann im Kapitel über die ,Grundsätze‘ der KrV zu beantworten versucht.135 Im Anschluss an Hegels Überlegung könnte man aber zum einen die weitergehende Frage aufwerfen, wie viel Kants transzendentaler Nachweis der Legitimität unserer Kategorienverwendung darüber aussagen kann, warum nun die empirische Wirklichkeit selbst nach diesen Kategorien strukturiert ist. Zum anderen könnte man mit Hegel bezweifeln, dass mit diesem Nachweis auch zugleich Kants Bedeutungsprinzip gerechtfertigt wird. Denn Hegels Suggestivfrage scheint darauf abzuzielen, dass dieses Prinzip mit der These in Spannung steht, dass es der Kategorienverwendung wegen, die unseren Objektbezug immer schon ermöglichen, immer einen Gehalt unserer Urteile geben muss, der nicht empirisch wahrgenommen werden kann.136 Und lassen sich über diesen Gehalt wiederum höherstufige Urteile bilden, die, wenn sie wahr sind, notwendigerweise wahr sind, dann wäre auch deren Wahrheitsfähigkeit direkt durch Kants Bedeutungsprinzip gefährdet.137 Würde man daraufhin nun solche transzendentalphilosophischen Aussagen aus dessen Geltungsbereich nehmen, könnte man rationalistische Paritätsargumente nicht mehr abweisen.138 Denn, wenn es erlaubt sein sollte, das Bedeutungsprinzip in diesem Falle nicht in Betracht zu ziehen, warum dann nicht auch für Prinzipien wie PZG? Zwar könnte Kant hierauf mit dem zweiten Zusatzeinwand reagieren und im Rückgriff auf seine Kausalitätsanalyse behaupten, Kausalreihen seien innerhalb der empirischen Wirklichkeit unabschließbar und ein Schluss auf eine Erstursache daher ungerechtfertigt.139 Mit dieser These würde man einem Vertreter des klassischen Kontingenzarguments überhaupt nichts Neues sagen. Denn, so Hegel: Gewiß können wir innerhalb der Sinnenwelt und der Erfahrung nicht auf eine erste Ursache schließen, denn in dieser als der endlichen Welt kann es nur bedingte Ursachen geben. Gerade deswegen aber wird die Vernunft nicht nur berechtigt, sondern getrieben, in die intelligible Sphäre überzugehen, oder vielmehr ist sie überhaupt nur in solcher zu
135
Vgl. hierzu etwa die Rekonstruktion in K 2004, Kap. IV. Auf dieses Problem verweist Hegel in seiner Kritik am Empirismus. Vgl. u.a. Enz. § 38A, GW 20, S. 76. 137 Vgl. hierzu M 2020, S. 150–152 und ferner F 1975, S. xii. 138 Zu den Details einer solchen Argumentationslinie vgl. oben S. 159–162. 139 In Kants Formulierung: „2) Der Schluß, von der Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe über einander gegebener Ursachen in der Sinnenwelt auf eine erste Ursache zu schließen, wozu uns die Prinzipien des Vernunftgebrauchs selbst in der Erfahrung nicht berechtigen, vielweniger diesen Grundsatz über dieselbe (wohin diese Kette gar nicht verlängert werden kann) ausdehnen können.“ (KrV A 609f/B 637 f.) 136
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Hause, und sie geht nicht über die Sinnenwelt hinaus, sondern sie mit ihrer Idee einer ersten Ursache befindet sich schlechthin in einem anderen Boden, und es hat nur einen Sinn von Vernunft zu sprechen, insofern sie und ihre Idee unabhängig von der Sinnenwelt und selbstständig an und für sich gedacht wird. (GW 18, S. 325)140
Kants zweiter Einwand reformuliert in diesem Sinne einfach nur das, was traditionelle Formen des KA ohnehin schon voraussetzen. Denn auch Thomas, Duns Scotus oder Leibniz würden Kant darin zustimmen, dass innerhalb (bestimmter)141 empirischer Kausalreihen keine Erstursache zu finden ist und der Schluss daher nicht aufgrund eines kantischen Kausalprinzips, sondern auf Basis von PZG bzw. dessen spezifisch kausaler Interpretation erfolgt. Hegels Replik auf Kants zweiten Einwand lässt sich damit durchaus im Sinne der Zielsetzung scholastischer und rationalistischer KA verstehen. Gleichzeitig wird aus dem Zitat hinreichend deutlich, dass nach Hegel die menschliche Vernunft mit dem Schritt in die „intelligible Sphäre“ (ebd.) allererst beginnt, diejenigen legitimen Wahrheitsansprüche zu erheben, die ihrem Wesen gerade eigentümlich sind.142 Um diese Aussage zu bestreiten, könnte man nun auf die bislang nicht diskutierte, zweite These des ersten kantischen Zusatzeinwands rekurrieren, die eine transzendentale Rechtfertigung von Vernunftprinzipien wie PZG für unmöglich erklärt.143 Dieser von Kant nicht weiter begründeten These begegnet Hegel mit einer zweischrittigen Replik: Zunächst gibt er zu bedenken, dass schon eine kohärente Explikation der Kategorie der ,Endlichkeit‘ nachweisen könne, dass Individuen, die diesen Begriff exemplifizieren, schon hinsichtlich ihrer Existenz und Identität auf das ,Unendliche‘ verweisen.144 Nimmt man nun mit Hegel an, dass sich die Kategorie des ,Endlichen‘ ohne größere Schwierig-
140 Vgl. auch die notizenhafte Replik im Manuskript: „α) Es gehe [nach Kant, W.L.] nur in der Sinnenwelt an, von einem Zufälligen auf eine Ursache zu schließen, nicht im Transzendenten, Intelligiblen; richtig: als endliche Ursache – vom Sein auf anderes Sein – eben dies endlich. Aber unendliche Ursache ist nicht in der Erscheinung […].“ (VPR 4, S. 40) 141 Thomas wie Duns Scotus unterscheiden jeweils akzidentell und essentiell geordnete Kausalreihen und räumen ein, dass für erstere ein aktual unendlicher Regress möglich ist, während hierarchisch geordnete Reihen mind. ein erstes Glied benötigen. Vgl. u.a. MD 1991, S. 139–146 und O’C 1993, S. 22 f. Das Kontingenzargument von Leibniz und Clarke hingegen rechnet, wie oben schon betont wurde, mit der Möglichkeit von unendlichen Kausalreihen jeder Art. Vgl. oben S. 167. 142 Analog heißt es zu Kants These, im zweiten Beweisschrittes des KA verlasse die menschliche Vernunft die empirische Wirklichkeit: „[N]ur dann wird ihr dieß für ein Unrecht angerechnet werden, wenn der Vernunftgebrauch überhaupt für ein Unrecht angesehen wird, und in der That geht die Herabsetzung der Vernunft bei Kant so weit, wie bei der Ansicht, welche alle Wahrheit auf das unmittelbare Wissen einschränkt.“ (GW 18, S. 322) 143 Nochmals in Kants Worten: „Denn der bloß intellektuelle Begriff des Zufälligen kann gar keinen synthetischen Satz, wie den der Kausalität, hervorbringen […].“ (KrV A 609/B 637) 144 „In der That ist […] von dem Endlichen zu zeigen, daß es durch sich selbst, – durch das, was es seyn soll, durch seinen Inhalt selbst zum Anderen seiner, zum Unendlichen sich hinüberbewege […].“ (GW 18, S. 324)
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
201
keiten modal interpretieren lässt,145 dann würde daraus folgen, dass der Gedanke des ,Unendlichen‘ und ,absolut Notwendigen‘ und der Schluss auf dessen Wirklichkeit gar kein Kausalprinzip voraussetzen muss: Das Zufällige hat dieselbe Natur [wie das Endliche, W.L.]; es ist nicht nöthig, die Bestimmung der Kausalität für das Andere zu nehmen, in welches die Zufälligkeit übergeht; vielmehr ist dieß Andere desselben zunächst die absolute Nothwendigkeit, und dann sogleich die Substanz. (GW 18, S. 324 f.)146
Der Hinweis auf den Begriff der ,Substanz‘ bildet nun den zweiten Schritt von Hegels Überlegung. Denn dieser wird nicht nur in Kants Kategorientafel aufgeführt, sondern im Rahmen der ersten der sog. ,Analogien der Erfahrung‘ in einen ,synthetischen Grundsatz a priori‘ überführt.147 Und dies bedeutet für Hegel dann „nichts anderes“, als daß die ,bloß intellektuelle Bestimmung des Zufälligen‘ – denn die Kategorien sind wesentlich Denkbestimmungen, – den synthetischen Satz der Substantialität hervorbringt; – so wie die Zufälligkeit gesetzt ist, so ist die Substantialität gesetzt. (ebd., S. 325)
Kant würde nun weder die Prämissen noch die Konklusion dieser Überlegung akzeptieren können. Denn nicht nur würde die ganze Schlussfolgerung dem kantischen Bedeutungsprinzip widersprechen. Selbst wenn eine Konklusion dieser Art gelänge, müsste Kant abstreiten, dass die erschlossene Existenz der ,Substanz‘ mindestens in einem weiten Sinne logisch notwendig wäre.148 Hegel antizipiert hier nur den ersten Punkt und reagiert mit einer Behauptung, die mit seiner Replik gegen Kants zweiten Zusatzeinwand dem Inhalt nach identisch ist.149 Seine eigene kategorientheoretische Prämisse über die Natur des Endlichen bietet hingegen nur dann eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Kantkritik, 145
Vgl. ebd., S. 322 und unten II.2.5. Man könnte hier vermuten, dass dann auch ein Prinzip wie PZG überflüssig wäre. Weiter unten werde ich aber der hegelschen Vermutung nachgehen, dass diese ,dialektische‘ Natur des Endlichen und Kontingenten geradezu erklärt, warum wir hier auf ein PZG zurückgreifen dürfen. In diesem Sinne würde das obige Argument die eigentliche Relevanz von PZG deutlich machen, anstatt es zu verabschieden. Vgl. unten II.2.5. 147 Vgl. u.a. KrV A 80/B 106 und zum „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz“ ebd., A 182/B 224. 148 Nach Kants Argument für ein beharrliches ,Substrat‘ in der Erscheinungswelt muss lediglich gelten, dass dieses unvergänglich ist und es damit keine notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für dessen Entstehen und Vergehen in der aktualen Welt gibt, nicht aber, dass es in allen metaphysisch möglichen Welten existiert. Vgl. ebd., A 182 f./ B 224 f. 149 Über den vorgeschlagenen „synthetischen Satz der Substantialität“ sagt Hegel entsprechend: „Dieser Satz […] wird hier freilich nicht in dem, – ihm heterogenen Elemente, in der Sinnenwelt gebraucht, sondern in der intellektuellen Welt, in welcher er zu Hause gehört [sic!]; wenn er sonst keinen Mangel hätte, so hätte er vielmehr für sich selbst schon das absolute Recht, in der Sphäre, in der von Gott die Rede ist, der nur im Gedanken und im Geiste aufgefaßt werden kann, angewendet zu werden, gegen seine Anwendung in dem ihm fremden, sinnlichen Elemente.“ (GW 18, S. 325) 146
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
wenn sie selbst hinreichend akzeptabel ist. Da Kant im ersten Einwand lediglich die unbegründete Gegenbehauptung zu Hegels Konklusion aufstellt, wird man den Einwand aber kaum für epistemisch bessergestellt halten können.150 Weiter unten in der Diskussion von Hegels Antwort auf Kants dritten Einwand aus der ,falschen Selbstbefriedigung‘ werden wir die Argumente nachzeichnen, die nach Hegel für seine zentralen kategorientheoretischen Aussagen sprechen. Als erste Zwischenkonklusion lässt sich festhalten, dass Hegel nachvollziehbare Gründe gegen Kants ersten und zweiten Zusatzeinwand vorbringt. Und da Kants vierter Einwand gegen die Behauptung der Möglichkeit des Ens realissimum ebenfalls von seinem Bedeutungsprinzip abhängt,151 lässt sich das bisherige Diskussionsergebnis relativ leicht auf diesen übertragen. Hegels Antwort auf Kants Reduktionsargument Damit stehen der hegelschen These, dass kein einziger kantischer Einwand das KA zu Fall bringt, nur noch das Reduktionsargument und die Kritik an der ,falschen Selbstbefriedigung der Vernunft‘ entgegen. Soweit ich sehen kann, begegnet Hegel dem kantischen Haupteinwand im Fragment mit mindestens drei Argumenten. Erstens macht er die Beobachtung, dass, wenn das KA mit dem ersten Beweisschritt endete, Kants Reduktionsargument schlicht seine Relevanz verlöre.152 In der Tat ist für ihn durchaus eine Religion vorstellbar, deren Auf150 Zudem zeigt Hegels Verweis auf die Substanzkategorie einen wunden Punkt in Kants Einwand. Kant ist zwar durchaus konsequent, wenn er die notwendige Existenz einer Erstmaterie oder eines unvergänglichen Substrats bestreitet. Vgl. KrV A 617 f./B 645 f. Allerdings argumentiert P. Strawson zu Recht, dass Kants transzendentales Argument für die Existenz dieses Substrats ihn zumindest auf deren ,empirische Notwendigkeit‘ festlegt: „The empirically contingent is that which would not have existed in the absence of some other empirically discoverable condition which is temporally antecendent to, or at least simultaneous with, it and which is causally necessary to its existence. But permanent substances can neither go out of, nor come into, existence in the field of appearances: there can be no question of empirically establishing their causal dependence on anything.“ (S 1966, S. 216 f.) Strawson beruft sich hier auf Kants Definition empirischer Kontingenz bzw. Notwendigkeit in KrV A 458/B 486. 151 In Kants Worten: „4) Die Verwechslung der logischen Möglichkeit eines Begriffs von aller vereinigten Realität (ohne Widerspruch) mit der transzendentalen, welche ein Principium der Tunlichkeit einer solchen Synthesis bedarf, das aber wiederum nur auf das Feld möglicher Erfahrungen gehen kann, u.s.w.“ (ebd., A 610/B 638) Vgl. auch oben S. 184 f. und zur Kritik an Kants Modaltheorie auch M 2020, S. 91–94. 152 „Man sieht hier sogleich, daß wenn jener Beweis nicht weiter führte, als bis zum absolut-nothwendigen Wesen, weiter nichts einzuwenden wäre, als daß eben die Vorstellung von Gott, die sich auf diese Bestimmung beschränkte, allerdings noch nicht tief sey, als wir, deren Begriff von Gott mehr in sich schließt, verlangen; es wäre leicht möglich, daß Individuen und Völker früherer Zeit, oder unserer Zeit, […] keinen tiefern Begriff von Gott hätten; für solche wäre jener Beweis daher genugthuend.“ (GW 18, S. 321) Diese Aussage, an der Hegel auch später im Manuskript festhält (vgl. VPR 4, S. 40), steht im direkten Widerspruch zur These D. Henrichs, auch für Hegel führe „der kosmologische Gottesbeweis […] ohne den ontologi-
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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fassung des Absoluten sich im Begriff eines absolut notwendigen Wesens erschöpfen könnte, und in den späteren religionsphilosophischen Kollegien versucht Hegel gerade zu zeigen, dass es sich bei dieser Vermutung nicht um ein bloß kontrafaktisches Szenario handelt.153 Isoliert betrachtet scheint dieser Hinweis als Einwand zunächst wenig aussagekräftig. Denn erfolgsversprechend wäre er erst dann, wenn Hegel zugleich gute Gründe aufbringen kann, dass für die Akzeptanz der ersten Zwischenkonklusion im oben rekonstruierten kantischen KA, nämlich:154 (4) Ein (kausal wirksames) notwendiges Wesen (= EN) existiert.
nicht noch ein weiterer Argumentationsschritt nötig wäre, der sich nach Kant im Schluss auf das Ens realissimum (= ER) niederschlägt. Wie wir schon gesehen haben, kommt dieser – Kant zufolge – mithilfe von (4) und der Prämisse: (5) Jedes EN ist ein ER.
zur Konklusion: (7) Jedes ER ist ein EN.
Der Kerngedanke von Kants Reduktionsargument bestand nun darin, dass Aussage (7) nur dann als wahr akzeptiert werden kann, wenn es möglich ist, vom Begriff des ER a priori auf dessen notwendige Existenz in Form des cartesischen OA zu schließen. Gegen diese epistemische Anforderung wendet Hegel in seiner zweiten Überlegung generell ein, dass in formaler Hinsicht nichts gegen ein Argument spricht, das seine zweite Konklusion mit eventuellen Zusatzprämissen aus einer ersten Zwischenkonklusion gewinnen kann, auch wenn die Umkehrung nicht gilt oder von uns nicht durchführbar ist.155 Konkret bedeutet dies, dass es für Hegel durchschen nicht einmal zu einem Begriff vom notwendigen Wesen.“ (H 1960, S. 207) Bezeichnenderweise bezieht sich Henrich hierbei direkt auf die angegebenen Passagen im Fragment. 153 Vgl. GW 18, S. 321. Hegel hält an dieser Überzeugung in allen vier Kollegien grundsätzlich fest, modifiziert allerdings seine Zuschreibung zu bestimmten Religionsformen und Religionsgestalten. So meint er etwa im Kolleg von 1821, diese Auffassung des Absoluten käme der zweiten Religionsform und insbesondere der sog. ,Religion der Erhabenheit‘ (vgl. VPR 4, S. 40) zu, während er sie im letzten Kolleg von 1831 denjenigen Religionen zuschreibt, die er zehn Jahre zuvor noch als Gestalten der ersten Religionsform eingeordnet hat (vgl. ebd., S. 615–618). Zu den Fragen der Zuordnung und ihrer Plausibilität siehe unten Abschn. III.4.2. 154 Ich übernehme hier und im Folgenden die Nummerierung der Propositionen der oben entwickelten Rekonstruktion von Kants KA. Siehe oben S. 181–183. 155 „Was diesen Zusammenhang der beiden angegebenen Bestimmungen [= des EN und des ER, W.L.] betrifft, als worauf der Kantische Vorwurf direkt gerichtet ist, so geht es nach der Art des Beweisens ganz wohl an, daß der Uebergang einer feststehenden Bestimmung zu einer zweiten, von einem bereits bewiesenen Satze zu einem andern sich sehr wohl aufzeigen
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
aus denkbar ist, dass ein Argument als Zwischenkonklusion zu einem Allsatz der Form (K1) Alle F’s sind G’s.
gelangt und von dort – etwa mit Zusatzprämissen – auf die Umkehrung (K2) Alle G’s sind F’s.
schließt. Und dies ist nach Hegel selbst dann akzeptabel, wenn (K2) allein keinen Schluss auf (K1) erlaubt oder ein solcher Schluss zumindest für uns epistemisch intransparent ist. In der Tat besitzen für Hegel einige der Beweise der euklidischen Geometrie diese oder zumindest eine analoge Form.156 Um hier einen Willkürlichkeitsverdacht abzuwehren, müsste man also im Sinne Kants auf die Sonderrolle eines Arguments für (7) aufmerksam machen. Das heißt genauer, dass man nochmals plausibel machen muss, warum spätestens der Schlusssatz des KA von der starken Bedingung abhängig gemacht werden muss, dass es für (7) einen a priori-Beweis geben kann, in dem allein vom Begriff des ER auf die notwendige Existenz des ER geschlossen wird.157 Weder aus dem ersten noch aus dem zweiten Teilbeweis wird aber ersichtlich, warum eine solche Bedingung überhaupt erforderlich ist. In der Tat könnte man mit Hegels dritter Überlegung darauf verweisen, dass das zweite Teilargument überhaupt gar keinen Existenzbeweis führt, sondern nur die Ausschließlichkeit einer Prädikation in (7) nachzuweisen versucht.158 Was dies genauer bedeuten könnte, kann man sich klar machen, wenn man nochmals einen Blick auf Kants eigene Rekonstruktion wirft. Kants Schluss auf die Umkehrung von (5) in (7), die
läßt, daß aber die Erkenntniß nicht ebenso von dem zweiten zu dem erstern zurückgehen, den zweiten aus dem erstern nicht zu folgern vermag.“ (GW 18, S. 322) 156 Vgl. ebd., S. 322 f. wo Hegel darauf verweist, dass sich bei Euklid Beispiele finden, wo die Umkehrung einer Proposition mithilfe ebendieser Proposition indirekt bewiesen wird. W. Jaschke verweist in seinem Kommentar ebd., S. 459 zu dieser Stelle auf Euklids Beweise für die Propositionen 47 und 48. 157 Vgl. nochmals Kants Formulierung: „Weil nun dieser Satz bloß aus seinen Begriffen a priori bestimmt ist: so muß der bloße Begriff des realesten Wesens auch die absolute Notwendigkeit desselben bei sich führen; welches eben der ontologische Beweis behauptete, und der kosmologische nicht anerkennen wollte, gleichwohl aber seinen Schlüssen, obzwar versteckter Weise, unterlegte.“ (KrV A 608 f./B 636 f.) 158 „Wenn von einem Gegenstand ein Prädikat bewiesen worden, so ist es ein weiterer Umstand, daß solches jenem ausschließlich zukomme, und nicht nur eine der Bestimmungen des Gegenstandes, die auch andern zukommen könne, sey, sondern zu dessen Definition gehöre. Dieser Beweis könnte verschiedene Wege zulassen, ohne gerade den einzigen, aus dem Begriffe der zweiten Bestimmung ausgehen zu müssen.“ (GW 18, S. 323) In diesem Sinne sind (5) und (7) in der Konjunktion mit der Aussage äquivalent, dass für jede Entität x gilt, dass x dann und nur dann ein EN ist, wenn x ein ER ist. Die Akzeptanz einer solchen bikonditionalen Aussage enthält unabhängig von Kants Argumentrekonstruktion – wie Hegel richtig sieht – keinerlei ontologische Verpflichtungen, wohl aber in Konjunktion mit (4).
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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er für sein Reduktionsargument benötigt, setzt nämlich die Gültigkeit der Konversion per accidens von (5) voraus, die zu der Zwischenkonklusion: (6) Einige ER sind EN.
führen sollte. Ironischerweise wäre dieser Übergang aber ungültig, wenn (5) nicht in Konjunktion mit (4) gelten würde.159 Diese Beobachtung scheint aber Kant in ein Dilemma zu bringen: Um das KA unter den kantischen Vorgaben auf das OA reduzieren zu können, muss der Übergang von (5) zu (7) logisch einwandfrei sein. Er ist es aber nur dann, wenn das erste Teilargument korrekt ist, das – wie Hegel richtig sieht – den eigentlichen Existenznachweis führt. In anderen Worten: Kant muss für seine eigene Reduktionsprämisse genau dasjenige Argument als gültig anerkennen, das er eigentlich mit dieser Prämisse gerade beseitigen möchte. Genau genommen ist es ohnehin keineswegs offensichtlich, dass man sich mit dem ersten Teilschritt des KA auf eine bestimmte Modaltheorie festlegen muss, mit der man sich wiederum auf die strittige Auffassung des Existenzprädikats im cartesischen OA verpflichten würde.160 In diesem Sinne heißt es im Fragment: Das Mangelhafte des ontologischen Beweises setzt Kant darein, daß in dessen Grundbestimmung, dem All der Realitäten, das Seyn gleichfalls als eine Realität begriffen wird; im kosmologischen Beweise aber hat man dieses Seyn schon anderwärts her; insofern er die Bestimmung der All-Realität zu seinem absolut-Nothwendigen hinzufügt, so bedarf er es gar nicht, daß das Seyn als eine Realität bestimmt und in jener All-Realität befaßt genommen werde. (GW 18, S. 323)161
Zugunsten dieses Einwands könnte man dabei zunächst darauf verweisen, dass Kants epistemische Anforderung an die Akzeptanz des Schlusssatzes (7) verschiedene Lesarten zulässt. Diese Anforderung wurde oben in II.2.2. folgendermaßen wiedergegeben:162
159
Vgl. W 1978, S. 126 f.; F 1993, S. 7 und ferner oben S. 183 Fn. 78. Ähnlich argumentiert etwa H. Tegtmeyer, dass Kants Engführung bzw. Identifikation von EN und ER überhaupt nicht alternativlos ist. Vgl. T 2013, S. 238. 161 Derselbe Gedanke findet sich in komprimierter Form im Manuskript von 1821: „[E]s ist [nicht] die Bestimmung des Seins, welche zu Gott hinzugefügt wird, sondern umgekehrt das Sein, dem Gott, die Bestimmung der Allgemeinheit, hinzugefügt wird.“ (VPR 4, S. 8; die Hinzufügung stammt vom Hrsg.) In den Gottesbeweisvorlesungen heißt es: „Hieran unterscheidet sich also bestimmter dieser Gang der Erhebung, oder diese Seite des Beweisens [i.e. im KA, W.L.] von der angegebenen anderen [i.e. im OA, W.L.], daß in jenem Gang die Bestimmung, welche zu beweisen ist […], nicht das Seyn ist; das Seyn ist vielmehr das in beiden Seiten gemeinschaftlich bleibende, das sich von der einen in die andere kontinuirt.“ (GVL, GW 18, S. 293) Vgl. auch die analoge Formulierung in Enz. § 51, GW 20, S. 90 f. In der Forschungsliteratur hat neben M 2020, S. 64 Fn. 182 besonders P 2015, S. 98 als einer der wenigen Interpreten auf Hegels Fundamentalkritik an Kants Abhängigkeitsargument hingewiesen. 162 Zu den Textnachweisen vgl. oben S. 186 f. Zur folgenden Lesarten-Unterscheidung vgl. ferner bes. F 1993, S. 9 und T 2013, S. 238. 160
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
(A) Ein (bzw. das) EN kann dann und nur dann ein (bzw. das) ER sein, wenn man vom Begriff des ER auf den Begriff des EN a priori schließen kann.
In einer oberflächlichen, rein logischen Lesart würde (A) nur bedeuten, dass der Begriff des ER den des EN impliziert. In diesem Sinne würde die rechte Seite einfach nur besagen, dass es mindestens im weiten Sinne logisch möglich ist, dass es eine Person gibt, die vom Begriff des ER auf den des EN ohne Rückgriff auf empirische Prämissen schließt.163 Eine solche schwache Lesart würde aber Kants Intention verfehlen, da sie zumindest die logische Möglichkeit einräumt, dass eine Person wie Gott etwa ein OA vorlegen könnte.164 Für sein Reduktionsargument benötigt Kant vielmehr die stärkere Lesart, dass es uns möglich sein muss, allein vom Begriff des ER a priori auf dessen notwendige Existenz zu schließen.165 Eine solche Lesart müsste aber direkt jede mögliche Form apriorischer Argumente für die Existenz eines notwendigen Wesens auf Kants Verständnis des cartesischen OA einschränken.166 Vor allem aber müsste sie der Idee des hegelschen Einwands Rechnung tragen, dass jemand, der das erste Teilargument des KA akzeptiert, sich höchstens auf die erste, aber nicht auf die zweite Lesart festlegen muss. In diesem Sinne hat etwa J. W. Forgie in seiner Kant-Kritik darauf hingewiesen, dass jemand durchaus Kants KA akzeptieren und eine Version des cartesischen OA im Sinne Kants verwerfen könnte.167 Das heißt nach Forgie konkret, er könnte darauf beharren, dass etwa aus den cartesischen Prämissen: i. Gott besitzt notwendigerweise alle Vollkommenheiten. ii. Notwendige Existenz ist eine Vollkommenheit.
lediglich
163 Dies wäre schon durch die korrekte Ableitung des Schlusssatzes von Kants KA gegeben, wie H. Tegtmeyer zu Recht bemerkt: „Denn wenn höchste Realität und absolute Notwendigkeit ohnehin koextensionale Begriffe sind, dann kann jederzeit vom einen auf den anderen salva veritate geschlossen werden, und umgekehrt.“ (ebd.) 164 Diese Möglichkeit wird von Kant selbst, bspw. in KU § 76, B 340 f. eingeräumt. Vgl. hierzu M 2020, S. 123 f. 165 Zu diesem Ergebnis kommt auch J.W. Forgie in seiner Interpretation. Vgl. F 1993, S. 9 f. und ferner Kants oben in Fn. 157 zitierte Formulierung. 166 Damit würde Kant nicht nur seinen eigenen vorkritischen Möglichkeitsbeweis von vornherein ausschließen (vgl. oben S. 179 Fn. 64) und mit ihm alternative Argumente für dieselbe Konklusion. Vgl. etwa nur die fünf weiteren Argumente neben dem Kontingenzargument in P/R 2018. Es ist zudem schon von der obigen Rekonstruktion her gesehen fraglich, ob das cartesische OA tatsächlich nur von der Definition Gottes auf seine notwendige Existenz schließen möchte, selbst wenn Descartes vielleicht dieser Meinung gewesen sein sollte. Vgl. zur Kritik etwa S 1955, S. 34 f. Kants Gründen für diese spezifische Auffassung apriorischer Argumente in der KrV gehe ich unten in Abschn. II.4.2 nach. 167 Vgl. F 1993, S. 7–9; vgl. ferner B 1977, S. 252 f. und V 2000, S. 445–447.
2.3 Hegels Meta-Kritik an Kant
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iii. Wenn Gott existiert, dann existiert er notwendigerweise.
aber nicht iii*. Gott existiert notwendigerweise.
folgt.168 Eine solche Kritik wäre mit Kants KA völlig kompatibel, weil in dessen erstem Teilschritt ja schon der entscheidende Grund steckt, um das Antezedens in Aussage (iii) zu stützen, und dieser wäre wiederum von Prämisse (ii) des cartesischen OA unabhängig.169 Ein Vertreter des KA könnte ja gerade behaupten, dass die Instantiierung des Begriffs des EN im ersten Teilschritt durch eine empirische Prämisse und PZG aufgezeigt worden ist und könnte dann mit der Prämisse, dass jedes EN ein ER ist, schließen, dass es mindestens eine Entität geben muss, die ein ER ist. Hegels Kernintuition lässt sich damit auch so wiedergeben: Obwohl der Schlusssatz des KA (7) eine notwendige Wahrheit ausdrückt, bedeutet dies nicht, dass sie lediglich im angegebenen Sinne a priori erkannt werden können muss.170 Wenn Hegel Recht hat, dann ist für uns zumindest die Einsicht möglich, dass ein schwaches PZG zusammen mit einer empirischen Prämisse zu ihrer Akzeptanz führt. Ein solcher Schluss wäre damit im doppelten Sinne ein Argument a posteriori, da es von einer wahrnehmbaren Tatsache – wie bspw. meiner Existenz – deduktiv zu deren Erklärung in einem notwendigen Wesen übergeht.171 Wenn der Schlusssatz des KA also für uns eine notwendige Wahrheit a posteriori darstellen kann, scheitert Kants Prämisse, die er für sein Reduktionsargument benötigt.172 Eine solche Überlegung ist aber sicherlich nicht unplausibel und findet unter klassischen Vertretern des KA historische Vorläufer.173 Um noch diese Möglich168 Vgl. F 1993, S. 8. Dieser Standardeinwand wird nicht nur von Kant selbst gegen das OA vorgebracht. Vgl. KrV A 593–595/B 622–624 und hierzu B 1977, S. 233. Er wird auch von aristotelisch-thomistischen Kritikern des OA, die das KA für plausibel halten, akzeptiert. Vgl. u.a. O 2007, S. 123. Folgt man H. Tegtmeyers Descartes-Deutung, würde diese Kritiklinie übrigens nicht einmal Descartes selbst treffen. Denn mit Tegtmeyer könnte man etwa darauf verweisen, dass Descartes das Antezedens in Konklusion (iii) mit dem ideentheoretischen Argument aus der III. Meditation begründet, während das OA der V. Meditation im Rückgriff auf dieses Ergebnis lediglich auf die Notwendigkeit der Existenz des Gottes, nicht aber auf seine Existenz überhaupt schließt. Vgl. T 2013, S. 172 und zum ideentheoretischen Argument ebd., S. 147–165. 169 A. Wood weist darauf hin, dass ein solcher Schluss selbst dann gültig wäre, wenn man die Aussage ,Gott existiert‘ als einen analytischen Satz auffasst, und zwar, indem man Caterus’ These mit hinzunimmt, dass die Referenten analytischer Aussagen existieren müssen, um als wahr akzeptiert zu werden. Vgl. W 1978, S. 129 f. Und diese These soll ja gerade durch den ersten Teilschritt eingelöst sein. 170 Vgl. auch die Replik auf Kants Reduktionseinwand in P/R 2018, S. 57 f. 171 Mit der empirischen Prämisse wäre das KA dann ein aposteriorischer Schluss im kantischen Sinne, durch die Schlussrichtung von der Wirkung auf die Ursache hingegen a posteriori im Sinne des Aristotelismus. Vgl. unten Abschn. II.4.1. 172 Dieselbe Schlussfolgerung findet man in F 1993, S. 10. 173 Vgl. auch F 1995, bes. S. 99 und V 2000, S. 446 f.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
keit völlig zu blockieren, müsste man daher die stärkere Lesart von Kants epistemischer Anforderung mit seiner modaltheoretischen These stützen, dass nur analytische Aussagen absolut notwendig sein und diese nur a priori erkannt werden können. Der zweite Teilgedanke ist aber spätestens seit Kripkes berühmter Kritik alles andere als selbstverständlich.174 Zudem lässt sich die Identifikation von metaphysischer Notwendigkeit mit enger, logischer Notwendigkeit gleich in mehrfacher Hinsicht bestreiten und bezeichnenderweise lassen sich hierfür bei Kant selbst entscheidende Hinweise finden.175 Hegel gibt daher durchaus plausible Gründe, warum man das kantische Reduktionsargument nicht akzeptieren sollte. Dies hat direkte Konsequenzen für Kants generelles Ziel eines Nachweises der Unmöglichkeit natürlicher Theologie. Wie wir oben in Abschnitt II.2.1 gesehen haben, setzt dieser gerade die Abhängigkeit des KA vom OA als Prämisse voraus. Unter hegelschen Gesichtspunkten muss diese Prämisse daher scheitern und mit ihm Kants Gesamtziel einer endgültigen Widerlegung. Kants Unmöglichkeitsnachweis kann daher nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn man ein alternatives Abhängigkeitsargument entwickeln kann, das mit Prämissen operiert, die den Rahmen von Kants Annahmen in der KrV verlassen.176
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens Bislang hatte sich gezeigt, dass Hegel von Kants Einwänden lediglich das Reduktionsargument für einen guten Kandidaten eines nicht-zirkulären Gegenarguments hält. Dabei konnte mit Hegel gezeigt werden, dass dieser Einwand von Zusatzannahmen abhängig ist, deren Plausibilität man mit guten Gründen bezweifeln kann. Mit Blick auf den bisher noch nicht diskutierten Einwand ,aus der falschen Selbstbefriedigung der Vernunft‘ könnte man allerdings das Diskussi174 Entsprechend bestreitet etwa J. Haldane im Anschluss an K 1980 die Engführung von ,Notwendigkeit‘, ,Analytizität‘ und ,Apriorität‘ in seiner Verteidigung der aristotelischthomistischen KA. Vgl. S/H 22003, S. 242 f. und ähnlich auch F 1995, S. 98 f. 175 Vgl. Abschn. II.2.6 und zur Kritik an Kants Thesen auch L 2020b, S. 175. Höchstwahrscheinlich müsste selbst der Kant der KrV dies zugestehen. Denn er müsste annehmen, dass Aussagen wie ,Erfolgreiche Wissensansprüche sind anschauungsbezogen‘ notwendigerweise wahr sind; sie sind aber offensichtlich keine analytischen Wahrheiten. Vgl. zu diesem Punkt etwa M 2020, S. 94. 176 So setzt jedes KA trivialerweise die Prämisse des leibnizianischen modalen OA voraus, dass Gottes notwendige Existenz metaphysisch möglich ist. Und man könnte in diesem Sinne dafür argumentieren, dass der Schlusssatz des KA nur dann akzeptabel sein kann, wenn man diese Prämisse ebenfalls im Rahmen eines Beweises einsichtig machen kann. Vgl. V 2000, S. 447 f. und P/R 2018, S. 57 f. Auf diese Variante bin ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen. Vgl. L 2020b, S. 175–177.
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens
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onsergebnis als vorschnell abweisen. Denn Kant könnte hier monieren, dass Hegels Replik das kantische Problemniveau unterschreitet, da sie keine plausible Lösung für das nachgezeichnete Dilemma des KA zu bieten scheint. Dieses bestand darin, dass die erste Schlussfolgerung des KA implizit darauf angewiesen ist, dass ein informativer Grund zur Verfügung steht, warum diejenige Entität, die die Existenz und Verfassung der kontingenten Gesamtwirklichkeit erklärt, in ontologischer und damit auch in explanatorischer Hinsicht unabhängig ist.177 Die These, dass eine Entität wie das Ens necessarium hinsichtlich ihrer Existenz von nichts anderem abhängig ist und es daher keine ihr äußerlichen explanantia geben kann, hängt aber unter kantischen Prämissen von der (im engeren Sinne) logisch notwendigen Existenz dieser Entität ab. Und unter der kantischen Annahme, dass diese Aussage in epistemischer Hinsicht wiederum die formale Korrektheit des cartesischen OA voraussetzt, wäre damit schon der erste Beweisschritt des KA ohne das OA ungültig.178 Wie schon im letzten Abschnitt angedeutet wurde, beruht die letztere Annahme zwar auf einer Modaltheorie, die sich bestreiten lässt. Hegels eigener komplexer Antwortversuch wird diesen Gedanken aufgreifen. Er zeigt aber zugleich, dass Kants Einwand so ernst wie möglich genommen werden sollte.179 Denn zwar glaubt Hegel nicht, dass mit ihm ein starker inhaltlicher Grund gegen die Annahme eines notwendigen Wesens gegeben ist. Er geht aber davon aus, dass der Einwand die wesentliche Defizienz des KA offenlegt, die in dessen spezifischer inferentieller Form besteht und darin zugleich theologische Signifikanz besitzt. 177 Kants Einwand verweist in diesem Sinne auf „[d]ie falsche Selbstbefriedigung der Vernunft, in Ansehung der Vollendung dieser Reihe, dadurch, daß man […] alle Bedingung, ohne welche doch kein Begriff einer Notwendigkeit stattfinden kann, wegschafft, und, da man alsdann nichts weiter begreifen kann, dieses für eine Vollendung seines Begriffes annimmt.“ (KrV A 610/B 638) 178 Wie oben auf S. 188–190 gehe ich davon aus, dass es sich bei diesem Einwand um eine zusätzliche Begründung für Kants Reduktionsprämisse handelt, die zugleich dessen Geltung auf den ersten Beweisschritt erweitern möchte. 179 H.G Melichar weist m.E. ganz zu Recht darauf hin, dass Hegel im Fragment zugibt, dass die entscheidende Motivation hinter Kants Reduktionsargument in der Frage liegt, „wie das Absolute durch sich selbst anfangen könne“ (M 2020, S. 64 Fn. 182; vgl. auch W 2017, S. 69). Entsprechend heißt es im Fragment: „Was an sich nothwendig ist, muß seinen Anfang in sich selbst zeigen, so aufgefaßt werden, daß sein Anfang in ihm selbst nachgewiesen werde. Dieß Bedürfniß ist auch das einzige interessante Moment, welches man annehmen muß, daß es der vorhin betrachteten Quälerei, zeigen zu wollen, daß der kosmologische Beweis sich auf den ontologischen stütze, zu Grunde gelegen habe.“ (GW 18, S. 327) Hegels deutlich wertende Vokabeln zeigen hierbei deutlich, dass aus diesem Motiv für Hegel nicht folgen kann, dass Kants Reduktionsargument dennoch akzeptabel oder gültig wäre. Zudem ist gerade Hegels eigene Lösung des angesprochenen Problems, wie wir sehen werden, mit den kantischen Rahmenprämissen inkompatibel. Von einer hegelschen Variation oder gar Übernahme des kantischen Einwands, die D. Henrich, J. Dierken und F. Wagner den zitierten Behauptungen unterstellen, kann daher nicht die Rede sein. Vgl. H 1960, S. 206 f.; D 1990, S. 294 f. und W 1996, S. 94.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Im Hintergrund dieser Kritik steht daher Hegels allgemeine Grundüberzeugung, auf die schon eingangs in Abschnitt II.2.3 hingewiesen wurde. Sie besteht darin, dass (i) die Gottesbeweise in ihrer syllogistischen Form der Natur des Absoluten nicht gerecht werden können, dessen Existenz sie zu beweisen versuchen. Zugleich meint er aber (ii), dass die klassischen Beweise nur eine mögliche Variante der vollständigen und kohärenten Artikulation desjenigen wahren Schlussgehalts darstellen, der sich bei geschärftem Blick schon in der religiösen Erkenntnisbildung aufweisen lässt. Beide Thesen möchte ich im Folgenden anhand von Hegels Replik auf den genannten kantischen Einwand genauer erläutern. Kant, Jacobi und die Formprobleme der klassischen Gottesbeweise Zu der Kritik an der ,falschen Selbstbefriedigung‘ heißt es im Fragment: Allerdings, wenn von unbedingter Nothwendigkeit, einem absolut nothwendigen Wesen, die Rede ist, so kann dieß nur geschehen, indem es als unbedingt gefaßt wird, d.h. von ihm die Bestimmung von Bedingungen hinweggeschafft wird. Aber, fügt Kant hinzu, ein Nothwendiges kann nicht ohne Bedingungen Statt finden; – eine solche Nothwendigkeit, welche auf Bedingungen, nämlich ihr äußerlichen, beruht, ist nur eine äußerliche, bedingte Nothwendigkeit; eine unbedingte absolute ist nur diejenige, welche ihre Bedingungen […] in sich selbst enthält. Der Knoten ist hier allein das wahrhaft dialektische […] Verhältniß, daß die Bedingung, oder wie sonst das zufällige Daseyn, oder das Endliche bestimmt werden kann, eben dieß ist, sich selbst zum Unbedingten aufzuheben, also im Bedingen selbst das Bedingen, im Vermitteln die Vermittelung wegzuschaffen. Aber Kant ist nicht über das Verstandesverhältniß zu dem Begriffe dieser unendlichen Negativität hindurchgedrungen. (GW 18, S. 325 f.)180
Formal gesehen besteht Hegels Antwort auf Kant zunächst darin, das oben in II.2.2 entwickelte Dilemma als falsch auszuweisen, indem sie auf die Unvollständigkeit der kantischen Disjunktion möglicher Interpretationen der ,Notwendigkeit‘ hinweist. Die dritte Alternative neben logischer und naturgesetzlicher Notwendigkeit soll sich nach Hegel dabei aus dem Begriff des ,Endlichen‘ und Kontingenten und dessen intrinsischer ,Negativität‘ selbst ergeben. Sie deckt sich dabei mit der kategorientheoretischen Prämisse, die Hegel schon gegen den ersten der kantischen Zusatzeinwände vorgebracht hatte.181 Zugleich gibt er mit seiner Aussage, dass „im Bedingen selbst das Bedingen, im Vermitteln die Ver-
180 Im Kapitel über den ,Lehrsatz‘ in der WdL heißt es zu Kants Kritik an der „vormaligen Metaphysik“: „Kant hat von dem Inhalte jener Metaphysik nach seiner Weise gezeigt, daß derselbe durch die strenge Demonstration auf Antinomien […], führe; aber auf die Natur dieses Demonstrirens selbst, das an einen endlichen Inhalt geknüpft ist, hat er nicht reflectirt“ (WdL II, GW 12, S. 229). 181 Sie lautete: „In der That […] ist von dem Endlichen zu zeigen, daß es durch sich selbst, – durch das, was es seyn soll, durch seinen Inhalt selbst zum Anderen seiner, zum Unendlichen sich hinüberbewege“ (GW 18, S. 324).
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens
211
mittelung wegzuschaffen“ ist, um zum „Unbedingten“ (ebd.) zu gelangen, die entscheidenden Hinweise, wie man diese Prämisse genauer zu verstehen hat. Mit dieser Wendung, die sich auch an anderen Stellen nachweisen lässt, antwortet Hegel nämlich ebenfalls auf Jacobis Fundamentalkritik am diskursiven Denkens Gottes, von der schon oben in Abschnitt I.5.1 die Rede war.182 Daher spielt er offensichtlich auf eine umfänglichere Diskussion an, die nicht nur die Einwände von Kant und Jacobi in komplexer Weise miteinander verschaltet, sondern – wie zu zeigen sein wird – auch Hegels eigene Problemanalyse enthält. Vergleicht man den zitierten Passus dazu genauer mit Behauptungen, die er in parallelen Passagen entwickelt, wird man feststellen, dass er Kant und Jacobi zwar darin Recht gibt, dass die Praxis des direkten deduktiven Beweisens keine adäquate Begründung metaphysischer und theologischer Aussagen darstellt.183 Zugleich meint er aber, eine Analyse ihrer epistemischen und logischen Voraussetzungen könnte gegen Jacobi und Kant zeigen, dass diese Praxis keineswegs alternativlos ist. Hegels Engführung der beiden Kritiklinien ist dabei durchaus gerechtfertigt.184 Denn aus der oben entwickelten Rekonstruktion von Kants Einwand ergibt sich, dass für Kant nur gewöhnliche Kausalerklärungen informative Existenzbegründungen darstellen können. Analog hatte Jacobi argumentiert, dass jeder unserer Versuche, Gottes Existenz zu beweisen, sich implizit darauf festlegt, externe und genauer kausale Bedingungen für das Unbedingte zu suchen, was offensichtlich absurd ist.185 In Jacobis Worten ausgedrückt:
182 In diesem Sinne verweist Hegel schon in der Jacobi-Rezension auf das „Vermitteln, welches Aufhebung der Vermittlung ist“ (GW 15, S. 12; vgl. auch Enz. § 75, GW 20, S. 115). Dieselbe Formulierung findet sich ferner in seiner Kantkritik in Enz. § 50A, GW 20, S. 88 und dann wieder am Ende der enzyklopädischen Schlusslogik in Enz. § 192, GW 20, S. 200. Wie ich zum Schluss dieses Abschnitts an Hegels Untersuchung hypothetischer Schlüsse zeigen möchte, liegt in der Parallelisierung ontologischer und logischer Bedingungsverhältnisse gerade Hegels entscheidende Pointe. 183 Dies geht auch und v.a. aus Hegels Engführung der VII. Beilage der Spinoza-Briefe und dem Antinomienkapitel der KrV hervor, die er am Ende des Kapitels zum ,Lehrsatz‘ in der WdL vornimmt. Dort heißt es: „Wenn Kant mehr der Materie nach, die vormalige Metaphysik angriff, so hat sie Jacobi vornemlich von Seiten ihrer Weise zu demonstriren angegriffen, und den Punkt, worauf es ankommt, aufs lichteste und tiefste herausgehoben, daß nemlich solche Methode der Demonstration schlechthin in den Kreis der starren Nothwendigkeit des Endlichen gebunden, und die Freyheit, das ist, der Begriff, und damit alles, was wahrhaft ist, jenseits derselben liegt, und von ihr unerreichbar ist.“ (WdL II, GW 12, S. 229) 184 Kant selbst formuliert in seiner Widerlegung des teleologischen Arguments einen Einwand, der sich analog zu Jacobis Kritik verstehen lässt. Vgl. KrV A 621 f./B 649 f. In seiner Diskussion desselben Arguments kann Hegel daher auf die genannte Engführung zurückgreifen. Vgl. VPR 4, S. 597 f. und ebd., S. 633 f. 185 Ein analoges Gegenargument gegen aposteriorische Gottesbeweise findet sich auch in der neuen Literatur. Vgl. H 2008, S. 30 f. und zur Diskussion dieses Einwandtyps vgl. auch T 2013, S. 243 f.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Bedingungen des Unbedingten entdecken, dem absolut Notwendigen eine Möglichkeit erfinden [Hervorhebung im Original fett, W.L.], und es konstruieren zu wollen, um es begreifen zu können, scheint als ein ungereimtes Unternehmen sogleich einleuchten zu müssen. (SP, S. 424 f./153 f.)186
Dagegen könnte man sofort einwenden, dass, wenn dies das Resultat von Kants und Jacobis Kritik sein sollte, man besser deren Prämissen, aber nicht das KA verwerfen sollte. Denn mit Hegel könnte man auf den schlichten Umstand verweisen, dass die inferentielle Begründung einer Aussage – sei sie deduktiv oder induktiv – keineswegs mit der kausalen Erklärung eines Ereignisses oder Vorgangs identisch ist. Entsprechend wendet Hegel gegen Jacobi ein, dass er in seiner Kritik nicht zwischen ordo cognoscendi und ordo essendi unterscheide. In den Gottesbeweisvorlesungen heißt es: Dieß Verhältnis [zwischen Absolutem und Kontingentem im KA, W.L.] ist ganz nur im subjektiven Sinne vorhanden; der Satz drückt nicht und soll nicht ausdrücken, daß das absolut-Nothwendige Bedingungen habe, und zwar durch die zufällige Welt bedingt sey, – im Gegentheil. Sondern der ganze Gang des Zusammenhanges ist nur im Beweisen; nur unser Erkennen des absolut-nothwendigen Seyns ist bedingt durch jenen Ausgangspunkt; nicht das absolut-Nothwendige ist dadurch, daß es sich erhöbe aus der Welt der Zufälligkeit, und dieser zum Ausgangspunkt und Voraussetzung bedürfte, um von ihr aus erst zu seinem Seyn zu gelangen. (GVL, GW 18, S. 289 f.)187
Bis hierher geht Hegels Antwort auf Jacobi kaum über das hinaus, was sich auch traditionell zugunsten der natürlichen Theologie sagen lassen könnte.188 Zudem ist bislang überhaupt nicht klar, was diese klassische Unterscheidung zwischen Seins- und Beweisordnung genau für die Lösung des Ausgangsproblems austragen soll. Zwar scheint klar, dass eine solche Differenzierung die starke epistemische Voraussetzung unterminieren kann, in aposteriorischen Beweisen verpflichte man sich geradezu auf die Annahme externer, kausaler Bedingungen des Absoluten, was vermutlich direkt aus Jacobis Erkenntnisprinzipien folgt.189 Sie beantwortet aber nicht die kantische Anfrage, wie man die Aussagen über die ontologische und v.a. explanatorische Aseität des Unbedingten begründen kann,
186
Zu den Gründen dieser Kritik vgl. oben Abschn. I.5.1. Zu Hegels Unterscheidung zwischen dem ,subjektiven‘ und ,objektiven Gang‘ im Beweisen, vgl. ferner WdL II, GW 12, S. 225; VPR 3, S. 311; VPR 4, S. 7 und GVL, GW 18, S. 235 f. Diese hegelsche Differenzierung verdient es mit Bezug auf das KA vollständig zitiert zu werden. Denn bisweilen wird Jacobis Unmöglichkeitseinwand Hegel selbst untergeschoben und die Unterscheidung von Erkenntnis- und Seinsordnung dann gegen Hegel vorgebracht. Vgl. bes. B 1979, S. 75–77. Balls Referenztext – Enz. § 36Z, TWA 8, S. 105 f. – ist allerdings lediglich ein Vorlesungszusatz, der zudem auch andere Lesarten erlaubt. 188 Vgl. T 2013, S. 243 f. Auf den Umstand, dass Hegel hier diese traditionelle Unterscheidung aufgreift, haben auch V. Hösle und H.G. Melichar hingewiesen. Vgl. H 1987, Band 1, S. 190 f. und M 2020, S. 231. 189 Zumindest folgt diese Annahme direkt aus Jacobis Prinzip des Begreifens, von dem oben in I.5.1 ausführlich die Rede war. 187
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens
213
wenn gewöhnliche Typen der Existenzerklärung hier nicht als mögliche Modelle herangezogen werden können. Der Kontext der zitierten Passagen zeigt nun klar, dass sich Hegel dieser Problemstellung nicht nur bewusst war. Gleich im Anschluss an seine oben zitierte Jacobikritik formuliert Hegel vielmehr eine wesentlich stärkere Überzeugung, die Kants agnostizistische Schlussfolgerung auf die syllogistische Form der Gottesbeweise insgesamt zu erweitern scheint. Im Kern zielt sie darauf ab, dass gerade die genannte Divergenz von Form und Inhalt im Beweis zur Konsequenz hat, dass das KA aufgrund seiner Form kein Anrecht darauf besitzt, einen theologischen Erkenntnisanspruch erfolgreich einzulösen.190 Dabei rekurriert er auf folgende Hauptprämisse: Erkennen erfordert überhaupt, den Inhalt in sich zu haben, ihm zu folgen; das Erkennen das den absolut-nothwendigen, unendlichen Inhalt hat, müßte selbst absolut nothwendig und unendlich seyn. (ebd., S. 290)
Liest man nun den zweiten Satz als Erläuterung des ersten, wird man hier prima facie kaum einen interessanten Einwand entdecken. Denn in einer wohlwollenden191 Interpretation deutet Hegels Prämisse zunächst nur auf seine epistemologische Überzeugung hin, dass in jedem erfolgreichen Wissensakt dessen propositionaler Gehalt im stärksten Sinne mit der Tatsache korrespondiert, die dieser ausdrückt.192 Allerdings scheint sich aus dieser Vorgabe tatsächlich eine agnostizistische Konsequenz zu ergeben, wenn man darauf aufmerksam macht, dass ein KA nicht nur die Existenz des Absoluten, sondern auch die Abhängigkeitsbeziehung zwischen kontingenten Individuen und deren Grund aufzeigen will.193 190 Hegels Kerngedanken formuliert M. Theunissen auch so: „Hier [i.e. in den aposteriorischen Argumenten, W.L.] […] ist aber das im ordo essendi Erste, der Gott, nicht auch das Erste im ordo cognoscendi. Ausgangspunkt ist ja die Endlichkeit. So macht der Gedanke das in Wirklichkeit Gesetzte, das Endliche, zum Setzenden und das in Wirklichkeit Setzende, den Gott, zum Gesetzten. Er bringt Gott wenigstens formal in eine Abhängigkeit von seiner eigenen Schöpfung.“ (T 1970, S. 126) Dass „[h]ierin […] die Unwahrheit nicht nur der weltlich orientierten Gottesbeweise [liegt], sondern auch der religiösen Erfahrung, die sie formulieren“ (ebd., S. 126 f.), wird man allerdings im Anschluss an Enz. § 50A und an die folgenden Überlegungen anfechten können. 191 Isoliert betrachtet könnte man auch Hegel die These unterstellen, dass im echten Erkennen der Erkenntnisakt bzw. sein Träger mit dem erkannten Gegenstand identisch ist bzw. wird. Dies scheint allgemein absurd. Denn aus der Tatsache, dass ich erkenne, dass eine Blume Blüten trägt, folgt nicht, dass mein Erkenntnisakt eine blütentragende Pflanze ist. Allerdings werden wir in III.5.5 sehen, dass der Verdacht der „content fallacy“, wie R. Pasnau ihn nennt (vgl. P 2002, S. 315), zumindest im Falle theologischer Erkenntnis nach Hegel genauer abgewogen werden muss. 192 Dies gilt nach Hegel nur unter der Bedingung, dass die begriffliche Struktur des Inhalts des propositionsförmigen Gedankens mit dem ,identisch‘ ist, was die Sache selbst ausmacht, auf die sich der Gedanke bezieht. Vgl. dazu oben I.2.1. Schon oben wurde auf den aristotelischen Hintergrund dieser These hingewiesen. Vgl. zu diesem Hintergrund ferner auch u.a. A/G 1961, S. 94–96 und S/H 22003, S. 174 f. 193 Diese Prämisse formuliert Hegel auch so: „Es ist der Inhalt des Beweises selbst, welcher
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Wenn dies der Fall ist, dann scheint aus Hegels o.g. Wissensprinzip zu folgen, dass diese Abhängigkeitsbeziehung in der Beweisform selbst reflektiert werden muss. Da hier aber die logische Ordnung gegenüber der ontologischen gerade gegenläufig sein soll, kann das KA schon seiner Form nach nicht die relevanten Erfolgskriterien echten Wissens erfüllen. Als Fall des sog. „endlichen Erkennens“ (ebd.) bleibt der im Beweis formulierte Erkenntnisanspruch der Natur der Sache selbst äußerlich und kann daher nicht die epistemischen Zielsetzungen erreichen, die mit dem Argument eigentlich verfolgt werden.194 Auf den ersten Blick wirkt dieser Einwand kaum überzeugend. Denn das in der ersten Prämisse verwendete Wissensprinzip scheint die Korrespondenzforderung zwischen einer wahren Aussage und einer Tatsache im Schlusssatz auf das Verhältnis zwischen Beweis- und Seinsordnung insgesamt zu übertragen. Die Prämisse fordert damit ohne weitere Begründung, dass die Übereinstimmung zwischen dem logischen Verhältnis von Prämissen und Konklusion und der ontologischen Abhängigkeit kontingenter Individuen vom Absoluten im Beweisaufbau zur Darstellung kommt. Man kann sich aber zu Recht fragen, ob und inwiefern eine solche Erweiterung legitim ist. Prima facie lassen sich zugunsten Hegels m.E. zumindest folgende Überlegungen anführen: Erstens bestätigt Hegels Konklusion die vermutlich triviale empirische Tatsache, dass eine Minderheit von Gläubigen durch Gottesbeweise zu ihrer Überzeugung gekommen ist. Entsprechend lässt sich ein Teil von Hegels Grundgedanken vielleicht auch so ausdrücken: Um einsehen zu können, warum im KA die Konklusion aus den Prämissen folgt, ohne damit Gott von endlichen Individuen ontologisch und kausal abhängig zu machen, müssen wir schon etwas über eine mögliche GottWelt-Beziehung wissen. Wie wir zu diesem Wissen gekommen sind, kann dann aber nicht durch das KA erklärt werden – eben weil es dieses Wissen schon voraussetzt. Zweitens lässt sich Hegels Wissensprinzip dadurch abschwächen, indem sein Anwendungsbereich auf die Gottesrede beschränkt wird. Denn, wie Hegel gleich zu Beginn der Gottesbeweisvorlesungen betont,195 stellen sich diesel-
den Mangel korrigirt, der allein an der Form sichtbar wird. So haben wir aber eine Verschiedenheit, ein Abweichen der Form von der Natur des Inhaltes, vor uns, und die Form ist das Mangelhafte bestimmter darum, weil der Inhalt das absolut-Nothwendige ist“ (GVL, GW 18, S. 290). Vgl. hierzu und im Folgenden auch M 2020, S. 506 f. 194 Vgl. GVL, GW 18, S. 234. Im Hintergrund steht dabei Hegels allgemeine Definition ,endlichen Erkennens‘, die sich gleich zu Beginn des Kapitels zur ,Idee des Wahren‘ in der WdL findet (vgl. WdL II, GW 12, S. 200) und die er am Schluss des Kapitels auf die Praxis deduktiven Beweisens in der Philosophie anwendet (vgl. ebd., S. 229 f. und auch Enz. § 25, GW 20, S. 68). Der Kontext dieser Stellen zeigt dabei deutlich, dass die Anwendung des Wissensprinzips sich jeweils nach einer genauen Spezifikation des Erkenntnisgehalts richten muss. Aus der Tatsache, dass Beweisordnung und -vorgang in der deduktiven Methode ihren Erkenntnisgegenständen äußerlich ist, folgt für Hegel nämlich weder generell, dass ihre Konklusionen propositional inkorrekt sind, noch dass sie allen Wissensfeldern unangemessen ist. 195 Vgl. GVL, GW 18, S. 236 und 239. Analoge Überlegungen findet man auch im Kolleg von 1827, etwa in VPR 3, S. 311 f.
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ben Schwierigkeiten in deduktiven Begründungen andersgelagerter Aussagen, etwa geometrischer Theoreme, überhaupt nicht ein. Die Tatsache, dass die deduktive Methode innerhalb ihres Gegenstandsbereichs echte Erkenntnisse hervorbringt, ist für Hegel vielmehr gerade der Grund, warum sie nicht zur Gewinnung theologischer Aussagen herangezogen werden kann.196 Um die genuin theologische Signifikanz von Hegels Problemdiagnose herauszustellen, lohnt es sich in einem ersten Schritt einen kurzen Blick darauf zu werfen, was es für eine Person heißen kann, das Bestehen eines Sachverhalts zu beweisen. Wie jede Form der Erkenntnis teilt sich das Beweisen zunächst in zwei Aspekte, nämlich einerseits die konkreten kognitiven Akte und andererseits dasjenige, woran eine Person beim Vollzug dieser Akte denkt bzw. denken sollte. Im Falle des Beweisens teilt sich dieser Erkenntnisinhalt wiederum in verschiedene Aussagetypen, darunter Prämissen, Schlussregeln und die Konklusion, wobei die Person deren Zusammenhänge einsehen muss, damit ihr der Beweis überhaupt gelingen kann. Obwohl auch der erste Aspekt, wie sich zeigen wird,197 nicht theologisch irrelevant ist, zeigen die obigen Überlegungen, dass sich Hegels Aussagen in erster Linie auf den Erkenntnisinhalt beim Beweisen beziehen. Mit Hegel könnte man dann fragen, ob der spezifische Zusammenhang zwischen den genannten Aussagetypen nicht selbst eine Art von Sachverhalt ausdrücken kann. Im Falle eines gelingenden KA soll ja gerade aufgezeigt werden, dass die Wahrheit und die Erkennbarkeit der Aussage ,Der notwendige Grund von allem existiert‘ von der Wahrheit einer empirischen Prämisse und eines Prinzips wie dem ,Satz vom zureichenden Grund‘ (= PZG) abhängig ist; und dies zusammen mit der Gültigkeit gewisser Schlussregeln und logischer Prinzipien. Reduziert auf diesen Kerngehalt kann man diesen logischen und epistemologischen Abhängigkeitszusammenhang auch kurz so wiedergeben: „Weil das zufällige Seyn ist, so ist das absolut-nothwendige Seyn.“ (GVL, GW 18, S. 293) Inwiefern sollte nun die implizite Behauptung dieses Zusammenhangs mit Bezug auf das Absolute zumindest problematisch erscheinen und die Erkenntnis von dessen Existenz gefährden? Hegels Hauptgedanke scheint darin zu bestehen,
196 Aus Hegels Wissensprinzip folgt, dass ,endliches Erkennen‘ gerade dort erfolgreich ist, wo die Erkenntnisbildung der Sache selbst im o.g. Sinne ,äußerlich‘ bleiben muss, und dies ist für Hegel a fortiori für die Arithmetik und die Geometrie der Fall. Vgl. WdL II, GW 12, S. 225 f. Ein weiterer Grund für die Nicht-Übertragbarkeit der axiomatisch-deduktiven Methode besteht darin, dass in der Mathematik jeweils Axiome und Schlussformen legitimerweise vorausgesetzt werden, weil deren Begründung laut Hegel in eine andere Wissenschaft, nämlich die Philosophie, fallen soll. Vgl. ebd., S. 221 f. und ferner H 1987, Band 2, S. 304–306. 197 Nimmt man etwa das klassische und von Hegel explizit akzeptierte Prinzip an, dass Gott nur von Gott erkannt werden kann (vgl. GW 16, S. 202), dann folgt trivialerweise, dass sich jeder menschliche Akt der Gotteserkenntnis in letzter Instanz Gott selbst verdanken muss. Diese Konsequenz wird auch in der augustinischen und thomistischen Fassung der Illuminationslehre gezogen, auf die noch Leibniz zurückgreift. Vgl. A 1994, S. 188 f. und S 2009, S. 402–408. Darauf wird in Abschn. III.5.5 zurückzukommen sein.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
die Aseität Gottes in einer Weise zu betonen, die es schlicht unmöglich macht, dass es etwas außerhalb von Gottes Natur gibt, das diese in der letzten Instanz erkennbar macht. Denn wenn „Gott“ als „alleinige[r] Grund von allem“ tatsächlich „das einzige principium essendi und cognoscendi“ (GW 4, S. 179; Hervorhebungen im Original fett, W.L.) ist, dann muss dessen Existenz und Natur zumindest implizit eine notwendige Bedingung dafür bilden, dass eine Einsicht in die beiden Kernprämissen des KA prinzipiell möglich sein kann.198 Diese allgemeine These könnte man zugunsten Hegels etwa durch zwei Überlegungen konkretisieren: (1) Der Abhängigkeitssachverhalt suggeriert, man müsse Gottes Natur und Existenz durch Bestimmungen und Konstituentien kontingenter Individuen, wie bspw. deren Existenz und bestimmten Typen intrinsischer Eigenschaften, begreifen und verstehen. Aus der Natur Gottes als des in jeglicher Hinsicht Unbedingten folgt aber, dass allein dieser durch sich selbst, alles andere hingegen in letzter Hinsicht durch ihn begriffen werden muss.199 (2) Der Abhängigkeitssachverhalt suggeriert, dass Wahrheit und Erkennbarkeit der Aussage ,Gott existiert‘ von notwendigen und zeitlos wahren Aussagen wie PZG200 abhängig sind. Es folgt aber ebenfalls aus der Natur Gottes als des Absoluten, dass die umgekehrte Beziehung gelten muss.
Beide Überlegungen zeigen damit zwei verschiedene Aspekte der für Hegel zentralen Annahme, dass sowohl die Explikation der Natur des Absoluten als auch die Erklärung seiner Existenz allein von ihm selbst abhängig sein kann und muss.201 Zwar mögen die Konsequenzen, die Hegel aus dem Aseitäts-Gedanken zieht, prima facie stark erscheinen. Sie haben aber m.E. klare Analoga innerhalb des klassischen Theismus: So wird zum einen die basale Annahme hinter (1) etwa 198 In diesem Sinne konzentriere ich mich im Folgenden lediglich auf die Erkennbarkeit Gottes. In dieser Formulierung werden vermutlich auch Probleme opaker intensionaler Kontexte vermieden: Denn dass die Möglichkeit der Einsicht in die Wahrheit einer Proposition immer schon das Absolute voraussetzt, bedeutet hier nicht, dass dieses selbst expliziter Inhalt einer jeden Erkenntnis sein muss. 199 Dieser Gedanke findet sich übrigens auch in dem Vorlesungszusatz, den Ball in seiner, oben in Fn. 187 genannten Hegelkritik heranzieht: „Es wird hier [d.h. in den Gottesbeweisen, W.L.] also die Abhängigkeit einer Bestimmung [d.h. Gottes, W.L.] von einer Voraussetzung aufgezeigt. Soll nun das Dasein Gottes auf diese Weise bewiesen werden, so erhält dies den Sinn, daß das Sein Gottes von anderen Bestimmungen abhängen soll, daß diese also den Grund vom Sein Gottes ausmachen. Hier sieht man denn sogleich, daß etwas Schiefes herauskommen muss, denn Gott soll gerade schlechthin der Grund von Allem und hiermit nicht abhängig von Anderem sein.“ (Enz. § 36Z, TWA 8, S. 105) 200 Selbst wenn man nicht mit Leibniz der Meinung ist, dass PZG eine notwendige Wahrheit darstellt, kann man dieselbe Abhängigkeit bzgl. logischer Gesetze annehmen, die sicherlich beiden Kriterien entsprechen. 201 Zur Notwendigkeit der Selbstexplikation des Absoluten vgl. WdL I/2, GW 11, S. 372 und hierzu N 2013, S. 2 f. Im Hintergrund steht Spinozas zweites Substanzenkrititerium, von dem oben in I.1.1 schon kurz die Rede war. Vgl. zur Erläuterung dieses definiens auch R 2002, S. 11 f. und 16.
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von Thomas, Leibniz und Kant geteilt.202 Ihr gemäß gibt es ein spezifisches asymmetrisches Derivationsverhältnis zwischen Gottes Existenzform und der Natur bzw. kontingenten Existenz endlicher Individuen, aus dem folgt, dass letztere ultima facie nur durch erstere begriffen und erklärt werden. Zugunsten von Überlegung (2) spricht hingegen, dass sie einen traditionellen Problembestand aufgreift, der auch in neueren Debatten wieder heftig diskutiert wird.203 Um diesen zu skizzieren, reicht der Hinweis auf zwei Annahmen aus, die zusammengenommen für den klassischen Theismus ein Problem zu sein scheinen.204 Erstens gebrauchen Gottesbeweise innerhalb der Prämissen und Schlussregeln metaphysische und logische Prinzipien,205 deren Wahrheit unabhängig davon ist, ob es endliche Personen gibt, die sie denkend erfassen können, oder ob überhaupt irgendetwas Kontingentes existiert – zumindest dann, wenn deren Wahrheit notwendig und zeitlos ist. Zweitens gilt für jede Aussage, dass sie genau dann wahr ist, wenn es etwas gibt, dass sie wahr macht. Zusammengenommen scheint aus den Annahmen zu folgen, dass es bestimmte Entitäten geben muss, deren Existenz notwendig und zeitlos, mithin unverursacht und unabhängig sein muss.206 Diese Konsequenz wäre aber mit der traditionellen Überzeugung inkompatibel, die A. Plantinga einmal prägnant die „sovereignty-aseity intuition“207 ge-
202 Thomas schließt etwa u.a. aus der Tatsache, dass Gott Grund und Ursache von allem ist, dass Gottes einfache Natur die Vollkommenheiten aller Gattungen vollständig umfassen muss. Vgl. STh I. qu.4. a.2co und hierzu P 2009, S. 94 f. Die obige Behauptung folgt ferner aus der leibnizianischen und kantischen Rede vom Ens realissimum. Entsprechend taucht etwa Spinozas zweites Substanzenkritierium wörtlich in einem der Möglichkeitsbeweise von Leibniz, wie R.M. Adams zeigt (vgl. A 1994, S. 151 f.). Auf den selbsterklärenden Status Gottes bei Kant wurde schließlich oben in II.2.2 hingewiesen. 203 Eine gute Übersicht über sämtliche in der Gegenwart vertretenen Positionen zum Verhältnis zwischen Gott und abstrakten Entitäten bietet der Sammelband G (Hg.) 2014. 204 Im Folgenden orientiere ich mich an der besonders klaren Rekonstruktion des Problemaufbaus in Leibniz’ ,Beweis aus den ewigen Wahrheiten‘ in A 1994, Chap. 7, bes. S. 177 f. Eine Engführung mit Hegel scheint mir ferner schon durch die neuere Studie von H.G. Melichar gerechtfertigt, die das Verhältnis von Leibniz’ Beweis und Hegels ontologischem Argument analysiert und auslotet. Vgl. M 2020, S. 406 f. und 466 f. 205 Da Prinzipien i.d.R. Allsätze sind, leuchtet dies, anders als vielleicht Leibniz denkt, nicht unmittelbar ein. B. Leftow hat allerdings darauf hingewiesen, dass sich dieselbe Problemdiagnose ergibt, wenn nicht der Wahrmacher in Frage steht, sondern die ontologischen Verpflichtungen, die mit einigen Aussagen eingegangen wird, die bspw. über notwendige Wahrheiten sprechen. In diesem Falle könnte man das Problem auf singuläre und existenzquantifizierte Aussagen der Form ,Es gibt mind. eine notwendige Aussage p‘ einschränken. Vgl. dazu etwa L 2012, S. 23 f. 206 Bei Leibniz entsprechen dem die Essenzen von wirklichen und möglichen Einzeldingen, die in vollständigen Individuenbegriffen ausgedrückt werden. Vgl. Leibniz, Monadologie § 43, S. 128 f. und A 1994, S. 177 f. 207 P 1980, S. 34. Die Existenz von Abstrakta als ein Problem zu betrachten, stellt nur eine mögliche theistische Reaktion dar. Man könnte auch umgekehrt die anti-nominalistischen und anti-platonistischen Intuitionen nutzen, um daraus – wie Augustinus und Leib-
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
nannt hat. Ihr gemäß folgt aus der Überzeugung von Gottes Aseität, dass die Existenz von allen von Gotten verschiedenen Entitäten durch die Existenzform oder Aktivität Gottes erklärt werden muss,208 und dies würde dem obigen Schluss auf die ontologische Selbstständigkeit einiger Abstrakta widersprechen. Um diesen zu blockieren, bieten sich traditionell gesehen zwei Theorieoptionen an: Zum einen könnte man die erste Annahme verwerfen, indem man bspw. ewige Wahrheiten von den begrifflichen Fähigkeiten menschlicher Personen abhängig macht oder sie auf bloße Konventionen des menschlichen Sprachgebrauchs reduziert. Eine solche Theorie würde aber spätestens mit der Modalität notwendig wahrer Aussagen in Konflikt geraten, die sich nicht mit der Kontingenz derjenigen Entitäten decken kann, auf die sie zurückgeführt werden sollen.209 Vielversprechender erscheint zum anderen eine Wiederaufnahme der mittel- bzw. neuplatonischen Überzeugung, der zufolge die platonischen Formen wesentlich Gedanken eines göttlichen Intellekts darstellen.210 Denn da ein Wesen wie Gott nicht nur notwendigerweise existiert, sondern auch alle intrinsischen Attribute notwendigerweise besitzt, würden ewige Wahrheiten zwar ebenfalls notwendigerweise existieren, aber gleichzeitig von dem Erkennen einer wesentlich allwissenden Entität ontologisch abhängig sein.211 Diese Schlussfolgerung, die auch zeitgenössische Formen eines ,theistischen Begriffsrealismus‘212 akzeptieren würden, kommt aber nur bis zur Annahme der ontologischen Abhängigkeit ewiger Wahrheiten. Damit eliminiert sie zwar einen Teil der Inkompatibilität mit der Aseitätsintuition, würde aber in Hegels Augen die irreführende Assoziation mit sich führen, „als ob Wahrheit“, in Form konkreter göttlicher Einzelgedanken, „etwas Handgreifliches seyn müsse.“ (WdL I/1, GW 21, S. 34)213 Hegels schlägt stattdessen bekanntlich ein anderes Modell
niz – ein theistisches Argument aufzubauen, wie dies neuerdings vermehrt der Fall ist. Vgl. u.a. S 1994; A/W 2011; L 2013b; F 2017, Chap. 3 und P/R 2018, Chap. 7. 208 Zu den Quellen dieser Intuition vgl. auch oben Abschn. I.1.2, S. 42 Fn. 50. 209 Vgl. S 2009, S. 400 f. R. Adams verweist auf Leibniz’ Prämisse, dass es metaphysisch möglich ist, dass nichts Kontingentes existiert, und daher ewige Wahrheiten nicht in allen möglichen Welten von kontingenten Entitäten ontologisch abhängig sein können. Vgl. A 1994, S. 179. Diese Prämisse wird neuerdings ausführlich von A. Pruss und J. Rasmussen diskutiert und begründet. Vgl. P/R 2018, S. 142–146. 210 Vgl. A 1994, S. 180 und H 2004, S. 64 f. Diese traditionelle Überzeugung findet man noch bei Kant. Vgl. etwa KrV A 313/B 370 und A 568/B 596. Bezüge zu dieser platonischen Tradition zu Hegel deuten u.a. auch Chr. Halbig, R. Stern und L. Siep an. Vgl. H 2002, S. 369; S 2009, S. 78 f. und S 2018, S. 749. 211 Vgl. A 1994, S. 180. Ein weiteres Argument besteht in dem Hinweis, dass Propositionen wesentlich einen repräsentationalen Gehalt besitzen und in diesem Sinne der Intentionalität kognitiver Denkakte hinreichend ähnlich sind. Diese Argumentationslinie findet man etwa in P 2007, S. 210 f. und in W 2014, S. 87 f. 212 So die Bezeichnung von G. Welty ebd., S. 81. Eine ähnliche Position findet sich in P 1982, S. 68–70. 213 Hegel fährt an derselben Stelle fort: „Solche Handgreiflichkeit wird zum Beyspiel selbst
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vor, demgemäß die „Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich ist“, nichts anderes als „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“ (ebd.) Nimmt man diese Aussage beim Wort, dann handelt es sich bei dem, was einzelne ewige Wahrheiten wahr und erkennbar macht, um nichts anderes als das, was Gott zu dem macht, was er ist.214 Leider gibt Hegel an der zitierten Stelle keine weitere Begründung, warum man nun diese Modellierung metaphysischer Abhängigkeit bevorzugen sollte. Eine kurze Reflexion kann aber zeigen, dass diese These nicht vollständig fehlgreift.215 Denn würde man annehmen, dass die Wahrmacher ewiger Wahrheiten nur hinsichtlich ihrer Existenz vom Denken Gottes abhängig wären, dann würde zum einen folgen, dass es einen von Gott unterschiedenen alethischen Maßstab gäbe, der die propositionale Richtigkeit des Inhalts seiner Gedanken bestimmen würde – gesetzt, man schlösse einen Voluntarismus von vorneherein aus.216 Da zum anderen einige Aussagen über Gott selbst ewige Wahrheiten sind, hinge nicht nur die Erkennbarkeit aller anderen Dinge, sondern auch die seiner eigenen Natur an von ihm verschiedenen Instanzen.217 Gott müsste dann in seiner Selbsterkenntnis immer einen Umweg über jene Entitäten machen, die zwar ohne seinen ewigen Denkakt nicht existieren würden, aber dennoch in der Erkenntnisordnung früher sein müssten. Vor diesem Problemhorizont scheint es naheliegend, mit Hegel den Maßstab der propositionalen Korrektheit ewiger Wahrheiten mit der Natur des Absoluten
noch in die Platonischen Ideen, die in dem Denken Gottes sind, hineingetragen, als ob sie gleichsam existirende Dinge, aber in einer andern Welt oder Region seyen […].“ (WdL I/1, GW 21, S. 34) 214 Vgl. hierzu auch M 2020, S. 199 f. und S. 221–227. Dem entspricht, was B. Leftow neuerdings eine „deity theory“ nennt. Vgl. u.a. L 2014, S. 435 f. 215 An anderer Stelle habe ich analog dafür argumentiert, dass man auch im Rahmen plantingascher Prämissen zum selben Ergebnis kommt. Vgl. L im Erscheinen b). 216 Dieser Problemaufbau verhält sich parallel zum klassischen Euthyphron-Dilemma, auf dessen alethologische und begründungstheoretische Erweiterung kürzlich Ch. Tweedt und H.G. Melichar zu Recht hingewiesen haben. Vgl. T 2013, S. 205 und M 2020, S. 549 f. Demgemäß lässt sich das Problem in die bekannte Fragestellung übersetzen: Sind die Inhalte von Gottes Denken deshalb wahr, weil Gott sie denkt und akzeptiert, oder denkt und akzeptiert Gott sie, weil sie wahr sind? Die erste Option würde nach dem Dilemma einen Voluntarismus, die zweite einen von Gott unabhängigen Maßstab voraussetzen. 217 In der Summa contra gentiles argumentiert Thomas ähnlich gegen den Platonismus. „Denn da die genannten Formen außerhalb von Gottes Wesen bestünden [sint extra Dei essentiam]“, so hätte dies zur Konsequenz, dass „Gott die Vielheit der Dinge ohne sie nicht erkennen könnte – welche Erkenntnis aber zur Vollkommenheit seines Verstandes erforderlich ist“ (SCG I, Kap. 51/52, S. 197). Unter der Voraussetzung göttlicher Einfachheit würde dann aber folgen, „daß seine Vollkommenheit von anderem abhinge [quod sua perfectio in intelligendo ab alio dependeret] und folglich auch die Vollkommenheit im Sein [et per consequens in essendo], da sein Sein sein Erkennen ist.“ (ebd.) Diese zweite Konsequenz ist stärker als die erste, da ihr gemäß Gott von den platonischen Formen auch ontologisch abhängig sein würde.
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zu identifizieren. Daraus ergibt sich erstens, dass diejenigen Entitäten, die besagte Aussagen wahr machen, tatsächlich von Gottes Existenzform abhängen, und zwar, weil sie Teilmomente seiner Natur sind. Gottes Natur ist damit nicht nur der Erklärungsgrund der Existenz, sondern auch der einzig verbleibende Wahrmacher ewiger Wahrheiten, weil er, klassisch gesprochen, ,die Wahrheit‘ ist.218 Wenn das aber der Fall ist, folgt zweitens, dass auch die Intelligibilität ewiger Wahrheiten in Gottes Natur gründen muss. Denn selbst wenn wir aufgrund der vorgängigen Akzeptanz solcher Aussagen Gottes Existenz und Natur erkennen könnten, würde trotzdem die hegelsche These folgen, dass Gott in letzter Instanz nur durch sich selbst erkannt werden kann.219 Die Gründe für die hegelsche Ausweitung des Aseitäts-Gedankens besitzen daher durchaus eine gewisse Plausibilität, die zudem Intuitionen des klassischen Theismus einholen können. Damit ergibt sich im Rahmen von Hegels Rekonstruktion von Jacobis Einwand zumindest dies, dass die Form und der Aufbau theistischer Argumente durchaus theologisch signifikant sind. Das heißt genauer, dass die etwa im KA ausgedrückte logische Abhängigkeit zwischen Prämissen und Konklusion für die Erkenntnis der gegenläufigen ontologischen Abhängigkeit aller Entitäten von Gott nicht gänzlich irrelevant sein kann. Denn wenn Erkenntnisse nach Hegels Wissensprinzip das ausdrücken müssen, was wirklich der Fall ist, dann scheint aus der Divergenz beider Abhängigkeiten in kausalen Beweisen zu folgen, dass Gottes Existenzform dort nicht erfasst werden kann, da diese wesentlich selbst-erklärend ist und als solche erkannt werden muss.220
218 Vgl. G 2005 und unten II.2.6, S. 254. Über die „logischen Formen“ als Momente des absoluten „Begriffs“ heißt es bei Hegel: „In der That aber sind sie umgekehrt als Formen des Begriffs, der lebendige Geist des Wirklichen, und von dem Wirklichen ist wahr nur, was kraft dieser Formen, durch sie und in ihnen wahr ist.“ (Enz. § 162A, GW 20, S. 178) Vgl. auch WdL II, GW 12, S. 174 und S 2018, S. 661. 219 R.M. Adams bemerkt prägnant zu Leibniz’ analoger These: „God’s existence is presented as self-explanatory. The existence of God, the reality of the divine essence, and of all other essences contained in it, and the truth of all necessary truth as grounded therein, form in a sense a single indissoluble metaphysical reality, the first of all realities. There is no getting beyond it to a metaphysically deeper.“ (A 1994, S. 185 f.) Ähnlich heißt es bei Thomas: Essentia autem Dei secundum seipsam perfecte intelligibilis est (SCG I, Kap. 47, S. 182; vgl. auch SCG I, Kap. 46, S. 180). 220 In der begründeten Gewissheit, dass das Absolute als der ,absolute Begriff‘ die Struktur der explikativen und explanatorischen Selbstbestimmung besitzt, kann Hegel daher seine Kritik an der Anwendung der deduktiven Methode in der Philosophie wie folgt resümieren: „In der That, indem das Princip der Philosophie der unendliche freye Begriff ist, und aller ihr Inhalt allein auf demselben beruht, so ist die Methode der begrifflosen Endlichkeit nicht auf jenen passend.“ (WdL II, GW 12, S. 229)
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Zwei Einwände und Hegels allgemeine Analyse der Begründungsform religiösen Denkens Dieses Ergebnis scheint sich zwar auch mit den Intuitionen zu decken, die Kants Einwand aus der ,falschen Selbstbefriedung‘ zugrunde liegen. Doch selbst wenn man die hegelschen Prämissen akzeptiert, scheinen die Konsequenzen aus zwei Gründen inakzeptabel. Erstens gerät dieser Gedankengang mit Hegels Überzeugung in Konflikt, Gottesbeweise seien zu Unrecht in Verruf gekommen und müssten gegen Unmöglichkeitsbeweise a` la Jacobi oder Kant verteidigt werden.221 Denn mit den obigen Überlegungen scheint sich ein neuer Unmöglichkeitsnachweis zu ergeben, der nun auf Basis der radikalen Aseität Gottes argumentiert. Zweitens folgen in systematischer Hinsicht viel gravierendere Probleme: Denn nicht nur scheinen die hegelschen Aussagen die absurd wirkende These zu implizieren, dass jede augenscheinlich nicht-theologische, notwendig wahre Proposition eine Aussage über Gottes Natur enthält222 oder zumindest aus jener folgt. Es müsste sich auch unmittelbar die vitiöse Zirkularität aller theistischen Argumente ergeben.223 Beide Einwände sind sicherlich berechtigt, werden aber Hegels eigenem Problembewusstsein nicht vollständig gerecht. Dem ersten Einwand würde Hegel entgegnen, dass seine Diagnosen nicht darauf abzielen, Argumente für Gottes Existenz vollständig für obsolet zu erklären. Vielmehr soll der Rekurs auf den Gedanken des Absoluten zunächst eine interne Norm herausstellen, auf die sich alle Unternehmungen verpflichten müssen, die die Existenz des Absoluten aufzuweisen versuchen. Als Interpretationsthese hätte der Einwand daher nur Erfolg, wenn Hegel im Anschluss erklären würde, dass diese Norm unter keinen Umständen erfüllt werden kann. Hegel betont zwar bspw. in der Enzyklopädie, dass diese Norm in aposteriorischen Gottesbeweisen nur „mangelhaft[…]“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 88) eingelöst wird. Eine solche negative Bewertung der Beweisform setzt aber trivialerweise voraus, dass der Bewertungsstandard für diesen Argumenttyp überhaupt verbindlich ist und dort zum Tragen kommen kann.224 221 Vgl. oben II.2.3. Dieses Programm, das Hegel spätestens in den Gottesbeweisvorlesungen umfassend ausarbeitet, formuliert Hegel schon klar in WdL II, GW 12, S. 129. 222 Einen ähnlichen Einwand formuliert B. Leftow an anderer Stelle allgemein gegen ,deity theories‘. Vgl. L 2012, S. 237 f. und die instruktive Diskussion in T 2013, S. 209–212. 223 Derselbe Zirkelvorwurf wird daher auch gegen Leibniz vorgebracht. Vgl. die Diskussion in A 1994, S. 184–186. 224 Über die Form der „Widerlegung“ philosophischer Positionen heißt es in der WdL: „Ferner muß die Widerlegung nicht von aussen kommen, d.h. nicht von Annahmen ausgehen, welche ausser jenem Systeme liegen, denen es nicht entspricht. Es braucht jene Annahmen nur nicht anzuerkennen; der Mangel ist nur für den ein Mangel, welcher von den auf sie gegründeten Bedürfnissen und Foderungen ausgeht.“ (WdL II, GW 12, S. 14 f.) Daraus ergibt sich, dass eine echte Kritik einen Mangel nur dann plausibel begründen kann, wenn sie auf diejenigen ,Forderungen‘ zurückgreift, die in der negativ bewerteten Position schon selbst liegen.
222
2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Daraus ergibt sich wiederum ein möglicher Spielraum für alternative Begründungsformen, die dieser Norm vollständig oder besser gerecht werden. Der erste Einwand würde damit für Hegel auf dem „große[n] Irrthum“ beruhen, „die Natur des Denkens nur in dieser Verstandesform erkennen zu wollen.“ (ebd., S. 87) Wenn Hegel recht hat, dann müsste man die „wahrhafte Natur des wesentlichen Denkens“ (ebd., S. 88) schon in der syllogistischen Form des KA explizit machen können. Und wie sich gleich zeigen wird, liegt in dieser Annahme zugleich eine mögliche Antwort auf den Zirkeleinwand. In den Gottesbeweisvorlesungen folgt Hegel der kantischen Auffassung, dass das KA wesentlich in einem hypothetischen Syllogismus besteht, dessen Kernprämissen man mit Hegel knapp verkürzt auch so wiedergeben kann: (P1) Wenn es eine kontingente Welt gibt, dann auch das Absolute. (P2) Es gibt eine kontingente Welt.225
Nach Hegel drücken Konditionalaussagen wie „Wenn A ist, so ist B“ einen tieferliegenden Sachverhalt aus, der Form: „[D]as Seyn des A ist auch ebensosehr das Seyn eines andern, des B“ (WdL II, GW 12, S. 121).226 Im Falle eines KA scheint das aber zu bedeuten, dass im Obersatz (P1) die im Antezedens ausgedrückte, kontingente Existenztatsache wesentlich von der notwendigen Existenz des Absoluten im Konsequens abhängig gemacht wird, während umgekehrt der Untersatz (P2), als selbstständige Aussage betrachtet, das Gegenteil auszudrücken scheint: Der zweite Satz [= (P2), W.L.] oder die Bestimmung des Seyenden auch im ersten [= (P1), W.L.] ist es, in welchem der Mangel liegt, und zwar so, daß er unmittelbar an ihm selbst widersprechend ist, an ihm selbst sich als eine unwahre Einseitigkeit zeigt. Das Zufällige, Endliche wird als ein Seyendes ausgesprochen, aber die Bestimmung desselben ist vielmehr, ein Ende zu haben, zu fallen, ein Seyn zu seyn, das nur den Werth einer Möglichkeit hat, ebenso gut ist, als nicht ist. (GVL, GW 18, S. 290)227 225 Ich orientiere mich hier an folgender Passage, die schon Hegels Analyse enthält: „Erinnern wir uns des vorgetragenen förmlichen Schlusses, so heißt der eine Theil des einen Satzes (des Obersatzes): Wenn das Zufällige ist [= (P1), W.L.], und diß direkter im anderen Satze ausgedrückt: es ist eine zufällige Welt [= (P2), W.L.]; indem in jenem Satze die Bestimmung der Zufälligkeit nur wesentlich in ihrem Zusammenhange mit dem absolut-Nothwendigen gesetzt ist, jedoch gleichfalls als seyendes Zufälliges.“ (GVL, GW 18, S. 290) 226 „Wenn A ist, so ist B; oder das Seyn des A ist nicht sein eigenes Seyn, sondern das Seyn eines Andern, des B.“ (WdL II, GW 12, S. 79) Wie G. Sans deutlich gemacht hat, ist im Kontext dieser Stellen nicht klar, auf welche semantische Interpretation des Ausdrucks ,ist‘ sich Hegel hier genau bezieht. Vgl. S 2004, S. 210–212. Jede mögliche Deutung variiert dann je nach dem, welche ontologische Kategorie die Termini ,A‘ und ,B‘ jeweils ausdrücken. Im Falle von Namen für Individuen käme das Existenzprädikat in Frage: ,Wenn A existiert, dann …‘; im Falle von Ausdrücken für Aussagen bzw. Sachverhalte hingegen das Wahrheitsprädikat: ,Wenn A wahr bzw. der Fall ist, dann …‘. Für das KA kann man aber beide Deutungen miteinander kombinieren, weil ,A‘ und ,B‘ in diesem Sinne auch einfach für Existenzaussagen bzw. -tatsachen stehen können. 227 Im Rückgriff auf seine Annahme, dass das ,Sein‘ im hypothetischen Schluss als Mit-
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens
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In erster Annäherung lässt sich Hegels Kernthese so wiedergeben: Die durch die Beweisform des Syllogismus suggerierten, inkohärent scheinenden Abhängigkeitsverhältnisse verschwinden genau dann, wenn man die als Prämisse formulierte Aussage (P2) gar nicht erst als vollständig affirmierte Proposition,228 sondern gewissermaßen als vorläufige Annahme behandelt, aus deren Inkonsistenz sich wiederum die Wahrheit der Schlussfolgerung ergibt. In Hegels Formulierung: Wenn also vom dem Zufälligen angefangen wird, so ist von demselben nicht als von einem, das fest-bleiben soll, auszugehen, so daß es im Fortgange als seyend belassen wird; […] sondern es ist mit seiner vollständigen Bestimmung zu setzen, daß ihm ebenso sehr das Nichtseyn zukomme, und daß es somit als verschwindend in das Resultat eintrete. Nicht weil das Zufällige ist, sondern vielmehr, weil es ein Nichtseyn, nur Erscheinung, sein Seyn nicht wahrhafte Wirklichkeit ist, ist die absolute Nothwendigkeit; diese ist sein Seyn und seine Wahrheit. (ebd., S. 291)229
Diejenige Begründungsform, die das KA erst zu seinem gewünschten Schlusssatz bringt, hat also keine direkte bzw. lineare, sondern eine indirekte bzw. apagogische Struktur.230 So aufgefasst, ist es gerade die Selbstaufhebung von (P2) als selbstständig wahrer Aussage, die nach Hegel gewährleistet, dass das Konditional (P1) in einer authentischen Interpretation akzeptabel ist. In dieser Interpretation zeigt sich, dass dasjenige, was für die Wahrheit von (P2) sorgt, indem es die Existenz jeder kontingenten Entität ermöglicht und verwirklicht, mit dem identisch ist, was in (P1) lediglich als eine Konsequenz von (P2) dargestellt wird. Denn
telterm fungiert (vgl. WdL II, GW 12, S. 121), drückt Hegel diese Spannung zwischen Oberund Untersatz auch so aus: „A ist nun das vermittelnde Seyn, insofern es erstens [im Untersatz, W.L.] ein unmittelbares Seyn, eine gleichgültige Wirklichkeit, aber zweytens insofern es ebensosehr als an sich selbst zufälliges, sich aufhebendes Seyn ist.“ (ebd., S. 122) 228 In diesem Sinne werden die ,Prämissen‘ für Hegel weder als solche gänzlich affirmiert noch für die Konklusion vorausgesetzt. Vgl. GVL, GW 18, S. 291; Enz. § 50A, GW 20, S. 87 und VPR 4, S. 38–40. 229 Analoge Formulierungen finden sich auch an anderen Stellen. So notiert Hegel bspw. im Manuskript von 1821: „Nicht: Weil das Endliche , so ist das unendliche Sein, sondern weil es nicht ist, eben die Negation, ist das absolute Sein.“ (ebd., S. 10) Und in der WdL heißt es: „Im gewöhnlichen Schliessen erscheint das Seyn des Endlichen als Grund des Absoluten; darum weil Endliches ist, ist das Absolute. Die Wahrheit aber ist, daß darum weil das Endliche der an sich selbst widersprechende Gegensatz, weil es nicht ist, das Absolute ist. In jenem Sinne lautet der Satz des Schlusses so: Das Seyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten; in diesem Sinne aber so: Das Nichtseyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten.“ (WdL I/2, GW 11, S. 290) 230 Diese indirekte Struktur von Hegels Reformulierung des KA haben besonders V. Hösle und H.G. Melichar hervorgehoben und erhellend rekonstruiert. Vgl. H 1987, Band 1, S. 191 f. und M 2020, S. 521–523. Von diesen Deutungen unterscheidet sich die vorliegende allerdings schon durch den religionsepistemologischen Fokus auf die Begründungsform der vernünftigen Erhebung zu Gott, während Hösle und Melichar sie in erster Linie als Methode der philosophischen Theorie verstehen. Auf weitere Unterschiede in der Deutung gehe ich im nächsten Abschnitt ein.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
nur wenn es das Absolute tatsächlich gibt, kann überhaupt das existieren, dessen Nicht-Sein immer metaphysisch möglich ist.231 Das, was also in der syllogistischen Form des KA als ein durch (P1) ,vermittelter‘ Schlusssatz erscheint, ist für Hegel in Wirklichkeit das eigentlich ,Vermittelnde‘ zwischen den beiden Aussagen, das deren Wahrheit überhaupt erst garantiert.232 Mit dieser Explikation der dem KA zugrunde liegenden Begründungsform vermeidet nun Hegel sowohl die Implikationen seiner eigenen Kritik an inferentiellen Form des KA als auch den o.g. Zirkelvorwurf. Denn zum einen zeigt sich, warum Hegel glauben kann, dass im eigentlichen Schlussgehalt die Suggestion falscher ontologischer Abhängigkeitsverhältnisse überhaupt nicht aufkommen kann. Denn in diesem Falle muss die Ausgangsannahme in (P2) mit der Explikation ihres inneren Widerspruchs in der strittigen Prämissenform dezidiert verneint werden. Insofern zeigt sich nach Hegel schon in der Begründungsform, dass die Wahrheit der Konklusion die Voraussetzung dafür ist, dass die Ausgangsannahme überhaupt eine Chance hat, kohärent vertreten zu werden. Im indirekten Aufbau kongruieren daher die logische und ontologische Abhängigkeit und Hegels eigener Vorbehalt gegenüber dem KA, dass dort „der Gang jenes Erkennens der Nothwendigkeit verschieden von dem Processe“ (GVL, GW 18, S. 291) des negativen Schließens ist, wird hinfällig. Damit wird zum anderen deutlich, dass sich Hegel vom Zirkularitätsvorwurf kaum beeindruckt zeigen würde.233 Denn darauf könnte er antworten, dass er von der falschen Annahme ausgehen, dass Argumente lediglich eine direkte Form besitzen können. Fasst man Gottesbeweise im Allgemeinen und das KA im Besonderen als Subtypen indirekter Argumente auf, erweist sich der Einwand als haltlos.234 Was eine echte inferentielle Begründung nach Hegel leisten muss, ist 231 „Die in sich schlechthin Eine Bestimmung, welche in jenem Satze [= (P1), W.L.] die beiden Unterschiedenen zusammen ausmachen, ist das absolut-Nothwendige, dessen Namen sogleich es als das Einzige, was wahrhaft ist, als die einzige Wirklichkeit ausspricht […].“ (GVL, GW 18, S. 291) In der Enzyklopädie greift Hegel diesen Gedanken ebenfalls auf und macht in aller Deutlichkeit klar, dass diese entscheidende Einsicht gerade den „Sinn der Erhebung des Geistes“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 88) darstellt. Vgl. VPR 4, S. 10. 232 In der Analyse des hypothetischen Schlusses in der WdL schreibt Hegel: „Es ist somit die Identität des Vermittelnden und des Vermittelten darin vorhanden.“ (WdL II, GW 12, S. 123) Analog heißt es in den Gottesbeweisvorlesungen zum „Begriff“ des „absolut-Nothwendigen“, er sei „die in sich zurückgehende Vermittelung, die Vermittelung nur mit sich durch das andere von ihm Unterschiedene“ (GVL, GW 18, S. 291), d.h. hier die kontingente Existenz. 233 Formallogisch gesehen sind darüber hinaus ohnehin alle gültigen Argumente in dem trivialen Sinn ,zirkulär‘, dass Konklusionen nie mehr enthalten dürfen als die Prämissen, aus denen sie folgen sollen. ,Zirkularität‘ ist daher kein genuin logisches Problem von Argumenten als solchen; sie hängt vielmehr an dem, was in einem Überzeugungssystem einer Person schon liegen darf, die mit einem Argument zur Akzeptanz einer problematischen Aussage geführt werden soll. Vgl. M 1967, S. 177 und W 2015, S. 87. 234 In den Worten von J. N. Findlay: „Those who expect all thought-advance to be that of the deduction of conclusions from firmly established premisses are quite incapable of dialectical thinking: in dialectic it is the insufficiency of the premisses that leads to the more sufficient conclusion.“ (F 1975, S. xiii)
2.4 Hegels Gottesbeweiskritik und die Begründungsform religiösen Denkens
225
gerade der Nachweis, dass jede mögliche Akzeptanz einer kontingenten oder notwendigen Aussage zu einem inneren Selbstwiderspruch führen muss, wenn man sie zumindest implizit in Konjunktion mit atheistischen Ausgangsprämissen affirmiert. Ein solcher Begründungstyp will daher erst zeigen, dass jede mögliche wahre Aussage nur unter der Bedingung akzeptiert werden kann, dass sie in letzter Instanz mit der Wahrheit der Aussagen über das Absolute inferentiell verwoben ist. Er macht das Für-Wahr-Halten dieser Aussagen aber nicht schon zur doxastischen Voraussetzung seines Nachweises.235 Wie dieser Nachweis für Hegel konkret aussieht und wie er sich von gewöhnlichen negativen Beweisen unterscheidet, wird uns im folgenden Abschnitt beschäftigen. An dieser Stelle ist abschließend zu fragen, was die bislang rekonstruierten Thesen für das Ausgangsproblem austragen. Hegel hatte in seiner Antwort auf Kants Einwand aus der ,falschen Selbstbefriedigung‘ behauptet, dass die Annahme, es müsse immer externe Bedingungen geben, aus dem wir die Existenz und die Natur einer Sache erklären, genau dann unvermeidlich wird, wenn man, wie Kant und Jacobi, „nicht über das Verstandesverhältniß zu dem Begriffe dieser unendlichen Negativität hindurchgedrungen“ (GW 18, S. 326) ist. Mit Hegel hat sich hingegen gezeigt, dass das „Verstandesverhältniß“ in direkten Schlussformen keineswegs die Möglichkeiten der inferentiellen Praxis erschöpft. Vielmehr kann gerade eine meta-theoretische Interpretation des hypothetischen Schlusses eine tieferliegende Begründungsform offenlegen, in der – wie Hegel sagt – „im Bedingen selbst das Bedingen, im Vermitteln die Vermittelung wegzuschaffen“ (ebd.) ist. Denn die Pointe der wesentlich negativen Begründungsform ist es, dass sie durch die Einsicht in die Selbstaufhebung von inkohärenten Annahmen über ontologische Vermittlungsverhältnisse einen inferentiellen Übergang zur Existenzform des Absoluten baut.236 Mit dieser Begründungsform, in die „wahrhafte Natur des wesentlichen Denkens“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 88) bestehen soll, kann Hegel zufolge zugleich der von Kant gesuchte Charakter der explanatorischen und explikativen Selbstbestimmung deutlich gemacht werden. Mit den bisherigen Diskussionsergebnissen kann man seine Grundintuition so wiedergeben: Dass das Absolute sich in allen 235 Als zirkulär erscheint mir hingegen R. Williams’ Wiedergabe von Hegels Antwort auf Kants Kritik, da sie die ,Selbstvermittlung‘ des Absoluten als Gegenmodell heranzieht, wohingegen Hegels Pointe gerade darin besteht, dass diese in den scheinbar alternativen syllogistischen Formen der ,Vermittlung‘ implizit enthalten sein muss. Vgl. W 2017, S. 70 f. 236 In der programmatischen Anmerkung zu Enz. § 50 fasst Hegel daher den Gedanken der Selbstaufhebung (falscher) Vermittlung auch so zusammen: „Indem diese Erhebung Uebergang und Vermittlung ist, so ist sie eben so sehr Aufheben des Ueberganges und der Vermittlung, denn das wodurch Gott vermittelt erscheinen könnte, die Welt, wird vielmehr für das Nichtige erklärt; nur die Nichtigkeit des Seyns der Welt ist das Band der Erhebung, so daß das was als das Vermittelnde ist verschwindet, und damit in dieser Vermittlung selbst die Vermittlung aufgehoben wird.“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 88) Dem entspricht die Argumentationsskizze in Enz. § 74, mit der Hegel auf Jacobis Generalangriff auf das diskursive Denken reagiert. Vgl. die kurze Rekonstruktion oben in I.5.1.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Hinsichten selbst erklärt und expliziert, lässt sich dadurch nachweisen, dass jede scheinbar alternative Form der Erklärung die Selbstbestimmung des Absoluten unter der Hand wieder einschmuggeln muss. Es ist für Hegel daher nicht notwendig und sogar irreführend, Erklärungsmodelle in Analogie zu herkömmlichen Formen der Begründung und Erklärung zu entwickeln. Es reicht vielmehr schon der Nachweis, dass eine Aussage wie ,Endliches oder Kontingentes existiert‘ nur unter der impliziten Bedingung kohärent vertreten und verstanden werden kann, dass es das Absolute tatsächlich gibt. Selbst in Erklärungen und Begründungen, die dem Absoluten extern zu sein scheinen, kommen wir daher auf es selbst zurück. Eine „Auslegung“ des selbstbestimmten Charakters des Absoluten beginnt daher mit der Einsicht, dass „das Endliche darin, daß es zu Grunde geht, diese Natur beweist, auf das Absolute bezogen zu seyn, oder das Absolute an ihm selbst zu enthalten.“ (WdL I/2, GW 11, S. 372)
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments Mit dem bisherigen Diskussionsergebnis deutet sich schon an, wie Hegel den Prämissen von Kants Einwand ,aus der falschen Selbstbefriedigung‘ begegnen kann. Denn leuchtet das KA allein deshalb ein, weil in dessen Ausgangsprämisse ,Endliches bzw. Kontingentes existiert‘ schon implizit auf das Absolute Bezug genommen werden muss, dann zeigt sich für Hegel darin eine tieferliegende metaphysische Intuition, die die modalen Eigenschaften kontingenter Entitäten implizit von Gott her versteht und nicht umgekehrt. Und diese kann nach Hegel auch nicht durch die kantische Modaltheorie weganalysiert werden, da diese Theorie dann selbst von der Intuition Gebrauch machen müsste, um zutreffend zu sein. Um zu verstehen, was damit genauer gemeint ist, soll in einem ersten Schritt zunächst allgemein auf die formale Struktur der indirekten Begründungsform eingegangen und von Standardformen negativer Beweise abgegrenzt werden (Abschnitt A). Als entscheidende Pointe von Hegels Ansatz wird sich dabei seine kategorientheoretische Prämisse erweisen, der zufolge „von dem Endlichen zu zeigen [ist], daß es durch sich selbst, – durch das, was es seyn soll, durch seinen Inhalt selbst zum Anderen seiner, zum Unendlichen sich hinüberbewege“ (GW 18, S. 324).237 Hegels Gründe für diese Annahme werde ich dann in einem zweiten Schritt genauer rekonstruieren (Abschnitt B). Die Konsequenzen der Deutung für Hegels Theorie religiösen Denkens und deren Verhältnis zur natürlichen Theologie und zu einer spekulativen Kategorienlehre sollen dann abschließend kurz beleuchtet und festgehalten werden (Abschnitt C). 237 Ähnlich heißt es in einem Notizzettel, der vermutlich zusammen mit den Gottesbeweisvorlesungen entstanden ist: „Das [Seyn, W.L.] des Zufälligen ist sein eigenes Seyn, sondern das Seyn eines andren“ (GW 18, S. 217). Vgl. auch den editorischen Bericht ebd., S. 387–389.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
227
A. Die formale Struktur der Begründungsform religiösen Denkens Wie im letzten Abschnitt gezeigt wurde, verbindet Hegel die Explikation des apagogischen Kerns der Gottesbeweise fast durchgängig mit einer Kritik an deduktiv-linearen Schlussformen.238 In diesem Sinne behauptet er etwa in den Gottesbeweisvorlesungen, dass das oben entwickelte „Moment des Negativen“ gerade „nicht in der Form des Verstandes-Schlusses“ liege und dieser daher auf dem „Boden der lebendigen Vernunft des Geistes mangelhaft“ (GVL, GW 18, S. 291) sei. Eine solche Behauptung scheint aber vorschnell zu sein,239 denn ein Vertreter der klassischen Form könnte m.E. gleich in mehrfacher Hinsicht Einspruch erheben. Erstens wird schon an der Struktur von Argumenten im Allgemeinen deutlich, dass auch in direkten Formen die Wahrheit der Konklusion eine notwendige Konsistenzbedingung für die Prämissen darstellt. Ein Argument hat allgemein den Nachweis zu führen, dass eine bestimmte Konjunktion von Aussagen P1 & … & Pn (dann und) nur dann als wahre Aussage akzeptiert werden kann, wenn zugleich die Konklusion K als wahre Aussage akzeptiert wird, die aus der Konjunktion folgt. Mit der Verneinung von K legt man sich daher direkt auf die Negation einer oder mehrerer Aussagen der Konjunktion P1 & … & Pn fest.240 Damit müsste man aber trivialerweise jedes direkte Argument in ein indirektes umwandeln können.241 Zweitens könnte ebenfalls zugunsten der traditionellen Beweisformen angeführt werden, dass jedes der klassischen KA zumindest implizite negative Teilargumente enthalten.242 Dies zeigt sich etwa in ihren Nachweisen der Unmöglichkeit verschiedener Regresstypen, die für das KA typisch sind und die auch Hegel 238 In den Worten von J.N. Findlays Kommentar zu Enz. § 50A ausgedrückt: „Hegel […] points out […] that the so-called proofs of the Divine Existence are not what they are ordinarily thought to be: purely affirmative reasonings in which what we start from furnishes a fixed, solid basis as its premisses. The action of thought is to negate the basis from which it starts, to show it up as not being self-subsistent, and so to have in it a springboard from which it can ascend to what is truly self-subsistent and self-explanatory.“ (F 1975, S. xii) 239 Solche tendenziell unkritischen Behauptungen machen m.E. etwa F. Wagner und R. Williams, die zudem keinen einzigen detaillierten Vergleich von Hegels Kritik mit tatsächlich vertretenen, historischen Formen des KA vornehmen. Vgl. W 1996, S. 99–102 und W 2017, S. 75. 240 Vgl. hierzu prägnant S 1955, S. 30 f. Auf Basis des geläufigen Gedankens ,Des einen modus ponens, ist des anderen modus tollens‘ argumentiert Smart dafür, dass aus dieser allgemeinen Struktur ein Generalverdacht gegenüber den Prämissen aller theistischen Argumente folgen kann: Für jeden, der Gottes Existenz verneint, kann jedes theistische Argument als ein indirektes Argument für die Falschheit seiner Voraussetzungen verwendet werden. 241 R. M. Adams zeigt, wie etwa Leibniz genau auf Basis der Umkehrung des KA für die Möglichkeitsprämisse des modalen OA argumentiert. Vgl. A 1994, S. 141 f. Denn wenn selbst schon das schwache PZG wahr ist, dann folgt aus der Unmöglichkeit der Existenz eines Ens necessarium gerade die Nicht-Existenz kontingenter Individuen. 242 Auf diesen Sachverhalt weist zu Recht S. Ball hin. Vgl. B 1979, S. 90 f.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
nicht völlig übersieht.243 So setzt etwa die zweite Prämisse der kalam-Version die Notwendigkeit der endlichen Vergangenheit des Universums voraus. Analoges lässt sich von den beiden anderen Haupttypen des KA sagen: So argumentieren etwa aristotelisch-thomistische Varianten, dass es keine eine essentiell geordnete Kausalreihe ohne ein erstes Glied geben kann. Die Leibniz-Clarke-Variante hingegen zeigt mithilfe von PZG, dass ein Erklärungsregress, der nur aus kontingenten explanantia besteht, metaphysisch unmöglich ist. In jedem dieser Argumenttypen folgt ein Regress aus der impliziten hypothetischen Annahme, dass eine erste Ursache, ein ,reiner Akt‘ oder ein ,notwendiges Wesen‘ nicht existiert, der zusammen mit dem Unmöglichkeitsnachweis dann indirekt zur Konklusion führt, dass ohne eine solche Entität nichts existieren oder Kausalkräfte ausüben könnte. Schließlich könnte man drittens anführen, dass es Formen des KA gibt, die explizit als negative Beweise formuliert sind. Dies gilt etwa für den ersten Beweisschritt von Thomas’ drittem Beweisweg in der Summa theologica.244 Dort schließt Thomas aus der Vergänglichkeit kontingenter Individuen zusammen mit der hypothetischen Annahme einer aktual unendlichen Vergangenheit der Welt und der Nicht-Existenz von unvergänglichen Entitäten, dass es dann eine Zeit gegeben haben müsste, in der nichts existiert hätte. Da aber nur dann etwas entstehen kann, wenn es etwas gibt, das dies bewirkt, folgt für Thomas aus dieser ersten Konklusion die widersprüchliche Aussage, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt eigentlich nichts existieren könnte. Ein noch besseres Beispiel bietet schließlich der dritte Beweis zu Lehrsatz 11 in Spinozas Ethik, der als KA verstanden werden kann und als Ganzer explizit apagogisch strukturiert ist.245 Nach Spinoza hätte die Annahme, dass es nur endliche Dinge gibt, deren Existenz aus der wirklichen Existenz anderer endlicher Dinge notwendigerweise folgt, zur Konsequenz, dass endliche Dinge mächtiger wären als eine unendliche Entität, die ihre Macht dadurch beweist, dass sie unmöglich nicht existieren kann und alles andere von ihm abhängig ist. Aus der Absurdität dieser Konsequenz folgert er daher, dass entweder gar nichts existiert oder ein notwendiges Wesen, das als Unendliches mit Gott identisch ist. Hegels Aussage, dass das „Moment des Negativen nicht in der Form des Verstandes-Schlusses“ (GVL, GW 18, S. 291) liegt, scheint also an den genannten 243 So etwa in Passagen im Manuskript und im Kolleg von 1827, in denen Hegel allerdings nur von Regressen des Endlichen und Kontingenten spricht. Vgl. VPR 3, S. 315; VPR 4, S. 7 und S. 39. Auf Kausalregresse im Allgemeinen verweist er hingegen etwa gegen Ende der Wesenslogik. Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 402 f. und Enz. 153A, GW 20, S. 171 f. Wie oben in II.2.2 richte ich mich bei der Typologie der KA nach W.L. Craig und F. Hermanni. Vgl. C 1980, Chap. 9 und H 2011, S. 16. 244 Vgl. STh I. qu.2 a.3co und die Rekonstruktionen in F 2009, S. 90–99 und T 2013, S. 208–214. Eine instruktive Engführung des ersten Beweisschritts des dritten Weges mit der Dialektik des Endlichen bei Hegel findet sich in M 2020, S. 366 f. 245 Vgl. Eth. I, prop. 11aliter, S. 24 f. und instruktive Rekonstruktion in C 1980, Chap. 7, bes. 241–246.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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Aspekten der klassischen Argumenttypen vorbeizugehen. Hegels allgemeiner Punkt ist damit aber nicht sofort erledigt. Denn zum einen formuliert Hegel seine Kritik an anderen Stellen deutlich moderater: Die metaphysischen Beweise vom Daseyn Gottes sind darum mangelhafte Auslegungen und Beschreibungen der Erhebung des Geistes von der Welt zu Gott, weil sie das Moment der Negation, welches in dieser Erhebung enthalten ist, nicht ausdrücken oder vielmehr nicht herausheben […]. (Enz. § 50A, GW 20, S. 88)246
Zum anderen wurde im letzten Abschnitt darauf hingewiesen, dass Hegels Kritik an den Gottesbeweisen nicht darauf abzielt, diese vollständig für obsolet zu erklären, sondern deren Wahrheitsmoment freizulegen, das zugleich die interne Norm bildet, an der sich die Beweise zu messen haben, weil sie sich selbst in der abweichenden Form darauf festlegen.247 Die hegelsche Rede von der ,Mangelhaftigkeit‘ lässt sich daher im vorliegenden Fall wohlwollender interpretieren, dass jedes KA schon deshalb das ,Moment des Negativen‘ zum Teil enthalten muss, weil es sonst im Rückgriff auf diese Norm überhaupt nicht bewertet werden könnte.248 Die obigen Überlegungen bieten daher eine gute Gelegenheit, sich darüber zu verständigen, wo die Struktur der negativen Begründungsform genau von den genannten Beispielen abweicht. Setzt man dazu zunächst hypothetisch die Adäquatheit von Hegels Rekonstruktion voraus, so gilt bzgl. der ersten Überlegung, dass sie Hegels Begründungsform gleich in doppelter Weise verfehlt. Denn zum einen soll in ihr gerade nicht von der explizit angenommenen Nicht-Existenz Gottes auf die Falschheit einer plausiblen empirischen Prämisse wie die Existenz kontingenter Individuen geschlossen werden. Vielmehr soll umkehrt im Ausgang von dieser Prämisse gezeigt werden, dass deren Wahrheit von sich aus auf die Existenz des Absoluten verweist. Damit geht es Hegel zum anderen um die interne Kohärenz einer der Prämissen und nicht um die Frage der Konsistenz der Prämissen in Konjunktion mit der angenommenen Falschheit der Konklusion.
246 Zum religiösen Denken sagt Hegel im Kolleg von 1824: „[D]ieses Denken ist nicht vollständig in der Form eines Schlusses gefasst.“ (VPR 4, S. 170; meine Hervorhebung, W.L.) In der Strauß-Nachschrift zum Kolleg von 1831 heißt es ähnlich mit Bezug auf das TA: „[I]n dem Schlusse selbst kehrt sich dasjenige, was als das Bedingende erschien, zum Bedingten um. Das Resultat spricht es selbst aus, daß der Ausgangspunkt ein mangelhafter war.“ (ebd., S. 634; meine Hervorhebung, W.L.) 247 Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, stützt Hegel dies durch seine meta-theoretische Reflexion auf die Form hypothetischer Schlüsse, die nach Hegel die indirekte Begründungsform schon implizit voraussetzen, aber nicht hinreichend artikulieren. 248 Aus der Tatsache, dass etwas das, was es ist und worauf es eigentlich abzielt, nur defizient ausdrückt, folgt für Hegel geradezu trivialerweise, dass es dieses überhaupt ist und ausdrückt. Denn – so Hegel: „Eine schlechte Pflanze, Thier usf. bleibt immer noch eine Pflanze, Thier usf.“ (WdL II, GW 12, S. 214). Zu Hegels Analyse der logischen Form von Bewertungen vgl. oben Abschn. I.2.1.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Analoges gilt dann auch für die o.g. zweite Überlegung. Ein noch wichtigerer Unterschied besteht allerdings darin, dass sich innerhalb der religiösen Begründungsform die Regressentstehung und dessen Vermeidung allein aus einem korrekten Verständnis des kategorialen Gehalts der empirischen Annahme ergeben muss, während die genannten Typen des KA jeweils gerechtfertigte Zusatzannahmen und Prinzipien benötigen, um die Unmöglichkeit von Regressen begründen zu können. Die von Hegel explizierte Begründungsform soll sich daher dadurch auszeichnen, dass die Ausgangsannahme, ja sogar das Endliche selbst „unmittelbar an ihm selbst widersprechend ist“ (GVL, GW 18, S. 290) ist.249 Ein Umweg über einen durch Zusatzprämissen induzierten Widerspruch ist daher für Hegel gar nicht notwendig. Gleiches lässt sich gegenüber der dritten Überlegung festhalten, die zwar Hegels Ansprüchen wohl noch am nächsten kommt, allerdings ebenfalls auf die genannten Hilfestellungen zurückgreift – zumal man die Stärke der genannten Argumente ohnehin bezweifeln kann.250 Die aussichtsreichste Deutungsoption besteht m.E. in V. Hösles Vorschlag, dass die Struktur der von Hegel freigelegten Begründungsform nicht klassischen indirekten Beweisen, sondern vielmehr sog. retorsiven oder performativen transzendentalen Argumenten entspricht.251 Dieser Argumenttyp operiert in seiner stärksten Fassung mit Aussagen oder Behauptungen, die sich aufgrund der in ihnen ausgedrückten Leugnung von semantischen oder pragmatischen Präsuppositionen unmittelbar selbst falsifizieren.252 Diese Engführung kommt sicherlich der hegelschen Intuition am nächsten. Denn ebenso wenig wie Hegels Begründungsform benötigt ein retorsives Argument neben der selbst-falsifizierenden 249 Analog heißt es in der Wesenslogik: „Die Wahrheit aber ist, daß darum weil das Endliche der an sich selbst widersprechende Gegensatz, weil es nicht ist, das Absolute ist.“ (WdL I/2, GW 11, S. 290) 250 Gegen die Thomas-Version spricht der notorische Vorwurf der Quantorenverschiebung, der auch nicht einfach auszuräumen ist. Vgl. u.a. H 2011, S. 25 f. Denn selbst wenn man Thomas’ Schluss als ein kontrafaktisches Szenario auffasst, dass unter den genannten Voraussetzungen entstehen soll, scheint aus dem Satz ,Für jedes kontingente Individuum gibt es einen Zeitpunkt, in dem es nicht mehr bzw. noch nicht existiert‘ nicht die Aussage ,Es gibt einen Zeitpunkt, in dem für jedes kontingente Individuum gilt, dass es nicht mehr oder noch nicht existiert‘ zu folgen. Denn ausgeschlossen ist damit nicht die Aussage ,Es existieren immer kontingente Individuen in sich überlappenden Zeiträumen‘. Vgl. hierzu ebd., S. 26 und zur Verteidigung von Thomas’ Schluss u.a. S/H 22003, S. 118 f. und T 2013, S. 209 f. Was Spinozas Beweis anbelangt, so scheint das Konditional ,Wenn Gott nicht existierte, dann wären endliche Individuen mächtiger als Gott‘ nur dann plausibel, wenn (a) Gottes Existenz möglich ist und (b) die Mächtigkeit von möglichen, aber als nicht-existent angenommenen Individuen mit denen von wirklichen verglichen werden kann. Plausibler wäre vermutlich eine Version wie die in Fn. 241 angeführte. 251 Vgl. etwa H 1987, Band 1, S. 198–210. 252 Zu retorsiven transzendentalen Argumenten vgl. bes. I 2003, S. 44–63 und B 2005. Bardon unterscheidet retorsive Argumente noch feiner danach, ob sie entweder (a) selbst-falsifizierende Aussagen oder (b) ,selbst-blamierende‘ (self-stultifying) Aussagen oder Behauptungen als Ausgangsannahme benutzen. Letztere weisen sich nach Bardon nicht als falsch, aber als ungerechtfertigt oder rational inakzeptabel aus. Vgl. die Beispiele ebd., S. 74.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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Aussage weitere Zusatzannahmen.253 Zudem wird diese Deutung gerade der transzendentalen Funktion ontologischer Kategorien und Ausdrücke wie ,Endlichkeit‘ und ,Kontingenz‘ gerecht, deren regelbewusste Verwendung – für Kant wie für Hegel – einen propositionalen Objektbezug überhaupt erst ermöglicht.254 Und wie wir sehen werden, besteht genau hierin der entscheidende Grund, warum für Hegel die religiöse Begründungsform nicht nur zu legitimen Wissensansprüchen führt, sondern zur essentiellen Verfassung rationalen Lebens selbst gehört.255 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass zumindest das Standardmodell eines retorsiven Arguments – etwa die Aussage ,Es gibt keine wahren Behauptungen‘ – im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Denn, wenn die Aussage ,(Nur) Endliches und Kontingentes existiert‘ in einer kontingenten Sprechsituation von einem ebenfalls kontingenten und raumzeitlich verkörperten, endlichen Sprecher als ebenso kontingente Behauptung geäußert wird, entsteht schwerlich ein Widerspruch zwischen semantischer und pragmatischer Ebene, der dann zur Annahme des kontradiktorischen Gegenteils führt. Alternativ könnte man daher Hegels Gedanken auch so zu interpretieren, dass in der Ausgangsprämisse des KA zwar keine semantisch-pragmatische Inkonsistenz aufbricht, wohl aber ein Widerspruch mit semantischen Präsuppositionen entsteht.256 In eine solche Richtung geht etwa eine Überlegung, die neuerdings von H.G. Melichar ins Spiel gebracht wurde.257 Ihr gemäß drückt etwa die Aussage ,Alles ist endlich‘ inhaltlich die Endlichkeit und Kontingenz von allem aus, legt sich darin aber, wenn sie ernst genommen werden will, auf deren unbeschränkte und absolute Geltung fest. In diesem Sinne ergäbe sich dann ein ,dialektischer‘258 Widerspruch zwischen dem Inhalt der Aussage und ihren höherstufigen modalen Eigenschaften und der Weite ihres Geltungsbereichs. Allerdings lässt sich diese interessante und stringente Argumentationslinie nicht als mögliche Deutung der hegelschen Analyse des KA und dessen impliziter Begründungsform heranziehen. Denn ein Skeptiker könnte darauf beharren, dass in diesem Falle die Domäne des Allquantors der obigen Aussage zunächst nur auf kontingente Individuen (oder zumindest Konkreta) eingeschränkt ist und die Eigenschaften von Propositionen daher überhaupt nicht zur Debatte stehen.259 Damit könnte eine Aussage wie ,Nur Endliches existiert‘ nicht nur 253 Dies ist nicht ganz richtig, denn retorsive Argumente setzen etwa die Gültigkeit des Bilavenzprinzips voraus. Vgl. I 2003, S. 58 f. 254 Wie oben im Exkurs in II.1 schon bemerkt wurde, verknüpft Hegel diese Überzeugung – anders als Kant – nicht mit einem epistemologischen Antirealismus. 255 Vgl. GVL, GW 18, S. 275 f. und die ausführliche Interpretation in Kap. III.2. 256 In Bardons Terminologie würde es sich dann um eine selbstfalsifizierende Aussage oder Proposition – wie etwa ,Es gibt nichts‘ oder ,Es gibt keine wahren Aussagen‘ – handeln. Vgl. B 2005, S. 72 f. 257 Vgl. bes. M 2020, S. 367 f. 258 Ich übernehme diese Bezeichnung von V. Hösle. Vgl. H 31997, S. 177 f. und ferner die Deutung der hegelschen Dialektik des Endlichen in . 1987, Band 1, S. 167–176. 259 Zudem wird sich gleich zeigen, dass die angegebene implizite Definition ,X ist endlich
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
unbeschränkt für alles Konkrete gelten, sondern dies sogar mit Notwendigkeit tun. Und dies wäre durchaus mit der These kompatibel, dass einige (abstrakte) Entitäten – wie die genannte Aussage – nicht-kontingent und nicht-endlich sind, die wiederum mit dem Schlusssatz des vorgeschlagenen retorsiven Arguments identisch ist. Solange man also kein Zusatzargument vorbringt, warum auch abstrakte Entitäten wie Propositionen als ,endlich‘ und ,kontingent‘ anzusehen sind, scheint diese Argumentationslinie daher für eine Deutung der impliziten Begründungsform des KA unzureichend.260 Statt Hegels Grundintuition mit der die Struktur von klassischen indirekten oder herkömmlichen retorsiven Argumenten engzuführen, soll daher im Folgenden eine etwas andersgelagerte Deutung vertreten werden. Die Kernidee besteht darin die kategoriale Einsicht in das, was es heißt, ein Endliches zu sein und als ein solches zu existieren, ins Zentrum der theoretischen Explikation des KA und der religiösen Begründungsform zu stellen.261 Denn nach Hegel soll gerade gelten, dass „das Endliche, darin daß es zu Grunde geht, diese Natur beweist, auf das Absolute bezogen zu seyn, oder das Absolute an ihm selbst zu enthalten.“ (WdL I/2, GW 11, S. 372) Ist dies nun auch der Inhalt der religiösen Erhebung, dann bedeutet das für dessen Objektseite, dass jedem Endlichen der Bezug zum Unendlichen oder Absoluten wesentlich ist. Für deren Subjektseite hingegen gilt, dass die korrekte und kompetente Anwendung des Ausdrucks ,endlich‘ in der Urteilsund Erkenntnisbildung eine Person immer auf die Aussage festlegt und verpflichtet,262 dass es Unendliches und Absolutes geben muss, auf das das Endliche in =def X ist kontingent und in seinem Geltungsbereich beschränkt‘ nicht mit Hegels Rede von ,qualitativer Endlichkeit‘ übereinstimmt. 260 Erweitert man hingegen den Referenzrahmen der Allaussage auf alle Entitäten überhaupt, wird fraglich, ob man überhaupt noch vom selben Argumenttyp spricht. Konzeptualistische Argumente wie die oben auf S. 217 f. Fn. 207 angeführten, würden zumindest die Notwendigkeit einer ontologischen Erklärung der Existenz von Abstrakta beweisen. Aber erstens wäre dadurch noch nicht die synonyme Verwendung des Prädikats ,endlich‘ für Abstrakta und Konkreta gerechtfertigt. Und zweitens wäre ein solches Argument auch ohne die Prämissen des KA und Hegels Rekonstruktion gültig und würde sich daher nicht als Deutung von dessen inferentiellen Gehalt eignen. 261 Dies steht in enger Verbindung zu der Theorie dialektischer Begriffsexplikation, wie sie etwa von D. Wandschneider gleich in Monographie-Länge entwickelt hat, die von H.G. Melichar instruktiv diskutiert wird. Vgl. W 1995 und M 2020, Kap. 6, bes. S. 317–375. Da es im Folgenden nicht um Hegels allgemeines Projekt einer ,Wissenschaft der Logik‘, sondern genauer um die religionsepistemologische Relevanz seiner Explikation zweier Kategorienpaare geht, werde ich im Folgenden von einer Untersuchung von Hegels ,dialektischer Methode‘ absehen. 262 Ich orientiere mich dabei im Folgenden an der besonders von W. Sellars und R. Brandom ins Spiel gebrachte Idee von ,materialen Inferenzen‘ von Begriffen und deren Rolle in der menschlichen Begründungspraxis, die beide Autoren für eine Semantik begrifflicher Inhalte produktiv gemacht haben. Vgl. etwa B 2001, S. 52–55. Sagt ein Sprecher S etwa, (i) ,a ist ein Hund‘, dann verpflichtet er sich zugleich auf die Akzeptanz der Aussage (ii) ,a ist ein Lebewesen‘, wobei S gerade aufgrund dieser ,materialen Inferenz‘ Aussage (i) als einen Grund für (ii) heranziehen kann. Zu den Konsequenzen für die vorliegende Hegeldeutung vgl. auch die abschließenden Überlegungen zu diesem Abschnitt.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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seiner Existenzform verweist.263 Keine Aussage über endliche und kontingente Individuen könnte in diesem Sinne Inhalt eines wohlgeformten und legitimen propositionalen Wahrheitsanspruchs sein, wenn in ihm zumindest implizit von diesem Verweisungszusammenhang abgesehen wird.264 B. Kategoriales Wissen und religiöse Erkenntnis Für die regelgeleitete Anwendung solcher Begriffe in der Urteilspraxis ist es nach Hegel weder erforderlich, dass sie selbst in höherstufigen Urteilen thematisch werden.265 Noch ist er der Meinung, dass, wenn man dies tut, man den begrifflichen Gehalt und dessen Konsequenzen immer korrekt erfasst. Vielmehr zeigt gerade Hegels Gottesbeweiskritik, dass es in der syllogistischen Artikulation unserer Begründungspraxis Formen des Selbstmissverständnisses geben kann. Im Rahmen dieses Deutungsvorschlags wird daher verständlich, warum für Hegel eine vollständig entwickelte und kohärente Kategorienlehre die Leistung vollbringen kann, das in Personen immer schon vorliegende metaphysische und inferentielle Wissen so präzise wie möglich herauszustellen und darin deren Adäquatheit aufzuweisen. Diese Anstrengung hat Hegel in den beiden Logiken unternommen und deren epistemologische Konsequenzen in den religionsphilosophischen Kollegien dann umfänglicher entwickelt.266 Eine besonders konzise Skizze der Thesen zu den Geltungsgründen des kategorialen Wissens von Gläubigen, die zugleich den Kern der o.g. Deutungsoption enthält, findet sich im Kolleg von 1824. Sie steht im Kontext seiner Analyse desjenigen ,metaphysischen Begriffs‘ des Absoluten, der der ersten Religionsform zugrunde liegen soll, und löst damit geradezu paradigmatisch Hegels religionstheoretisches Programm ein. Dort heißt es: 263 Im Rahmen von Hegels Erkenntnisbegriff (vgl. I.2.1) muss dabei jede erfolgreiche Analyse des religiösen Denkens immer der Subjekt- und der Objektseite gleichermaßen Rechnung tragen: „Der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom Akzidentellen zum Substantiellen usf. gehört der Wirksamkeit des Denkens im Bewußtsein an und ist die eigene Natur dieser Bestimmungen selbst, dasjenige, was sie in Wahrheit sind.“ (VPR 4, S. 160 Fn.; meine Hervorhebung, W.L.) 264 Besonders prägnant fasst J. N. Findlay diesen Gedanken, wenn er von der hegelschen Rede von der ,Erhebung‘ an anderer Stelle schreibt, sie sei „the sudden decision, informed by insight, to shape one’s thought and one’s language so that, whatever may be or not be, divinity certainly is.“ (F 1970, S. 97) 265 Zum dispositionellen und impliziten Charakter kategorialen Wissens vgl. unten Kap. III.2. 266 Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 104–143 und Enz. §§ 90–96, GW 20, S. 129–133. Die entscheidenden Überlegungen finden sich ferner in allen religionsphilosophischen Kollegien. Vgl. VPR 3, S. 314–317; VPR 4, S. 6–10, 38 f., 161–165 und 616. Da die nicht immer vollständig durchsichtigen Argumente in den Hauptwerken zu komplex sind, um hier in allen Details rekonstruiert zu werden, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Formulierungen in den Vorlesungen und ergänze deren Prämissen um Überlegungen aus der Großen und Kleinen Logik.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Das Endliche ist das, was es ist, was es sein soll, durch seine Wesenheit so, daß es seine Wesenheit vielmehr hat in seiner Negation [= These (i)], und entwickelt ist dies ein Anderes [= These (ii.a)] und hier das Unendliche [= These (iii)]; das Endliche ist schlechthin das, das Unendliche zu sein. Der Hauptgedanke ist dieser, daß das Endliche ein solches ist, das als Endliches bestimmt ist, das Sein nicht in ihm selbst hat, sondern das, was es ist, in einem Andern hat [= These (ii.b)], und dies Andere ist das Unendliche [= These (iii)]. (VPR 4, S. 162)
Hegels Grundüberlegung scheint es hier zunächst zu sein, dass es in der Natur dessen liegt, was sich als ,Endliches‘ klassifizieren lässt, in spezifischer Weise negiert zu sein, was ich oben als These (i) gekennzeichnet habe. Diese Form der Negation gehört mithin zu dem, was das Endliche zu dem macht, was es ist, und ist Konstituens seiner ,determinativen Identität‘267. Dabei denkt Hegel nicht in erster Linie an Formen quantitativer Begrenzung, die durch die Position endlicher Entitäten an einer bestimmten Raumstelle zu gewissen Zeiten entstehen. Er meint vielmehr, dass wir schon in der basalsten Form, in der wir auf endliche Entitäten oder, in Hegels Worten, auf ,etwas‘ Bezug nehmen, ihnen implizit einen Typus von Bestimmungen zuschreiben, die er auch als ,Qualitäten‘ bezeichnet. Eine ,Qualität‘ ist die Bestimmtheit einer Entität, die unmittelbar mit dem Träger selbst identisch ist, sodass ohne diese die Entität nicht nur nicht das wäre, was sie ist, sondern überhaupt nicht existieren würde: [D]as Endliche ist so, daß Qualität nur das ist, eine Bestimmtheit, die unmittelbar identisch ist mit ihrem Sein. Das Etwas hat eine Qualität und ist mit dem Seienden unmittelbar eines, so daß, wenn die Qualität vergeht, auch das Etwas vergeht. (ebd., S. 161)268
Hegels Explikation des Begriffs der ,qualitativen Endlichkeit‘ mithilfe des Begriffs essentieller Negativität lässt sich von hier aus gesehen relativ einfach rekonstruieren. Jede Qualität zeichnet sich mindestens, wenn nicht höchstens dadurch aus, dass sie sich von zumindest einer anderen unterscheidet.269 Wenn dies
267 Ich verwende diese Bezeichnung in Anlehnung an E. J. Lowes Rede von „determinate identity“. Vgl. L 2014, S. 76–78 und ferner auch . 2008, S. 34 f. 268 Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 98 und VL 10, S. 107. Hegel nennt als Beispiele von durch Qualitäten vollständig bestimmten Eigenschaften bzw. Eigenschaftsträgern etwa chemische Stoffe, Farbeindrücke, und – bei geistigen Individuen – etwa den ,Charakter‘. Vgl. VPR 4, S. 161 f. Im Anschluss an P. Guyer, der die Dialektik des ,Endlichen‘ und ,Unendlichen‘ als implizite Leibnizkritik interpretiert (vgl. G 1978), könnte man aber auch an individuelle Essenzen oder ,Haecceitäten‘ denken: Zur Hacceität des Sokrates gehört bspw. die Eigenschaft ,… ist identisch mit Sokrates‘. Würde Sokrates diese Eigenschaft nie besessen haben, dann wäre seine individuelle Essenz widersprüchlich und seine Existenz mithin metaphysisch unmöglich. Vgl. zu dieser Auffassung bes. P 1974a, Chap. 5. 269 Daher geht m.E. McTaggart zu Recht davon aus, dass Qualitäten für Hegel nur im Plural existieren können. Vgl. MT 1910, S. 21. D. Wandschneider wendet dagegen ein, dass dadurch die Kategorie der ,Qualität‘ mit seiner Instantiierung verwechselt werden würde. Vgl. W 1995, S. 75 f. und ebd., S. 74f, Fn. 73. Wenn aber die o.g. Identitätsbeziehung zwischen ,Qualität‘ und ,Individuum‘ gelten soll, wird diese Unterscheidung m.E. hinfällig.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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aber der Fall ist und jedes ,etwas‘ sich im angegebenen Sinne durch ,seine‘ Qualität auszeichnet, dann gilt, dass es konstitutiv für die numerische oder ,determinative‘ Identität des ,etwas‘ ist, von etwas ,anderem‘ unterschieden zu sein [= These (ii.a)].270 In den Worten der Hotho-Nachrift des Kollegs von 1824: „Das Endliche ist sein το τι ειÍναι [sic!] durch die Negation.“ (ebd., S. 169 Fn) ,Verschiedenheit‘ stellt nun in der Regel eine Relation von mindestens zwei Entitäten dar. Aus hegelimmanenten Gründen mag man sich daher wundern, warum schon hier auf dieser Stufe eine, wie Hegel sagen würde, wesenslogische Kategorie auftaucht. Wenn man mit den nötigen hegelschen Qualifikationen von dieser Schwierigkeit absieht,271 könnte man das bisherige Diskussionsergebnis damit auch so zusammenfassen, dass jedes endliche ,Etwas‘ hinsichtlich dessen, was es in seiner essentiellen Identität ausmacht, auf ein ,Anderes‘ bezogen ist: Etwas verhält sich so aus sich selbst zum Andern, weil das Andersseyn als sein eigenes Moment in ihm gesetzt ist, sein Insichseyn befaßt die Negation in sich, vermittelst deren überhaupt es nun sein affirmatives Daseyn hat. (WdL I/1, GW 21, S. 113)
Im Rückgriff auf einen neo-hegelianischen Sprachgebrauch könnte man daher sagen, dass die Bezogenheit der Relata ein Paradigmenfall ,interner Relationalität‘ darstellt.272 Denn nach der bislang verwendeten impliziten Realdefinition wäre eine Relation genau dann ,intern‘, wenn sie es zur Natur oder zur Identität der Relata gehört, Argumente dieser Relation zu sein.273 Diese Form der ,Negativität‘, die dem ,etwas‘ gewissermaßen einbeschrieben ist, nennt Hegel nun auch die „Grenze“ (ebd.) zwischen beiden. Hegel geht dabei von der wesentlich stärkeren These aus, dass sich aufgrund dieses Umstands der internen Relationalität in jedem ,etwas‘ ein Widerspruch aufweisen lässt.274 Mit
270 Zum Prinzip ,Alles ist etwas oder anderes‘ als erweitertes, essentialistisches Identitätsgesetz vgl. etwa O 2007, S. 86 f. 271 In der WdL verweist Hegel explizit darauf, dass relationale Kategorien auf den verschiedenen Stufen der Dialektik der Endlichkeit schon antizipiert werden, also ,an sich‘ vorliegen, aber noch nicht ,gesetzt‘, d.h. explizit gemacht worden sind. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 108–110 und hierzu auch G 1978, S. 244. Analog kann Hegel die Idee identitätskonstitutiver Negativität im Objektivitätskapitel für die Strukturanalyse chemischer Objekte heranziehen. Vgl. WdL II, GW 12, S. 148 und Enz. § 200, GW 20, S. 207. 272 Ob man in der zitierten Stelle mit P. Guyer tatsächlich auch „den Ursprung der Lehre von der [sic!] internen Relationen“ (Guyer 1978, S. 254) sehen sollte, lasse ich hier offen. 273 Vgl. zu dieser Definition u.a. V 2002a, S. 6 f. und S 2010b, S. 349. Mit D. Oderberg könnte man ,Verschiedenheit‘ auch zu den „virtual part[s]“ (O 2007, S. 8) der Essenz einer Sache zählen, die in ihrer Realdefinition impliziert sind. Vgl. ebd., S. 7 f. 274 Vgl. etwa WdL I/1, GW 21, S. 116. P. Guyer vermutet in seiner Rekonstruktion der Dialektik des ,Endlichen‘ als Leibnizkritik, dass Hegel einen Widerspruch der leibnizschen Annahme der Pluralität von Substanzen und deren essentieller Verwiesenheit aufeinander aufzeigen möchte. Vgl. G 1978, S. 242–244. Zwar finden sich bei Hegel in der Tat Stellen, wo er den Substanzenpluralismus auf Basis der o.g. Überlegungen zu bestreiten scheint. Vgl. unten Fn. 278. Allerdings wäre Leibniz von Hegels Kritiklinie wohl kaum beeindruckt, wie Guyer auch selbst bemerkt. Vgl. G 1978, S. 248. Zudem scheint Hegel an anderer Stelle
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Bezug auf die Begriffsmerkmale der Kategorie der ,Qualität‘ lässt sich Hegels Grundgedanke vielleicht so einholen: Jede mit ,etwas‘ bezeichnete Entität e1 unterscheidet sich von einer anderen e2 durch die jeweils für sie konstitutiven Qualitäten Q1 und Q2. Da es für jedes einzelne ,etwas‘ genau eine Qualität geben muss, mit dem es identisch ist, ist das einzige, was von Qualitäten gesagt werden kann, dass ihnen die höherstufige Eigenschaft zukommt, sich von anderen zu unterscheiden. Unter den oben entwickelten Vorgaben müssen sich Q1 und Q2 aber jeweils als ,Q1 bzw. e1 ist unterschieden von Q2 bzw. e2‘ und als ,Q2 bzw. e2 ist unterschieden von Q1 bzw. e1‘ definieren lassen. Daraus folgt zunächst, dass e1 und e2 hinsichtlich der angegebenen konstitutiven Unterschiedenheit U ähnlich sind. Nun soll aber U jeweils Q1 und Q2 als solche auszeichnen und damit auch das ausdrücken, was jeweils e1 und e2 als solche und als Ganze ausmacht. Unter Rückgriff auf Leibniz’ Identitätsprinzip scheint sich daher die Identität zwischen beiden zu ergeben, und zwar paradoxerweise gerade aufgrund des jeweiligen Andersseins von e1 und e2. Entsprechend heißt es bei Hegel, jedes ,etwas‘ sei jeweils „das Andere seiner selbst“ (WdL I/1, GW 21, S. 106).275 Und dieser Widerspruch ist es, der durch verschiedene Stufen der ,Dialektik‘ jeweils eingedämmt wird und dann erneut auftritt, bevor der Begriff der identitätskonstitutiven ,Grenze‘ eingeführt wird.276 Diese Argumentationslinie hängt aber davon ab, dass Hegels Kategorienexplikationen bis zur ,Qualität‘ so glatt verlaufen, dass die Rede von ,Qualitäten‘ im angegebenen Sinn gerechtfertigt ist. Für die Rekonstruktion der Argumentationsskizze im Kolleg von 1824 scheint allerdings schon die schwächere These der internen Relativität alles Endlichen auszureichen. Denn aus dieser identitätskonstitutiven Beziehung [= These (i)] soll für Hegel erstens folgen, dass das „Endliche“ immer „sein Sein nicht in ihm selbst, sondern das, was es ist, in einem Andern hat“ (VPR 4, S. 162).277 Und diese Tatsache der ontologischen Abhängigkeit des Endlichen278 soll zweitens implizieren, dass ein endliches ,etwas‘ nicht nur explizit die leibnizianische These zu affirmieren, dass jedes Einzelding jeweils das ganze Universum zum Ausdruck bringt. Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 378 f.; ferner G 1978, S. 238–240 und N 2013, S. 40–42. 275 Aus dieser Tatsache, dass jedes „Andere für sich […] das Andere an ihm selbst“ (WdL I/1, GW 21, S. 106) ist, folgt daher für Hegel, dass es „das in sich schlechthin Ungleiche […], das sich Verändernde“ (ebd.) sein muss. 276 Vgl. ebd., S. 106–113 und auch die instruktive Rekonstruktion in G 1978, S. 243–255. 277 In der Einleitung zur ,Ideenlogik‘ heißt es bei Hegel analog: „Die endlichen Dinge sind darum endlich, insofern sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen […].“ (WdL II, GW 12, S. 175) Darin deutet sich auch ein anderes Verständnis der ,Widersprüchlichkeit‘ des ,Endlichen‘ an, die schlicht darin besteht, dass es das, was es seiner Natur bzw. seinem ,Begriff‘ nach ist, in seiner tatsächlichen Wirklichkeit nicht vollständig und von sich aus gerecht werden kann. Vgl. Enz. § 168, GW 20, S. 184 und F 1958, S. 66. Hierauf wird zurückzukommen sein. 278 „Hegel takes the fact that finite things gain their identity within contrastive relationships to external things to indicate that finite things are ,self-external,‘ that is, that they are not
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von einem ,anderen‘ [= These (ii.b)], sondern von dem „Unendliche[n]“ (ebd.) in den hier relevanten Hinsichten abhängig ist [= These (iii)]. Um zu sehen, wie Hegel diese Schlussfolgerung rechtfertigt,279 ist zunächst auf die triviale Tatsache zu verweisen, dass die freigelegte Struktur der internen Bezogenheit ohne weiteres iteriert werden kann. Wenn ein Endliches nur dann mit sich selbst identisch ist und als ein solches existieren kann, wenn es intern auf ,sein‘ Anderes bezogen ist, dann muss das gleiche auch für letzteres gelten.280 Da dieses ebenso verfasst sein muss, sieht man leicht, dass sich eine scheinbar unabschließbare Kette von identitätskonstitutiven Verweisungen ergibt.281 Versteht man dies nun als eine mögliche Quelle des Begriffs des ,Unendlichen‘ ist,282 dann ergibt sich von hier aus gesehen ein relativ schlichtes Argument für die notwendige Bezogenheit des Endlichen auf das Unendliche und damit für die oben zitierte These (iii). Hegel glaubt aber, dass dieser erste Begriff des Unendlichen nicht das leisten kann, was er im Schluss auf (iii) leisten müsste. Was damit gemeint ist, wird deutlicher, wenn man darauf achtet, dass in diesem ,Schluss‘ auf das Unendliche offensichtlich eine Bedeutungsverschiebung stattfindet. Wo zunächst von qualitativer Begrenzung und Endlichkeit die Rede war, meint der Begriff nun eine quantitativ unendliche Menge von intern bezogenen endlichen Entitäten.283 Hegels Grundgedanke scheint darin zu bestehen, dass die Größe der Anzahl endlicher Individuen an ihrer durch interne Bezogenheit definierten Natur prinzipiell nichts ändern kann. Deren mögliche Schwierigkeiten kann und soll aber ein echter Begriff des Unendlichen gerade lösen. Nimmt man nämlich an, es gäbe nur ontologisch abhängiges Endliches dieser Art, dann scheint zu folgen, dass die Verkettung ontologisch abhängiger Entitäten prinzipiell unabschließbar sein müsste:284 Für jede mögliche endliche Entität in der Kette müsste es immer totally self-determined in their nature and existence.“ ( V 1988a, S. 307) Daraus wird auch deutlicher, warum für Hegel aus Spinozas Prinzip determinatio est negatio die Falschheit des Substanzenpluralismus folgt, d.h. der These, dass es mehr als ein ontologisch unabhängiges Individuum geben kann. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 101. Für P. Guyer ist dies eine der wesentlichen Pointen von Hegels impliziter Leibnizkritik im Kapitel über die ,Endlichkeit‘. Vgl. G 1978, S. 243 f. 279 Vgl. zum Folgenden auch H 2003, S. 192–194. 280 K. Westphal nennt diese Position auch „ontological holism“ (W 1989, S. 146). Vgl. auch S 2009, S. 59. 281 „Das zweite ist, daß diese Negation des Endlichen auch affirmativ ist. Nun gibt es eine schlechte Affirmation; diese besteht in der Wiederholung des Endlichen – darin, daß sie nur das vorige Endliche wieder hervorbringt, so daß das Endliche anderes Endliche setzt usf., ins schlecht Unendliche.“ (VPR 3, S. 315) Ebenso heißt es im Anschluss an Hegels der ,Veränderung‘ in der Enzyklopädie: „Etwas wird ein Anderes, aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird es gleichfalls ein Anderes und sofort ins Unendliche“ (Enz. § 93, GW 20, S. 130). 282 Vgl. Enz. § 94, GW 20, S. 130 f. und WdL I/1, GW 21, S. 123 f. 283 Dies macht Hegel in den parallelen Ausführungen im Kolleg von 1827 deutlich, wenn er schreibt: „Hier wird von der Negation nur fortgegangen zur immerwährenden Veränderung; diese Affirmation wäre eine Sammlung von unwahren Existenzen, worin der Wechsel das Letzte wäre.“ (VPR 3, S. 315) 284 Mit Bezug auf die analoge Struktur sog. „differente[r] Object[e]“ im „Chemismus“ (Enz.
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einen Nachfolger geben, der zwar eine notwendige, aber niemals hinreichende Bedingung dafür ist, dass diese Entität, das ist, was sie ist, und darin sich selbst entspricht.285 Hat man nun verstanden, wodurch diese Problemstellung generiert wird, dann trägt die potentiell unendliche Wiederholung dieses Umstands, die im o.g. Begriff des ,Unendlichen‘ steckt, überhaupt nichts zu ihrer möglichen Abschließbarkeit bei.286 Gleichzeitig scheint für Hegel ein alternativer Begriff des Unendlichen geradezu unumgänglich zu sein, der auch in der o.g. These (iii) anvisiert wird. Mit den bislang erarbeiteten Ergebnissen könnte man Hegels mögliche Gründe vielleicht auch so wiedergeben: Nimmt man an, es gäbe keine Entität, die nicht im selben Maße der Kette identitätskonstitutiver Verweisungen angehört und daher un-endlich ist, dann gilt für jedes mögliche Endliche, dass die notwendigen Bedingungen seiner Identität und Selbstentsprechung niemals vollständig sein können.287 Wenn aber Identität und Selbstentsprechung schon eine notwendige Voraussetzung für metaphysische Möglichkeit darstellt, dann scheint sich die Ausgangsannahme, die gerade mit dem Gegenteil rechnen muss, direkt selbst aufzuheben.288 Versteht man mit Hegel unter der ,Wahrheit‘ einer Entität, dass sie das wirklich ist und sein kann, was sie ihrer Natur und ihrem ,Begriff‘ nach ist,289 dann lässt sich die daraus resultierende Anforderung an einen echten Begriff des Unendlichen auch so ausdrücken, dass es zumindest eine Entität geben muss, die hinsichtlich ihrer ,Wahrheit‘ nicht im selben Maße auf Endliches angewiesen ist.
§ 200, GW 20, S. 207) spricht daher J. Kreines prägnant vom „insubstantial holism“ (K 2015, S. 181). 285 Analog argumentiert R. Spitzer bzgl. externer ontologische Bedingungen endlicher Entitäten. Vgl. S 2010, S. 116. 286 Entsprechend in seiner Logik-Vorlesung von 1831: „Schon Zeno hat gesagt, ob wir etwas 1000 Mal sagen oder einmal, ist ein und dasselbe.“ (VL 10, S. 118) Dieselbe ZenonReferenz findet sich auch in Hegels Diskussion des ,quantitativen unendlichen Progresses‘ in Enz. § 104A, GW 20, S. 139 f. Der Gedanke scheint hier analog zu der o.g. Prämisse im KA, der zufolge die modalen Eigenschaften eines Aggregats aus denen seiner Teile folgen. Vgl. oben S. 175. 287 Daraus wird vielleicht deutlicher, warum der Abschluss einer solchen Reihe etwas ist, was gewissermaßen durch die Reihe und ihre Elemente gefordert wird, aber in ihrer konstitutiven Endlichkeit nie erreicht werden kann. Dem entspricht bei Hegel die Kategorie des ,Sollens‘: „Als Sollen ist somit Etwas über seine Schranke erhaben, umgekehrt hat es aber nur als Sollen seine Schranke.“ (WdL I/1, GW 21, S. 120) Vgl. hierzu auch W 2010/11, S. 103–105. 288 Eine mögliche Schwäche dieser Prämisse könnte darin liegen, dass durch die Symmetrie der Verschiedenheitsrelation zwei differente Entitäten x und y interdependent sein müssten. Hegel würde darauf vermutlich mit dem Hinweis reagieren, dass die „Sammlung von unwahren Existenzen“ (VPR 3, S. 315) selbst dann qualitativ endlich und beschränkt ist, wenn sie quantitativ unendlich viele, interdependente Elemente hat. Vgl. die analoge Argumentationslinie für externe ontologische Bedingungen in S 2019, S. 430–432. 289 Zu Hegels Begriff der ontologischen Wahrheit vgl. H 2002, S. 189–195 und oben Abschn. I.2.1.
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Zur Beziehung des Endlichen zur Unendlichkeit heißt es daher bei Hegel: „Die Unendlichkeit ist seine affirmative Bestimmung, das, was es wahrhaft an sich ist.“ (WdL I/1, GW 21, S. 125) Da nun der Begriff des Unendlichen weder durch einzelne endliche Individuen noch durch ihre (quantitativ) unendliche Menge erfüllt werden kann, scheint es naheliegend, ein Unendliches zu konzipieren, das vollständig jenseits des Bereichs endlicher Entitäten liegt.290 Für Hegel liegt genau hier der entscheidende, wenn auch besonders lehrreiche Kurzschluss. Denn: Ein solches Unendliches, welches nur ein Besonderes ist, neben dem Endlichen ist, an diesem eben damit seine Schranke, Gränze hat, ist nicht das, was es seyn soll, nicht das Unendliche, sondern nur endlich. (Enz. 95A, GW 20, S. 131)291
Nach Hegel ist die Konzeption eines radikal transzendenten Unendlichen folglich selbstwidersprüchlich, weil durch die Trennung dieselbe Konstellation der identitätskonstitutiven Begrenzung auf höherer Ebene wieder auftritt wie diejenige zwischen endlichen Entitäten, die sich im angegebenen Sinne gegenseitig beschränken. Selbst wenn man aber ein solches isoliertes Unendliches annehmen würde, das keinerlei Beziehungen zum Endlichen besitzt, müsste man nach Hegel mit einem weiteren Selbstwiderspruch rechnen. Denn die Annahme der radikalen Transzendenz würde die ontologische Unabhängigkeit beider Bereiche voraussetzen und diese ist gerade mit der essentiellen Verfassung endlicher Entitäten inkompatibel, die in der Annahme ebenfalls vorausgesetzt wird. In Hegels Worten: In solchem Verhältnisse, wo das Endliche Hüben, das Unendliche Drüben, das erste diesseits, das andere jenseits gestellt ist, wird dem Endlichen die gleiche Würde des Bestehens und der Selbstständigkeit mit dem Unendlichen zugeschrieben; das Seyn des Endlichen wird zu einem absoluten Seyn gemacht […]. (ebd.)292
Hegels Kritik lässt sich damit so zusammenfassen: Die zentrale Anforderung einer überzeugenden Konzeption des Unendlichen besteht darin, dass sie die Selbstentsprechung und Identität endlicher Entitäten trotz ihrer internen Relationen zueinander widerspruchsfrei erklären können muss. Aus der Kritik der Annahme radikaler Transzendenz folgt dabei (i), dass das „wahrhaft Unendlich[e]“ (WdL I/1, GW 21, S. 136) dasjenige, was alle endlichen Entitäten ausmacht, in sich enthalten muss, um nicht im selben Maß Teil des identitätskonstitutiven Verweisungszusammenhangs zu sein.293 Dabei muss es (ii) in einer 290 Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 127. Dies liegt für Hegel schon in der Idee eines geforderten Abschlusses der potentiell unendlichen Reihe: „Das ist nur [ein] Sollen, die unendliche Reihe ist nie fertig, sie ist nie da, sondern sie soll nur sein. Das Unendliche ist draußen, ist vorgestellt als ein Jenseits.“ (VL 10, S. 114; Zusatz in Klammern v. Hrsg.) 291 Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 126 f. Vgl. zu diesem berühmten hegelschen Argument u.a. H 1987, Band 1, S. 169 f., H 2003, S. 192 f., H 2006, S. 403 f., H 2013, S. 142 f. und N 2015, S. 133 f. 292 Vgl. zu dieser Argumentlinie auch W 2010/11, S. 105 f. 293 Man könnte auch sagen, dass das ,wahre Unendliche‘ offenlegt, was Endliches von sich
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Weise aufgefasst werden können, die von vornherein eine vollständige individuelle oder kollektive Gleichsetzung mit dem Endlichen blockiert.294 Daraus ergibt sich die scheinbar paradoxe Struktur eines Unendlichen, das zwar nicht mit dem Endlichen individuell oder kollektiv identisch sein kann, das sich allerdings hinsichtlich dessen, was dieses wesentlich auszeichnet, auch nicht radikal unterscheidet. Es muss damit, in den Worten des Manuskripts „das schlechthin unbeschränkte, aber schlechthin alles in sich befassende Allgemeine, Konkrete“ darstellen, das „die natürliche und geistige Welt nach dem ganzen Umfang und der unendlichen Gegliederung ihrer Wirklichkeit“ (VPR 3, S. 130) umfasst.295 Seine Natur bringt daher in gewisser Weise die Naturen aller von ihm verschiedenen Entitäten vollständig zum Ausdruck, sodass eine identitätskonstitutive Fremdbeziehung – wie in der Konzeption des radikal transzendenten Unendlichen – gar nicht erst aufkommen kann.296 Gleichzeitig muss verständlich gemacht werden, warum diese Konzeption den Fehschluss vermeidet, dieses Unendliche mit der „Sammlung von unwahren Existenzen“ (ebd., S. 315) einfach gleichzusetzen. Denn es ist sicherlich nicht offensichtlich, dass eine solche Konzeption nicht direkt in diejenige Form der „Allesgötterei“ (Enz., GW 20, S. 11 Fn.) kollabiert,297 die man gerade vermeiden wollte. Dieser Schluss lässt sich m.E. aber blockieren, indem man Hegels Konzeption als eine Variation eines Gedankens von Meister Eckhart versteht, dem zufolge Gottes Sein dasjenige ist, was sich gerade „durch seine Ununterschiedenheit“ von
aus ist. Es zeigt damit, dass Endliches von Natur aus so bestimmt ist, dass es auf Unendliches verweist. Dieser Fremdbezug ist daher Teil seiner Selbstbestimmung. Analoges gilt für das Unendliche: Weil es all das, was Endliches seiner Natur nach ist, immer schon zum Ausdruck bringt, ist es – im hegelschen Sinne – im ,Anderen bei sich selbst‘. Der vitiöse Regress entsteht hingegen dadurch, dass essentielle Bestimmtheit ausschließlich als Fremdbestimmung aufgefasst wird. 294 Vgl. zu beiden Punkten auch N 2015, S. 133 f. In Hegels Terminologie könnte man auch sagen, dass das Endliche im Unendlichen ,aufgehoben‘, d.h. sowohl vom Unendlichen sowohl negiert als auch aufbewahrt werden muss. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 94. Dies behauptet Hegel explizit, wenn er am Ende des Kapitels über die ,Endlichkeit‘ sagt, dass „das Ideelle das Endliche“ sei, „wie es im wahrhaft Unendlichen ist“ (ebd., S. 137). Denn Hegel verwendet die technischen Ausdrücke ,Aufhebung‘ und ,Idealität‘ synonym. Vgl. ebd., S. 94. 295 Vgl. VPR 3, S. 140–142. Dem entspricht die in Abschn. I.1.1 eingeführte Bestimmung der ,Totalität‘, die auch und v.a. für die ,absolute Idee‘ geltend sein soll. Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 238 und 251. 296 Daraus folgt für Hegel auch, dass es nicht mehr als ein ,wahres Unendliches‘ geben kann. Zur Einzigkeit Gottes vgl. etwa in VPR 4, S. 35–37 und 293–295. 297 Vgl. N 2015, S. 134–136. Dieselbe Kritik wird in der zeitgenössischen Debatte explizit gegen Wiederaufnahmen von Hegels Idee des ,wahren Unendlichkeit‘ vorgebracht. Vgl. die instruktive Diskussion in R 2007 und B/J 2016. Eine schwächere Variante des Einwands äußert L. Siep, wenn er behauptet, Hegels Konzeption sei mit dem klassischen Gottesgedanken inkompatibel. Vgl. S 2018, S. 754; . 2015, S. 22 und ähnlich auch M 2018, S. 217.
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allem „unterscheidet“298. Denn erstens besteht die Minimalanforderung des Unendlichen darin, dass es nicht im selben Maße qualitativ beschränkt ist wie das Endliche; und das heißt konkret, dass seine Natur nicht in derselben Weise anderes von sich ausschließen und daher nicht im gewöhnlichen, exklusiven Sinne unter eine Art von Entitäten unter anderen fallen kann.299 Das Unendliche ,unterscheidet‘ sich daher schon dadurch, dass die normalen Prinzipien der Differenzierung innerhalb der vollständigen Taxonomie natürlicher Arten auf dieses nicht anwendbar sind.300 Darin besteht die Pointe von Hegels Idee eines „alles in sich befassende[n] Allgemeine[n]“ (VPR 3, S. 130).301 Zweitens soll, wie wir gesehen haben, „[d]ie Unendlichkeit“ die „affirmative Bestimmung“ des „Endliche[n]“ sein, nämlich „das, was es wahrhaft an sich ist.“ (WdL I/1, GW 21, S. 125) Das, was endliche Entitäten ihrer essentiellen Identität nach in ,Wahrheit‘ sind, muss also in der Natur des Unendlichen vollständig und im Wortsinn voll-endet zum Ausdruck gebracht werden.302 Dies ist aber eine Aussage, die für Endliches im Normalsinn unzutreffend ist. Denn dieses ist gerade für Hegel dadurch definiert ist, dass es nicht (immer) in seiner konkreten Wirklichkeit mit dem übereinstimmt, was es seinem objektiven Begriff nach ist.303 Das ,wahrhaft Unendliche‘ unterscheidet sich daher vom Endlichen nicht nur der Vollständigkeit nach, son298 Deus autem indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur, ut ait Thomas p. I q. 7 a. 1 in fine. (LW II, S. 490) Eckhart bezieht sich hier in der Expositio libri Sapientiae explizit auf Thomas’ Konzeption der Unendlichkeit Gottes in STh I. q.7. a.1, auf die unten in III.5.2 eingegangen wird. Zu Hegels Eckhart-Rezeption vgl. H 1997, S. 345. 299 Vgl. VPR 3, S. 140. Analog verteidigt W. Rowe den Panentheismus von Ph. Clayton gegen die Pantheismus-Unterstellung von W.L. Craig. Vgl. R 2007, S. 67. 300 Man könnte daher sagen, dass das Absolute als ,Unendliches‘ nicht unter das oben in Fn. 270 genannte essentialistische Identitätsgesetz fällt. Dieselbe Schlussfolgerung wird auch von gegenwärtigen Denkern gezogen. So bemerkt etwa J. Haldane über ,Gott‘: „He is not a something or other, a this or that; but nor of course is God nothing. Rather we might say, as does Meister Eckhart in a series of fascinating philosophical reflections, that God is nothing.“ (S/H 22003, S. 132) Vgl. auch die Schlussfolgerungen in N 2001, S. 605 und H 2017, S. 165 f. 301 Ähnlich heißt es bei Thomas über Gottes ,Unendlichkeit‘: Deus autem non est in aliquo genere, sed eius perfectio omnium generum perfectiones continet […]. Est igitur infinitus. (SCG I, Kap. 43, S. 166) Das Zitat macht deutlich, dass die eckhartsche Ununterschiedenheit gewissermaßen nur für die generische oder essentielle Identität, nicht aber für die numerische gelten kann. Sonst würde aus den zugelassenen Aussagen: x=y und x=z aufgrund von Symmetrie und Transitivität folgen, dass y=z, wobei zugleich y≠z gelten soll. Zwei Entitäten x und y können in ihrer generischen Identität (partiell) übereinkommen, aber dennoch numerisch verschieden sein. 302 So heißt es im Kontext der oben zitierten Stelle im Manuskript: „Und wenn wir ,Gott‘ sagen, so hat dies die Bedeutung dieser absoluten, allbefassenden Erfüllung. Wahrheit von allem als dieser Welt der Endlichkeit und Erscheinung“ (VPR 3, S. 139). Vgl. zu dieser Anforderung an einen Begriff des Absoluten auch F 1970, S. 172. 303 „Es ist die Definition der endlichen Dinge, daß in ihnen Begriff und Seyn verschieden, Begriff und Realität, Seele und Leib trennbar, sie damit vergänglich und sterblich sind; die abstracte Definition Gottes ist dagegen diß, daß sein Begriff und sein Seyn ungetrennt und untrennbar sind.“ (WdL I/1, GW 21, S. 77)
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
dern auch in der Weise, wie es die Natur des Endlichen zum Ausdruck bringt.304 Schon in diesen Hinsichten scheint daher Hegels Rede vom ,wahren Unendlichen‘ hinreichend differenziert, um dem Einwand zu begegnen, sie kollabiere in eine schlechte Form des Pantheismus. Denn sie macht deutlich, dass das, was das Unendliche seiner Natur nach ausmacht, zwar nicht – hegelisch gesprochen – vom Endlichen ,getrennt‘ werden kann, es aber gerade deswegen von endlichen Entitäten individuell und kollektiv ,unterschieden‘ werden muss.305 Mit dieser knappen Erläuterung ist zwar nicht alles gesagt, was sich im hegelschen Rahmen über den Begriff des ,wahren Unendlichen‘ sagen lässt, den Hegel auch als den „Grundbegriff der Philosophie“ (Enz. § 95A, GW 20, S. 133) bezeichnet. In diesem und in den nächsten Kapiteln werden wir genauer sehen, welche konkreten Konsequenzen man aus diesem Begriff mindestens in der Theorieperspektive ziehen kann. Im vorliegenden Kontext müssen nur zwei Dinge festgehalten werden. Erstens wehrt Hegel explizit die Behauptung ab, das ,wahre Unendliche‘ könne nur von Philosophen aufgefasst werden, die in der Lage sind, eine Kategorientheorie im Stil einer ,Wissenschaft der Logik‘ zu entwickeln. Hegel vertritt vielmehr die These, dass das Verständnis schon implizit in unserem normalen Sprachgebrauch enthalten ist: „Man bedarf“ demnach „nur zu wissen, was man sagt, um die Bestimmung des Endlichen im Unendlichen zu finden.“ (WdL I/1, GW 21, S. 131) Daher mag es auch weniger verwundern, dass der ,metaphysische Begriff‘ des Unendlichen nicht nur im Christentum, sondern auch in den – für Hegel – basalsten Religionsformen eine, wenn nicht die entscheidende konzeptuelle Perspektive auf das Absolute bildet.306 Damit löst Hegel einen Teil seines Programms ein, dass schon dem religiösen Bewusstsein die jeweiligen Konzeptionen des Absoluten zugeschrieben werden können – wenn auch auf verschiedenen Explikationsniveaus.307 304 L. Siep meint hingegen: „Der Begriff der ,wahren Unendlichkeit‘ schließt eine stabile Unterscheidung zwischen dem endlichen Geist des Menschen und dem unendlichen Geist Gottes aus – der letztere wäre nicht unendlich, wenn er etwas Geistiges außer sich hätte.“ (S 2018, S. 754) Nach den obigen Überlegungen könnte Hegel die erste Aussage im Rückgriff auf die zweite bestreiten. 305 Hegel unterscheidet daher die Begriffe ,Unterschiedenheit‘ und ,Trennung‘ (vgl. WdL I/1, GW 21, S. 44 f.) bzw. ,Einheit‘ und ,Identität‘ (vgl. ebd., S. 78 f.) genau voneinander. Vgl. auch ebd., S. 137 f. und Enz. § 95A, GW 20, S. 132 f. 306 Im Christentum taucht der Gedanke des ,wahrhaft Unendlichen‘ für Hegel in Form des Gedankens der Omnipräsenz auf. Enz. § 573A, GW 20, S. 568 und dazu unten Abschn. III.5.2. In der sog. ,Naturreligion‘ bildet sie analog den konzeptuellen Hintergrund für die Überzeugung der anschaulichen Gegenwart des Absoluten. Vgl. Abschn. III.4.2. Dass für Hegel jeweils derselbe Grundbegriff vorliegt, zeigt sich schon in seinem theoretischen Vokabular, das er der WdL entnimmt (vgl. WdL I/1, GW 21, S. 136): In der Perspektive der ,unmittelbare Religion‘ begegnet man etwa in herausragenden Naturobjekten dem „unmittelbar gegenwärtige[n] Gott“ (VPR 4, S. 13; vgl. ebd., S. 429). Für die christliche Konzeption des Absoluten gilt hingegen: „Gott ist überall. Er ist allenthalben gegenwärtig; die Gegenwart Gottes ist eben diese Wahrheit, die in allem ist.“ (VPR 5, S. 215) 307 Wie wir in II.4.2 sehen werden, ist es gerade eine der Pointen Hegels, dass die konkrete
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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Hegels kategorientheoretische Überzeugung, dass Endliches von Natur aus auf das Unendliche verweist, besitzt darüber hinaus zweitens deutliche strukturelle Ähnlichkeiten mit Kants Begriff der omnitudo realitatis. Denn in beiden Begriffen findet man die Annahme wieder, dass die intrinsischen und essentiellen Bestimmungen aller endlichen Individuen in einem Derivationsverhältnis zu einem Strukturganzen stehen, das jene zwar in sich enthalten muss, ohne aber mit deren Summe schlicht zusammenzufallen.308 Eine solche Engführung mag nun sicherlich überraschen, da Hegel gerade den Begriff des Ens realissimum einer scharfen Kritik unterzieht.309 Allerdings deutet er darin schon an, dass der Gedanke der ,wahren Unendlichkeit‘ den Gehalt des traditionellen Begriffs in einer Weise explizieren kann, die seinen eigenen Einwänden gerecht wird – und zwar weil er der hegelschen Vorgabe entspricht, ,Realitäten‘ nicht vollständig negationsfrei aufzufassen.310 Aus dieser Strukturähnlichkeit folgt aber auch, dass Hegels Analyse bislang mehr Kants Ableitung des Gottesbegriffs aus dem Prinzip zur Bildung vollständiger Individuenbegriffe als einem Kontingenzargument ähnelt. Wie kann Hegel aber dann beanspruchen mit seiner kategorientheoretischen Rekonstruktion dem KA gerecht zu werden? Für Hegel selbst scheint dieser Umstand nun kein eminentes Problem darzustellen. Dies hat m.E. zunächst damit zu tun, dass Hegel in seiner eigenen Typologie der Gottesbeweise ganz anderen Kriterien folgt als Kant.311 Wie sich insbesondere in II.4.1 zeigen wird, liegen für ihn die entscheidenden Einteilungsgründe zum einen in der jeweiligen Schlussrichtung und zum anderen in den jeweils verwendeten ontologischen Kategorien, die selbst untereinander in inferentiellen Beziehungen stehen. Gleich im Anschluss an seine Kantkritik rekonstruiert Hegel etwa im Fragment den inferentiellen Übergang vom Endlichen zum Unendlichen durchgängig Totalität des Absoluten nicht nur seine Natur ausmacht, sondern immer zugleich Inhalt seines einfachen Akts der Selbsterkenntnis ist. Von der ,absoluten Idee‘ meint er daher: „Sie ist […] die höchste Kraft oder vielmehr die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“ (WdL II, GW 12, S. 238) Die ,wahre Unendlichkeit‘ ist damit der Inhalt des absoluten ,Begriffs‘ bzw. der ,Idee‘. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 136. Zum Unendlichen als dem Selbstbewusstsein des Absoluten vgl. bes. H 2013, S. 142 f. 308 Im Fragment identifiziert Hegel das ,Unendliche‘ daher mit Kants Begriff des Ens realissimum. Vgl. etwa GW 18, S. 322. 309 Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 99 f. und dazu bes. S 2015, S. 488–495 und M 2020, S. 285–293. 310 Im Rückbezug auf den Gedanken der ,Aufhebung‘ des Endlichen im ,Unendlichen‘ heißt es am Ende des Kapitels über die ,Unendlichkeit‘: „Die wahrhafte Unendlichkeit so überhaupt als Daseyn, als affirmativ gegen die abstracte Negation gesetzt ist, ist die Realität in höherem Sinn, – als die früher einfach bestimmte; sie hat hier einen concreten Inhalt erhalten.“ (WdL I/1, GW 21, S. 136) Dass Hegel trotz seiner Kritik den Gedanken der ,omnitudo realitiatis‘ nicht vollständig verwerfen möchte, betont H.G. Melichar daher m.E. völlig zu Recht. Vgl. M 2020, S. 292 f. 311 Vgl. u.a. etwa Enz. § 50, GW 20, S. 86 f. und VPR 3, S. 308.
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unter dem Titel des „kosmologischen Arguments“ (GW 18, S. 329). Dies rechtfertigt er dabei mit dem Hinweis, dass man die Varianten des KA auf diese Weise „auf die einfachste Form“ (ebd., S. 332) zurückführen könne,312 und greift damit auf sein zweites Einteilungskriterium der Gottesbeweise zurück. Damit meint er genauer, dass andere Formen des KA, die entweder auf globale Kausalprinzipien zurückgreifen oder die modale Dimension des Endlichen zum Inhalt haben, letztlich höhere Explikationsstufen desselben Sachverhalts darstellen.313 Entsprechend ist Hegel der Überzeugung, dass sich die verschiedenen Formen mit einigen begrifflichen Anstrengungen auseinander entwickeln lassen.314 Der inferentielle Übergang von der „Bestimmung des absolut-nothwendigen Wesens“ zur „Bestimmung des Unendlichen“ ist dabei für Hegel – anders als für Kant – geradezu trivial: „[D]enn“ – so Hegel – „alle und jede Beschränktheit enthält eine Beziehung auf ein Anderes und widerstreitet sonach der Bestimmung des Absolut-Nothwendigen und Unendlichen.“ (ebd., S. 322) Wenn man also schon zu der Überzeugung gekommen ist, dass eine Entität mit absoluter Notwendigkeit existiert, dann verpflichtet man sich nach Hegel aufgrund des Inhalts des verwendeten Kategorienbegriffs auf die Annahme ihrer Unendlichkeit – und zwar, weil ein absolut Notwendiges dadurch ausgezeichnet ist, dass es hinsichtlich der Bestimmtheit seiner Natur nicht in derselben Weise auf dasjenige angewiesen sein kann, von dem es sich unterscheidet. Wie sich Hegel aber die umgekehrte Schlussrichtung vom Unendlichen zum absolut Notwendigen genau vorstellt, wird im Rahmen des Fragments nicht hinreichend klar.315 Einen wichtigen Hinweis gibt er allerdings in seiner Replik auf Kants ersten Zusatzeinwand gegen das KA. Dort heißt es:
312 Eine ähnliche Strategie verfolgt Hegel in seiner Rekonstruktion des KA im Kolleg von 1827. Vgl. ebd., S. 318 f. 313 In Anspielung auf den kantischen „kosmologischen Beweis“ heißt es an der zitierten Stelle entsprechend: „Wir haben ihn so auf die einfachste Form zurückgebracht, und gehen den Verwickelungen aus dem Wege, welche durch die weiter bestimmten Reflexions-Formen von dem Bedingtseyn des Unendlichen durch das Endliche oder dem Vorausgesetztseyn desselben durch dieses oder dem Kausalitäts-verhältniß herbeigeführt werden können; alle diese Verhältnisse sind in jener einfachen Form enthalten.“ (GW 18, S. 332) Dass Hegel mit dem „Bedingtseyn“ (ebd.) auf Kants modale Bedingungsreihe verweist, geht aus dem Umstand hervor, dass Hegel Kants ,Vernunftprinzip‘ (vgl. oben II.2.2) explizit in seiner Analyse der Modalkategorien heranzieht und reformuliert: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden sind, so tritt sie in Wirklichkeit […].“ (WdL I/2, GW 11, S. 387) 314 Zum Zusammenhang der Begriffe der ,Endlichkeit‘ und der ,Kontingenz‘ in Hegels Rekonstruktion des KA vgl. VPR 4, S. 295 f. und N 1978, S. 353 f. 315 Dies hat v.a. mit dem Umstand zu tun, dass das vollständige und kohärente Verständnis dieser inferentiellen Brücke unter den Prämissen der beiden Logiken zahlreiche explikative Zwischenschritte benötigt. In der Kleinen Logik liegen etwa zwischen der Entwicklung des Gedankens der ,wahren Unendlichkeit‘ in Enz. § 95 und der Ableitung der Kategorie der ,absoluten Notwendigkeit‘ in Enz. § 149 mehr als fünfzig Paragraphen, deren Inhalt ich hier nicht im Einzelnen rekonstruieren kann.
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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In der That […] ist von dem Endlichen zu zeigen, daß es durch sich selbst, – durch das, was es seyn soll, durch seinen Inhalt selbst zum Anderen seiner, zum Unendlichen sich hinüberbewege […]. Das Zufällige hat dieselbe Natur; es ist nicht nöthig, die Bestimmung der Kausalität für das Andere zu nehmen, in welches die Zufälligkeit übergeht; vielmehr ist dieß Andere desselben zunächst die absolute Nothwendigkeit, und dann sogleich die Substanz. (ebd., S. 324 f.)
Mit dieser Überlegung deutet Hegel an, dass die beiden Übergänge vom ,Endlichen‘ zum ,Unendlichen‘ und vom ,Kontingenten‘ zum ,Notwendigen‘ strukturell identisch sind. Wie Hegel diese These begründen kann, wird dabei deutlicher, wenn man nochmals einen genaueren Blick auf die interne Bezogenheit endlicher Entitäten wirft. Ihr gemäß hängt die essentielle Identität eines Endlichen konstitutiv an der eines anderen Endlichen und in letzter Instanz am Unendlichen. Folglich gilt für Hegel, dass ein Endliches nur dann sich selbst entspricht und entsprechen kann, wenn es in der angegebenen Weise zugleich auf anderes bezogen und darin von ihm abhängig ist. Nun gehört aber Selbstentsprechung und Selbstidentität zu denjenigen notwendigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es eine beliebige Entität überhaupt geben kann. Daher scheint direkt zu folgen, dass jede endliche Entität nicht nur hinsichtlich ihrer Identität, sondern auch hinsichtlich ihrer Existenz von anderen abhängig sein muss.316 Endliche Entitäten bilden daher, wie Hegel sagt, immer „eine Welt gegenseitiger Abhängigkeit“ (Enz. § 123, GW 20, S. 153), die als Ganze eine wesentliche Bedingung ihres Existierens darstellt. Von hier aus wird nicht nur deutlich, dass zwischen endlichen Entitäten spezifisch modale ontologische Abhängigkeitsbeziehungen bestehen müssen. Hegel vertritt sogar noch die stärkere These, dass die Kategorie der „Existenz“ geradezu in diesem „unendlichen Zusammenhang zwischen Gründen und Begründeten“ (ebd.) besteht. Dabei gewinnt er in den Vorgängerparagraphen den Begriff des ,Grundes‘ aus der Relationskategorie der ,Verschiedenheit‘317 und begründet damit seine These, dass die für das KA relevanten Kategorien letztlich
316 Das gleiche Resultat ergibt sich auch im Rückgriff auf die feinkörnigere Analyse von Identitätsabhängigkeit, die E.J. Lowe und T.E. Tahko vorschlagen. Vgl. L/T 2020, Sec. 4.2. Dieser Analyse zufolge ist eine Entität x genau dann von einer andern y hinsichtlich ihrer Identität abhängig, wenn es zur Essenz von x gehört, mittels eines zweistelligen Relationsprädikats R mit y verbunden zu sein. Es liegt aber gerade in dem oben eingeführten Begriff einer ,internen Relation‘, dass es partiell zum Wesen von x gehört von y verschieden zu sein. Identitätsabhängigkeit ist aber für Lowe und Tahko ein Paradigmenfall von Existenzabhängigkeit, sodass es x, wenn es von y identitätsabhängig ist, notwendigerweise nur dann geben kann, wenn y existiert. Vgl. ebd. Setzt man also für die zweistellige Relation in der Analyse ,Verschiedenheit‘ ein, kommt man zur selben Konklusion wie die obige Argumentskizze. 317 Vgl. u.a. Enz. § 120, GW 20, S. 151. Einen von Hegel unabhängigen, aber analogen Gedanken einer ,Welt‘ als ,Begründungsordnung‘ entwickelt neuerdings G. Hindrichs, der hieraus zusammen mit dem Maximalitätskriterium den Begriff ,möglicher Welten‘ entwickelt. Vgl. H 2008, S. 200 f.
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höhere Explikationsstufen der Bestimmungen des Endlichen darstellen. Eine beliebige endliche Entität A kann in diesem Sinne nur so-und-so sein und als solche existieren, weil es mindestens eine von ihr verschiedene endliche Entität B gibt, auf die A ihrer Identität nach intern bezogen ist. Über die kategoriale Einordnung von Zusammenhängen der ,Begründung‘ kann Hegel also nicht nur eine mögliche Brücke zu Leibniz’ Fassung von PZG bauen. Mit diesen komplexen Beziehungen zwischen den Kategorien der ,Verschiedenheit‘, des ,Grundes‘ und der ,Existenz‘ besitzt er zugleich auch die Grundlage für die Explikation der Modalbegriffe, die für das KA relevant sind. Insofern ein X nur das ist, was es ist und als solches existieren kann, wenn es von etwas anderem Y im angegebenen Sinne modal abhängig ist, dann ist dieser Sachverhalt durch Y im hegelschen Sinne relativ notwendig. Relative Notwendigkeit lässt sich dabei für Hegel als „äußere Notwendigkeit“ (VPR 4, S. 296) verstehen, die er bisweilen auch direkt kausal interpretiert.318 Eine solche Engführung ähnelt zwar stark der rationalistischen Überzeugung, dass das Kausalprinzip eine Unterform von PZG darstellt,319 und ist damit auf ein Zusatzargument angewiesen, warum man auch die Wirksamkeit von Entitäten aus ihren identitätskonstitutiven Abhängigkeitsbeziehungen erklären kann. Ein möglicher Grund könnte aber in der Vermutung liegen, dass das, was eine Entität konkret ausmacht, zugleich festlegt, wie es unter bestimmten Umständen mit anderen Entitäten interagiert bzw. interagieren muss.320 In diesem Sinne wird das kausale 318 Vgl. zu dieser Engführung VPR 4, S. 296 und ähnlich auch Enz. § 147, GW 20, S. 167. Hegel setzt dabei, anders als Kant, nicht zugleich eine Regularitätsanalyse von Kausalität voraus (vgl. etwa die Beispiele in WdL I/2, GW 11, S. 399 f.). Daher ist sein Begriff weiter als die heute sog. ,nomologische Notwendigkeit‘. McTaggarts Vermutung, dass Hegels Modaltheorie letztlich nicht viel mehr austrägt als seine Analyse der Relationskategorien und daher durch das letzte Kapitel der Wesenslogik überflüssig wird (vgl. MT 1910, S. 167 f.), ist daher nicht ganz unberechtigt. 319 Zu einer Verteidigung dieser Unterordnung vgl. bes. H 2008, S. 214 f. Hindrichs rekurriert dabei auf die leibnizianische Prämisse, dass Einzeldinge in ihrem vollständigen Individualbegriff immer auf die Gesamtordnung einer möglichen Welt verweisen, die dann ihre kausalen Eigenschaften in allen Umständen genau festlegt. 320 Bisweilen wird argumentiert, dass sich etwa kausale Wirksamkeit aus Dispositionen und Kausalkräften von Individuen erklärt, die sich wiederum aus deren Artzugehörigkeit und Natur ergeben. Vgl. u.a. S 2010b, S. 362 f. Aufgrund des ,kausalen Essentialismus‘ (vgl. ebd., S. 362) könnten daher modale Abhängigkeiten mind. den Rahmen bilden, in denen sich Kausalverhältnisse abspielen (können). Einen ähnlichen Punkt betont zu Recht auch F. Schick und meint aber, dass dadurch nicht nur die Annahme unterminiert wird, dass die Wirklichkeit eines beliebigen Einzeldings vollständig extern durch ein anderes erklärt wird. Vielmehr soll sich damit die Grundfrage des KA als Ganze erübrigen. Vgl. S 2003, S. 55. Dass aus der Tatsache, dass die kausale Wirksamkeit eines Einzeldings (auch) in ihm selbst begründet ist, zugleich eine ebenfalls intrinsische Erklärung seiner ganzen Existenz folgt, kann man aber bestreiten. Es ist aber jedenfalls kein Zufall, dass Hegel die Modalbegriffe im Rahmen der Kategorie der „Wirklichkeit“ (Enz. § 142, GW 20, S. 164) diskutiert, die wiederum zwischen der Kategorie der „Kraft und ihre[r] Aueßerung“ (Enz. § 136, GW 20, S. 160) und Hegels Begriff des „Begriff[s]“ (Enz. § 160, GW 20, S, 177) liegt.
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Verhalten (und vermittelt die Existenz) einer Entität wesentlich durch seine eigene Natur und die Wirksamkeit anderer Entitäten bestimmt. Diese ist damit Teil der kausalen „Umstände“,321 die die Aktivität eines anderen nezessitiert. In Hegels Worten: „[W]enn diese oder jene Umstände konkurrieren, so muß dies oder jenes herauskommen“ (ebd.). Ganz analog zu den Beziehungen zwischen Endlichem lässt sich dabei jedes gegebene modale Bedingungsverhältnis zwischen zwei Entitäten auf potentiell unendlich viele andere erweitern – und dies ist unabhängig davon, ob nun jenes als ,ontologisch‘ im weiten Sinne oder als spezifisch kausal aufgefasst wird. Zudem gilt für Hegel, dass, wenn unter kontrafaktischen Umständen andere Bedingungen erfüllt gewesen wären, eine beliebige Entität sich jeweils auch anders hätte verhalten322 bzw. auch nicht hätte existieren können. Zwei voneinander modal abhängige Entitäten sind folglich in dieser Hinsicht kontingent.323 In Abgrenzung zum Begriff von reinen spontanen Ereignissen erläutert Hegel den hier verwendeten Kontingenzbegriff im Manuskript daher wie folgt: Zufälliges Sein, d.h. nicht das überhaupt ebensogut so als so sein kann – reiner Epikuräischer Zufall –, sondern das einen Grund haben soll, d.h. schlechthin bedingt durch Anderes ist, seinen Grund nicht in ihm selbst hat – aber das Andere ebenso im Anderen. (VPR 4, S. 39)324
Nimmt man die bisherigen Überlegungen zusammen und blickt nur auf die modalen Beziehungen zwischen Endlichem, dann folgt erstens, dass jede endliche Entität notwendigerweise nur dann so-und-so sein und als solche existieren kann, 321
Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 387. Kausale Notwendigkeit im angegebenen Sinne lässt daher für Hegel trivialerweise Spielraum für Koinzidenzen. Vgl. VPR 4, S. 297 und M 2020, S. 426. 323 Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 384 und VPR 4, S. 296. Die hier vorgeschlagene Deutungslinie stellt allerdings die Reihenfolge des hegelschen Argumentationsverlaufs um. In der WdL gewinnt Hegel die letztgenannte Definition des Kontingenten zunächst aus einer kritischen Würdigung des Konsistenzkriteriums für logische Möglichkeit (im engeren Sinne). Der Kerngedanke ist hier, dass Selbstidentität kein hinreichendes Möglichkeitskriterium sein kann. Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 382; ferner MT 1910, S. 163 und M 2020, S. 416–418. Denn wenn für jedes Mögliche gelten muss, dass es möglicherweise aktual ist (vgl. WdL I/2, GW 11, S. 383 f. und A 1974, S. 222 f.), dann scheint jede bloße Möglichkeit unmöglich zu sein. Hegel glaubt daher im Begriff der Kontingenz eine bessere Explikationskategorie zu finden. 324 In seiner Analyse der Kontingenzkategorie in der WdL behauptet Hegel, jedes Mögliche, dessen Aktualität und Nicht-Aktualität gleichermaßen möglich ist, besitze – wenn es aktual ist bzw. wird – sowohl einen Grund als auch keinen Grund hat – wenn es möglich bleibt. Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 384. McTaggart hat hier zu Recht eingewandt, dass letzteres nur dann sinnvoll ist, wenn das Begründetsein wie die Grundlosigkeit auf unterschiedliche Hinsichten verteilt werden: „This, by itself, would suggest that it had a Ground and had not a Ground in the same sense, and that a contradiction arose here which which would have to be transcended. But his previous argument […] makes it clear that he only means that the Contingent has not a Ground within itself, and that it has a Ground outside itself.“ (MT 1910, S. 165) Die oben zitierte Passage vermeidet m.E. diese Missverständnisse. 322
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wenn sie in den genannten Hinsichten in modalen Beziehungen zu einer anderen Entität steht. Da von dieser Entität aber dasselbe gilt und derselbe Typ von Abhängigkeit daher unabschließbar oft auftreten muss, folgt zweitens, dass jeder beliebige bestehende Sachverhalt innerhalb einer Bedingungsreihe im engen Sinne kontingenterweise besteht. Hegel gibt nun an einigen Stellen zu verstehen, dass der Gedanke des ,kontingent Notwendigen‘ mit derjenigen Auffassung der Notwendigkeit inkompatibel ist, aus der er eigentlich erst gewonnen wird.325 Dies wird etwa durch Hegels Kommentar zum „Obersatz“ des KA im Kolleg von 1824 deutlich. Dort heißt es: Die zufälligen Dinge haben Ursachen, sind notwendig; das, wodurch sie äußerlich notwendig sind, kann selbst nur wieder ein Zufälliges sein; so wird man von den Bedingungen, wodurch sie notwendig sind, weitergeschickt in den unendlichen Progreß. Der Satz [= „die zufälligen Dinge setzen eine absolut notwendige Ursache voraus“, W.L.] schneidet dies ab und hat so vollkommen Recht. Ein nur zufällig Notwendiges wäre keine Notwendigkeit überhaupt; die reale Notwendigkeit ist diesem Satz entgegengesetzt. (ebd., S. 300)
Es ist nicht leicht zu sehen, wie Hegel die Inkohärenz des Begriffs der ,kontingenten Notwendigkeit‘ aufweist und wie man damit den Begriff ,absoluter Notwendigkeit‘ explizit machen kann. Eine mögliche Begründung deutet sich aber an, wenn man nochmals die obige Überlegung mit ins Spiel bringt, dass die Identität und die Existenz einer beliebigen einzelnen, endlichen Entität durch die aller anderen bedingt ist. Wir haben schon gesehen, dass sich aus identitätskonstitutiver Abhängigkeit eine Art Verweisungsstruktur ergeben muss. Und da sich diese Abhängigkeit für Hegel modal interpretieren lässt, scheint sich eine analoge Struktur auch im vorliegenden Fall zu ergeben. Daher liegt der Schluss nahe, dass bei der Frage nach der Ermöglichung und Verwirklichung der Identität und Existenz eines einzelnen Endlichen ein Perspektivenwechsel stattfinden muss, der die Möglichkeit und Wirklichkeit der Teile zunächst wesentlich vom Ganzen des Bedingungsverhältnisses versteht.326 Gleichzeitig muss für Hegel aber schon die Ermöglichung ein notwendiger Sachverhalt sein. Denn ohne Selbstentsprechung und -identität ist die Existenz einer jeden beliebigen Entität ja gerade unmöglich. Würde es aber nur ,kontingent Notwendiges‘ im hegelschen Sinne geben, dann könnte auch der Perspektivwechsel diese Bedingung nicht einlösen. Denn jede mögliche Reihe, die ein Strukturganzes ausmachen würde, wäre prinzipiell un-
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Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 388 f. So schreibt McTaggart über Hegels Übergang von ,relativer’ und absoluter ,Notwendigkeit’: „The transition seems to consist in the fact that if we took all Existence as a whole it would form a Necessity which was not Contingent, but which had Contingency as an element within itself. It would not be Contingent, for it would have no Ground outside itself. But Contingency would be an element in it, because each part of it would be determined by other parts of it. Each part then would have its Ground outside itself, and, looked at separately, would be Contingent.“ (MT 1910, S. 167) Die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels betonen zu Recht auch andere Interpreten. Vgl. u.a. W 1984, S. 977 f. und M 2020, S. 424. 326
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abschließbar und der Blick auf das Ganze könnte damit nicht erklären, warum es überhaupt in einem einzelnen Fall zu einer (möglichen) Existenz endlicher Entitäten kommen sollte.327 Damit wiederholt sich sogleich auf modaler Ebene die Problemstellung, die sich schon oben aus dem Begriff des Endlichen ergab. Dabei hatte sich gezeigt, dass die Annahme eines radikal verschiedenen Unendlichen ebenso wenig eine befriedigende Lösung darstellt wie der Blick auf eine potentiell unendliche Reihe endlicher Entitäten. Analoges lässt sich daher für die Suche nach einer Erklärung modal abhängiger und kontingenter Entitäten sagen: Denn wie ein kohärenter Begriff des Unendlichen keine radikale Trennung implizieren darf, so kann das absolut Notwendige nicht jenseits des Bereich des Zufälligen stehen, weil es sonst in dieselben identitätskonstitutiven Beziehungen und damit in die Inkohärenz zurückfallen würde, die dieser Begriff gerade vermeiden wollte.328 Ein Begriff des Absoluten muss daher strukturell genauso verfasst sein, wie der Gedanke des ,wahrhaft Unendlichen‘. In diesem Sinne wäre die Sphäre des Kontingenten nicht etwas radikal anderes, sondern vielmehr in gewisser Weise Teil dessen, was das Absolute selbst ausmacht. Jede scheinbar auftretende Fremdbeziehung zum Kontingenten wäre daher geradezu der Ausdruck der Selbstbeziehung und Selbstentsprechung des Absoluten,329 als deren Moment die Relation zum Anderen folglich verstanden werden muss.330 Von der ,absoluten Notwendigkeit‘ heißt es daher in der WdL: 327 Daraus wird ersichtlich, dass McTaggarts negative Definition von ,absoluter Notwendigkeit‘ – als die Abwesenheit ,äußerer‘ Existenzgründe (vgl. Fn. 326) – allein nicht hinreichend sein kann. Zudem macht sich McTaggarts Definition gleich von zwei Seiten angreifbar: Ein Vertreter des traditionellen KA könnte festhalten, dass die modalen Eigenschaften der Teile sich in ihrer mereologischen Summe nicht ändern können. Und Kant könnte im Anschluss an den Einwand ,aus der falschen Selbstbefriedigung‘ zu Recht monieren, dass die bloße Negation äußerer Begründung des Ganzen gerade das explicandum darstellt und daher nicht als Argument für die Notwendigkeit des Ganzen angeführt werden kann. 328 Zudem würde die radikale Transzendenzthese nur unter der selbstwidersprüchlichen Annahme vertretbar sein, dass es Kontingentes gibt, das zum Absoluten in keiner Beziehung steht und damit unabhängig ist. Vgl. oben S. 239. In den Worten J.N. Findlays ausgedrückt: „[A]n Absolute not only excludes the existence of other Absolutes external to itself, but also excludes the existence of contingencies external to itself. All contingencies must be its contingencies, ways in which our Absolute has manifested itself, not independent existences or circumstances clustering about it or peopling its interstices. “ (F 1970, S. 201; vgl. auch ebd., S. 26) 329 Vgl. Enz. § 149, GW 20, S. 169. Zum selben Schluss kommt auch H.G. Melichar in seiner Rekonstruktion, die auf einem indirekten Argument für die Selbstbegründung des Absoluten aus der Selbstaufhebung der Vermittlung des Zufälligen beruht. Vgl. M 2020, S. 427 f. 330 Die ,Aufhebung‘ der Fremdbeziehung ist daher das, was das Absolute eigentlich ausmacht. In den Worten der Gottesbeweisvorlesungen: „Auch diese beiden Momente der Nothwendigkeit in ihr Vermittelung mit Anderem zu seyn und diese Vermittelung aufzuheben und sich als sich selbst zu setzen, eben um ihrer Einheit willen, sind nicht gesonderte Akte. Sie bezieht in der Vermittelung mit Anderm sich auf sich selbst, d.i. das Andere, durch das sie sich mit sich vermittelt, ist sie selbst […].“ (GVL, GW 18, S. 285)
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Sie ist daher es selbst, welche sich als Zufälligkeit bestimmt; – in ihrem Seyn sich von sich abstößt, in diesem Abstossen selbst nur in sich zurükgekehrt ist, und in dieser Rükkehr als ihrem Seyn sich von sich selbst abgestossen hat. (WdL I/2, GW 11, S. 390)331
C. Religiöses Bewusstsein, natürliche Theologie und spekulative Logik Mit der obigen Rekonstruktion von Hegels Argumentationsgang lassen sich abschließend drei Punkte festhalten, die sich für die Gesamtfragestellung der Studie als entscheidend erweisen. Erstens lassen sich jetzt die Beziehungen der religiösen Begründungsform zu klassisch indirekten Beweisen und zu retorsiven, transzendentalen Argumenten präziser fassen. Allgemein wurde deutlich, dass Hegel seine Überzeugung vom notwendigen Verweis aller Entitäten auf das Absolute aus einer detaillierten Analyse der kategorialen Verfassung endlicher und kontingenter Individuen gewinnt. Die konkreten, für das KA entscheidenden modalen Bestimmungen ergaben sich dabei selbst als Inhalt einer höherstufigen Explikation, die schon ein Wissen um das, was es heißt, endlich zu sein, voraussetzen muss.332 Mit diesem Verfahren kann man (i) erklären, warum Hegel bei seiner kategorientheoretischen Interpretation des KA nicht etwa mit der Kategorie der ,Kontingenz‘, sondern mit der ,Endlichkeit‘ beginnt. Denn in der Theorieperspektive betrachtet setzt diese Kategorie weniger explikative Mittel voraus, während die Analyse modaler Eigenschaften wiederum auf ein genaues Verständnis von ontologischen Begründungsbeziehungen angewiesen ist.333 Damit zeigt sich (ii), warum Hegel der Meinung sein kann, eine Kategorientheorie könne die Intuitionen, die hinter einem KA stehen, besser einholen als dieses selbst. Die im KA verwendeten Prinzipien wie PZG,334 die jeweils zur gewünschten Konklusion führen sollen, erweisen sich damit nämlich als Explikate dessen, was in der Konstitution endlicher und kontingenter Individuen selbst schon liegt. Die Prinzipien lassen sich daher für Hegel schon von dorther begründen und müssen nicht gesondert als Zusatzprämissen in direkten Schlüssen eingeführt werden. Schließlich können sich (iii) retorsiv-transzendentale Argumente das entwickelte kategoriale Wissen in doppelter Hinsicht zunutze machen: Zum einen ergibt sich mit ihm ein möglicher Grund, warum sich nach Hegel eine Aussage wie ,(Nur) Endliches existiert‘ geradezu selbst aufheben muss. Jede kohärente Behauptung über End331
Vgl. auch Enz. § 149, S. 169 und VPR 4, S. 302. Wenn schon ein Wissen um die Grundzüge modaler Bestimmungen vorhanden ist, kann der Schluss auch in die andere Richtung gehen, wie Hegel im Fragment ausführt. S. oben S. 244. 333 Dem entspricht Hegels Überzeugung, dass Definitionen und Begriffsexplikationen mit möglichst wenig voraussetzungsreichen Analysemitteln verfahren müssen, d.h. mit den ,einfachsten‘ Begriffen beginnen sollten. Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 215 f. und 239. 334 Von hier aus wird auch verständlich, warum für Hegel PZG trivialerweise wahr ist, wenn er auch mit Leibniz der Meinung ist, dass ein vollständiges Verständnis eine Einsicht in dessen teleologische Dimension voraussetzt, die erst auf begriffslogischem Niveau erreicht werden kann. Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 293. 332
2.5 Hegels Interpretation des kosmologischen Arguments
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liches und Kontingentes hängt dann an dessen Selbstentsprechung, die für Hegel ohne den impliziten Bezug zum Absoluten metaphysisch unmöglich ist.335 Zum anderen sind Kategorien wie ,Endlichkeit‘ und ,Kontingenz‘, wie oben betont wurde, auch notwendige Voraussetzungen eines erfolgreichen, propositionalen Objektbezugs. Denn jede beliebige wahre Alltagsbehauptung über empirische Individuen präsupponiert, dass diese Individuen schon in der Urteilsbildung als endlich und möglicherweise nicht-existent aufgefasst werden können. Die oben vorgeschlagene Deutung ist damit nicht nur mit den Intuitionen kompatibel, die hinter der Engführung mit retorsiven Argumenten stehen. Sie bietet zugleich zweitens eine gute Interpretationsgrundlage für Hegels religionsepistemologische These, dass diese Begründungsform die „wahrhafte Natur des wesentlichen Denkens“ darstellt, in dem die „Erhebung des Geistes von der Welt zu Gott“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 88) bestehen soll. Denn es sind, wie wir gesehen haben, die ontologischen Verweisungsverhältnisse, die Person in der regelgeleiteten Verwendung kategorialer Ausdrücke darauf festlegen, in Urteilen über Endliches und Kontingentes den Bezug zum Absoluten anzuerkennen. Religiöses Denken zeichnet sich dann insbesondere dadurch aus, dass die Kenntnis der inferentiellen Rolle des Begriffs des Endlichen in der Urteilspraxis konsequent umgesetzt und der jeweilige Bezug zum Absoluten darin zumindest im Ansatz transparent wird. Eine solche regelbewusste Urteils- und Erkenntnisbildung setzt nicht voraus, dass dieses mindestens implizite Wissen auch tatsächlich immer explizit in Aussagen zweiter Stufe thematisch wird bzw. werden kann.336 Da aber die korrekte Verwendung von Kategorien in Erkenntnisakten für Hegel unausweichlich ist, kann er eine Theorie anbieten, wie aus der nicht-bewussten Kenntnis der kategorialen Bestimmungen konzeptuelle Perspektiven auf das Absolute entstehen können. Demnach verhilft das kategoriale Wissen dazu einzusehen, dass es zur Natur des Absoluten gehört, ,wahrhaft unendlich‘ zu sein und mit metaphysischer Notwendigkeit zu existieren.337 Da beides den Hintergrund für 335 Die Konsequenzen dieser These drückt M. Westphal auch so aus: „To see the world as finite is already to have made the move to the Infinite, for it is only in the light of the latter that the former reveals itself as such.“ (W 1974, S. 46) 336 Auf die Rolle ,impliziten Wissens‘ in der religiösen Überzeugungsbildung hat neuerdings auch N. Mooren hingewiesen. Vgl. M 2018, S. 80 f. 337 Dabei mag es vermutlich irritierend wirken, dass Hegel die Natur kontingenter Einzeldinge mit der Natur des Absoluten so eng aneinander zu binden scheint, dass jene geradezu eine Form der ,Selbstentfremdung‘ und ,Entäußerung‘ des Absoluten darstellen. Diese Idee drückt J. N. Findlay prägnant auch so aus: „[T]he absolute must alienate itself in limited, instantial forms so that it may steadily reduce and overcome their alienation, and in so doing truly possess and enjoy and recognize itself.“ (F 1970, S. 182) Diese Aussage, auf die wir in unten III.5.4 zurückkommen, verliert m.E. ihren scheinbar heterodoxen Charakter, wenn man Hegels Überzeugung mit hinzunimmt, dass sich die ,Entäußerung‘ in der Selbstbeziehung des Absoluten immer schon vollzogen hat, ,bevor‘ sie im Denken des Absoluten endlicher Wesen eingesehen wird. Vgl. Enz. § 577, GW 20, S. 570 f. und unten Abschn. III.5.5. Dies scheint eine der wesentlichen Pointen von Hegels Deutung der ,immanenten Trinität‘ zu sein.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
die mitlaufende Überzeugung von der ontologischen Abhängigkeit endlicher Entitäten bildet, zeigt das so verfasste Absolute für Hegel die „Macht“ (VPR 3, S. 140) über seine eigene Existenz wie über diejenige aller von ihm unterschiedenen Entitäten.338 Diese Theorie theologischer Begriffsbildung hat im hegelschen Rahmen rechtfertigungstheoretische Konsequenzen. Denn das Wissen um die Unendlichkeit, Notwendigkeit und Aseität des Absoluten soll sich gerade einer echten Einsicht in das verdanken, was es genau für eine Entität heißt, endlich und kontingent zu sein. Mit der Kenntnis der Konsequenzen, die mit der korrekten Anwendung der Begriffe des Endlichen einhergehen, besitzen religiöse Personen damit de facto immer schon Gründe, in der Existenz kontingenter Individuen den notwendigen Bezug zum Absoluten zu sehen.339 Die Überzeugung von der Wirklichkeit des Absoluten ist in dieser Perspektive die Einlösung der Verpflichtung, die man genau dann übernimmt, wenn man nur eine einzige Entität korrekt als endlich und kontingent einordnen kann.340 Diese Begründung ist Personen daher schon mit der Bildung ihrer jeweiligen Überzeugung gegeben und steht ihnen auch dann zur Verfügung, wenn sie selbst nicht dazu in der Lage sein sollten, sie detailliert und vollständig in eine Schlussform zu übersetzen.341 Damit lassen sich schließlich drittens Hegels Aussagen präziser fassen, wie sich religiöses Denken, natürliche Theologie und spekulative ,Logik‘ genau zueinander verhalten. In diesem und im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass es für Hegel mindestens zwei Wege gibt, die jeweils schon vorhandene inferentielle Begründungsbasis zu artikulieren und als solche vollständig ausdrücklich zu machen.342 (1) kann man sie in die Form eines hypothetischen Syllogismus überfüh-
338 Vgl. ferner u.a. VPR 4, S. 34, 282; und Enz. § 151, GW 20, S. 170. Hegels Engführung von ,Macht‘ und ,absoluter Notwendigkeit‘ und ,Aseität‘ ist vermutlich von Spinoza inspiriert. Vgl. Spinoza, Eth. I, prop. 34, S. 77. Ähnliche Überlegungen findet man etwa in P 1964, S. 98 f. 339 Daher kann Hegel sagen, dass jede Stufe seiner Kategorientheorie der Logik „eben so sehr von ihrem Ausgangspunkte aus einen metaphysischen Begriff von Gott, und indem diese Erhebung in ihrer Notwendigkeit gefaßt ist, einen Beweis seines Seyns [enthält]“ (GVL, GW 18, S. 278). Die These, dass Hegels kategorientheoretische Interpretation des KA in den Gottesbeweisvorlesungen die Existenz des Absoluten nicht nur bewusst offen lässt, sondern sogar abweist (vgl. S 2003, S. 56), ist daher keine alternativlose Interpretationsoption. 340 Diesen Zusammenhang zwischen begrifflichen Verpflichtungen und der Begründung von Aussagen macht R. Brandom deutlich, wenn er schreibt: „For a commitment to become explicit is for it to be thrown into the game of giving and asking for reasons as something whose justification, in terms of other commitments and entitlements, is liable to question.“ (B 2001, S. 76) 341 Diese These verhält sich daher analog zu C.S. Peirces Unterscheidung zwischen ,Argumenten‘ und ,Argumentationen‘, die oben auf S. 5 Fn. 12 zitiert wurde: „An ,Argument‘ is any process of thought reasonably tending to produce a definite belief. An ,Argumentation‘ is an Argument proceeding upon definitely formulated premisses.“ (CP 6.456) 342 Dies wäre demnach ein gutes Beispiel dafür, was R. Brandom an anderer Stelle „[e]lucidative [r]ationality“ (B 2001, S. 56) nennt.
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien
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ren, wie dies nach Hegel und Kant die Formen des KA tun. In ihm wird der eingesehene Verweisungscharakter des Endlichen in einer Konditionalaussage der Form: ,Wenn Endliches und Kontingentes existiert, dann auch das Absolute‘ formuliert.343 Zusammen mit der Überzeugung, dass mindestens eine Entität endlich und kontingent ist, ergibt sich damit eine mögliche Form der argumentativen Rechtfertigung, die allerdings dann unter den kritischen Vorbehalten steht, die in II.2.4 entwickelt wurden. Solche Schwierigkeiten lassen sich nach Hegel aber (2) durch eine kategorientheoretische Interpretation der konkreten Anwendung der modus-ponens-Regel im KA vermeiden. Darin wird die Schlussform selbst in einer meta-theoretischen Perspektive analysiert, um von dort aus deren eigentlichen Schlussgehalt zu explizieren, den ein KA nach Hegel nur unvollkommen und defizient ,auslegt‘ und ,beschreibt‘. Eine Kategorienlehre in Hegels Sinne kann daher in einer Reflexion dritter Stufe gewissermaßen zu dem zurückkehren, was Personen implizit schon eingesehen haben, sobald sie Grundmomente des Absoluten zu verstehen beginnen. Wir werden unten in Kap. III.2 sehen, wie man den impliziten Charakter religiöser Begründungen vor diesem Hintergrund zu verstehen hat, die sich nach Hegel „bewußtlos in unserem Geist“ (VPR 3, S. 316) vollziehen. Akzeptiert man aber die bislang rekonstruierten hegelschen Rahmenannahmen, dann wird man der idiosynkratischen These nicht mehr ganz fremd gegenüber stehen, dass „die Explikation der Beweise vom Dasein Gottes, dieses vermittelten Wissens, […] die Explikation der Religion selbst“ (ebd., S. 310) darstellt. Denn dann sind „die sogenannten Beweise vom Daseyn Gottes, welche von dem endlichen Seyn ausgehen, diese Erhebung ausdrücken“, wie Hegel in der Enzyklopädie erklärt, keine Erfindung einer künstelnden Reflexion, sondern die eigenen, nothwendigen Vermittlungen des Geistes […], wenn sie auch in der gewöhnlichen Form jener Beweise nicht ihren vollständigen und richtigen Ausdruck haben. (Enz. § 68A, GW 20, S. 109 f.)
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien und die rechtfertigungstheoretischen Konsequenzen Hegels Interpretation des KA hat nur dann eine Chance, zumindest die prima facie-Begründung religiöser Überzeugungen nachzuweisen, wenn man zugleich plausibel machen kann, dass möglichen Kritikern keine starken Gegengründe zur Verfügung stehen. Wie in den letzten beiden Abschnitten gezeigt wurde, erweist sich unter den kantischen Einwänden nur die Kritik an der ,falschen Selbstbefriedigung der Vernunft‘ als aussichtsreich. Gerade in dieser Hinsicht besitzen
343 Zur Rolle von Konditionalen in der Explikation konzeptueller Verpflichtungen vgl. ebd., S. 70 f.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Hegels Analysen religiöser Begründungsformen aber interessante Konsequenzen: Wenn es tatsächlich der Fall sein sollte, dass eine Behauptung wie ,Endliches und Kontingentes existiert‘ dann und nur dann wahr und kohärent sein kann, wenn diese zugleich die Existenz des Absoluten präsupponiert, dann scheint sich der kantische Einwand geradezu gegen sich selbst zu kehren. Denn dann ist es gerade die Ausgangsannahme die unter der Negation des Absoluten als problematisch und klärungsbedürftig erscheint, nicht aber die Existenz des Absoluten selbst. Dessen implizites Verständnis muss dann schon vorausgesetzt sein, wenn man die scheinbar trivialere Aussage formuliert, dass es Kontingentes gibt. Unter hegelschen Prämissen scheint damit Kants These hinfällig, dass sich eine informative Erklärung der Existenz des Absoluten immer parasitär gegenüber der Kausalerklärung endlicher Individuen verhalten muss, weil in ersterer die Kriterien gewöhnlicher Erklärungstypen lediglich verneint werden. Es sind vielmehr die Negationen von Bestimmungen des Absoluten, die es uns ermöglichen, zu verstehen und einzusehen, was es heißt, endlich zu sein und kontingenterweise zu existieren. Hegel ist daher in der WdL auch so konsequent, die Modalkategorien im Anschluss an seine Begriffsexplikation des Begriffs des ,Absoluten‘ zu analysieren: ,Möglichkeit‘, ,Kontingenz‘ und ,Notwendigkeit‘ sind für ihn folglich kategoriale Ausdrücke, deren korrekte Verwendung schon ein implizites Wissen um die Natur des Absoluten voraussetzt.344 In kantischen Termini formuliert bedeutet dies, dass dieses Wissen des Absoluten ein konstitutives und nicht ein bloß regulatives Prinzip jeglicher Erkenntnisbildung darstellen muss. Denn modale Bestimmungen gehören auch nach Hegel zu denjenigen Kategorien, ohne die ein erfolgreicher Gegenstandsbezug in wahren Urteilen gerade unmöglich wäre. Eine solche Zuspitzung rechtfertigt sich dabei nicht nur durch Hegels komplexe Modaltheorie. Sie kann sich darüber hinaus auf ein indirektes Argument stützen, das Hegel im Fragment im Anschluss an seine Diskussion der kantischen Einwände gegen das KA entwickelt. Darin versucht er zu zeigen, dass Kants Abstufung des Begriffs der absoluten Notwendigkeit zu einem ,regulativen Prinzip‘ keine stabile Position darstellt und folglich auch nicht das Wahrheitsmoment religiöser Erkenntnisbildung einholen kann.345 Da Hegels Überlegungen interes344 Vgl. WdL I/2, GW 11, S. 380 f. Die Intuition, dass die absolute Notwendigkeit Gottes zugleich die Norm für Modalitäten bildet, findet sich auch in gegenwärtigen Vorbehalten gegenüber modalen Varianten des OA wieder. So heißt es etwa bei D.B. Hart: „God is not a being who might and therefore must exist, but is absolute Being as such, apart from whom nothing else could exist, as either a possibility or an actuality.“ (H 2013, S. 122) Vgl. auch die analoge Kritik in S/H 22003, S. 242. Gottes Existenzform bildet damit den letzten alethischen Maßstab für modale Aussage überhaupt. Sie ist folglich, wie B. Leftow mit Bezug auf Thomas bemerkt, der „single simple truthmaker for all modal truths“ (L 2005b, S. 177). Vgl. zu dieser Theorie auch O 2007, S. 127 f. 345 Eine verwandte Kritik entwickelt auch N. K. Smith, wenn er im Aufbau von Kants ,transzendentaler Dialektik‘ zwei miteinander in Spannung stehende Annahmen herausstellt: Die erste, von Smith ,skeptisch‘ genannte These nimmt unserer scheinbares Alltagsverständ-
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien
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sante epistemologische und rechtfertigungstheoretische Schlussfolgerungen erlauben, sollen diese abschließend erörtert werden. Wie wir im Abschluss von Abschnitt II.2.2 gesehen haben, war Kants entscheidender Gedanke, dass PZG nur dann kohärent aufgefasst werden kann, wenn man es nur als eine hypothetische Annahme betrachtet, die uns zu verstehen verhilft, unter welchen Bedingungen eine Erklärung kontingenter Existenztatsachen tatsächlich abgeschlossen wäre. Eine solche Annahme ist nur dann notwendig, wenn man dem Vollständigkeitskriterium gerecht werden will, das für den Systematisierungswillen unseres diskursiven Denkens entscheidend ist. Gleichzeitig kann für Kant kein Schluss auf das Ens necessarium einen Erkenntnisanspruch einlösen. Denn dies würde den Einwänden widersprechen, die Kant für schlagend hält. PZG kann demnach unter keinen Umständen ein konstitutives Prinzip objektiver Erkenntnis darstellen. Zu dieser kantischen Lösung, die rationalistischen und empiristischen Intuitionen gleichermaßen Rechnung tragen will, bemerkt Hegel nun kritisch im Fragment: Weiter folgert dann Kant, ,daß keiner dieser beiden Grundsätze, der Zufälligkeit und der Nothwendigkeit, objektiv sey, sondern sie allenfalls nur subjektive Principien der Vernunft seyn können, – nämlich einer Seits niemals anderswo, als bei einer a priori [Hervorhebung im Original fett, W.L.] vollendeten Erklärung aufzuhören, anderer Seits aber auch solche Vollendung niemals zu hoffen, nämlich im Empirischen nicht.‘346 – So ist also der Widerspruch ganz unaufgelöst gelassen und behalten, aber von den Dingen ist er in die Vernunft geschoben. Wenn der Widerspruch, wie er hier dafür gilt, und wie er auch ist, wenn er nicht zugleich aufgelöst ist, – ein Mangel ist, so wäre der Mangel in der That eher auf die sogenannten Dinge […] zu schieben, als auf die Vernunft, welche, wie Kant selbst sie ansieht, das Vermögen der Ideen, des Unbedingten, des Unendlichen ist. In der That aber vermag die Vernunft allerdings den Widerspruch zu ertragen, jedoch freilich auch zu lösen, und die Dinge wenigstens wissen ihn auch zu tragen, oder vielmehr sind nur der existirende Widerspruch […] – und nur insofern sie vernünftig sind, lösen sie denselben zugleich auch in sich auf. (GW 18, S. 327 f.)
Grob gesprochen finden sich in dieser dichten Passage drei für uns relevante Behauptungen: Erstens meint Hegel, dass die Widersprüche, die Kant gerade auflösen möchte, auch dann bestehen bleiben, wenn man sie von der Außenwelt in die Erkenntnispraxis rationaler Subjekte verlegt. Dies geht aber zweitens schon deshalb an den Tatsachen vorbei, da sich kontradiktorische Spannungen ohnehin
nis der Modalkategorien zur Grundlage ihrer Leugnung unbedingter Notwendigkeit; während die letztere ,idealistische‘ unsere modalen Intuitionen umgekehrt vom Unbedingten her versteht und entsprechend jeden empiristischen Reduktionsversuch verwirft. Vgl. S 2 1992, S. 425–431, bes. S. 429–431. R. Williams hat zu Recht auf die Relevanz dieser Überlegung für die Hegelexegese hingewiesen (vgl. W 2017, S. 25–30), da man Hegels Kritik gerade so verstehen könnte, dass es systematisch gesehen keine dritte kantische Position neben der ,idealistischen‘ und ,skeptischen‘ geben kann. Vgl. auch ebd., S. 29. 346 Hegel zitiert hier Kants Aussagen in KrV A 616/B 644.
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2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
in den ,Dingen‘ nachweisen lassen,347 die nur im Rückbezug auf das Unendliche gelöst werden können. Und da Hegel Kant die Meinung zuschreibt, Unendliches und Unbedingtes könne mittels der Vernunft tatsächlich aufgefasst werden,348 müsste drittens auch Kant sehen können, wie die Widersprüche eigentlich gelöst werden müssten. Die erste Behauptung zeigt damit, dass Kants ,Subjektivierung‘ der Vernunftprinzipien unter keinen Umständen die Zielsetzung erfüllt, die Kant mit ihr verfolgt. Mit den beiden letzten Thesen meint Hegel hingegen, dass Kants eigene Vernunftkonzeption schon den Lösungsansatz enthält, der sich allerdings im Theorierahmen der KrV nicht vollständig formulieren lässt. Was mit letzterer These gemeint ist, lässt sich schnell im Rekurs auf die obigen Überlegungen klären, die zugleich mögliche Missverständnisse aus dem Weg räumen. Denn die Aussage, dass alle Dinge „der existirende Widerspruch“ (ebd., S. 328) seien, scheint den Standardeinwand zu provozieren, Hegels Philosophie verletzte durchgängig und mit desaströsen Konsequenzen das Nicht-Widerspruchsprinzip.349 Ein genauerer Blick zeigt aber, dass dieser Vorwurf zumindest nicht gegen die zitierte Passage vorgebracht werden kann. Denn mit der Rede vom ,Widerspruch im Endlichen‘ greift Hegel die im letzten Abschnitt rekonstruierte Diagnose auf, dass die Identität und Selbstentsprechung endlicher Entitäten nur durch den Bezug auf das Unendliche gewährleistet werden kann. Folglich ergibt sich für Hegel ein Selbstwiderspruch in der Natur des Endlichen, wenn von diesem Bezug abgesehen wird.350 Umgekehrt tritt dieser gar nicht erst auf, wenn die endlichen Dinge im angegebenen Sinne „vernünftig“ (ebd.) sind, d.h. von ihrer ,Aufhebung‘ im ,wahren Unendlichen‘ her betrachtet werden. Dieser Widerspruch bleibt hingegen genau dann unvermeidlich, wenn man mit Kant behauptet, ,Unendlichkeit‘ und ,absolute Notwendigkeit‘ seien für uns keine Kategorien, die in legitimen Erkenntnisansprüchen verwendet werden dürften. Meint man aber gleichzeitig, es gäbe ein Vermögen, das Unendliche und Unbedingte aufzufassen, blockiert man mit den kantischen Prämissen die Lösung der Probleme, die aus diesen Prämissen konsequent folgen müssen.351 Kants ,Antinomien‘ zeigen daher für Hegel geradezu exemplarisch, auf welche Folgen man sich einstellen muss, wenn man nicht nur die Sphäre des Endlichen und des Unendlichen voneinander abtrennt, sondern die Rede vom Unendlichen nicht einmal für einen einlösbaren Wissensanspruch hält.352
347 „Es ist diese Zärtlichkeit gegen die Dinge, welche auf diese keinen Widerspruch will kommen lassen; obgleich selbst die oberflächlichste Erfahrung überall zeigt, daß diese Dinge voller Widersprüche sind.“ (GW 18, S. 327) Vgl. die gleichlautende Kritik in Hegels Diskussion der kantischen Antinomien in WdL I/1, GW 21, S. 232 und Enz. § 48A, GW 20, S. 84. 348 Vgl. Enz. § 45, GW 20, S. 81. 349 Vgl. hierzu die instruktive Diskussion dieses Einwands in H 1987, Band 1, S. 156–161 und W 1995, S. 46–49. 350 Vgl. dazu auch H 1987, Band 1, S. 167 f. 351 Diese Diagnose findet sich auch in Enz. § 46, GW 20, S. 82. 352 Vgl. dazu auch Enz. § 48, GW 20, S. 84 f.
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien
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Wie wir gesehen haben, ist Kant nun der Meinung, seine Rede von ,regulativen Prinzipien‘ könne mögliche Widersprüche umgehen. Diese Überzeugung versucht Hegel durch seine erste Behauptung zu unterminieren, dass diese Widersprüche nicht verschwinden, wenn man sie ins Erkenntnissubjekt verlegt.353 Was damit gemeint ist, lässt sich paradigmatisch anhand der oben in Abschnitt II.2.2 diskutierten dritten kantischen These zum KA zeigen. Zum einen müsste nach Kant durch die Unhintergehbarkeit eines Vernunftprinzips wie PZG feststehen: (N) Es existiert ein notwendiges Wesen.
Zum anderen implizieren die modaltheoretischen Annahmen in Kants Reduktion des KA auf das OA das genaue Gegenteil. Denn in ihnen findet sich die generelle Behauptung, dass das modale Prädikat ,notwendig‘ im vorliegenden Kontext lediglich auf analytische Sätze angewandt werden kann und das Existenzprädikat folglich im Subjektterm enthalten sein müsste, wenn (N) wahr wäre.354 Eine solche Behauptung tendiert aber zu einem Unmöglichkeitsnachweis von Gottes Existenz, wie er u.a. von empiristischen Kritikern vorgebracht wird.355 Ihr mit der kantischen epistemologischen Abschwächung beizukommen scheint zunächst aufgrund der Allgemeinheit der kantischen Behauptung ausgeschlossen.356 Um dennoch drohende Inkonsistenzen zu vermeiden, müsste Kant also entweder der Kritiklinie von Hume folgen und den Gedanken eines notwendigen Wesens für logisch unmöglich oder gar für sinnlos357 zu erklären. Oder er müsste seine Annahme abschwächen, dass Existenznotwendigkeit, wenn überhaupt, nur in analytischen Sätzen bestehen kann. Wie wir oben gesehen haben, scheint Kant nun die zweite Alternative zu wählen, indem er die leitenden Prinzipien des KA zu bloß ,regulativen‘ erklärt. Damit verliert die hegelsche Kritik aber keineswegs ihre Relevanz. Denn die kantische ,Subjektivierung‘ versieht (N) lediglich mit einer Art epistemisch-
353 Ähnlich heißt es in der WdL: „Es ist diß eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den Widerspruch zu entfernen, ihn dagegen in den Geist, in die Vernunft, zu verlegen und ihn darin ganz unaufgelöst bestehen zu lassen.“ (WdL I/1, GW 21, S. 232) 354 Das war die Kernannahme von Kants Reduktionsweinwand. Vgl. die Diskussion in Abschn. II.2.2 und II.2.3. 355 Eine instruktive Diskussion des humeschen Einwands findet sich in P/R 2018, S. 173–179. Nebenbei bemerkt hat derjenige Philosoph, der die Unmöglichkeitsthese zu Anfang des letzten Jahrhunderts mit am vehementesten vertreten hat, die Grenzen seines Einwands selbst eingesehen. Vgl. F 1967, S. 86–90. 356 Vgl. zu dieser Spannung in Kants Diskussion des KA u.a. H 2011, S. 40 und V 2000, S. 453–455. 357 Vgl. zur Unterscheidung von Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit des Gottesgedankens etwa F 1955, S. 54. Eine Kritik, die die Unmöglichkeit von Gottes Existenz deduktiv nachweisen will, setzt schon voraus, dass die Aussage ,Gott existiert‘ zumindest wahrheitsfähig ist. Eine solche stärkere Lesart scheinen allerdings Kants Einwände aus dem Bedeutungsprinzip nahezulegen. Vgl. oben Abschn. II.2.2 und ferner auch KrV A 696/B 724.
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deontischem Operator und verschiebt damit den Widerspruch nur eine Ebene weiter. Versteht man PZG nämlich wie Kant als ,regulatives Prinzip‘, ergibt sich einerseits eine Art epistemische Vorschrift der Form: (N*) Es ist uns geboten anzunehmen, dass es ein notwendiges Wesen gibt.358
Gleichzeitig muss aus Kants Einwänden genau die gegenteilige deontische Aussage folgen, d.h. (Nicht-N*) Es ist uns geboten anzunehmen, dass es kein notwendiges Wesen gibt.359
Diesen Widersprüchen versucht Kant dadurch zu begegnen, dass er jeweils die Sätze danach präzisiert, ob sie für die Erfahrungswelt gültig sind oder nicht.360 In diesem Falle könnte aber ein Kritiker den oben entwickelten Gedanken von Hegel aufgreifen, dass dieser Ausweg innerhalb der kantischen Erkenntnisrestriktionen geradezu selbstwidersprüchlich wäre, da es ihnen zufolge für uns keine entscheidbaren Aussagen über Entitäten geben können soll, die nicht im Kontext möglicher Wahrnehmung stehen.361 Würde man daraufhin Kants Lösung ohne diese Annahmen entwickeln, dann würde der ganze Ansatz seinen kritischen Impuls verlieren. Denn damit würde man lediglich die traditionelle Überzeugung reformulieren, dass, wie Hegel sagt, eine „unendliche Ursache […] nicht in der Erscheinung“ (VPR 4, S. 40) sein kann, und würde damit nur die Unterschiedenheit des Absoluten betonen, die ohnehin im klassischen Theismus angenommen wird.362
358 In Kants Formulierung: „[I]hr sollt so über die Natur philosophieren, als ob es zu allem, was zur Existenz gehört, einen notwendigen ersten Grund gebe, lediglich um systematische Einheit in eure Erkenntnis zu bringen, indem ihr einer solchen Idee […] nachgeht.“ (ebd., A 616/B 644) Die obige Rede von einer ,Annahme‘ deckt sich mit Kants eigenem Sprachgebrauch an anderen Stellen, etwa ebd., A 622/B 650. Vgl. hierzu auch C 2009a, S. 132 f. Zudem vermeidet man dadurch die Probleme eines starken doxastischen Voluntarismus. 359 Eine alternative, schwächere Formulierung wäre: ,Es ist verboten anzunehmen, dass es ein notwendiges Wesen gibt.‘ Dem entspricht ungefähr Kants zweiter Grundsatz, von dem ebenfalls schon oben die Rede war: Dieser „warnet euch, keine einzige Bedingung, die die Existenz der Dinge betrifft, für einen solchen obersten Grund, d.i. als absolutnotwendig anzunehmen, sondern euch noch immer den Weg zur ferneren Ableitung offen zu erhalten, und sie daher jederzeit noch als bedingt zu behandeln.“ (KrV A 616 f./B 644 f.) 360 Vgl. ebd., A 617/B 645. Ohne diese Verteilung der Gültigkeit würde m.E. der in Anm. 359 zitierte zweite Grundsatz sogar der schwächsten Interpretation von (N*) widersprechen, nach der er nur unter der Voraussetzung bindend ist, dass man an der Systematisierung der eigenen Erfahrung interessiert ist. Denn eine solche Zielsetzung wäre dann unter keinen Umständen einlösbar. 361 Vgl. die Ausführungen im Exkurs in II.1 und in II.2.3. 362 Vgl. oben S. 199 f. Die kantische Forderung, „niemals anderswo als bei einer a priori vollendeten Erklärung aufzuhören, andererseits aber auch diese Vollendung niemals zu hoffen, d.i. nichts Empirisches als unbedingt anzunehmen, und sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben“ (KrV A 616/B 644; meine Hervorhebung, W.L.) wäre unter solchen Voraussetzungen in aristotelischen und rationalistischen Formen des KA paradigmatisch erfüllt.
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien
259
Kants Kompromisslösung bewegt sich damit unaufhaltsam auf ein destruktives Trilemma zu. Dieses zwingt ihn dazu, entweder den Gottesgedanken für unmöglich zu erklären, die ,Aufhebung‘ von dessen Wahrheitsmoments mit neuen Widersprüchen zu erkaufen oder mit der Auflösung dieser Widersprüche die kritischen Bahnen der ,transzendentalen Dialektik‘ zu verlassen. So gesehen scheint Kant nur mit der Alternative konfrontiert, sich entweder ganz zum Empirismus zu bekennen oder die spekulativen Bahnen Hegels einzuschlagen. Hegels Kritik wirft daher die Frage auf, wie es um die Unterscheidung von ,konstitutiven‘ und ,regulativen‘ Erkenntnisprinzipien bestellt ist, wenn man gleichzeitig annimmt, dass (i) der Gottesgedanke gleich in mehrfacher Hinsicht für unsere Erkenntnispraxis notwendig ist, ein Argument wie das KA daher (ii) für uns immer eine hohe prima-facie-Plausibilität besitzt und Kant schließlich (iii) keinen schlagenden Grund gegen Aussage (N) vorbringen kann, ohne in Selbstwidersprüche zu geraten. Hegels Kritik lenkt zugleich den Blick auf Stellen in der KrV, wo Kant zu behaupten scheint, dass die notwendige und indispensable Rolle des Gottesgedankens in der Systematisierung unserer Erkenntnisansprüche die Annahme von Gottes Existenz epistemisch legitimiert.363 Diese schwache Form der epistemischen Berechtigung eines „doktrinalen Glauben[s]“ (KrV A 825/B 853) kann zwar für Kant unter keinen Umständen einen theologischen Wissensanspruch einlösen.364 Diesem Vorbehalt könnte Hegel aber nicht nur mit seinen kategorientheoretischen Überlegungen begegnen. Interessanterweise könnte er zudem auf Intuitionen verweisen, die Kant in seinem Früh- und Spätwerk mit Hegel zu teilen scheint. Denn in Der einzig mögliche Beweisgrund einer Demonstration des Daseins Gottes argumentiert Kant dafür, dass schon die bloße metaphysische Möglichkeit von kontingenten Individuen in der Existenz eines absolut notwendigen Wesens begründet ist.365 Diese Überzeugung könnte man als Konsequenz von 363 Im Anhang zur transzendentalen Dialektik schreibt Kant bspw., dass „ich“ unter den o.g. Voraussetzungen „nicht allein befugt, sondern auch genötigt sein [werde], diese Idee zu realisieren, d.i. ihr einen wirklichen Gegenstand zu setzen“ (KrV A 677/B 706; meine Hervorhebung, W.L.). 364 Zum kantischen Begriff eines ,theoretischen Glaubens‘ und dessen Legitimation vgl. bes. C 2007, S. 345–354. M.E. hat Chignells Lesart, die im Sinne der obigen Überlegungen die Berechtigung der Vernunftideen auch im theoretischen Bereich betont, die besten Chancen der hegelschen Kritik zu entgehen. Allerdings setzt sie nicht nur, wie Chignell selbst bemerkt, eine liberale Auffassung von Kants Bedeutungsprinzip voraus, das dann keine Bedingungen mehr für die Wahrheitsfähigkeit rein theoretischer Aussagen festlegt, sondern nur Erfolgskriterien für Erkenntnisse definiert. Vgl. ebd., S. 359. Sie kommt zudem mit dem Umstand in Konflikt, dass Kant den behaupteten ,subjektiven‘ Ursprung von Vernunftideen bisweilen gerade gegen deren epistemische Rechtfertigung anführt. Vgl. W 2018, S. 261 f. 365 Vgl. EMBG, AA II, S. 77–91 und die luzide Rekonstruktion in C 2012, S. 638–657. Im Übrigen würde die epistemisch mögliche Ungültigkeit von Kants Fassung des Arguments nichts daran ändern, dass dessen Konklusion vermutlich rational akzeptabel ist. Es muss nur eine der oben auf S. 217 f. in Fn. 207 genannten zeitgenössischen Varianten von
260
2. Unbedingte Macht: Hegel und das kosmologische Argument
Hegels Explikation der Kategorie der Endlichkeit verstehen, die zudem noch Kants vorkritische These zu stützen scheint, dass Möglichkeiten de re zugleich eine Bedingung für die Denkbarkeit endlicher und kontingenter Entitäten darstellt.366 Bezeichnenderweise wird diese Modaltheorie vom ,kritischen‘ Kant weder explizit noch schlüssig widerlegt.367 Im Gegenteil: In den religionsphilosophischen Vorlesungen affirmiert Kant sowohl den Möglichkeitsbeweis als auch die in ihm implizierte Definition absoluter Notwendigkeit, die für ihn nicht mit logischer Notwendigkeit im engen Sinne zusammenfällt. In der Philosophischen Religionslehre nach Pölitz heißt es etwa: Denn außer jenem logischen Begriffe von der Nothwendigkeit eines Dinges, da dasjenige absolut nothwendig genannt wird, dessen Nichtseyn ein Widerspruch, folglich unmöglich wäre, haben wir noch einen andern Begriff in unserer Vernunft von einer realen Nothwendigkeit, da ein Ding eo ipso nothwendig ist, weil sein Nichtseyn alle Möglichkeit aufhebet. (AA XXVIII, S. 1036)
Ein Kritiker könnte zwar erwidern, dass Kant auch im vorliegenden Kontext dieselbe Strategie der epistemischen Analyse der fraglichen Modalitäten anwendet, um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden.368 Und dies, so könnte der Einwand weiter geführt werden, lässt sich dadurch rechtfertigen, dass auch hier die Erklärung ,realer Notwendigkeit‘ rein negativ bleibt und allein logische Notwendigkeit im engeren Sinne die erforderte explikative Rolle spielen kann. Dieser Einwand würde aber nicht nur an Hegels komplexer Replik gegen Kants Einwand aus der ,falschen Selbstbefriedigung‘ vorbeigehen. Er würde auch seiner kritischen Würdigung von Kants Abstufungsversuchen nicht gerecht werden und den Einwand nur mit einem zirkulären Argument begründen. Denn es ist nicht selbstevident, dass Möglichkeitsbeurteilungen und deren metaphysische Voraussetzungen nur jeweils unsere Erkenntniskonstitution reflektieren, ohne jemals zu dem vorzudringen, was tatsächlich der Fall sein kann bzw. muss.369
Leibniz’ ,Beweis aus den ewigen Wahrheiten‘ schlüssig sein und vielleicht stehen die Chancen hier nicht ganz so schlecht. 366 Vgl. EMBG, AA II, S. 77–79. I. Logan und H.G. Melichar weisen daher zu Recht auf die transzendentale Struktur in Kants Argumentsaufbau hin. Vgl. L 2007, S. 354 und M 2020, S. 51. Genau genommen scheint dies sogar für Kants Ableitung des Ens realissimum zu gelten, zu der etwa E. Watkins treffend bemerkt: „[W]hat Kant advances, at least by his philosophical practice in this instance, is that certain metaphysical claims are presupposed as conditions on the possibility of cognition of empirical objects in the natural world.“ (W 2013, S. 226) 367 Vgl. die instruktive Diskussion u.a. in W 1978, S. 64–79; F/W 1998 und L 2007. 368 So stuft Kant im zitierten Kontext den Gottesgedanken zu einer nicht-beweisbaren, aber notwendigen ,Hypothese‘ ab. Vgl. AA XXVIII, S. 1036 und die kritische Diskussion in W 1978, S. 76–78 und A 2000 S. 428 f. 369 Eine m.E. plausible Deutung von Kants später Haltung gegenüber seinem Möglichkeitsargument hat A. Chignell vorgelegt. Er argumentiert, dass für den kritischen Kant in
2.6 Coda: Hegels Kritik an Kants Idee regulativer Prinzipien
261
Wenn die kantischen wie die empiristischen Vorbehalte gegenüber der metaphysisch notwendigen Existenz unberechtigt sind, dann scheint sich mit den bisher erarbeiteten Prämissen der Sinn der kantischen Rede von ,Vernunftideen‘ zugunsten des hegelschen Sprachgebrauchs zu wandeln. Die Existenz des Absoluten ist dann nicht nur eine bloße ,Idee‘, die nur eine indispensable Funktion für unsere epistemische und moralische Praxis besitzt, sondern vielmehr der absolute ,Begriff‘ des wahren Unendlichen, der in seiner ,Objektivität‘ gleichermaßen unsere Erkenntnis und deren Bezugsgegenstände ermöglicht und verwirklicht.370 Damit bietet gerade Hegels instruktive Kritik an der Rede von regulativen Prinzipien eine Möglichkeit, Kants Intuitionen in einem ,idealistischen‘ Rahmen einzuholen und kohärent zu formulieren.371
erster Linie die Nachweisbarkeit der metaphysischen Möglichkeit von Gottes Existenz in Frage steht. Vgl. C 2009b, S. 188–190. Allerdings ist diese Art der Skepsis mit der These kompatibel, dass Kants Argument zumindest zu einer prima facie-Begründung der Möglichkeitsannahme führt, deren Negation man dann mit einer Beweislastumkehr begegnen kann. Chignell weist explizit mit Leibniz auf diese Option hin. Vgl. ebd., S. 190 f. 370 Vgl. hierzu besonders Enz. § 213, GW 20, S. 215. Wie L. Siep an anderer Stelle zeigt, verbindet Hegels Begriff der ,absoluten Idee‘ den kantischen Gedanken eines Unbedingten mit der aristotelischen Überzeugung, dass es keine platonischen Formen ohne deren objektive Exemplifizierung geben kann. Vgl. S 2004, S. 351 f. 371 Die folgenden Abschnitte werden zeigen, wie dieser Rahmen durch Hegels Thesen zum religiösen Denken wie seine eigene Theorie des Absoluten als der ,absoluten Idee‘ eine konkretere Gestalt gewinnt. Vgl. unten II.4.2.
3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument In den vorhergehenden Kapitelabschnitten hatte sich gezeigt, dass sich Hegels Einstellung zum sog. kosmologischen Argument (= KA) generell durch vier Merkmale auszeichnet: Erstens ist er davon überzeugt, dass inhaltliche Einwände, wie die kantischen, das Argument nicht zu Fall bringen können. Gleichzeitig ist er zweitens der Meinung, dass die spezifische inferentielle Form in klassischen Gottesbeweisen für sich defizient ist und zwar aus Gründen, die sich aus der Natur des Absoluten ergeben. Drittens glaubt Hegel, dass eine hochstufige theoretische Explikation den Verweisungszusammenhang von denjenigen Kategorien offenlegen kann, die ein theistisches Argument ermöglichen – und zwar in einer Weise, die die Unstimmigkeiten mit dem Begriff des Absoluten und damit die Formprobleme eines klassischen Beweises vermeidet. Dieser Verweisungszusammenhang ist es schließlich, der nach Hegel viertens den Inhalt religiöser Erkenntnis darstellt. So kann er folgern, dass die Interpretation der Gottesbeweise zugleich einen echten Zugang zur religiösen Überzeugungsbildung eröffnet. Wie nicht anders zu erwarten, verfolgt Hegel im Rahmen seiner Diskussion des sog. teleologischen Arguments (im Folgenden = TA) eine analoge Strategie: Zum einen lässt er sich von Kant die Rekonstruktion vorgeben und greift dessen Gedanken von der natürlichen Notwendigkeit des TA im religionsepistemologischen Rahmen wieder auf. Zum anderen verhält er sich kritisch gegenüber Kants abschließender Bewertung. Bezeichnenderweise bedeutet dies im Falle des TA für Hegel nicht, dass man Kants Kritik verwerfen sollte. Denn er vertritt mit Kant die Überzeugung, dass die Beweiskraft des TA auf einen gehaltvollen Begriff des Absoluten angewiesen ist, der sich nicht aus deren Konklusion entwickeln lässt. Was Hegel allerdings vehement bestreitet, ist Kants Versuch, die Kernintuitionen der Physiktheologie moraltheologisch zu reformulieren. Zwar meint er, dass die religiöse und philosophische Rede von Endzwecken durchaus gerechtfertigt ist. Unter kantischen Prämissen kann sie allerdings seiner Meinung nach nicht ohne Widersprüche formuliert werden. Eine Untersuchung von Hegels Überlegungen zum TA und zur kantischen Kritik bietet daher nicht nur eine Gelegenheit, Hegels Thesen zum religiösen Denken zu vertiefen. Sie erlaubt zudem genauere Aussagen, was man von Kants zentraler These in hegelscher Perspektive zu halten hat, dass der Gottesglaube nur moralisch, nicht aber epistemisch gerechtfertigt werden kann.
264
3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Obwohl sich Hegel dem TA und der kantischen Kritik in allen vier Kollegien widmet, ist seine Diskussion in der Literatur noch mehr vernachlässigt worden als das KA.1 Mögliche Gründe hierfür liegen auf der Hand: Denn nicht nur könnte man den klassischen Teleologie-Diskurs gerade wegen der frühneuzeitlichen Verabschiedung der Finalkausalität für überholt halten. Spätestens mit der Entdeckung der darwinistischen Prinzipien zufälliger Genmutation und natürlicher Selektion scheint die Rede von zweckgerichteten Prozessen selbst innerhalb der Biologie verfehlt. Während das TA in der Hegelforschung ein eher randständiges Dasein fristet, feiert es allerdings in der anglo-amerikanischen Metaphysik und Religionsphilosophie geradezu eine Renaissance.2 Dabei liegt der Schwerpunkt besonders auf den kosmologischen Rahmenbedingungen für die Entstehung von Leben als solchem, die auch durch mögliche indeterministische Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Artentwicklung nicht für obsolet erklärt werden können. In den folgenden Überlegungen kann auf die inzwischen weit ausdifferenzierte Diskussion um die Feinabstimmung der Naturkonstanten nun bestenfalls am Rande eingegangen werden.3 Instruktiv wäre ein Vergleich zwischen der zeitgenössischen Debatte und dem deutschsprachigen Teleologie-Diskurs des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts aber schon deshalb, weil dessen Proponenten in ihren Grundüberzeugungen von den Annahmen und Perspektiven abweichen, die die heutige Debatte kennzeichnet. Denn die kantischen und nachkantischen Überlegungen zielen weniger auf das Problem, wie man physikalische Erkenntnisse metaphysisch zu interpretieren hat. Vielmehr stellen sie die prinzipielle Frage, ob unsere Erkenntnispraxis zumindest im wissenschaftlichen Rahmen ohne die Voraussetzung einer systematischen Ordnung der Natur überhaupt auskommen kann und unter welchen Bedingungen fundamentale Ziele unserer moralischen Praxis erfüllbar sind.
1 Während bspw. die Übersichtsdarstellungen von M. Taylor, P.C. Hodgson, J. Dierken, H. Ferreiro und neuerdings R. Williams nur auf wenigen Seiten auf das TA bei Hegel eingehen (vgl. T 1977, S. 220–224; H 2011, S. 422 f.; F 2018, S. 3414–3418; und W 2017, S. 87–91) oder es wenigstens beiläufig erwähnen (vgl. D 1990, S. 296 f.), wird es in der komplementären Untersuchung von M. Westphal praktisch nicht erwähnt. Vgl. W 1977. Beide Herangehensweisen stehen übrigens in direkter Spannung zu der These, die etwa S. Ball Hegel unterstellt und der zufolge gerade der Aufbau und Inhalt eines TA der hegelschen Kritik an den Gottesbeweisen Rechnung tragen soll. Vgl. B 1979, S. 81 f. Diese These ist in exegetischer Hinsicht allerdings fraglich. 2 Vgl. etwa die detailliert ausgearbeiteten Fassungen des Feinabstimmungsarguments in C 2009 und S 2019. 3 Besonders übersichtliche Rekonstruktionen und Diskussionen des neueren Feinabstimmungsargument finden sich u.a. in S/H 22003, S. 15–26 bzw. 109–116; H 2011, S. 67–90 und WCRL, Chap. 7. F. Hermanni ist m.W. bislang der einzige, der das neuere TA mit der klassischen deutschen Philosophie, nämlich dem späten Schelling, in Verbindung gebracht hat. Vgl. H 2011, S. 89 f. Eine detaillierte Diskussion des Arguments in hegelscher Perspektive existiert hingegen, soweit ich sehen kann, bislang noch nicht, obwohl sie sicherlich eine gesonderte Studie verdienen würde.
3.1 Zwischen Physikotheologie und Moraltheologie
265
Was mit dieser Aussage gemeint ist und welche theologischen Konsequenzen sie nach Kant und Hegel zeitigen, sollen die folgenden Überlegungen offenlegen. Da sich Hegels komplexe Diskussion insgesamt an dem Standard abarbeitet, den Kants Thesen gesetzt haben, soll wie schon im vorhergehenden Kapitel zunächst auf Kants Rekonstruktion und Kritik des TA eingegangen werden (Abschnitt II.3.1). Hegels Kommentar zu Kants Thesen wird dann im zweiten Schritt detailliert rekonstruiert (Abschnitt II.3.2). Dabei wird sich zeigen, dass Hegels kritische Würdigung zu Spannungen mit seiner eigenen philosophischen und religionsepistemologischen Aneignung des TA zu führen scheinen. Wie sich diese Spannungen unter hegelschen Prämissen auflösen lassen, soll daher in einem letzten Schritt genauer beleuchtet werden (Abschnitt II.3.3).
3.1 Zwischen Physikotheologie und Moraltheologie: Kants Thesen zum teleologischen Argument Im Rahmen der bekannten Reserven gegenüber dem teleologischen Denken könnte man zu der Annahme neigen, ein TA habe nach Kant viel geringere Chancen auf eine Rehabilitierung als das KA, das mit bescheideneren metaphysischen Annahmen auskommt. Tatsächlich bringt er aber dem TA eine Wertschätzung entgegen, die er seinen Konkurrenten durchgängig verweigert. Analog zu seiner Kritik am KA lässt sich seine generelle Einschätzung in drei Thesen zusammenfassen: Nach Kant teilt das TA mit dem KA die Eigenschaft, dass sich (1) dessen Motivation aus der rationalen Natur des Menschen erklären lässt, und das bedeutet genauer, dass die Annahme einer teleologischen Gesamtordnung der Natur gewissermaßen zur Verfassung der menschlichen Erkenntnispraxis gehört. Mit dem KA teilt es aber (2) die entscheidende Schwäche, dass seine Konklusion weder einen Erkenntnisanspruch einlösen noch eine unabhängige Beweiskräftigkeit besitzen kann. Gleichzeitig soll aber dessen Grundintuition mit der Kritik nicht einfach überflüssig werden. Vielmehr zeigt nach Kant (3) ein genauerer Blick auf die Bedingungen unserer moralischen Praxis dessen eigentliche Relevanz für die Rechtfertigung des Gottesglaubens. Im Gegensatz zum Gedanken des Ens necessarium, der nach Kant zusammen mit dem Prinzip vom zureichenden Grund als bloß regulatives Prinzip ein vergleichsweise unbedeutendes Dasein fristet,4 enthält die moraltheologische Supplementierung des TA den eigentlichen Nachweis der Berechtigung theistischer Überzeugungen. Damit ergänzt Kant seine insgesamt kritische Einstellung zur klassischen Theologie durch sein positives Begründungsangebot, das den Gottesglauben zur Voraussetzung des Gelingens unseres moralischen Handelns macht. 4 Allerdings deutet Kant bisweilen auch für das KA eine mögliche moraltheologische Neubewertung an. Vgl. KrV A 588 f./B 616 f. Eine engere Verbindung zwischen dem TA und Kants moralischem Argument legt sich aber schon durch die größere strukturelle Ähnlichkeit nahe.
266
3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
These (1): Die Natürlichkeit teleologischen Denkens und dessen theologische Signifikanz Wenn bei Kant von Zweckmäßigkeit in der Natur gesprochen wird, sind es insbesondere zwei Phänomene, die ihn interessieren: zum einen Organismen und zum anderen die zweckmäßige Einrichtung der Natur als Ganzer. Es ist nun insbesondere die letztere Idee, die nach Kant sowohl der theoretischen als auch der praktischen Seite des menschlichen Lebens einbeschrieben ist und daher eine bestimmende Funktion in dessen Existenz und Praxis ausübt. Im Folgenden werde ich mich zunächst auf die Bedeutung für die theoretische Praxis konzentrieren, weil hier der Übergang zum TA besonders deutlich wird.5 Im Gegensatz zu seiner vorhergehenden Diskussion des Kontingenzproblems, ist Kant im Rahmen seiner Kritik des TA nicht besonders auskunftsfreudig, ob und wie sich die rationale Genese teleologischen Denkens nachzeichnen lässt. Er begründet seine Wertschätzung dort lediglich mit dem Hinweis, dass der teleologische Beweis „der älteste, kläreste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene“ (KrV A 623/B 651) sei und seinen Nutzen besonders innerhalb der Naturforschung unter Beweis stelle. Dass mit dieser Behauptung zugleich eine gehaltvollere These bzgl. des Ursprungs des Teleologie-Gedankens verbunden ist, zeigt hingegen ein Blick in den zweiten Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik. In einer prima facie undurchsichtigen, aber durchaus suggestiven Passage schreibt Kant: Die größte systematische, folglich auch die zweckmäßige Einheit ist die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft. Die Idee derselben ist also mit dem Wesen unserer Vernunft unzertrennlich verbunden. Eben dieselbe Idee ist also für uns gesetzgebend und so ist es sehr natürlich, eine ihr korrespondierende gesetzgebende Vernunft (intellectus archetypus) anzunehmen, von der alle systematische Einheit der Natur, als dem Gegenstande unserer Vernunft, abzuleiten sei. (KrV A 694 f./B 722 f.)6
Im Kern behauptet Kant hier dreierlei: Erstens lässt sich die Idee der systematischen und darin zweckmäßigen Einheit der Natur als Ganzer aus dem Wesen menschlicher Rationalität erklären, und zwar, weil diese Idee den Vernunftgebrauch in seiner maximalen Ausdehnung ermöglicht. Die Annahme einer systematischen Ordnung stellt damit zweitens eine der menschlichen Natur einbeschriebene, epistemische Zielrichtung dar, die für uns im starken Sinne normativ
5 Schon diese Grobeinteilung zweckmäßiger Phänomene zeigt an, dass die Rede von dem TA selbst im kantischen Rahmen problematisch ist. Wie in der obigen Diskussion um das KA werde ich den Kollektivsingular in erster Linie als eine Bezeichnung für eine Familie von Argumenten verwenden. Sie lässt sich dabei noch genauer dadurch einteilen, ob in den Argumenten jeweils lokale oder globale Formen der Zweckmäßigkeit zum Ausgangspunkt genommen werden und wie Zweckmäßigkeit theoretisch aufgefasst wird, d.h. ob man sie als extrinsisch oder intrinsisch verstehen muss. Vgl. dazu auch unten II.4.1. 6 Vgl. zu dieser Stelle auch W 2018, S. 240 f.
3.1 Zwischen Physikotheologie und Moraltheologie
267
verbindlich und „gesetzgebend“ (ebd.) ist.7 Und da diese Annahme für Kant eine Aussage über den möglichen Autor der Ordnung voraussetzt, soll hieraus drittens der Gedanke einer göttlichen Vernunft ganz natürlich folgen. Diese Gedankenfolge ist nun keine randständige kantische Behauptung, sondern bildet vielmehr das Programm, dass Kant spätestens in den beiden Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft (= KU) im Rahmen der Frage nach dem System der Philosophie reformuliert und breiter ausgearbeitet hat.8 Da sie nicht nur einen interessanten Einblick in Kants These von der Natürlichkeit teleologischen Denkens bietet, sondern dabei zugleich die Zusammenhänge zwischen dem Systemgedanken und dem Gottesbegriff näher beleuchtet, die auch für Hegel relevant sein werden, soll die kantische Kernidee breiter entfaltet werden. Zu den Propria, die uns Menschen als solche auszeichnen, gehört nach Kant die Urteilspraxis, auf der sowohl unser Denken als auch unser Handeln beruht. Im Regelfall fällen wir dabei Urteile, wenn wir eine beliebige Entität a mithilfe von einem oder mehreren uns zur Verfügung stehenden Begriffen F1, …, Fn näher charakterisieren.9 Für Kant sind Prädikationen und Klassifikationen dieser Art genau dann unproblematisch, wenn besagte Begriffe entweder allgemeinste Begriffe, d.h. Kategorien, oder Gesetze der Mathematik und der Physik darstellen, wobei deren Geltung für Kant durch die Anwendung schematisierter Kategorien gerechtfertigt werden kann. Für jede als Substanz klassifizierbare, kontingente raumzeitliche Entität gilt demgemäß a priori, dass deren Verhalten sich durch Kausalgesetze beschreiben lässt, die ihren adäquaten Ausdruck besonders in Newtons Mechanik finden. Dieses Verfahren der sog. „bestimmende[n] Urteilskraft“ (KU, B XXVI) grenzt Kant nun gegen eine andere Form der Urteilspraxis ab, in der wir den klassifizierenden Begriff erst auffinden müssen.10 Dies wird besonders für Fälle relevant, die entweder kategorial bzw. nomologisch unterbestimmt sind oder die sich mithilfe gesicherter physikalischer Gesetze scheinbar überhaupt nicht beschreiben lassen. Phänomene dieser Art finden sich für Kant in der Biologie.11 In solchen Fällen werden zunächst auf Basis von empirischen Generalisierungen
7 Zur Normativität der Annahme der systematischen Ordnung und von Vernunftideen bei Kant vgl. auch ML 2014, S. 556 und 561. Ob die Prinzipien des Systems der Natur lediglich präskriptiv zu verstehen sind, wie McLaughlin ebd., S. 559 insinuiert, wird weiter unten zu fragen sein. 8 Vgl. im Folgenden KU, Erste Einleitung, AA XX, S. 208–221 und KU, B XXV– XXXVIII. Die Engführung des Anhangs zur transzendentalen Dialektik mit Kants dritter Kritik dient hier in erster Linie dem systematischen Nachvollzug von Kants These von der Annahme einer systematischen Einheit der Natur und deren möglicher theologischer Signifikanz. Auf Kontinuitäten und Unterschiede kann ich im Folgenden nicht im Detail eingehen. Vgl. hierzu etwa ML 2014. 9 Zu Kants Begriff der Urteilskraft vgl. KrV A 132–136/B 171–175 und KU, B XXVf. 10 Vgl. ebd., B XXV–XXVIII. 11 Zum Problem der (Nicht)-Erklärbarkeit von Organismen vgl. KU §§ 69–78, B 311–363 und unten II.3.2, S. 298 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Hypothesen über mögliche gesetzmäßige Zusammenhänge gebildet, die dann wiederum empirisch getestet werden können.12 In der KrV identifiziert Kant dies allgemein mit dem sog. „hypothetische[n] Vernunftgebrauch“ (KrV A 647/ B 675), den er dabei vom „apodiktischen Gebrauch“ (ebd., A 646/B 674) abgrenzt,13 bei dem wir umgekehrt von schon bekannten und (bestenfalls) selbstevidenten, obersten Prinzipien auf spezifischere Aussagen deduktiv schließen. Um nun in Fällen kategorialer und nomologischer Un(ter)bestimmtheit weiterhin theoretische Operationen vollziehen zu können, müssen Personen nach Kant in der Suche nach höheren Gesetzmäßigkeiten und der Hypothesenbildung prinzipiell annehmen, dass die Natur überhaupt für diese spezifischen epistemischen Leistungen zugänglich ist.14 Aus diesem Prinzip der Erkennbarkeit folgt zwar schon implizit eine teleologische Annahme – nämlich der Gedanke, dass die Natur in ihren Grundstrukturen „zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen“ (KU, B XXVII) eingerichtet sein muss. Zur Begründung von Kants These der natürlichen Notwendigkeit teleologischen Denkens muss man aber zum einen erklären können, warum wir essentiell zur Suche nach einer systematischen Naturordnung disponiert sind und nach welchen Prinzipien wir dabei genau verfahren. Zum anderen muss Kant die stärkere These plausibel machen können, dass die Annahme einer solchen Ordnung direkt theologische Signifikanz besitzt und daher ein Argument in Form eines TA motivieren kann. Die erste Frage lässt sich im Rekurs auf Kants Thesen zur menschlichen Vernunftbegabung klären. Unsere Fähigkeiten des Schließens ermöglichen es uns generell, die Folgerungsbeziehungen zwischen den propositionalen Gehalten unserer Erkenntnisse einzusehen. Und wie wir schon in Abschnitt II.2.2 gesehen haben, ist Kant der Meinung, dass sich aus der spezifischen Verfassung unserer inferentiellen Praxis zentrale Ziele ergeben, die sich in Form einer „logische[n] Maxime“ artikulieren und kodifizieren lassen. Sie formuliert die für uns konstitutive epistemische Norm, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.“ (KrV A 307/B 364) Für dieses präskriptive Prinzip sind dabei insbesondere diejenigen Fälle inferentieller Verkettung relevant, in der ein bestimmter Erkenntnisan12 Zur Hypothesenbildung in der theoretischen Praxis nach Kant vgl. auch W 1978, S. 410–414. 13 Vgl. dazu auch W 2018, S. 54–56. Dass Kant in den beiden Einleitungen der KU nicht von unserer Schluss-, sondern in erster Linie von einer Urteilspraxis spricht, könnte daran liegen, dass für Kant in Schlüssen gleich mehrere kognitive Aktivitäten beteiligt sind. Vgl. ebd., S. 50. So ordnet Kant etwa in KrV A 304/B 360 f. der Bildung der beiden Prämissen eines deduktiven Vernunftschlusses und dem Ziehen der Schlussfolgerung jeweils ein bestimmtes Erkenntnisvermögen zu: Die bestimmende Urteilskraft soll dabei die Subsumtion eines Individuums oder einer Klasse unter einen Begriff leisten, während die Vernunft die deduktiven Konsequenzen artikuliert. Vgl. ebd., A 330/B 386; und ferner auch F/Z 2001, S. 1173–1183. 14 Zur Erkennbarkeitsthese vgl. u.a. KU, Erste Einleitung, AA XX, S. 209 f. und S. 213 sowie ferner KU, B XXVIIf.
3.1 Zwischen Physikotheologie und Moraltheologie
269
spruch nicht als Prämisse, sonders als Konklusion eines höherstufigen Syllogismus betrachtet wird.15 Unsere Vernunftbegabung ermöglicht uns in diesem Sinne nicht nur, mögliche deduktive Konsequenzen einer akzeptierten Aussage einzusehen. Sie eröffnet zugleich eine Perspektive auf den möglichen derivativen oder ,bedingten‘ Status eines Urteils, die dann die Frage nach dessen Wahrheit und epistemischen Status aufwerfen kann. Man könnte hier nun zu Recht fragen, was uns überhaupt dazu bringt, insbesondere aufsteigende Schlussketten in dieser Form zu bilden und explizit zu machen. Und selbst, wenn die Frage der Motivation geklärt wäre, würde immer noch undeutlich bleiben, warum Kant behaupten kann, dass unserer Vernunftgebrauch es sinnvollerweise auf die Vollendung solcher Reihen abgesehen hat und die ,logische Maxime‘ daher für uns tatsächlich normativ bindend ist. Kants allgemeine Antwort auf diese Fragen besteht in der Annahme, dass unser rein formallogischer Vernunftgebrauch gar nicht selbstgenügsam für sich steht. Vielmehr ist dieser an sich selbst teleologisch auf die Bildung eines Erkenntnissystems ausgerichtet ist, das im besten Falle auf Prinzipien beruhen sollte, die in epistemischer und inferentieller Hinsicht ,unbedingt‘ und daher nicht weiter ableitbar sind.16 Die Idee scheint dabei zu sein, dass jedes beliebige Urteil aufgrund seiner propositionalen Struktur selbst in inferentiellen Beziehungen steht und man sich in der Urteilsbildung daher immer darauf festlegt, mögliche Gründe für seine Wahrheitsansprüche zu geben.17 Die Frage nach der Begründungsbedürftigkeit unserer Urteile kann für Kant ferner nur dann sinnvoll gestellt und beantwortet werden, wenn sich die Prämissen im idealen Grenzfall vollständig angeben lassen.18 Mit dem Verweis auf mögliche selbstevidente und nicht-ableitbare Erstprinzipien kann daher Kant zumindest eine mögliche Vollendung aufsteigender Schlussreihen annehmen, deren Zahl sich wiederum idealerweise auf ein Minimum beschränkt.19
15 Vgl. KrV A 304 f./B 361 und A 330–332/B 386–389; vgl. ferner auch W 2018, S. 50 f. 16 Darauf zielt Kants Rede vom „Unbedingte[n]“ in der Formulierung der „logische[n] Maxime“ (KrV A 307/B 364) ab. Vgl. die hilfreichen Erläuterungen in W 2018, S. 58–63. 17 Dem entspricht der iterative Charakter diskursiver Begründung, den M. Willaschek unter die wesentlichen Merkmale zählt, die für Kant die menschliche Vernunft auszeichnen. Vgl. ebd., S. 6. Im Kontext seiner luziden Interpretation der ,synthetischen Einheit der Apperzeption‘ spricht R. Brandom von der „justificatory responsibility“, die zusammen mit der Norm der Konsistenz – „critical responsibility“ – und der Norm der Vollständigkeit – „ampliative responsibility“ (B 2009, S. 36) – unsere inferentielle Praxis kennzeichnet. 18 Vgl. zur inferentiellen Verkettung und der Vollständigkeitsforderung der Erkenntnispraxis KrV A 330 f./B 387 f. und W 2018, S. 54–56. 19 „Man sieht daraus: daß die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit des Verstandes auf die kleinste Anzahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche.“ (KrV A 305/B 361)
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Nach der ,logischen Maxime‘ zeichnet sich demnach ein Erkenntnissystem zunächst dadurch aus, dass es auf einer minimalen Anzahl von Prinzipien beruht, die zugleich maximale inferentielle Kraft besitzen. Mit diesem Ergebnis meint Kant über Kriterien zu verfügen, die die Einheitlichkeit, Alternativlosigkeit und Vollständigkeit eines Systems von Propositionen von zufällig aggregierten Aussagemengen unterscheiden können.20 Gleichzeitig sollen aber dieselben Kriterien der Einheitlichkeit und Vollständigkeit nicht nur subjektseitig für die formale Organisation unserer Aussagen, sondern auch objektseitig für die Ordnung der Erklärung natürlicher Objekte und Vorgänge gelten, die wir mit einigen Erkenntnisansprüchen anvisieren. Zwar finden sich bei Kant kaum explizite Begründungen für diese komplexe und schwierige Annahme.21 Akzeptiert man sie aber zumindest hypothetisch, wird das spezifische Profil der o.g. Erkennbarkeitsthese deutlicher. Denn um für unsere epistemischen Leistungen zugänglich zu sein, muss die Natur dann selbst den beiden Anforderungen der Einheitlichkeit und Vollständigkeit eines Systems aller möglicher Erkenntnis gerecht werden können.22 Dies kann nach Kant nur dann gewährleistet sein, wenn sich (i) alle möglichen Phänomene der Natur unter möglichst wenigen höheren und höchsten Gattungen klassifizieren lassen. Um jene Phänomene aber vollständig einzufangen, müssen die Gattungen (ii) eine maximale Fülle natürlicher Arten zulassen; und dies so, dass (iii) innerhalb der Species und Subspecies möglichst alle kompossiblen Zwischenstufen ausgebildet werden.23 Das erste Prinzip der „Homogenität“ garantiert nach Kant so die Einheitlichkeit, das zweite Prinzip der „Spe-
20 Zu den Minimalbedingungen der Einheitlichkeit und Vollständigkeit des Systems der Erkenntnis vgl. KrV A 645 f./B 673 f. 21 Diese Annahme kann man mit M. Willaschek dadurch plausibilisieren, dass Erklärungen und Schlussfolgerungen nach Kant zum einen jeweils in unterschiedlichen Hinsichten (im Bestfall) letzte Frage zu beantworten versuchen und zum anderen ähnliche formale Eigenschaften haben. Vgl. W 2018, S. 132 f. Kausalerklärungen lassen sich ohnehin – etwa in Form deduktiv-nomologischer Erklärungen – explizit in Schlussformen übersetzen und es ist daher auch kein Zufall, dass Kant die Kausalkategorie aus hypothetischen Urteilen zu gewinnen versucht. Vgl. hierzu auch die instruktive Rekonstruktion in K 2006, S. 477–479. 22 Im Folgenden greife ich auf Kants umfassende Diskussion der drei Prinzipien im Anhang zur transzendentalen Dialektik zurück. Vgl. KrV A 645–668/B 673–B 696; vgl. ferner auch KU, Erste Einleitung, AA XX, S. 210 f. und S. 213 f. sowie KU, B XXXf. Zur Deutung vgl. u.a. W 1979, H 1998 und W 2018, S. 110–118. 23 Diese Prinzipien haben eine lange Geschichte, die sich nach A. Lovejoy mind. bis auf Platons Timaios zurückführen lässt. Prinzip (ii) entspricht dabei dem platonischen „principle of plenitude“ (L 1936, S. 52) und (iii) hingegen dem „principle of continuity“ (ebd., S. 58). Das von Lovejoy zuletzt genannte „principle of unilinear gradation“ (ebd., S. 59), dem die aristotelische Idee der scala naturae entspricht, folgt nach Kant hingegen aus dem Kontinuitätsprinzip. Vgl. KrV A 668/B 696. Schon im Kontext des Timaios definieren diese drei Prinzipien die genauen Kriterien der Güte des Naturganzen und mit ihr die Ähnlichkeit zu ihrem Ursprung (vgl. L 1936, S. 50–52), deren Wirkungsmacht Lovejoy detailreich nachzeichnet. Vgl. etwa zu Kant ebd., S. 240 f.
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zifikation“ hingegen die Vollständigkeit des Systems der Natur. Das dritte Prinzip der „Kontinuität“ (KrV A 658/B 686) schließlich vervollständigt die beiden anderen, indem es beide miteinander vereint. Für das Verständnis dieser Prinzipien, die auf der Objektseite die Kriterien für Erkenntnissysteme ausdifferenzieren, ist es nach Kant entscheidend, dass sie weder als bloße Vorschriften zur formalen Organisation unserer Erkenntnisansprüche noch als bloße methodologische Maximen in der naturwissenschaftlicher Hypothesenbildung verstanden werden.24 Vielmehr ist es gerade Kants entscheidende Pointe, dass wir die Ziele wissenschaftlicher Praxis mittels solcher Maximen nur dann erreichen können, wenn wir a priori zumindest annehmen, dass sie für die Natur selbst gelten. Wie weit Kant in dieser Begründung der Annahme des Systems der Natur zu gehen bereit ist, lässt sich paradigmatisch an seiner Rechtfertigung des ,Prinzips der Homogenität‘ zeigen. Kant schreibt: Wäre unter den Erscheinungen, die sich uns darbieten, eine so große Verschiedenheit, ich will nicht sagen der Form […], sondern dem Inhalte, d.i. der Mannigfaltigkeit existierender Wesen nach, daß auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht die mindeste Ähnlichkeit ausfündig machen könnte […], so würde das logische Gesetz der Gattungen ganz und gar nicht stattfinden, und es würde selbst kein Begriff der Gattung, oder irgend ein allgemeiner Begriff, ja kein Verstand stattfinden, als der es lediglich mit solchen zu tun hat. (KrV A 653 f./B 681 f.)
Mit diesem komplexen kontrafaktischen Konditional zielt Kant darauf ab, dass schon die Möglichkeit der wissenschaftlichen Praxis gefährdet wäre, wenn das ,Prinzip der Homogenität‘ als deskriptive Aussage über das Verhältnis natürlicher Arten inkorrekt wäre. Ja, selbst der „Begriff der Gattung“ (ebd.) wäre als solcher nicht mehr anwendbar und der Gedanke einer Klassifikation unter einen höherstufigen Begriff würde sich selbst aufheben.25 Setzt man aber voraus, dass die Suche nach höheren Gattungen und Gesetzmäßigkeiten zumindest möglich ist, dann lässt sich nach Kant folgende Schlussfolgerung ziehen:
24 Diesen Typ einer Vorschrift nennt Kant an anderer Stelle auch ein „bloß […] subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes“ (KrV A 306/B 362). Analog nennt er das ,Prinzip der Homogenität‘ als bloße methodologische Maxime betrachtet einen „bloß ökonomische[n] Grundsatz der Vernunft“ (ebd., A 650/B 678). 25 Th. Wartenberg fasst die entscheidende kantische Prämisse auch so zusammen, dass ohne die Gültigkeit des ,Prinzips der Homogenität‘ Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Spezies unterbestimmt wären und dies auch nicht durch die kantischen Kategorien ausgeglichen werden kann: „[T]he ways in which the objects resemble and differ from one another are left unspecified. But this means that the phenomenal world, in so far as it is specified by the categorial principles, might contain objects with no detectable similarities. But if this were actually the case, science would be impossible, for […] a crucial aspect of science involves the discovery of laws. But such discovery requires the existence of relevantly similar cases and this is just what, on our presupposition, the categorial principles can not guarantee.“ (W 1979, S. 417) Die Frage ist allerdings, ob nicht etwa mit der Angabe der Kategorie der Substanz das ,Prinzip der Homogenität‘ ohnehin trivialerweise wahr sein müsste.
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Das logische Prinzip der Gattungen setzt also ein transzendentales voraus, wenn es auf Natur […] angewendet werden soll. Nach demselben wird in dem Mannigfaltigen einer möglichen Erfahrung notwendig Gleichartigkeit vorausgesetzt (ob wir gleich ihren Grad a priori nicht bestimmen können), weil ohne dieselbe keine empirischen Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre. (ebd., A 654/B 682)26
Es ist in der Kantforschung nun notorisch umstritten, wie man diese und andere Stellen im Anhang zur transzendentalen Dialektik zu bewerten hat und ob sie tatsächlich den starken Schluss zulassen, Kant strebe eine transzendentale Begründung der systematischen Ordnung der Natur an.27 Gegen eine solche starke Lesart spricht besonders, dass sie zur Konsequenz hätte, dass ein Prinzip wie das ,Prinzip der Homogenität‘ eine wahre Aussage über natürliche Entitäten treffen würde und damit als konstitutives Prinzip für empirische Erkenntnis und deren Gegenstände gelten müsste. Kant selbst führt hingegen die drei Prinzipien eines Systems der Natur als paradigmatische Beispiele für regulative Prinzipien ein, die zwar objektbezogen und damit deskriptiv zu verstehen sind, allerdings als hypothetische Annahmen nicht dazu verpflichten, für wahr gehalten zu werden. Entsprechend sind sie lediglich „problematisch“ (ebd., A 646/B 674) im kantischen technischen Sinne, erlauben aber in der naturwissenschaftlichen Praxis Vorhersagen – etwa dass in konkreten Fällen, in denen zwei ähnliche Spezies gegeben sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine höhere, sie vereinigende Gattung gegeben ist.28 Selbst wenn man sich in diesem Sinne mit M. Willaschek für diese moderatere Lesart entscheidet, lassen sich zumindest zwei Dinge festhalten, die für den vorliegenden Kontext relevant sind. Erstens verdeutlicht die oben zitierte Stelle Kants allgemeine These, dass bloß logische Vorschriften in unserer inferentiellen Praxis in hypothetische Annahmen über die Natur als Ganze und damit in deskriptive Gegenstücke überführt werden können.29 Zweitens zeigt Kants quasi26
Vgl. etwa die parallelen Behauptungen in KrV A 650 f./B 678 f. Diesen starken Schluss hat insbesondere Th. Wartenberg gezogen, der sogar von einem „transcendental proof“ (W 1979, S. 418) des Systems der Natur bei Kant spricht. Zur Kritik solcher Lesarten vgl. W 2018, S. 116 f. Für Wartenbergs These spricht allerdings nicht nur die formallogische Struktur der oben zitierten indirekten Begründung, sondern auch, dass Kant an der zitierten Stelle offensichtlich der Überzeugung ist, dass schon unser Verstandesgebrauch und sogar unsere Erfahrung nur unter Bedingung der Gültigkeit des ,Prinzips der Homogenität‘möglich ist. Vermutlich verwendet Kant hier aber einen weiten Begriff von ,Erfahrung‘, der sich nicht in empirischen Einzelurteilen erschöpft, sondern die systematische Ordnung mit in Betracht zieht. Ein solcher Begriff taucht nach P. Rohs besonders in Kants Spätwerk auf. Rohs schreibt: „In der Übergangsproblematik des Opus postumum rückt der Gedanke ins Zentrum, daß Erfahrung nicht ein Aggregat von Wahrnehmungen, sondern ein System ist. Kant betont immer wieder, es könne nicht Erfahrungen geben, sondern nur Eine Erfahrung. Erfahrung gibt es entweder als System oder gar nicht.“ (R 1978, S. 179) 28 Vgl. zu dieser Lesart besonders W 2018, S. 113–118. 29 Dies spricht gegen Interpretationen, die Kants Ausdruck ,regulativ‘ mit ,logisch‘ identifizieren. Vgl. etwa H 1998, S. 531 und zur Kritik solcher Deutungen bes. W 2018, S. 111 f. 27
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transzendentale Rechtfertigung solcher Annahmen an, dass ein solcher Übergang nicht nur legitim, sondern für uns geradezu unvermeidlich ist. Damit ergibt sich aber nicht nur eine mögliche Begründung für Kants These, dass wir in unserer Erkenntnispraxis essentiell zur Annahme einer systematischen Ordnung und zur o.g. Erkennbarkeitsthese disponiert sind.30 Zudem bietet diese These eine mögliche Brücke zu der oben zitierten Aussage, dass die systematische Einheit der Natur zugleich theologisch signifikant ist. Denn aufgrund dieser „Idee“ soll es ja nach Kant ebenfalls „sehr natürlich“ sein, „eine ihr korrespondierende gesetzgebende Vernunft (intellectus archetypus) anzunehmen, von der alle systematische Einheit der Natur […] abzuleiten sei“ (KrV A 695/B 723). Wie hat man sich aber genau den Übergang von der systematischen Struktur der Wirklichkeit zu einem göttlichen Intellekt zu denken? Soweit ich sehen kann, bietet Kant mindestens zwei Überlegungen zu einer solchen Schlussfolgerung an. Die erste Überlegung nimmt die Erkenntnisförderlichkeit des Systems der Natur beim Wort und behandelt diese in einem ersten Schritt als ein zweckmäßiges Phänomen.31 In einem Folgeschritt schränkt sie alle möglichen Formen von ,Zweckmäßigkeit‘ auf solche Gebilde ein, die sich lediglich als Resultat absichtsvoller Handlungen verstehen lassen. Da aber die systematische Struktur der Natur kein Produkt menschlicher Handlungen sein und – anders als kategoriale und fundamentale nomologische Eigenschaften – auch nicht durch unsere apriorische Verstandestätigkeit erklärt werden kann, folgt aus der Anwendung dieses ,intentionalen Modells‘32 der Zweckmäßigkeit eine mögliche Brücke zu einer Entität, die Gott zumindest ähnlich sein muss.33 Die anspruchsvollere und für die Hegelexegese besonders interessante Überlegung versucht hingegen mit Kants Annahme ernst zu machen, dass der gesamte Gegenstandsbereich eines Systems durch eine leitende Vernunftidee a priori organisiert und geordnet sein muss.34 Wie man sich das Verhältnis zwischen der 30 Mithilfe der drei Prinzipien kann man die Erkennbarkeitsthese damit auch so zusammenfassen: „Das eigentümliche Prinzip der Urteilskraft ist also: die Natur spezifiziert ihre allgemeinen Gesetze zu empirischen, gemäß der Form eines logischen Systems, zum Behuf unserer Urteilskraft.“ (KU, Erste Einleitung, AA XX, S. 216) 31 Vgl. bes. KU, B XXVIIf. 32 Diesen Ausdruck übernehme ich hier und im Folgenden von W. de Vries. Vgl. V 1991, S. 55. 33 Beide Schritte fasst etwa folgende Passage der zweiten Einleitung der KU folgendermaßen zusammen: „Weil nun der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck und die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist, Zweckmäßigkeit der Form desselben heißt: so ist das Prinzip der Urteilskraft in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit. D.i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.“ (KU, B XXVIII) 34 Vgl. KrV A 645/B 673 und A 833/B 860 f. Die folgenden Überlegungen bieten vielleicht auch einen Einblick, wie Kant selbst das Verhältnis der beiden Teile des Anhangs zur transzendentalen Dialektik verstanden haben wollte. Vgl. zu den Deutungsproblemen etwa W 2018, S. 239 Fn. 33.
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metaphysischen Idee Gottes und der Einheit der Natur genauer vorzustellen hat, zeigt eine besonders dichte Passage im zweiten Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik: Endlich […] müssen wir […] alles, was nur immer in den Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so betrachten, als ob diese [1] eine absolute, aber durch und durch abhängige und immer noch innerhalb der Sinnenwelt bedingte Einheit ausmache, doch aber zugleich, als ob der Inbegriff der Erscheinungen (die Sinnenwelt selbst) [2] einen einzigen obersten und allgenugsamen Grund außer ihrem Umfange habe, nämlich eine gleichsam selbstständige, ursprüngliche und schöpferische Vernunft, in Beziehung auf welche wir [3] allen empirischen Gebrauch unserer Vernunft in seiner größten Erweiterung so richten, als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprungen wären […]. (KrV A 672 f./B 700 f.)
Einen möglichen Schlüssel zu dieser komplexen Gedankenfolge bietet der Rückverweis auf Kants Erklärung der Genese der Begriffe des Ens realissimum und des Ens necessarium, die oben in Abschnitt II.2.2 rekonstruiert wurde. Denn man könnte die zitierte Stelle so verstehen, dass Kant hier die systemtragende Funktion beider Begriffe und Annahmen voll entfaltet, die von ihm zuvor lediglich angedeutet wurden.35 Was damit gemeint ist, wird vielleicht deutlicher, wenn man zunächst einen Blick darauf wirft, unter welchen Bedingungen nach Kant vollständige Klassifikationen von Individuen überhaupt möglich sind.36 Konkret geht er ja davon aus, dass eine Entität genau dann ein mögliches Individuum sein kann, wenn es ,durchgängig bestimmt‘ ist; und dies bedeutet, dass diesem, um de re möglich zu sein, jeweils genau eine Eigenschaft von allen möglichen kontradiktorischen Paaren intrinsischer Eigenschaften zukommen muss. Nun hatte Kant schon im Kapitel zum ,transzendentalen Ideal‘ argumentiert, dass dieses Prinzip zur Bildung vollständiger Individuenbegriffe eine maximalkonsistente Menge von einfachen und positiven Prädikaten zur Voraussetzung hat, die er auch omnitudo realitatis nennt und aus der sich die intrinsischen Eigenschaften aller Individuen ableiten lassen. Und diesen komplexen Gedanken eines, wie A. Wood ihn nennt, umfassenden „ontological space“37 identifizierte Kant schließ-
35 Zur theologischen Signifikanz der Annahme des Systems der Natur vgl. ferner auch KrV A 660 f./B 688 f.; A 677 f./B 705 f.; A 681 f./B 709 f. und A 685 f./B 713 f. 36 Zum Zusammenhang der vollständigen Klassifikation und Spezifikation möglicher Individuen durch disjunktive Schlüsse und dem ,All der Realität‘ vgl. KrV A 576 f./B 604 f. und hierzu bes. W 1978, S. 50–55 und H 2008, S. 112–114. Die fast schon transzendentale Dimension der durch das Ens realissimum begründeten Ordnung des Wirklichen und Möglichen bei Kant hebt besonders E. Watkins hervor. Vgl. W 2013, S. 226. 37 W 1978, S. 33. Ähnlich drückt sich auch G. Hindrichs in seiner Interpretation aus, wenn er schreibt: „Wir gelangen also auf dem Wege disjunktiver Schlüsse von einem beliebigen Urteil über einen bedingten Sachverhalt zu einem Urteil über die als ein Einzelwesen begriffene Gesamtheit aller möglichen Bestimmungen. Kurz: Wir gelangen zu Gott, verstanden als der absolute logische Raum.“ (H 2008, S. 113) Es ist daher m.E. auch kein Zufall, wenn Hegel bei der Artikulation der inneren Struktur des ,absoluten Begriffs‘ dem disjunktiven Schluss eine herausragende Stellung zuschreibt (vgl. WdL II, GW 12,
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lich in einem letzten Schritt mit der Natur des Ens realissimum, das in einfacher Weise alle intrinsischen Bestimmungen aller möglicher Dinge umfasst. Daher kann Kant meinen, dass schon die vollständige Bestimmtheit aller möglichen Individuen intrinsisch mit dem Wesen Gottes verbunden ist, in dem dann gleichsam das gesamte System natürlicher Arten zum Ausdruck kommt. Gottes Natur ermöglicht in diesem Sinne die in jedem Begriff eines möglichen Individuums vorausgesetzte Einheit der Natur (= Behauptung [1]) und bildet in diesem Sinne den letzten Horizont unserer Erkenntnisbemühungen, von dem Kant schon im ersten Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik spricht: Aber zu den verschiedenen Horizonten, d.i. Gattungen, die aus eben so viel Begriffen bestimmt werden, läßt sich ein gemeinschaftlicher Horizont, daraus man sie insgesamt als aus einem Mittelpunkte überschauet, gezogen denken, welcher die höhere Gattung ist, bis endlich die höchste Gattung der allgemeine und wahre Horizont ist, der aus dem Standpunkt des höchsten Begriffs bestimmt wird, und alle Mannigfaltigkeit, als Gattungen, Arten und Unterarten unter sich befaßt. (KrV A 658 f./B 686 f.)38
Gleichzeitig hatte sich aber mit der Kontingenzproblematik der vierten kantischen Antinomie und des KA gezeigt, dass auch eine andere Welt hätte wirklich sein können. Zwischen der Ordnung der aktualen Welt und Gottes Natur, die implizit die Beschreibung aller möglichen Entitäten enthalten muss,39 kann es daher für Kant keine Eins-zu-Eins-Übereinstimmung geben. Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, den Begriff des Ens realissimum mit dem Begriff des Ens necessarium zum Gedanken einer „ursprüngliche[n] und schöpferische[n] Vernunft“ (ebd., A 672/B 701) zusammenzuführen (= Behauptung [2]).40 Denn
S. 123–126) und darüber die Relevanz vollständiger Einteilungen für den philosophischen Systemaufbau herausstreicht (vgl. ebd., S. 215). Vgl. zum Thema auch S 2004, S. 214–217; K 2013, S. 237–240 und S 2018, S. 549–555. 38 Man vergleiche dies mit der oben in II.2.5 zitierten hegelschen Rede vom „schlechthin alles in sich befassende[n] Allgemeine[n], Konkrete[n]“, dessen Inhalt geradezu „die natürliche und geistige Welt nach dem ganzen Umfang und der unendlichen Gegliederung ihrer Wirklichkeit“ (VPR 3, S. 130) sein soll. Über diesen „unendliche[n] Reichtum des ganzen Stoffs des Universums“ (ebd.) heißt es in der veröffentlichten, ausformulierten Fassung der Notizen des Manuskripts: „So haben wir endliches Bewußtsein, endliche Welt, Natur, was in der Welt der Erscheinung vorkommt. Dies macht überhaupt den Gegensatz des Anderen zur Idee aus. In Gott kommt auch das Andere der einfachen Idee […] vor, da aber behält es die Bestimmung seiner Ewigkeit und bleibt in der Liebe und in der Göttlichkeit. […] Der Stoff […] ist daher an und für sich selbst derselbe, wie er in der göttlichen Idee, als an und für sich, vorkommt und wie er als der Reichtum der endlichen Welt erscheint, denn diese hat ihre Wahrheit und Verklärung nur in jener Welt der Idee.“ (ebd., S. 141 Fn.) Auf die Originalpassage ebd., S. 141 und deren Bedeutung für Hegels Begriff der ,absoluten Idee‘ werde ich unten in II.4.2 eingehen. 39 J. N. Findlay nennt daher das kantische Ens realissimum auch präziser, das „ens realissimum et omnipossibile“ (F 1981, S. 229). 40 Ein solcher Begriff würde sich übrigens auch schon durch den (mittel)platonischen Gedanken nahelegen, dass die platonischen „Ideen im höchsten Verstande einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt, und die ursprünglichen Ursachen der Dinge sind, und nur das
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im Rahmen des KA sollte ja plausibel gemacht werden, dass die Suche nach einer Erklärung dieses Systems der Natur zu einer Entität führt, die nicht nur mit metaphysischer Notwendigkeit existiert, sondern von dem auch alles Andere ontologisch und explanatorisch abhängig sein soll. Und modelliert man diese Form der Erklärung anhand der uns bekannten Formen der Kausalität freier Akteure, dann scheint es nur ein kleiner Schritt, zumindest in analoger Erweiterung von einem ,schöpferischen‘ Ursprung der aktualen Welt zu sprechen.41 Eine solche Annahme hätte schließlich wiederum die Idee zur Folge, dass das System natürlicher Arten der aktualen Welt zumindest im idealen Grenzfall Inhalt unserer Erkenntnis werden kann. Kant kann daher folgern, dass wir „allen empirischen Gebrauch unserer Vernunft in seiner größten Erweiterung“ auf die Idee des göttlichen Intellekts „so richten, als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprungen wären“ (ebd., A 672 f./B 700 f.) (= Behauptung [3]). Meint man daher mit Kant, dass induktives Schließen und wissenschaftliche Hypothesenbildung immer schon die Ordnung der Natur im Rahmen der hypothetischen Gültigkeit der o.g. drei Prinzipien voraussetzen, dann scheinen die von mir oben gekennzeichneten kantischen Behauptungen [1], [2] und [3] in der Konjunktion geradezu die implizite Leitidee wissenschaftlicher Praxis zu bilden.42 Jedenfalls geben sie der oben eingeführten Erkennbarkeitsthese erst das ihr eigentümliche, theologische Profil. These (2): Das Misslingen des TA als Gottesbeweis Aus diesen Überlegungen wird zwar deutlicher, wie und warum wir überhaupt gewillt sind, in unserer theoretischen Praxis immer schon nach zweckmäßigen Strukturen zu suchen und daraus womöglich theistische Schlüsse zu ziehen.43 Gleichzeitig kann aber eine solche Gedankenfolge für Kant unter keinen Umständen in einen echten Beweis umgewandelt werden und bietet damit keine
Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei“ (KrV A 318/B 374 f.). Dieser Gedanken, den Kant an verschiedenen Stellen der KrV aufgreift (vgl. ebd., A 313/B 370 und A 568/B 596), deckt sich dabei weitestgehend mit der Tendenz frühneuzeitlicher metaphysischer Systeme, Letzterklärungen der Dinge in der Ordnung ewiger Wahrheiten zu suchen, die zugleich der Inhalt von Gottes Intellekt sind. Vgl. hierzu prägnant L 1936, S. 147–149. 41 Eine analoge Beschreibung Gottes als herausragendes, kausal wirksames Individuum erwägt Kant u.a. explizit in KrV A 677–679/B 705–707. Auf den traditionellen Hintergrund von Kants Konzeption der analogen Gottesrede haben etwa A. Wood und G. de Anna hingewiesen. Vgl. W 1978, S. 86–93 und A 2012, S. 210. 42 „To love scientific thought and rational, practical love is to love God, and vice versa: surely the perfection of the deep but enlightened piety characteristic of the eighteenth century.“ (F 1981, S. 245) 43 Bekanntlich folgt der Gedanke der Zweckmäßigkeit der Natur für Kant nicht nur aus unserem Erkenntnisgebrauch, sondern auch aus unserer moralischen Praxis. Vgl. KU, B LIII-LVI und unten S. 282–289.
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epistemische Rechtfertigungsgrundlage für den Gottesglauben.44 Denn dazu müssten nicht nur die drei Prinzipien für die Ordnung der Natur konstitutiv gelten, während sie für Kant nur als regulative deskriptive Vorannahmen in der Hypothesenbildung epistemisch legitim sind. Ein beweiskräftiger, deduktiver Schluss auf einen göttlichen Intellekt würde zudem schon durch Kants Erkenntnisrestriktionen blockiert. Denn da jeder erfolgreiche Wissensanspruch auf Begriffe rekurrieren muss, die einen empirischen Anwendungskontext besitzen, sind nach Kant solche Beweisversuche tout court zum Scheitern verurteilt.45 Das TA kann daher auch nicht schwächer als ein bloßes Wahrscheinlichkeitsargument betrachtet werden. Solche Argumente erfordern nach Kant die Gleichartigkeit des Schlusssatzes und der Belege, die die konditionale Wahrscheinlichkeit der induktiv erschlossenen Konklusion kumulativ steigern sollen. Das TA verwendet hingegen empirische Belege für eine wesentlich erfahrungstranszendente Konklusion.46 Aufgrund seiner Erkenntniskritik geht Kant in der KU sogar soweit, selbst die schwächste Beweisform eines TA für untauglich zu deklarieren, die die Möglichkeit eines Phänomens auf Basis einer hypothetischen Annahme zu erklären versucht.47 Denn dies würde mindestens voraussetzen, dass Gottes Existenz metaphysisch möglich ist, was in unserer modalen Beurteilung wiederum einen Bezug zu möglicher Erfahrung voraussetzen müsste.48 Die Annahme einer Einheit der Natur und dessen göttlichen Ursprung lässt sich daher zwar aus der Natur unserer inferentiellen Praxis heraus erklären. Würde sie allerdings als deduktiver oder induktiver Beweisversuch formuliert werden, wäre sie nach Kant geradezu ein Paradigmenfall des Fehlschlusses der
44 Vgl. besonders Diskussion in KU § 90, B 447–453, in der Kant vier mögliche Beweistypen für ein TA mit absteigender Beweisstärke diskutiert. Im Folgenden werde ich mich zunächst Kants Einwänden gegen deduktive Fassungen des TA sowie gegen probabilistische und hypothetische zuwenden. Kants Einwand gegen teleologische Analogieschlüsse werde ich dann im Anschluss an Kants eigene Rekonstruktion benennen. 45 In KU § 90, B 448 behauptet Kant, dass dies trivialerweise aus den Ergebnissen der KrV folge. 46 Nach Kant verhalten sich die einzelnen Belege zur gesamten, kumulativ hinreichenden Belegbasis wie „Teile“ zu „einem Ganzen“ und er wendet gegen probabilistische TA ein: „Weil sie aber als Bestimmungsgründe der Gewißheit eines und desselben Urteils gleichartig sein müssen, indem sie sonst nicht zusammen eine Größe (dergleichen die Gewißheit ist) ausmachen würden: so kann nicht ein Teil derselben innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung, ein anderer außerhalb aller möglichen Erfahrung liegen. Mithin, da bloß-empirische Beweisgründe auf nichts Übersinnliches führen […]: so findet in dem Versuche, durch sie zum Übersinnlichen und einer Erkenntnis desselben zu gelangen nicht die mindeste Annäherung, folglich in einem Urteile über das letztere […] auch keine Wahrscheinlichkeit Statt.“ (ebd., B 452) 47 Die Voraussetzung formuliert Kant auch so: „Was als Hypothese zu Erklärung der Möglichkeit einer gegebenen Erscheinung dienen soll, davon muß wenigstens die Möglichkeit völlig gewiß sein.“ (ebd.) 48 Nach Kant ist logische Konsistenz für ein begründetes Urteil über die metaphysische Möglichkeit de re unzureichend. Vgl. ebd., B 452 f. und zum Möglichkeitskriterium im Gebrauch von Hypothesen KrV A 770/B 798.
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„perversa ratio“ (KrV A 692/B 720).49 Unser Glaube an die teleologische Ordnung der Welt würde dann insgeheim als konstitutives Prinzip der Gesamtwirklichkeit angenommen werden, wohingegen für Kant lediglich die subjektive, epistemische Notwendigkeit unserer Vorannahme den Anschein einer solchen Ordnung erklärt.50 Sie besitzt daher zwar immer eine notwendige Orientierungsfunktion in unserer Erkenntnispraxis, kann aber aufgrund unserer epistemischen Konstitution als solche nie im starken Sinne nachgewiesen werden. Doch selbst, wenn man Kants erkenntniskritische Annahmen bestreiten würde, die hinter der genannten Kritik steht, hätte ein TA schon per se keinerlei Aussichten auf Beweiskräftigkeit. Dazu lohnt es sich das nach Kant übliche Beweisschema eines TA genauer zu betrachten, das sich im Kern als ein Analogieschluss verstehen lässt. In der Regel beginnt ein solches Argument (i) mit einer empirischen Prämisse, die die Existenz eines lokalen oder globalen Phänomens von ,Zweckmäßigkeit‘ ausdrückt.51 Diese Prämisse drückt Kant auch so aus: 1) In der Welt finden sich allerwärts deutliche Zeichen einer Anordnung nach bestimmter Absicht, mit großer Weisheit ausgeführt, und in einem Ganzen von unbeschreiblicher Mannigfaltigkeit des Inhalts sowohl, als auch unbegrenzter Größe des Umfangs. (KrV A 625/B 653)
Kant beschränkt sich hier, soweit ich sehen kann, größtenteils auf die Harmonie zwischen der Entstehung und Erhaltung von Lebewesen und den dafür erforderlichen Mitteln in der (an)organischen Natur, aber mit etwas Phantasie könnte man auch die neuere Rede von der Feinabstimmung der Naturkonstanten für intelligentes Leben als ein Beispiel heranziehen.52 Prämisse (ii) des Arguments formuliert dann die Unerklärbarkeit dieses Phänomens durch herkömmliche Formen der Natur- oder Akteurskausalität.53 Es soll danach weder durch die Angabe von Anfangsbedingungen und bekannter Kausalgesetzen noch als Resultat menschlicher Handlungen erklärbar sein. In Kants stärkerer Formulierung lautet diese Prämisse so:
49 Vgl. zum υÏ στερον προ τερον-Fehlschluss in TA vgl. KrV A 692 f./B 720 f. und W 2018, S. 240. 50 Da dieser Glaube für uns nicht nur unverzichtbar, sondern notwendig und daher ganz unwillkürlich ist, kann man ihn aber dennoch, wie E. Watkins ausführt, ,objektiv‘ in einem schwächeren, aber robusten Sinne nennen. Vgl. W 2013, S. 225. 51 Formuliert man die empirische Prämisse in dieser Weise, fängt sie auch die neuerdings heiß umkämpften Phänomene ,irreduzibler Komplexität‘ bestimmter organismischer Strukturen ein. Vgl. zur Diskussion u.a. WCRL, S. 225–236 und S/H 22003, S. 225–227. Zudem würde sie auch die Prämissen von J. Haldanes teleologischen Argumenten miteinschließen, die von den Problemen des Ursprungs des Lebens, replikativer Fähigkeiten und kognitiver Einstellungen ausgehen. Vgl. ebd., S. 90–109 und 223–232. 52 Vgl. hierzu oben S. 264. 53 Vgl. zu dieser Prämisse auch R 2013, S. 76 f.
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2) Den Dingen der Welt ist diese zweckmäßige Anordnung ganz fremd, und hängt ihnen nur zufällig an, d.i. die Natur verschiedener Dinge konnte von selbst, durch so vielerlei sich vereinigende Mittel, zu bestimmten Endabsichten nicht zusammenstimmen, wären sie nicht durch ein anordnendes vernünftiges Prinzip […] dazu ganz eigentlich gewählt und angelegt worden. (ebd.)
Meint man nun, jede Form der Zweckmäßigkeit setze Akteursintentionen voraus, folgt (iii), dass das Phänomen nur analog zu menschlicher Kausalität verstanden werden kann.54 In der KU erläutert Kant das verwendete Schlussprinzip zusammen mit dem leitenden Analogiebegriff wie folgt: Analogie (in qualitativer Bedeutung) ist die Identität des Verhältnisses zwischen Gründen und Folgen (Ursachen und Wirkungen), sofern sie ungeachtet der spezifischen Verschiedenheit der Dinge, oder derjenigen Eigenschaften an sich, welche den Grund von ähnlichen Folgen enthalten (d.i. außer diesem Verhältnisse betrachtet), Statt findet. (KU § 90, B 449 Fn.)55
Konkret bedeutet dies, dass man die beobachtete systematische Einheit zunächst als Folge kausaler Wirksamkeit betrachtet, die sich nach (ii) nicht in natürlicher Ereigniskausalität erschöpfen soll. Aufgrund der manifesten teleologischen Eigenschaften des explanandums erscheint dann aber ein Erklärungsgrund aus den Absichten eines Akteurs plausibel – zumindest, wenn man implizit eine vollständige Disjunktion möglicher Kausalitätstypen annimmt. Daher lässt sich mit dem Schlussprinzip auf die „Identität“ (ebd.) der Art des erklärenden Begründungsverhältnisses schließen, auch wenn sie sich nach (ii) von der Kausalität menschlicher Akteure spezifisch unterscheiden muss. Das Analogieschema scheint daher den Schluss auf eine personenähnliche Entität zu erlauben, die, anders als Menschen, die nötigen Voraussetzungen mit sich bringt, um für die Zweckmäßigkeit der Gesamtwirklichkeit kausal verantwortlich zu sein. Auch gegen diese Schlussform kann man nach Kant mit beweistheoretischen Prämissen argumentieren.56 Weitaus interessanter sind allerdings diejenigen Ein54 Dieses Schlussprinzip wird in Kants Rekonstruktion als Erläuterung der Konklusion des TA genannt: „4) Die Einheit derselben [= „der Ursache“, W.L.] läßt sich aus der Einheit der wechselseitigen Beziehung der Teile der Welt, als Glieder von einem künstlichen Bauwerk an demjenigen, wohin unsere Beobachtung reicht, mit Gewißheit, weiterhin aber nach allen Grundsätzen der Analogie, mit Wahrscheinlichkeit schließen.“ (KrV A 625 f./B 653 f.) 55 Ein ähnliches Schlussschema wird von F. v. Kutschera für frühneuzeitliche Formen des TA herangezogen und instruktiv rekonstruiert bzw. kritisiert. Vgl. K 1990, S. 35–38. 56 In § 90 der KU argumentiert Kant, dass ein erfolgreicher Analogieschluss zumindest die Gattungs- bzw. Artidentität zwischen den bekannten Individuen und denjenigen, deren Eigenschaften per analogiam erschlossen werden sollen, voraussetzt. Von tierisch hervorgebrachten Artefakten, wie dem „Bau der Biber“, kann man in diesem Sinne etwa die anticartesianische Konklusion gewinnen, „daß die Tiere auch nach Vorstellungen handeln“ (KU § 90, B 449 Fn.), weil Menschen und Tiere derselben Gattung der Lebewesen angehören. Ein paralleler Vergleich mit Gott ist für Kant hingegen zwar denkbar, kann aber aufgrund der Gattungstranszendenz Gottes kein echter Schluss sein (vgl. ebd.).
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wände, die unter kantischen Prämissen selbst dann zutreffend sein würden, wenn man die Anwendung des Schlussschemas für angemessen halten würde. Das entscheidende Problem eines solchen Argumenttyps soll nämlich darin bestehen, dass man sich mit ihm implizit auf eine Variante des sog. ,Prinzips proportionierter Kausalität‘ festlegt.57 Grob gesprochen besagt dieses, dass das, was in einer Wirkung zum Ausdruck kommt, die Möglichkeiten und Kausalkräfte der Ursache nicht übersteigen kann.58 Dieses ermöglicht es zwar vom konkreten Inhalt der Wirkung auf die Verfassung der Ursache zu schließen, schwächt damit aber zugleich die Konklusion des Arguments entscheidend ab. Wie Kant in der KrV und der KU genauer ausführt, zeigt sich dies besonders in zwei Hinsichten: A. Selbst wenn man die natürliche Wirklichkeit im Mikro- und Makrobereich analog zu menschlichen Artefakten verstehen kann, erlauben die erschlossenen Eigenschaften der Ursache keinen definitiven und alternativlosen Schluss auf Gott.59 Weder lässt ein solcher Gedanke für Kant einen Schluss auf ein metaphysisch notwendiges Wesen zu, noch muss die Zahl der möglichen Autoren des Universums auf einen einzigen beschränkt sein. Schließlich ist nicht einmal erforderlich, dass das Material zur Formung des Naturganzen durch die fragliche Ursache selbst hervorgebracht werden muss.60 B. Welchen Sinn und Zweck die Existenz des Lebens überhaupt erfüllen soll, bleibt im Rahmen des Arguments ebenfalls unklar.61 Zwar könnte man etwa aus der Existenz vernunftbegabter Lebewesen eine Art Mittel-/Zweck-Hierarchie bilden. An deren unterster Stufe würden dann die anorganischen Überlebensmittel für Herbivoren stehen, die wiederum die Lebensgrundlage für Carnivoren erster und zweiter Ordnung bilden
57 Vgl. KrV A 627 f./B 655 f. und hierzu auch R 2013, S. 79 f. Die Bezeichnung übernehme ich von E. Feser. Vgl. F 2017, S. 170. 58 Vgl. die Formulierung in STh I. qu.4. a.2co und zur Interpretation P 2009, S. 94 f. und F 2017, S. 170–174. Mit der Engführung möchte ich keineswegs suggerieren, auch aristotelisch-thomistische Fassungen des TA seien, wie neuzeitliche Formen, probabilistische Analogieschlüsse, die auf diesselbe Konzeption von Teleologie zurückgreifen. Diese Annahmen lassen sich nämlich mit guten Gründen bezweifeln. Vgl. T 2013, S. 218–223 und F 2015, S. 182–189. 59 Vgl. zu diesem Einwand KrV A 626–628/B 654–656 und KU § 85, B 400–410. Soweit ich sehen kann, betont Kant in der KU noch deutlicher die polytheistische Option (etwa ebd., B 403). In der KrV scheint Kant hingegen einen möglichen Grund für die Singularität der Ursache in der Einheit der Welt zu sehen (vgl. KrV A 625 f./B 653 f.). Darüber hinaus weist Kant in der KU noch auf eine mögliche pantheistische Interpretation des TA hin, die aber seiner Meinung nach Teleologie als solche zum Verschwinden bringt. Vgl. KU § 85, B 405 f. und ferner § 73, B 326 f. 60 Diese dreifache Form der Unbestimmtheit der Konklusion des TA hebt besonders F. Hermanni mit D. Hume hervor. Vgl. H 2011, S. 88–90. 61 Diesen Einwand gegen die intransparente Hierarchie von Einzelzwecken formuliert Kant in der KU. Vgl. KU § 82, B 383 und § 85, B 407 f. An letzterer Stelle formuliert Kant diesen Einwand in erster Linie, um den o.g. Einwand (A) zu untermauern. Ich führe den Einwand deshalb separat an, weil sich zum einen zeigen wird, dass Kant aus dem apriorischen Nachweis der Existenz eines Endzwecks selbst ein theistisches Argument entwickelt. Zum anderen deutet dieser Einwand m.E. auf ein Grundproblem teleologischer Erklärungen, die ohne einen solchen Nachweis auskommen wollen.
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würden. Solange deren Existenz aber nur der Bedürfnisbefriedigung von höherem, möglicherweise intelligentem Leben dient, wäre eine solche Hierarchie schlicht willkürlich. Unter dieser Voraussetzung wäre es nach Kant dann sogar denkbar, die eben genannte Zweckhierarchie umzukehren.62 Wenn das aber der Fall ist, benötigt man zusätzliche Argumente, worin sich nun intelligentes und vernünftiges Leben genau vor anderen Lebensformen auszeichnen soll und was dies für die möglichen ultimativen Ziele und Zielsetzungen ihres Ursprungs aussagt. Weder die bloße Angabe von zweckmäßigen Phänomenen in Prämisse (i) noch die vermeintliche Unerklärbarkeitsvoraussetzung in Prämisse (ii) gibt darüber aber hinreichend Auskunft.
Beide Gründe führen nach Kant zu folgendem Dilemma der Physikotheologie:63 Entweder sie begnügt sich mit der Unterbestimmtheit ihrer Ausgangsprämissen. Dann aber hat sie keine argumentativen Ressourcen mehr, um alternative nicht(mono-)theistische Hypothesen mit gleicher Ausgangswahrscheinlichkeit auszuschließen. Oder aber sie schließt diese Hypothesen bewusst aus. Dann aber ist sie auf unabhängige Gründe angewiesen, die ein TA überflüssig machen würden. Gemäß Einwand (A) müsste man dann dem Schlusssatz des TA schon die Konklusion des KA unterschieben, dass die intelligente Ursache der Welt mit metaphysischer Notwendigkeit existiert und im besten Falle alle Vollkommenheiten in sich vereint. Unter kantischen Prämissen wäre das TA damit nicht nur redundant, sondern zugleich unweigerlich vom OA abhängig.64 Da dieses aber zusammen mit dem KA scheitern soll, scheint es für kein TA wirkliche Erfolgsaussichten zu geben. These (3): Kants ethikotheologische Rehabilitierung der Physikotheologie Während ein Vertreter des TA Einwand (A) konzedieren und den Gottesbegriff entsprechend anpassen und abschwächen könnte,65 scheint Einwand (B) ungleich schwerer zu wiegen. Warum dies der Fall ist, zeigt sich besonders, wenn man die
62 Eine solche Umkehrung der Zweckordnung erwägt Kant mit Linne´ in KU § 82, B 383. Darauf wird zurückzukommen sein. 63 Zum Di- bzw. Trilemma der Physikotheologie vgl. bes. KU § 85, B 406 f. Kant erwähnt hier noch eine dritte Option, die Teleologie zur Illusion erklärt. 64 Zum Reduktionseinwand vgl. KrV A 629 f./B 657 f. Ebd., A 628/B 656 behauptet Kant zudem, dass die Vollkommenheit der intelligenten Ursache, auf die das TA vermeintlich schließt, nur durch den Begriff des Ens realissimum eingelöst werden kann. Damit scheint er noch eine direktere Verbindung zwischen dem TA und dem OA herzustellen. Vgl. zum Reduktionseinwand auch R 2013, S. 79 f. 65 Vgl. zu dieser Antwortstrategie W 1978, S. 132. Die Indirektheit seines Abhängigkeitsarguments ist zudem eine entscheidende Schwäche der kantischen Kritik. Denn man könnte z.B. mit Kant annehmen, das TA sei eine Bestätigung und Fortentwicklung der Konklusion des KA, aber gegen Kant dafür argumentieren, dass das KA irreduzibel ist. Eine solche Strategie findet man ausgearbeitet in T 2013, S. 221 f.
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Konsequenzen der kantischen Behauptung ausbuchstabiert, dass der Hinweis auf die Ermöglichung der bloßen Selbsterhaltung bestimmter Lebensformen überhaupt nichts über deren Funktion und Stellung im Kosmos aussagt.66 Ohne eine unabhängige Begründung eines Endzwecks gäbe es für Kant keine Möglichkeiten, alternative Zweckhierarchien auszuschließen. Nach Kant könnte man sogar eine teleologische Ordnung imaginieren, an deren oberster Stelle nicht etwa Menschen, sondern Pflanzen stehen würden.67 In diesem kantischen Szenario würden dann Pflanzenfresser für die Vermeidung von Wucherungen führen, sodass eine möglichst große Fülle von Pflanzenarten den nötigen Lebensraum besitzen würden. Carnivoren zweiter Ordnung könnten wiederum eine Überbevölkerung von Herbivoren und Carnivoren erster Ordnung verhindern. Und der Mensch würde schließlich allein die Funktion haben, für das richtige Gleichgewicht zwischen allen Formen organischen Lebens zu sorgen. Vermutlich würden Vertreter physikotheologischer Argumente hier protestieren und mögliche Gründe, etwa in der besonderen Auszeichnung des intrinsischen Werts intelligenten Lebens, sollten hierbei nicht einfach a priori ausgeschlossen werden. Der kantische Einwand wirft aber m.E. die berechtigte Frage auf, wie viele metaphysische und theologische Intuitionen schon in den Aufbau eines TA einfließen müssen, damit der Theismus empirische Tatbestände besser als mögliche explanatorische Konkurrenten erklären kann oder zumindest durch die Tatbestände wahrscheinlicher gemacht wird.68 Gleichzeitig zeigt Einwand (B) an, mit welchem Typ von Prämissen ein Argument dieser Kritik entgehen könnte. Denn wenn sich in der Welt eine teleologische Struktur aufweisen ließe, die nicht wieder neue Fragen nach ihrem ,Warum‘ bzw. ,Wozu‘ aufwirft, wäre das Problem der Zweck-Mittel-Hierarchie offenbar beseitigt. Nach Kant findet sich ein solcher Fall in unserer moralischen Praxis.69 Denn bei Handlungen oder ihren Resultaten, die in der Teilnehmerper66 Dieser Kritiklinie scheint allerdings R. Collins’ Fassung des TA zu entgehen, die die Werte der Naturkonstanten auf ihre Feinabstimmung hinsichtlich der (wissenschaftlichen) ,Entdeckbarkeit‘ („discoverability“) überprüft. Vgl. C 2018. Dies würde aber nach Kant schon voraussetzen, dass das, was entdeckt wird, selbst einen hohen intrinsischen Wert besitzt und der wissenschaftlichen Praxis damit Endzweckcharakter zukommen kann. Vgl. bes. KU § 86, B 410 f. Collins argumentiert selbst für das hohe Gut der Wissenschaft und dessen theologische Signifikanz. Vgl. C 2018, S. 102 f. 67 Vgl. KU § 82, B 383. 68 Zu den erklärungstheoretischen Problemen der Physikotheologie in kantischer Perspektive vgl. R 2013, S. 76–79. Gegen schwächere probabilistische Fassungen lässt sich analog mit H. Tegtmeyer argumentieren, dass sie neben einer Klärung der ontologischen und theologischen Voraussetzungen eine genauere Differenzierung aller alternativen Erklärungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen erforderlich machen. Vgl. T 2013, S. 219–221. 69 Zum moralischen Charakter des Endzwecks der Welt vgl. KU § 84, B 396–399 und § 86, B 411 f. Bisweilen wird Kants Idee einer moralisch gerechtfertigten Zweckhierarchie selbst von Vertretern des moralischen Arguments als zu stark eingestuft. Vgl. etwa R 2013, S. 83. Die folgenden Überlegungen können aber vielleicht plausibel machen, warum Kant selbst
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spektive auf wahren moralischen Urteilen beruhen, lässt sich für Kant nicht nochmals fragen, welche anderweitigen Absichten ein Akteur mit ihr letztlich verfolgt und ob unsere moralische Handlungspraxis nicht als solche auch anderen Zielsetzungen dienen könnte.70 Dieser Vorzug wird laut Kant durch zwei Gründe erhärtet, die eng miteinander zusammenhängen: Zum einen folgt der Endzweckcharakter moralischer Handlungen aus der Tatsache, dass das ihnen zugrundeliegende, singuläre und höherstufige Urteilsprinzip – der ,kategorische Imperativ‘71 – nicht nur deontisch notwendig, sondern unbedingt gültig sein soll. Es gebietet damit nicht nur, unter allen möglichen Umständen im Sinne strikt universeller, praktischer Grundsätze zu handeln. Es kann auch nicht aus höherstufigen, (nicht-)moralischen Prämissen gefolgert werden.72 Der Gesetzescharakter des ,kategorischen Imperativs‘ hat zum anderen im kantischen Rahmen direkte Konsequenzen für eine Epistemologie moralischer Überzeugungen und Urteile. Denn da für Kant deontisch notwendige und universell gültige Aussagen unter keinen Umständen induktiv gewonnen werden können, ergibt sich, dass das Bewertungsprinzip von Handlungsmaximen a priori und unmittelbar einsichtig sein muss.73 Die Stärke der Ausgangsprämisse ist nach Kant zugleich der Grund, warum sie ein paralleles TA erforderlich zu machen scheint.74 Denn zwar gilt der kategorische Imperativ auch dann, wenn moralisch legitime Absichten und Handlungen nicht die jeweiligen Konsequenzen erzielen. In der Tat gehört es nach Kant zum Spezifikum moralischer Handlungen, dass sie nur dann diesen Namen verdienen, wenn sie nicht um der möglichen, ggf. außermoralischen Resultate, sondern rein aus Pflicht und der bewussten Befolgung des moralischen Gesetzes
diese Überzeugung vertritt, deren Kernintuition durchaus auch zeitgenössische Autoren teilen. Vgl. etwa K 2006, S. 255–257 und H 2013, S. 47–49. 70 Kant schließt aber keineswegs konkrete Fälle der Selbsttäuschung über die eigene Motivlage aus. Dies ist vielmehr ein entscheidendes Ausschlusskriterium für Moraltheorien, die moralische Aussagen empirisch – etwa durch Introspektion – begründen wollen. Vgl. etwa GMS, AA IV, S. 406–408 und dazu O’N 2004, S. 95. 71 In den folgenden Überlegungen orientiere ich mich insbesondere an der Standardformulierung in Form universeller Gesetzmäßigkeit. Vgl. GMS, AA IV, S. 421 und KpV § 7, A 54/AA V, S. 30. Eine hervorragende systematische Rekonstruktion aller Aspekte praktischer Gesetze im Verhältnis zu Maximen findet sich in K 2006, S. 622–630. 72 Dem entspricht Kants vieldiskutierte Rede von der moralischen ,Selbstgesetzgebung‘ bzw. der ,Autonomie des Willen‘. Vgl. u.a. GMS, AA IV, S. 440 und KpV, A 38/AA V, S. 20 f.; vgl. zur Erläuterung auch O’N 2004, S. 107 f. 73 Das Wissen um das moralische Gesetz ist damit ein „Faktum der Vernunft“ (KpV, A 56/AA V, S. 31). 74 Vgl. KpV, A 224–226/AA V, S. 124–126 und KU § 87, B 423 f. Im Folgenden richte ich mich in erster Linie nach der Formulierung des Arguments in der KU.
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erfolgen.75 Eine echte moralische Handlung muss demnach immer allein auf Maximen beruhen, deren strikte Verallgemeinerung keinen begrifflichen oder pragmatischen Selbstwiderspruch impliziert.76 Gleichzeitig folgt aber aus dessen Wahrheit, dass unsere moralische Praxis und damit unser Lebensvollzug als Vernunftwesen notwendigerweise gelingen sollte. Moralische Akteure haben mithin aufgrund ihrer Absichten und Taten nach Kant einen legitimen Anspruch auf ein glückliches Leben, selbst wenn dies nicht der eigentliche Motivationsgrund ihrer Handlungen sein darf. Nach Kant könnte unsere Handlungspraxis daher in moralischer Hinsicht gar nicht den höchsten Wert in der Welt realisieren und damit einen echten Endzweck darstellen, der mit ihrem Gesetz verbunden ist, wenn die Glückswürdigkeit moralischer Akteure unter keinen Umständen eingelöst werden könnte. Diese Prämisse seines moralischen Arguments formuliert Kant auch so: Die subjektive Bedingung unter welcher der Mensch (und nach allen unsern Begriffen auch jedes vernünftige endliche Wesen) sich unter dem obigen Gesetze einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit. Folglich, das höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetz der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein. (KU § 87, B 423 f.)
Dem fügt Kant eine zweite Prämisse hinzu, die man analog zur Unerklärbarkeitsprämisse (ii) des TA verstehen kann. Denn nach Kant können weder wir Menschen noch alle naturgesetzlichen Regularitäten zusammengenommen tatsächlich garantieren, dass das moralisch gerechtfertigte Glücksstreben de facto erfüllt wird.77 In Kants Worten: Diese zwei Erfordernisse des uns durch das moralische Gesetz aufgegebenen Endzwecks können wir aber nach allen unseren Vernunftvermögen als durch bloße Naturursachen verknüpft und der Idee des gedachten Endzwecks angemessen unmöglich uns vorstellen. (ebd., B 424)
Gleichzeitig scheint eine metaphysisch kontingente Koinzidenz von Glück und Moral durch die modale Stärke des moralischen Gesetzes ausgeschlossen. Denn ihm gemäß ist der Zusammenfall beider Sphären geradezu deontisch notwen-
75 Diese zentrale Prämisse des Arguments formuliert Kant in der KU auch so: „Das moralische Gesetz als formale Vernunftbedingung des Gebrauchs unserer Freiheit verbindet uns für sich allein, ohne von irgend einem Zwecke als materialer Bedingung abzuhängen […].“ (KU § 87, B 423) 76 Zu den Details dieses Bewertungsverfahrens vgl. K 2006, S. 627 f. und I 2007. 77 Unerklärbarkeitsbehauptungen rufen schon aufgrund ihrer modalen Stärke Zweifel hervor. Wie M. Willaschek zeigt, gilt dies a fortiori für den Rahmen des kantischen moralischen Arguments. Vgl. W 2009, S. 263 f. Auf diese Schwierigkeiten wird unten in II.3.2 zurückzukommen sein.
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dig.78 Mit der gleichen Form der Notwendigkeit ergibt sich daher für Kant, dass es eine Erklärung außerhalb der Natur geben soll: Also stimmt der Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks durch die Anwendung unserer Kräfte nicht mit dem theoretischen Begriffe der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben zusammen, wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Kausalität (eines Mittels), als die der Natur verknüpfen. (ebd.)
Aus dieser ersten Zwischenkonklusion folgt schließlich unter Voraussetzung der intentionalen Auffassung von Zweckmäßigkeit, dass die Verwirklichung des Endzweck sich allein auf Absichten einer nicht-endlichen Person zurückführen lässt.79 Diese sollte für Kant entsprechend nicht nur die Gesinnungen moralischer Akteure kennen, sondern auch alle möglichen Folgen, die dessen Handlungen zeitigen.80 Damit die Glückswürdigkeit tatsächlich erfüllt wird, muss sie zugleich fähig sein, die Naturgesetze so einzurichten, dass die moralisch legitimen Folgen tatsächlich eintreten. Und da dies auch für sie ein Endzweck darstellen muss, muss sie nach Kant zugleich gewillt sein, dies zu tun.81 Die deontisch notwendige Erfüllung des höchsten Guts erfordert in diesem Sinne also die Handlung(en) einer nicht-endlichen Person, der alle klassischen Vollkommenheitsattribute (oder zumindest ihnen hinreichend ähnliche) zukommen. Aufgrund der Stärke und dem Inhalt der Ausgangsprämissen meint Kant daher, dass sein Argument nicht nur das Problem des mangelnden Endzwecks lösen, sondern zugleich dem Einwand aus der Unterbestimmtheit empirischer Prämissen entgehen kann. Die Ethikotheologie ergänzt damit nicht nur für Kant die Physikotheologie, sondern macht sie vielmehr überflüssig.82 78 Allerdings darf das Bestehen dieses Sachverhalts auch nicht direkt aus dem moralischen Gesetz folgen, weil man ansonsten – im Stil von J. Leslie, N. Rescher und Th. Nagel – die Güte der kontingenten Wirklichkeit ohne Umweg über Gott als einen Erklärungsgrund für ihre Existenz heranziehen kann. Vgl. unten II.3.3. Einen solchen Schluss scheint Kant durch die These der Autonomie der Moral zu blockieren. Im moralischen Argument in der KpV macht Kant diese Zusatzprämisse explizit und folgert: „Also ist in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen, und daher von ihr abhängigen, Wesens […].“ (KpV A 224/AA V, S. 124) 79 Kant schließt daher in der oben zitierten Passage: „Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetze einen Endzweck vorauszusetzen; und so weit als das letztere notwendig ist, so weit […] ist auch das erstere anzunehmen: nämlich es sei ein Gott.“ (KU § 86, B 424) In der Variante des Arguments in der KpV versucht Kant diesen Schluss noch durch die Zusatzprämisse zu sichern, dass jeder mögliche Ursprung des höchsten Guts selbst moralische Zielsetzungen besitzen und verfolgen muss. Vgl. KpV, A 225/AA V, S. 125. 80 Zu Kants Schluss auf die Vollkommenheitsattribute Gottes vgl. bes. KU § 86, B 413 f. Kant versucht dort die Attribute der Allwissenheit, Allmacht, der Allgüte und der Gerechtigkeit abzuleiten. Vgl. ergänzend auch KU § 89, B 439 f. bzw. § 91, B 476 f. 81 In KU § 86, B 414–416 scheint Kant dabei dem Demiurgen-Einwand gegen das TA durch die These entkommen zu wollen, dass die Wirklichkeit des höchsten Guts zugleich erklären könne, warum überhaupt eine Welt existieren muss. 82 Vgl. etwa KU § 91, B 472 f. und zur Unabhängigkeit der Ethikotheologie auch R
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Trotz des inhaltlichen Reichtums der Schlussfolgerung soll das moralische Argument im Beweisanspruch aber wesentlich schwächer sein als das TA. Würde es tatsächlich Gottes Existenz epistemisch rechtfertigen können, hätte man mit Kants Argument zugleich einen guten Grund gegen seinen Nachweis der Unmöglichkeit natürlicher Theologie. Kant merkt daher sofort bzgl. der Beweiskräftigkeit seines Arguments an: Dieses moralische Argument soll keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben, nicht dem Zweifelgläubigen beweisen, daß ein Gott sei; sondern daß, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse. (KU § 87, B 424 Fn.)
Kants Argument zielt daher nicht auf die epistemische Rechtfertigung einer metaphysischen Überzeugung, sondern vielmehr auf die Begründung der schwächeren Aussage, dass Gottes Existenz unter die ,Postulate‘ praktischer Vernunft zu zählen ist. Ein ,Postulat‘ ist im kantischen technischen Sinne (i) eine wesentlich metaphysische Aussage, deren Wahrheit (und Falschheit) sich zwar (ii) nicht theoretisch durch Belege entscheiden lässt, deren Akzeptanz aber zugleich (iii) praktisch bzw. moralisch notwendig ist.83 Im vorliegenden Kontext bedeutet Kriterium (iii) nur so viel, dass die Annahme von Gottes Existenz eine notwendige Bedingung dafür ist, „moralisch konsequent [zu] denken“ (ebd.), und dass die impliziten, aber für Kant unumgänglichen Ansprüche moralischer Praxis ohne den Schöpfungsgedanken nicht realisierbar wären. Die Komplexität dieses Resultats zeigt sich aber schon daran, dass die Einlösung von Kriterium (iii) nicht mit dem zweiten Kriterium der evidentiellen und argumentativen Unterbestimmtheit in Konflikt geraten sollte.84 Um trotz der 2013, S. 88. Es ist allerdings fraglich, ob Kants Ableitung der Vollkommenheitsattribute tatsächlich dem Maximalitätskriterium gerecht wird, das er für ,Realitäten‘ definiert. Vgl. C 2012, S. 640. Denn der ,moralische Welturheber‘ muss ja nur das wissen und bewirken können, was jeweils für die Erfüllung der Glückswürdigkeit erforderlich und relevant ist. Ob daraus aber zugleich folgt, dass er auch jeden logisch und metaphysisch möglichen Sachverhalt bewirken kann, ist keineswegs offensichtlich. Vgl. zu diesem Einwand W 2013, S. 228. Gleiches gilt a fortiori für die modalen Eigenschaften der moralischen Ursache, die in Kants Listen der abgeleiteten Attribute (bspw. in KU § 86, B 414) nirgendwo auftauchen. Diesem Einwand könnte man Rechnung tragen, wenn man die kantische Behauptung mit hinzunimmt, der Gottesbegriff des KA und des OA formuliere Adäquatheitsbedingungen für jede Gottesrede. Vgl. KrV A 639 f./B 667 f. und zu dieser Verteidigungslinie ferner W 2013, S. 229 f. Man wird dann aber nicht mehr von der Selbstständigkeit des moralischen Arguments sprechen können. 83 Vgl. KpV A 220/AA V, S. 122 und hierzu bes. W 2010, S. 187–192. Die deontische Notwendigkeit der Wirklichkeit des höchsten Guts schließt nach Willaschek schwächere Lesarten aus, nach denen man die Verwirklichung des höchsten Guts lediglich erhofft, aber nicht unbedingt für wahr hält. Vgl. ebd., S. 180. In eine solche Richtung gehen z.B. die neueren Ansätze von P. Rohs und H. Tetens. Vgl. R 2013, S. 84 f. und T 2013, S. 14–16. 84 Im Anschluss an die oben zitierte Passage meint P. Rohs daher, dass trotz der „epistemische[n] Symmetrie zwischen Theismus und Atheismus“ bei Kant eine „ethikotheologische Asymmetrie zwischen beiden“ (R 2013, S. 82) besteht.
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epistemischen Parität zwischen Theismus und Atheismus an der moralischen Berechtigung des Gottesglaubens festhalten zu können, muss Kant daher für die wesentlich stärkere These argumentieren, dass der moralischen Praxis der ,Primat‘ gegenüber der menschlichen Erkenntnis- und Theoriebildung zukommt.85 Dies bedeutet genauer, dass das Interesse an einem moralisch vollkommenen Leben nicht dem theoretischen Interesse am Gründe-geleiteten Wahrheitserwerb und an der Irrtumsvermeidung untergeordnet werden kann bzw. darf. Nur dadurch kann gewährleistet werden, dass man sich trotz des bloßen Postulatscharakters des moralischen Glaubens keineswegs auf einen Agnostizismus festlegen muss, der sich etwa durch den evidentialistischen Einwand nahelegt. Von der Urteilsenthaltung darf man daher für Kant genau dann absehen, wenn man einen guten Grund dafür angeben kann, dass ohne ein positives Urteil unser moralisches Denken und Handeln nicht konsequent vollzogen werden könnte – vorausgesetzt, es sprechen (a) keine Gründe gegen ein solches Urteil und die moralische Praxis hat in solchen Fällen (b) generell den Vorrang gegenüber den üblichen Normen der Erkenntnisbildung. Kants These vom ,Primat der praktischen Vernunft‘ bildet daher den komplexen Versuch, die universelle Gültigkeit des Evidentialismus zu bestreiten, ohne aber in eine Variante des Non-Kognitivismus oder der starken Basalitätsthese zu verfallen.86 Ob Kants Position im Falle des Gottesglaubens tatsächlich stabil ist, werden wir unten mit Hegel zu fragen haben. Man könnte aber schon an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob Kants Rede vom praktischen Vernunftglauben dem moralischen Argument nicht zugleich zu viel und zu wenig zumutet. Denn von möglichen Einwänden gegen die Rede von ,Endzwecken‘ in der Welt abgesehen,87 ist es einerseits gar nicht klar, warum man die alethische Unentscheidbarkeit im Falle der metaphysischen Theoriebildung akzeptieren, für die moralische Praxis aber verwerfen darf. Das moralische Argument soll ja zeigen, dass die Akzeptanz einer obersten moralischen Norm zugleich die ontologische Verpflichtung von Gottes Existenz mit sich bringt.88 Und es ist schwer einsehbar, 85 Vgl. KpV A 215–219/AA V, S. 119–121 und die formale Analyse und Rekonstruktion in W 2010, S. 173–186. 86 M. Willaschek interpretiert Kants Rede vom ,Primat der praktischen Vernunft‘ daher m.E. völlig zu Recht als ein Argument gegen die uneingeschränkte Gültigkeit evidentialistischer epistemischer Normen. Vgl. Willaschek 2009, S. 251–253 und . 2010, S. 194–196. 87 Schlüsse auf Endzwecke lassen sich u.a.. mit neo-darwinistischen Annahmen bestreiten, die die Gesamtentwicklung des Lebens für echten Zufall erklären. Wie berechtigt solche Einwände sind, werden wir unten in II.3.3 fragen. Vorläufer der neo-darwinistischen Zufallsthese diskutiert Kant selbst explizit in KU § 73, B 324 f. Die Annahme des Ursprungs des Lebens aus anorganischer Materie hält er mit Blumenbach für „vernunftwidrig“ (KU § 81, B 379). Ob Kants Repliken zufriedenstellend sind, lasse ich hier offen. Vgl. W 1978, S. 137–139. 88 M. Willaschek illustriert Kants Position treffend anhand des Beispiels, das niemand etwa einen Imperativ der Form „Open the window in this room“ (W 2010, S. 180) als bindend akzeptieren kann, der zugleich davon überzeugt ist, dass es dort gar kein Fenster gibt. Vgl. ebd.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
warum dies nicht zumindest voraussetzt, dass die entsprechende Existenzaussage für uns einen repräsentationalen Gehalt besitzt oder hinsichtlich seiner Wahrheit wirklich entschieden werden kann.89 Dies würde aber zu Spannungen mit Kants Bedeutungsprinzip und den Ergebnissen des Nachweises der Unmöglichkeit natürlicher Theologie führen. In diesem Sinne müsste Kant seinem Argument offensichtlich weitaus mehr zugestehen als durch seine eigene Kritik erlaubt ist. Würde man dies zumindest hypothetisch annehmen, scheint es fraglich, ob die Schlüssigkeit eines moralischen Arguments nicht zugleich die These der evidentiellen Unentscheidbarkeit unterminieren müsste und Kant ihm daher nicht eigentlich zu wenig zumutet. Denn wenn der moralische Schluss auf Gottes Existenz tatsächlich deduktiv unvermeidlich sein sollte, dann offenbar auf Basis von Prämissen, die im kantischen Rahmen den epistemischen Status der Voraussetzungen der anderen Argumente übertrumpfen müssen. Während etwa ein schwaches, nicht-restringiertes Prinzip vom zureichenden Grund für Kant bestenfalls zweifelhaft ist, soll das moralische Gesetz gerade Inhalt einer unmittelbaren Einsicht sein, aus dem wiederum die Annahme der Realisierbarkeit des höchsten Guts und deren göttliche Gewährleistung folgen soll.90 Moralische und axiologische Urteile müssten damit ebenso echte Erkenntnisansprüche darstellen, wie die logischen Konsequenzen, die deren Akzeptanz zeitigen sollen.91 Dann aber müsste aus Kants Argument wesentlich mehr folgen, als seine Rede vom ,Primat der praktischen Vernunft‘ erforderlich macht. Zumindest ist nicht abzusehen, wie
89 Genau genommen wäre damit schon ein Urteil über die metaphysische Möglichkeit Gottes gefährdet. Denn Kant meint ja, dass wir nicht einmal eine Hypothese über Gottes Existenz und Wirksamkeit vertreten dürfen, weil dies zumindest eine Beurteilung metaphysischer Modalitäten voraussetzen würde, die für uns unmöglich sein soll. Vgl. oben S. 277. Damit wird auch fraglich, ob man überhaupt auf Gottes Beistand in der moralischen Praxis hoffen kann. Denn eine begründete Hoffnung, dass p der Fall ist bzw. sein wird, scheint mit dem Sachverhalt inkompatibel, dass man nicht einmal im Prinzip wissen kann, dass p metaphysisch möglich ist. Vgl. T 2012, S. 42 f. 90 Würde das moralische Argument schon zu einem positiven Urteil über die metaphysische Möglichkeit Gottes berechtigen (vgl. W 2010, S. 191 und W 2013, S. 228 f.), hätte das unangenehme Konsequenzen für Kant. Denn dann hätte man einen Grund für die Hauptprämisse des modalen OA, das Kant bestreitet. Vgl. zu dieser Argumentationslinie B/C 2018. 91 Um diese Schlussfolgerung zu blockieren, unterscheidet etwa M. Willaschek zwischen theoretischen Belegen für die Wahrheit einer Aussage und den Gründen für die Bildung bzw. Aufrechterhaltung des Für-Wahr-Haltens und bemerkt: „As Kant claims, there can be reasons for believing something which are not evidence in this sense, since these reasons do not bear on the truth of the proposition in question, but on the belief’s relation to the subject’s moral commitments.“ (W 2010, S. 169 Fn. 3) Eine solche Unterscheidung wirkt aber künstlich, denn nach Kant bzw. Willaschek soll ich mich gerade durch meine moralische Verpflichtung ontologisch darauf verpflichten, dass Gott existiert. Vgl. oben Fn. 88. Wie kann ich aber darin ,gerechtfertigt‘ sein, zu glauben, dass dies der Fall ist, und dabei zugleich annehmen, dass nichts, nicht einmal das moralische Argument, für die mögliche Wahrheit dieser Existenzaussage sprechen kann?
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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man in diesem Rahmen die praktische Vernunft klar von der theoretischen unterscheiden kann, ohne zugleich abzustreiten, dass wir echte und argumentativ entscheidbare Wissensansprüche über das erheben, was intrinsisch gut ist und der Fall sein soll.92 Damit kann freilich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass man solche Fragen nicht im kantischen Rahmen lösen könnte. Sie machen aber die diffizile Rolle des moralischen Arguments in Kants System und damit nochmals die Gratwanderung deutlich, die Kant in seiner Rechtfertigung des Gottesglaubens unternehmen muss. Ob dies Kant tatsächlich gelingt, scheint zumindest prima facie zweifelhaft.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik und seine Bewertung des teleologischen Arguments Kants positive Bewertung und zögerliche Rechtfertigung von verschiedenen Typen teleologischer Urteile definierten sicherlich die Rahmenbedingungen der Diskurse und Debatten der klassischen deutschen Philosophie. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Präsenz der Teleologie in der letzten Fassung der Enzyklopädie zeigt nicht nur, wie Hegel an Kants Überlegungen konstruktiv anknüpft, sondern auch, wie er den Gegenstandsbereich teleologischen Denkens sukzessive ausdehnt. So muss eine gelingende Analyse für Hegel nicht nur die Plausibilität genereller Modelle und deren prinzipielle Anwendbarkeit prüfen.93 Sie muss diese allgemeinen Kategorien je nach Phänomenbereich genau differenzieren. Entsprechend gibt es für Hegel nicht nur prägnante Unterschiede zweckmäßiger, synchroner und diachroner Prozesse bei menschlichen und nichtmenschlichen (organischen) Individuen.94 Neben diesen lokalen Phänomenen behandelt Hegel – wie schon Kant – die Frage, ob etwa die Naturordnung selbst eine teleologische Struktur besitzt95 und ob sich diese auf die Entwicklung und 92 Jedenfalls müsste man genauer begründen, warum Kants Position nicht einfach in einen theologischen oder moralischen Non-Kognitivismus verfällt. Zum moralischen Argument Kants bemerkt H. Tegtmeyer treffend: „[F]ür den praktischen Vernunftgebrauch Entitäten zu postulieren, die außerhalb desselben keine Rolle spielen sollen, bleibt dennoch eine fragwürdige Prozedur, die deflationäre Umdeutungen [i.e. der Ethikotheologie, W.L.] geradezu herausfordert.“ (T 2016b, S. 191) 93 Vgl. Enz. §§ 204–212, GW 20, S. 209–214. 94 Zur Kategorie des ,Lebens‘ im Allgemeinen und zu Hegels ,organischer Physik‘ im Besonderen vgl. Enz. §§ 216–222, GW 20, S. 219–221 und §§ 338–376, GW 20, S. 344–375. Im Bereich menschlichen Lebens tritt Teleologie zum einen in der Erkenntnisbildung (vgl. u.a. Enz. §§ 224 f., GW 20, S. 222 f. und § 445, GW 20, S. 439 f.) und zum anderen im Handeln auf. Vgl. etwa die Handlungstheorie in der Analyse des ,praktischen Geistes‘ und in der Rechtsphilosophie in Enz. §§ 469–482, GW 20, S. 466–477 und §§ 503–512, GW 20, S. 488–494. 95 Zur Teleologie in der gesamten Naturordnung vgl. u.a. Enz. § 251, GW 20, S. 241 und § 376, GW 20, S. 375. Auf Hegels genaue Konzeption werde ich unten in II.3.3 näher eingehen.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Geschichte geistigen Lebens ausdehnen lässt.96 Schließlich lässt letztere Frage wiederum eine komplexe Binnenstrukturierung zu und zwar, je nach dem nämlich, nach welcher Geschichte man genau fragt. Entsprechend gibt es bei Hegel nicht nur Überlegungen zur Zielrichtung in der Geschichte politischer Institutionen und Verfassungen verschiedener Kulturen, sondern auch zu der dabei mit involvierten Entwicklung in Kunst, Religion und Philosophie.97 Schon dieser Gesamtüberblick zeigt an,98 wie ausdifferenziert die Hintergrundannahmen sind, mit denen sich Hegel dem TA und dessen religiöser Signifikanz nähert. Sie bestimmen daher auch durchgängig seine Beziehung zur kantischen Kritik, deren Eigentümlichkeit man vorgreifend mit folgenden Merkmalen umschreiben kann: Erstens ist Hegel allgemein der Meinung, dass die intentionale Aktivität von Akteuren nur eine Unterform der Gattung zweckmäßiger Phänomene darstellt, wenn sie auch darin eine herausragende Rolle einnimmt. Daraus folgt, dass Modelle, die alle Typen der Teleologie implizit von den Absichten von Personen her verstehen, permanent Gefahr laufen, den gesamten Tatbestand einseitig aufzufassen. Eine solche Auffassung wäre nach Hegel zweitens schon deshalb defektiv, weil ein durch Absichten geleitetes Verhalten nur dann möglich ist, wenn der Akteur ein wesentlich lebendiges Individuum ist. Die Kategorie des Lebens muss daher viel weiter gefasst werden als im Rahmen von rein intentionalen Modellen möglich ist. Da Hegel eben dieses Modell Kant unterstellt, kann er drittens behaupten, dass Kants Kategorien nicht differenziert genug sind, um alle Feinheiten und Typen möglicher teleologischer Schlüsse einzufangen. Kants Perspektive auf das TA ist daher nicht nur einseitig. Sie führt nach Hegel auch dazu, dass Kant das Potential seines Einwands aus der Unbestimmtheit nicht vollständig ausschöpft. Denn ein zweckmäßiges Phänomen kann dann nicht mehr in erster Linie als Produkt echter absichtsvoller Handlungen verstanden werden, sondern lässt auch alternative teleologische Deutungen zu. Wie Hegel diese Aussagen rechtfertigt und welche Konsequenzen dies für seine eigene Auffassung des TA hat, wird im Folgenden zu fragen sein. Da es in dieser Untersuchung v.a. um Hegels Beurteilung des Ursprungs und der Leistungsfähigkeit des TA sowie dessen Signifikanz für den Inhalt religiösen Denkens 96
Vgl. bes. Enz. §§ 549–552, GW 20, S. 524–541. Jede dieser ,Teilgeschichten‘ sind für Hegel dabei nur Aspekte ein und derselben Geschichte geistigen und vernünftigen Lebens, da Hegel konsequent von ihrer Einheit ausgeht. Vgl. insbesondere Enz. § 562A, GW 20, S. 547. Hegels konkreten Thesen zur Entwicklung des religiösen Bewusstseins werde ich mich unten in Abschn. III.4.2 zuwenden. 98 Selbst bei diesen kursorischen Überlegungen ist gar nicht abzusehen, dass damit alle Niveaus teleologischen Denkens bei Hegel abgedeckt sind. J.N. Findlay weist etwa zu Recht auf die teleologische Struktur auf jeder Stufe der dialektischen Begriffsentwicklung hin (vgl. F 1970, S. 132–135). Mit dem begriffslogischen Vokabular sind dann wiederum alle explikativen Mittel zusammen, um diese Struktur als Ganze zu artikulieren, wie dies nach Findlay insbesondere im Teleologiekapitel (vgl. ebd., S. 137–139) und dann bes. in der Ideenlogik geschieht (vgl. ebd., S. 139–141). 97
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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geht, werde ich mich besonders auf seine Diskussion in den religionsphilosophischen Kollegien konzentrieren.99 Ein solcher exegetischer Fokus rechtfertigt sich darüber hinaus aus der Tatsache, dass Hegel dort besonders ausführlich über Kants kritische Würdigung des TA spricht. Wie in Kap. II.2 soll im Folgenden daher jede der kantischen Thesen, die in Abschnitt II.3.1 rekonstruiert wurden, in hegelscher Perspektive einzeln beleuchtet und diskutiert werden. Zu These (1): Die Rolle der Teleologie im religiösen Denken und der metaphysische Begriff der ,Weisheit‘ Auch im Rahmen seiner Diskussion um das TA bleibt Hegel seinem allgemeinen Programm treu, den rationalen Ursprung religiöser Erkenntnisbildung durch eine Explikation der traditionellen theistischen Argumente freizulegen und zu typologisieren. Daher ist es auch wenig verwunderlich, dass man Hegels Überlegungen analog zu Kants Thesen zur Natürlichkeit teleologischen Denkens und dessen theologischer Relevanz verstehen kann. Trotz dieser allgemeinen Übereinstimmung finden sich aber dennoch bedeutsame Unterschiede. Denn zum einen bestreitet Hegel die Annahme, dass teleologisches Denken eine ähnlich fundamentale Rolle spielt wie die Suche nach einem letzten Grund des Kontingenten. Zum anderen kommt Hegel in seiner Analyse der formalen Struktur des TA zu einem anderen Ergebnis als Kant. Hegels Rekonstruktionsvorschlag fällt dabei ganz konsequent in den Skopus seiner allgemeinen, meta-theoretischen Auffassung der Formen religiöser Begründung, von der in den Abschnitten II.2.4 und II.2.5 schon ausführlich die Rede war. Ganz im Sinne des erstgenannten Punktes greift Hegel im Kolleg von 1831 gleich zu Beginn die kantische These an, die Idee eines TA habe sich von je her in jedem Menschen gefunden.100 Nach Hegels Einschätzung taucht der Beweis erst bei den Griechen und zwar noch genauer bei Sokrates im Bericht von Xenophons Memorabilia auf.101 Weitaus interessanter als dieser ideengeschichtliche Hinweis 99 Hegel diskutiert das TA in allen vier Kollegien. Vgl. VPR 3, S. 319–321; VPR 4, S. 100–111, S. 304–321, 593–607 und 632–636. Im Folgenden konzentriere ich mich in erster Linie auf die Diskussion im Kolleg von 1824 und 1831. Diese Überlegungen werde ich mit Prämissen und Argumenten aus den anderen Kollegien und den veröffentlichten Werken ergänzen. 100 Vgl. VPR 4, S. 593. Hegel bezieht sich hier insbesondere auf KrV A 623/B 651. 101 Dass „dieser Beweis erst bei den Griechen“ (VPR 4, S. 593) entwickelt und von Sokrates explizit ausgesprochen wurde (vgl. ferner ebd., S. 633 und Enz., GW 20, S. 12), wirkt mit Blick auf den jüdischen Schöpfungsgedanken völlig unplausibel. Den Hintergrund für diese Annahme bildet hier vermutlich Hegels These im Kolleg von 1831, das TA könne erst auf dem Niveau der sog. ,Religion der Freiheit‘ entwickelt werden (vgl. VPR 4, S. 632 f.), deren Hauptgestalten die ,griechische‘ und die ,römische Religion‘ darstellen. Damit fällt Hegel aber hinter seine Thesen im Kolleg von 1824 zurück, in dem er die Auffassung vertritt, die Zuschreibung teleologischer Attribute zum Absoluten kennzeichne die sog. ,Religionen der geistigen Individualität‘ insgesamt (vgl. ebd., S. 304–321), zu denen neben der ,griechischen‘ und der ,römischen‘ auch die ,jüdische‘ gehört. Vgl. ferner ebd., S. 289 f. und S. 397 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
ist allerdings Hegels Bemerkung, die Zuschreibung teleologischer Attribute zum Wesen des Absoluten setze die Bestimmung der „Macht“ voraus und daher falle der „Beweis […] geschichtlich mit der Entwickelung der Freiheit zusammen“ (VPR 4, S. 593). Mit diesem Hinweis meint Hegel nicht nur, dass die Verbindung der Idee zweckmäßiger Phänomene und Prozesse mit dem Gedanken des Absoluten religionsgeschichtlich relativ neu ist.102 Vielmehr ist er der Meinung, dass sich genaue Aussagen darüber treffen lassen, was prinzipiell in einem Überzeugungssystem enthalten sein muss, damit die Idee eines TA überhaupt aufkommen kann. Um die Rolle der Teleologie für das Gott-Welt-Verhältnis verstehen zu können, muss man nach Hegel nämlich diejenigen Bestimmungen des Absoluten de facto einsehen können, die für ihn im KA relevant werden. Das heißt konkret, dass Gläubige mindestens schon implizit erkannt haben müssen, was es für eine Entität heißen kann, ,wahrhaft unendlich‘ zu sein, mit metaphysischer Notwendigkeit zu existieren und ihre Macht dadurch zu beweisen, dass alle endlichen und kontingenten Individuen von ihr in allen relevanten Hinsichten ontologisch abhängig sind.103 ,Mächtig zu sein‘ bedeutet daher für das Absolute, dass alle anderen, endlichen und kontingenten Entitäten nur dann als solche existieren können, wenn sie schon in ihrer Existenz und Natur auf das Absolute selbst verweisen.104 Inwiefern lassen sich auf dieser Grundlage dem Absoluten teleologische Attribute zuschreiben? Soweit ich sehen kann, gibt Hegel in den Kollegien von 1824 und 1831 zwei eng miteinander verbundene Antworten. Erstens meint er, dass dieser Sachverhalt aus den Kategorien der ,Unendlichkeit‘ und der ,Macht‘ expliziert werden kann. Man muss daher nur genauer untersuchen, worauf man sich schon implizit begrifflich festgelegt hat, sobald diese Kategorien auf das Absolute angewendet werden.105 In den Worten Hegels: 102 Hegels These muss dabei so verstanden werden, dass in bestimmten Religionsformen spezifische, teleologische Bestimmungen in den konzeptuellen Fokus ihres Selbstverständnisses und ihrer Auffassung des Absoluten rücken. Zur Interpretation vgl. unten III.4.2. Ob diese Annahme tatsächlich empirisch korrekt ist, ist keineswegs evident und kann hier nicht entschieden werden. 103 Dieser Gedanke wird besonders ausführlich im Kolleg von 1824 entwickelt, wo Hegel dem TA nicht nur den metaphysischen Begriff der ,unmittelbaren Religion‘ (VPR 4, S. 155–171), sondern auch den Gedanken der ,Einzigkeit‘ und der ,absoluten Notwendigkeit‘ vorschaltet (vgl. ebd., S. 290–304), die zum metaphysischen Begriff der ,Religionen der geistigen Individualität‘ gehören sollen. 104 Zu Hegels Engführung von ,Macht‘, ,absoluter Notwendigkeit‘ und Aseität s. oben S. 252 Fn. 338. 105 „Die Notwendigkeit nach ihrem höheren Begriff, die reale Notwendigkeit, Freiheit, ist denn eben die Freiheit als solche, der Begriff als solcher, oder näher bestimmt der Zweck.“ (VPR 4, S. 303; vgl. auch ebd., S. 632) Analog heißt es kurz darauf im selben Kontext: „Wir haben gesehen, daß die äußere Notwendigkeit zurückgeht in die absolute Notwendigkeit, die ihre Wahrheit ist; diese aber ist an sich Freiheit, und was an sich ist, muß gesetzt sein. Wenn dies gesetzt wird, ist Bestimmtheit in ihr; diese Bestimmtheit erscheint als Zweckmäßigkeit; der höhere wahrhafte Begriff ist der Begriff der Zweckmäßigkeit überhaupt.“ (ebd., S. 306; meine
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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Die Freiheit ist sich selbst Bestimmen, und das Tätige, insofern es sich in sich selbst bestimmt, hat die Selbstbestimmung an sich als Zweck. Die Macht ist nur das sich Herauswerfen, so daß im Herausgeworfenen ein Unversöhntes ist, zwar an sich ein Ebenbild, aber es ist noch nicht ausdrücklich im Bewußtsein, daß das Schaffende sich in seinem Geschöpfe nur erhält und hervorbringt, so daß im Geschöpfe die Bestimmungen des Göttlichen selbst sind. […] Die Macht ist gütig und gerecht, aber erst das zweckmäßige Tun ist diese Bestimmung der Vernünftigkeit, daß aus dem Tun nichts anderes herauskommt, als was schon vorher determiniert ist, d. h. diese Identität des Schaffenden mit sich selbst. (VPR 4, S. 593 f.; meine Hervorhebung, W.L.)
Hegels Kernprämissen in dieser dichten Passage lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen:106 Zwar sind endliche und kontingente Individuen in ihrer Abhängigkeitsbeziehung vom Absoluten dem Wesen nach unterschieden. Zugleich hatte sich aber gerade in der Inkohärenz der Konzeption des ,schlecht Unendlichen‘ gezeigt, dass Endliches und Absolutes hinsichtlich dessen, was sie jeweils ausmacht, einander nicht vollständig fremd sein können. Vielmehr drückt das ,wahrhaft unendliche‘ Absolute in seiner Existenzform all das aus, was Endliches und Kontingentes in Wirklichkeit auszeichnet. Jede scheinbare Beziehung zu seinem Anderen muss daher in gewisser Weise immer schon ein Teil oder ein Moment seiner Selbstbeziehung darstellen. Daraus folgert Hegel den Gedanken der besonderen „Selbstbestimmung“ (ebd., S. 593) des Absoluten in seinem eigenen Wesen und seiner Existenz. Indem sich das Absolute in dem Anderen, dessen Natur und Existenz es ontologisch ermöglicht, als solches manifestiert, meint er, dass sich die Selbstbestimmung noch auf das erstreckt, was sich scheinbar nur als dessen Folge zeigt: „[I]m Geschöpfe“ müssen daher „die Bestimmungen des Göttlichen selbst“ (ebd., S. 594) liegen. In einer hegelschen Wendung ausgedrückt: Um vollständig in seiner Existenz und seiner Natur selbstbestimmt zu sein, muss das Absolute auch in dem ,bei sich selbst sein‘, was sich zu ihm als das scheinbar ganz Andere verhält.107 Damit glaubt Hegel nicht nur die Grundstruktur eines allgemeinen Freiheitsbegriffs zu erreichen.108 Die Tatsache, dass die Folge dieser ontologischen BeHervorhebung, W.L.) Im Hintergrund stehen Hegels kategorientheoretische Überlegungen im Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik in der WdL, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Vgl. hierzu S 2014. 106 Vgl. die parallele Begründungsline in VPR 4, S. 303 f. Eine analoge Rekonstruktion des Übergangs zur Kategorie des Zwecks im religiösen Denken entwickelt F. Schick im Anschluss an Hegels Überlegungen im Manuskript. Vgl. S 2013, S. 432 f. und VPR 4, S. 97 f. 107 Dieses Vokabular benutzt Hegel in den parallelen Passagen im Kolleg von 1824: „[I]m Zweck, da beginnt das Dasein des Begriffs überhaupt, des Freien, das als Freies existiert. Es existiert als Freies, d. i. es ist das bei sich selbst Seiende, zu sich Zurückkommende, das sich Erhaltende, näher das Subjekt. Das Subjekt bestimmt sich in sich; es ist einerseits Inhalt und ist in dieser seiner Bestimmung zugleich frei darin, ist zugleich bei sich selbst […].“ (VPR 4, S. 304) 108 Vermutlich hat Hegel hier noch einen weiten Begriff von Freiheit vor Augen, der nicht gleich ausschließlich auf Personen angewendet werden muss. In der aristotelischen Tradition
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gründungsbeziehung zugleich mit dem Grund substantiell ,identisch‘ sein muss, erfüllt für ihn zugleich die minimalen Bestimmungen zweckgeleiteten Verhaltens. Denn dies soll sich dadurch auszeichnen, dass „aus dem Tun nichts anderes herauskommt, als was schon vorher determiniert ist“ (ebd.). Was Hegel damit meint, wird vielleicht deutlicher, wenn man als ein mögliches Beispiel Handlungen heranzieht.109 Erfolgreiche Handlungen führen zu Resultaten, deren konkreter Inhalt einen ereignisförmigen Sachverhalt darstellt, der bevor die Handlung vollzogen wurde, zugleich der Gehalt von volitiven und kognitiven Einstellungen ist, die wiederum die Absicht und die Zwecksetzung begründen. Dass p der Fall ist, lässt sich dann u.a. dadurch erklären, dass das Eintreten von p zuvor Inhalt der Absicht des Akteurs war, der p bewirkt hat. Das, was subjektseitig als intentionaler Grund der Handlung auftritt, ist nach Hegel also substantiell oder dem ,Inhalt‘ nach mit dem (teil-)identisch, was in der Handlung oder ihrem Resultat erfolgt.110 Eine stärkere These folgt dann im Falle des Absoluten. Denn dort muss die Aktivität und das Produkt als Selbstausdruck der ganzen Natur des Absoluten verstanden werden. Die Identität von ,Grund‘ und ,Folge‘ muss daher hier geradezu die „Identität des Schaffenden mit sich selbst“ (ebd.) darstellen. Hegels Explikation des Begriffs der „Weisheit“ (ebd.)111 gibt daher ein instruktives Beispiel dafür, dass die ,metaphysischen Begriffe‘ des Absoluten nicht nur in vertikalen Beziehungen zu Kategorien des Endlichen, sondern auch in horizontalen Relationen zu anderen Bestimmungen des Absoluten stehen.112 Allerdings sind diese knappen und abstrakten Überlegungen in zweierlei Hinsicht defizient. Einerseits bietet absichtsvolles Handeln für Hegel nur ein mögliches Modell, wie man die formale Struktur der Selbstbestimmung näher ausdeuten kann. Die Konzeption ist also hier noch intrinsisch unterbestimmt.113 Andererseits geben findet sich etwa der Gedanke, dass dasjenige frei genannt werden kann, was allein um seiner selbst willen und nicht für die Zwecke anderer lebt und existiert. Vgl. Met. I, 982b26 f. In Thomas’ Wiedergabe: Liberum est quod sui causa est (SCG I, Kap. 72, S. 280). Generell besagt diese Aussage nur, dass es einem freien Individuum möglich ist, seine ihm eigentümlichen letzten Zwecke zu verfolgen und sich in diesem Sinne selbst zu verwirklichen. Dies setzt nicht (immer) Wahlfreiheit voraus. Diese Engführung zwischen dem Begriff der ,causa sui‘ und der Selbstverwirklichung in lebendigen Individuen findet sich explizit im Manuskript und auch in den Gottesbeweisvorlesungen. Vgl. VPR 4, S. 109; GVL, GW 18, S. 312 f. und zum aristotelischen Hintergrund von Hegels Freiheitsbegriff etwa R 1977, S. 197 f. 109 Diese Engführung dient hier nur Illustrationszwecken. Denn nach Hegel wird spätestens im Schöpfungsgedanken dem religiösen Bewusstsein selbst klar, dass die ,Tätigkeit‘ des Absoluten nur beschränkt und mit Zusatzqualifikationen mit normalen Handlungen verglichen werden kann. Vgl. dazu unten III.5.4. 110 Zur Inhaltsidentität in zweckmäßigen Prozessen und Handlungen vgl. VPR 4, S. 98; S 2013, S. 432 und allgemein auch K 1989, S. 40 f. und 126. 111 Zur allgemeinen Bestimmung der Weisheit als zweckgeleiteten Verhalten vgl. auch VPR 4, S. 90, 283, 563 und 632. 112 Diese Form der Begriffsexplikation lässt sich damit auch analog zu Kants Thesen zum Zusammenhang zwischen der höchsten ,Realität‘, der ,absoluten Notwendigkeit‘, der Aseität und der Schöpfernatur Gottes verstehen, wie sie oben in II.3.1 entwickelt wurden. 113 Im Kontext desselben Kollegs weist Hegel selbst auf die Idee der individuellen bzw.
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diese abstrakten Überlegungen keinen direkten Aufschluss über die Genese teleologischen Denkens und dessen theologischer Interpretation. Hegels Ableitung des Zweckbegriffs aus dem Begriff der Macht des Absoluten ist daher ergänzungsbedürftig. Entsprechend vervollständigt er seine Theorie der Genese teleologischen Denkens mit einer zweiten Überlegung zum Ursprung der Idee zweckmäßiger Prozesse in der Selbst- und Naturerfahrung menschlicher Individuen. Darin zeigt er, wie sich aus dem Nachdenken über Formen endlicher Zweckmäßigkeit die Einsicht in die oben entwickelten teleologischen Minimalbestimmungen des Absoluten ergeben. Dabei ist insbesondere Hegels meta-theoretische These relevant, dass der Schlussgehalt der religiösen Begründungsform als eine Art des negativen Arguments aufgefasst werden muss.114 Analog zum KA bedeutet dies, dass in der empirischen Aussage über die Existenz endlicher Zweckmäßigkeit in der Welt schon der implizite Bezug auf das Absolute mitgedacht werden muss, um die relevante Kategorie kohärent zu erfassen und deren Ausdruck regelbewusst zu verwenden. Und dieser Bezug wird im Kern negativ durch die Selbstaufhebung der einseitigen Fassung der Aussage aufgewiesen, die das Dasein beschränkter und endlicher Zwecke mindestens implizit als ein selbstgenügsames Phänomen begreift. In seiner Diskussion des TA im Kolleg von 1827 fasst Hegel diese These besonders prägnant zusammen: In Ansehung des Formellen ist bei diesem Beweis dasselbe wie bei dem vorhergehenden zu erinnern; nämlich der Übergang ist in Wahrheit nicht, wie ihn der Verstand meint, der folgendermaßen schließt: Weil dergleichen Einrichtungen, Zwecke sind, darum ist eine alles zusammenordnende, disponierende Weisheit. Der Übergang ist zugleich eine Erhebung, und diese enthält ebenso, was die Hauptsache ausmacht, das negative Moment, nämlich daß dieses Lebendige in seiner Unmittelbarkeit, diese Zwecke so, wie sie sind, in ihrer endlichen Lebendigkeit nicht das Wahre sind. Sondern ihr Wahres ist vielmehr jene eine Lebendigkeit, der eine ΝουÄ ς. (VPR 3, S. 321)115
spezifischen Selbsterhaltung und -verwirklichung von lebendigen Individuen hin: „Diese Wahrheit der Zweckbestimmung […] existiert wirklich […] im Lebendigen, Organischen; das Leben als Subjekt ist die Seele, diese ist Zweck, d. i. sie setzt sich, vollbringt sich selbst; also das Produkt ist dasselbe als das Produzierende […].“ (VPR 4, S. 599) Ähnlich heißt es im Manuskript: „Daher kommt beim zweckmäßigen Tun nichts heraus, was nicht schon vorher ist – erhält sich nur; Leben ist fortdauernder Prozeß, Hervorbingen, aber nur das wird hervorgebracht, was schon ist. Individuum und Gattung ebenso.“ (ebd., S. 98) Zur Unbestimmtheit des generellen Begriffs der Weisheit vgl. auch ebd., S. 285. 114 Vgl. dazu oben Abschn. II.2.4. Dies folgt ganz konsequent aus Hegels allgemeinem Programm in Enz. § 50A, in dem auch explizit auf das religiöse „Erheben“ im Ausgang von der „Zweckbestimmung der Welt“ (Enz. § 50A, GW 20, S. 87) gesprochen wird. Dieselbe These wird ausdrücklich in Enz. § 204A, GW 20, S. 211 wiederaufgenommen. R. Williams’ Behauptung, das TA drücke für Hegel keine religiöse Erhebung aus (vgl. W 2017, S. 90), geht daher direkt an den Hegeltexten vorbei. 115 Ähnlich heißt es in der Strauß-Nachschrift: „Es liegt in dem Schlusse das negative Moment, daß das Dasein der endlichen Zweckeinrichtungen nicht für das an und für sich seiende Subjekt ausgegeben wird, sondern daß die ewige Vernunft das Wahre ist.“ (VPR 4, S. 634; vgl. ebd., S. 598 f.) Hegel reagiert hier wiederum auf den Jacobi-Einwand, der oben in
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Die Details von Hegels Rekonstruktion werden im Folgenden noch deutlicher werden. Relevant ist hier zunächst die weitere Hinsicht, in der sich Hegel klar von Kant abgrenzt. Nicht nur betont Hegel, dass ein TA nur im Kontext einer inhaltlich angereicherten Beschreibung des Absoluten entwickelt werden und daher nicht logisch früher sein kann.116 Darüber hinaus scheint er nicht wie Kant zu glauben, die Natürlichkeit teleologischen Denkens ließe sich am besten aus dem impliziten Systematisierungsstreben unserer inferentiellen Praxis begründen. Vielmehr vertritt er die generelle These, dass Schlüsse auf die göttliche Urheberschaft innerweltlicher Zweckmäßigkeit auf der Einsicht beruhen, was es für ein lebendiges Individuum heißt, Zwecke verfolgen und erreichen zu können.117 Ein kohärentes Verständnis dessen, was endliche Zweckmäßigkeit ,in Wahrheit‘ ist, setzt damit für Hegel die Einsicht in deren Beziehung zur Existenz und Natur des Absoluten voraus. Zu These (2): Die Voraussetzungen des TA und dessen Beweiskräftigkeit nach Hegel In einer wichtigen Konsequenz decken sich allerdings Kants und Hegels Überlegungen zum TA: Denn aus der Tatsache, dass kein TA in den genannten Hinsichten voraussetzungslos einsichtig und damit beweiskräftig sein kann, folgt natürlich, dass Hegel den kantischen Einwand aus der Unbestimmtheit sofort konzedieren muss.118 Akzeptiert man hingegen Hegels Aussagen über die Abhängigkeitsbeziehungen, klärt sich nicht nur die Frage nach dem modalen Status des Absoluten wie die Frage nach seiner Singularität. Hegel glaubt darüber hinaus sogar, dass Kants Übernahme von Humes Demiurgen-Einwand mit diesem Nachweis schlicht obsolet wird. Genau genommen hängt dessen DurchführbarAbschn. II.2.4 umfänglich diskutiert wurde, und der in analoger Form auch in Kants Kritik am TA auftaucht. Vgl. KrV A 621 f./B 649 f. 116 Umgekehrt heißt es bei Kant über den teleologischen „Beweis“: „Er ist der älteste, kläreste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene.“ (ebd., A 623/B 651) Ob man, wie Hegel, auf diese Aussage ein großes systematisches Gewicht legen sollte, ist fraglich. Einen möglichen Kompromiss könnte man etwa in M. Willascheks These sehen, das KA wie das TA seien gleichermaßen Versuche, ein und dasselbe ,natürliche Argument‘ für Gottes Existenz in eine deduktive Beweisform zu übersetzen. Vgl. W 2018, S. 234 f. In diesem Sinne könnte man dann beide Argumenttypen (im logischen Sinne) als gleich ,alt‘ auffassen. Allerdings würde diese These nicht so recht zu Kants umfänglichen Überlegungen des Ursprungs teleologischen Denkens aus den Spezifika unserer theoretischen und moralischen Praxis passen. 117 In diesem Sinne würden sich Hegels Thesen von Kant nur in ihrem Allgemeinheitsgrad unterscheiden. Wir werden zwar in II.3.3 sehen, dass Hegel selbst Kants Gedanken einer systematisch geordneten Natur im Sinne der scala naturae aufgreift. Dies setzt für ihn allerdings schon einen reicheren Begriff des Absoluten voraus als den, der sich aus der Konklusion des TA entwickeln lässt. 118 Seine Zustimmung drückt Hegel in den Kollegien von 1821, 1824 und 1831 daher auch explizit aus. Vgl. VPR 4, S. 108, 317 und 633.
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keit nach Hegel an der Annahme einer unabhängigen und ewigen Existenz der Erstmaterie, die aber zugleich als vollständig ohne Eigenschaften zu denken ist, um ihre explanatorische Rolle im Demiurgen-Szenario spielen zu können.119 Aber nicht nur ist fraglich, ob nach gängigen Existenzkriterien eine Entität, die über keinerlei Kausalkräfte verfügt, überhaupt existieren oder wirklich sein kann.120 Um prinzipiell auf sie verweisen zu können, müsste sie nach Hegel zumindest mit sich selbst identisch sein. Dann aber wäre das Kriterium der vollständigen Formfreiheit verletzt, woraus Hegel folgert, dass der Gedanke einer wirklich existenten Erstmaterie ein „Unding“ (VPR 4, S. 596) ist.121 Sie kann nach Hegel dann entweder nur eine „reine Verstandesabstraktion“ (ebd.) sein und folglich nicht geistunabhängig existieren. Oder sie ist schon informiert, etwa als identifizierbares Einzelding. Dann aber wäre sie vom Absoluten ontologisch abhängig und würde folglich in dessen Machtbereich fallen.122 Hegels Kommentar zu Kants destruktiven Thesen zum TA beschränkt sich allerdings nicht nur auf eine Klärung von dessen theologischen Grundlagen und den genannten Konsequenzen. Der wohl schärfste Unterschied besteht sicherlich darin, dass Hegel Kants allgemeine Theorie der Teleologie in zwei aufeinander aufbauenden Hinsichten angreift. So leugnet er nicht nur Kants These von der lediglich ,subjektiven‘ Gültigkeit teleologischer Urteile. Er versucht darüber hinaus, Kants intentionale Auffassung von Zweckmäßigkeit als einseitig auszuweisen.
119 Im Kolleg von 1831 heißt es daher: „Ist dieser Unterschied, diese Trennung zwischen Form und Materie statthaft, können wir jedes so besonders auf die Seite stellen? Es wird dagegen in der Logik (Phil. Enzyklop. § 129) gezeigt, daß die formlose Materie ein Unding ist, eine reine Verstandesabstraktion, die man sich wohl machen kann, die aber nicht für etwas Wahres ausgegeben werden darf; die Materie, die man Gott entgegenstellt als ein Unveränderliches, ist bloß Produkt der Reflexion, oder diese Identität der Formlosigkeit, diese kontinuierliche Einheit der Materie ist selbst eine der Formbestimmungen; man muß so erkennen, daß die Materie, die man so auf der einen Seite hat, selbst zur anderen Seite, der Form gehört. Dann aber ist auch die Form identisch mit sich, bezieht sich auf sich, und darin hat sie gerade das selbst, was als Materie unterschieden wird. Die Tätigkeit Gottes selbst, die einfache Einheit mit sich, die Form ist die Materie.“ (ebd., S. 596) 120 Siehe etwa das Bestimmungskriterium wirklicher Existenz in Soph. 247e. Vgl. hierzu auch H 2013, S. 131 f. 121 Vgl. WdL II, GW 12, S. 175; VPR 4, S. 316 f. und 633. Zu dieser traditionellen Kritiklinie im Allgemeinen vgl. ferner auch P 2002, S. 41–43 und mit Bezug auf Hegel S 2018, S. 663. 122 Aus diesem Umstand lassen sich scheinbar radikale Schlussfolgerungen ziehen. Denn aus Hegels These: „Die Tätigkeit Gottes selbst, […] die Form ist die Materie.“ (VPR 4, S. 596) folgt in Konjunktion mit der Aussage, dass Gott bzw. „[d]ie Idee […] schlechthin einfach und immateriell [ist]“ (WdL II, GW 12, S. 176), dass auch die natürliche Wirklichkeit in Wahrheit ,immateriell‘ sein muss. Diese Konklusion findet sich etwa in Enz. § 389, GW 20, S. 388 und hat ideengeschichtliche Vorläufer etwa bei den kappadokischen Kirchenvätern. Vgl. H 2017, S. 122 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Diese Kritiklinie scheint prima facie schon im Ansatz verfehlt. Denn man könnte gerade mit Hegel auf den Umstand verweisen, dass Kant ja selbst die Einseitigkeit des intentionalen Modells in seiner Analyse organischer Strukturen betont.123 Dabei behauptet Kant sogar explizit, dass uns für die Beschreibung der individuellen und spezifischen Selbsterhaltung und -entwicklung von Lebewesen keinerlei Analogien zu uns bekannten Formen der Kausalität zur Verfügung stehen124 – und dies nicht einmal in der Produktion von Artefakten.125 Auf diesen Einwand würde Hegel sicherlich antworten, dass er letztlich nur die halbe Wahrheit wiedergibt. Denn zwar ist es richtig, dass die gängigen Modellierungen für Kant in der Beurteilung der Entstehung und der Struktur von Pflanzen und Tieren zusammenbrechen. Allerdings scheint er solche Modellierungen doch wieder durch die Hintertür einzuführen, um damit die Widersprüche zu lösen, die zwischen irreduzibel teleologischen Beschreibungen von Lebensformen und üblichen Kausalerklärungen zu bestehen scheinen.126 Kurz gesagt lässt sich Kants Lösungsstrategie in drei Schritten zusammenfassen.127 Erstens unterscheidet er Kausalerklärungen im weiten Sinne von reduktionistischen Erklärungen, die die Existenz und die Eigenschaften eines ganzen Gebildes von der Existenz und den intrinsischen Bestimmungen seiner (kleinsten) Teile her verstehen.128 Dies ermög-
123 Dies betont Hegel gleich an mehreren Stellen im veröffentlichten Werk und in den Kollegien. Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 157; Enz. § 57f, GW 20, S. 95; Enz. § 204A, GW 20, S. 210 und VPR 3, S. 320. Die besondere Rolle der kantischen Idee der ,inneren Zweckmäßigkeit‘ in Hegels Interpretation des TA betonen auch F 2018, S. 3415 f. und W 2017, S. 87 f. 124 „Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen.“ (KU § 65, B 293 f.) 125 „Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst und in jeder Species ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert.“ (KU § 65, B 293) 126 Vgl. KU § 70, B 314 f. und zur Deutung bes. ML 1989, S. 122–125. Hegel selbst diskutiert die ,Antinomie der teleologischen Urteilskraft‘ zusammen mit der Freiheitsantinomie aus Kants erster Kritik, weil er beide für identisch hält. Vgl. WdL II, GW 12, S. 157 f. Wie sich unten zeigen wird, bildet Hegels Kritik an der Auflösung zugleich die Voraussetzung für seine Einwände gegen Kants Ethikotheologie. 127 Zu den Interpretationsschwierigkeiten von Kants Auflösung vgl. u.a. F/Z 2001, S. 1286–1289. Wie M. Frank und V. Zanetti schließe ich mich im Folgenden der hervorragenden Rekonstruktion von P. McLaughlin an. Vgl. ML 1989, Kap. 3.5. 128 Kant definiert reduktionistische Erklärungen dabei wie folgt: „Wenn wir nun ein Ganzes der Materie seiner Form nach als Produkt der Teile und ihrer Kräfte und Vermögen sich von selbst zu verbinden […] betrachten: so stellen wir uns eine mechanische Erzeugungsart desselben vor.“ (KU § 77, B 351) Nach P. McLaughlin entwickelt Kant diese Unterscheidung erst im Zusammenhang seiner Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft. Vgl. ML 1989, S. 139–141 und zur Entstehungsgeschichte der kantischen Lösung auch F/Z 2001, S. 1292.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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licht ihm, den Widerspruch nicht direkt zugunsten nicht-finaler Erklärungen entscheiden zu müssen. Wären diese mit kausalen Erklärungen im Normalsinn identisch, dann wären sie nämlich im stärksten Sinne transzendental gerechtfertigt und würden daher den epistemischen Status teleologischer Urteile weit überbieten. Reduktionistische Erklärungen haben für Kant hingegen lediglich den Status von ,regulativen‘ Prinzipien.129 Dabei fungieren sie nicht nur als hypothetische Annahmen, die individuelle Vorhersagen über die Entstehung und die Struktur lebendiger Individuen erlauben. Vielmehr vertritt Kant zweitens die stärkere These, dass wir auf diese Erklärungsform schon durch die diskursive Natur unserer Erkenntnisfähigkeiten festgelegt sind.130 Damit versucht Kant diesen Erklärungstyp in seiner Reichweite abzuschwächen. Denn daraus folgt zwar, dass wir in der Erklärung von Lebensformen diese in letzter Instanz immer als komplexe Mechanismen auffassen müssen. Kant führt allerdings drittens die Prämisse ein, dass es zumindest widerspruchsfrei denkbar ist, dass es eine Person geben könnte, deren Erkenntniskonstitution sich von unserer unterscheidet und nicht gleichermaßen diskursiv verfasst ist.131 Wenn dies aber tatsächlich der Fall ist, dann folgt, dass es zumindest logisch möglich ist, die Existenz und Natur organismischer Gebilde teleologisch zu erklären, obwohl dies für uns epistemisch unmöglich ist. Mithilfe dieses widerspruchsfreien Szenarios lassen sich daher auch die möglichen Widersprüche in den beiden Erklärungsformen lösen.132 Denn wenn es logisch möglich ist, dass eine solche nicht-endliche Person existiert, dann ist es ebenfalls denkbar, dass die Zweckmäßigkeit organischer Gebilde sich der Absicht dieser Person verdanken könnte, die diese wie Artefakte gestaltet und mithilfe mechanischer Gesetze hervorgebracht haben würde. Für Hegels Kritik an Kants komplexem Theorievorschlag sind besonders die Konsequenzen aus dem letztgenannten Schritt relevant. Denn erstens zeigt sich, dass wir nach Kant selbst in der Beschreibung von Organismen in letzter Instanz unweigerlich auf das intentionale Verständnis der Zweckmäßigkeit festgelegt sind.133 Da dessen Durchführbarkeit aber an der lediglich logisch möglichen Exis-
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Vgl. etwa die Formulierung in KU § 70, B 315. Vgl. KU, § 77, B 346–349 und zur Erläuterung ML 1989, S. 147–149 und F/Z 2001, S. 1293–1302. Es ist fraglich, ob und warum unsere Form der Begriffsund Urteilsbildung uns direkt auf anti-holistische Erklärungen festlegt. P. McLaughlin veranschaulicht Kants Thesen zwar instruktiv anhand der sog. ,analytisch-synthetischen Methode‘ der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft. Vgl. ML 1989, S. 157–159. Damit erklärt man nun höchstens einen Ausschnitt der Ideengeschichte, nicht aber etwa aristotelische Gegenmodelle, gegen die sich die genannte Methode gerade zur Wehr setzen wollte. Darüber hinaus haben Kants Überlegungen einen unüberhörbaren psychologistischen Beigeschmack, den McLaughlin zu Recht herausstreicht und kritisiert. Vgl. ebd., S. 155–157. 131 Vgl. KU § 77, B 347–349 und ML 1989, S. 151–153 und 161 f. 132 Vgl. KU § 77, B 349 f. und ferner auch ML 1989, S. 159 f. und F/Z 2001, S. 1297. 133 Selbst D. Wandschneider, der Kants Rede vom „übersinnliche[n] Realgrund für die Natur“ (KU § 77, B 352) als Antizipation der hegelianischen These einer „der Natur selbst 130
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
tenz eines alternativen Verstandes hängt, folgt zweitens, dass teleologische Erklärungen für uns unter keinen Umständen echte Erklärungen darstellen können.134 Denn während reduktionistische Erklärungsversuche zumindest konsequent aus der Konstitution unserer Erkenntnisfähigkeiten folgen, leiten letztere hingegen nur unsere prima facie-Beurteilungen organischer Gebilde. Und sie tun dies im Rückgriff auf die ,Vernunftidee‘ eines (quasi-)göttlichen Verstandes, von dem man nichts Informatives sagen kann, außer dass seine Existenz widerspruchsfrei denkbar ist.135 Die anti-realistische Auffassung teleologischer Urteile und die Alleinstellung des intentionalen Modells von Zweckmäßigkeit implizieren sich unter Kants Prämissen daher gegenseitig. Beides erweist sich in hegelscher Perspektive hingegen als unhaltbar. Zugespitzt formuliert müssen nämlich die kantischen Annahmen spätestens am unhintergehbaren Selbstverständnis rationaler Subjekte scheitern. Dafür lassen sich bei Hegel mindestens zwei Argumentstränge ausmachen.136 Um die Prämissen des ersten, eher impliziten Arguments zu verstehen, reicht der allgemeine Hinweis, dass für Hegel jede Form der Trieberfüllung als zielgerichtetes Verhalten verstanden werden muss, die sich aber keineswegs auf die Befriedigung leiblicher Bedürfnisse beschränken muss.137 Wie schon oben in Kap. I.2 dargelegt wurde, ist für Hegel etwa der Erkenntnisprozess irreduzibel teleologisch. Demnach zielt unsere gesamte Erkenntnispraxis intrinsisch auf die Bildung ,wahrer‘ und ,vernünftiger Gedanken‘, die damit zugleich konstitutive Norm dieser Praxis bildet. Dabei hatten wir gesehen, dass die Urteilsbildung nur dann zuverlässig und erfolgreich sein kann, wenn deren Rechtfertigungsgrundlage es zumindest zu einem hohen Grad wahrscheinlich macht, dass das jeweilige Urteil
inhärierenden Vernunft“ (W 2008, S. 142) auffasst, meint Kant verfalle am Ende doch dem „technischen Modell“ (ebd., S. 143) der natürlichen Teleologie. 134 Kant meint entsprechend, dass mechanistische Erklärungen eine Bedingung der Möglichkeit unserer Erkenntnis- und Wissenschaftspraxis darstellt: „Es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanism der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen: weil ohne diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann.“ (KU § 78, B 354; vgl. auch KU § 70, B 315) Reduktionistische Erklärungen trumpfen für Kant daher immer teleologische Erklärungen, wenn sie durchführbar sind. Vgl. ML 1989, S. 160. 135 Vgl. KU § 77, B 346 f. A. Plantinga ordnet daher Kant m.E. zu Recht als Anti-Realisten bzw. Fiktionalisten bzgl. natürlicher Teleologie ein, die Plantinga selbst auf göttliches Design zurückführt. Vgl. P/T 2008, S. 67. 136 Ich folge hier und im Folgenden der exzellenten Interpretation von W. de Vries. Vgl. V 1991. 137 „Bedürfniß, Trieb sind [die] am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck. Sie sind der gefühlte Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjects selbst Statt findet, und gehen in die Thätigkeit, diese Negation […] zu negiren. Die Befriedigung stellt den Frieden her zwischen dem Subject und Object […].“ (Enz. § 204A, GW 20, S. 210; der Zusatz in eckigen Klammern stammt v. Hrsg.) Hegel ist daher konsequent, wenn er davon spricht, dass echtes „Erkennen“ im kognitiven Leben erst die „wahre Befriedigung“ (Enz. § 445, GW 20, S. 442) gibt. Zur Wahrheitsausrichtung im Erkennen vgl. auch WdL II, GW 12, S. 198–202.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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eine Tatsache ausdrückt.138 Jede Erklärung, warum eine Person eine bestimmte Meinung ausbildet und vertritt, macht daher immer schon von Zielen und Normen Gebrauch, ohne die unsere Erkenntnispraxis als solche überhaupt nicht verstanden und eingeordnet werden könnte.139 Wenn eine Person etwa eine theoretische Aussage p akzeptiert, dann sollte sie dies nur dann tun, weil sie (i) meinen kann, dass p bspw. argumentativ gut begründet oder Teil eines Theoriegebildes ist, das alle üblichen Tugenden der Einfachheit, Erklärungskraft und -reichweite etc. aufweist; und weil sie sich (ii) dessen implizit bewusst ist, dass durch die Erfüllung dieser Bedingungen das Ziel erreicht wird, eine korrekte Meinung über Grundstrukturen der Wirklichkeit zu bilden und zu besitzen. Wenn das aber der Fall ist, ist Kants These, wir seien durch unsere Erkenntnisnatur auf reduktionistische Erklärungen festgelegt, direkt retorsiven Argumenten ausgesetzt.140 Jemand, der etwa die Überzeugung ausbildet und vertritt, dass diese epistemologische These korrekt ist, verfolgt damit zumindest das Ziel des Wahrheitserwerbs und sollte zugleich in der Lage sein, sein Urteil nach gültigen Kriterien der Theoriebildung hinreichend zu begründen. Dies bedeutet generell, dass er diejenigen Leistungen erbringen können sollte, die notwendig sind, um dieses Ziel auch in diesem Falle zu erreichen.141 In der Akzeptanz von Kants These ist aber nicht nur der performative Widerspruch unvermeidlich. Da für Hegel die Erkenntnisbildung nicht als Produkt absichtsvoller Handlungen verstanden werden kann,142 138 Der Einfachheit halber konzentriere ich mich hier nur auf Erkenntnis in Form von adäquat begründeten und propositional korrekten Urteilen. In Abschn. I.2.1 wurde aber schon deutlich, dass sich für Hegel ,Wahrheit‘ in nicht ,richtigen‘ Aussagen erschöpft. Zudem bildet die Begriffs-, Urteils- und Schlussbildung für Hegel zwar die Höchstform, nicht aber die einzige Form des Erkennens, zu dem auch ,Anschauen‘ und ,Vorstellen‘ gehört. 139 Wie A. Kern ausführt, ist epistemische Rechtfertigung damit im weitesten Sinne eine Art der Erklärung des Vorliegens einer Meinung, die der jeweiligen Person durch die Bildung ihrer Überzeugung schon selbst implizit zur Verfügung stehen muss. Vgl. K 2006, S. 38–41. 140 Vgl. bes. V 1991, S. 54. Leider gibt de Vries für sein skizziertes retorsives Argument gegen Kant keine Textstellen bei Hegel an, obwohl er ihm dieses Argument unterstellt. Wie sich aber oben gezeigt hat, ergeben sich seine Prämissen direkt aus Hegels Analyse kognitiver Prozesse, auf die de Vries nicht eingeht. Ein analoges Argument gegen den eliminativen Anti-Realismus bzgl. natürlicher Teleologie im Allgemeinen findet man bspw. in F 2019, S. 382 f. 141 Vgl. V 1991, S. 69 Fn. 4. Das Argument ist dabei unabhängig von bestimmten inhaltlichen Auffassung epistemischer Normen. Genau genommen ist dieses Argument nicht einmal darauf angewiesen, dass die Person lediglich epistemische Ziele verfolgt. Schon der Verweis auf Wunschdenken oder bloßes Recht-haben-Wollen bei der Meinungsbildung würde ausreichen, um die Aussage ,Nur reduktionistische Erklärungen sind echte Erklärungen‘ als pragmatisch widersprüchlich auszuweisen. Die vollständige Eliminierung des normativen und teleologischen Vokabulars in der Selbstbeschreibung kognitiven Lebens wäre für Hegel daher – wie für H. Putnam – nichts anderes als „attempted mental suicide“ (P 1982, S. 20) im wörtlichen Sinne. 142 Für Hegel liegt es eben nicht in unserer „Willkühr“, „das Erkennen zu treiben oder aber es zu unterlassen“ (Enz. § 445A, GW 20, S. 441). Vgl. auch die Erläuterungen in Abschn. I.2.1.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
zeigt sich zugleich, dass diese Einsicht Kants Modell zweckmäßiger Prozesse unterminiert. Zu behaupten, wir könnten nicht anders, als jedes nicht bewusst intendierte, zielgerichtete Verhalten entweder reduktionistisch oder als Produkt einer Handlungsabsicht zu verstehen, kann daher nach Hegel nicht mehr sein als ein Paradigmenfall des Selbstmissverständnisses vernünftigen Lebens.143 Hegels Kritik beschränkt sich aber keineswegs auf den Nachweis, nicht-intentionaler Zweckmäßigkeit im Rahmen kognitiver Prozesse. Dazu lohnt es sich einen Blick auf einen zweiten Argumentstrang zu werfen, den Hegel im Teleologie-Kapitel der beiden Logiken ausgearbeitet hat.144 Hegel stellt dort im Allgemeinen die Frage, unter welchen Bedingungen intendiertes Verhalten erfolgreich sein kann. In Hegels Vokabular ausgedrückt lautet dabei die Frage, wie es möglich ist, dass eine Absicht – ein „subjective[r] Zweck“ – mittels eines Handlungsvollzugs – der „zweckmäßige[n] Thätigkeit“ – und ggf. ihres Instruments – dem „Mittel“ – das Handlungsresultat in der dem Zweck „äußerlichen Objectivität“ (Enz. § 206, GW 20, S. 212) erreicht.145 Hegels Diskussionsergebnis ist, dass der ,Zusammenschluss‘ dieser Komponenten nur dann möglich ist, wenn man die Prämissen verwirft, mit denen Kant die Antinomien zweckgeleiteten Verhaltens zu lösen versucht. Dabei richtet sich Hegel zum einen gegen die kantische These, dass telelogische Beschreibungen lediglich subjektiv gültige Leitlinien und Prinzipien der Beurteilung darstellen. Zum anderen bezieht er sich auf Kants Lösung der dritten Antinomie, von der oben in Abschnitt II.2.2 die Rede war. Dort hatte Kant dafür argumentiert, dass die Selbstauffassung freier Akteure nur dann mit einem transzendental gerechtfertigten, nomologischen Determinismus kompatibel gemacht werden kann, wenn man zwischen dem ,intelligiblen‘ und dem ,empirischen‘ Charakter spontaner Handlungen unterscheidet.146 Dies bedeutet, dass die Wirkungen solcher Handlungen dabei in drittpersonaler Perspektive immer Teil der empirischen ,Erscheinungswelt‘ sind und damit hinreichende Determinanten in früheren Ereignissen haben, während ihr personaler Ursprung außerhalb der Ordnung natürlicher Ursachen und damit für Kant auch außerhalb der raumzeitlichen Wirklichkeit stehen muss.
143 Dass das intentionale Modell nicht zur Analyse epistemischer Ziele herangezogen werden kann, hatte sich schon oben in der Diskussion von Plantingas Epistemologie gezeigt. Vgl. Abschn. I.5.2. 144 Vgl. WdL II, GW 12, S. 160–172 und Enz. § 204–212, GW 20, S. 209–214. 145 Vgl. auch W 2008, S. 43. Die Frage, ob sich Hegel hier lediglich auf menschliche Agenten bezieht und seine Analyse der Teleologie daher in die Geistphilosophie gehört, wie V. Hösle meint, lasse ich hier offen. Vgl. H 1987, Band 1, S. 248–250. Von Hegels Psychologie aus gesehen scheint es zwar klar zu sein, dass auch für Hegel Intentionen im Normalsinn eine propositionale und damit eine begriffliche Struktur besitzen. Vgl. Q 2011, S. 24 f. Daraus folgt aber freilich nicht, dass Tiere gar keine Zwecke verfolgen. Die Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Leben sind für Hegel ohnehin eher fließend. Vgl. W 2013, S. 121–124. 146 Vgl. KrV A 539/B 567.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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Beide Thesen sind für Hegel Teil ein und desselben Problems.147 Denn versteht man die intentionale Auffassung der Teleologie von diesen Hintergrundannahmen her, dann wird das „Realisiren“ (Enz. § 204, GW 20, S. 209) von Akteursintentionen schlicht unerklärbar.148 Konkret scheint Kants ganzer Theorieaufbau folgendem Dilemma ausgesetzt: Denn entweder man erhält den Dualismus einer durch Kausalgesetze vollständig determinierten Welt und dem subjektiven Innenleben von Akteuren und deren Intentionen aufrecht. Dann aber wird Handeln ebenso unverständlich wie die Analogie von Organismen zu menschlichen Artefakten, die sich ja gerade als eine Grundvoraussetzung von Kants Modell herausgestellt hat. Oder aber man hält Intentionen auch im Rahmen des kantischen Modells für ausführbar. Um die prinzipielle Trennung aber dann aufrechterhalten zu können, muss man zumindest zwischen den Intentionen und den möglichen Resultaten Übergangsmedien einbauen, die dann zwischen dem mentalen Leben und der physischen Welt vermitteln können. Diese Rolle kann ein Mittel nach Hegel aber nur dann spielen, wenn es zwei verschiedene Voraussetzungen erfüllt. (1) muss es über solche intrinsischen, stabilen und nicht-kontingenten Eigenschaften verfügen, die den Absichten und Zielsetzungen des Akteurs zuträglich sind.149 Dabei sind v.a. Dispositionen und Kausalkräfte der Handlungsmedien und -instrumente relevant, deren Manifestation wiederum naturgesetzlich reguliert ist.150 Ein interessanter Folgedanke ist hier, dass dieser Gesetzescharakter (2) subjektseitig in den instrumentellen Überzeugungen des Akteurs reflektiert sein muss. Das heißt, er muss zumindest dispositionell der Meinung sein, dass bestimmte Typen von Handlungsresultaten in der Regel durch einen bestimmten Typ von Mitteln höchstwahrscheinlich erreicht werden können. Diese Aussage muss korrekt oder höchstwahrscheinlich wahr sein, wenn die Handlung erfolgreich sein soll. Die Bildung von Intentionen setzen so von vorneherein eine Anpassung an die Wirklichkeit voraus.151 147 Hegel identifiziert entsprechend am Anfang des Teleologiekapitels der WdL die Freiheitsantinomie mit der ,Antinomie der teleologischen Urteilskraft‘. Vgl. WdL II, GW 12, S. 157 f. 148 Vgl. im Folgenden bes. V 1991, S. 60 f. W. de Vries arbeitet die anti-cartesianischen Implikationen von Hegels Thesen dabei sehr klar heraus, die man in analoger Erweiterung auch auf Kants Trennung von ,noumenaler‘ und ,phänomenaler‘ Welt übertragen kann. 149 Im Falle anorganischer Entitäten entspricht dies für Hegel „der Sphäre des nun dem Zwecke dienenden Mechanismus und Chemismus“ (Enz. § 209, GW 20, S. 213), die – wie wir in II.3.3 sehen werden – selbst eine begriffliche Struktur haben muss. Vgl. hierzu auch S 2018, S. 723 f. 150 Dieser Aspekt wird weiter unten in II.3.3 genauer beleuchtet. D. Wandschneider erläutert den Zusammenhang zwischen der „Möglichkeitsdimension“ (W 2008, S. 41) der Eigenschaften und Zustände von Individuen und ihrem tatsächlichen Verhalten erhellend anhand des Funktionscharakters von Naturgesetzen. Vgl. ebd., S. 40–43. 151 Vgl. WdL II, GW 12, S. 162; Enz. § 207, GW 20, S. 212 und zur Interpretation bes. V 1991, S. 56 f. Derselbe Gedanke kehrt in analoger Form im Kapitel zur ,Idee des Guten‘ wieder. Vgl. WdL II, GW 12, S. 231; und zur Anpassungsrichtung in volitiven Einstellungen im Allgemeinen ferner auch K 1989, S. 76 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Das Mittel muss daher über solche Eigenschaften verfügen, die vom Akteur gewusst werden können und seinen Wünschen so entgegenkommen, dass er mit dem Mittel jeweils die beabsichtigte Wirkung erzielen kann. In beiden Hinsichten müssen die Grenzen zwischen dem mentalen Leben des Akteurs und seiner (an)organischen Umwelt überschreitbar sein. Hegel geht allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter. Denn es ist seine zentrale Pointe, dass nicht jedes Medium des Handlungsvollzugs seiner Natur nach vollständig durch äußere Zweckmäßigkeit und Kausalgesetze beschrieben werden kann. Ansonsten müsste nach Hegel zwischen Akteursintention und Mittel ein weiteres Übergangsmedium eingebaut werden und aufgrund der strukturellen und intrinsischen Eigenschaften eines solchen Mitteltypus wäre ein Regress unaufhaltsam, der eine erfolgreiche Handlung unmöglich machen würde.152 Als Regress-Stopper kann ein bestimmtes Mittel aber nur dann fungieren, wenn es denjenigen Zwecken selbst ,unmittelbar‘ dienlich ist, aus denen sich einzelne Absichten jeweils in letzter Hinsicht ableiten.153 Ein solches Mittel, dass zwar physisch ist, aber dennoch nur um eines übergeordneten Zwecks willen existieren und als solches überhaupt verstanden werden kann, ist nach Hegel etwa das Glied eines Organismus, dessen ganze Existenz wiederum selbst an der Existenz und Funktion seiner Glieder hängt.154 Denn nicht nur die Existenz, sondern schon die spezifische Identität eines solchen Mittels – etwa eines Organs – kann eben nur dann begriffen und erklärt werden, wenn es zum Florieren des ganzen Organismus beiträgt, in dem „alle Glieder sich gegenseitig momentane Mittel wie momentane Zwecke sind“ (Enz. § 216, GW 20, S. 219). In anderen Worten: Die gesuchte „dem Zwecke unterworfene Realität, das unmittelbare Mittel“ ist nichts anderes als die „Leiblichkeit der Seele“ (WdL II, GW 12, S. 183),155 die zu dem gehört, was einen in der Welt verkörperten Akteur eigentlich ausmacht. Die Ausführbarkeit von Absichten hängt nach Hegel also an der Lebendigkeit von Akteuren. Kants Modell von Zweckmäßigkeit setzt damit in der Anwendung schon implizit voraus, was es erst verständlich zu machen versucht: den Selbstzweckcharakter des Lebens. Und da wir uns in jedem Handlungsvollzug immer schon als lebendige
152 Dies ist der Inhalt von Hegels Regressargument gegen die „endliche Zweckmäßigkeit“ in Enz. § 211, GW 20, S. 213 f., wie W. de Vries zeigt. Vgl. hierzu V 1991, S. 60 f. 153 Diesem letzten Zweck entsprechen die Entwicklung und Erhaltung der jeweiligen Existenz- bzw. Lebensform des Agenten, die sich von dessen Artbegriff her definiert und die wiederum die Funktion der Teile des ganzen organischen Gebildes festlegt: „Da ihm der Begriff immanent ist, so ist die Zweckmässigkeit des Lebendigen als innre zu fassen […]. Diese Objectivität des Lebendigen ist Organismus; sie ist das Mittel und Werkzeug des Zwecks, vollkommen zweckmässig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht […].“ (WdL II, GW 12, S. 184) Vgl. auch W 2013, S. 119 f. 154 Vgl. WdL II, GW 12, S. 184. Hegel greift hier auf Kants holistische Definition des Organismus zurück. Vgl. KU § 65, B 290–292. 155 Hegel übernimmt dabei die klassische Definition der „Seele“ als das „sich selbst bewegende Princip“ (WdL II, GW 12, S. 183), das ein lebendiges Individuum wesentlich auszeichnet. Vgl. hierzu O 2007, S. 177–183.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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Akteure erfahren, die am Gelingen ihres ganzen Lebens interessiert sind, ist die Kategorie des Lebens gewissermaßen immer schon Teil unseres impliziten (praktischen) Selbstverständnisses.156 Daher scheitert das intentionale Modell zusammen mit Kants starker epistemologischer These, wir seien durch unsere Erkenntnisfähigkeiten geradezu konstitutiv auf die Universalität reduktionistischer Erklärungen festgelegt. Aus diesen Einwänden ergibt sich sofort, dass unter hegelschen Prämissen kein TA zu erwarten ist, das seine gewünschte Schlussfolgerung mit Uhrmacheranalogien a` la W. Paley erreichen will.157 Interessanterweise hält Hegel die Idee eines TA trotz dieser Kant-Kritik nicht für erledigt. Das explanandum eines TA muss sich ja keineswegs auf die Zweckmäßigkeit lebendiger Individuen beschränken. Denn selbst wenn man zugibt, dass der Mittelregress in der Ausführung von Zwecken bei einem lebendigen, sich selbst erhaltenden und verwirklichenden Individuum endet, folgt daraus nicht, dass sich nicht auch andersgelagerte, höherstufige Regresse ergeben könnten. In der Tat sind für Hegel organische Individuen hinsichtlich ihrer teleologischen Eigenschaften im doppelten Sinne endlich. Zum einen sind sie in ihrem eigenen Lebensvollzug auf eine ihnen förderliche Umwelt angewiesen; zum anderen folgt aus dem Selbstzweckcharakter einzelnen Lebens nicht, dass dieses nicht selbst Mittel für die Entwicklung und Erhaltung anderen Lebens sein kann.158 Es ist nun zunächst die erste Hinsicht, die nach Hegel die Frage nach der Ermöglichungsbedingung von Leben und darin ein TA motiviert. Im Kolleg von 1831 heißt es: In diesem Verhältnisse nun haben wir doch noch die Trennung, daß das Organische eine Seite des Verhaltens nach außen zur unorganischen Natur hat, und diese ist nicht an ihm selbst gesetzt. […] Die Wahrheit aber der organischen und unorganischen Natur ist auch hier nur die wesentliche Beziehung beider, ihre Einheit und Untrennbarkeit. Diese Einheit ist ein Drittes, welches weder das eine noch das andere ist; es ist nicht in der unmittelbaren Existenz – die absolute Bestimmung, welche beide, das Organische sowohl als das Unorganische, in Einheit setzt; das Subjekt ist das Organische, das andere erscheint als Objekt, verwandelt sich aber dazu, das Prädikat des Organischen zu sein, ihm zu eigen gesetzt zu werden. Dies ist der Wechsel dieser Beziehung; beides ist in einem gesetzt, worin jedes ein Unselbständiges, ein Bedingtes ist. (VPR 4, S. 603)159
Hegels Gedanke lässt sich hier relativ leicht zusammenfassen: Trivialerweise reicht der Verweis auf die intrinsische Zweckmäßigkeit von Organismen nicht aus, um die Lebensförderlichkeit der relevanten Umwelt zu erklären. In jedem
156 Wie R. Spaemann und R. Löw zeigen, ist Kant im Spätwerk selbst zu dieser Einsicht gekommen. Vgl. S/L 2005, S. 119–121. 157 Vgl. die Diskussion von Paleys Argument in K 1990, S. 35. Für TA aus extrinsischer Zweckmäßigkeit hat Hegel in der Regel nur Geringschätzung übrig. Vgl. u.a. VPR 3, S. 319 f.; VPR 4, S. 318 und WdL II, GW 12, S. 155 f. 158 Vgl. hierzu WdL II, GW 12, S. 168 f.; Enz. § 211, GW 20, S. 213 f. und zur Interpretation V 1991, S. 65–68. 159 Vgl. auch VPR 4, S. 309f und 313 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Falle muss nach Hegel dies durch ein „Drittes“ (ebd.) neben den einzelnen Individuen und der (an)organischen Umwelt gewährleistet werden, das sich nicht in einem der beiden erschöpft. Es kann daher von beiden spezifisch unterschieden sein und erlaubt daher prima facie einen Schluss auf etwas, das Gott zumindest ähnlich zu sein scheint. Hegel meint daher: „Wir können dies Dritte, zu dem sich das Bewußtsein erhebt, Gott im allgemeinen nennen […].“ (ebd.)160 Bevor aber auf Hegels Bewertung dieser Schlussfolgerung eingegangen wird, soll noch ein kurzes Zwischenfazit gezogen werden. Bislang lässt sich Hegels Position ungefähr so zusammenfassen: Die Minimalbedingung für das Gelingen eines TA beruht zum einen auf theologischen und religiösen Voraussetzungen und zum anderen auf der Einsicht in die Unhaltbarkeit des kantischen Modells von Zweckmäßigkeit. Gehört dabei intrinsische Zweckmäßigkeit genauso zum Selbstverständnis menschlicher Praxis wie die Erfahrung ihrer Endlichkeit, ergibt sich für Hegel nicht nur unmittelbar die Relevanz des TA, sondern zugleich die religiöse Form der Begründung, die ihm zugrunde liegen soll. Denn in der oben zitierten Passage wird zugleich deutlich, wie sich Hegel die indirekte Natur der Begründung und des darin involvierten kategorialen Wissens genauer vorstellt: Danach weiß jedes lebendige Individuum schon im Rahmen seines Lebensvollzugs, was es heißt, Zwecke in der Welt zu verfolgen. Die Einsicht in seine Endlichkeit ermöglichen ihm dann unmittelbar die Verwiesenheit auf einen höheren Zusammenhang einzusehen, der in bislang noch unbestimmter Hinsicht in ,Gott‘ oder dem Absoluten gründen soll.161 Über diese Einsicht in das, was endliches Leben genau bedeutet, wird zugleich auch deutlich, warum vor diesem Hintergrund die Behauptung der Selbstgenügsamkeit individuellen Lebens inkohärent erscheint.162 Der Verweis auf das Absolute wird schließlich noch dadurch erhärtet, dass nach Hegel für die Ausbildung dieser Überzeugung die 160 Wohl gemerkt: Hegel spricht nicht von Gott ,im Besonderen‘. Vielmehr fügt er gleich an derselben Stelle hinzu: „[E]s fehlt aber noch sehr viel an dem Begriff Gottes […].“ (VPR 4, S. 603) Worin der Begriff genau defizient ist, wird in seiner Diskussion dieses Schlusses deutlich: „Damit ist aber noch nicht die Bestimmung des Geistes gesetzt.“ (ebd., S. 604; vgl. VPR 3, S. 321) Etwas genauer heißt es in der parallelen Passage im Kolleg von 1824: „Es hängt damit zusammen, daß, wenn auch die Bestimmung Gottes gefaßt wird als eine nach Zwecken tätige Macht, so ist dies doch noch nicht erreicht, was man will, wenn man von Gott spricht, was man Persönlichkeit Gottes nennt oder Geist. Denn eine nach Zwecken wirkende Macht ist ebenso die Lebendigkeit der Natur, noch nicht der Geist.“ (VPR 4, S. 319) 161 „Die Erhebung ist also ganz richtig, daß die Wahrheit der Zweckbeziehung dies Dritte ist, wie es soeben bestimmt worden […].“ (VPR 4, S. 604) Nicht zuletzt aufgrund der Kritik, die Hegel an dieser Schlussfolgerung übt, könnte man hier aber fragen, ob Hegels Rekonstruktion des TA nicht letztlich ein Strohmann ist. Ein solcher Vorwurf wäre aber vorschnell, denn tatsächlich finden sich Vorläufer des Gedankens, dass gerade wegen der inneren Zweckmäßigkeit von Organismen auf eine äußere Ursache der Harmonie der Lebensvollzüge verschiedener natürlicher Arten geschlossen werden muss. Vgl. SCG I, Kap. 13, S. 58 f. und ferner F 2015, S. 175. Nach H. Tegtmeyer findet er sich sogar in Thomas’ fünftem Beweisweg. Vgl. T 2013, S. 217 f. 162 Vgl. H 2011, S. 422.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
307
,Mächtigkeit‘ des Absoluten schon implizit eingesehen werden muss. Durch die Verknüpfung mit der Begründung aus endlicher Zweckmäßigkeit wird dann dem religiösen Denken die Zuschreibung teleologischer Attribute ermöglicht. Zu These (3): Die Suche nach Endzwecken und die Fragilität der Ethikotheologie Angenommen nun, diese Konklusion ist korrekt, dann ist bisher nur so viel gezeigt, dass durch das gesuchte ,Drittes‘ die Zwecke und Bedürfnisse endlicher Organismen auf ihre Umwelt abgestimmt werden müssen. Der Schluss auf einen absichtsvoll handelnden Akteur wäre allerdings für Hegel allein durch den Hinweis auf die Existenzbedingungen endlicher Lebewesen nicht gerechtfertigt. Denn gefordert wird lediglich ein struktureller Zusammenhang zwischen lebendigen Einzelwesen und der (an)organischen Welt, der mit beiden nicht direkt identifiziert werden kann. Daraus folgt aber nicht, dass er nur durch eine externe, personale Ursache gewährleistet werden kann.163 Wollte man den erforderlichen Zusammenhang überhaupt als eine individuenähnliche Entität verstehen, so könnte man ihn nach den obigen Überlegungen genauso gut als ein Lebewesen höherer Ordnung auffassen, in dem die Einzelorganismen und die Umwelt wiederum ,Glieder‘ seines ,Leibes‘ wären.164 Und nicht einmal dieser Verweis auf eine „Weltseele“ (VPR 4, S. 604)165 wäre zusammen mit dem theistischen Schluss im hegelschen Theorierahmen alternativlos. Im Anschluss an Hegels Begriff des „geologische[n] Organismus“ (Enz. § 337, GW 20, S. 344) könnte das ,Dritte‘ auch lediglich als ein sich selbst stabilisierendes und erhaltendes Ökosystem – sagen wir, in der Größe des Universums – verstanden werden.166 Obwohl diese Optionen hinreichen würden, um eine der genannten Formen der ,Endlichkeit‘ von Lebewesen argumentativ in den Griff zu bekommen, bleiben sie nach Hegel ebenfalls mit Defizienzen behaftet. Leider bleibt sein eigent-
163 Dies folgt aus Hegels allgemeiner These, dass „der Ausgangspunkt“ einer religiösen Begründung „implicite den Inhalt oder Stoff [enthält], welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht.“ (Enz. § 552A, GW 20, S. 530) 164 „Wenn wir die Lebendigkeit in ihrer Wahrheit auffassen, so ist sie Ein Prinzip, Ein organisches Leben des Universums, Ein lebendiges System. Alles, was ist, macht nur die Organe des Einen Subjekts aus; die Planeten, die sich um die Sonne drehen, sind nur Riesenglieder dieses Einen Systems: Auf diese Weise ist das Universum nicht ein Aggregat von vielen gleichgültigen Akzidenzen, sondern ein System der Lebendigkeit.“ (VPR 4, S. 604) 165 Vgl. auch WdL II, GW 12, S. 181; VPR 3, S. 321 und VPR 4, S. 635. 166 Den Gedanken eines Ökosystems diskutiert Hegel in den Paragraphen zur ,geologischen Natur‘ in Enz. §§ 338–342, GW 20, S. 345–347. Vgl. dazu W 2013, S. 120 f. Nach V. Hösle blockiert Hegels Verweis auf die Kategorie der Umwelt per se den Schluss auf eine personale Ursache. Vgl. H 1987, Band 2, S. 320 Fn. 94. Hösles Kritik trifft allerdings nicht andersgelagerte Begründungen, die die systematische Ordnung der Natur, die Hegel mit Platon auch mit der ,Weltseele‘ identifiziert (vgl. VPR 4, S. 604), von der inneren Struktur der ,absoluten Idee‘ her versteht. Vgl. bspw. Enz. § 251, GW 20, S. 241 und dazu unten II.3.3.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
licher Vorbehalt unklar, denn er weist lediglich darauf hin, dass im Schluss auf die ,Weltseele‘ die Frage der Zweckmäßigkeit der Welt nur ,formell‘, aber nicht ihrem ,Inhalt‘ nach betrachtet wurde. Hegel bemerkt im Kolleg von 1831: Wir haben die formelle Seite der Zweckbeziehung betrachtet. Die andere ist die des Inhalts. Hier ist die Frage: Welches sind die Bestimmungen des Zwecks, oder was ist der Inhalt des Zwecks, der realisiert wird, oder wie sind diese Zwecke beschaffen in Rücksicht auf das, was die Weisheit genannt worden? (VPR 4, S. 604)
Hegel scheint also zu glauben, dass der Zweckinhalt durch den o.g. Schluss nicht geklärt werden kann. Was ist aber damit gemeint und inwiefern kann die Schlussfolgerung dadurch als mangelhaft bezeichnet werden? Was Hegel hierbei vor Augen steht, ergibt sich vielleicht aus dem Hinweis, dass das Problem des Zweckregresses durch die bislang diskutierten Schlussoptionen nicht gelöst werden kann. Zwar scheint es, dass die Auffassung des Universums als ,Weltseele‘ oder als ,geologischer Organismus‘ einen möglichen Lösungsvorschlag enthält. Denn man könnte die Frage der Form ,Wozu existiert das Universum?‘ einfach durch den Hinweis beantworten, dass es als ein Lebewesen bzw. ein Ökosystem höherer Ordnung um seiner selbst willen existiert und sich als solches erhält.167 Eine solche Vermutung könnte sich aber nicht auf Hegels Prämissen stützen und dies aus folgendem Grund: Bei einem einzelnen pflanzlichen oder tierischen Organismus bezieht sich jeder gleichlautende Verweis auf dessen Selbstzweckcharakter zugleich implizit auf dessen spezifische Lebensform. Dies bedeutet genauer, dass er sich selbst als Exemplar einer bestimmten natürlichen Art erhält, entwickelt und reproduziert.168 Es ist aber nicht unmittelbar ersichtlich, wie sich dieses Modell der Selbsterhaltung und -verwirklichung auf das Universum übertragen lassen soll. Denn das Universum exemplifiziert nicht selbst eine bestimmte natürliche Art wie Pflanzen oder Tiere, sondern ist zunächst nur der kollektive Inbegriff verschiedenartiger Individuen. Deren Zusammenschluss ist damit nicht nur loser als etwa organisierte Kollektive gleichartiger Individuen wie bspw. Bienen- oder Ameisenvölker.169 Es folgt zugleich, dass die oben eingeführte Rede von der ,Weltseele‘ für das vorliegende Problem keinerlei informatives Erklärungspotential besitzen kann. Denn bei der Frage nach dem, was sich auf der Ebene des Universums erhält, wird man automatisch auf das Wesen von Einzelorganismen verwiesen. Jeder Abbruch des Regresses von höherstufigen Zwecken mit Bezug auf das Universum wird damit aber bodenlos, weil zirkulär: Jeder individuelle Organismus soll dann zum Zwecke eines umfassenden Ganzen existieren, dessen
167 W. de Vries hat in diesem Sinne vorgeschlagen, dass das Weltganze für Hegel selbst eine ,natürliche Art‘ bildet (vgl. V 1988b, S. 12), dessen Selbstverwirklichung das letzte explanans für die Gesamtstruktur des Universums darstellt. Vgl. ebd., S. 13–17 und V 1991, S. 66 f. Analoge Hegellesarten diskutiert R. Stern in S 2009, S. 30–32. 168 Vgl. oben Fn. 153. Dieser Gedanke wird instruktiv erläutert und verteidigt in W 2008, S. 155 f. und F 2019, S. 400–420. 169 Zur Unterscheidung von Kollektiven und Organismen vgl. O 2018.
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
309
,Wesen‘ sich gar nicht unabhängig von den Artbegriffen (an)organischer Individuen beschreiben lässt.170 Eine analoge Kritik lässt sich an der alternativen Konzeption des Universums als ,geologischer Organismus‘ formulieren. Zwar sind hier die Zusammenhänge zwischen verschiedenartigen Individuen schon systematischer Natur. Anders als pflanzliche und tierische Organismen erlauben aber Ökosysteme nach Hegel keine nicht-metaphorische Zuschreibung eines ,Selbst‘, da die Entwicklung und das Fortbestehen der je eigenen Form der Existenz nicht das letzte Ziel ihres Verhaltens sind.171 Ein Ökosystem verfolgt als solches gar keine eigenen Zwecke, sondern ermöglicht nur das zweckbestimmte Leben derjenigen Individuen, die an ihm teilhaben. Kurz: Keiner der genannten Schlüsse auf das Universums ist daher wirklich dazu in der Lage, das Problem der Endlichkeit der Zweckmäßigkeit lebendiger Individuen zu beseitigen. Von hier aus gesehen ergibt sich in systematischer Perspektive nur noch folgende Alternative: Entweder ist die Frage nach dem Endzweck überhaupt nicht zu beantworten. Oder aber es gibt eine Antwort, die dann aber außerhalb natürlicher Formen der Zweckmäßigkeit liegen muss. Hegel optiert nun deutlich für die zweite Alternative, wenn er Kolleg von 1831 bemerkt: „Die Quelle aber, wo dieser Zweck anerkannt wird, ist die denkende Vernunft.“ (VPR 4, S. 606) Es liegt nun nahe Hegels Plädoyer mit Kants These engführen, dass unsere moralische Praxis eine, wenn nicht die entscheidende Antwort auf die Frage nach Endzwecken enthält. Eine solche Engführung wäre aber zumindest erläuterungsbedürftig. Denn schon Hegels Rede von der „denkende[n] Vernunft“ (ebd.) deutet an, dass sich Endzwecke nicht nur in der praktischen Seite des Lebensvollzugs rationaler Wesen finden. Schon oben wurde darauf hingewiesen, dass für Hegel auch die Überzeugungs- und Erkenntnisbildung intrinsisch zielgerichtet ist. ,Denken‘ ist dabei der Modus mit dem das erfüllt werden kann, was vernünftiges Leben ausmacht. Und dies besteht u.a. darin, selbstbewusste Einstellungen auszubilden, in denen mindestens implizit eingesehen wird, dass das, was Inhalt dieser Einstellung ist, zugleich mit der Natur der Sache strukturell
170 Wenn die Rede von Identität immer an Spezies- oder Wesensbegriffen hängt (vgl. L 2008, S. 34 f.), dann erfüllt das ,Weltganze‘ nicht das konstitutive Merkmal des Absoluten, mind. hinsichtlich seiner Existenz und seines Wesens selbsterklärend zu sein. Vgl. oben I.1.1. W. de Vries’ These einer ,natürlichen Art‘ des Weltganzen, die er Hegel unterstellt (vgl. oben Fn. 167), ist daher zu unterbestimmt, um die anvisierte explanatorische Rolle zu spielen. Dies könnte sich ändern, wenn es einen Begriff eines systematisch geordneten Weltganzen gäbe, der sich nicht einfach im Hinweis auf all das, was es gibt, erschöpfte. Wir werden in II.3.3 sehen, dass Hegels allgemeiner Naturbegriff dies leisten soll. 171 Ich folge hier wieder D. Wandschneiders Rekonstruktion von Enz. §§ 338–340 in W 2013, S. 120 und . 2008, S. 160–162. Nach Wandschneider lässt sich Hegels Kernidee systemtheoretisch auch so zusammenfassen, dass einem Ökosystem die Möglichkeit der Repräsentation der eigenen Soll-Werte in Form einer ebenfalls systemeigenen Kontrollinstanz fehlt. Und da die Sollwerte auch nach Wandschneider jeweils artspezifisch sind (vgl. ebd., S. 154 f.), ergibt sich ein analoger Einwand gegen die nicht-metaphorische Rede der Selbsterhaltung des Universums. Vgl. ebd., S. 161 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
,identisch‘ ist, die erkannt wird.172 Von hier aus könnte man zumindest erwägen, ob es nicht einen Grenz- oder Idealfall des ,Erkennens‘ geben könnte, indem der Inhalt sich mit dem deckt, was all das wirklich ausmacht, was als Ganzes Inhalt einer Erkenntnis werden kann – einschließlich des höherstufigen Wissens um diesen Grenzfall selbst.173 Wenn ein solcher Fall zumindest kohärent denkbar wäre, dann würde in dessen Verwirklichung kein höherstufiges epistemisches Ziel mehr übrig bleiben, das erreicht werden könnte. Daher scheint die Vermutung gerechtfertigt, dass sich für Hegel Endziele nicht lediglich in unserer moralischen Praxis finden. Der wohl schärfste Unterschied zu Kant besteht aber darin, dass Hegel die kantische These verwirft, eine moraltheologische Supplementierung könne eigenständig formuliert werden und jede alternative Form des TA überflüssig machen. Er glaubt nicht einmal, dass Kants moralisches Argument widerspruchsfrei formuliert werden kann.174 Den allgemeinen Hintergrund von Hegels Kritik bildet dabei das Ergebnis der bisherigen Diskussion. Zwar sind sich Kant und Hegel darin einig, dass man echte Endzwecke weder in einzelnen natürlichen Individuen noch in deren systematischem Zusammenschluss finden kann.175 Für Kant verschärft sich aber dieser Umstand insbesondere durch die Struktur unserer unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Welt und der darin involvierten rationalen Fähigkeiten, die in Hegels Augen zu konfligierenden Erkenntnisansprüchen führen müssen. Im Rahmen von Kants moralischem Argument ist seine Rede vom Endzweck der Welt ja eine direkte Konsequenz seiner Epistemologie moralischer Überzeugungen, mit deren Hilfe Kant den Begründungsprobleme der Physikotheologie
172
Zum Zusammenhang zwischen ,Vernunft‘ und ,Erkennen‘ vgl. oben Abschn I.2.1. Genau genommen müsste man mit Hegel sagen, dass Wesen, die in der Lage sind, diesen Grenzfall zu verstehen, zugleich danach streben, zu erkennen, was es für sie selbst bedeutet, eben ein solches Wesen zu sein. In der Einsicht in diesen Grenz- und Idealfall, d.h. das Absolute, vollzieht sich nach Hegel zugleich daher die echte Selbsterkenntnis vernünftiger Wesen. Im Manuskript deutet Hegel daher an, dass in demjenigen (religiösen) Wissen um das Absolute, das zugleich das Selbstwissen geistigen Lebens enthält, dessen eigentliche Endzweck besteht: „Noch mehr aber ist der Mensch Zweck – das eine Mal als lebendiger, das andere Mal als Denken, denn eben Denken, alles was in demselben liegt und seine Wurzel darin hat, als in sich unendlicher Selbstzweck. Formell oder objektiv auch dem Inhalt nach; der absolute Zweck seiner Subjektivität aber ist die absolute Objektivität des Selbstbewußtseins, , letzter Endzweck in sich selbst; wir mögen sie als sittliche Vollkommenheit, Religiosität, ewiges Leben, d. i. göttliches, seliges Leben bestimmen. Dieser Zweck ist kein endlicher; er ist Zweck des absoluten Geistes – ihr sollt vollkommen sein wie Er –, denn es ist Leben in Gott, Ähnlichkeit mit ihm – die Weise, wie Gott selbst als Geist in seiner Gemeinde, dem subjektiven Selbstbewußtsein realisiert wird.“ (VPR 4, S. 103 f.) Auf diese Zusammenhänge werde ich unten in den Abschn. II.4.2, II.4.3 und III.5.5 zurückkommen. 174 Zu Hegels Kritik an Kants Lehre vom höchsten Gut vgl. Siep 2018, S. 725–727. 175 Hegels Kritik an dem Schluss auf die Weltseele entspricht daher dem Ergebnis der kantischen Überlegungen in KU § 82, B 379–387 von denen schon oben in II.3.1 ausführlich die Rede war. 173
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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umgehen will. Während für Kant nämlich nicht einmal die teleologische Beurteilung empirisch wahrnehmbarer Einzelorganismen ein Fall von Wissen sein kann, ist das moralische Gesetz der Gegenstand rationaler Intuition und besitzt daher einen nicht-abgeleiteten, positiven epistemischen Status. Die unmittelbare Einsicht in die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes ist damit aber nicht nur die einzige Begründungsbasis für die weitergehende Annahme, dass einer gelingenden moralischen Praxis Endzweckcharakter zugeschrieben werden muss. Das Argument kann unter den kantischen Rahmenannahmen nicht einmal eine schwache Form der epistemischen Rechtfertigung darstellen, die moralischen Akteuren einen Grund für die Wahrheit und Korrektheit des Urteils über letzte Endzwecke geben könnte.176 Selbst in der schwächsten Interpretation von Kants Bedeutungsprinzip müsste mindestens gelten, dass nur solche objektive Wahrheitsansprüche für uns einlösbar sind, die auf mögliche sinnliche Erfahrung bezogen sind. Im Umkehrschluss folgt dann aber, dass die Annahme eines Endzwecks und seines göttlichen Garanten nur ,subjektiv‘177 sein kann und dies trotz Einsicht in die unbedingte Gültigkeit des moralischen Gesetzes. Kants feinsäuberliche Trennung zwischen theoretischen und praktischen Formen des Für-Wahr-Haltens von Aussagen führt ihn allerdings nach Hegel in folgendes Dilemma: Wenden wir uns also zum Inhalt, so ist er ein beschränkter, und gehen wir zum höchsten Zweck über, so befinden wir uns auf einem anderen Felde; es wird von innen herausgegangen, nicht von dem, was gegenwärtig ist und in der Erfahrung liegt. Wird dagegen nur von der Erfahrung ausgegangen, so ist das Gute, der Endzweck selbst nur ein Subjektives, und es soll dann der Widerspruch der anderen Seite gegen das Gute perennieren. (VPR 4, S. 606 f.)
176
Vgl. die obigen Überlegungen im Abschluss von Abschn. II.3.1. „Allein das Gute, – worin der Endzweck der Welt gesetzt wird, ist von vorn herein als unser Gutes, als das moralische Gesetz unserer praktischen Vernunft bestimmt; so daß die Einheit weiter nicht geht als auf die Uebereinstimmung des Weltzustands und der Weltereignisse mit unserer Moralität.“ (Enz. § 60, GW 20, S. 96) Für diese Behauptung bezieht sich Hegel in der Fußnote zu Enz. § 60 auf die „eignen Worte[…] von Kants Kritik der Urtheilskraft“ (ebd.) und zitiert folgende Stelle, die ich hier im Original wiedergebe: „Allein Endzweck ist bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft und kann aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beurteilung der Natur gefolgert, noch auf Erkenntnis derselben bezogen werden. Es ist kein Gebrauch von diesem Begriffe möglich, als lediglich für die praktische Vernunft nach moralischen Gesetzen; und der Endzweck der Schöpfung ist diejenige Beschaffenheit der Welt, die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar so fern sie praktisch sein soll, übereinstimmt.“ (KU § 88, B 432) Diese Stelle besagt allerdings nur, dass die Existenz von Endzwecken nicht epistemisch gerechtfertigt werden kann. Aus ihr ergibt sich aber nicht die anti-realistische Konsequenz, die etwa R. Williams Kants Postulatenlehre unterstellt, dass nämlich der Schöpfer nur deshalb existiert, weil wir dies im Rahmen unserer moralischen Praxis ,postulieren‘. Vgl. W 2017, S. 58 und ähnlich auch H 2017/18, S. 25. 177
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Nach Hegel ergibt sich für Kant damit ein Problem: Die Frage nach dem, was einen Endzweck in der Welt ausmachen könnte und ob es ihn wirklich gibt, verweist uns unweigerlich auf unsere moralische Praxis, die eine hinreichende Antwort zu geben scheint. Zugleich ist es aber gerade der erfahrungsfreie Charakter von Schlussfolgerungen aus unseren moralischen Intuitionen, der für uns eine Einsicht in die Objektivität von Endzielen schlicht unmöglich macht. Genau genommen sind die Spannungen in Kants Ansatz für Hegel noch viel radikaler. Denn die subjektive Gültigkeit teleologischer Urteile ergibt sich für Kant aus der epistemologischen Prämisse, dass die Annahme nicht-finaler und deterministischer Kausalprozesse eine Ermöglichungsbedingung unserer wissenschaftlichen Praxis darstellt und folglich unhintergehbar ist.178 Daraus folgt aber nicht nur, dass hochstufige teleologische Aussagen über die Abstimmung natürlicher Prozesse auf unsere moralische Praxis einen wesentlich schwächeren Rechtfertigungsstatus besitzen müssten als etwa naturwissenschaftlich begründete Aussagen. Da wir einen beliebigen Sachverhalt nach Kant nur dann als möglich einschätzen können, wenn sein Bestehen zumindest im Kontext möglicher Wahrnehmung steht,179 folgt die ungleich stärkere These, dass uns keinerlei Gründe und Belege zur Verfügung stehen, die Existenz von Endzwecken überhaupt für möglich zu halten.180 Vor diesem Hintergrund kann auch kein Schluss auf Gottes Existenz weiterhelfen, der nach Kant selbst im moralischen Argument keine epistemische Rechtfertigung sein kann.181 Weit davon entfernt, den kantischen Dualismus von Theorie und Praxis zu überwinden, reformuliert er für Hegel vielmehr die Spannungen, die in der kantischen Position stecken.182 Denn einerseits erfordert diese die notwendige Wirklichkeit des Guten, die nur durch eine, „diesen Endzweck selbst 178
Vgl. nochmals oben S. 299 f. Dies folgt direkt aus Kants erstem ,Postulat des empirischen Denkens‘. Vgl. KrV A 218/B 265. 180 Hegel geht allerdings von der weitaus stärkeren These aus, dass „der unaufgelößte[…] Widerspruch[…]“ bei Kant darin bestehe, dass „jener absolute[…] Zweck“ der „Schranke dieser Wirklichkeit unüberwindlich gegenübersteht“ (WdL II, GW 12, S. 233). Dies bedeutet hier, dass die vollständig durch Naturgesetze bestimmte Wirklichkeit die Verwirklichung von Endzwecken metaphysisch unmöglich macht. Diese Aussage wird allerdings Kants moralischem Argument nicht ganz gerecht. Denn dieses verhält sich gerade agnostisch gegenüber dessen metaphysischer Möglichkeit, räumt aber dessen Widerspruchsfreiheit ein. Für Kants Argument für die Unsterblichkeit der Seele scheint allerdings ein analoger Einwand durchaus nachvollziehbar. Vgl. dazu unten Fn. 188. 181 Dies soll ja gerade die anti-evidentialistische Pointe von Kants Argument sein. Vgl. oben II.3.1, S. 286 f. 182 Diese Form des Dualismus drückt Hegel auch so aus: „Es sind noch die zwey Welten im Gegensatze, die eine ein Reich der Subjectivität in den reinen Räumen des durchsichtigen Gedankens, die andere ein Reich der Objectivität in dem Elemente einer äusserlich mannichfaltigen Wirklichkeit, die ein unaufgeschlossenes Reich der Finsterniß ist.“ (WdL II, GW 12, S. 233) L. Siep weist auf die gnostischen Untertöne dieser Darstellung hin. Vgl. S 2018, S. 726. 179
3.2 Hegels Stellung zu Kants Kritik
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setzende und ihn realisirende Macht“ gewährleistet wird. Und diese kann für Kant nur „Gott“ sein, „in welchem […] hiemit jene Gegensätze […] von Subjectivität und Objectivität aufgelöst und für unselbstständig und unwahr erklärt sind.“ (Enz. § 59, GW 20, S. 96) Aufgrund unserer Erkenntniskonstitution kann diese Notwendigkeit aber andererseits nur deontisch sein und damit unter keinen Umständen eine durch uns erkannte Tatsache darstellen. In Hegels Worten: Näher wird gegen diese Harmonie der Gegensatz, der in ihrem Inhalte als unwahr gesetzt ist, wieder erweckt und behauptet, so daß die Harmonie als ein nur subjectives bestimmt wird, – als ein solches, das nur seyn soll, d.i. das zugleich nicht Realität hat;183 – als ein Geglaubtes, dem nur subjective Gewißheit, nicht Wahrheit, d.i. nicht jene der Idee entsprechende Objectivität zukomme. (Enz. § 60, GW 20, S. 96)
Das Dilemma, in das sich Kants moraltheologische Lösungsstrategie verstrickt, lässt sich in diesem Sinne knapp so zusammenfassen: Innerhalb der Intuitionen in unserer moralischen Praxis ist uns zwar die notwendige Erfüllung des höchsten Guts a priori gewiss. Möchten wir aber wissen, ob der Inhalt dieser Gewissheit einen bestehenden Sachverhalt ausdrückt, sind wir hingegen auf unsere empirische Erfahrung angewiesen. Auf deren Basis können wir aber nicht dessen objektive Wahrscheinlichkeit,184 ja nicht einmal seine metaphysische Möglichkeit einschätzen. Im kantischen Rahmen ist damit die Basis unserer Gewissheit, dass unsere moralischen Handlungen in dieser Hinsicht gelingen, zugleich der stärkste Grund gegen eine positive Einschätzung ihres tatsächlichen, höchstwahrscheinlichen oder auch nur möglichen Erfolgs.185 Die konfligierenden Ansprüche der Theoriebildung, die uns hinsichtlich Gottes Existenz auf Urteilsenthaltung festlegt, und unserer moralischen Praxis, die uns auf das Gegenteil verpflichtet, kann Kant daher nur dadurch lösen, indem er den Gottesglauben von der Sphäre abschirmt, in der argumentative Gründe für die Überzeugungsbildung prinzipiell relevant werden können.186 Dies mag zwar 183 Diese Aussage scheint der kantischen Überzeugung zu widersprechen, die Vernunftideen würden als gerechtfertigte Postulate „objektive Realität“ (KpV A 243/AA V, S. 135) erhalten. Allerdings kann dies, wie M. Willaschek betont, nur bedeuten, dass sie als Postulate überhaupt einen Objektbezug besitzen und damit lediglich wahrheitsfähig werden. Sie können aber nicht dadurch als wahr eingesehen werden, weil sonst sie sonst keine Postulate, sondern Erkenntnisse wären. Vgl. W 2010, S. 190 f. 184 Dies folgt direkt aus Kants Kritik an probabilistischen Fassungen von theistischen Argumenten. Vgl. oben II.3.1, S. 277. 185 Die radikale Gegenthese vertritt hingegen J.N. Findlay in seiner Interpretation, der die Selbstgewissheit moralischer Praxis geradezu mit dem Wissen um Gottes Existenz identifiziert: „Perhaps […] the intellectual intuition of God is simply such an exercise of free causality, which is indistinguishable from the knowledge of itself.“ (F 1981, S. 317) Diese These benötigt aber nicht nur eine besondere Auffassung von Gottes Präsenz in der moralischen Praxis, die Findlay mit dem christlichen Gedanken der Gegenwart des Hl. Geistes engführt. Vgl. ebd., S. 315. Die Idee einer intuitiven Erkenntnis von Gottes Gegenwart im moralischen Handeln würde zudem der kantischen Konzeption von ,Postulaten‘ widersprechen, die ja gerade kein Wissen sein sollen. 186 Zumindest Kants Einwand gegen den Primat der theoretischen Vernunft scheint einen
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
mit dem Wortlaut des kantischen Selbstverständnis übereinstimmen, dass ein moralischer Vernunftglaube eben kein Wissen ist. Die Frage ist allerdings, ob aus Kants Hintergrundannahmen nicht wesentlich mehr folgt, als Kant selbst lieb sein kann. Zum einen scheint es fraglich, ob es tatsächlich akzeptabel sein kann, auf Basis einer Annahme zu handeln, für deren Wahrscheinlichkeit, ja Möglichkeit man prinzipiell keine Gründe anführen kann.187 Will man einen positiven Ausgang seiner moralischen Handlungen erwarten oder zumindest erhoffen, sollte man zumindest eine entscheidbare Meinung vertreten können, dass die Handlung und ihre Zielsetzung nicht einfach absurd oder sinnlos ist.188 Zum anderen scheint Kants These, dass für einen moralischen Glauben keine epistemischen Gründe sprechen müssen, seinen eigenen Argumentaufbau zu gefährden. So hat etwa M. Willaschek zu Recht darauf hingewiesen, dass Kants Prämisse der Unerklärbarkeit des höchsten Guts durch natürliche und menschliche Ursachen als metaphysische Behauptung gegen mögliche Konkurrenten schwer bzw. überhaupt nicht verteidigt werden kann. Unter den Vorgaben des kantischen Arguments könnte man nämlich genauso gut die Vermutung äußern, das System der Naturgesetze sei als solches und ohne göttliche Einwirkung schon so
Grund für diese Aussage zu bieten. Kants Prämisse, dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist“ (KpV A 219/AA V, S. 121), beruht allerdings in der wohlwollendsten Lesart auf der These, dass nur das moralische Gesetz unbedingt gültig und verpflichtend ist. Vgl. W 2010, S. 184–186. Hegel würde allerdings gerade bestreiten, dass der kategorische Imperativ tatsächlich zu einer echten moralischen Bewertung von Maximen führt, die über den Nachweis der bloßen Konsistenz hinausführt. Vgl. GPR § 135, GW 14/1, S. 117–119 und zur Interpretation I 2007, S. 310. 187 Dies untergräbt m.E. auch Vergleiche mit pragmatistischen Rechtfertigungen von praxisrelevanten Überzeugungen, wie sie etwa M. Willaschek instruktiv entwickelt. Vgl. W 2010, S. 194–196. Nach W. James rechtfertigt sich die Nicht-Wahrnehmung evidentialistischer epistemischer Normen dadurch, dass die Wahrscheinlichkeit einer Aussage in bestimmten Fällen dadurch gesteigert wird, indem jemand im Vertrauen auf ihre Korrektheit handelt bzw. handeln muss, wie dies nach James etwa in sozialer Kooperation der Fall ist. Vgl. J 1979, S. 28 f. Während es hier aber zumindest prinzipiell möglich ist, begründete Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitserwägungen zu treffen, entfällt diese Voraussetzung für die Annahme für Gottes notwendige Existenz, die ohnehin nicht durch ein Für-wahr-Halten wahr gemacht werden kann. Und wo sich bei James die Erwartung im Handlungsresultat für den Akteur bestätigt, hat eine Person unter Kants Prämissen keinerlei Kriterium, um festzustellen, dass sie tatsächlich mit göttlichem Beistand ihre moralischen Ziele verfolgt und diese Annahme in der gelebten Praxis wahr gemacht wird. 188 Einen solchen Verdacht hegt M. Willaschek nicht ganz zu Unrecht gegenüber Kants Unsterblichkeitsbeweis, der auf der Prämisse beruht, dass von jedem Akteur „Heiligkeit“ des Willens verlangt wird, „ deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist“ (KpV A 220/AA V, S. 122). Wenn dies aber für uns eben metaphysisch unmöglich ist, dann kann man – so Willaschek – dies auch nicht zur moralischen Pflicht machen, sollte zugleich Kants Prinzip ,Sollen impliziert Können‘ gelten. Vgl. W 2009, S. 262 f. Zugespitzt formuliert könnte man mit Hegel fragen, ob sich das Prinzip damit nicht selbst auflöst. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 120–123.
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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verfasst, dass auf jede moralische Intention früher oder später das entsprechende Resultat folgt.189 Und da dies in unserem moralischen Interesse ist, wäre diese atheistische Schlussfolgerung unter Voraussetzung der kantischen Postulatenlehre genauso akzeptabel wie ihr kontradiktorisches Gegenstück.190 Die natürliche Konsequenz müsste also sein, die kantische Rahmenannahme aufzugeben, der moralische Glauben stehe prinzipiell außerhalb des Raumes epistemischer Begründungen und könne daher keinerlei echten Erkenntnisanspruch darstellen. Um dennoch an der Grundintuition des moralischen Arguments festhalten zu können, müsste man positive Wahrscheinlichkeits- oder Möglichkeitsbeurteilungen seitens des Akteurs für epistemisch begründet halten, die nicht nur Gottes Existenz selbst, sondern auch seine Beziehung zu moralischen Akteuren betreffen.191 Eine Person, die sich in ihrer Praxis den kantischen Postulaten verpflichtet fühlt, ist daher genau auf diejenige Form der epistemischen Rechtfertigung ihrer Überzeugung angewiesen, die Kants ganzer Theorieaufbau für prinzipiell unmöglich erklärt.192
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz Hegels Diskussion des TA scheint bislang ein aporetisches Ende zu nehmen: Einerseits hatten wir gesehen, wie Personen nach Hegel schon aufgrund ihrer Handlungserfahrung zu theologischen Schlussfolgerungen neigen, mit denen sie die Ermöglichungsbedingungen ihrer Lebenspraxis wie die Existenz anderer
189 Vgl. W 2009, S. 263 f. Wie wir in II.3.3 sehen werden, lässt sich eine analoge Schlussfolgerung aus den metaphysischen Ansätzen von J. Leslie, N. Rescher und Th. Nagel ziehen. 190 Beide Annahmen wären daher in epistemischer Hinsicht genau auf einer Stufe, wie M. Willaschek zu Recht betont, und daher gleichermaßen (in)akzeptabel. Vgl. W 2009, S. 264. 191 Man könnte auch die These vertreten, die Einsicht in den ausgezeichneten Wert beider Sachverhalte gebe einen Grund an die Hand, von seinem möglichen oder wahrscheinlichen Bestehen überzeugt zu sein. Vgl. F 1970, S. 98 f. und ähnlich auch V 2018. In eine ähnliche Richtung tendieren Hegels Aussagen, dass jede gelingende Realisierung moralisch Ziele in gewisser Weise schon die Güte der Gesamtwirklichkeit voraussetzt. Vgl. WdL II, GW 12, S. 233–235 und zur Deutung bes. S 2018, S. 727–733. 192 Prägnant heißt es daher in der WdL: „Der Wille steht daher der Erreichung seines Ziels nur selbst im Wege dadurch, daß er sich von dem Erkennen trennt, und die äusserliche Wirklichkeit für ihn nicht die Form des Wahrhaft-Seyenden erhält; die Idee des Guten kann daher ihre Ergänzung allein in der Idee des Wahren finden.“ (WdL II, GW 12, S. 233) Hegel behauptet hier nur, dass das Handeln sub specie boni nur dann Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn es durch die Erkenntnis ,ergänzt‘ wird, was ,wahrhaft‘ der Fall ist. Daraus folgt aber nicht direkt, dass bevor die Handlung vollzogen wird, das Gute schon als Ganzes in der Welt verwirklicht ist, sondern nur, dass das, was im Rahmen der Natur der Dinge möglich ist, tatsächlich axiologisch ausgezeichneten Absichten entspricht, die für Hegel ohnehin erst in sittlichen Verhältnissen erworben und kultiviert werden können. Vgl. S 2018, S. 730 f.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
zweckgeleiteter Wesen zu erklären versuchen. Andererseits können diese Schlüsse nicht die Unbestimmtheit im Gottesbegriff beseitigen, die schon Kant in seiner Kritik diagnostiziert hatte. Konkret hatte sich gezeigt, dass die Problemsituation, die ein TA motiviert, schon durch den Verweis auf eine ,Weltseele‘ gelöst werden kann, der sich aber keineswegs mit einem gehaltvollen Begriff des Absoluten deckt. Noch schwerwiegender war aber der Umstand, dass ein solcher Schluss die hegelsche Frage nach dem Endzweck unberührt lässt, in dem der Regress endlicher Zwecke zum Halten kommen könnte. In dieser Hinsicht schien nun gerade Kants moralisches Argument einen Ausweg zu bieten. Aber diesen Antwortkandidaten hält Hegel, wie wir gesehen haben, zumindest in der oben diskutierten Form für unhaltbar. Angesichts dieser Situation drängen sich gleich mehrere Anschlussfragen auf: Erstens bleibt vor dem Hintergrund dieser zumindest scheinbaren Aporie völlig unklar, ob nicht eigentlich schon zu viel gegen die Annahme letzter Zwecke spricht. Eine erschöpfende Analyse würde es zumindest erforderlich machen, auch pessimistische Optionen in hegelscher Perspektive zu diskutieren, die entweder die Existenz von Endzwecken verneinen oder diesbezüglich schlicht ihr Urteil verweigern. Die prominenteste Fassung der radikalen Verneinung von Endzwecken ist sicherlich eine Spielart dessen, was ich im Folgenden die ,Zufallshypothese‘ nenne. Sie besteht in der These, dass sich aufgrund bestimmter Mechanismen die Entwicklung des Lebens als ziellos ausweisen lässt.193 Hegel konnte zwar heutige Fassungen dieser Hypothese nicht kennen. Er diskutiert allerdings, wie sich zeigen wird, explizit deren Vorgängerformen und seine Argumente müssten im Rahmen der Diskussion des TA zumindest zur Kenntnis genommen werden. Selbst wenn man nun die Zufallshypothese ausschließen könnte, wäre zweitens immer noch nicht klar, warum Hegel meinen kann, Endzwecke der Wirklichkeit annehmen zu müssen bzw. zu dürfen. In der obigen Diskussion des TA fanden sich bislang lediglich drei Begründungsstränge, die sich aber für Hegel allesamt als unzureichend oder einseitig erwiesen haben. So lässt sich zwar nach Hegel aus der Macht und der Unabhängigkeit des Absoluten a priori auf dessen teleologische Attribute schließen.194 Der resultierende Begriff der ,Weisheit‘ ist aber zu unbestimmt, um etwas gehaltvolles über letzte Ziele auszusagen. Der Ausgang von den Ermöglichungsbedingungen des Lebens ist hingegen nach Hegel für religionstheoretische Zwecke vergleichsweise gut geeignet.195 Allerdings erlaubt er, wie gesagt, keine eindeutigen theologischen Schlüsse und löst zudem
193 M. Willaschek spricht an anderer Stelle von der „Kontingenzthese“ und verweist auf Dewey als einen ihrer neueren Vertreter. Vgl. W 2013, S. 98 f. Die derzeit wohl bekannteste Fassung stammt aus dem Umkreis des sog. ,Neuen Atheismus‘. Vgl. etwa Plantingas instruktive Diskussion der Versionen von Dawkins, Dennett und Draper in WCRL, Chap. 1 und 2. 194 Vgl. oben II.3.2, S. 292 f. 195 Vgl. oben S. 305 f.
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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das Problem der Zweckhierarchien nicht. Die kantische, ethikotheologische Lösung macht schließlich zwar den Gedanken von Endzwecken inhaltlich nachvollziehbar. Als ,Argument‘ hat sie aber, wie gezeigt, für Hegel zumindest in der dargelegten Form keinerlei Erfolgsaussichten.196 Diese Begründungslücken haben drittens gravierende Konsequenzen für Hegels religionsphilosophische Annahme, in den Gottesbeweisen drücke sich eine legitime Form der Begründung religiöser Überzeugungen aus, die von Gläubigen selbst schon geleistet wird.197 In jedem Falle müsste Hegel nicht nur gute Gründe aufbieten können, warum der prinzipielle Zweifel an Endzwecken ungerechtfertigt ist. Er müsste darüber hinaus zeigen, warum sich etwa die kantischen Intuitionen konsistent und v.a. begründet einholen lassen – und dies in einer Weise, die eine religiöse bzw. theologische Deutung des Endzweckcharakters der Wirklichkeit zulässt. Wie wir sehen werden, ist eine solche Auffassung von Endzwecken weder trivial noch alternativlos. Zumindest beanspruchen einige vieldiskutierte metaphysische Ansätze der Gegenwartsdebatte, die Annahme von letzten Zwecken theologiefrei einzuführen und zu begründen. Wie Hegel diese Probleme lösen kann, soll im Folgenden das Thema sein. Dazu will ich in einem ersten Schritt diejenigen hegelschen Theoriestücke rekonstruieren, die m.E. eine aussichtsreiche Antwort auf die Zufallshypothese enthalten. Dabei sollen insbesondere Hegels Gründe nachgezeichnet werden, die in seinen Augen gegen den Gedanken einer vollständig zweckfreien Wirklichkeit und für die Überzeugung von Endzwecken in der Natur sprechen (Abschnitte A und B). Im Folgeschritt werde ich schließlich zeigen, warum Hegels konkrete Begründung der Wirklichkeit von Endzwecken eine theologische Deutung nicht a priori überflüssig macht und daher für religionsphilosophische Zwecke geeignet ist. Dabei werde ich die erwähnten Gegenwartsansätze als Kontrastfolie heranziehen und in einem abschließenden Schritt deren philosophiegeschichtliche Quelle – Platons Timaios – mit Hegels Ansatz kurz ins Verhältnis setzen (Abschnitt C). A. Die Inkohärenz des mechanistischen Weltbilds und die Irreduzibilität der Teleologie Bevor man mit Hegel mögliche Gründe für die Existenz und Nicht-Existenz von letzten Zwecken abwägt, könnte man vorab fragen, ob die Urteilsenthaltung nicht eine mindestens ebenso plausible, dritte Option darstellen könnte. Soweit ich sehen kann, findet man bei Hegel hierzu so gut wie gar keine Überlegungen. Die möglichen Motive, eine solche Option gar nicht erst ins Auge zu fassen, lassen sich aber relativ leicht mit den bisherigen Diskussionsergebnissen klären. 196 Allerdings wären mit dem Scheitern von Kants Ethikotheologie die Möglichkeiten für moralische Argumente für Gottes Existenz nicht erschöpft. Vgl. etwa die neueren Überlegungen in A 2018. 197 Vgl. oben Abschn. II.2.3 und II.2.5.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Gerade im letzten Abschnitt wurde betont, dass vernünftiges und rationales Leben für Hegel im Kern wesentlich in einem Urteils- und Gründe-basierten Lebensvollzug besteht. Eben deshalb gilt für Hegel wie für Kant, dass sich jeder rationale Akteur in seinem Verhalten zumindest implizit die Frage stellen kann und muss, ob es so etwas wie hinreichende, letzte Gründe für unser Denken und Handeln prinzipiell geben kann. Entsprechend kann Hegel mit Kant das Problem aufwerfen, ob es nicht letzte Ziele des Handelns gibt, in der die Frage nach dem ,Wozu?‘ durch deren sittliche Güte beantwortet werden kann. Und da Werturteile, wie Hegel zeigt, selbst begründungsbedürftig sind,198 stellt sich eine analoge Frage für das ,Warum‘ in unserer Erkenntnis- und Überzeugungsbildung. Beide Fragetypen betreffen dabei keineswegs nur die Person, die sie aufwirft, denn Urteile im Denken und Handeln sind auch und v.a. weltbezogen. In der Perspektive eines rationalen Akteurs ergibt sich daher nicht nur das Problem letzter Zwecke unserer theoretischen und praktischen Urteilsbildung, sondern auch die weitergehende Frage, ob und wie die Wirklichkeit selbst mit unserem epistemischen Zugang und unserem Handeln zusammenpasst.199 Jeder, der in seiner konkreten Praxis sowohl am Erwerb systematischen Wissens wie an der Verwirklichung moralischer Ziele interessiert ist und aktiv an ihnen arbeitet, hat demnach für Kant wie für Hegel schon gewissermaßen positiv geurteilt, dass unsere Handlungen ebenso erfolgreich sein können wie die wahren Erkenntnisansprüche und Werturteile, auf denen sie beruhen. Man kann sicherlich einwenden, dass diese skizzenhaften Überlegungen keineswegs den Agnostizismus als epistemische Möglichkeit vollständig ausschließen. Sie machen aber deutlicher, warum neben Hegel auch Kant trotz seiner Erkenntniskritik meinen kann, an einer positiven oder negativen Entscheidung des Problems theoretischer und praktischer Endzwecke komme keine Person vorbei. Zumindest sind die Gründe nachvollziehbar, warum schon die Struktur vernünftigen Lebens nach Kant und Hegel eine konkrete Stellungnahme erforderlich macht.200 198 Vgl. WdL II, GW 12, S. 86–88 und oben Abschn. I.2.2. Mit Th. Nagel könnte man daher auch sagen, dass rationale Lebewesen nach wahren Aussagen suchen, die in theoretischer und praktischer Hinsicht das ,letzte Wort‘ besitzen. Vgl. N 1997. 199 Bei Kant betrifft dies nicht nur das praktische Ziel des ,höchsten Guts‘, sondern auch die weitergehende Annahme, dass unsere Erkenntnispraxis voraussetzt, die Welt sei in ihren systematischen Strukturen auf unsere epistemischen Leistungen abgestimmt, wie oben zu Anfang von Abschn. II.3.1 gezeigt wurde. Was Kant und Hegel unterscheidet, ist die besondere Gewichtung und die Verhältnisbestimmung zwischen theoretischen und praktischen Zielen. Wichtig scheint hier der Hinweis, dass aus Hegels Kritik an Kants Postulatenlehre zunächst nur folgt, dass eine Trennung beider Zielsetzungen bei gleichzeitiger Überordnung des moralischen Interesses im kantischen Theorierahmen inkohärent ist. In guter hegelianischer Manier könnte man daher erwägen, ob Hegel nicht schon durch die Bestimmung der ,absoluten Idee‘ die Einheit beider fundamentaler Ziele anvisiert. In den Worten der StraußNachschrift: „Die höchste Stufe der Selbsttätigkeit und Bestimmung des Geistes aber ist in der Seite des Wissens die Wahrheit, in der Seite des Wollens das Gute, und beides ist dasselbe.“ (VPR 4, S. 624) 200 Selbst diejenigen, die – wie M. Willaschek – die Frage nach letzten Zwecken und Er-
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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Prinzipielle Zweifel würden sich in hegelscher Perspektive schon eher von Theorieansätzen her motivieren, die die Existenz von Endzwecken explizit verneinen. Die heute sicherlich bekannteste Version dieser Skepsis wäre wohl eine Variante des Neo-Darwinismus. In deren Rahmen könnte mit dem Hinweis auf den zufälligen Ursprung des Menschen die Kontingenz aller seiner Ziele und Absichten aufgezeigt werden. Hegel konnte zwar ebenso wenig wie Kant mit den Prinzipien zufälliger Genmutation und natürlicher Selektion vertraut sein. In seinem Kommentar zum TA im Kolleg von 1831 nennt er aber explizit Vorläufer der Zufallshypothese,201 dessen zentrale Annahme er mit Aristoteles folgendermaßen zusammenfasst: Aristoteles führt schon dieselbe Meinung an: Die Natur produziere immerfort Lebendige, und es komme dann darauf an, ob diese existieren könnten; es sei ganz zufällig, wenn eine dieser Produktionen sich erhalte. Die Natur habe so schon unendlich viele Versuche gemacht und eine Menge von Ungeheuern produziert; Myriaden von Gestaltungen seien aus ihr hervorgegangen, hätten aber nicht mehr fortdauern können; am Untergange solcher Lebendigen läge aber gar nichts. (VPR 4, S. 602)202
Für Hegel scheint also der Hauptgrund für die Zufallshypothese insbesondere darin zu bestehen, dass die anorganische Natur zu jedem Zeitpunkt ihres Bestehens gegenüber der Existenz lebendiger Individuen jeder Art vollständig gleichgültig war.203 Nach dieser Annahme müsste es also zumindest logisch und physikalisch möglich sein, dass es Leben in einem alternativen Geschichtsverlauf des Universums auch nie hätte geben können. Im Rahmen der Zufallshypothese scheint daraus aber die deutlich stärkere These zu folgen, dass die Entstehung und Entwicklung zweckgerichteten Verhaltens nicht nur von der unorganischen Natur aus gesehen, sondern vielmehr global betrachtet metaphysisch kontingent ist. In Hegels Zuspitzung formuliert: „[D]aß Zweckmäßigkeit sei, dies wird als zufällig erklärt.“ (ebd.)
klärungen für einen Ausdruck einer typisch „westlichen Rationalität“ und auf Basis pragmatistischer Prämissen für verfehlt halten, sehen sich zumindest genötigt, im Rückbezug auf die Zufallshypothese zur Frage Stellung zu beziehen. Vgl. W 2013, S. 98 f. und 119. 201 Mit Hegel gesprochen: „Man hat also die Vorstellung, daß die Natur in sich so eine produzierende Kraft ist, die blind erzeuge, aus der die Vegetation hervorgehe; aus dieser trete dann das Animalische hervor und dann zuletzt der Mensch mit denkendem Bewußtsein.“ (VPR 4, S. 602) 202 Eine ähnliche Position skizziert Kant anhand von Demokrit und Spinoza. Vgl. KU § 72, B 322 f. und § 73, B 324 f. 203 Vgl. VPR 4, S. 602. Anders als Kant (vgl. etwa KU § 80, B 368–370) scheint Hegel die zeitliche Entstehung natürlicher Arten und die These der gemeinsamen Abstammung zurückzuweisen. Vgl. bes. Enz. § 249, GW 20, S. 238 und der Verweis der Hrsg. auf B. de Maillet und Lamarck ebd., S. 643 f. Fr. Schick wies mich allerdings darauf hin, dass man Hegels Äußerung auch als eine Kritik an einer rein genealogischen Systematisierung natürlicher Arten verstehen kann und nicht als eine Behauptung über deren Entstehung und Entwicklung. Hierfür wie für weitere hilfreiche Rückfragen zu einer früheren Fassung dieses Abschnitts sei ihr an dieser Stelle gedankt.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Wie lässt sich nun in hegelscher Perspektive auf diese Schlussfolgerung reagieren? Hegels eigene Strategie scheint an der zitierten Stelle lediglich darin zu bestehen, die Schlussfolgerung zu entschärfen: Selbst wenn man annimmt, dass die anorganischen Teile der Natur und ihre Gesetze schon deshalb kein Interesse an der Entstehung von Leben haben, weil sie ihrem Wesen nach gar keine Zwecke verfolgen, würde daraus für Hegel nicht folgen, dass zielgerichtetes Verhalten lediglich durch Zufall im Kosmos auftreten oder gar nicht existieren würde.204 Anorganische Entitäten mögen ihrer Natur nach ,gleichgültig‘ sein; sie verlieren aber nach Hegel ihre vollständige Zweckindifferenz, sobald lebendige Individuen auf den Plan treten und sie zu Mitteln zur Selbst- und Arterhaltung erklären.205 Als Mittel sind sie trivialerweise nützlich und daher per definitionem zumindest äußerlich zweckmäßig. Um dennoch die stärkere Konklusion aufrechtzuerhalten, müsste man also nach Hegel noch die Existenz derjenigen Individuen leugnen, in deren Perspektive teleologische Sachverhalte transparent werden – darunter rationale Akteure selbst. Und dies zu bestreiten wäre für Hegel, wie wir oben in II.3.2 gesehen haben, schlicht selbstwidersprüchlich.206 Nun könnte man gegen Hegels Replik direkt einwenden, dass der Verweis auf das Selbstverständnis rationaler Akteure in diesem Kontext keinerlei relevante Schlussfolgerungen erlaubt. Zum einen folgt daraus nämlich nur, dass es für lebendige Individuen unweigerlich Mittel und Zwecke geben muss, weil sie essentiell an individueller und spezifischer Selbsterhaltung interessiert sind. Daraus alleine folgt aber weder, dass die gesamte anorganische Natur nur deshalb existiert, damit solche Individuen leben und überleben können.207 Noch schließt dies prinzipiell aus, dass das, was zweckgerichtete Prozesse eigentlich ausmacht, nicht auf einer tieferen Ebene ohne Rückgriff auf teleologisches Vokabular erklärt und beschrieben werden könnte. Genau genommen teilen Vertreter der Zufallshypothese dieselbe Annahme, der wir schon bei Kant begegnet sind. Beide gehen davon aus, dass eine vollständige Beschreibung der natürlichen Wirklichkeit zumindest möglich ist, die lediglich auf mechanische und (bio-)chemische Gesetzmäßigkeiten zurückgreift.208 Nach Kant sind wir sogar durch die diskursive Na204 Hegel formuliert dagegen sogar im selben Kontext die Gegenthese: „Dies ist das wahrhafte Verhältnis; der Mensch ist nicht Akzidenz, das zum Ersten hinzukommt, sondern das Organische ist sich das Erste; das Unorganische hat nur den Schein des Seins an ihm.“ (VPR 4, S. 603) 205 Vgl. ebd. 206 Hegel gibt an der zitierten Stelle daher zu verstehen, dass eine solche radikale These direkt unserer Praxiserfahrung widersprechen würde, denn „auch ist es […] dem Menschen gewiß, daß er sich als Zweck zur anderen Natur verhält und daß diese nur die Bestimmung, Mittel zu sein, gegen ihn hat – so auch das Unorganische überhaupt gegen das Organische.“ (ebd.) 207 Eine solche These legt etwa die eben zitierte hegelsche Behauptung nahe, dass der „Mensch“ sich dessen „gewiß“ ist, dass die anorganische Natur „nur die Bestimmung, Mittel zu sein, gegen ihn hat“ (ebd.). Analoge Äußerungen findet man etwa in WdL II, GW 12, S. 188. Vgl. hierzu bes. S 2018, S. 675 f. 208 Nach Chr. Illies zeichnet sich Darwins Theorie gerade dadurch aus, dass durch sie
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tur unserer rationalen Fähigkeiten auf diese Annahme in unserer Erkenntnispraxis festlegt.209 Das einzige, was beide unterscheidet, ist ihre Einschätzung, ob diese Vorannahme zumindest mit unserer Handlungserfahrung kompatibel ist oder nicht; und wenn ja, ob es sogar möglich ist, die Entwicklung natürlicher Arten so zu verstehen, dass sie in gewisser Weise auf die Hervorbringung moralischer Akteure verweist. Der Vergleich mit Kant ist in diesem Kontext nun besonders hilfreich. Denn bezeichnenderweise könnte man gerade Hegels Kantkritik heranziehen, um für die hohe Anfangsplausibilität der Zufallshypothese zu argumentieren: Sollte nämlich Kants Strategie scheitern, die reduktionistische und die handlungspraktische Perspektive auf die Wirklichkeit durch anti-realistische Abschwächungen miteinander in Einklang zu bringen, dann erscheint die Kernprämisse der Zufallsannahme umso akzeptabler. Wenn dies aber tatsächlich der Fall sein sollte, dann hätte man zugleich einen Einwand gegen Hegels Überzeugung von der Unhintergehbarkeit der Teleologie. Zielgerichtes Verhalten würde damit zwar nicht gleich zur Illusion erklärt, aber man könnte dann zumindest begründeterweise bezweifeln, dass es nicht auch durch fundamentalere, wesentlich nichtfinale Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann.210 Gegen diese Annahme wie ihre Konsequenzen für die Zufallshypothese könnte Hegel nun die Argumentstränge anführen, die er besonders im Objektivitätskapitel der beiden Logiken und in den Eingangsparagraphen der enzyklopädischen Naturphilosophie breiter entwickelt. Dabei geht er erstens davon aus, dass es keine kohärente, vollständig ,mechanistische‘ Beschreibung der natürlichen Wirklichkeit geben kann. Und dieses Scheitern des Reduktionismus lässt sich dann mit Hegel zweitens als Teil einer tiefergreifenden Revision der Auffassung der Natur als Ganzer verstehen, in der auch und v.a. die Existenz von Endzwecken begründet werden kann. Im Rahmen des Objektivitätskapitels der beiden Logiken, in dem Hegel die erstgenannte These zu begründen versucht, kann er dabei insgesamt schon auf
Biologie Teil des neuzeitlichen Wissenschaftsprojekts geworden ist, „die Natur und ihre Ereignisse in systematischer Weise durch Rückführung auf allgemeine, a-teleologische Prinzipien (Naturgesetze) zu erklären.“ (I 2012, S. 437) 209 Vgl. oben II.3.2. Allerdings bildet der Reduktionismus, wie wir oben gesehen haben, für Kant lediglich ein ,regulatives Prinzip‘ in unserer (wissenschaftlichen) Erkenntnispraxis und erlaubt zudem keine Schlüsse darüber, ob man tatsächlich jede zweckmäßige Entität entsprechend mechanistisch erklären kann. 210 Unter diesen Voraussetzungen wären Hegel-Deutungen zu schwach, die die hegelsche Annahme von Endzwecken lediglich als ,regulative Prinzipien‘ verstehen. Diese These würde gerade eine doxastisch neutrale Haltung erfordern, die mit der Zufallsannahme und zudem mit Hegels Beurteilung kantischer regulativer Prinzipien inkompatibel wäre. Vgl. Abschn. II.2.6. Findlay hat daher m.E. recht, wenn er schreibt: „I do not myself think that it is enough to cherish Hegelian teleology as a sort of rational faith necessarily implied by our various higher enterprises: one must be willing to give that faith some sort of metaphysical, ontological justification.“ (F 1970, S. 146 f.)
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel zurückgreifen. Darin hatte er den Nachweis angetreten, dass es ein alternativloses System der Formen deskriptiver Aussagen und Typen der Schlussfolgerung gibt, die von vorneherein auf eine ganz bestimmte begriffsrealistische Ontologie abzielen.211 Hegel geht in seinen Überlegungen grundsätzlich davon aus, dass diese systematischen Verhältnisse nicht nur unsere Urteilspraxis betreffen.212 Wahre Urteile und deren inferentielle Verknüpfung sind vielmehr für Hegel in gewisser Weise strukturidentisch mit den Gegenständen und Sachverhalten, die sie ausdrücken. Mit Blick auf die häufig angeführte moderne Verabschiedung der Formal- und Finalkausalität213 mag es zunächst so scheinen, dass Hegel damit eine längst verworfene Form des Begriffsrealismus wieder einzuführen versucht. In der neueren Hegelliteratur hat man daher das Objektivitätskapitel generell als eine Art indirekten Nachweis für Hegels Theorie verstanden, der diesem potentiellen Vorwurf vollständig Rechnung trägt.214 Nach dieser Deutungslinie, die ich im Folgenden aufgreifen werde, lässt sich schon der Beginn des Kapitels so interpretieren, dass es die Frage aufwirft, wie Gegenstände in der Welt genau aufzufassen wären, wenn das ,mechanistische‘ Weltbild der Frühen Neuzeit tatsächlich zutreffend wäre.215 Diese hypo-
211 Vgl. WdL II, GW 12, S. 53–126 und bes. K 2013, Kap. 4 und S 2018. Wie F. Knappik detailliert zeigt, argumentiert Hegel für komplexe Voraussetzungsverhältnisse zwischen verschiedenen Urteils- und Schlusstypen. Vgl. auch die Übersicht in K 2013, S. 258–261. Extrem vereinfacht gesprochen präsupponieren demnach schon die einfachsten, singulären Zuschreibungen von (Sinnes-)qualitäten die Möglichkeit von Abstraktion und Generalisierung. Vgl. ebd., S. 214–218. Und diese können wiederum für Hegel nur dann gelingen, wenn die Identität der beschriebenen Individuen an der Exemplifikation der jeweiligen Speziesbegriffe hängt (vgl. ebd., S. 218–226 und 232–236), die Teil eines umfassenden Systems natürlicher Gattungen und Arten sind, das sich in Form disjunktiver Schlüsse artikulieren lässt. Vgl. ebd., S. 236–240. 212 Daher heißt es gleich zu Anfang der Urteilslogik: „[A]lle Dinge sind ein Urtheil, – d.h. sie sind Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind; oder ein Allgemeines, das vereinzelt ist; die Allgemeinheit und Einzelnheit unterscheidet sich in ihnen, aber ist zugleich identisch.“ (Enz. § 167, GW 20, S. 183) Seine Ontologie natürlicher Arten kann Hegel zum Schluss folgendermaßen zuspitzen: „Alle Dinge sind eine Gattung (ihre Bestimmung und Zweck) in einer einzelnen Wirklichkeit von einer besonderen Beschaffenheit […].“ (Enz. § 179, GW 20, S. 190 f.; vgl. ferner WdL II, GW 12, S. 87 f.) In der Schlusslogik behauptet Hegel schließlich analog: „Alles ist ein Schluß.“ (Enz. § 181A, GW 20, S. 192) Zu Hegels Essentialismus vgl. bes. S 1990, Chap. 3; H 2005, S. 152–158 und K 2016. 213 Die ist allerdings, wie M. Osler detailliert zeigt, cum grano salis zu verstehen. Denn genau genommen verschwindet Finalkausalität bei Autoren wie Descartes, Gassendi, R. Boyle und Newton überhaupt nicht, sondern wird als Ausdruck von Gottes ewigen Absichten und seiner Vorsehung neu interpretiert und so ins neue Wissenschaftsparadigma eingeordnet. Vgl. O 1996. 214 Vgl. im Folgenden bes. K 2004; . 2015, Chap. 1; und M 2020, S. 518–532. Eine analoge Rekonstruktion findet sich in S/L 2005, Kap. VI.3, bes. S. 140–142. 215 Vgl. zu Hegels Beziehung zum ,mechanistischen Weltbild‘ auch bes. B 2005.
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thetische Annahme ist mit der These verbunden, dass nichts, von dem wir durch unsere Urteilspraxis glauben, es würde Individuen als solche auszeichnen, sowohl für deren Beschreibung als auch für die Erklärung ihres Verhaltens irgendeine Rolle spielen könnte. Anders als in den von Hegel zuvor analysierten Aussage- und Schlusstypen, die die Natur von Individuen wie deren Verhalten von ihrem ,Begriff‘ her verstehen, muss die genannte Annahme daher zu dem Schluss kommen, dass diese Beschreibungen den Individuen selbst völlig äußerlich sein müssen und im besten Falle nur unsere kontingenten Interessen zum Ausdruck bringen.216 Da aber diese unsere Beschreibungsformen die Dinge selbst nichts angehen, folgt, dass es auch keine essentiellen Identitäten unter dieser Annahme geben kann, die in unseren scheinbar adäquaten Begriffen gefasst werden. Dies hat wiederum unmittelbar zur Konsequenz, dass die Dinge nicht nur gegenüber unserer Bezugnahme, sondern auch gegenüber jeder möglichen Beziehung zu anderen Dingen völlig indifferent sein müssen.217 Denn kein Versuch, Individuen in ihrer Natur zu erfassen, wäre dann ein gerechtfertigter Objektivitätsanspruch. Daher muss dies gemäß der Ausgangsannahme gleichermaßen für diejenigen Relationen gelten, in denen die Individuen zu anderen ebenfalls aufgrund ihrer (scheinbaren) Wesenszüge stehen.218 Der Grund der völligen Äußerlichkeit zwischen allen Dingen liegt demnach für Hegel in ihrer „vollkommnen Selbstständigkeit“ (Enz. § 194, GW 20, S. 204). Für den genannten Interpretationsvorschlag stellt sich sofort die Anschlussfrage, wie Erklärungen oder schon Beschreibungen unter diesen Prämissen genau auszusehen hätten.219 Sie müssten in jedem Falle der angenommenen vollständigen Äußerlichkeit gerecht werden. Und dies hat für Hegel zur Folge, dass die Eigenschaftszuschreibungen und -veränderungen nicht von den Dingen selbst her, sondern von ihrem – ebenfalls äußerlichen – Konglomerat zu verstehen sind. Die einzige Form der Charakterisierung, die für Hegel in Frage kommen kann, sind dabei völlig zufällige Aggregationen und Konfigurationen etwa in Form uneinheitlicher Aufhäufungen von Dingen. Prägnant fasst Hegel daher die rein mechanistische Auffassung von Individuen folgendermaßen:
216 In diesem Sinne kommt nach Hegel ihre ,Objektivität‘ hierin als „Auesserlichkeit und Zufälligkeit“ zum Ausdruck, wohingegen es wahre und ,apodiktische Begriffsurteile‘ auf das echte „Objective“ als „das an und für sich seyende“ (WdL II, GW 12, S. 131) in den Dingen abgesehen haben. Vgl. zu Hegels Objektivitätsbegriffen oben S. 148 und M 2020, S. 525 f. Von hier her gesehen könnte man den ganzen Abschnitt so verstehen, dass alle Entitäten nur dann im erstgenannten Sinne ,objektiv‘ sein können, wenn sie im zweitgenannten Sinne ,Begriffsurteile‘ wahr machen. 217 Vgl. ebd., S. 527 f. 218 Vgl. S/L 2005, S. 140 f. In diesem Sinne könnte man erklären, warum mit der Leugnung des Essentialismus natürlicher Arten zugleich eine Form des Essentialismus mit verneint wird, der Dispositionen und Kausalkräfte von der Artzugehörigkeit her erklärt. Auf diesen Aspekt konzentriert sich besonders J. Kreines in seiner Rekonstruktion. Vgl. etwa K 2015, S. 35. 219 Vgl. ebd., S. 38 f. und M 2020, S. 526–528.
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Diß macht den Charakter des Mechanismus aus, daß welche Beziehung zwischen den Verbundenen Statt findet, diese Beziehung ihnen eine fremde ist, welche ihre Natur nichts angeht, und wenn sie auch mit dem Schein eines Eins verknüpft ist, nichts weiter als Zusammensetzung, Vermischung, Hauffen, u.s.f. bleibt. (WdL II, GW 12, S. 133)
Charakterisierungen von ,mechanischen Objekten‘ müssen daher stets mereologischer bzw. reduktionistischer Natur sein. Sie müssen einen bestimmten Gegenstand immer danach befragen, aus welchen Teilen er sich zusammensetzt. Diese Auffassung, die augenscheinliche Anklänge an Kants Definition mechanistischer Erklärung besitzt,220 hat nach Hegel unliebsame Konsequenzen: Entgegen dem Selbstverständnis der sog. ,analytischen Methode‘221 wird zum einen unklar, welchen Vorteil sie eigentlich gegenüber dem Begriffsrealismus klassischer oder hegelscher Prägung haben sollte. Wenn sich die Eigenschaften und das Verhalten von ,mechanischen Objekten‘ immer nur von den Teilen her erklären lassen, die ihnen aber zugleich äußerlich sind, dann ist eigentlich jede Auswahl der hinzugezogenen Bestandsstücke völlig willkürlich.222 Und selbst wenn man sich vielleicht darauf einigen könnte, ein bestimmtes Gegenstandsaggregat als ein (quasi-)individuelles explanandum aufzufassen, bleibt fraglich, ob damit im Rahmen der Ausgangsannahme überhaupt etwas gewonnen wäre. Aufgrund der Grundbedingung der Äußerlichkeit und Indifferenz ist in jedem mechanistischen Erklärungsanspruch nach Hegel von vorneherein ein unendlicher Regress eingebaut. Unter der Annahme soll ja jede Bestimmung eines Quasi-Individuums von außen her genommen werden. Da dies aber eben von jeder Erklärungseinheit gelten soll, ist jeder Regressabbruch schon von der Annahme selbst her gesehen illegitim. Hegel schreibt daher in seiner Kritik am ,Determinismus‘223 prägnant: Der Determinismus ist darum auch selbst so unbestimmt, ins unendliche fortzugehen; er kann beliebig allenthalben stehen bleiben, und befriedigt seyn, weil das Object, zu welchem er übergegangen, als eine formale Totalität in sich beschlossen und gleichgültig gegen das Bestimmtseyn durch ein anderes ist. Darum ist das Erklären der Bestimmung eines Objects, und das zu diesem Behuffe gemachte Fortgehen dieser Vorstellung nur ein leeres Wort, weil in dem andern Object, zu dem sie fortgeht, keine Selbstbestimmung liegt. (WdL II, GW 12, S. 135)224
220 Vgl. KU § 77, B 350f; und dazu oben II.3.2. Die Relevanz dieser Kant-Stelle für Hegels Begriff des Mechanismus betonen zu Recht J. Kreines und D. Moyar. Vgl. K 2015, S. 37 und M 2018, S. 600. 221 Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen in ML 1989, S. 157–159. 222 Ich folge hier insbesondere J. Kreines’ klarer Rekonstruktion von Hegels Regressargument gegen den ,Determinismus‘. Vgl. K 2015, S. 37–41. 223 Für Hegel ist er „der Standpunkt, auf dem das Erkennen steht, insofern ihm das Object, wie es sich hier zunächst ergeben hat, das Wahre ist“ und der „für jede Bestimmung desselben die eines andern Objects“ angibt. Dieses „Andere“ ist dabei „gleichfalls indifferent, sowohl gegen sein Bestimmtseyn, als gegen sein actives Verhalten.“ (WdL II, GW 12, S. 135) 224 Man könnte freilich fundamentale Entitäten postulieren. Nach Kreines zeigt sich aber, dass diese ohne einen Essentialismus überhaupt keine explanatorische Rolle übernehmen können. Vgl. K 2015, S. 41–46.
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Aber nicht nur untergräbt die Annahme ihren eigenen Erklärungsanspruch: Da sich Dinge nur von der Zusammensetzung ihrer Teile her verstehen lassen, das Ganze der Teile aber kein eigenes Prinzip der Einheit besitzt, lassen sich im Rahmen des mechanistischen Modells gar keine stabilen Unterscheidungskriterien einführen.225 Ob man nun ein bestimmtes Quasi-Individuum bis in seine subatomaren Teilchen hinein teilt oder es mit anderen Quasi-Individuen zusammenfasst, bis man alle Bestandteile des Universums mit in Betracht gezogen hat, macht offensichtlich vor diesem Hintergrund überhaupt keinen Unterschied. Damit wird aber nicht nur die faktische Stabilität der Unterscheidungen unterminiert. Da die Ausgangsannahme nur externe Relationen kennt, wird schon die Möglichkeit von Verschiedenheit als solche fraglich. Differenz ist nach Hegel, wie sich oben gezeigt hat, ein Paradigmenfall interner Relationen, die schon die Konstitution numerischer und essentieller Identität selbst betreffen kann.226 Wenn das aber der Fall ist, kann man sich nach Hegel unter mechanistischen Prämissen nicht mehr sicher sein, ob es überhaupt mehr als ein mechanisches Individuum geben kann. Er schreibt: [D]a die Bestimmtheit von den […] gleichgültigen Objecten keine eigenthümliche Unterschiedenheit erhält, und deßwegen nur identisch ist, ist nur Eine Bestimmtheit vorhanden; und daß sie doppelt sey, drückt eben diese Aeusserlichkeit und Nichtigkeit eines Unterschiedes aus. (WdL II, GW 12, S. 135 f.)227
Man könnte gegen diese Kritiklinie Hegels einwenden, dass sie lediglich einen Strohmann aufbaut. Denn ein klassischer Vertreter des mechanistischen Weltbildes würde annehmen, dass Objekte zusammen mit ihren gesetzmäßigen Beziehungen explanatorische Einheiten bilden können.228 Zwar würde man damit sicherlich das Selbstverständnis des mechanistischen Weltbilds treffen. In hegelscher Perspektive wäre aber zu fragen, ob und wie der Rekurs auf Gesetze mit der Ausgangsannahme kompatibel ist.229 Gesetzlichkeit würde zum einen erfordern, dass (zeitliche) Beziehungen zwischen Ereignistypen oder dem Verhalten der mechanischen Objekte vorliegen. Zum anderen müssten solche Beziehungen so in nicht-analytischen, konditionalen Allaussagen formuliert werden können, dass sie sich von vorneherein klar von faktisch generellen Aussagen über die „formale Gleichförmigkeit“ (ebd., S. 146) des jeweiligen Verhaltens unterscheiden lassen. 225
Vgl. S/L 2005, S. 140–142 und ferner K 2004. Vgl. oben II.2.5 und ferner S/L 2005, S. 141 und M 2020, S. 527 f. 227 Vgl. S/L 2005, S. 141 f. Daraus folgt für Hegel der Widerspruch, dass mechanische Objekte zum einen zwar vollständig durch sich selbst bestimmt und darin von anderen unterschieden sein müssen, um die These absoluter Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten; zugleich soll eben durch diese These jede Unterscheidungsmöglichkeit aufgehoben werden. Vgl. WdL II, GW 12, S. 136. 228 Zu den Grundannahmen des frühneuzeitlichen Mechanismus vgl. etwa O 1996 und F 2019, S. 43–52. 229 Vgl. im Folgenden die instruktiven Ausführungen in K 2004, S. 46–48. Bei der Übersicht über Kriterien von Naturgesetzlichkeit orientiere ich mich ferner bes. an K 1981, S. 96–100. 226
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Hegels eigener Vorschlag besteht nun darin, die fragliche „Ordnung“, die in Gesetzesaussagen ausgedrückt wird, als „immanente und objective Bestimmung“ (ebd., S. 145) der fraglichen Entitäten aufzufassen.230 Diese Aussage scheint schlicht seinen Begriffsrealismus zu reformulieren und kann daher kaum als Argument gegen die konträre, mechanistische Ausgangsannahme ins Feld geführt werden. Um Hegels allgemeinen Punkt zu verstehen, genügt es aber, sich an dieser Stelle allgemein die Frage zu stellen, ob unter mechanistischen Vorzeichen Naturgesetzlichkeit überhaupt kohärent erklärt werden kann.231 Zum einen ist es ein bekanntes und notorisches Problem von bspw. humeanischen Theorien, die Naturgesetze als bloß konstante und ausnahmslos beobachtete Konjunktionen von Ereignistypen verstehen, faktisch generelle Zufälle von Gesetzen zu unterscheiden.232 Damit wäre zumindest eine Erweiterung durch kontrafaktische Analysen erforderlich.233 Dies würde aber im Umkehrschluss die Frage provozieren, was solche Aussagen wahr machen könnte, wenn man gleichzeitig an der genannten mechanistischen Annahme festhielte. Man könnte etwa sagen, ein schwerer Gegenstand, den ich in der Hand halte, würde – ceteris paribus – stets zu Boden fallen, wenn ich seinem Gewicht nachgeben würde. Diese Aussage würde zumindest zum Ausdruck bringen, dass ein Gegenstand dieser Art über bestimmte dispositionelle Eigenschaften verfügt, die unter den genannten Umständen notwendigerweise manifestiert werden.234 Dabei werden aber wiederum echte und 230
Vgl. hierzu auch V 1988b, S. 180 und K 2015, S. 48 f. Eine gute Übersicht über die hier relevanten Theorien gibt K 2015, S. 74 f. Die vierte, theologische Auffassung von Naturgesetzen neben der humeanischen, platonistischen und hegelianischen wird von Kreines allerdings nicht erwähnt, obwohl sie sicherlich in der Frühen Neuzeit die gängigste war und heute etwa u.a. von A. Plantinga vertreten wird. Vgl. WCRL, S. 274–283 und P 2016. Nach Plantinga beschreibt eine Gesetzesaussage lediglich, was allgemein der Fall sein muss, wenn Gott nicht speziell und außerordentlich – d.h. durch Wunder – handelt. Plantingas Analyse mag zwar unter atheistischen Vorzeichen nicht naheliegen und verpflichtet sich, wie wir schon in Abschn. I.5.2 gesehen haben, explizit auf eine Form des Okkasionalismus, den man selbst als Theist nicht teilen muss. Hegel selbst erwähnt aber im Kolleg von 1824 eine weitere, theistische Auffassung „ewige[r] Naturgesetze“ (VPR 4, S. 331). Ihr gemäß müssen „die natürlichen Dinge“ so „gefaßt“ werden, „daß der Gott sich als Wesen manifestiere, an sich seinem Begriff nach wesentlich auf eine allgemeine Weise, in sich notwendige, den Begriff ausdrückende Weise ist. Dies ist das System dessen, was wir Naturgesetze überhaupt nennen. Die göttliche Wirksamkeit ist dann gefaßt als eine allgemeine und wesentliche, und der Zusammenhang der Dinge ist dann ein objektiv verständiger Zusammenhang.“ (ebd.) Versteht man den „Begriff“ (ebd.) Gottes als denjenigen, der die Natur aller Dinge in einfacher Weise zum Ausdruck bringt (vgl. unten II.4.2.), dann wäre diese theologische Auffassung des naturgesetzlichen „Zusammenhangs, der das Göttliche darstellt“ (VPR 4, S. 331) wohl mit der o.g. hegelschen komplementär. 232 Vgl. K 2004, S. 46 f. und F 2019, S. 180 f. 233 Vgl. dazu K 1981, S. 98. Ein Problem einer rein kontrafaktischen Analyse besteht, wie E. Feser zeigt, darin, dass sie eine implizite Annahme benötigt, was nicht nur logisch (im weiten Sinne), sondern in der (aktualen) Welt physikalisch möglich ist. Definiert man physikalische Möglichkeit aber durch die Kompatibilität mit Naturgesetzen wird die Analyse zirkulär. Vgl. zu diesen und anderen Problemen F 2019, S. 182–184. 234 Vgl. zu dieser Auffassung etwa C 1999, Chap. 4. 231
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mindestens physikalisch mögliche Beziehungen zwischen Gegenständen angenommen, die diese selbst betreffen. Und diese sollten ja gerade durch die Ausgangsannahme ausgeschlossen werden. Zum anderen könnte man im Anschluss an sog. ,platonistische‘ Ansätze überlegen, Naturgesetzlichkeit als eine bestimmte Beziehung allgemeiner Eigenschaften zu verstehen.235 Würde man aber nur mechanische Objekte unter den genannten Prämissen zur Erklärung zur Verfügung haben, würden sich direkt höherstufige Probleme ergeben. Entsprechend ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass eine solche Theorie schwerlich die höherstufige Beziehung begreiflich machen kann, die zwischen der Universalienrelation einerseits und den Individuen andererseits besteht, die diese exemplifizieren.236 Dies scheint a fortiori unter den mechanistischen Prämissen der Fall zu sein. Denn da es unter diesen Umständen nichts Sonstiges gibt, was diese Beziehung erklären könnte, ist gar nicht abzusehen, wie man noch behaupten kann, ein bestimmtes Gesetz sei operabel. Jede Analyse dieser rein äußerlichen Beziehung durch ein Gesetz höherer Ordnung, wäre offensichtlich demselben Problem ausgesetzt, sodass ein Regress unvermeidlich wäre.237 Diese Schwierigkeiten lassen sich dann vermeiden, wenn man die These radikaler Äußerlichkeit aufgibt, aus denen sie offensichtlich folgen. Stattdessen hatte Hegel behauptet, naturgesetzliche Regularitäten seien den Dingen ,immanent‘. Bestimmungen des Verhaltens von Individuen ergeben sich demnach daraus, was sie selbst ihrer Art und Natur nach sind, die wiederum in adäquaten ,Begriffen‘ gefasst werden kann. Diese minimalste Form der ,Selbstbestimmung‘ im Rahmen nomologischer Beziehungen drückt Hegel auch mit dem Verweis auf den traditionellen Begriff der ,Seele‘ aus: Diese selbstbestimmende die äusserliche Objectivität in die Idealität absolut zurückführende Einheit ist Princip von Selbstbewegung; die Bestimmtheit dieses Beseelenden, welche der Unterschied des Begriffs selbst ist, ist das Gesetz. (WdL II, GW 12, S. 146)
Ist gesetzmäßiges Verhalten nun nichts anderes als das faktische Verhalten in Übereinstimmung mit der je eigenen Natur, dann ergibt sich scheinbar schon für die anorganische Natur eine rudimentäre Form von Teleologie:238 Demnach ,zielt‘ gewissermaßen selbst das Verhalten eines anorganischen Individuums nicht-bewusst und nicht-intendiert auf die Verwirklichung der je eigenen spezifischen Identität oder des eigenen ,Begriffs‘ und der ihm eigentümlichen Wirkun-
235 D. Armstrong analysiert bspw. Naturgesetzlichkeit als ,nezessitierende‘ Beziehung zwischen Universalien. Vgl. A 1983, Chap. 6 und die Diskussion in P 2016, S. 129 f. und F 2019, S. 184–186. Ein instruktiver Abgleich zwischen Hegels und Armstrongs Auffassung findet sich in K 2015, S. 75. 236 Vgl. im Folgenden bes. F 2019, S. 185 f. und ferner auch K 2015, S. 48 f. 237 Diese Kritiklinie und das Regressargument entwickelt etwa E. Feser in F 2019, S. 185 f. 238 Vgl. K 2015, S. 36.
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gen.239 Ein kohärentes Verständnis mechanischer Prozesse ist daher nicht ohne die Rede von Zielen möglich240 – oder in Hegels Worten: Die „Zweckbeziehung“ ist die „Wahrheit des Mechanismus“ (ebd., S. 155). B. Hegels Begründung der Existenz von Endzwecken aus dem Naturbegriff Was ist aber genau mit diesem Nachweis gewonnen? Zunächst wird deutlich, warum Hegel glauben kann, dass sich die Grundannahme des mechanistischen Weltbildes, die noch Kant seiner ,Antinomie der teleologischen Urteilskraft‘ zugrunde legt, in der konkreten Durchführung als unhaltbar erweist.241 Zugleich könnte aber ein moderater Vertreter der Zufallshypothese die bisherigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ausgangsfrage für irrelevant erklären. Selbst wenn man nämlich Hegel zugibt, dass es in der organischen und anorganischen Welt verschiedene Formen des zielgerichteten Verhaltens gibt, folgt freilich noch nicht, dass diese wiederum in eine abschließbare Ordnung aller Zwecke eingebettet ist. Genau an dieser Stelle lassen sich Hegels Überlegungen ins Spiel bringen, die er in den Eingangsparagraphen der enzyklopädischen Naturphilosophie anstellt. Der Kontext dieser Stellen ist eine breitere, globale Analyse des Verhältnisses der verschiedenen Systemteile, die im Rahmen der Paragraphen lediglich vorgreifenden Charakter besitzt. Die leitende Kernüberlegung ist für Hegel, dass sich die allgemeinsten Züge des Naturbegriffs aus der ,bestimmten Negation‘ des vorgeschalten Kategoriensystems der Logik – d.h. der logischen Seite der sog. ,absoluten Idee‘ – entwickeln lassen. Entsprechend heißt es relativ zu Anfang der Naturphilosophie: „Die Natur hat sich als Idee in der Form des Andersseyns ergeben.“ (Enz. § 247, GW 20, S. 237) Die innere Spannung, die im Begriff der Natur liegt, erklärt für Hegel deren spezifische Ordnung, an deren Spitze organisch verkörperte Wesen stehen – und zwar solche, die verstehen können, was es mit der Natur als Ganzer eigentlich auf sich hat. 239 Alternativ könnte man auch mit D. Wandschneider von der den Dingen essentiellen „Möglichkeitsdimension“ (W 2008, S. 41) sprechen, die nach Wandschneider durch ihren jeweiligen ,Begriff‘ erklärt und in funktional verstandenen Naturgesetzen präzise beschrieben werden kann. Vgl. ebd., S. 40–43. 240 Im Sprachgebrauch des mittelalterlichen Aristotelismus würde man von der inclinatio bzw. vom appetitus aller Dinge in der Ausübung von Kausalkräften oder der Manifestation von Dispositionen sprechen, die im Falle anorganischer Individuen ohne mentales Vokabular analysiert werden kann. Vgl. A/G 1961, S. 101–104; und die Analyse und Verteidigung in O 2017. 241 Zudem werden zugleich die spezifischen Probleme der kantischen Argumentstränge vermieden – inklusive seines moralischen Arguments. Denn das Diskussionsergebnis verhält sich komplementär zu Hegels allgemeiner axiologischer These, dass die Güte eines Individuums und seines Verhaltens sich im Wesentlichen danach bemisst, was es selbst seinem ,Begriff‘ nach ist: „Ein Ding ist gut, insofern es seine Bestimmung, seinen Zweck erfüllt: Dies ist, daß die Realität dem Begriffe oder der Bestimmung angemessen ist.“ (VPR 4, S. 594; vgl. dazu oben I.2.1) In Konjunktion mit den obigen Überlegungen verschwindet damit die starke Trennung zwischen Werten und Tatsachen (vgl. Q 2011, S. 282 f.), die nach Hegel gerade Kants moralisches Argument kennzeichnet.
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Bevor auf den Inhalt und die Qualität der hegelschen Argumentlinien eingegangen wird, scheint zunächst Vorsicht geboten. Denn isoliert betrachtet müssen sie unweigerlich den Anschein schlechter Lehnstuhl-Spekulation erwecken.242 Ein Abgleich mit dem epistemischen Status der Zufallshypothese kann diesen ersten Eindruck aber entschärfen. Denn die Zufallshypothese ist keineswegs, wie bisweilen angenommen wird, eine direkte Konsequenz der Entdeckung der darwinistischen Prinzipien der Artenwicklung.243 Selbst wenn man davon ausgeht, Genmutationen würden auf indeterministischen Gesetzmäßigkeiten beruhen, die in sich selbst nicht auf Endzwecke ausgerichtet sind, folgt daraus nämlich nicht, dass der Gesamtprozess – global betrachtet – vollständig ziellos sein muss. Denn ein Prozess kann durchaus nomologisch unbestimmt und zugleich zielgerichtet sein.244 In der alltäglichen Handlungspraxis reicht es z.B. schon aus, wenn den gewünschten Handlungsresultaten in erstpersonaler Perspektive eine hohe Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wird.245 Für den Erfolg der Handlung muss die Wahrscheinlichkeitserwartung zumindest annäherungsweise korrekt sein und dies können auch indeterministische Gesetze gewährleisten.246 Die Aussage, dass die Zufälligkeit von Genmutationen per se mit der Zielrichtung der Gesamtwirklichkeit inkompatibel ist, setzt also schon die metaphysische Zusatzannahme voraus, dass unabhängige Begründungen von Endzwecken schlicht unmöglich sind.247 Die Attraktivität der Zufallshypothese verdankt sich in diesem Sinne 242 Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Hegel weder die wissenschaftlichen Fortschritte insbesondere der Physik und der Biologie kennen konnte, die nach seinem Tod erbracht wurden. Noch wird man jede seiner eigenen Behauptungen und Interpretationen der Naturwissenschaften seiner Zeit als adäquat ansehen können. Zu Hegels Verhältnis zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen vgl. u.a. den die Beträge in P (Hg.) 1987 und zu Hegels Naturphilosophie im Allgemeinen W 2013. 243 Vgl. im Folgenden u.a. R 2012, bes. S. 253–256; I 2012, S. 455–457 und WCRL, S. 11 f. Zu Darwins eigenen deistischen bis agnostischen Schlussfolgerungen vgl. ferner auch H 2013, S. 25–33. 244 Vgl. WCRL, S. 11 f. und I 2012, S. 455–457. 245 Vgl. K 2006, S. 224. 246 Sollte dies in Einzelfällen nicht eintreten, kann ein Akteur natürlich so sofort seine Handlung wiederholen bis das gewünschte Resultat tatsächlich eintritt, wenn nur eine gewisse statistische Wahrscheinlichkeit des Erfolgs besteht. Vgl. I 2012, S. 456 f. und ähnlich auch R 2012, S. 255. Alternativ könnte man den Zufall auch als Ursachelosigkeit verstehen. Aber erstens würde dies nur aus nomologischer Unbestimmtheit folgen, wenn man eine Regularitätstheorie der Kausalität voraussetzt, die man aber bestreiten kann. Und selbst wenn dies folgen würde, hätte dies zweitens keine besonders interessanten Konsequenzen. Wenn man nämlich Erstursachen in Form von Akteurskausalität nur für möglich hält (vgl. K 2006, S. 220), wäre ,Zufall‘ in diesem Sinne mit Zielrichtung kompatibel. Man müsste dann mit A. Plantinga lediglich behaupten, ein göttlicher Akteur könnte zur richtigen Zeit die entsprechenden Genmutationen bewirken, um die entsprechende Spezies hervorzubringen. Vgl. WCRL, S. 11. 247 Natürlich muss die relevante Modalität hier logisch und metaphysisch, aber nicht nomologisch sein. Denn wenn es etwa nur logisch und metaphysisch möglich ist, dass Gott existiert, könnte er einfach die Naturgesetze so eingerichtet haben, um die entsprechenden
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nicht einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie, sondern eher schon naturalistischer Hintergrundprämissen, in deren Lichte wissenschaftliche Erkenntnisse interpretiert werden.248 Wenn aber weder die Physik noch die Evolutionsbiologie allein den Naturalismus als metaphysische Theorie stützen kann, dann scheint er zumindest prima facie mit seinen möglichen Alternativen epistemisch gleichgestellt – zumindest dann, wenn jede der möglichen Theorieoptionen auf dieselben wissenschaftlichen Daten zurückgreifen kann.249 Paritätsargumente dieser Art sind freilich keineswegs hinreichende Begründungen für Hegels eigenen Vorschlag. Sie zeigen aber, dass man sich bei der Frage, wie man die globalen, teleologischen Grundstrukturen der Natur als Ganzer zu bewerten hat, tendenziell schon jenseits der naturwissenschaftlichen Expertise bewegt.250 Um Hegels Naturbegriff besser zu verstehen, bietet es sich an, seine allgemeine Strategie genauer in den Blick zu nehmen.251 Für eine konzeptuelle Einordnung sind generell Kontrastbegriffe erforderlich. Folgt man der noch von Frege, Husserl und Popper übernommenen klassischen Einteilung der ,drei Welten‘, liegt Hegels Verhältnisbestimmung zwischen Logik und Natur natürlich nahe.252 Eine solche Unterscheidung der Sphären des Abstrakten, des Physischen und des Mentalen setzt noch nicht eine bestimmte Auffassung darüber voraus, was jeweils zu welcher Sphäre gerechnet werden kann und wie sich die Sphären genau untereinander verhalten. Mit Blick auf die bisherigen Überlegungen lässt sich aber hinsichtlich des Bereichs des Logischen in etwa Folgendes festhalten: Zum Wirkungen zu erzielen. Darwin scheint übrigens selbst, wie V. Hösle zeigt, zeitweilig geglaubt zu haben, die naturgesetzliche Gesamtstruktur der Wirklichkeit mache Gottes Existenz plausibel. Vgl. H 2013, S. 28 f. und auch R 2012, S. 249. 248 In diesem Sinne sagt M. Willaschek, der selbst eine Variation der Zufallshypothese vertritt, sie sei als „metaphysische Hypothese“ (W 2013, S. 100) weder beweis- noch widerlegbar. Ob sie vor dem „Hintergrund des gegenwärtigen wissenschaftlichen Weltbildes“ allerdings „plausibel erscheinen mag“ (ebd.) hängt freilich davon ab, welche Belegbasis man jeweils für die Plausibilitäts- bzw. Wahrscheinlichkeitsbehauptung heranzieht. Vgl. hierzu auch WCRL, S. 49–52. 249 Es versteht sich von alleine, dass keine Naturphilosophie überzeugend sein kann, wenn sie nicht mit all dem kompatibel ist, was wir als gesichertes naturwissenschaftliches Wissen anerkennen können. Daraus folgt aber lediglich, dass nicht jede von Hegels wissenschaftlichen Auslassungen akzeptiert werden sollte; es schließt allerdings keineswegs per se eine modernisierte und eigenständig ausgearbeitete Naturphilosophie unter globalen hegelianischen Prämissen aus, wie sie etwa D. Wandschneider vorgelegt hat. Vgl. W 2008. 250 Kritik an der neo-darwinistischen Zufallshypothese kommt in diesem Sinne auch nicht nur von theistischer Seite, wie etwa das Beispiel Th. Nagel zeigt. Vgl. N 2012. 251 Ich folge hier und in den anschließenden Überlegungen insbesondere der systematischen Rekonstruktion D. Wandschneiders. Vgl. W 2004 und ferner . 2015. 252 Diese Strategie ist alt und findet sich spätestens in Platons Timaios. Vgl. etwa Tim. 28a–29c. Ich formuliere die Unterscheidung der ,Welten‘ hier nicht als vollständige Disjunktion, denn für Hegel scheint auch die soziale Welt des ,objektiven Geistes‘ einen klar umgrenzten, wenn nicht irreduziblen Gegenstandsbereich zu bilden. Vgl. hierzu Q 2011, Kap. 12.
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einen unterscheidet Hegel scharf zwischen logischen Urteilsgehalten (und deren kategorialen Konstituenten) und der Erkenntnis- und Urteilspraxis.253 Zum anderen müssen die logischen Gehalte nach Hegel als Momente der Natur des Absoluten verstanden werden, von dem zugleich gelten soll, dass es mit den Teilen des natürlichen Universum weder individuell noch kollektiv identisch ist.254 Logisches, Physikalisch-Natürliches und Mentales lässt sich demgemäß klar voneinander unterscheiden. Bestimmt man nun mit Hegel die ,Natur‘ als die ,bestimmte Negation‘ des ,Logischen‘, dann folgt trivialerweise, dass natürlichen Individuen Bestimmungen zukommen, die Abstrakta allgemein abgehen. Hierbei denkt Hegel an die in den beiden Logiken behandelten Kategorien, die als begriffliche Typen multipel instantiierbar sein müssen und daher weder auf einen Ort noch auf eine Zeit begrenzt sein können. Entsprechend gilt umgekehrt, dass eine Entität nur dann physisch oder natürlich sein kann, wenn sie raumzeitlich identifizierbar und dadurch vereinzelt ist. Und während das logische Kategoriensystem durch notwendige inferentielle Beziehungen geordnet ist, folgt aus Hegels Kontrastbestimmung, dass es in der Sphäre der Natur Elemente der Kontingenz oder Unbestimmtheit geben muss.255 Wie schon oben angedeutet wurde, kann diese Kontrastbestimmung für Hegel nur die halbe Wahrheit sein. Denn in der Bestimmung der „Natur“ als die „Idee in der Form ihres Andersseyns“ (Enz. § 247, GW 20, S. 237) steht eindeutig die ,Idee‘ im Zentrum, deren Beschreibung nach Hegel die Vollbestimmung des Absoluten darstellt.256 In den Vorgängerparagraphen der Enzyklopädie ist sie aber lediglich hinsichtlich ihrer logischen Seite betrachtet worden. Dies legt eine gewisse Asymmetrie in der konzeptuellen Bestimmung der Natur nahe, die über die Symmetrie in der bisherigen Kontrastierung des Logischen und Physischen hinausgeht. Diese Asymmetrie lässt sich mithilfe der bisherigen Diskussionsergebnisse in etwa wie folgt plausibilieren. Erstens hatte sich gerade in Hegels kategorientheoretischer Analyse der Gottesbeweise gezeigt, dass sich einige der kategorialen Konstituenten unserer Urteile als fundamental und unhintergehbar erweisen.257 Und zwar, weil sie gewissermaßen die Bedingungen definieren, unter denen die Akzeptanz wahrer Aussagen überhaupt erst möglich wird und die daher in retorsiven Argumenten freigelegt werden können.258 Eine analoge unbe253 Vgl. u.a. Enz. § 167, GW 20, S. 183 f.; Enz. § 467A, GW 20, S. 465 und dazu u.a. H 2015, S. 43. Auf diese Unterscheidung habe ich oben schon hingewiesen. Vgl. oben S. 156 Fn. 61. 254 Dies war das Ergebnis der Ausführungen in II.2.4. 255 Vgl. zu beiden Aspekten W 2015, S. 160 f. Beispiele wären hier Uneindeutigkeiten der Klassifikation natürlicher Individuen, die prinzipielle Unbestimmtheit der tatsächlichen Menge von Arten und Unterarten (vgl. Enz. § 250, GW 20, S. 240–242; und ferner WdL II, GW 12, S. 39 und 218 f.) und deren unvollkommene Exemplifikation und der Folgen für deren Verhalten. Vgl. Enz § 250A, GW 20, S. 241 und WdL II, GW 12, S. 175 und 214. 256 Vgl. Enz. § 213A, GW 20, S. 215 und dazu unten II.4.2. 257 Vgl. neben den Überlegungen im letzten Abschnitt auch oben II.2.5. 258 Denselben Gedanken betonen auch D. Wandschneider und V. Hösle in ihrer Rekon-
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dingte Geltung lässt sich bei Aussagen über den natürlichen Bereich hingegen nicht ausmachen: Behauptungen etwa, die die Existenz natürlicher Phänomene und deren Eigenschaften leugnen, enthalten hingegen weder einen logischen noch einen performativen Widerspruch.259 Zweitens enthält die hegelsche Logik keineswegs lediglich eine Analyse formalgültiger Inferenzen zwischen unterschiedlichen Aussagetypen. Vielmehr wurde oben schon darauf hingewiesen, dass Hegel dem klassischen Gedanken folgt, den noch Kant aufgreift, dass in unterschiedlichen Urteilsformen sich jeweils die essentiellen und allgemeinontologischen Grundstrukturen der Sachen selbst spiegeln.260 Der Aufbau einer Ontologie kann sich demnach auf eine Explikation der verschiedenen Typen deskriptiver Urteile stützen. Denn für Hegel ermöglicht die regelbewusste Verwendung allgemeinontologischer Ausdrücke subjektseitig die Bezugnahme auf die Redegegenstände, wie die kategorialen Bestimmungen umgekehrt objektseitig einen Gegenstand erst zu dem machen, was er ist.261 Die natürliche Wirklichkeit ist daher für Hegel durch dasselbe System „objective[r] Gedanken“ (Enz. § 24, GW 20, S. 67) intrinsisch geordnet wie unsere Urteilspraxis, in deren Referenzrahmen auch natürliche Individuen fallen können.262
struktion des hegelschen Naturbegriffs – ebenfalls im Rückgriff auf die Idee reflexiver Letztbegründung. Vgl. W 2015, S. 157 f.; H 1984, S. 68 und zur Methode der Retorsion auch oben II.2.5. 259 Zwar gibt es Fälle, in denen sich tatsächlich eine selbstbezügliche Inkohärenz einstellt – bspw. bei der Leugnung der je eigenen Existenz eines Sprechers. Allerdings besteht insofern ein Unterschied zu logischen Aussagen und Kategorien, als die Negation in diesem Falle zumindest metaphysisch möglich ist: Von jedem menschlichen Sprecher gilt, dass er auch nicht hätte existieren können, während er hingegen – wenn er existiert – essentiell endlich bzw. kontingent ist. 260 Vgl. oben Fn. 211. Hegels Analyse der Urteils- und Schlussformen lässt sich daher durchaus parallel zu Kants Idee einer ,metaphysischen Deduktion‘ allgemeinontologischer Kategorien verstehen, wenn auch Hegel selbst Kants Ansatz weder für erschöpfend noch in seinen anti-realistischen Hintergrundannahmen für akzeptabel hält. Vgl. zum Vergleich zwischen Kant und Hegel auch oben den Exkurs in II.1. 261 Entsprechend sagt Hegel, dass in jedem beliebigen empirischen Urteil der Form „[D]iß Blatt ist grün“ gewissermaßen „schon Kategorien, Seyn, Einzelnheit eingemischt [sind]“ (Enz. § 3A, GW 20, S. 42). Unten in III.2 wird dieses Beispiel genauer erläutert. Freier formuliert könnte man sagen, dass die Wahrheit dieses Urteil auf der Objektseite präsupponiert, dass das Blatt ein kontingentes Individuum ist, wohingegen die Urteilsbildung subjektseitig voraussetzt, dass die kategorialen Termini korrekt, d.h. unter Beachtung des Anwendungskontextes und der jeweiligen inferentiellen Festlegungen, verwendet werden. Vgl. dazu auch II.2.5. 262 Diese fundamentale Rolle logischer Kategorien lässt sich nicht nur zusammen mit Hegels Begriffsrealismus reflexiv begründen. Wir haben zudem gesehen, dass er nach Hegel zugleich in jedem erfolgreichen Erkenntnisakt vorausgesetzt wird (vgl. oben I.2.1), was wiederum nach Hegel die ganze Handlungspraxis rationaler Lebewesen mitermöglicht (vgl. oben II.3.2). Welche Rolle diese prinzipielle Übereinstimmung von ,Sein‘ und ,Denken‘ bzw. ,Handeln‘ für Hegels Bestimmung des Absoluten als ,absoluter Idee‘ spielt, wird unten II.4.2 näher beleuchtet.
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Diese Überlegungen zeigen die Prämissen an, die hinter Hegels asymmetrischen Bestimmung der Natur durch die ,Idee‘ stehen. Im Anschluss an D. Wandschneiders Rekonstruktion, die im Hintergrund der obigen Überlegungen stand, lassen sie sich mit dem Gedanken der ,Unbedingtheit‘ des Bereichs des ,Logischen‘ zusammenfassen.263 Denn einerseits ist dieser hinsichtlich seiner Gültigkeit und Existenz nicht auf die Wirklichkeit und die Eigenschaften natürlicher Individuen und Gegenstandsbereiche angewiesen. Andererseits ist er durch seine Objektivität in der Sphäre des Natürlichen selbst involviert. Daher ist das System des ,Logischen‘ für Hegel ontologisch unabhängig vom Sein der Natur, das hinsichtlich seiner eigenen Struktur umgekehrt von jenem abhängt. Hegels Überlegungen gehen aber über die Analyse der Abhängigkeitsverhältnisse hinaus. Die Natur ist für ihn nicht einfach nur ein im Kontrast zum ,Logischen‘ bestimmbarer Gegenstandsbereich, der von diesem abhängt, sondern soll vielmehr das Absolute bzw. die ,Idee‘ selbst sein – wenn auch eben „in der Form des Andersseyns“ (Enz. § 247, GW 20, S. 237). Da aber zugleich die oben eingeführten Abhängigkeits- und Unterscheidungskriterien gelten, folgt für Hegel die scheinbar paradoxe Bestimmung der „Idee“, dass sie als „Natur“ das „Negative ihrer selbst oder sich selbst äußerlich ist“ (ebd.). Einen Grund für die (Teil-)Identifikation, die die Abhängigkeit nochmals plausibilisiert, könnte man in einer stärkeren Fassung der hegelschen Ausgangsprämissen sehen: Denn aus der Unbedingtheit der ,Idee‘ scheint zu folgen, dass alles, was sich von ihr unterscheidet, aus ihr erklärbar und daher in ihr gewissermaßen enthalten sein muss.264 In dieser Form der Schlussfolgerung kann man eine hegelsche Begründungsfigur wiedererkennen, deren analoge Varianten uns schon mehrfach – etwa bei der Bestimmung der ,wahren Unendlichkeit‘ – begegnet ist.265 Gleichzeitig ergeben sich hieraus scheinbar drastische Konsequenzen: Denn die Natur soll einerseits von der ,Idee‘ verschieden sein. Andererseits kann sie dies nur, wenn sie in dem, was ihre fundamentalen Strukturen ausmacht, mit der ,Idee‘ gewissermaßen identisch ist.266 Pointiert ausgedrückt könnte man daher mit Hegel von der
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Vgl. im Folgenden W 2004, S. 113 f. L. Siep fasst diese hegelsche Kernprämisse prägnant zusammen: „Wenn die Idee alle Realität umfasst, muss sie auch in der Natur als deren eigentliche Realität gefunden werden können.“ (S 2018, S. 749) Wie dies ,Enthaltensein‘ näher aussieht, lässt etwa Hegels Rede von der „schlechthin unendliche[n] Kraft“ der absoluten „Idee“ am Ende der WdL durchblicken: „Sie ist darum die höchste Kraft oder vielmehr die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“ (WdL II, GW 12, S. 238) Was dies genau für den Begriff des Absoluten bedeutet, wird unten II.4.2 das Thema sein. 265 Ähnliches lässt sich von Hegels Rede von der ,absoluten Notwendigkeit‘ (vgl. II.2.5) und von seiner Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Absoluten und der Erstmaterie (vgl. II.3.2) sagen. 266 Auf diese prima facie dilemmatischen Konsequenzen weisen etwa B. Braßel und L. Siep hin. Vgl. B 2004 und S 2018, S. 750. Im Anschluss an Wandschneider und Hösle könnte man Hegels Verhältnisbestimmung von ,Idee‘ und Natur als dritte, „dialektische“ 264
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Natur sagen, dass diese sich selbst, d.h. ihrem eigenen Wesen bzw. ,Begriff‘, nicht entspricht. Dieser „Widerspruch der Idee, indem sie als Idee sich selbst äußerlich ist“ (Enz. § 250, GW 20, S. 239) hat für Hegel insbesondere zwei Implikationen: Zum einen öffnet sich in ihr ein Unterschied zwischen dem, was sie ihrem inneren Wesen nach ist, und dem, wie sie erscheint.267 Das heißt genauer, dass ihre Phänomene zwar in erkennbaren gesetzmäßigen Beziehungen stehen, aber zugleich, gewissermaßen an der Oberfläche, raumzeitlich vereinzelt sind und Räume nomologischer Unbestimmtheit zulassen.268 Zum anderen bildet sich innerhalb des Bereichs der Natur eine Hierarchie der Gattungen natürlicher Individuen aus. Deren Ordnung lässt sich für Hegel dadurch erklären, dass die innere Spannung im Naturbegriff selbst aufgelöst wird, indem sich die Natur in ein „System von Stufen“ (Enz. § 249, GW 20, S. 238) aufgliedert. Damit greift Hegel in seiner Strukturanalyse den antiken Gedanken der scala naturae der anorganischen, pflanzlichen, tierischen und vernünftigen Individuen auf.269 In ihrem Rahmen kann er daher plausibilisieren, wie die ,Äußerlichkeit‘ und ,Selbstwidersprüchlichkeit‘ der Natur quasi-sukzessive ,aufgehoben‘ wird – und zwar, indem sich Personengemeinschaften entwickeln, die über die rationalen Fähigkeiten verfügen, um die kategorialen Grundstrukturen der Natur, ja deren Begriff selbst zu erfassen.270 In diesem Sinne schreibt Hegel, dass die „Bewegung“ der Natur „durch ihren Stufengang“ darin bestehe, „daß die Idee sich als das setze, was sie an sich ist“:
Option neben standard-monistischen und dualistischen Auffassungen verstehen. Vgl. W/H 1983, S. 173–175. Der Naturbegriff wäre demnach in Wandschneiders Terminologie ein ,antinomischer Begriff‘, der in seinem Gehalt die Nicht-Entsprechung zu sich selbst ausdrückt, und dessen Spannung dann in einer Synthesekategorie – hier der ,Idee‘ als ,absoluter Geist‘ – aufgehoben werden kann. Vgl. zu dieser Strukturanalyse bes. W 2004, S. 113 f. und B 2004, S. 93–95. 267 Vgl. Enz. § 248, GW 20, S. 237 f. und zur Erläuterung bes. W 2015, S. 160–162. Dasselbe Vokabular verwendet Hegel im Manuskript von 1821 in seinen Erklärungen zur christlichen Schöpfungslehre. Vgl. VPR 5, S. 27. 268 Vgl. Enz. § 248, GW 20, S. 237 und § 250, GW 20, S. 239 f. und hierzu W 2015, S. 161. 269 Vgl. hierzu etwa L 1936, S. 58 f. Die Hierarchie der Gattungen als ontologisches Ordnungsmodell wird heute bspw. von Neo-Aristotelikern verteidigt. Vgl. u.a. O 2007, S. 183–193 und F 2019, S. 391–400. Allerdings begründen solche Ansätze dies nicht direkt mit theologischen Hintergrundannahmen, etwa aus den Ähnlichkeitsbeziehungen der Gesamtwirklichkeit zu ihrem Ursprung, auf die nicht nur Platon (vgl. L 1936, S. 50 f.), sondern selbst Kant zurückgreift, wie sich oben in II.3.1 gezeigt hat. Diese Grundüberzeugung drückt Hegel in seinen Überlegungen zur christlichen Schöpfungslehre im Manuskript prägnant aus, wenn er im Rückgriff auf den ,metaphysischen‘ Begriff der ,Weisheit‘ des Absoluten bemerkt: „Die Weisheit ist ein allgemeiner Ausdruck, und es ist Sache der philosophischen Erkenntnis, diesen Begriff in der Natur zu erkennen, sie als ein System, eine Organisation zu fassen, worin sich die göttliche Idee abspiegelt.“ (VPR 5, S. 28; vgl. auch Enz. § 248A, GW 20, S. 237) 270 Vgl. auch H 1984, S. 72 f.
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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[O]der was dasselbe ist, daß sie aus ihrer Unmittelbarkeit und Aeußerlichkeit […] in sich gehe um zunächst als Lebendiges zu seyn, aber ferner auch diese Bestimmtheit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe, und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist. (Enz. § 251, GW 20, S. 241)
Hegels Überlegungen sind sicherlich weiter deutungsbedürftig. Denn anders als Hegels Vokabular suggeriert, folgt aus ihnen nicht, dass es tatsächlich eine diachrone Entwicklung der Gattungen des Natürlichen gemäß dieses Ordnungssystems gegeben hat.271 Die hegelschen Aussagen schließen zwar eine evolutionäre Deutung nicht per se aus; sie legen sich aber nicht auf eine bestimmte naturwissenschaftliche Theorie der Entstehung der Arten fest.272 Zudem haben Hegels Ausführungen zu Beginn seiner Naturphilosophie auch und v.a. vorgreifenden Charakter, die sich daher erst im Laufe der Ausführung des Gesamtentwurfs bestätigen lassen müssen. Trotzdem zeigen diese Überlegungen nicht nur an, welche konkreten Prämissen für Hegel die leitenden sind. Man wird darüber hinaus die Grundaspekte seiner Konklusionen vermutlich kaum abstreiten: Die raumzeitliche Vereinzelung, das komplexe Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit, die darauf aufbauende Erkennbarkeit der Natur und selbst die Hierarchie der Gattungen natürlicher Phänomene sind so augenscheinlich, dass wohl niemand dagegen einen fundamentalen Zweifel erheben wird – selbst, wenn man bei der konkreten Erklärung dieser Phänomene sicherlich mit Dissensen zu rechnen hat. C. Hegels Ansatz im Vergleich Dass Hegels metaphysische Theorie durchaus eine gewisse Anfangsplausibilität besitzt, zeigt sich besonders, wenn man sie mit den ähnlich bis gleich lautenden Thesen eng führt, die sich bei neueren Autoren finden. So vereint etwa Autoren wie J. Leslie, N. Rescher und Th. Nagel die Überzeugung, dass die Struktur der Wirklichkeit, die sich im Aufstieg zum kognitiven Leben ausdrückt, zumindest erklärungsbedürftig ist.273 Am Beispiel Reschers kann man sich dies gut verdeut-
271 Vgl. Enz. § 249, GW 20, S. 238 f. und zu den Deutungsschwierigkeiten auch oben Fn. 203 und W 2002. Im Manuskript bemerkt Hegel etwa, dass die Hierarchie auch als synchron und räumlich nebengeordnet erscheinen kann: „In der Natur fallen dann diese Stufen auseinander als ein System des Nebeneinander, der Reiche der Natur, deren höchstes das Reich der Lebendigen ist“ (VPR 5, S. 28) 272 Hegels Theorie impliziert zunächst nur die These einer globalen teleologischen Ordnung im Sinne der scala nature. Und dies ist, wie D. Wandschneider zeigt, nicht nur mit der Evolutionstheorie kompatibel, sondern verhält sich sogar komplementär zum Phänomen der evolutionären Höherentwicklung des Lebens. Vgl. W 2008, S. 184–203 und zum Gedanken des evolutionären Fortschritts auch R 2012, S. 254 f. 273 Vgl. u.a. L 1989, R 2010 und N 2012. Wertvolle Anregungen und Überlegungen zum Vergleich zwischen diesen Ansätzen und Hegels objektiven Idealismus finden sich in H 2021.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
lichen:274 Sein Kerngedanke ist, dass herkömmliche, naturgesetzliche Kausalerklärungen hier keine echten Antwortkandidaten bieten können, wenn zirkelfreie Begründungen erfordert werden. Metaphysikfreie Erklärungsversuche sind daher für Rescher von vorneherein ausgeschlossen, weil diese naturgesetzliche Ordnung der Gesamtwirklichkeit ja gerade Teil des zu Erklärenden ist. Da die Erkenntnis der Natur als Ganzer bis in ihre inneren Strukturen hinein einen hohen Wert realisiert, zieht Rescher als explanans irreduzibel teleologische Gesetze heran.275 Diesen gemäß ist die Entwicklung natürlicher Arten, ja der Natur als Ganzer auf die Existenz rationaler Lebewesen ausgerichtet.276 Die Leistungsfähigkeit von Reschers Gedankengang, der auf von J. Leslie ausgearbeitete Prämissen zurückgreift,277 ist freilich umstritten. Interessant ist aber allemal, dass die leibniziansche Frage nach dem ,Warum‘ der Existenz in der Gegenwartsdebatte offensichtlich nicht verschwunden ist. Zugleich geben die Theorieentwürfe Anlass, die oben aufgeworfene Frage nach der theologischen Signifikanz von Endzwecken wieder aufzugreifen. Ein Teilaspekt hiervon stellt das Problem dar, dass Argumente für Endzwecke, die auf keinerlei theologischen Prämissen beruhen, dahin tendieren, den Gottesbezug zumindest in dieser Hinsicht überflüssig zu machen. Für eine unabhängige metaphysische Theorie wie die Leslies, Reschers und Nagels stellt das kein Problem dar;278 für die leitenden Prämissen der hegelschen Religionsphilosophie hingegen schon. Zudem bilden die schon erschlossene Existenz des Absoluten und dessen Verhältnis zur Welt für Hegel gerade den Hintergrund, vor dem die Idee einer globalen teleologischen Ordnung überhaupt erst verstanden werden kann. Zwar muss sich für Hegel nicht jede mögliche Beschreibung des Absoluten in allen Hinsichten mit dem Gottesbegriff der monotheistischen Religionen decken. Seine Theorie muss aber die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung erfüllen, mit bestimm-
274 Im Folgenden gebe ich die neuere Fassung seiner Argumentation in R 2016 wieder. 275 Vgl. R 2016, S. 226 f. Einen ähnlichen Schluss ziehen auch – mit mehr oder weniger starken Restvorbehalten – F. v. Kutschera und Th. Nagel. Vgl. K 2006, S. 255–257 und N 2012, S. 66–68. 276 Die Theorie einer Erklärung der Aktualität der Welt aus ihrem höchsten Wert nennt Rescher auch „Axiogenesis: the Optimality Principle of actualization“, den Wertmaßstab hingegen „Noophelia: the Intelligence-Oriented Standard of valuation“ (R 2016, S. 233). Analog zum letztgenannten Prinzip heißt es etwa bei Findlay über Hegels Teleologie: „Everything exists in order to promote rational conscious life, and the highest forms of rational conscious life are precisely the forms in which this is consciously realized: the life of the artist, the life of the religious devotee, and the life of the Hegelian philosopher.“ (F 1970, S. 145) 277 Vgl. R 2016, S. 234 Fn. 13 und L 1989, Chap. 8. 278 Während Nagel die teleologische Erklärung explizit als ,säkulare‘ Alternative zum Schöpfungsgedanken versteht (vgl. N 2012, S. 66), betonen Leslie und Rescher deren Kompatibilität. Vgl. unten Fn. 303.
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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ten theologischen Interpretationen von Endzwecken inhaltlich kompatibel zu sein.279 Einen guten Einstieg in die Diskussion bietet m.E. ein kurzer Blick auf einige der neueren Reaktionen auf den metaphysischen Entwurf Reschers. Denn, wie sich zeigen wird, ist der hegelsche Grundansatz nicht nur in der Lage, bessere Antworten zu liefern. Sie deuten zugleich an, warum Hegel glauben kann, sein Theorieansatz deute von sich aus schon auf den Gehalt analoger religiöser Intuitionen hin. Bislang ist deutlich geworden, dass alle Ansätze die Annahmen teilen, dass die Frage nach der Struktur der Natur legitim ist und nicht-metaphysische Erklärungsversuche als mögliche Antworten ausscheiden. Hinsichtlich der genannten alternativen Ansätze zu Hegel stellen sich aber von vornherein mindestens drei Problemkomplexe, die in der neueren Literatur hervorgehoben wurden: (1) Zunächst ist gar nicht klar, welchen ontologischen Status die als explanantia postulierten metaphysischen Prinzipien hier genau haben und aus welchen Gründen man sie überhaupt akzeptieren sollte.280 In jedem Falle scheinen alle Ansätze erstens von einem starken moralischen Realismus auszugehen, der die Unabhängigkeit von Werttatsachen von Präferenzen jeder Art von Akteuren, ja von jeder Art von kontingenten Entitäten behauptet.281 Zweitens müsste schon das bloß mögliche Bestehen solcher Werte erklären können, warum sie tatsächlich Teil der aktualen Welt werden (müssen)282 – und dies drittens in einer Weise, die weitere Fragen nach der Geltung der leitenden Prinzipien ausschließt.283 (2) Und selbst wenn man zugesteht, es gäbe in diesen Fällen Antwortansätze, stellt sich die Anschlussfrage, unter welchen Bedingungen die metaphysischen Prinzipien operabel sein sollen.284 Im Kern wiederholt sich hier verschärft das Problem, auf das schon oben bzgl. platonistischer Auffassungen von Naturgesetzen hingewiesen wurde: Anders als Naturgesetze stellen Werte zunächst lediglich einen Sollensanspruch.285 Und erst unter der Zusatzannahme, solche Sollensansprüche erklärten die Existenz und Struktur der Welt, kommen die Ansätze zum gewünschten Resultat. Der bloße Hinweis darauf, dass sie das tun, erklärt aber nicht, wie sie genau operieren können – ähnlich wie der Hinweis auf eine Notwendigkeitsbeziehung zwischen Universalien in naturgesetzlichen Aussagen nicht allein erklärt, warum natürliche Individuen sie exemplifizieren. (3) Schließlich erledigt der Rekurs auf axiologisch ausgezeichnete Möglichkeiten als Erklärungsprinzipien an sich nicht die Frage nach deren genauen Gütekriterien.286 Damit 279 Dem entspricht die berühmte hegelsche These von der ,Inhaltsidentität‘ zwischen ,Religion‘ und ,Philosophie‘ (vgl. WdL II, GW 12, S. 236), auf die ich unten in Kap. III.4 und bes. III.5 näher eingehen werde. 280 Vgl. bes. die Kritik in M 2016, S. 541. 281 Vgl. S/H 22003, S. 29 f. Diese Annahme findet sich explizit in L 1989, 8.9, S. 170. 282 Vgl. H 2016, S. 479–481. 283 Vgl. M 2016, S. 541. 284 Vgl. ebd.; und ferner T 2016c, S. 570–572. 285 Zu Leslies Vergleich zwischen Naturgesetzen und axiologischen Prinzipien vgl. S/ H 22003, S. 30. 286 Vgl. ebd., S. 29.
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3. Unbedingte Weisheit: Hegel und das teleologische Argument
Aussagen wie Reschers „Optimality Principle“287 ihre theoretischen Vorzüge entfalten können, müsste man zumindest mit Blick auf das von Kant aufgeworfene Problem von Endzwecken eine grobe Hierarchie von Gütern angeben und deren Einteilungskriterien transparent machen.
M.E. schneidet nun Hegels Ansatz hinsichtlich dieser drei Fragekomplexe wesentlich besser ab. Zumindest könnte Hegel darauf hinweisen, dass seine Theorie nicht nur mit den genannten Alternativen kompatibel ist, sondern zugleich beanspruchen kann, mögliche Lücken in deren Begründung zu füllen. Was damit gemeint ist, wird vielleicht durch den Hinweis deutlicher, dass Hegels Überlegungen zur Struktur der Natur selbst eine axiologische Komponente besitzen. Denn wie schon betont wurde, liegen für Hegel die Gütekriterien von Entitäten in erster Linie in deren essentieller Identität, die in ihrem ,Begriff‘ gefasst werden kann.288 Auf die Natur übertragen bedeutet dies, dass nach Hegel die Entwicklung der Natur als Ganzer darin ihren Zweck und ihren Wert besitzt, dass in ihr Wesen entstehen (müssen), die in der Lage sind, auf den Begriff der Natur selbst zu reflektieren.289 Nur so kann das Naturganze für Hegel dem gerecht werden, was es selbst in Wirklichkeit ist, nämlich der gleichsam natürliche Ausdruck des Absoluten. In diesem Rahmen ergibt sich für Hegel eine Antwort auf die beiden Probleme (2) und (3). Leslie, Rescher und Nagel bleiben hingegen allesamt bei dem Hinweis stehen, dass die Erkennbarkeit wie das Erkanntwerden der Natur durch teleologische oder axiologische Prinzipien am besten erklärt werden kann.290 Sie setzen
287 R 2016, S. 227. Rescher formuliert sein Prinzip wie folgt: „Given an exhaustive range of possible alternatives, it is the best of them that is actualized.“ (ebd.) 288 Vgl. Abschn. I.2.1 und oben Anm. 241. 289 Aus Hegels Aussage, „daß die Natur den absoluten Endzweck nicht in ihr selbst enthält“ (Enz. § 245, GW 20, S. 235) folgt nicht, dass sie für Hegel lediglich den Überlebensinteressen der Menschheit dient. Vgl. etwa S 2018, S. 676 und 789. Für Hegel ist nicht die bloße Existenz vernünftigen Lebens der Endzweck der Natur, sondern vielmehr das, was durch die kognitive und ethische Befähigung hervorgebracht werden kann bzw. soll. Vgl. ebd., S. 721 f. und 725. Entsprechend bewertet Hegel bspw. Religionsformen danach, ob sie überhaupt einen Begriff von Endzwecken verfügen und wenn ja, ob er korrekt aufgefasst wird. Vgl. u.a. Hegels Abgleich in VPR 4, S. 398 f. Die leitende Norm besteht für Hegel dabei in der kohärenten Erkenntnis des Absoluten, in der die menschliche Bezugnahme und die darin involvierte Präsenz des Absoluten selbst mit-reflektiert wird. Vgl. unten II.4.2 und III.5.5. In den Worten des Manuskripts formuliert: „Diese Erkenntnis macht die höchste Stufe des geistigen Seins des Menschen aus, d. i. seiner religiösen Bestimmung; sie ist Bestimmung des Menschen als Menschen überhaupt, ganz in das Bewußtsein seiner Endlichkeit herein – der Strahl des ewigen Lichtes, das ihm darin klar wird.“ (VPR 5, S. 46) 290 Nach Leslie sollen „ethical requirements“ (L 1989, 8.1, S. 166) eine weniger voraussetzungsreiche Erklärung der Feinabstimmung der Naturkonstanten geben als der klassische Theismus. Vgl. ebd. Th. Nagel vermutet, das Universum strebe intrinsisch nach Selbsterkenntnis. Vgl. etwa N 2012, S. 117 und 124. Analog spricht Rescher von der „noophelia“ (R 2016, S. 230) der kontingenten Welt als stärksten Indikator für deren optimalen Wert.
3.3 Zwecke, Endzwecke und deren theologische Signifikanz
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folglich schon voraus, dass dieser Sachverhalt tatsächlich einen hohen bzw. optimalen Wert realisiert und in diesem Sinne die genannten Prinzipien instantiiert. Diese Vorannahme ist aber, wie gesagt, keineswegs trivial.291 Denn sie provoziert, unweigerlich die Rückfrage, wie abstrakte Prinzipien überhaupt operabel sein können und, wenn sie es sind, warum gerade besonders in diesem Fall.292 Die hegelsche Erklärung des Werts der Natur scheint hingegen beide Teilfragen in einem zu klären. Denn der Verweis auf das, was Natur als Ganze in ihrem Wesen ausmacht, muss keinen Umweg über unabhängig gültige und existierende Prinzipien machen,293 um dann im Anschluss die Frage nach den Bedingungen ihrer Instantiierung zu klären. Ebenso wie etwa naturgesetzliche Aussagen zum Ausdruck bringen, wie sich Individuen selbst unter günstigen Bedingungen ihrer Art gemäß verhalten müssen,294 macht der Rekurs auf den Naturbegriff deutlich, dass die Wirklichkeit sich nur dann selbst entspricht, wenn ihre Grundstrukturen tatsächlich erkannt werden. Ferner erklärt Hegels Begriffsrealismus nicht nur die Erkennbarkeit der Natur, sondern eröffnet auch einen Zugang zu den überprüfbaren Gütekriterien für einzelne Entitäten wie für die Natur als Ganze. Entsprechend ist er nicht gleichermaßen von dem Einwand betroffen, die Erkenntnis einer durch und durch schlechten Wirklichkeit sei gewiss nicht so wertvoll, wie es Reschers Optimalitätsprinzip erfordern würde.295 Darüber hinaus ist Hegels Ansatz in der Lage, die Begründungslücken zu füllen, die in Problem (1) angesprochen wurden. Denn, wie sich gezeigt hat, folgt Hegel der platonischen Intuition, den Begriff der Natur durch ihren Bezug zur Sphäre des Logischen zu erklären. Und darin soll sich ja eine Begründungsasymmetrie zugunsten des Logischen aufweisen lassen. In diesem Sinne umgeht sein
291 Im Falle Reschers ist es nicht einmal sicher, ob sein Optimalitätskriterium im Rahmen seiner Prämissen konsistent formuliert werden kann und wie es die werthafte Existenz von a-rationalen Wesen erklärt. Vgl. etwa die Kritik in M 2016, S. 539. 292 So weist etwa schon Kant darauf hin, dass die Güte einer Erkenntnis sich u.a. nach dem Sachverhalt richtet, den sie zum Inhalt hat: „Es ist aber auch nicht das Erkenntnisvermögen desselben (theoretische) Vernunft, in Beziehung auf welches das Dasein alles Übrigen in der Welt allererst seinen Wert bekommt, etwa damit irgend Jemand da sei, welcher die Welt betrachten könne. Denn wenn diese Betrachtung der Welt ihm doch nichts als Dinge ohne Endzweck vorstellig machte, so kann daraus, daß sie erkannt wird, dem Dasein derselben kein Wert erwachsen; und man muß schon einen Endzweck derselben voraussetzen, in Beziehung auf welchen die Weltbetrachtung selbst einen Wert habe.“ (KU § 86, B 410 f.) 293 Rescher behauptet, der Umweg sei notwendig, weil Kausalerklärungen jeglicher Couleur bei der Frage nach kontingenter Existenz keine Rolle spielen könnten. Vgl. R 2016, S. 224 f. Gegenteilige Überzeugungen, die Reschers Prämisse bezweifeln, Kausalität beschränke sich nur auf ihre innerweltlichen Formen (vgl. M 2016, S. 533–535), führt er auf einen im westlichen Denken wurzelnden „substance bias“ (R 2017, S. 71) zurück. Aus der Identifikation eines Vorurteils folgt aber noch nicht unmittelbar dessen Falschheit. 294 Vgl. oben S. 327. 295 Vgl. M 2016, S. 535 f. und 539 f. Vgl. dagegen die Überlegungen zum Problem des Übels in L 1989, 8.14–8.23, S. 174–180.
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Ansatz zum einen die Probleme seiner Alternativen. So weist Rescher etwa in seiner Antwort darauf hin, dass sein Optimalitätsprinzip den Vorzug besitze, sich selbst zu verifizieren: Das Prinzip, dass nur die besten Möglichkeiten verwirklicht werden, ist demnach deshalb wahr, weil dessen Gültigkeit selbst zu der in ihm angegebenen Auswahlmenge optimaler Sachverhalte gehört.296 Ein solche „virtuous circulartiy“297 in der Begründung ist aber wesentlich schwächer als diejenige, auf die sich Hegel stützen kann. Denn selbst, wenn man Reschers dubios anmutende Strategie akzeptieren würde,298 wäre in der expliziten Leugnung des Optimalitätsprinzips dieses selbst nicht unmittelbar enthalten.299 Gleiches gilt, wie gesagt, nicht für diejenigen allgemeinen Kategorien und logischen Prinzipien, die nach Hegel in jedem Wahrheit beanspruchenden Denkakt und dessen Gehalt vorausgesetzt werden – einschließlich der Reflexion auf diese transzendentalen Bedingungen selbst. In diesem Sinne ist für Hegel die ,Logik‘ in einem Maße selbsterklärend, das die alternativen Ansätze nicht erfüllen. Aus diesem Unbedingtheitscharakter ergibt sich schließlich ein Vorzug bezüglich dessen ontologischen Status. Während Leslie und Rescher jeweils die notwendige Existenz ihrer Prinzipien annehmen müssen und damit in die bekannten Problemgefilde des (Vulgär-)Platonismus geraten,300 kann Hegel zumindest plausibilisieren, warum die Annahme der unabhängigen Existenz erforderlich ist. Dies muss nicht bedeuten, dass es isoliert existierende, nicht-exemplifizierte Universalien geben kann. Vielmehr folgt Hegel der klassischen Intuition, dass die für die Struktur der Wirklichkeit relevanten platonischen Entitäten geradezu Momente der Natur des Absoluten selbst sind, die zugleich Inhalt seines Selbstdenkens sind.301 Der leibnizianische Einwand gegen Rescher, dass axiologisch ausgezeichnete Möglichkeiten etwa als Gedanken Gottes wirklich sein müssen, um nach ihrer Aktualisierung zu streben,302 trifft Hegels Thesen also nicht im selben Maße. 296 Vgl. R 2016, S. 227–229. Leslie hingegen scheint die Begründungsprobleme dadurch umgehen zu wollen, indem er behauptet, die Aussage, ethische Normen seien per se „kreativ“, sei lediglich eine „Sache synthetischer Notwendigkeit“ („a matter of synthetic necessity“) (L 1989, 8.11, S. 171). 297 R 2016, S. 231. 298 U. Meixner argumentiert, dass, selbst wenn Reschers Prinzip wahr wäre – was Meixner bestreitet –, aus ihm folgen müsste, dass etwas bzw. die aktuale Welt (logisch) notwendigerweise existiert – zumindest dann, wenn man annimmt, dass im Falle optimaler Sachverhalte deren notwendiges Bestehen besser ist als kontingentes. Daraus würde aber direkt die Negation von Reschers explanandum folgen, nämlich die Kontingenz der aktualen Welt. Vgl. M 2016, S. 537. 299 Wenn ich sage: ,Das Optimalitätsprinzip ist falsch‘, kann ich nicht gleichzeitig implizit meinen, dies drücke einen nicht überbietbareren, möglichen Wert aus. 300 Rescher nimmt explizit die notwendige Existenz von Sachverhalten an (vgl. R 2016, S. 222), glaubt aber, dass dies im Falle des Optimalitätsprinzips nicht ihrem kontingenten Bestehen widerspricht. Vgl. ebd., S. 228. 301 Vgl. oben in II.2.4 und unten II.4.2. 302 Diesen Einwand erhebt besonders F. Hermanni gegen Rescher. Vgl. H 2016, S. 480 f.
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Selbst wenn man Hegel nicht in allen Details zu folgen vermag, wird man dennoch zugeben, dass sein Ansatz eine mögliche theologische Interpretation eher provoziert als abweist. Denn zwar weisen jeweils Leslie und Rescher explizit darauf hin, dass ihre Thesen mit dem klassischen Schöpfungsgedanken kompatibel, wenn nicht komplementär sind.303 Ihre starke Zusatzannahme besteht allerdings darin, dass ihre Theorie dessen Plausibilität allererst begründet.304 Im Abgleich mit Hegels Ansatz hatte sich aber gezeigt, dass diese Annahme sicherlich nicht voraussetzungslos gültig ist. In der hegelschen Perspektive wäre es vielmehr erforderlich, einen Begriff der Natur von deren Beziehung zur ,absoluten Idee‘ her zu entwickeln. Und prima facie spräche in Hegels Sinne überhaupt nichts dagegen, dies als Interpretationsfolie für religiöse Behauptungen zu benutzen. Denn, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, ist Hegel etwa der Meinung, dass die adäquate Beschreibung der ,absoluten Idee‘ sich mit dem Gehalt von Anselm v. Canterburys berühmter Gottesformel deckt. Inwieweit diese These auch religionshermeneutisch plausibel ist, werden wir weiter unten in Kap. III.5 näher untersuchen. Für die Klärung der Ausgangsfrage reicht in diesem Kontext eine kurze Begründung aus, dass Hegels Strategie nicht jeglicher Anfangsplausibilität entbehrt. Dafür muss man m.E. nur auf die starken Affinitäten zu einer philosophischen Schöpfungslehre verweisen, dessen Rezeption die Theologien der monotheistischen Religionen stark geprägt haben: nämlich die Schöpfungserzählung in Platons Timaios.305 Wie Hegel geht Platon davon aus, dass die Struktur des Weltganzen sich nicht bloß aufgrund rein axiologischer Prinzipien, sondern aus der Verhältnisbestimmung zum unabhängig existierenden Kosmos der eidetischen Formen ergeben muss.306 Dabei geht
303 Vgl. bes. R 2016, S. 232 f. Leslie gesteht dies auch zu (vgl. L 1989, 8.5, S. 167). Er meint aber, der Theismus habe ohne sein axiologisches Prinzip Erklärungsschwierigkeiten mit Bezug auf die notwendige Existenz Gottes. Das Hauptproblem dieser (In-)Kompatibilitätsthesen ist allerdings, dass sie sich unweigerlich Paritätsargumente seitens des Theismus einhandeln. Man kann nämlich schon mit einer schwächeren Version von Reschers und Leslies Prinzipien für die notwendige Existenz Gottes argumentieren – etwa indem man wie W. Vallicella mit der Aussage ,Werte können bestehen, weil sie es sollen‘ die Möglichkeitsprämisse im modalen OA rechtfertigt. Vgl. V 2018 und ferner bes. H 2011, S. 59–66. Damit entfiele Leslies Einwand, der zudem ja ,synthetische Notwendigkeit‘ für sein eigenes Prinzip annimmt. Vgl. oben Fn. 296. Rescher hingegen deutet ein solches Argument selbst an. Vgl. R 2016, S. 232 f. Es ist aber fraglich, ob er es wirklich akzeptieren könnte. Denn aus der notwendigen Existenz Gottes würde folgen, dass die Existenz und Struktur der aktualen Welt kausal erklärt werden kann, was Rescher ja gerade vehement bestreitet. 304 In diesem Sinne will Nagel seine explizit nicht-theistische Auffassung der Teleologie mit Leslies Ansatz stützen. Vgl. N 2012, S. 67 und zur Kritik auch A 2018, bes. S. 30–33. 305 Ich folge hier besonders V. Hösles umfassenden Strukturvergleich in H 1984. Die enorme ideengeschichtliche Wirkungsmächtigkeit des Timaios zeigt etwa die umfassende Studie von A. Lovejoy, auf die schon mehrfach verwiesen wurde. Vgl. L 1936. 306 Vgl. Tim. 27c–29d. Timaios gibt im Übrigen schon ein Argument für die Erklärungs-
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nimmt er wie Hegel an, dass der Ideenkosmos nicht ein bloßes Aggregat isoliert vorkommender, nicht-exemplifizierter Universalien ist, sondern ein durch die ,dialektische‘ Strukturen organisiertes Ganzes, das zugleich ,Leben‘ und ,(Selbst-)erkennen‘ einschließen muss.307 Aus der Verhältnisbestimmung zwischen Ideenkosmos und dem Weltganzem ergibt sich zugleich für Platon wie für Hegel der innere Wertmaßstab der Natur, der dann den Hintergrund für axiologische Erklärungsversuche bildet. Analog zu Hegels Auffassung, die Natur sei in ihrem Wesen nichts anderes als der raumzeitliche vereinzelte, aber durch Gesetze geordnete Ausdruck der ,Idee‘ selbst, besteht für Platon die Güte der Natur darin, dem Ideenkosmos so ähnlich wie möglich zu sein.308 Der so verstandene Wert des Weltganzen bildet dann schließlich für Platons Timaios den Existenzgrund der Natur. Dafür kombiniert er die begründete Güte der Welt mit der berühmten Überzeugung, dass ihr Ursprung den von ihm verschiedenen Entitäten den Wert des Existierens nicht vorenthalten kann, weil er sonst ,neidisch‘ wäre und dies Laster seiner eigenen Vollkommenheit widersprechen würde.309 Und da der sichtbare Kosmos seinem Erklärungsgrund maximal ähnlich sein muss, kann man Platons Kerngedanken auch mit der christlich-neuplatonischen Formel des bonum diffusivum sui wiedergeben. Demnach ergibt sich die Existenz und Struktur des Weltganzen daraus, dass dessen Ursprung sich selbst in ihm ,verbreitet‘ und ,verströmt‘. Aufgrund der offensichtlichen Affinität zu Hegels These, dass die Natur gewissermaßen die ,absolute Idee‘ selbst ist und darstellt, kann es daher auch wenig überraschen, dass Hegel diesen alten Gedanken gerne aufgreift.310 Er kann daher mit einigem Recht darauf beharren, dass seine Überlegungen zu Beginn der Naturphilosophie zumindest das Grundgerüst einer philosophischen Interpretation des klassischen Schöpfungsgedankens bieten, die prima facie mit dem Gehalt religiöser Intuitionen kompatibel ist. Dies folgt nicht bedürftigkeit aus einem global formulierten Kausalprinzip an, das zudem erfordert, dass Kausalketten in der Wirksamkeit lebendiger Entitäten enden. Vgl. hierzu K 2002, Band III, S. 47 f.; und zum ,kosmologischen‘ Argument in den Nomoi ebd., S. 139–144. 307 Zumindest dann, wenn man die in Anm. 306 genannten Stellen im Timaios u.a. zusammen mit Soph. 248a-249d liest. Vgl. H 1984, S. 69; und zum neuplatonischen Verständnis der Stelle H 2004, S. 69–71. Auch Hegel spricht bekanntlich der ,absoluten Idee‘ „unvergängliches Leben“ (WdL II, GW 12, S. 236) zu, und zwar aufgrund ihrer ,dialektischen‘ Selbstbestimmung. Vgl. ebd., S. 246. Man muss sich übrigens auch nicht daran stören, dass im Timaios der Demiurg als dritte Entität neben dem Ideenkosmos und dem Universum eingeführt wird. Denn der lässt sich mit ersterem identifizieren. Vgl. H 2004, S. 112; und ferner . 2000. 308 Vgl. Tim. 29e-30b und H 1984, S. 82 f. Aus dieser Ähnlichkeitsrelation folgt übrigens für Platon auch, dass das Weltganze selbst im spezifischen Sinne als (erkenntnisfähiges) Lebewesen verstanden werden muss. Ähnlich heißt es bei Hegel die „Natur an sich“ sei ein „lebendiges Ganzes“ (Enz. § 251, GW 20, S. 241). 309 Vgl. Tim. 29b-29e. 310 Vgl. neben vielen anderen Stellen etwa Enz. § 564A, GW 20, S. 549. Zu den Konsequenzen dieser Prämisse für Hegels Interpretation der christlichen Schöpfungslehre vgl. unten III.5.4.
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zuletzt aus dem schon erwähnten Umstand, dass traditionelle Schöpfungslehren mit Hegel dieselbe Inspirationsquelle in Platons Timaios teilen.311
311 Vgl. oben Fn. 305. Der Hauptunterschied zwischen traditionellen Schöpfungslehren und dem Timaios wird zumeist darin gesehen, dass erstere die Annahme verwerfen, es gäbe eine prä-existente und ontologisch unabhängige Erstmaterie. Ob dies tatsächlich systematisch mit platonischen Prämissen verträglich ist, kann hier nicht entschieden werden. Es ist aber klar, dass Hegel diese Annahme verwirft (vgl. oben II.3.2) und seine eigene Überzeugung mind. in der christlichen Schöpfungslehre wiederentdeckt. Vgl. VPR 5, S. 26 f. und dazu unten III.5.4.
4. Das System der Gottesbeweise und die Bedeutung des ontologischen Arguments Der Kantianismus wurde eingangs in II.1 als Konjunktion dreier Thesen umschrieben. Demnach soll die Bildung des Gottesgedankens erstens für uns Menschen aufgrund unserer rationalen Natur geradezu unvermeidlich sein. Trotz ihrer natürlichen Notwendigkeit kann aber die Überzeugung von Gottes Existenz zweitens unter keinen Umständen epistemisch gerechtfertigt sein. Da aber eine echte moralische Lebensführung nur unter Voraussetzung des Gottesglaubens gelingen kann, lässt er sich drittens praktisch-moralisch rechtfertigen – zumindest dann, wenn das Interesse an einem moralisch vollkommenen Leben den Vorrang gegenüber dem theoretischen Interesse am Wahrheitserwerb und der Irrtumsvermeidung genießt. Im letzten Kapitel hatten wir gesehen, dass Hegel gute Gründe hat, die dritte These für instabil zu halten. Gleichzeitig ist er davon überzeugt, dass sich die erste These in einer Weise verstehen lässt, die den Kernintuitionen basaler theistischer Überzeugungsbildung weitaus besser Rechnung tragen kann als Kants Ansatz. Dabei vermeidet seine ausgearbeitete Theorie religiösen Denkens nicht nur die Formprobleme in den üblichen Typen argumentativer Begründung, die Hegel für deren eigentliche Defizienz hält. Kants eigene These von der Unmöglichkeit natürlicher Theologie hält er zudem für nicht aussichtsreich: Ein gutes Argument aus der Analytik der KrV lässt sich nach Hegel nicht finden.1 Und der komplexe Unmöglichkeitsnachweis in der Dialektik hängt wiederum an Prämissen, die bei genauem Blick schlicht inakzeptabel sind. Mit diesem Ergebnis sind wir in der Lage, die beiden noch ausstehenden Prämissen in hegelscher Perspektive zu bewerten, die Kant für seinen Unmöglichkeitsnachweis benötigt. Dessen Prämissen hatten wir oben in Abschnitt II.2.1 so wiedergegeben: 1. Es kann nur genau drei Arten von Beweisen für Gottes Existenz geben: den ontologischen, den teleologischen und den kosmologischen Beweis. 2. Der kosmologische Beweis ist genau dann beweiskräftig, wenn der ontologische Beweis beweiskräftig ist. 3. Der teleologische Beweis ist genau dann beweiskräftig, wenn der kosmologische Beweis beweiskräftig ist.
1 Vgl. die Ausführungen oben im Exkurs zu II.1 und die ergänzenden Überlegungen in II.2.3.
346
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
4. Der ontologische Beweis ist ungültig.
Wie wir gesehen haben, hält Hegel Prämisse (2) für falsch,2 Prämisse (3) hingegen zwar für korrekt, aber für interpretationsbedürftig.3 Zusammen mit dem Nachweis, dass Kant eine ontologisch gehaltvolle und nicht rein praktisch begründete Version des TA benötigt, um die These der moraltheologischen Begründung des Gottesglaubens aufrechtzuerhalten, ist der Kantianismus für Hegel zwar schon erledigt. Allerdings geht seine Kritik noch viel weiter. Denn bei genauerem Blick zeigt sich, dass Hegel auch die Prämissen (1) und (4) für inkorrekt hält bzw. halten kann. Interessanterweise kann man m.E. diejenigen Gründe, die man mit Hegel gegen an Kants Vollständigkeitsannahme (1) anführen kann, als Hintergrund für seine komplexe Kritik an Prämisse (4) verstehen. Da Hegels Einteilung der Gottesbeweise zudem eine gute Gelegenheit bietet, seine Detailinterpretationen der aposteriorischen Argumente zu rekapitulieren, soll daher zunächst ein Blick auf Prämisse (1) geworfen werden (Abschnitt II.4.1). Mithilfe von Hegels Systematisierung werde ich dann in einem Folgeschritt seine religionsphilosophische Einordnung und Verteidigung des ontologischen Arguments (im Folgenden = OA) genauer beleuchten (Abschnitt II.4.2).
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell Soweit ich sehen kann, findet sich in Hegels Spätwerk keine direkte Diskussion von Kants Versuch, eine vollständige Disjunktion aller Gottesbeweisarten zu geben. Seine eigene Systematisierung unterscheidet sich aber so stark, dass sich die Frage stellt, was ihn wohl dazu bewogen haben könnte, die kantische Alternative zu verwerfen. In jedem Falle scheint Kants Vollständigkeitsthese auch unabhängig von Hegels möglichen eigenen Gründen kaum überzeugend zu sein. Dazu lohnt es sich einen Blick auf die Probleme von Kants Nachweis zu werfen, um dann zu sehen, ob Hegels abweichende Systematisierung eine bessere Einteilung bieten kann. Für die These, dass „nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich [sind]“ (KrV A 590/B 618), argumentiert Kant mit folgender Prämisse: Alle Wege, die man in dieser Absicht einschlagen mag, fangen entweder [1a] von der bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit unserer Sinnenwelt an, und steigen von ihr nach Gesetzen der Kausalität bis zur höchsten Ursache außer der Welt hinauf: oder sie legen [1b] nur unbestimmte Erfahrung, d.i. irgend ein Dasein, empirisch zum Grunde, oder sie abstrahieren endlich [2] von aller Erfahrung, und
2 3
Vgl. oben II.2.3. Vgl. oben II.3.2.
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell
347
schließen gänzlich a priori aus bloßen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache. (ebd., A 590 f./B 618 f.)
Im Kern bemüht Kant hier zwei Kriterien: (i) sollen sich alle möglichen Gottesbeweise allgemein dadurch klassifizieren, ob in ihnen ein möglicher Erfahrungsbezug vorliegt. Und sollte dies der Fall sein, dann lässt sich (ii) weiter fragen, ob unbestimmt viele empirische Gegenstandsbereiche oder nur einige bestimmte in die Reichweite dieser Erfahrung fallen. Damit lässt sich das OA von den aposteriorischen Gottesbeweisen mithilfe von Kriterium (i) unterscheiden, da es eben keinerlei Erfahrungsbezug besitzen soll (= [2]). Die Einteilung innerhalb der letztgenannten Beweisarten folgt hingegen aus der Anwendung von Kriterium (ii): Demnach zeichnet sich dann das KA dadurch aus, dass seine empirische Prämisse die Domäne aller kontingenten Individuen umfasst (= [1b]), während das TA nur diejenigen ins Auge fasst, die spezifische Bestimmungen besitzen (= [1a]). Kants Verfahren ist aber gleich in mehrfacher Hinsicht fragwürdig: Erstens ist gar nicht klar, ob man auf Basis des ersten Kriteriums überhaupt eine klare Grenze zwischen apriorischen und aposteriorischen Gottesbeweisen ziehen kann. Denn zum einen finden sich in allen klassischen Typen der KA Prinzipien, die Kant ohne weiteres als ,synthetisch a priori‘ einstufen müsste, wie dies etwa für das Prinzip vom zureichenden Grund und ein globales Kausalprinzip der Fall ist.4 Ersteres ist für Kant letztlich eine Spezifikation seines allgemeinen Vernunftprinzips,5 während letzteres im legitimen Gebrauch sogar transzendental gerechtfertigt werden kann.6 Umgekehrt könnte man die für das OA zentrale Kennzeichnung bzw. Definition des Ens realissimum auch als eine Prämisse a posteriori einstufen. Denn für die meisten Menschen dürfte bspw. die Aussage ,Gott ist das vollkommenste Wesen‘ zunächst eine Zeugniswahrheit darstellen. Wäre es etwa tatsächlich der Fall, dass jeder Mensch a priori eine klare Meinung besitzt, was der Gedanke der unüberbietbaren Vollkommenheit beinhaltet, müsste etwa Anselm nicht den überwiegenden Teil seines Proslogion darauf verwenden, seine Gottesformel zu erläutern und zu erklären. Im Rahmen des Beweises setzt er vielmehr voraus, dass jemand, der die Existenz Gottes verneint, über eine Kennzeichnung Gottes verfügt, die er zumindest zuvor gehört und verstanden haben sollte.7
4
Vgl. die Übersicht zu Anfang von Abschn. II.2.2. Vgl. oben II.2.2 und W 2018, S. 98–102. 6 Zudem haben wir gesehen, dass sich für Kant unsere Beurteilung zweckmäßiger Individuen auf Prinzipien unserer reflektierenden Urteilskraft zurückführen lässt. Die wesentlich nicht-empirische Natur dieser Prinzipien ist ja gerade die Grundlage für Kants Aussage, dass teleologische Urteile nur ,subjektiv‘ gültig sein sollen. Vgl. oben II.3.2. 7 Vgl. Pros., Kap. 2, S. 84 f. Wie sich gleich zeigen wird, nennt Hegel Anselms Formel auch eine „Vorstellung von Gott“ (VPR 3, S. 324), was auch so viel bedeuten kann wie: ,was man sich gemeinhin unter Gott vorstellt‘. Vgl. zu dieser Bedeutungsdimension von Hegels Vorstellungskategorie auch III.3.3. 5
348
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
Während Kant vermutlich den zweiten Teil des Einwands mit seiner Ableitung des Begriffs des Ens realissimum bestreiten würde,8 wiegt ein zweiter Kritikpunkt schwerer. Denn bei genauerem Blick scheint Kants Kriterium (ii) überhaupt nicht hinreichend, um alle traditionellen Subtypen des KA klar von denjenigen des TA zu unterscheiden. So beruhen etwa aristotelisch-scholastische Fassungen des TA, wie etwa Thomas’ fünfter Beweisweg der Summa theologica, auf dem Finalprinzip des omne agens agit propter finem.9 Das aber soll im traditionellen Verständnis gerade universal gültig sein, weil jede Ausübung von Kausalkräften und jede Manifestation von Dispositionen intrinsisch auf bestimmte Effekttypen ausgerichtet ist, wodurch sich, klassisch gesehen, die nomologische Regelmäßigkeit von Kausalprozessen erklärt.10 Gleiches gilt etwa für Thomas’ vierten Beweisweg, der auf Basis der Gütegrade von Individuen argumentiert. Denn Güte ist als Transzendentalie gerade per definitionem eine transkategoriale Eigenschaft, die sich daher auf alle Entitäten überhaupt in analoger Weise erstrecken müsste.11 Nach Kants Kriterien müssten also beide Argumente Formen des KA darstellen. Umgekehrt geht etwa Thomas’ dritter Weg, der gemeinhin als KA im eingestuft wird, in beiden Teilschritten von zwei besonderen Gegenstandsbereichen aus – nämlich vergängliche und unvergängliche Substanzen.12 Nach Kants Kriterium (ii) muss er daher als eine Kombination zweier TA verstanden werden, was offensichtlich absurd ist. Hieraus wird deutlich, warum Kants Widerlegungsstrategie selbst dann nicht gelingen kann, wenn man seine zweifelhaften Einteilungskriterien akzeptiert. Denn diese sind drittens so weit formuliert, dass sie wesentlich mehr Gottesbeweise umfassen, als Kant abhandelt bzw. abhandeln konnte. Thomas’ vierter und fünfter Weg kommen bei ihm nicht vor. Ebenso wenig diskutiert Kant die Fassungen des Kontingenzarguments, die sich auf die Realunterscheidung von Existenz und Essenz berufen.13 Und dies ist selbst nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was man im kantischen Sinne als KA einstufen kann.14 Keinesfalls scheint daher 8 Vgl. oben II.2.2. Zudem könnte Kant auf die cartesische Annahme verweisen, die Idee eines vollkommenen Wesens sei ,angeboren‘. Aber daraus folgt nur, wie H. Tegtmeyer in seiner Interpretation von Descartes’ III. Meditation erklärt, dass eine echte Selbstauffassung rationalen Lebens an der Idee seiner möglichen Vollkommenheit hängt, nicht aber, dass jeder Mensch dazu imstande ist, diese Idee auch tatsächlich aus zu buchstabieren. Vgl. T 2013, S. 158–161. Analoges könnte man gegen Kant vorbringen. 9 Vgl. STh I. qu.4 a.4co und zur Erläuterung etwa F 2015, S. 154–156. 10 Für diese These argumentiert Thomas bspw. in SCG III, Kap. 22. Vgl. die instruktiven Rekonstruktionen des Regularitätsarguments in S/L 2005, S. 71 f. und in F 2015, S. 167–171. 11 Vgl. STh I. qu. 2 a.3co und zur Rekonstruktion bspw. F 2009, S. 99–109 und T 2013, S. 214–216. 12 Vgl. STh I. qu. 2 a.3co. 13 Dem entspricht bspw. Thomas’ Beweis in De ente et essentia, vor dessen Hintergrund E. Feser Thomas’ zweiten Weg deutet. Vgl. F 2009, S. 84–88 und . 2017, Chap. 4. 14 Vgl. etwa die Übersicht und Rekonstruktion der Typen des KA von Platon bis zum frühneuzeitlichen Rationalismus in C 1980. Wie grobschlächtig Kants vermeintlicher
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell
349
Kants fragwürdige Prozedur gerechtfertigt, in Unkenntnis der Gottesbeweistradition von der unschuldig wirkenden Rede von Gottesbeweisarten zur Diskussion einzelner Argumente überzugehen, die sich überhaupt nicht mit allen möglichen Unterarten decken können. Der wohl schwerwiegendste Einwand besteht schließlich viertens in der Tatsache, dass Kants Einteilung nicht nur empirisch falsch ist. Wie H. G. Melichar zeigt, kann sie nicht einmal unter Kants eigenen Kriterien eine vollständige Disjunktion darstellen.15 Auf Basis der doppelten Unterscheidung von ,a priori‘ und ,a posteriori‘ und ,Allgemeinheit‘ und ,Besonderheit‘ ergeben sich nämlich rein rechnerisch vier und nicht etwa nur drei mögliche Gottesbeweisarten. Dieser vierten Art von Beweisen, die von apriorischen Prämissen mit unbestimmt großer allgemeiner Reichweite ausgehen, lässt sich nicht nur der augustinisch-leibnizianische ,Beweis aus den ewigen Wahrheiten‘ zu ordnen.16 Auch Kants eigener vorkritischer Beweis aus der metaphysischen Möglichkeit passt genau in dieses Schema.17 Es ist zwar eine offene Frage, ob Hegel aus diesen oder ähnlichen Gründen intendiert Kants Einteilung verworfen hat. Feststeht aber, dass er selbst dort, wo er auf Kants Gottesbeweiskritik eingeht, eine andere Form der Systematisierung vorschlägt,18 deren Grundansatz m.E. die oben genannten Probleme weitestgeVollständigkeitsnachweis ist, zeigt sich zudem daran, dass seine Einteilung keinen Raum für Übergangsformen theistischer Argumente bietet. Nicht zuletzt von Duns Scotus stammt der detailreich ausgearbeitete Ansatz, im Sinne eines schwachen KA lediglich für die Möglichkeit eines ersten Glied aller hierarchisch geoordneten Kausalreihen zu argumentieren, dessen möglicherweise notwendige Existenz dann in Kombination mit dem OA zu dessen wirklicher Existenz führt. Vgl. hierzu etwa O’C 1993 und die eigenständig ausgearbeitete Version in G/P 1999. Eine andersgelagerte Verbindung des KA und des OA, die auf Basis des Prinzips vom zureichenden Grund und von Leibniz’ Theorie des Wirklichkeitsstrebens axiologisch ausgezeichneter Möglichkeiten argumentiert, hat F. Hermanni vorgelegt. Vgl. H 2011, S. 59–66. 15 Vgl. M 2020, S. 48–51. 16 Vgl. oben S. 217 f. Fn. 207. 17 Vgl. oben II.2.6 und zu beiden Punkten auch M 2020, S. 50 f. Bezeichnenderweise hat Kant in seiner Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes einen alternativen Einteilungsversuch mit genau vier möglichen Beweisarten vorgeschlagen – vermutlich, um neben dem cartesischen OA, dem KA und dem TA seinen eigenen Beweis unterbringen zu können. Vgl. EMBG, AA II, S. 155 f. 18 In Enz. § 50, wo Hegel Kants Kritik zu diskutieren beginnt, fasst er etwa die Gattungsbestimmung eines Gottesbeweises als „Vereinigung“ des Gottesbegriffs mit dem „Seyn“ und formuliert folgende Speziesunterteilung: „Diese Vereinigung läßt Zwei Wege oder Formen zu; es kann nämlich von dem Seyn angefangen und von da zum Abstractum des Denkens übergegangen, oder umgekehrt kann der Uebergang vom Abstractum aus zum Seyn bewerkstelligt werden.“ (Enz. § 50, GW 20, S. 86) Zwar ist die von Hegel aufgegriffene Rede von „Gott“, der „als Inbegriff aller Realität oder als das allerrealste Wesen zum einfachen Abstractum [wird]“ (Enz. § 49, GW 20, S. 86), schon eine negative Bewertung des Gottesbegriffs, den Hegel Kant und der vorkantischen Schulmetaphysik unterstellt (vgl. oben II.2.5) Die Stelle kann daher zumindest z.T. als Kantrekonstruktion verstanden werden. Allerdings wird schon hier deutlich, dass Hegel keines der beiden Kriterien nennt, die Kant für seine Einteilung verwendet.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
hend vermeidet. Deren Kernintuition fasst Hegel etwa im Kolleg von 1824 wie folgt zusammen: Zu bemerken ist, daß wir bei den übrigen Beweisen [i.e. beim KA und TA, W.L.] ausgegangen sind vom endlichen Sein, welches das unmittelbare war, und von dem auf das Unendliche, auf das wahrhafte Sein geschlossen wurde, das in der Form von Unendlichkeit, Notwendigkeit, absoluter Macht, die zugleich Weisheit ist, die Zwecke in sich setzt, für uns erschien. Hier aber [i.e. beim OA, W.L.] ist es, das vom Begriff ausgegangen wird, und von diesem wird übergegangen zum Sein. Beides ist notwendig, und um diese Einheit aufzuzeigen ist notwendig, sowohl von dem einen auszugehen als auch vom anderen, denn die Identität beider ist das Wahrhafte. (VPR 5, S. 110)
Diese Passage enthält in nuce alle wesentlichen hegelschen Aussagen zur Systematisierung der Gottesbeweise, wie sie auch in den anderen Kollegien auftauchen.19 Zugleich wird m.E. schon hier deutlich, warum die oben angeführten Einwände hier nicht zutreffen. Zunächst zieht Hegel den möglichen Erfahrungsbezug der Ausgangsprämissen nicht als notwendigen Einteilungsgrund heran und verzichtet damit auf Kants Kriterium (i). Stattdessen unterscheidet er das KA und das TA vom OA zunächst durch die jeweilige Schlussrichtung: Während erstere von der endlichen Wirklichkeit zu Gott gelangen, schließt letzterer von dessen Begriff umgekehrt auf das ,Sein‘. Hegels Aussagen über die Schlussform des OA in der zitierten Passage scheinen zwar ambig, indem sie nämlich noch offen lassen, von welchem ,Sein‘ die Rede ist. Sieht man von diesem Umstand vorläufig ab, dann zeigt dieser erste Einteilungsgrund eine Affinität zur aristotelisch-scholastischen Einteilung von Gottesbeweistypen.20 In diesem Sinne entspräche die erste Schlussform der sog. demonstratio quia, die von den Wirkungen einer Sache auf das zugrundeliegende Erklärungsprinzip schließt. Die zweite Schlussform hingegen lässt sich mit einer demonstratio propter quid vergleichen, die von einer Ursache bzw. ihrem Wesen auf deren Propria, Wirkungen oder – sollte dies möglich sein – auf deren Existenz schließt. Analog betrachtet nach Hegel das OA das Wesen Gottes als Inhalt eines Gedankens, von dem dann gezeigt wird, dass er unter bestimmten Prämissen keinesfalls nur subjektiv sein kann, sondern eine meinungsunabhängige Existenztatsache zum Ausdruck bringen muss.21 Gleichzeitig lässt sich Hegels Vorschlag aber auch von der aristotelischen Tradition abgrenzen. Zum einen fügt er der Unterscheidung der Schlussrichtung noch ein zweites Kriterium hinzu, das die Argumente nach den jeweiligen Kate-
19 Ähnlich- bis gleichlautende Behauptungen finden sich auch in den religionsphilosophischen Kollegien von 1821, 1827 und 1831 sowie in den Gottesbeweisvorlesungen. Vgl. VPR 3, S. 308 f.; VPR 5, S. 5, 271, 279; und GVL, GW 18, S. 270; zu Hegels Einteilung im Allgemeinen vgl. auch T 1977, S. 212 f. und H 2011, S. 418 f. 20 Vgl. STh I. qu. 2. a.2co und die Erläuterungen in MD 1993, S. 175 f. und S/H 22003, S. 128 f. 21 Im Kolleg von 1827 macht Hegel deshalb deutlich, dass für das OA die Kategorienopposition ,subjektiv-objektiv‘ entscheidend ist. Vgl. VPR 3, S. 308 f.
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell
351
gorien differenziert, die in den Ausgangsprämissen näher beleuchtet werden. Dementsprechend reflektieren etwa Formen des KA auf die inferentiellen Zusammenhänge zwischen Endlichem bzw. Kontingentem und dem metaphysisch Notwendigen, Formen des TA hingegen auf diejenigen zwischen endlichen Zwecken und Endzwecken bzw. deren Ermöglichung in der ,Weisheit‘ des Absoluten. Ein solches Verfahren ist in hegelscher Perspektive nur konsequent, da für ihn Gottesbeweise das schon gebildete, implizite kategoriale Wissen lediglich in eine gültige syllogistische Form umzuwandeln versuchen. Das KA und das TA machen in diesem Sinne explizit, dass vertikale inferentielle Beziehungen zwischen den kategorialen Bestimmungen kontingenter Entitäten, die sich u.U. ziel- und zweckgerichtet verhalten, und den ,metaphysischen Begriffen‘22 bestehen, die das Absolute in einer bestimmten konzeptuellen Perspektive betrachten und darin seine Natur erfassen.23 Zudem ist Hegels Systematisierung sensibler gegenüber spezifischen Formulierungen der Beweise. Genau genommen ist er der Überzeugung, dass sich auf jeder Stufe des Kategoriensystems, das Hegel in der WdL rekonstruiert, solche vertikalen Beziehungen finden und entsprechend in einen möglichen Beweis umformulieren lassen.24 In den Gottesbeweisvorlesungen heißt es entsprechend: Diesen Fortgang der Begriffsbestimmung entwickelt die Logik in seiner Nothwendigkeit; jede Stufe, die er durchläuft, enthält insofern die Erhebung einer Kategorie der Endlichkeit in ihre Unendlichkeit; sie enthält also ebenso sehr von ihrem Ausgangspunkte aus einen metaphysischen Begriff von Gott, und indem diese Erhebung in ihrer Nothwendigkeit gefaßt ist, einen Beweis seines Seyns (GVL, GW 18, S. 278).25
Da Hegel keine genauere Aussage darüber macht, ob die Anwendbarkeit der Kategorien auf bestimmte Gegenstandsbereiche beschränkt sein müssen, vermeidet er zugleich alle Probleme die mit Kants Kriterium (ii) verbunden sind. Wie
22
Vgl. zu dieser Bezeichnung vgl. VPR 3, S. 56 f.; GVL, GW 18, S. 278 und oben II.2.3. Zu den vertikalen Beziehungen zwischen den beiden Arten kategorialer Bestimmungen vgl. ferner u.a. Enz. § 50, GW 20, S. 86f; Enz. § 552A, GW 20, S. 530 und GVL, GW 18, S. 274 und 278. 24 Vgl. VPR 3, S. 318. Vgl. zu diesem Problemkomplex ferner P 2017, der bei seiner Verhältnisbestimmung von philosophischer Theologie und Logik bei Hegel zur konträren Schlussfolgerung kommt, dass im Rahmen der WdL die Wahrheit von Meinungen über die Existenz Gottes offen gelassen (vgl. ebd., S. 406) bzw. unter bestimmten Beschreibungen – wie etwa Gott als Seiendes oder als existierende Person – explizit verneint wird (vgl. ebd., S. 405f). 25 Für Hegel sind daher auch Beweise denkbar, die vom Seienden aufs „Seyn selbst“ (vgl. GVL, GW 18, S. 277), vom Vielen aufs Eine (vgl. VPR 4, S. 6 f. und GVL, GW 18, S. 269) und vom Verursachten auf eine letzte Ursache bzw. eine „Causa sui“ (ebd., S. 312) schließen. Darüber hinaus scheinen die möglichen inferentiellen Übergänge nicht einmal auf die Kategorien der WdL eingeschränkt zu sein. Im Kolleg von 1827 erwähnt er etwa einen Schluss von der Existenz „endliche[r] Geister“ zum „absolute[n], unendliche[n] Geist“ (VPR 3, S. 322; vgl. VPR 4, S. 110), der zwischen dem TA und dem OA vermitteln soll. Vgl. hierzu auch H 2011, S. 423. 23
352
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
leistungsfähig Hegels kategorientheoretische Systematisierung ist, lässt sich paradigmatisch am TA zeigen. Während Kant bspw. zwar zwischen ,innerer‘ und ,äußerer Zweckmäßigkeit‘ unterscheidet, in der konkreten Modellierung diese Unterschiede aber wieder verwischt,26 kann Hegel nicht nur strengere Grenzlinien zwischen Artefakten und Lebewesen ziehen und auf dieser Basis die entsprechenden TA unterscheiden.27 Darüber hinaus zeigt seine Naturphilosophie zusammen mit seiner Kritik an der mechanistischen Reduktion teleologischer Kategorien, dass die Zweckmäßigkeit des Verhaltens von Individuen je nach Existenz- und Lebensform binnendifferenziert werden muss.28 Und da Hegel zudem, wie wir in II.3.3 gesehen haben, eine Rechtfertigung der Rede von Endzwecken formuliert, wird man den Teleologie-Diskurs mit Hegel auch nicht auf lokale Phänomene einschränken müssen. Neben der Feingliedrigkeit unterscheidet sich Hegel aber von der kantischen und der aristotelisch-scholastischen Einteilung noch in einer weiteren Hinsicht. Denn in der oben zitierten Stelle aus dem Kolleg von 1824 gibt er klar zu verstehen, dass ein System der Gottesbeweise nicht nur die Prämissen und Schlussformen verschiedener historischer Formulierungen der Gottesbeweise aufgreifen muss. Es muss vielmehr möglichst alle Schlussformen als systematisch notwendig und damit die Einheitlichkeit ihres Gesamtzusammenhangs ausweisen können.29 Mit dieser These meint Hegel genauer, dass jede der beiden Hauptklassen der Gottesbeweise für sich genommen ,einseitig‘ sind und daher jeweils der Ergänzung durch die je andere bedürfen.30 Entsprechend heißt es im Anschluss an die oben zitierte Passage: Sowohl der Begriff als auch das Sein, Dasein, die Welt, das Endliche – beides sind einseitige Bestimmungen, und nur in der Idee ist ihre Wahrheit, d. h. daß sie beide sind als Gesetzte; keins von beiden muß nur die Bestimmung haben, ein Anfangendes, Ursprüngliches zu bleiben, sondern muß sich darstellen als übergehend ins Andere, d. h. muß als Gesetztes sein. (VPR 5, S. 110)31
26
Vgl. oben II.3.2. Vgl. II.3.2. Daraus ergibt sich auch ein klares Abgrenzungskriterium von design arguments im Stil von W. Paley von vormodernen Fassungen des TA. 28 Damit verfügt Hegels Ansatz auch über Kategorien, um etwa ganz spezifische Argumente einordnen können, wie bspw. J. Haldanes TA aus der Tatsache reproduktionsfähigen und rationalen Lebens. Vgl. S/H 22003, S. 90–109 und 223–232. Bei der Frage bzgl. der Teleologie im Verhalten anorganischer Individuen müsste man hingegen zunächst entscheiden, was genau aus Hegels Kritik am mechanistischen Weltbild folgt. Vgl. dazu II.3.3 und K 2015, S. 52. Aus beiden Überlegungen folgt nicht, dass Hegel diese Argumente insgesamt positiv bewerten würde. Aber es zeigt, dass seine Systematisierungskriterien deutlich flexibler sind als die kantischen. 29 Nach H. Tegtmeyer lässt sich ein analoger systematischer Zusammenhang auch in Thomas’ fünf Beweiswegen nachweisen. Vgl. T 2013, S. 231–235. 30 Zur Einseitigkeit als Motor der Entwicklung des Systems vgl. auch GVL, GW 18, S. 273. 31 Vgl. auch die parallele Stelle im Manuskript in VPR 5, S. 7. 27
4.1 Kants Einteilung der Gottesbeweise und Hegels Gegenmodell
353
Mit Einseitigkeit kann Hegel nun nicht meinen, dass die einzelnen inferentiellen Übergänge in den jeweiligen Kategorienpaaren für sich genommen falsche Prämissen oder ungültige Schlüsse enthalten, die dann durch die Ergänzung der jeweils anderen behoben werden. Falschheit und formale Inkorrektheit verschwindet ja nicht einfach durch deren Multiplikation. Der Blick auf die bislang diskutierten Gottesbeweise legt vielmehr eine andere Interpretation nahe, die zugleich den modalen Aspekt der Notwendigkeit in der Systematisierung verdeutlicht. Mit Einseitigkeit scheint Hegel nämlich zu meinen, dass jeweiligen Kategorientypen zwar sowohl den Begriff des Absoluten als auch dessen Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit korrekt beschreiben. Indem sie aber für sich genommen eine genau umrissene konzeptuelle Perspektive auf einige Aspekte und Bestimmungen des Absoluten eröffnen, müssen sie jeweils durch andere Formen der Begründung erweitert und ergänzt werden.32 Damit ist in hegelscher Perspektive nicht gemeint, dass man mit Blick auf die Gottesbeweistradition empirisch feststellt, dass bspw. das Absolute nicht nur unendlich sein, sondern auch mit absoluter Notwendigkeit existieren muss und daher die entsprechenden Beziehungen zur kontingenten Wirklichkeit bestehen. Der Übergang von einer Begründungsform zur anderen besteht vielmehr darin, dass die logisch spätere Form genau das expliziert oder, in Hegels Worten, ,setzt‘, was in der logisch früheren Form schon implizit enthalten ist und worauf man sich daher begrifflich festlegen muss, wenn man diese Kategorien korrekt gebraucht.33 In diesem Sinne hatte sich in Abschnitt II.2.5 gezeigt, dass für Hegel die identitätskonstitutive Abhängigkeit vom ,Endlichen‘ zum ,wahrhaft Unendlichen‘ eine intrinsisch modale Komponente hat, die dann in der Entgegensetzung des ,Kontingenten‘ mit dem ,absolut Notwendigen‘ explizit gemacht werden muss. Das in beiden Hinsichten resultierende Abhängigkeitsverhältnis meinte Hegel dann, wie in Abschnitt II.3.2 dargelegt wurde, als eine Form der Selbstbestimmung des Absoluten verstehen zu können, dessen angemessene Explikation wiederum die Kategorie des ,Zwecks‘ und der ,metaphysische Begriff‘ der ,Weisheit‘ darstellt. Letzteres Beispiel ist besonders instruktiv. Denn es zeigt, dass nicht nur jeweils vertikale Beziehungen zwischen Kategorienpaaren, sondern zugleich horizontale inferentielle Relationen zwischen den jeweils eingesehenen Bestimmungen des Absoluten bestehen. Hegel meint daher folgern zu können, dass eine vollständig 32 In diesem Sinne wird in einer genauen Explikation und Ergänzung der jeweiligen Stufen die systematische „Totalität“ der Bestimmungen allererst entwickelt: „Ohne aber diese Totalität und deren Forderung vorauszusetzen, wird aus dem Resultate der einen Bewegung, und da wir anfangen, können wir nur einseitig von der einen anfangen, es sich ergeben, daß sie sich selbst, durch ihre dialektische Natur zu der anderen hinübertreibt, aus sich zu dieser Vervollständigung übergeht.“ (GVL, GW 18, S. 273) Vgl. zur systematischen Interdependenz der Gottesbeweise bei Hegel auch H 2011, S. 424–426. 33 Im Anschluss an W. Sellars’ und R. Brandoms Terminologie könnte man die begriffliche Entwicklung auch als Explikation der materialen Inferenzen der kategorialen Ausdrücke verstehen, auf die man sich im regelgeleiteten Gebrauch verpflichtet. Vgl. zu dieser Terminologie S. 232 Fn. 262.
354
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
durchgeführte kategorientheoretische Interpretation aller möglicher Gottesbeweistypen im Rahmen einer ,Wissenschaft der Logik‘ zugleich das System der Bestimmungen des Absoluten oder des ,absoluten Begriffs‘34 als Ganzes erschließen könne. Über die unterschiedlichen Explikationsstufen der Logik heißt es daher in den Gottesbeweisvorlesungen: [E]benso führt sich das Uebergehen der einen Stufe in ihre höhere durch, als ein nothwendiger Fortgang des konkretern und tiefern Bestimmens, nicht nur als eine Reihe zufällig aufgelesener Begriffe, – und ein Fortgang zur ganz konkreten Wahrheit, zur vollkommenen Manifestation des Begriffs, zu der Ausgleichung jener seiner Manifestationen mit ihm selbst. Die Logik ist insofern die metaphysische Theologie, welche die Evolution der Idee Gottes in dem Aether des reinen Gedankens betrachtet, so daß sie eigentlich derselben, die an und für sich schlechthin selbstständig ist, nur zusieht. (GVL, GW 18, S. 278)35
Daher besteht ein Nachweis der ,Notwendigkeit‘ der verschiedenen Schlussformen nicht nur darin, dass sie sich innerhalb eines Systems in ihrem kategorialen Gehalt gegenseitig ergänzen. Setzt man mit Hegel voraus, dass es keine kategoriale Bestimmung gibt, die nicht in irgendeiner Hinsicht als Moment des Absoluten selbst verstanden werden kann, eröffnet die jeweilige Fortbestimmung damit eine Perspektive auf die Selbstbestimmung und -explikation des Absoluten.36 Diese komplexen systematischen Zusammenhänge können und müssen nach Hegel im Rahmen einer Kategorienlehre entfaltet werden, die die Einheitlichkeit, Alternativlosigkeit und Notwendigkeit des Kategoriensystems entwickelt. Wie sich in den Detailinterpretationen der Gottesbeweise gezeigt hat, geht Hegel dabei noch weiter. Denn er glaubt, dass die historischen Gottesbeweise und die ihnen zugrundeliegenden religiösen Begründungsformen die wichtigsten Stufen und deren Vollständigkeit ausdrücken.37 Die Bildung eines Systems der
34 Vgl. Enz. § 160–162, GW 20, S. 177 f. und WdL I/1, GW 21, S. 17. In den Gottesbeweisvorlesungen erörtert Hegel daher die allgemeine Struktur Gottes als ,absoluter Begriff‘, bevor er auf die Details seiner Systematisierung der Gottesbeweise. Vgl. insbesondere die Ausführungen in GVL, GW 18, S. 262 f. 35 Vgl. zur letzteren Aussage auch Enz. § 85, GW 20, S. 121 f. Eine instruktive allgemeine Erläuterung des Verhältnisses von Logik und Theologie bei Hegel gibt H. G. Melichar in M 2020, S. 221–227. 36 Die Hotho-Nachschrift des Kollegs von 1824 nennt das Absolute daher prägnant „die ganze Totalität der sich durch sich und aus sich entwickelnden Gedankenbestimmungen.“ (VPR 3, S. 36 Fn.) 37 Schon im Fragment bemerkt Hegel, dass die „Vernunft“ von sich aus und unbewusst zur Vervollständigung der aposteriorischen Begründungsformen durch das OA strebt: „Das Bedürfniß der Vernunft treibt jedoch von Innen heraus, gleichsam bewußtlos, zu dieser Berücksichtigung. Es giebt sich eben in dem angeführten Umstande kund, daß sogenannte mehrere Beweise vom Daseyn Gottes gesucht worden sind, deren die einen den einen der oben angegebenen Sätze zur Grundlage haben, den nämlich, worin das Seyn das Subjekt, das Vorausgesetzte ist, und das Unendliche die durch Vermittelung in ihm gesetzte Bestimmung, und dann den anderen, umgekehrten, wodurch jenem ersten die Einseitigkeit genommen wird.“ (GW 18, S. 330 f.)
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
355
Gottesbeweise stellt daher nicht nur eine Art Propädeutik für das Projekt einer ,Wissenschaft der Logik‘. Es ist zugleich Hegels wichtigstes Instrument zur Ordnung aller religiösen Begründungsformen und damit der Entwicklung des religiösen Bewusstseins selbst.38 Die Vielzahl der Gottesbeweise ist daher für Hegel keineswegs – wie etwa für Kant– ein Zeichen der prinzipiellen Defizienz von Gottesbeweisen als solchen.39 Sie sind vielmehr Ausdruck einer fortwährenden und nach Hegel inhaltlich korrekten Reflexion auf das Wesen des Absoluten und dessen Beziehung zu kontingenten und endlichen Entitäten.
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments Hegels Überlegungen zur Systematisierung klassischer Beweisformen geben einen ersten Einblick in die Stellung und die Struktur des OA, das bislang noch nicht zur Sprache kam. Dabei zeigen schon Hegels Einteilungskriterien, dass es durch seine eigentümliche Schlussform nicht in vollständiger Kontinuität zum KA und zum TA stehen kann. Denn das OA soll sich schon der Art nach dadurch unterscheiden, dass es gewissermaßen die Schlussrichtung der aposteriorischen Argumente umkehrt.40 Kein System der Gottesbeweise kann daher nach Hegel Vollständigkeit beanspruchen, wenn es das OA ausblendet – wie umgekehrt dieses in gewisser Weise das KA und das TA zu seiner Ergänzung bedarf. In diesem Abschnitt soll daher ein genauerer Blick auf Hegels Einordnung des OA geworfen werden.41 Wie wir schon gesehen haben, hatte Hegel die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung der Schlussformen und ihrer konstitutiven Bestimmungen im Kolleg von 1824 knapp so begründet:
38
Den Details dieser These werde ich in Kap. III.4 nachgehen. Vgl. etwa Kants kritischen Verdacht gegen die Vielheit der Gottesbeweise in KrV A 788 f./B 816 f. und die geradezu diametral entgegengesetzte Behauptung in GVL, GW 18, S. 267. 40 P.C. Hodgson spricht daher auch prägnant vom „speculative reversal“ (H 2011, S. 425) im System der Gottesbeweise. Vgl. ebd., S. 424–426. 41 Eine vollständige Analyse von Hegels Interpretation des OA kann hier nicht geleistet werden, denn das würde ein eigenes Buch erfordern. Stattdessen konzentriere ich mich zum einen auf die Rolle des OA im System der Gottesbeweise und zum anderen auf dessen spezifisch religionsphilosophische Signifikanz. Eine gute Übersicht über alle Stufen von Hegels Umgang mit dem OA findet sich in R 1987, Kap 16; eine systematische Rekonstruktion aller Feinheiten und Details von Hegels Analyse des OA im Rahmen der WdL entwickelt die neuere Monographie M 2020. Auf weitere Literatur werde ich im Laufe des Kapitelabschnitts eingehen. 39
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
Sowohl der Begriff als auch das Sein, Dasein, die Welt, das Endliche – beides sind einseitige Bestimmungen, und nur in der Idee ist ihre Wahrheit, d. h. daß sie beide sind als Gesetzte; keins von beiden muß nur die Bestimmung haben, ein Anfangendes, Ursprüngliches zu bleiben, sondern muß sich darstellen als übergehend ins Andere, d. h. muß als Gesetztes sein. (VPR 5, S. 110)
Trotz ihrer Suggestionskraft bereiten diese Aussagen aber mehrere Verständnisschwierigkeiten, die zugleich die Einordnung des OA in Hegels allgemeine Religionsepistemologie betreffen. Konkret drängen sich hier drei Problemfelder auf: (A) Zunächst scheint schon die Formulierung der spezifischen Schlussform des OA ambig, da sie nicht genauer differenziert, von welchem ,Sein‘ hier die Rede ist, das durch den ,Begriff‘ oder das Wesen Gottes erschlossen werden kann. Die natürlichste Lesart besteht sicherlich in der Behauptung, dass das OA im Ausgang von unserem Begriff von Gott auf seine, von uns unabhängige Existenz schließt. Wählt man aber diese Lesart scheint die Diskontinuität zu den übrigen Gottesbeweisen zu groß zu sein. Denn deren Ausgangspunkt sollte gerade die nicht-göttliche, kontingente und endliche Wirklichkeit sein. Versteht man das ,Sein‘ hingegen, um die Symmetrie der beiden Schlussformen zu wahren, im Sinne der aposteriorischen Gottesbeweise, bekommt man – neben anderen Problemen –Schwierigkeiten bei der Identifikation mit historischen Formen des OA, bspw. bei Anselm, Descartes und Leibniz. (B) Gleichzeitig bleibt undeutlich, inwiefern Hegel in seiner Interpretation des OA noch seiner programmatischen These gerecht werden kann, Gottesbeweise drückten Formen und Begründungen des religiösen Denkens aus. Während diese These für das KA und das TA wegen ihres Ausgangs von der natürlichen Erfahrungswelt wenigstens eine gewisse Anfangsplausibilität besitzt, scheint sie in der Anwendung auf das OA prima facie schlicht absurd. Denn inwiefern sollte ein so künstliches Argument, das bei manchen unweigerlich den Eindruck eines logischen Taschenspielertricks erweckt, die syllogistische Fassung einer natürlichen und religiösen Einsicht sein? (C) Schließlich ist bislang noch unklar, wie Hegel seiner weiteren Vorgabe gerecht wird, die Gottesbeweise inhaltlich gegen Kants Kritik zu verteidigen. Beim OA stellt sich dieses Problem gerade im verschärften Maße, da in Kants Selbstverständnis gerade hier der Höhepunkt seiner ganzen Widerlegungsstrategie erreicht werden soll.
Im Folgenden will ich mich ausführlicher den ersten beiden Problemen widmen, um dann auf die Frage einzugehen, ob deren Lösung etwas zum Verständnis von Hegels Kant-Kritik beitragen kann. Ad (A): Der Gottesbegriff des ontologischen Arguments und die ,Objektivität‘ der ,absoluten Idee‘ Das o.g. erste Problem deutet auf eine Zweideutigkeit in Hegels Verwendung des Seinsbegriffes hin, dessen Disambiguierung entweder die systematischen Zusammenhänge der Schlussformen zu gefährden oder eine Engführung mit tatsächlichen Formulierungen des OA unmöglich zu machen scheint. In hegelscher Perspektive wäre hierauf sicherlich direkt zu sagen, dass es auf einer falschen Dichotomie beruht, die das Verständnis der Existenzform Gottes zu scharf von der kontingenten Wirklichkeit abtrennt. Entsprechend findet sich in Hegels Texten
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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eine dritte Deutungsoption, die beide Seinsbegriffe gewissermaßen zu einer Einheit bringt und von dort her gesehen den leitenden Begriff des Absoluten erhellt, der für das OA charakteristisch ist.42 Um zu verstehen, was damit gemeint ist, lohnt es sich, einen Blick auf eine für Hegel charakteristische Rekonstruktion von Anselms OA zu werfen,43 das für ihn dessen grundlegende Intuitionen am besten zum Ausdruck bringt: Zur Vorstellung von Gott gehört, daß er absolut vollkommen sei, (ein sehr unbestimmter Ausdruck). Das, können wir so allgemein sagen, das ist ganz richtig. Halten wir nun Gott nur als die Vorstellung fest, so ist das, was nur vorgestellt ist, ein Mangelhaftes, nicht das Vollkommenste. Denn das Vollkommene ist das, was nicht nur vorgestellt ist, sondern auch ist, wirklich ist. Also ist Gott, da er das Vollkommene ist, nicht nur Vorstellung, sondern es kommt ihm auch die Wirklichkeit, Realität zu. (VPR 3, S. 324)44
Anders als in heutigen Rekonstruktionen bemüht sich Hegel kaum, auf die Feinheiten und Probleme von Anselms Gedankengang in Pros. 2 einzugehen.45 Mehr oder weniger zu erkennen sind aber zum einen Anselms Kennzeichnung Gottes als id quod maius cogitari non possit und zum anderen seine Kernprämisse, dass im Intellekt und in der Wirklichkeit zu existieren im Falle Gottes wertvoller und besser ist, als nur im Intellekt zu existieren.46 Hegels Rekonstruktion mag zwar zeigen, dass er ungefähr weiß, wovon er spricht.47 Problem (A) sollte aber darauf hinweisen, dass der Rückgriff auf das 42 Zum Problem der Seinsbegriffe in den Gottesbeweisen im Allgemeinen und im OA im Besonderen vgl. auch H 2011, S. 417 und M 2020, S. 399–407. 43 In der langen Anmerkung zum OA in Enz. § 193A, GW 20, S. 202 f. geht Hegel auch auf die Versionen von Descartes und Spinoza ein. Vgl. auch die Fußnote zu Enz. § 76 in GW 20, S. 115 f. Interessanterweise übergeht Hegel fast vollständig das von Leibniz herstammende modale OA, das heutigen Debatten mit am ausgiebigsten diskutiert wird. Eine mehr oder weniger direkte Erwähnung findet sich aber in VPR 5, S. 9 und zudem diskutiert Hegel die Analyse der Gottesattribute, wie sie in der leibnizianischen Tradition für den Möglichkeitsbeweis vorgelegt wurden. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 99–101. 44 Ähnliche Reformulierungen finden sich auch in den anderen religionsphilosophischen Kollegien. Vgl. VPR 5, S. 8 f., 114 und 272. 45 Vgl. etwa die Rekonstruktionen in L 2005a, S. 80–84; G 2009, S. 110 f.; L 2013a; T 2015, S. 222–226; und O 2019, Sec. 9. 46 Vgl. Pros. Kap. 2, S. 84 f. Eventuelle meinongianische Untertöne kann man im Übrigen vermeiden, indem man mit B. Leftow Anselms Kernprämissen im Rahmen einer freien Logik ohne ontologische Verpflichtungen rekonstruiert. Vgl. L 2005a, S. 84 f. 47 Die Kernprämisse und die daraus folgende Zwischenkonklusion des anselmianischen OA aus Pros. Kap. 2 führt Hegel etwa in Enz. § 193A an: Si enim vel in solo intellectu est, potest cogitari esse et in re: quod majus est. (zit. nach Enz. § 193A, GW 20, S. 202; Fettdruck im Original, W.L.) Hegels Wiedergabe dieser Prämisse im Kolleg von 1827 ist demgegenüber allerdings unscharf: „Denn das Vollkommene ist das, was nicht nur vorgestellt ist, sondern auch ist, wirklich ist.“ (VPR 3, S. 324) Genau genommen formuliert sie schon das als QuasiDefinition, was durch Anselms axiologische Prämisse allererst begründet werden soll – dass nämlich Gottes Existenz in re einen höheren Wert realisieren muss als denjenigen, der der Existenz Gottes in solo intellectu zukommen würde, und Gott daher nicht eine bloße ,Vorstellung‘ sein kann.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
anselmianische OA es unverständlich macht, inwiefern dieses in den aposteriorischen Gottesbeweisen vorbereitet wird. Denn Hegels Systemgedanke erfordert es geradezu, dass diejenigen kategorialen Bestimmungen der endlichen Wirklichkeit und des Absoluten, auf die man sich in logisch früheren Begründungsformen inferentiell festlegt, in den logisch späteren als solche thematisch werden. Warum und inwiefern sollte also das OA das explizit machen, was im KA und TA noch nicht zur vollen Geltung gebracht ist? Ein Hinweis steckt in Hegels Bemerkung, die Aussage, Gott sei „absolut vollkommen“ sei zwar „ganz richtig“, aber zugleich ein „sehr unbestimmter Ausdruck“ (ebd.). Beide Teilgedanken sind m.E. hier entscheidend. Denn obwohl der Gedanke ,absoluter Vollkommenheit‘ im Rahmen des Arguments selbst noch interpretationsbedürftig ist, bestätigt und rechtfertigt für Hegel eine gelingende und methodisch kontrollierte Begriffsentwicklung die Intuitionen, die mit dieser Bestimmung verbunden sind. In den Kollegien von 1821 und 1824 formuliert Hegel daher sogar die starke Behauptung, dass, wenn es überhaupt eine Vorannahme geben könne, von der man in einem Argument ausgehen dürfe, es diese sei.48 Um einen ersten Einblick in den besonderen Gehalt des OA zu gewinnen, könnte man daher rückfragen, wie und in welchen Kontexten evaluative Terme für Hegel genau gebraucht werden. Schon in Abschnitt I.2.1 hatten wir gesehen, dass echte Bewertungen eine bestimmte Entität mit ihrer je spezifischen Identität bzw. ihrem ,Begriff‘ in Beziehung setzen, der die relevanten Korrektheitsstandards formuliert. Diese allgemeine These steht deutlich im Hintergrund der obigen Aussagen. So heißt es etwa in der Diskussion des OA in der Enzyklopädie, dass sich die unvollkommenen „endlichen Dinge“ gerade auszeichnen, „daß ihre Objectivität mit dem Gedanken derselben, d.i. ihrer allgemeinen Bestimmung, ihrer Gattung und ihrem Zweck nicht in Uebereinstimmung ist.“ (Enz. § 193A, GW 20, S. 202)49 Und da diese Defizienz gerade für Gott entfallen soll, folgt im Umkehrschluss, dass sein Wesen gerade in der „Einheit des Begriffs und Seins“ besteht, was für Hegel geradezu gleichbedeutend mit seiner „absoluten Wahrheit“ (VPR 5, S. 11) ist.50 Denn die ontologische Wahrheit einer Entität soll darin bestehen, dass sie in der vollständigen Deckungsgleichheit mit dem eigenen normativen Maßstab das zum Ausdruck bringt, was sie wirklich bzw. ,wahrhaft‘ ist.51 48 „W , V machen, so diese […].“ (VPR 5, S. 9) Im Kolleg von 1824 heißt analog: „Dies ist ganz richtig und eine Voraussetzung, die aller Philosophie zum Grunde liegt.“ (VPR 5, S. 114) 49 Vgl. WdL II, GW 12, S. 175. 50 Vgl. auch VPR 5, S. 116. 51 Vgl. oben Abschn. I.2.1 und zu Hegels ontologischem Wahrheitsbegriff im allgemeinen H 2002, S. 189–195. Im Falle des OA könnte man sagen, dass Gott diesen seinen Maßstab unter keinen Umständen verfehlen kann – und zwar weil er aufgrund seiner Einfachheit mit seiner Natur identisch ist. Vgl. Pros. Kap. 12, S. 104 f. und zum normativen Aspekt absoluter Einfachheit bes. L 2006.
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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Nun schimmert zwar schon in der synonymen Verwendung von ,absoluter Vollkommenheit‘ und ,absoluter Wahrheit‘ der für Hegel relevante Begriff des Absoluten hindurch, nämlich sein Begriff der ,Idee‘.52 Ein Kritiker könnte hier aber sofort einwenden, dass mit diesen begrifflichen Engführungen der Gedanke absoluter Vollkommenheit noch viel klärungsbedürftiger wird. Denn in diesem Falle müsste man nicht nur den relevanten Maßstab in Form des ,absoluten Begriffs‘ formulieren können, der für eine Entität gilt, die diesen in allen Hinsichten und unter allen möglichen Umständen erfüllt. Man müsste auch sagen können, was dies für die Form der Existenz dieser Entität bedeutet, durch die sie ihren je eigenen normativen Vorgaben vollständig genügt. Kurz: Der Begriff der ,Vollkommenheit‘ und ,Wahrheit‘ wirft genau die Frage nach dem relevanten Seinsbegriff des OA auf, die er eigentlich beantworten sollte. Einen konkreten Hinweis, wie Hegel beide Fragen klärt, findet sich an einer Stelle der Diskussion des OA im Kolleg von 1827. Dort identifiziert Hegel Gottes Natur mit dem ,absoluten Begriff‘ und schreibt: „Der Begriff ist diese Totalität, die Bewegung, der Prozeß, sich zu objektivieren. Der Begriff, bloß als solcher, verschieden vom Sein, ist ein bloß Subjektives; das ist ein Mangel.“ (VPR 3, S. 327)53 Diese Bemerkung enthält diejenige inhaltliche Fortbestimmung des Seinsbegriffs, die in Hegels Sinne für eine Klärung des Ausgangsproblems ausreichen muss. Unter ,Objektivität‘ versteht Hegel zunächst diejenige (anorganische) Wirklichkeit endlicher und kontingenter Individuen, die ihrem Wesen nach schon begrifflich strukturiert sein muss und in diesem Sinne von sich aus auf Individuen verweist, die in der Lage sind, Zwecke und Ziele in der Welt zu verfolgen.54 Von hier aus werden daher die Beziehungen des OA zum KA und besonders zum TA etwas transparenter. Denn, wie sich in Abschnitt II.3.3 gezeigt hat, beruht das TA nach Hegel auf der Überzeugung, dass eine vollständig mechanistische Auffassung der Wirklichkeit unmöglich ist, da selbst die Form der Existenz und das Verhalten anorganischer Individuen jeweils von ihrem Artbegriff her erklärt werden muss. Und dies lässt sich nach Hegel wiederum als eine Konsequenz der tieferliegenden Einsicht deuten, dass die teleologische Ordnung der natürlichen Wirklichkeit vom Wesen und der Struktur des Absoluten her verstanden werden muss. In 52 „Die Idee ist der adäquate Begriff, das objective Wahre oder das Wahre als solches. Wenn irgend Etwas Wahrheit hat, hat es sie durch seine Idee, oder Etwas hat nur Wahrheit, insofern es Idee ist.“ (WdL II, GW 12, S. 173; vgl. auch Enz. § 213, GW 20, S. 215) Hegels synonyme Verwendung der Begriffe ,Wahrheit‘, ,Vollkommenheit und ,Idee‘‘ erlauben zudem direkte Engführungen mit dem scholastischen Begriff der ontologischen Wahrheit, wie man ihn auch in Anselms De Veritate findet. Vgl. hierzu etwa A 1985. Auf den traditionellen Hintergrund von Hegels Wahrheitsbegriff weisen auch L. Siep und R. Stern hin. Vgl. S 2009, S. 79 f. und S 2018, S. 661. 53 Vgl. die parallelen Passagen u.a. im Manuskript in VPR 5, S. 7. 54 Vgl. die Überlegungen oben in II.3.3. In der Einleitung in das Objektivitätskapitel der WdL betont Hegel daher den Vorrang des Objektivitätsbegriffs bzgl. des OA gegenüber den alternativen Begriffen des ,Seins‘, ,Daseins‘ und der ,Realität‘. Vgl. WdL II, GW 12, S. 128 f. und hierzu bes. M 2020, S. 399–402.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
dieser Hinsicht würde also das OA lediglich die beiden Intuitionen in eine Argumentform übersetzen, in der man die Annahme von der Subjektabhängigkeit des Gottesgedankens als inkohärent ausweist.55 Obwohl diese Interpretation sicherlich einen richtigen Punkt trifft,56 scheint sie nur die halbe Wahrheit zu sein. Denn selbst wenn man von den Schwierigkeiten der Formulierungen absieht, wäre fraglich, warum die aposteriorischen Gottesbeweise überhaupt durch das OA fortentwickelt werden müssen. Hegels Systematisierung der Schlussformen sollte ja zeigen, dass der Fortschritt des OA in einer echten Einsicht in die Natur des Absoluten besteht, die im KA und TA gerade nicht geleistet wird. Zudem würde sich das Problem der Identifikation mit dem anselmianischen OA von neuem stellen: Denn wenn in ihm nur die begriffliche und teleologische Gesamtordnung der natürlichen Wirklichkeit durch das Absolute erklärt werden soll, dann scheint man damit schlicht das Thema gewechselt zu haben. Entsprechend hat etwa V. Hösle eingewandt, Hegels Aussagen zum OA zielten mehr auf eine versteckte Schöpfungslehre als auf eine Rekonstruktion von Anselms Argument.57 Soweit ich sehen kann, müssten mögliche Antworten auf diese berechtigten Anfragen in Hegels Sinne auf denselben Sachverhalt abzielen. Denn zum einen gibt er deutlich zu verstehen, dass das KA und das TA den Begriff des Absoluten einseitig formulieren, der dann mit Anselms Kennzeichnung vollständig zum Ausdruck gebracht werden kann. In dieser Hinsicht sind die aposteriorischen Begründungsformen auf das OA angewiesen. Damit aber umgekehrt die Konklusion des OA überhaupt als akzeptabel erscheinen kann, muss der zugrunde liegende Gottesbegriff zum Inhalt einer Erkenntnis werden können.58 Und dies setzt für Hegel zum anderen die Einsicht in Aussagen über die möglichen Beziehungen zwischen dem Absoluten und der Welt voraus, die wiederum in den logisch früheren Begründungsformen thematisch waren. Demnach müssten sich beide Fragen durch einen genaueren Abgleich der Beweisziele und der Gottesbegriffe des TA und des OA erledigen lassen. Schon oben wurde angedeutet, dass die Erklärungsreichweite des TA insgesamt beschränkt ist. Zwar weist Hegel bisweilen darauf hin, dass schon das TA gewissermaßen offenlege, worin die „Wahrheit des Mechanismus“ (WdL II, GW 12, S. 155) eigentlich besteht – nämlich in seinem Bezug auf das ziel- und zweckgerichtete Verhalten lebendiger In55 Diese Interpretationslinie entwickelt H.G. Melichar, der das OA instruktiv als einen negativen Beweis für die begriffliche Struktur der einer scheinbar zweckfreien natürlichen Wirklichkeit und damit für Präsenz des Absoluten in der Welt versteht. Vgl. ebd., S. 523–532. 56 Sie stimmt zumindest mit der Tatsache überein, dass Hegel das OA in beiden Logiken mit am ausführlichsten am Anfang des Objektivitätskapitels diskutiert. Vgl. WdL II, GW 12, S. 127–130; Enz. § 193A, GW 20, S. 201–204; und hierzu auch M 2018, S. 591–596. 57 Vgl. H 1987, Band 1, S. 242 Fn. 165. 58 Auch hierfür gibt es nach Hegel weitere Bedingungen, die in den Kontexten, in denen das KA und TA akzeptabel sein kann, noch nicht erfüllt sind. Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, bestehen sie in einer bestimmten Selbstauffassung erkenntnisfähiger Lebewesen, die diese im Rahmen ihrer Verhältnisbestimmung zum Absoluten entwickeln.
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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dividuen.59 Dennoch weist das TA nach Hegel entscheidende Defizienzen auf. Dies hatte sich zum einen im Schluss auf die ,Weltseele‘ gezeigt, der nach Hegel nicht beanspruchen kann, die Natur des Absoluten vollständig zu erfassen.60 Zum anderen ist der Nachweis, dass es im robusten Sinne teleologische Prozesse und Gebilde gibt, höchstens eine Andeutung, aber keineswegs ein informatives Argument für die Aussage, die Ordnung und Zielrichtung der natürlichen Wirklichkeit sei ein Ausdruck des Absoluten selbst. Hegel versucht nun diese argumentative Lücke im Rahmen seiner ,Logik der Idee‘ zu schließen, die dann zu der letztgenannten Behauptung überleitet, die Hegel zu Beginn seiner Naturphilosophie entwickelt und die in Abschnitt II.3.3 rekonstruiert werden. Seine Überlegungen, die er auch in der Systematisierung der Gottesbeweise voraussetzt, sind zu umfangreich, um hier vollständig rekonstruiert zu werden. Stattdessen möchte ich umgekehrt nochmals vom Anfang der hegelschen Naturphilosophie ausgehen und von dort ausgehend fragen, wie der Begriff des Absoluten inhaltlich genau beschaffen sein muss, um Hegels Aussagen über dessen Verhältnis zur Natur einlösen zu können. Wir hatten oben gesehen, dass eine adäquate Konzeption des Absoluten zwei Sachverhalten zugleich gerecht werden muss. Zum einen darf das Ganze der natürlichen Wirklichkeit nicht als ein Gegenstandsbereich verstanden werden, der gleichsam außerhalb und getrennt vom Absoluten existieren und verstanden werden könnte. In diesem Sinne folgt für Hegel, dass die natürliche Wirklichkeit im Absoluten in einer Weise ,enthalten‘ sein muss,61 die er auch als Identitätsbeziehung beschreibt.62 Zum anderen hatte sich gezeigt, dass die Rede von ,Identität‘ insofern irreführend ist, als Hegel das Verhältnis zugleich asymmetrisch auffasst. Demnach soll sich das, was die Natur und der menschliche Geist in Wirklichkeit sind, vorrangig vom Absoluten her bestimmen und nicht umgekehrt. Dies erklärt sich dadurch, dass sie zwar ihrem Wesen nach das Absolute gewissermaßen selbst darstellt, in ihrer tatsächlichen Existenz aber diesem nicht gerecht wird. In der raumzeitlichen und kontingenten Wirklichkeit der Natur ,erscheint‘ daher nur, was sie in ihrer Tiefenstruktur wirklich ist.63 Daraus scheint im Umkehrschluss zu folgen, dass das ,Wesen‘ der Natur, das diese selbst zu verfehlen scheint, im Absoluten enthalten und ausgedrückt werden muss. In die59 Besonders deutlich wird dies etwa in Hegels Auseinandersetzung mit der oben in Abschn. II.3.3 ausführlich diskutierten Zufallshypothese in VPR 4, S. 602 f. 60 Vgl. die Diskussion in Abschn. II.3.2. 61 Nochmals in den Worten von L. Siep formuliert: „Wenn die Idee alle Realität umfasst, muss sie auch in der Natur als deren eigentliche Realität gefunden werden können.“ (S 2018, S. 749) Vgl. oben II.3.3 und zu den Konsequenzen für Hegels Geistbegriff, von dem gleich noch die Rede sein wird, auch T 1970, S. 123 f. und H 2013, S. 142–144. 62 Vgl. u.a. Enz. § 247, GW 20, S. 237 und zur Erläuterung oben II.3.3. 63 „Die Natur ist an sich, in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Seyn ihrem Begriffe nicht“ (Enz. § 248A, GW 20, S. 237). Zum Vokabular von ,Wesen und Erscheinung‘ vgl. auch W 2008, S. 29.
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sem Sinne muss man also diejenige Existenzform oder ,Objektivität‘ ausfindig machen, in der sich das Absolute – anders als in der Natur – vollständig mit den normativen Vorgaben seiner absoluten begrifflichen Struktur decken kann und muss.64 Den Aufbau des letzten Kapitels der Logik kann man nun so verstehen, dass Hegel darin die verschiedenen Optionen durchspielt, wie das Absolute seinem Begriff der ,Vollkommenheit‘ und ,Wahrheit‘ tatsächlich gerecht werden kann, das nach dem eben Gesagten zugleich die ,Wahrheit‘ und ,Vollkommenheit‘ von allem, was ist und sein kann, zum Ausdruck bringen muss.65 Die erste Theorieoption, die für Hegel in Frage kommt, wurde oben schon kurz genannt und besteht darin, das Absolute anhand des organischen Lebens zu modellieren. Die Gesamtheit aller anorganischen, organischen und geistbegabten Individuen wären dann im Wortsinne als körperliche Organe und Glieder eines Organismus höherer Stufe zu verstehen, der dann mit dem Absoluten gleichgesetzt werden müsste. Wie sich aber schon in Abschnitt II.3.2 gezeigt hat, ist es unter hegelschen Prämissen fraglich, ob die Zuschreibung organischen Lebens zum Absoluten überhaupt einen nicht-metaphorischen Sinn besitzen kann.66 Denn erstens würde es das Vollkommenheits- und Wahrheitskriterium gerade erfordern, einen informativen Art- oder Wesensbegriff formulieren zu können – analog zu den Lebensformen von Pflanzen, Tieren und Menschen.67 Ein organisches Individuum ist etwa (relativ) vollkommen, wenn es die ihm charakteristischen Funktionen und Tätigkeiten, die ihm zur Selbst- und Arterhaltung verhelfen, in seiner Interaktion mit der Umwelt ungehindert ausüben kann.68 Ein solcher Gedanke lässt sich aber 64 Auf den Übergang von der Schlusslogik zum Objektivitätskapitel kann ich hier im Einzelnen nicht eingehen. Vgl. WdL II, GW 12, S. 125 f. Grob gesprochen lässt er sich m.E. so verstehen, dass vor einer Klärung der begrifflichen Struktur der Wirklichkeit zunächst deutlich werden muss, dass die hier relevanten Artbegriffe ein System bilden, in dem sie Spezifikationen eines einzigen, ,absoluten Begriffs‘ darstellen, die man durch disjunktive Schlüsse vollständig artikulieren kann. Zu diesem Übergang vgl. auch die instruktive Interpretation von S 2020. 65 Freilich weiß man als Leser der WdL noch nicht, wie sich der Übergang zur Naturphilosophie genau vollzieht. Aber in Hegels Sinne müsste man den Argumentationsgang in beide Richtungen lesen können. 66 Diese Aussage schließt weder aus, dass die Natur als Ganze im metaphorischen Sinn als ein ,Lebewesen‘ verstanden werden kann, noch, dass das Absolute im wörtlichen, aber nichtbiologischen Sinne ,lebendig‘ sein kann. Ersteres gilt etwa für die hegelschen Aussagen über die teleologische und systematische Ordnung der Natur in Enz. § 251, die man am besten von Platon her versteht. Vgl. oben S. 342 Fn. 308. Letzteres könnte man mit Hegels weitem Begriff des ,Lebens‘ entwickeln. Danach besteht das „Leben als Seele“ im „Begriff seiner selbst, der in sich vollkommen bestimmt ist, das anfangende, sich selbst bewegende Prinzip“ (WdL II, GW 12, S. 183). 67 Allerdings formuliert Hegel durchaus Gütekriterien für die Gesamtordnung der Natur, die er etwa in der scala naturae der Existenz- und Lebensformen sieht, die bezeichnenderweise nicht im organischen Leben, sondern mit dem rationalen und geistbegabten Leben endet. Vgl. Enz. § 251, GW S. 241 und II.3.3. 68 Den hier relevanten Sinn von ,Perfektion‘ erläutert D. Oderberg in seiner Wiedergabe
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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nur schwer auf das Universum als Ganzes übertragen, da es schon deshalb kein Interesse am eigenen Florieren und Gedeihen haben kann, weil es als solches überhaupt keine ihm eigentümlichen Ziele verfolgt.69 Und selbst wenn sich diese Probleme vermeiden ließen, wäre zweitens die o.g. Asymmetriebedingung verletzt, die nach Hegel zwischen der Natur als Ganzer und seiner Erklärung im Absoluten bestehen soll. Die Wirklichkeit als Ganze wäre dann nichts anderes als das Absolute in Form eines kosmischen Lebewesens. Genau genommen erklärt sogar die Asymmetrie zwischen den organischen Individuen und ihrer Gattungsbestimmung einige ihrer konstitutiven Grundzüge:70 In diesem Sinne ist für Hegel etwa das Absterben eines einzelnen Organismus gerade ein Symptom des Umstands, dass kein einzelnes Exemplar seinem Artbegriff vollständig gerecht werden kann. Und da es sich dennoch in seiner Art erhalten will, wird die Forderung nach Selbstperfektion ständig erneut an die nächste Generation weitergegeben – und niemals erreicht.71 Diese Defizienzen werden nach Hegel in der Existenzform von vernünftigen und geistbegabten Individuen vermieden, die in der Lage sind, kognitive Einstellungen zu bilden, die wiederum für ihre Lebensführung konstitutiv sind. Die formalen Grundzüge des ,Erkennens‘ im hegelschen Sinne wurden schon in Kap. I.2 ausführlich besprochen. An dieser Stelle reicht es aus, nur auf diejenigen Elemente hinzuweisen, die für die Lösung der Ausgangsfrage relevant sind. Demnach zeichnet sich echtes ,Erkennen‘ in der Bildung von selbstbewussten, ,vernünftigen‘ Urteilen oder ,Gedanken‘ aus, in denen man sich zugleich mindestens implizit bewusst ist, dass der Urteilsgehalt mit der Sache identisch ist, auf die er sich bezieht.72 Nimmt man nun die für Hegel charakteristische These hinzu, dass prinzipiell alles, was ist und sein kann, Inhalt eines Erkenntnisakts werden kann, folgt direkt, dass ,Denken‘ als solches nicht konstitutiv begrenzt sein kann. Erkenntnisrestriktionen a` la Kant verfehlen daher für Hegel gerade das Spezifikum rationaler und vernünftiger Fähigkeiten:
des klassischen Begriff des Lebens: „Living things act for themselves in order to perfect themselves, where by perfection I mean that the entity acts so as to produce, conserve, and repair its proper functioning as the kind of thing it is – not to reach a state of absolute perfection, which is of course impossible for any finite being.“ (O 2007, S. 180) 69 Vgl. oben II.3.2. Analoge Argumente entwickelt H. Tegtmeyer gegen die These, die Welt als Ganze könne als ein unüberbietbar vollkommenes Wesen verstanden werden. Vgl. T 2013, S. 105 f. 70 Vgl. zu Hegels Thesen auch H 1987, Band 2, S. 332–337 und W 2013, S. 122 f. Aus ähnlichen Gründen hält auch H. Tegtmeyer die Annahme von einem optimalen Weltzustand für keinen kohärenten Gedanken. Vgl. T 2013, S. 104 f. 71 Vgl. WdL II, GW 12, S. 189–191 und Enz. § 221 f., GW 20, S. 221. Ich überlasse es der Phantasie anderer, sich im Falle des Uni- oder Multiversums die Vorstellung der Arterhaltung via (sexueller) Reproduktion konkret auszumalen. 72 Vgl. oben I.2.1.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
Die Vernunft aber, das Denken, sollte nicht über die Schranke hinausgehen können, – sie, die das Allgemeine, das für sich über die, d.i. über alle Besonderheit hinaus ist, nur das Hinausgehen über die Schranke ist. (WdL I/1, GW 21, S. 122)
Diese Stelle ist für Hegel charakteristisch. Denn sie markiert gerade diejenigen Unterschiede zum rein organischen Leben, die für die Suche nach ,absoluter Vollkommenheit‘ entscheidend sind. Zum einen zieht Hegel hier radikale Konsequenzen aus seiner These der kognitiven Identität. Denn das „Allgemeine“, das „über alle Besonderheit“, d.h. über alle Arten von Entitäten, „hinaus ist“ (ebd.) ist nicht etwa nur der Erkenntnisgegenstand des Denkens, sondern ist der Form nach vielmehr mit dem identisch, was das Denken selbst ausmacht. Zum anderen soll das Denken als dieses „Allgemeine“ gerade „für sich“ (ebd.) sein. Denn für Hegel kann es überhaupt gar keinen echten Erkenntnisakt geben, der nicht zumindest im obliquen Modus selbstbewusst ist;73 und dies bedeutet, dass man sich im Denken zugleich dessen bewusst sein muss, dass der Denkinhalt sich eben mit dem Sachverhalt zusammenfällt, von dem geurteilt wird, dass er der Fall ist.74 Knapp zusammengefasst reformuliert Hegel mit beiden Überlegungen die berühmte aristotelische These, die vernünftige Seele sei „in gewisser Weise mit allem Seienden identisch“ (De an. III, 431b21).75 Damit ist zwar für die Bestimmung der ,absoluten Vollkommenheit‘ ein wichtiger Schritt getan. Denn anders als beim bloß organischen Leben kann man damit zumindest dem Gedanken einen Sinn abgewinnen, was es für eine Entität heißen kann, dass das, was die Natur als Ganze in ihrem Wesen ausmacht, in ihr ,enthalten‘ und zugleich mit ihr substantiell ,identisch‘ ist.76 Vernünftiges Leben kann in sich alles ,enthalten‘, was ist und gedacht werden kann, und zwar in Form wahrheitsfähiger Gedanken, die ihrem Inhalt nach mit den Arten und Kategorien aller Entitäten nach ,identisch‘ sein 73 Das kognitive Selbstbewusstsein ergibt sich nach Hegel auch dadurch, dass das Denken im Bewusstsein der Identität des Gedachten mit der Sache zugleich zwischen beiden differenzieren kann. Andernfalls wäre ein Bewusstsein der eigenen Fallibilität nicht möglich. In der WdL bezeichnet Hegel dies als eine Form der ,Selbstverdopplung‘ des Denkinhalts, der zugleich auf der Subjekt- und der Objektseite auftritt und als solcher erkannt wird: „Die Erhebung des Begriffs über das Leben ist, daß seine Realität die zur Allgemeinheit befreyte Begriffsform ist. Durch dieses Urtheil ist die Idee verdoppelt, in den subjectiven Begriff, dessen Realität er selbst, und in den objectiven, der als Leben ist. – Denken, Geist, Selbstbewußtseyn, sind Bestimmungen der Idee, insofern sie sich selbst zum Gegenstand hat, und ihr Daseyn d.i. die Bestimmtheit ihres Seyns ihr eigener Unterschied von sich selbst ist.“ (WdL II, GW 12, S. 192) 74 Vgl. die obigen Erläuterungen zu Enz. § 439 in Abschn. I.2.1. 75 ηë ψυχηÁ ταÁ οÍ ντα πω ς εÆ στι πα ντα (De an. III, 431b21). Hegel zitiert diese Stelle in Enz. § 389, GW 20, S. 388. Zu Hegels Verständnis auch vgl. auch K 1961, S. 82–84 und S 2018, S. 665. 76 Daher mag es übrigens auch weniger überraschen, dass etwa für Thomas aus der zitierten aristotelischen These in Konjunktion mit der Vollkommenheit Gottes seine Erkenntnisnatur folgt. Vgl. SCG I, Kap. 44, S. 175 und die Rekonstruktion in K 1997, Chap. 6. Thomas’ Argumentation kann man daher parallel zu den obigen Überlegungen verstehen.
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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können bzw. sind.77 Wenn es also etwas gibt, dass seinem Wesen nach zugleich die ,Wahrheit‘ und ,Vollkommenheit‘ von allem darstellt, dann muss es nach Hegel erkenntnisfähig sein. Gleichzeitig können aber für Hegel nicht alle Formen des Erkennens in ihrem tatsächlichen Vollzug vollkommen sein und darin selbstbewusst zum Ausdruck bringen, was Erkennen ausmacht. Zwar mag alles, was ist und sein kann, prinzipiell im Denken erkennbar sein. Daraus folgt aber nicht, dass in jedem normalen Erkennen alles auch wirklich erkannt wird. Wie sähe aber umgekehrt ein Erkennen aus, das nicht unter die Formen des ,endlichen Erkennens‘ fällt und insofern ,wahr‘ und ,vollkommen‘ ist? Erstens müsste es so verfasst sein, dass es die Natur der Dinge unter keinen Umständen verfehlen kann.78 Zweitens kann es für dieses keine einzelnen Ausschnitte der Wirklichkeit geben, die zwar immer erkennbar sind, aber nicht de facto in seiner kognitiven Perspektive auftauchen. Das, was überhaupt erkannt und gedacht werden kann, muss in diesem Sinne immer schon Inhalt dieses Erkennens sein.79 Aus der Forderung, die ,Wahrheit von allem‘ zu sein, folgt drittens, dass der ,absolute Begriff‘, der alle Gattungen und Arten von Dingen in sich fasst,80 sich mit demjenigen Begriff vollständig decken muss, der zur Darstellung bringt, was diesen Erkenntnisakt selbst ausmacht. Im Manuskript vermerkt Hegel daher an einer Stelle: Aber ferner auch diese beiden Stoffe – die Entwicklung Gottes in sich und die Entwicklung des Universums – sind nicht so absolut verschieden. Gott ist die Wahrheit, die Substanz des Universums, nicht bloß ein abstrakt Anderes. Es ist daher derselbe Stoff, es ist die intellektuelle göttliche Welt, das göttliche Leben in ihm selbst, das sich entwickelt; aber diese Kreise
77 Den aristotelischen Hintergrund erläutert J.N. Findlay: „[T]he Hegelian Notion, like the Aristotelian Form, has an objective as well as a subjective status: it may exist immaterially in the mind, but it is also genuinely immanent in the outer things, and constitutes the essential inner nature which comes out in all they do and undergo.“ (F 1970, S. 137) Vgl. zu diesem klassischen Gedanken auch A/G 1961, S. 95–100 und K 1989, S. 136 f. 78 Hegel nennt das ,endliche Erkennen‘ daher auch die „absolute Idee […] in ihrer Erscheinung“ (WdL II, GW 12, S. 198 f.). Sie drückt darin den „Zweck“ aus, „der sich realisieren soll“ (ebd., S. 198) – d.h. das Erkennen in seiner Vollendung. Von der ,absoluten Idee‘, wie sie ,erscheint‘ gilt daher: „Was sie sucht, ist das Wahre, diese Identität des Begriffs selbst und der Realität, aber sie sucht es nur erst“ (ebd., S. 199). 79 Die Absolute muss als ,Idee‘ daher ,ewig‘ sein. Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 177, 195; und Enz. § 235, GW 20, S. 228. Auf die relevanten Bedeutungsdimensionen des Ewigkeitsbegriffs gehe ich unten in III.5.5 näher ein. 80 Die „Idee“ ist daher für Hegel „nicht zu nehmen als eine Idee von irgend Etwas, so wenig als der Begriff blos als bestimmter Begriff. Das Absolute ist die allgemeine und Eine Idee, welche als urtheilend sich zum System der bestimmten Ideen besondert, die aber nur diß sind, in die Eine Idee, in ihre Wahrheit zurückzugehen.“ (Enz. § 213A, GW 20, S. 215) L. Siep spricht an anderer Stelle auch von der „idea idearum“, die er aber in irreführender Weise mit Hegel als „,Reich des Vaters‘“ (S 2018, S. 766) bezeichnet. Gleiches wird nämlich traditionell von der zweiten trinitarischen Person ausgesagt. Vgl. die Ausführungen zu Augustinus in L 2006, S. 368.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
– Tun seines Lebens – ist dasselbe als das Leben der Welt; aber dieses Leben ist nur Erscheinung, jenes Leben ist das ewige; das Leben der Welt daher dort in seiner ewigen Gestalt; alles sub specie aeterni. (VPR 3, S. 141)81
Aus dieser Überlegung ergibt sich eine weitere Konsequenz, die den Gedanken ,absoluter Wahrheit‘ nochmals unterstreicht. Denn, wenn die Natur alles dessen, was ist und sein kann, in letzter Instanz mit der Natur dieses Erkenntnisakts selbst vollständig ,identisch‘ ist, dann folgt auch umgekehrt, dass in der höherstufigen Selbsterkenntnis dieses Akts zugleich die Natur aller Dinge erkannt wird.82 Die Irrtumsfreiheit des Selbstdenkens des Absoluten erstreckt sich daher nicht nur – wie im cartesischen cogito – auf den eigenen Erkenntnisakt, sondern auf alles, was Inhalt eines Objekt-gerichteten Denkens sein kann.83 Und da sich das Absolute wesentlich dadurch auszeichnet, in diesem Sinne vollkommene Selbsterkenntnis zu sein, fallen in ihm nicht nur das Erkennen und das Erkannte, sondern auch das Erkennen mit dem Erkennenden vollständig zusammen.84 Kurz: Das Absolute ist nichts anderes als Selbsterkenntnis und Selbstwissen im gekennzeichneten Sinne. Diese Spezifika der ,absoluten Idee‘ fasst Hegel in der Enzyklopädie wie folgt zusammen: Die Idee als Einheit der subjectiven und der objectiven Idee ist der Begriff der Idee, dem die Idee als solche der Gegenstand, dem das Object sie ist; – ein Object, in welches alle Bestimmungen zusammengegangen sind. Diese Einheit ist hiemit die absolute und alle Wahrheit, die sich selbst denkende Idee und zwar hier als denkende, als logische Idee. (Enz. § 236, GW 20, S. 228)85
81 Diese spekulativen Sätze reformuliert Hegel an derselben Stelle im trinitätstheologischen Vokabular: „[I]n Gott ist, wie es die Religion vorstellt, das Andere Gottes sein Sohn, d. i. er als Anderes, das in der Liebe, in der Göttlichkeit bleibt – und der Sohn ist die Wahrheit der endlichen Welt. So ist es auch nicht an sich anderer Stoff, dessen Notwendigkeit nur betrachtet würde, sondern an und für sich selbst derselbe, d.i. erst die Wahrheit.“ (VPR 3, S. 141 f.) 82 Mit Bezug auf den Schluss der großen Logik in WdL II, GW 12, S. 252 f. bemerkt L. Siep: „Hier ist die Anknüpfung an die Modelle des göttlichen Denkens, das, indem es sich selbst denkt, alle Ideen überhaupt denkt (z.B. Augustinus), nicht von der Hand zu weisen.“ (S 2018, S. 749) Ähnliches ließe sich von den parallelen Behauptungen Hegels in der WdL sagen. Vgl. WdL II, GW 12, S. 30, 36, 178, 236, 238 und 250. 83 Vgl. ebd., S. 236. 84 So schreibt Hegel in der Göschel-Rezension: „Gott ist nur insofern wirklich, als Er Sich selbst weiß; mit Seinem Bewußtseyn wird und verschwindet sein Daseyn; hiemit, dieser Beziehung des Seyns und Wissens auf Gott, als das absolute Object, welches sich selbst absolutes Subject ist, stimmt die Schrift überein.“ (GW 16, S. 199) Vgl. auch Enz. § 564A, GW 20, S. 550. 85 Dass Hegel an dieser nur von der ,logischen Idee‘ spricht, hat m.E. mit dem Umstand zu tun, dass die Tiefenstruktur der Idee am Ende der Logik in erster Linie als Beschreibung der höherstufigen Selbstreflexion und Selbsteinholung der gesamten Begriffsentwicklung eingeführt wird, wie sie in der Logik nachgezeichnet wurde. Hegel hat aber vermutlich dennoch zugleich das gesamte System aller möglichen kategorialen Bestimmungen vor Augen, was sich schon darin zeigt, dass er dieselben Aussagen über den ,absoluten Geist‘ trifft, in dessen Begriff alle Kategorien münden und zurücklaufen sollen. Vgl. Enz. § 577, GW 20, S. 570 f. und bes. WdL I/1, GW 21, S. 57.
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Das Absolute ist für Hegel in seinem Erkennen immer sein eigener „Gegenstand“. In diesem hat es zugleich alles, was ist und gedacht werden kann, zum Inhalt seines Denkens. Und da nach Hegel jedes echte Erkennen mit der Natur des Erkannten ,identisch‘ ist und die Selbsterkenntnis des Absoluten mit seiner Natur zusammenfällt, folgt, dass sie die „absolute und alle Wahrheit“ (ebd.) sein muss. Denn darin stimmt das Absolute vollkommen mit allem überein, was überhaupt wirklich ist bzw. sein kann – einschließlich seiner selbst. Mit dieser Übersicht über die Ergebnisse von Hegels Ideenlogik lassen sich die Ausgangsfragen dieses Abschnitt in etwa wie folgt beantworten: Erstens hat sich ein möglicher Sinn der hegelschen These ergeben, dass die Gesamtordnung der natürlichen und geistigen Wirklichkeit im Absoluten nicht nur ,enthalten‘, sondern zugleich mit ihr dem Wesen nach ,identisch‘ ist – und zwar ohne mit der Summe aller kontingenten Dinge zusammenzufallen. Sie tut dies, indem sie Teil und Moment des herausragenden Selbstwissens und Denkens ist, das die Natur des Absoluten auszeichnet. Insofern nun diese Existenzform des Absoluten den Begriff des ,Wahren von allem‘ verdient, hat sich zweitens eine inhaltliche Näherbestimmung desjenigen ,metaphysischen Begriffs‘ ergeben, der für das OA kennzeichnend sein soll. Denn das OA kann in diesem Sinne nur dann gelingen, wenn in letzter Instanz eingesehen werden kann, dass das absolut Vollkommene nichts anderes ist als das Wahre simpliciter, in dem sein ,Begriff‘ mit seiner ,Wirklichkeit‘, sein ,Denken‘ mit seiner ,Existenz‘ vollständig identisch ist.86 In anderen Worten: Für Hegel kann nur das Absolute in seinem Selbstwissen und -denken dasjenige sein, ,worüber hinaus nichts größeres gedacht werden kann‘. Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich drittens die Ausgangsfrage nach der systematischen Stellung des OA beantworten. Da die gesamte Wirklichkeit der endlichen, kontingenten und Zwecke verfolgenden Individuen und Entitäten im oben gekennzeichneten Sinne im Absoluten enthalten sind, steht der Seinsbegriff des OA in direkter Kontinuität zu denjenigen des KA und des TA. Gleichzeitig enthält das OA für Hegel den entscheidenden begrifflichen Fortschritt, dass in seinem Gottes- und Seinsbegriff das, was in den anderen Begründungsformen anvisiert wird, allererst kohärent erklärt und expliziert wird. Die Frage, ob das ,Sein‘, das aus Gottes ,Begriff‘ folgen soll, nur seine eigene Existenz oder vielmehr 86 „Gott ist nicht ein Begriff, sondern der Begriff; dies die absolute Realität, die Idealität ist.“ (VPR 5, S. 10) Dazu bemerkt M. Theunissen treffend: „Gott kann mit seinem Begriff identisch sein, weil sein Wesen, für das sein objektiver Begriff zu gelten hat, eins ist mit seiner Realität, weil Essenz und Existenz in ihm eine untrennbare Einheit bilden. Wie die ontotheologische Tradition, die an Anselm anknüpft, so lehrt auch Hegel, das Signum des Endlichen sei es zwar, daß in ihm Essenz und Existenz auseinanderfielen, aber ebensosehr zeichne Gott sich durch das Zusammenfallen der bloß im Denken unterscheidbaren Momente aus.“ (T 1970, S. 106) In der Fußnote zu Enz. § 76 zitiert Hegel übrigens wörtlich aus Eth. I, prop. 20, „daß Gottes Existenz und sein Wesen ein und dasselbe sind“ (Enz. § 76, GW 20, S. 116 Fn.). Dieser Sachverhalt, der sich mit dem klassischen Gedanken absoluter Einfachheit deckt, ist für Hegel daher auch nichts anderes als die „Untrennbarkeit des Begriffs vom Seyn“ (ebd.) im Absoluten.
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die außergöttliche Wirklichkeit ist, ist daher für Hegel falsch gestellt. Denn es liegt nach Hegel gerade in der Natur des ,Vollkommenen‘ und ,Wahren von allem‘, beides in sich zu vereinen. Ad (B): Das ontologische Argument und das Selbstverständnis vernünftigen Lebens Mit diesen komplexen Überlegungen stellt sich aber sofort das o.g. zweite Problem ein. Denn beim OA ist man dann nicht nur mit einem Argument konfrontiert, dass bei vielen unmittelbar den Eindruck erweckt, es würde hier sicherlich irgendwo logisch geschummelt. Wenn Hegel mit seinen Analysen Recht hat, wäre schon das bloße Verständnis von Anselms Gottesformel enorm voraussetzungsreich.87 Wie kann Hegel dann aber im Falle des OA noch an seiner These festhalten, Gottesbeweise drückten insgesamt fundamentale religiöse Denk- und Begründungsformen aus, und seien deshalb „keine Erfindungen einer künstelnden Reflexion“ (Enz. § 68, GW 20, S. 109)? Diese berechtigte kritische Anfrage lässt sich zunächst mit den bisherigen Diskussionsergebnissen deutlich entschärfen. Wenn religiöse Denkformen und Gottesbeweise uns gewissermaßen ,natürlich‘ sind, dann bedeutet dies für Hegel nicht, dass etwa für jeden Menschen zu allen Zeiten faktisch ein einziger Blick auf die Prämissen genügt, um die jeweilige Konklusion nachzuvollziehen oder gar zu akzeptieren. Vielmehr meint Hegel lediglich, dass es in der Natur unserer Urteilsund Schlusspraxis liegt, unter ganz bestimmten Umständen den jeweiligen Gedanken des Absoluten auszubilden. Mit seinem System der Gottesbeweise kann Hegel dabei die Umstände genauer spezifizieren, was jeweils in epistemischer Hinsicht genau erfüllt sein muss,88 damit der Schlussgehalt der jeweiligen Begründungsform in den konzeptuellen Fokus des religiösen Denkens treten kann. Denn es ermöglicht ihm konkrete Aussagen über die Voraussetzungs- und Implikationsverhältnisse der kategorialen Bestimmungen zu treffen, die für die jeweiligen Begründungsformen konstitutiv sind. Die Kategorien geben dann den
87 Man darf daher vermuten, dass folgende Selbstaussagen von J.N. Findlay wohl nicht auf jede Person zutreffen: „If there is difficulty in the notion of a subsistent perfection, or set of subsistent perfections, there is certainly no difficulty in a mind which contemplates and desires them all […], and which is so intrinsically one with what it desires and contemplates as to be rightly said to be them all, and to be them all in unity. I do not think it is at all difficult to conceive a profound spiritual simplicity in which all possibilities of being and goodness will be enjoyed together in a single vision, and which is such that any instantiation of such a comprehensive unity will necessarily be one-sided and partial and piecemeal, or in other words creaturely.“ (F 1970, S. 178) 88 Dies schließt für Hegel nicht aus, sondern ein, dass auch und v.a. sozio-kulturelle und geschichtliche Umstände genauer spezifiziert werden müssen, in denen sich bestimmte religiöse Überzeugungen ausbilden können. Hegels Religionsphilosophie ist daher auch eine komplexe Sozialtheorie vorgeschaltet, die einen wesentlichen Teil seiner Prämisse der Einheit von Welt-, Religions- und Kunstgeschichte bildet. Vgl. Enz. § 562A, GW 20, S. 547.
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
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Rahmen vor, in dem bestimmt werden kann, welche Begründungsformen logisch früher sind als andere und daher größere Chancen haben, allgemein verstanden zu werden. In diesem Sinne hatte sich etwa gezeigt, dass die Bildung des Begriffs der ,absoluten Notwendigkeit‘ nach Hegel schon ein relativ komplexes modaltheoretisches Vokabular voraussetzt, dass auf den basaleren oder – wie Hegel sagen würde – ,einfacheren‘ Kategorien des ,Endlichen‘ und ,Unendlichen‘ beruht.89 Die spezifische Anwendung teleologischer Kategorien auf das Absolute kann für Hegel hingegen nur dort erfolgreich sein, wo die ontologischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen kontingenten Entitäten und dem Absoluten schon transparent geworden sind.90 Im Anschluss an die gängige Terminologie der heutigen Wissenschaftstheorie könnte man daher auch sagen, dass die jeweiligen kategorialen Einsichten für Hegel den context of discovery einer religiösen Begründungsform genauer spezifizieren.91 Sie geben dann an, was jeweils schon geleistet werden müsste, damit Prämissen und Konklusion eines Arguments überhaupt verstanden werden können, und tun dies vor dem Hintergrund des Grades der Komplexität oder ,Konkretion‘ der jeweiligen Kategorie.92 Ein Argumenttyp, der auf komplexere kategoriale Bestimmungen zurückgreift, kann daher für Hegel durchaus ein natürlicher Ausdruck des vernünftigen Lebens sein, ohne auf Voraussetzungen zu beruhen, die jeder Person unter allen Umständen de facto einleuchtet. Wendet man nun diese allgemeinen Überlegungen auf Hegels systematische Verortung des OA an, kommt man zu etwa folgendem Ergebnis: Einerseits soll der Begriff ,absoluter Wahrheit‘ nicht nur den Gottesgedanken des KA und des TA weiterentwickeln, sondern den Begriff des Absoluten im Prinzip vollständig erfassen. In diesem Sinne formuliert das OA die kategorialen Einsichten in einer Weise, die im KA und TA aufgrund ihrer spezifischen Perspektive auf das Absolute nicht zum Ausdruck kommen. Hat man also verstanden, was es für das Absolute heißen kann, ,absolut vollkommen‘ zu sein, muss zugleich deutlich werden, wie alle kontingenten Individuen in modaler und teleologischer Hinsicht von ihm abhängig sind, wobei der Umkehrschluss für Hegel nicht (immer) gilt. Für den vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass
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Vgl. dazu oben II.2.5. Man könnte hier einwenden, dass wir nach Hegels eigenen Aussagen mit teleologischen Ausdrücken schon durch unsere eigene Lebenspraxis unmittelbar vertraut sind, was vermutlich nicht in gleichem Maße für Modalkategorien gilt. M.E. ist dieser Einwand berechtigt. Um erfolgreich zu sein, sollte er aber dem Umstand Rechnung tragen, dass Hegel hier nur nach der Beschreibung des Absoluten, nicht aber nach dem Bewusstsein von Zwecken und Zielen insgesamt fragt. Vgl. auch unten III.4.2. 91 Den context of justification geben dann die systematischen, inferentiellen Beziehungen zwischen den Kategorien selbst. Sie bestimmen daher nicht nur subjektseitig, worauf man sich de jure festlegt, wenn man regelgeleitet bestimmte Begriffe verwendet, sondern gelten objektseitig auch für die Bezugsgegenstände des Denkens selbst. Vgl. oben II.2.5 und zur Kontextunterscheidung im Allgemeinen etwa S 2018, Sec. 5. 92 Zu Hegels Begriff des ,Konkreten‘ bzw. der ,Konkretion‘ in der Begriffsentwicklung vgl. u.a. Enz. § 82A, GW 20, S. 120 und WdL II, GW 12, S. 250. 90
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der Entdeckungskontext des OA dasjenige kategoriale Wissen voraussetzt, in dem die ,metaphysischen Begriffe‘ des KA und TA in eine einzige, kohärente Konzeption des Absoluten zusammenlaufen. In diesem Sinne ist für Hegel das OA nicht irgendein Beweis unter anderen, sondern „allein der wahrhafte“ (VPR 5, S. 272), der in einfacher Weise darstellt, worum es im Denken Gottes eigentlich geht und in welchem Verhältnis dies zur Wirklichkeit als Ganzer steht. Bei genauerem Blick zeigt sich sogar, dass die Ansprüche an das Verständnis des OA für Hegel noch größer sind. Denn nach Hegel muss man nicht nur in der Lage sein, zumindest die relevanten Grundzüge von Anselms Gotteskennzeichnung nachzuvollziehen. Das anselmianische OA setzt auch und v.a. in seiner Formulierung voraus, dass Personen gewissermaßen ihren eigenen epistemischen Zugang zum ,absolut Wahren‘ reflektieren und von dort aus ihr eigenes Selbst- und Gottesverständnis artikulieren können.93 Anselms unum argumentum bringt daher „das tiefste Hinuntersteigen des Geistes in sich selbst“ (VPR 3, S. 323)94 zum Ausdruck. Was Hegel damit meint, wird deutlicher, wenn man nochmals einen Blick auf seine Wiedergabe von Anselms OA wirft. Genau genommen ist seine Analyse des Begriffs ,absoluter Wahrheit‘ nur die Grundlage für seine Behauptung, dass Anselms Gotteskennzeichnung die Natur des Absoluten korrekt erfasst.95 Für Anselms ganzes Argument wäre damit aber wenig gewonnen. Denn – anders als Kant glaubt – schließt es keineswegs unmittelbar aus einer Definition oder definiten Beschreibung auf Gottes Existenz, sondern beruht zudem auf komplexen epistemologischen, ontologischen und axiologischen Voraussetzungen.96 Dies wird selbst in Hegels knapper Wiedergabe von Anselms Prämissen deutlich, die er im oben schon wiedergegebenen Zitat mit zwei Aussagen umschreibt: Halten wir nun Gott nur als die Vorstellung fest, so ist das, was nur vorgestellt ist, ein Mangelhaftes, nicht das Vollkommenste. Denn das Vollkommene ist das, was nicht nur vorgestellt ist, sondern auch ist, wirklich ist. (VPR 3, S. 324; meine Hervorhebungen, W.L.)
Die zentrale Voraussetzung des Arguments steckt also für Hegel in dem Verständnis dessen, was eine bloße ,Vorstellung‘ von Gott von dessen ,wirklicher‘ 93 Der Gottesbegriff, der für das OA relevant ist, ist daher nicht bloß der Gedanke absoluter Selbsterkenntnis, sondern diejenige Beschreibung, in der die menschliche Bezugnahme auf Gott als Moment seines Selbstwissens aufgefasst werden kann. In den Worten des Manuskripts gesprochen, geht es daher um „die Bestimmung Gottes, daß er die Idee, die absolute, d.i. daß er der Geist ist.“ (VPR 5, S. 5) Zum Zusammenhang zwischen dem OA und Hegels Begriff des ,absoluten Geistes‘ vgl. auch T 1970, S. 106; P 1987, S. 82 und W 1996, S. 121–123. 94 Ähnlich heißt es im Kolleg von 1824, das OA sei „von größter Wichtigkeit“ und enthalte das „tiefste Interesse der Vernunft“ (VPR 5, S. 111). 95 Sie begründet daher den ersten Schritt in Hegels Rekonstruktion: „Zur Vorstellung von Gott gehört, daß er absolut vollkommen sei […]. Das, können wir so allgemein sagen, das ist ganz richtig.“ (VPR 3, S. 324) 96 In B. Goebels Rekonstruktion etwa beruht Anselms Beweis auf einer Definition, einer Annahme für die reductio und vier weiteren Prämissen. Vgl. G 2009, S. 110.
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Existenz unterscheidet und worin genau das Wertgefälle zwischen beiden Sachverhalten besteht, das zum Konflikt mit dem Begriff des ,absolut Vollkommenen‘ führt. Um diese Kernprämisse nachvollziehen zu können, müssten aber unter hegelschen Annahmen folgende Bedingungen erfüllt sein. Im Allgemeinen muss man zumindest implizit wissen, was es überhaupt heißt, einen epistemisch relevanten, urteilsförmigen ,Gedanken‘97 zu bilden, dessen Gehalt einen bestehenden und meinungsunabhängigen Sachverhalt ausdrückt. Dieses allgemeine Selbstbewusstsein epistemischer Akte muss im Falle der genannten Prämisse in doppelter Hinsicht spezifiziert werden. (i) muss es einer Person allgemein transparent sein, dass ein für bestehend gehaltener Sachverhalt auch nicht bestehen kann.98 Nur so kann sie den Gottesgedanken hypothetisch derjenigen Klasse von ,Vorstellungen‘ zuordnen, mit denen gar nicht beansprucht werden kann, Tatsachen auszudrücken. Wenn eine Person nun trotzdem die Schlussfolgerung zieht, dass die Wirklichkeit des ,absolut Vollkommenen‘ unter keinen Umständen auch nicht bestehen kann, dann muss sie (ii) von sich selbst die Überzeugung besitzen, dass das ,absolut Vollkommene‘ ihr prinzipiell epistemisch zugänglich ist. Das heißt, dass sie zugleich in der Lage ist, Aussagen über den möglichen ontologischen und axiologischen Status von Gott zu treffen, die über eine ,bloße Vorstellung‘ hinaus gehen. Kurz: Eine Person scheint Anselms OA nur dann verstehen zu können, wenn sie ein Selbstverständnis als erkenntnisfähiges und erkennendes Subjekt entwickelt hat, das sich seiner kognitiven Fehlbarkeit in einer Weise bewusst ist, die nicht zugleich die Einsicht in das Wesen und die Existenz des Absoluten vollständig kompromittiert. Dass Hegel tatsächlich von diesen oder ähnlichen Voraussetzungen ausgeht, zeigt sich in seiner Aussage, dass sich die Entdeckungsbedingungen des OA weitestgehend und in erster Linie mit dem (philosophischen) Selbstverständnis des Christentums decken.99 Eine solche These mag zwar mit Blick auf mögliche spät97 Ich verwende diesen Begriff hier wieder im technischen hegelschen Sinne, wie er oben in I.2.1 im Anschluss an Enz. § 439 eingeführt und diskutiert wurde. 98 Natürlich gilt auch die Umkehrung, dass ein für nicht bestehend gehaltener Sachverhalt in Wirklichkeit eine Tatsache sein kann. Beide Aussagen entsprechen ungefähr Hegels Rede vom „Gegensatz des Bewusstseyns“ (WdL I/1, GW 21, S. 64), der in der Perspektive eines echten selbstbewussten geistigen Lebens auftritt und dort im Grenzfall eine selbstwidersprüchliche Struktur besitzt – nämlich dann, wenn man vom (Nicht-)Bestehen von Sachverhalten überzeugt ist, von denen man zugleich annimmt, sie seien epistemisch unzugänglich. Vgl. Enz. § 414, GW 20, S. 422. Hegel spielt auf diese Überlegungen besonders deutlich in der Diskussion des OA im Manuskript und im Kolleg von 1824 an. Vgl. VPR 5, S. 8 und 111 f. 99 „[H]ier [= beim OA, W.L.] […] ist der Anfang der freie, reine Begriff, und es tritt somit auf dieser Stufe der ontologische Beweis vom Dasein Gottes ein; er macht die abstrakte, metaphysische Grundlage dieser Stufe aus; auch ist er erst im Christentum durch Anselm von Canterbury aufgefunden worden.“ (VPR 5, S. 271) Genau genommen ist es für Hegel auch nicht der christliche Glaube per se, sondern eine bestimmte Phase seiner Entwicklung in der Frühscholastik, die sein Entstehen ermöglicht hat: „Die Alten, die griechische Philosophie, hatten diesen Übergang nicht; er wurde auch lange herein in der christlichen Zeit nicht gemacht, weil das tiefste Hinuntersteigen des Geistes in sich selbst dazu gehört. Erst einer der
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antike Quellen des OA zu stark, wenn nicht unplausibel wirken.100 Vor dem Hintergrund der religionsepistemologischen Ausgangfrage nach dem Entdeckungskontext des OA lohnt es sich aber einen kurzen Blick auf Hegels konkrete Zuordnungen zu werfen.101 Erstens haben wir schon gesehen, dass für Hegel eine echte Analyse und Entwicklung von Anselms Gottesformel in letzter Instanz in den Begriff des Selbstwissens des Absoluten mündet, in dem die Identität von Gedanke und Wirklichkeit immer schon artikuliert und erkannt wird. Das „Leben der Welt“ ist, wie Hegel im Manuskript bemerkt, „dort in seiner ewigen Gestalt“, in der „alles sub specie aeterni“ (VPR 3, S. 141) angeschaut wird. Diese spezifische Selbstbeziehung Gottes lässt sich nach Hegel in das technische Vokabular der ,immanenten Trinität‘ übersetzen102 – nämlich, in dem Gedanken der ewigen Zeugung des „Sohn[es]“, der zugleich die „Wahrheit der endlichen Welt“ ist und dessen Einheit mit dem ,Vater‘ in der „Liebe“ (ebd., S. 142) zwischen beiden zum Ausdruck gebracht wird.103 Eine durchgeführte Analyse und Interpretation dieser Gottesformel sorgt allerdings nicht schon dafür, dass die Formel auch tatsächlich eingelöst wird. Dies zeigt sich für das jeweilige Subjekt nicht zuletzt in dem oben erwähnten Bewusstsein, dass Wahrheits- und Wissensansprüche zumindest nicht immer Aussicht auf Erfolg haben müssen. Dieses höherstufige Wissen um die Fehlbarkeit theologischer Wahrheitsansprüche lässt sich mit Hegel zweitens mit dem jüdisch-christlichen Selbstverständnis engführen, dass sich menschliche Personen im Sündenzustand befinden.104 Die negative Zuspitzung und Bewertung großen scholastischen Philosophen, Anselm von Canterbury, dieser tiefe spekulative Denker, hat diese Vorstellung so gefaßt“ (VPR 3, S. 323 f.). Im Hintergrund dieser Beobachtungen im Kolleg von 1827 und 1831 steht Hegels zentrale These, dass man mithilfe des OA man den ,metaphysischen‘ Begriff des Christentums explizieren könne. Vgl. VPR 5, S. 5–7, 108 f., 203, und 279. Im Folgenden werde ich die Stellen bei Anselm angeben, auf die Hegel sich mit seiner These stützen könnte. 100 Vgl. etwa H 2002. 101 Hegels Engführungen finden sich m.E. in dichter Form im Manuskript, und zwar gleich zu Beginn seiner Analyse des OA und des ,metaphysischen Begriffs‘ des Christentums. Vgl. VPR 5, S. 5–7. Die Grundgedanken dieser Passagen werde ich im Folgenden systematisch rekonstruieren und durch andere hegelsche Texte stützen. Vgl. ferner auch die umfassende neuere Rekonstruktion von Hegels Christentumsdeutung in H 2017. 102 Auf den Zusammenhang zwischen dem Trinitätsgedanken und Hegels Deutung des OA weist u.a. R. Williams hin. Vgl. W 2017, S. 131–140 und auch H 2017/18, S. 28–30. 103 Vgl. oben Fn. 81 und auch VPR 3, S. 325 f. Auf Hegels Deutung des trinitätstheologischen Vokabulars mithilfe des Gedankens absoluten Selbstwissens gehe ich weiter unten näher ein. Vgl. unten III.3.2. Der Gedanke, dass Gott sich selbst ewig im Verbum erkennt und ausspricht, in dem zugleich alle Dinge erkannt und erschaffen werden, findet sich auch bei Anselm, detailliert ausgearbeitet etwa im Monologion. Vgl. Mon., Kap. 32 f., S. 130–139 und bes. die Schlussfolgerung in Kap. 33, S. 137: Uno igitur eodemque verbo dicit seipsum et quaecumque fecit. 104 Vgl. H 2017, S. 403–407 und unten III.3.2. Dass der Sündenzustand direkten Einfluss auf das Erkennen Gottes besitzt, wird von Anselm gleich im ersten Kapitel des
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dieses Zustands kommt dabei für Hegel v.a. dann zum Tragen, wenn das Bewusstsein der eigenen Fallibilität sich in der agnostischen These zuspitzt, das Absolute sei für uns schon prinzipiell unzugänglich.105 Man läuft nach Hegel dann nämlich Gefahr, selbst die Regeln vorzugeben, unter denen ein Wissensanspruch über ,das Wahre‘ wahr gemacht werden kann, wohingegen eigentlich die Umkehrung gelten sollte: Wenn die Annahme gilt, dass jede Aussage, die man über das Absolute treffen kann, letztlich unentscheidbar ist, dann folgt aus der Selbstanwendung dieser Annahme, dass deren Korrektheitsstandards nicht im Absoluten, sondern in denjenigen Personengemeinschaften liegen müssen, die diese Annahme vertreten.106 Und den resultierenden Selbstwiderspruch werden sie nur aushalten können, wenn sie sich selbst mit dem ,absolut Wahren‘ und damit mit derjenigen Instanz identifizieren, die erst definiert, was als wahr oder falsch zu gelten hat.107 Für Hegel folgt im Umkehrschluss daraus, dass die richtige epistemische Haltung darin besteht, das Fehlbarkeitsbewusstsein mit der Überzeugung von der prinzipiellen Erkennbarkeit des Absoluten zu verbinden – und zwar in einer Weise, in der die Initiative theologischen Erkennens nicht nur von uns, sondern in letzter Instanz vom Absoluten selbst ausgeht.108 Dem entspricht für Hegel schließlich drittens das christliche Selbstverständnis, dass das menschliche Wissen um Gott von Gott selbst hervorgerufen wird.109 Hegels facettenreiche Aneignung der Lehre von der Präsenz des Hl. Geistes wird uns unten in III.5.5 näher beschäftigen. Hier reicht der Hinweis, dass Personen im höherstufigen Bewusstsein, dass ihr Wissen um Gott in Gott selbst gründet, zum einen erkennen, dass es zu den Wesenszügen Gottes gehört, sich als solcher zu erkennen zu
Proslogion angeführt und erklärt auch die Gebetsform des ganzen Texts. Vgl. Pros., Kap. 1, S. 74–85 und hierzu auch A 1992, S. 410. 105 Vgl. Hegels Analyse des Übergangs zur ,Ironie‘ in GPR § 140A, GW 14/1, S. 129–133. Diese Auffassung und Kritik der ,ironischen‘ Haltung habe ich an anderer Stelle ausführlich in der Perspektive der neueren Lasterepistemologie rekonstruiert. Vgl. L 2022. 106 Vgl. Enz. § 386A, GW 20, S. 384 f. Eine solche Bescheidenheit ist für Hegel – um mit F. Hermanni zu sprechen – nichts anderes als „der Hochmut im Schafspelz der Demut“ (H 2017, S. 420 Fn. 198). Vgl. auch L 2022, S. 78–82 und zum Laster des Hochmuts im Allgemeinen T 2013, S. 313–318. 107 Vgl. GPR § 140A, GW 14/1, S. 132–134 und Enz. § 571A, GW 20, S. 554. Diese Überlegungen stehen auch im Hintergrund von Hegels Rede von der „fixierten Subjektivität“ (VPR 5, S. 8), für die das OA nicht einleuchten kann. Vgl. auch ebd., S. 111 f. 108 Hegels philosophische Prämissen für diese These wurden oben in II.2.4 schon entwickelt. Auf diesen Sachverhalt spielt auch Anselm etwa in Pros., Kap. 14, S. 106–111 an. B. Goebel und V. Hösle fassen Anselms leitende Grundüberzeugung prägnant zusammen: „God is no less identical with truth, truth and moral goodness being both related to rectitudo. Whenever we grasp a truth (viam veritatis tenemus), i.e. whenever we follow reason (via […] undique munita ratione), and particularly whenever we grasp reasons relating to the divine itself, God and his logos are operating in us. God being the principle of our reason, it is in using our reason rightly that we come closest to God and in reflecting on the principle of our reason that we fulfill the possibilities of our finite reason.“ (G/H 2005, S. 206 f.) 109 Vgl. u.a. Enz. § 554, GW 20, S. 542.
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geben.110 Zum anderen entwickeln sie darin ein Selbstverständnis, was es für sie selbst bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, Gott in dieser Weise erkennen zu können. Da Gott selbst nichts anderes sein soll als das Wissen seiner selbst, könnte man daher auch sagen, dass in diesem Wissen von Gott zugleich erkannt wird, dass die menschliche Bezugnahme auf Gott Teil und Moment desjenigen Wissens ist, das Gott immer schon von sich selbst besitzt.111 In dieser Skizze wird zwar deutlicher, warum das OA in der anselmianischen Form für Hegel eine spezifisch christliche Errungenschaft darstellt.112 Allerdings wird in der Übersicht über den Entdeckungskontext nicht direkt die Frage nach dem context of justification des OA berührt. In diesem Sinne könnte man die Frage aufwerfen, ob Hegel unter diesen Prämissen seine Grundüberzeugung aufrechterhalten kann, die Begründungsformen religiösen Denkens besäßen im Wesentlichen eine ganz einfache, indirekte Struktur. Wie wir in Abschnitt II.2.5 gesehen haben, sollen sie zeigen, dass gegenteilige Annahmen genau dasjenige kategoriale Wissen schon präsupponieren, dass sie selbst explizit leugnen. Mit Blick auf das OA müsste Hegel also zeigen können, dass die Leugnung der Tatsache, dass es etwas absolut Vollkommenes und Wahres gibt, in dem Gedanke und Wirklichkeit zusammenfallen, selbstwidersprüchlich ist. Diese Grundintuition äußert Hegel nun selbst gleich an mehreren Stellen und es lohnt sich abschließend einen Blick auf eine für Hegel charakteristische Formulierung zu werfen. So heißt es etwa im Kolleg von 1831: Das Endliche und Subjektive ist aber nicht nur ein Endliches, gemessen an jener Voraussetzung; es ist an ihm endlich und somit der Gegensatz seiner selbst; es ist der unaufgelöste Widerspruch. Das Sein soll verschieden von dem Begriff sein; man glaubt, diesen festhalten zu können als subjektiven, als endlichen, aber die Bestimmung des Seins ist am Begriff selbst. Diese Endlichkeit der Subjektivität ist an ihm selbst aufgehoben, und die Einheit des Seins und des Begriffs ist nicht eine Voraussetzung gegen ihn, an der er gemessen wird. (VPR 5, S. 274)113
Hegel versucht in dieser dichten Passage gegen Descartes und Spinoza zu zeigen, dass im OA die Einheit von Begriff und Sein in Gott nicht als einfach als definitorische „Voraussetzung“ eingeführt wird.114 Vielmehr soll das OA gerade zum 110
Vgl. Enz. § 564, GW 20, S. 549 f. und VPR 5, S. 5 f. und 108 f. In diesem Sinne heißt es in Enz. § 564A im Anschluss an C.F. Göschel: „Gott ist nur Gott insofern er sich selber weiß; sein Sich-wissen ist ferner sein Selbstbewußtseyn im Menschen, und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sich-wissen des Menschen in Gott.“ (Enz. § 564A, GW 20, S. 550) Vgl. Mon., Kap. 66 f., S. 193–195. 112 Hegel würde ohne weiteres zugeben, dass der Gedanke des Selbstdenkens des Absoluten kein spezifisch christlicher Gedanke ist, sondern schon im aristotelischen Begriff der νο ησις νοη σεως formuliert wird, den Hegel selbst unter neuplatonischen Prämissen deutet. Vgl. D 21984, S. 311 f. Er würde aber vermutlich zu bedenken geben, dass dieser Gedanke dort nicht mit der komplexen Selbstauffassung vernünftigen Lebens verbunden wird, die Hegel im Christentum zu finden meint. 113 Vgl. auch Enz. § 193A, GW 20, S. 203 f. Ähnliche Formulierungen finden sich auch im Manuskript (vgl. VPR 5, S. 9 f. und 11) und im Kolleg von 1824. Vgl. ebd., S. 115. 114 „Bei Cartesius und Spinoza ist Gott als Ursache seiner selbst definiert; […] oder Gott 111
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Ausdruck bringen, dass die gegenteilige Aussage, es könne nichts geben, in dem Denken und Wirklichkeit vollständig zusammenfallen, „an ihm selbst aufgehoben [ist]“ (ebd.). Leider gibt Hegel darüber hinaus wenig Hinweise, wie man diese zentrale Behauptung genau verstehen soll. Eine mögliche und m.E. vielversprechende Deutung ergibt sich aber aus der V. Hösle vertretenen These, dass man die hegelschen Selbstaufhebungsfiguren am besten von der Struktur retorsiver transzendentaler Argumente her verstehen kann.115 Wie man diese Deutungslinie an dieser Stelle konsequent ausbuchstabieren könnte, kann hier nicht in allen Details dargestellt werden.116 Der Kürze halber will ich hier nur mit Hegel die Frage aufwerfen, auf welche Konsequenzen man sich mit der Behauptung festlegt, dass es nichts ,absolut Wahres‘ im hegelschen Sinne gibt oder geben kann. Zunächst würde dies bedeuten, dass es kein Denken gibt bzw. geben kann, dessen Inhalt mit der Natur alles dessen, was ist und sein kann, zusammenfällt. Die Leugnung dieser Aussage müsste dann zur Folge haben, dass zumindest einige wirkliche und mögliche Sachverhalte entweder in gar keiner oder nur in einer kontingenten Beziehung zu ihrem tatsächlichen Erkanntwerden stehen können. Die erste Option scheint nun direkt widersprüchlich. Denn als Behauptung erhebt sie selbst einen Erkenntnisanspruch darüber, was der Fall ist bzw. sein kann, von dem sie aber zugleich suggeriert, es könne unter keinen Umständen epistemisch zugänglich.117 Die zweite Option würde dagegen ungefähr der o.g. These der universellen Fallibilität entsprechen. Darin drückt sich eine bestimmte Selbstauffassung vernünftigen Lebens aus, der zufolge sich jeder beliebige Wis-
als Begriff kann nicht gefaßt werden ohne Sein; daß dies eine Voraussetzung ist, ist das Ungenügende, so daß der Begriff an ihr gemessen ein Subjektives sein muß.“ (VPR 5, S. 274) 115 Vgl. die Diskussion oben in II.2.5. 116 Vgl. bes. die ausführliche Rekonstruktion M 2020, Kap. 9.3, bes. S. 523–532. H.G. Melichar zeigt in Teil IV in seiner Studie, dass Hegels Rekonstruktion des OA am Anfang des Objektivitätskapitel zum einen die Überführung des ,absolut Notwendigen‘ in den ,Begriff‘ voraussetzt, der zum anderen in seiner Binnenstruktur expliziert werden muss und für dessen Objektivität Hegel retorsiv argumentiert. Die folgende Argumentationsskizze lässt sich als damit komplementäre, religionsepistemologische Meta-Reflexion auf das OA in der WdL verstehen, auf die Melichar selbst hinweist. Vgl. ebd., S. 561. Ein weiteres, besonders instruktives Gegenstück zu den folgenden Überlegungen findet sich in H 1936. In seiner Replik auf Ryle analysiert Harris die notwendigen Präsuppositionen der Umwandlung empirischer Erfahrung in theoretische Belege für die Existenz empirischer Entitäten (vgl. ebd., S. 475–478) sowie der Durchführung von Argumenten (vgl. ebd., S. 478). Diese Bedingungen identifiziert er im Folgeschritt mit der systematischen Ordnung der Gesamtwirklichkeit durch das Absolute (vgl. ebd.). Die folgende, enger an Hegel anschließende Begründungslinie unterscheidet sich davon erstens durch seine indirekte Struktur und zweitens durch die Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen der Erkenntnisbildung. Schließlich gibt es drittens Unterschiede zu Harris’ Begriff des Absoluten, der dieses mit dem erkennbaren System der Wirklichkeit gleichsetzt. 117 Wenn das sog. Fitch-Paradox korrekt ist, folgt im Übrigen aus der Negation dieser Annahme die von Hegel anvisierte Konklusion. Vgl. oben S. 159. Auf die objektiv-idealistischen Implikationen hat daher V. Hösle explizit hingewiesen. Vgl. H 2015, S. 42–44.
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sensanspruch als falsch herausstellen könnte. Aber auch diese These scheint eine implizite universelle, Objekt-gerichtete Aussage darzustellen. Denn sie behauptet von jedem einzelnen Sachverhalt, der der Fall ist bzw. sein kann, dass er möglicherweise von keinem einzigen Wissensanspruch erfasst wird. Die Annahme, dass einige Tatsachen möglicherweise nicht erkannt werden können, scheint dann aber schlicht mit der These zusammenzufallen, die Gesamtwirklichkeit sei als solche eben nicht prinzipiell erkennbar. Mit Hegel stellt sich dann aber wiederum die Frage, wie man im Rahmen der Ausgangsthese eine gerechtfertigte Behauptung über eben jene Gesamtwirklichkeit vertreten kann, die nach derselben Annahme eben nicht in den Skopus möglichen Wissens fallen kann. Unter dem Deckmantel des Eingeständnisses der eigenen ,Endlichkeit‘ scheint man aber damit genau denjenigen Standpunkt zu vertreten, der gemäß der Ausgangsvoraussetzung gerade unmöglich sein soll: nämlich die Sicht auf all das, was ist und sein kann, der gerade dem Selbstdenken der ,absoluten Idee‘ eignen soll.118 Kurz: In jedem Erkenntnisakt, inklusive der Leugnung ,absoluter Wahrheit‘, wird für Hegel immer schon implizit der kognitive Zugang zu demjenigen präsupponiert, dessen Erkennen mit dem Wesen der Gesamtwirklichkeit vollständig zusammenfällt.119 Mit dieser Behauptung muss man Menschen nun nicht die Fähigkeit unterstellen, gewissermaßen mit einem Blick alles zu erfassen, was überhaupt der Fall ist und sein kann.120 Vielmehr scheint Hegel zu meinen, dass jeder mögliche Erkenntnisanspruch nur dann Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn dessen Gehalt in nicht-kontingenter Weise mit der Sache verbunden ist, die er ausdrückt. Und diese notwendige Bedingung kann wiederum nur dann erfüllt sein, wenn beides in letzter Instanz identisch ist – nämlich im Selbstdenken des Absoluten, das folglich in jeder echten Erkenntnis selbst präsent sein muss.121
118 Im Manuskript drückt Hegel diese Schlussfolgerung auch mit der These der Selbstverabsolutierung endlichen Wissens aus: „Dagegen nun sagt der Verstand: Begriff und Sein sind verschieden; ganz richtig – so sind sie endlich, unwahr, und es ist eben die Sache der Vernunft und des gemeinen vernünftigen Menschensinns, nicht beim Endlichen, Unwahren stehenzubleiben noch sie für etwas Absolutes zu nehmen.“ (VPR 5, S. 9 f.) Daraus folgert Hegel: „Denken ist allgemein in sich, objektiv, Begriff; ohne alle O ist es ein leeres Vorstellen, Meinen; Sein ohne Begriff die zerfallende Äußerlichkeit und Erscheinung.“ (ebd., S. 10) 119 Die Selbstwidersprüchlichkeit der gegenteiligen Annahme drückt dies gewissermaßen unter negativen Vorzeichen aus: „Das ist die höchste Kraft des Geistes, zu diesem Gegensatz zu kommen, und der Geist ist nur dies, diesen Gegensatz zu fassen [und] selbst im Gegensatz unendlich sich zu erfassen.“ (ebd., S. 112; der Zusatz in Klammern vom Hrsg.) 120 Zum Verhältnis zwischen der absoluten Idee und dem menschlichen Wissen vgl. bes. H 2002, S. 273–278. 121 Für die These, man könne aus der Erkennbarkeit der Wirklichkeit auf einen unendlichen Erkenntnisakt schließen, argumentieren auch D.B. Hart und R. Spitzer. Vgl. H 2013, S. 231–235 und S 2019, S. 445–462. Das zugrunde liegende Gottesbild bringt Hart prägnant zum Ausdruck: „If indeed to exist is to be manifest – to be intelligible and perceptible – and if to exist fully is to be consciously known, then God, as infinite being, is also an act of infinite knowledge. He is in himself the absolute unity of consciousness and being,
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Mit dieser Argumentskizze lässt sich nun die Frage nach der ,Natürlichkeit‘ des OA nochmals von einer anderen Seite beleuchten. Wenn Hegel recht hat, dann beschreiben die Aussagen von Anselms Argument nicht etwa nur einen Sachverhalt unter anderen, dessen Bestehen mit einer endlichen Anzahl möglichst selbstevidenter Prämissen deduktiv bewiesen werden soll. In der hegelschen Interpretation artikuliert das OA in einfacher Form vielmehr die notwendigen Voraussetzungen, unter denen jede Erkenntnis, einschließlich deduktiver Argumente, überhaupt möglich ist.122 Die ,natürliche‘ Notwendigkeit des OA folgt damit aus dem schlichten Umstand, dass die Existenz des zu Beweisenden die Erkennbarkeit der Wirklichkeit ermöglicht, die in jedem vernünftigen und berechtigten Urteil immer schon präsupponiert wird.123 Anselms Gottesformel drückt daher für Hegel nicht nur aus, was es für das Absolute heißen mag, sich selbst zu erkennen. Zugespitzt formuliert liegt in ihr vielmehr schon die Einlösung der Gewissheit des Common Sense,124 dass die Ausübung unserer vernünftigen Fähigkeiten auf eine uns prinzipiell zugängliche Wirklichkeit trifft: Alles Vornehmthun gegen den sogenannten ontologischen Beweis und gegen die Anselmische Bestimmung des Vollkommenen hilft nichts, da sie in jedem unbefangenen Menschensinne eben so sehr liegt, als in jeder Philosophie wider Wissen und Willen, wie im Princip des unmittelbaren Glaubens, zurückkehrt. (Enz. § 193A, GW 20, S. 203)125
Ad (C): Kants Kritik am ontologischen Argument und Hegels Antwort Hegels komplexe Überlegungen zum OA bilden auch den Hintergrund für seinen Umgang mit der kantischen Kritik. Die Rekonstruktion seiner konkreten Gegenargumente wird dabei insbesondere durch die Tatsache erschwert, dass es keinesfalls klar ist, ob man überhaupt eine gemeinsame Diskussionsgrundlage
and so in the realm of contingent things is the source of the fittedness of consciousness and being each to the other, the one ontological reality of reason as it exists both in thought and in the structure of the universe. At least, according to almost all the classical metaphysical schools, East and West, the marvelous coincidence between, on the one hand, our powers of reason and, on the other hand, the capacity of being to be understood, points to an ultimate identity between them, in the depths of their transcendent origin.“ (H 2013, S. 235) 122 E.E. Harris bringt diesen Gedanken in seiner Diskussion des OA präzise auf den Punkt: „Apart from the Absolute no proof or argument would be intelligible (let alone valid).“ (H 1936, S. 478) K. Harrelson zeigt ausführlich, wie diese Grundintuition auch die neohegelianischen Wiederaufnahmen des OA, u.a. bei J. Royce und R.G. Collingwood, entscheidend bestimmt hat. Vgl. H 2012. 123 „Das Vollkommene ist jene Einheit, ist in unserer Vorstellung – aller Menschen, aller Philosophen – zu Grunde gelegen. W , V machen, so diese; enthalt jeder Menschensinn, actu […].“ (VPR 5, S. 9) 124 Vgl. H 2002, S. 276–278. 125 Ähnlich notiert Hegel im Manuskript: „Also Anselms Gedanke ganz richtig überhaupt – leuchtet ein dem gesunden Menschenverstand, wenn er dazu käme, so die Vorstellung als solche zu isolieren […].“ (VPR 5, S. 11)
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mit Kant ausmachen kann. Denn während Hegel zwar auch Descartes’ und Spinozas Fassung des OA in seine Überlegungen mit einbezieht,126 konzentriert er sich, wie wir oben gesehen haben, weitestgehend auf Anselms Proslogion. Kant hingegen scheint sich schon durch seine Bezeichnung des OA als „ontologische[r] (cartesianische[r]) Beweis“ (KrV A 602/B 630) ausschließlich auf Descartes zu beziehen. Bevor wir in die abschließende Diskussion um Kants Kritik einsteigen, muss daher zumindest ein kursorischer Blick auf Kants Wiedergabe des OA geworfen werden. Allgemein stuft Kant das OA sowohl als direktes127 als auch indirektes Argument ein, das nachzuweisen versucht, dass es genau „Einen Begriff“ gebe, dessen „Nicht-sein […] in sich selbst widersprechend sei“ und dem entspreche der „Begriff des allerrealsten Wesens“ (ebd., A 596/B 624). Das ganze Argument fasst Kant wie folgt zusammen: [1] Es hat, sagt ihr, alle Realität, und ihr seid berechtigt, ein solches Wesen als möglich anzunehmen […]128. [2] Nun ist unter aller Realität auch das Dasein mit begriffen: [3] Also liegt das Dasein in dem Begriffe eines Möglichen. [4] Wird dieses Ding nun aufgehoben, so wird die innere Möglichkeit des Dinges aufgehoben, welches widersprechend ist. (ebd., A 596 f./B 624 f.)
Verglichen mit Hegels Rekonstruktion, erscheint dieses Argument die anselmianischen Intuitionen auf ein Minimum zu reduzieren: Anselms Gotteskennzeichnung entspricht dabei ungefähr Kants Begriff des Ens realissimum (= Aussage [1]), obwohl Hegel sicherlich eine Identifikation bestreiten würde.129 Anstelle der komparativen, axiologischen Prämisse Anselms, dass wirkliche Existenz im Falle Gottes vollkommener ist als eine bloß mögliche oder gedachte, steht hingegen in Kants OA die ganz generelle Prämisse, unter allen nicht-derivativen und rein positiven Eigenschaften des Ens realissimum (im Folgenden = ER) finde sich auch das „Dasein“ (= Aussage [2]). In der konkreten Schlussfolgerung entfallen schließlich sowohl der Standard der Güte einer Sache als auch die komplexen epistemologischen Hintergrundbedingungen, die Hegel in seiner Interpretation herausstellt. Stattdessen schließt Kants Argument mit [1] und [2] zunächst auf den Umstand, dass Existenz zum Begriff des ER gehört (= [3]). Und da nun die hypothetische Annahme der Nicht-Existenz des ER der ersten Zwischenkon-
126 Vgl. auch neben Enz. 193A besonders auch die längere Fußnote in Enz. § 76, GW 20, S. 115 f. 127 Vgl. auch die Reformulierung des cartesischen OA in KrV A 594/B 622. 128 Selbstverständlich äußert Kant an der hier aus Darstellungszwecken ausgelassenen Stelle sogleich seine Zweifel, ob die metaphysische Möglichkeit Gottes tatsächlich bewiesen werden kann. Vgl. auch die lange Fußnote ebd., A 596/B 624. Leibniz’ Möglichkeitsbeweis leistet für ihn daher nur den Nachweis der logischen Konsistenz, aus der nach Kant aber nichts Relevantes für Möglichkeit de re folgt. Vgl. auch ebd., A 602/B 630. 129 Kants Begriff des ER ist für Hegel bestenfalls eine Schwundform des Gedankens der ,wahren Unendlichkeit‘ (vgl. oben II.2.5), während Anselm Gottesformel, wie wir gerade gesehen haben, den Kern der ,absoluten Idee‘ in nuce erfassen soll.
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klusion [3] und damit der definitorischen Festlegung [1] widerspricht, scheint sich im Umkehrschluss die Existenz des ER zu bestätigen (= [4]). Welche Folgen Kants eigentümliche Rekonstruktion in Hegels Augen zeitigt, werden wir gleich noch sehen. Wichtiger zunächst ist hier der Umstand, dass schon Kants Wiedergabe entscheidende Konsequenzen für seine eigene Einschätzung besitzt.130 Das genaue Verständnis von Kants Kritik ist zwar in der Forschung umstritten.131 Kants allgemeine Widerlegungsstrategie scheint aber in dem Nachweis zu bestehen, dass man sich mit einem OA auf bestimmte Voraussetzungen festlegt, die dieses selbst nicht erfüllen kann.132 Das Kernproblem liegt dabei für Kant insbesondere darin, dass die Existenznotwendigkeit im OA als de dicto-Notwendigkeit der Aussage ,Das ER existiert‘ verstanden werden muss. Denn (i) besteht dieses deduktive Argument für Gottes Existenz nach Kant wesentlich in dem Nachweis, dass die Behauptung seiner Nicht-Existenz logisch widersprüchlich sein soll (= Aussage [4]). Im Anschluss an die Terminologie von A. Plantinga könnte man daher sagen, dass die relevante Existenzaussage im OA im engeren logischen Sinne notwendig sein muss. Ein Widerspruch kann aber im Argument nur dann entstehen, wenn ,Existenz‘ oder ,Dasein‘ zur Definition bzw. zur näheren Kennzeichnung im Subjektterm der Aussage gehört. Daher gilt für Kant (ii), dass die Aussage ,Das ER existiert‘ dann und nur dann im engeren Sinne logisch notwendig sein kann, wenn sie eine analytische Wahrheit darstellt.133 Für Kants Kritik ist es nun entscheidend, dass ein Vertreter des OA an Annahme (ii) nicht vorbeikommt. Im Hintergrund steht die kantische Behauptung in der KrV, dass der Rückgriff auf (ii) für uns der einzige Weg ist, die notwendige Existenz einer Sache einsichtig zu machen.134 Die Form von Kants Rekonstruktion macht dies trivialerweise explizit: Denn sollte die Existenzaussage eine nichtanalytische, synthetische Aussage darstellen, dann kann man Aussage [4] und damit die Widersprüchlichkeit der Verneinung nicht mehr verständlich machen.135 Kant kann daher meinen, ein Angriff von Annahme (ii) könnte jedes OA zu Fall bringen. 130 Ob und in welcher Form Kant Anselms Formulierung des OA gekannt hat, spielt nach kantischen Prämissen keine Rolle. Denn seine Widerlegung zielt auf den Nachweis „der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes“ (KrV A 592/B 620) und seine kritische Schlussfolgerung soll sich seinem Selbstverständnis nach auf alle Instanzen apriorischer Existenzbeweise beziehen. Vgl. auch ebd., A 601 f./B 629 f. 131 Vgl. besonders die instruktive Unterteilung und detaillierte Diskussion der verschiedenen Einwandtypen in M 2020, Kap. 2. 132 Vgl. zur folgenden Interpretation auch L 2005a, S. 106 f. 133 Vgl. KrV A 593 f./B 622 f. und zur Unterscheidung von enger und weiter logischer Notwendigkeit oben S. 189. 134 Vgl. oben II.2.2, S. 189 f. Diese allgemeine Diagnose der KrV bestätigt Kant nochmals in KrV A 597 f./B 625 f. 135 Daher fragt Kant die Vertreter des OA: „Gesteht ihr dagegen, wie es billigermaßen jeder Vernünftige gestehen muß, daß ein jeder Existenzialsatz synthetisch sei, wie wollet ihr denn behaupten, daß das Prädikat der Existenz sich ohne Widerspruch nicht aufheben lasse?
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Bevor man auf die konkreten Gründe für Kants Behauptung eingeht, dass keine Existenzaussage analytisch sein kann, könnte man zunächst fragen, warum ein Vertreter des OA sich überhaupt auf die Annahmen (i) und (ii) verpflichtet fühlen sollte. Anselms axiologische Prämisse bezieht sich bspw. nicht nur auf den Inhalt der Gottesbegriffs, sondern trifft eine objektive Wertaussage über die jeweilige Güte der wirklichen und bloß möglichen Existenz eines maximal vollkommenen Wesens.136 Daher ist gar nicht klar, warum der entstehende Widerspruch bei der Verneinung von Gottes Existenz im angegebenen Sinne analytisch sein muss. Kant weist selbst noch in seiner kritischen Phase darauf hin, dass schon die bloße metaphysische Möglichkeit von Individuen in der Natur des ER gründen soll und dies gerade einen alternativen Sinn metaphysisch notwendiger Existenz offenlegt.137 Soll aber nur das Wesen des ER die Möglichkeiten de re erklären können, weil es gewissermaßen alle umfasst, dann folgt aus der Annahme seiner Nicht-Existenz die Leugnung der Möglichkeit de re. Und dies ist nach gängigen modalen Intuitionen nicht nur absurd, sondern selbst metaphysisch unmöglich.138 Kants Thesen über Existenznotwendigkeit stehen daher in offensichtlicher Spannung zu den Aussagen zum Verhältnis zwischen der Möglichkeit endlicher Dinge und der Natur des ER, die er auch in bzw. nach der KrV nicht radikal zu revidieren scheint.139 da dieser Vorzug nur den analytischen, als deren Charakter eben darauf beruht, eigentümlich zukommt.“ (KrV A 598/B 626) 136 Zur Verteidigung dieser Prämisse vgl. L 2005a, S. 85–87 und G 2009, S. 128 f. Anselm würde sich im Übrigen von Kants Beispiel der hundert Taler kaum beeindruckt zeigen. Der Begriff von hundert wirklichen Talern mag vielleicht dem Inhalt nach mit dem Begriff von hundert möglichen identisch sein, wie Kant in KrV A 599/B 627 behauptet. Aber man wird kaum bestreiten können, dass es – ceteris paribus – im Wortsinne einen Wert realisiert, 100 Taler nicht bloß möglicherweise, sondern wirklich zu besitzen. Man könnte höchstens im Geiste Gaunilos einwenden, dass Anselms Prinzip zu Parodien des Arguments einlädt. Aber erstens sollte man Kant einen solchen Einwand schon deshalb nicht unterstellen, weil er sich selbst auf eine Variante des Prinzips festlegt. Vgl. unten Fn. 162. Und zweitens könnte Anselm darauf beharren, dass der Besitz einer Geldsumme von maximaler Größe weder intrinsisch gut noch metaphysisch möglich ist. Zu Gaunilos Parodie vgl. auch P 1974b, S. 90 f. und L 2005a, S. 92–96. 137 Nochmals in den in Abschn. II.2.6 zitierten Worten der Religionslehre nach Pölitz: „Denn außer jenem logischen Begriffe von der Nothwendigkeit eines Dinges […] haben wir noch einen andern Begriff in unserer Vernunft von einer realen Nothwendigkeit, da ein Ding eo ipso nothwendig ist, weil sein Nichtseyn alle Möglichkeit aufhebet.“ (AA XXVIII, S. 1036) Genau genommen braucht man für diese Schlussfolgerung nicht einmal Kants vorkritischen Möglichkeitsbeweis. R. M. Adams hat bspw. vorgeschlagen, die Notwendigkeit der Existenz so zu verstehen, dass deren Negation zu keiner einzigen möglichen Welt ,passen‘ kann. Vgl. A 1971, S. 288 f. Denn wenn irgendetwas mit Notwendigkeit existiert, dann kann es keine maximalkonsistente Beschreibung dessen geben, wie die Welt sein könnte, in der es nicht vorkommt. Vgl ebd., S. 288 f. Sein „Nicht-Seyn“ würde folglich, wie Kant sagt, „alle Möglichkeit“ (AA XXVIII, S. 1036) aufheben. 138 Nach A. Chignell teilt auch Kant diese Intuition. Vgl. C 2009b, S. 167 und ferner auch A 2000, S. 433. 139 Vgl. W 2013, S. 225 f. Über seinen frühen Möglichkeitsbeweis behauptet Kant in
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Wie wir in den Abschnitten II.2.5 und II.2.6 gesehen haben, lässt sich die modal erweiterte Analyse der ,wahren Unendlichkeit‘ durchaus mit Kants Möglichkeitsbeweis in Verbindung bringen. In hegelscher Perspektive können die kantischen Unterstellungen daher ebenso wenig aussichtsreich sein wie die Einwände, die Kant gegen sie anführt. Soweit ich sehen kann, sind es zwei Gründe, die Kant für seine These anführt, keine Existenzaussage könne im engeren Sinne logisch notwendig sein. Erstens behauptet er, dass ein Widerspruch für uns nur dann entstehen kann, wenn ein Merkmal einer Sache geleugnet wird, das zu dessen Definition gehört oder zumindest aus ihr folgt.140 In diesem Sinne wäre es nach Kant etwa widersprüchlich zu behaupten, ein Dreieck könne im euklidischen Raum eine Innenwinkelsumme besitzen, die kleiner oder größer als 180° ist.141 Bei der Verneinung der Existenz einer Sache könne aber wiederum kein Widerspruch entstehen. Denn mit der Behauptung der Nicht-Existenz würden dabei alle Begriffsmerkmale zugleich negiert und jede mögliche Spannung zwischen dem Subjekt- und dem Prädikatsausdruck würde mit ihnen verschwinden.142 Dieser Einwand unterstellt aber einfach, dass jeder logische Widerspruch eine Inkonsistenz innerhalb einer prädikativen Aussage darstellen muss.143 Und
der Religionslehre nach Pölitz sogar: „Allein widerleget kann er auf keine Weise werden, weil er in der Natur der menschlichen Vernunft seinen Grund hat; denn diese nöthiget mich durchaus, ein Wesen anzunehmen, das der Grund von allem Möglichen ist, weil ich sonst überall nicht erkennen könnte, worin etwas möglich sey.“ (AA XXVIII, S. 1034) 140 Vgl. zur Diskussion auch P 1974b, S. 92–94 und L 2005a, S. 107. 141 Kant verwendet das Beispiel, „daß ein Triangel drei Winkel habe“ (KrV A 593/B 621) Vgl. auch ebd., A 593–595/B 621–623. 142 In Kants Formulierung „Hebe ich aber das Subjekt zusamt dem Prädikate auf, so entspringt kein Widerspruch; denn es ist nichts mehr, welchem widersprochen werden könnte.“ (ebd., A 594/ A 622) Diese Aussage ist auch für sich genommen falsch. Die Aussage: ,Angela Merkel existiert nicht (und hat niemals existiert).‘ hebt vielleicht alle Prädikate des Individuums Angela Merkel auf. Es bleibt aber dennoch vieles, was dem widerspricht – nämlich alle wahren Aussagen über Angela Merkel wie: ,Angela Merkel ist seit dem 8. 12. 2021 Bundeskanzlerin a.D.‘ Gleiches gilt für Aussagen über alle möglichen konkreten oder abstrakten Entitäten. Vgl. zu der kantischen These auch P 1990, S. 31 f. 143 Vgl. zur Kritik dieser These oben Fn. 137. Kants Begründung dieser These besteht lediglich in dem Hinweis, dass kein notwendiges Wesen „äußerlich notwendig“ sein solle und „innerlich[e]“ Widersprüche hingegen hier schon deshalb unmöglich seien, weil man „durch Aufhebung des Dinges selbst […] alles Innere zugleich aufgehoben“ (KrV A 595/B 623) habe. Aber abgesehen davon, dass letztere Aussage nur den Einwand wiederholt, scheint schon Kants Disjunktion unvollständig. Das ER ist etwa ,äußerlich notwendig‘, weil es die Möglichkeiten aller anderen notwendigerweise begründet. Gleichzeitig ist es eben deshalb auch ,innerlich notwendig‘, weil es sich – wie Kant selbst sagt – im „Selbstbesitz aller Bedingungen zu allem Möglichen“ (ebd., A 585/B 613) befindet. Zudem könnte man genau durch diese Prämisse die Möglichkeit Gottes begründen, aus der ohnehin seine Existenz folgt. In J.N. Findlays Worten: „One cannot be an all-possible being if there are any circumstances in which it would be possible for one not to be. The ontological proof is in fact incontrovertible for all who accept the possibility of the existence of its object, as Leibniz long ago realized and stated.“ (F 1981, S. 236)
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eine solche Annahme ist nicht nur allgemein unplausibel, sondern müsste, wie wir gesehen haben, selbst für Kant inakzeptabel sein.144 Kants erster Begründungsversuch wiederholt damit lediglich seine zentrale Prämisse, dass es keine analytisch notwendigen Existenzaussagen geben kann. Anders steht es mit seinem zweiten Grund für diese Prämisse, dass „Sein“ kein „reales Prädikat“ (KrV A 598/B 626) sei. Was Kant mit dieser, zunächst nur negativ formulierten Formel meint, ist zwar Gegenstand kontroverser Diskussionen.145 Hier genügt es, der exegetischen Frage nachzugehen, warum in Kants Selbstverständnis das Existenzprädikat unter keinen Umständen die Funktion ,realer Prädikate‘ erfüllen kann und inwiefern dies für ihn unweigerlich einen apriorischen Schluss auf Gottes Existenz blockieren muss. Die Verwendung ,realer Prädikate‘ dienen nämlich, wie Kant sagt, in erster Linie „der Bestimmung eines Dinges“ (ebd.). Damit meint er, dass sie als deskriptive Ausdrücke angeben, was es für eine Sache (res) genau heißt bzw. heißen kann, so-und-so zu sein.146 Im Bestfall enthält dieser Prädikatstyp dabei die Bedingungen, unter denen die Anwendung eines bestimmten Begriffs in einem Urteil erfolgreich sein kann. Denn er soll nach Kant diejenigen definierenden oder charakterisierenden Bestimmungen ausdrücken, die einer Sache zukommen müssen, um unter den fraglichen Begriff fallen zu können.147 Greife ich bspw. in einem Urteil auf den Begriff des ,Dreiecks‘ zurück, dann kann die Verwendung des Ausdrucks nur dann korrekt sein, wenn dem Redegegenstand die Eigenschaft zukommt, im euklidischen Raum eine Winkelsumme von 180° zu besitzen. Das ,reale‘ Prädikat besitzt dann die Funktion, das Zukommen dieser Eigenschaft auf der Urteilsseite auszudrücken – bspw. in Form der sprachlichen Wendung ,… hat eine Winkelsumme von 180°‘.148 Wenn Kant nun sagt, dass Existenzprädikat diese Funktion nicht erfüllen kann, dann scheint er also zu meinen, dass man mit dem Ausdruck ,… existiert‘ keine beschreibenden Merkmale angibt, die die Anwendungsbedingungen eines bestimmten Begriffs festlegen. Vielmehr bringt man mit einer Existenzaussage zum Ausdruck, dass es etwas gibt, dass diese Bedingungen tatsächlich erfüllt.149 In Kants Worten: 144 B. Leftow weist etwa darauf hin, dass mathematische Aussagen wie „Es gibt eine Primzahl zwischen 1 und 10“ notwendige Existenzaussagen darstellen, die das Raster der kantischen Vorgaben sprengen. Vgl. L 2005a, S. 108 sowie die analoge Kritik in O 1995, S. 31 und M 2020, S. 103. 145 Vgl. die instruktive Diskussion vier bzw. fünf verschiedener Lesarten ebd., S. 111–123. Die Engführung mit der heute gängigen Quantorenanalyse des Existenzprädikats ist hier nicht mitgezählt, die Melichar zuvor diskutiert. Vgl. ebd., S. 106–111 und zu dieser Engführung auch G 2009, S. 126–128 und L 2013a, S. 395–397. 146 Vgl. KrV A 598 f./B 626 f. Im Folgenden orientiere ich mich insbesondere an den Interpretationen in P 1966; . 1974b, S. 94–97; M 2020, S. 113–119 und ferner an den Überlegungen in A 1971, S. 287 f. 147 Vgl. L 2005a, S. 107 und hierzu allgemein auch A 1971, S. 287 f. 148 Kant verwendet als Beispiel den Prädikatsausdruck die ,Realität‘ der „Allmacht“ (KrV A 598/B 626). 149 Vgl. H 2011, S. 57 f.
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Nehme ich nun das Subjekt (Gott) mit allen seinen Prädikaten […] zusammen, und sage: Gott ist […], so setze ich kein neues Prädikat zum Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff. (ebd., A 599/B 627)
Mit diesem Beispiel weist Kant also darauf hin, dass ein Existenzurteil schon an der Subjektstelle einen Begriff voraussetzt, der alle Begriffsmerkmale enthält, die den Bezugsgegenstand vollständig beschreiben.150 Eine Existenzaussage der Form ,Gott existiert‘ macht dann lediglich explizit, dass es etwas gibt, dem alle Bestimmungen zukommen, die den Inhalt des fraglichen vollständigen Begriffs bilden, und das genau in dieser Hinsicht den Referenzgegenstand des Subjektterms darstellt. Wenn der Subjektterm in Existenzaussagen für einen, wie Kant sagen würde, ,durchgängig bestimmten‘ Begriff steht, dann folgt gewissermaßen trivialerweise, dass mit dem Prädikatsterm ,… existiert‘ nichts ausgedrückt werden kann, „was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne“ (ebd., A 598/B 626). Diese Schlussfolgerung scheint nun auch der Grund zu sein, warum Kant der Meinung ist, dass ein apriorischer Schluss vom Begriff einer Sache selbst dann nicht gelingen kann, wenn man die Bestimmung der Existenz in seine Definition aufnimmt. Denn füge ich zu einem Begriffsinhalt, der schon alle Merkmale enthält, die seinen Referenzgegenstand kennzeichnen, die noch fehlende Bestimmung der ,Existenz‘ hinzu, dann ändert dies nach dem eben Gesagten nichts an dessen Anwendungskontext. Ebenso wenig folgt allein aus der Angabe aller Merkmale, die eine Sache unter allen möglichen Umständen beschreiben, dass es de facto irgendetwas gibt, dass all diese Merkmale in einem exemplifiziert. Diesen allgemeinen Gedanken kann man anhand von Kants eigener Rekonstruktion des OA nachvollziehbar machen.151 Mit Aussage [1] wird zunächst eine Definition Gottes in Form ,realer‘ Prädikate angegeben, die deren Anwendungsbedingungen festlegen Im Anschluss an A. Plantingas Interpretation kann man [1] daher auch wie folgt reformulieren: [1*] ,Eine Entität x ist genau dann das ER, wenn x alle nicht-privativen, einfachen und positiven Prädikate R1, …, Rn besitzt‘.152
Prämisse [2] des OA behauptet dann schlicht, dass Existenz eine der ,Realitäten‘ R1, …, Rn darstellt. Das einzige, was man im kantischen Sinne damit leistet, 150 Dies geht auch aus Kants Wendung hervor, dass „Gegenstand“ und „Begriff“ in einem wahren Existenzurteil „genau einerlei enthalten“ (KrV A 599/B 627) sollen. A. Plantinga hat daher recht, wenn er ,Begriffe‘ hier als maximalkonsistente Begriffe nicht-fiktiver Individuen versteht, was zudem gut zu Kants Idee der Bildung von Individuenbegriffen mittels des ,Prinzips der durchgängigen Bestimmung‘ passt. Vgl. P 1966, S. 542 f. und zur Diskussion auch M 2020, S. 118 f. Man könnte sie aber vermutlich auch schwächer als Kennzeichnungen verstehen. 151 Vgl. im Folgenden P 1974b, S. 95 f. 152 Ich greife hier direkt auf Plantingas bikonditionale Definitionsschema ebd., S. 96 zurück.
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ist dann aber, dass man das Existenzprädikat auf der rechten Seite des Bikonditionals [1*] explizit macht. Daraus allein folgt aber nur die tautologische Aussage, dass, wenn es irgendetwas gibt, das unter den Begriff des ER fällt, es dann durch Realitäten definiert ist und zudem noch existiert.153 Es folgt aber keineswegs, dass es etwas gibt, das mit dem ER identisch ist. Andernfalls wäre es nach Kant bekanntlich möglich, seinen eigenen Kontostand einfach dadurch zu vergrößern, indem man sein begriffliches Wissen, um was es sich bei einer beliebigen Geldsumme handelt, gedanklich durch den Hinweis ergänzt, dass diese darüber hinaus die Eigenschaft besitzt, tatsächlich zu existieren.154 Es ist nun insbesondere diese Kritiklinie, auf die sich Hegels explizite MetaKritik richtet und die er insgesamt von seiner eigenen Auffassung des anselmianischen Arguments her diskutiert.155 Hegels Haupteinwand scheint zunächst nur darin zu bestehen, dass Kants Kritik zur Folge haben müsste, bestimmte Fälle existierender Entitäten gleich zu behandeln, die bei genauerer Betrachtung verschiedenen ontologischen Ordnungen angehören. Nach Hegel gilt daher Kants Schluss trivialerweise für endliche und kontingente Entitäten wie den kantischen hundert Talern. Denn selbst ihr Besitzer kann nicht beanspruchen, dass sie sich unter allen möglichen Umständen auf seinem Konto hätten befinden müssen, wenn er nur die bloße Vorstellung bildet, es müsse sich so verhalten.156 Gleiches lässt sich aber gerade nicht von Gott sagen: In der That ist alles Endliche diß und nur diß, daß das Daseyn desselben von seinem Begriffe verschieden ist. Gott aber soll ausdrücklich das seyn, das nur ,als existirend gedacht‘ werden kann, wo der Begriff das Seyn in sich schließt. Diese Einheit des Begriffs und des Seyns ist es, die den Begriff Gottes ausmacht. (Enz. § 51A, GW 20, S. 91)
Oberflächlich betrachtet scheint Hegel mit dieser Aussage genau das Problem zu wiederholen, das Kant am OA diagnostiziert hatte. Denn selbst wenn man der
153 Vgl. ebd., S. 96 f. D. Henrich meint hingegen, dass nach Kant Existenz deshalb nicht unter die ,Realitäten‘ gezählt werden könne, weil sonst der existierende Bezugsgegenstand immer mehr Bestimmungen enthalten würde als sein Begriff. Und damit „würden wir uns grundsätzlich der Möglichkeit begeben, Begriffe auf Wirklichkeit anzuwenden“ (H 1960, S. 158). Eine solche Begründung ist aber in dieser generellen Form abwegig. Hätte Henrich recht, dann könnte ich nicht mehr sagen, dass ich, W.L., ein Mensch bin, weil ich bspw. die Schuhgröße 43 besitze. Denn die wird im Artbegriff ,Mensch‘ per definitionem offengelassen. Vgl. zu diesem allgemeinen Punkt auch P 1966, S. 593 f. Umgekehrt zeigt die oben mit Plantinga entwickelte Lesart, dass selbst wenn man das Existenzprädikat einer Begriffsanalyse hinzufügen möchte, man daraus keinen Schluss auf Gottes Existenz gewinnt. 154 Vgl. KrV A 599/B 627. 155 Vgl. im Folgenden insbesondere Enz. § 51A, GW 20, S. 91 f. und WdL I/1, GW 21, S. 76 f. 156 „Nichts kann so einleuchtend sein, als daß dergleichen, was ich mir denke oder vorstelle, darum noch nicht wirklich ist, – der Gedanke, daß Vorstellen oder auch der Begriff zum Seyn nicht hinreicht.“ (Enz § 51, GW 20, S. 91) Und wenige Zeilen darunter heißt es entsprechend: „[W]as kann es in der That für eine trivialere Kenntniß geben?“ (ebd.)
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Bestimmung dessen, was es heißt, Gott zu sein, mit Spinoza hinzufügt, dass er notwendigerweise existiert und nur „als existirend gedacht werden kann“ (ebd.),157 folgt daraus allein eben nicht, dass es Gott tatsächlich gibt. Allerdings hatten wir oben schon gesehen, dass das OA sich nach Hegel eben nicht in einem bloßen Schluss aus der Definition bzw. Kennzeichnung Gottes erschöpft. Hegel kritisiert ja insbesondere Spinoza und Descartes,158 dass sie die Identität von ,Begriff‘ und ,Sein‘ in Gott als definitorische „Voraussetzung“ (VPR 5, S. 274) einführen, ohne etwa danach zu fragen, welche Begründungsrolle das absolut ,Wahre‘ und ,Vollkommene‘ im Gesamtaufbau aller möglichen Argumente und Erkenntnisse genau spielen muss.159 Hegels Replik auf Kants Einwand lässt sich daher besser als ein Vorwurf der Irrelevanz verstehen. In der Tat könnte man prinzipiell fragen, wo genau Anselm oder Hegel den Fehler begehen, lediglich ihrer Gottesdefinition dasjenige zu entnehmen, was sie dort zuvor schon hineingesteckt haben.160 Anselms Argument im Proslogion benötigt etwa zumindest die weitere Prämisse, dass wirkliche Existenz im Falle Gottes objektiv besser und wertvoller ist als seine bloß mögliche oder gedachte. Dabei ist es nicht nur schwer zu sehen, wo sich Anselm auf die strittige Auffassung des Existenzprädikats festlegt, die Kant allen Formen des OA un-
157 Vgl. Eth. I, def. 1, S. 4 f. und ferner auch Enz. § 76, GW 20, S. 115 f. Fn. Hegel selbst nimmt konsequenterweise Spinozas causa sui-Definition in die kategoriale Bestimmung der ,Idee‘ auf. Vgl. Enz. § 214, GW 20, S. 216. 158 In Enz. § 193A, GW 20, S. 203 dehnt Hegel diesen Vorwurf auch auf Anselms Argument aus. 159 „Der Mangel aber in der Argumentation Anselms, den übrigens auch Cartesius, Spinoza, sowie das Princip des unmittelbaren Wissens mit ihr theilen, ist, daß diese Einheit, die als das Vollkommenste oder auch subjectiv als das wahre Wissen ausgesprochen wird, vorausgesetzt, d.i. nur als an sich angenommen wird.“ (ebd.). Vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussionsergebnisse deute ich diese zentrale Aussage so, dass in Anselms Gottesformel zwar implizit oder „an sich“ die Bedingungen der Erkennbarkeit der Wirklichkeit ausgedrückt werden, die im „wahre[n] Wissen“ (ebd.) des Absoluten liegen, diese Konsequenz aber nicht in der syllogistischen Form des Arguments artikuliert wird. Damit wird auch klarer, warum Hegel stets die modale Bestimmung der notwendigen Existenz des Absoluten mit der epistemisch-ontologischen Bestimmung der Einheit von ,Sein‘ und ,Denken‘ identifiziert. In einer für Hegel typischen, an Spinoza anschließenden Formulierung: „Gott ist die (und zwar die einzige) Substanz, die Substanz aber ist Causa sui [Hervorhebung im Original fett, W.L.], also existirt Gott nothwendig – heißt nichts anderes, als daß Gott diß ist, dessen Begriff und Seyn unzertrennlich ist.“ (Enz. § 76, GW 20, S. 116 Fn.) 160 E. J. Lowe weist darauf hin, dass ein Großteil der Diskussion um das OA erheblich daran leidet, dass die relevante Gottesdefinition nicht im klassischen Sinne als Realdefinition verstanden wird. Vgl. L 2013a, S. 397 f. Anders als stipulative Definitionen treffen Realdefinitionen eine Behauptung über das, was die Natur einer (möglichen oder wirklichen) Sache ausmacht, und können damit nicht der Willkür desjenigen unterliegen, der sie für Diskussionszwecke festlegt. Vgl. ebd., S. 398. In bestimmten Fällen scheinen partielle Realdefinitionen oder deren Implikationen wie ,Wasser hat die Molekularstruktur H2O‘ sogar Gegenstand von wissenschaftlichen Entdeckungen zu sein – so etwa die berühmte These von S. Kripke.
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terstellt.161 Kant selbst wird Anselms axiologische Prämisse schon deshalb nicht ablehnen können, weil er sie implizit für sein moralisches Argument voraussetzt: Eine hypothetisch angenommene mögliche Welt, in der Gott nicht existiert, wäre für Kant schon deshalb ,schlechter‘ als eine Welt mit Gott, weil in ersterer das ,höchste Gut‘ unter keinen Umständen verwirklicht werden kann. Daher muss jeder rationale Akteur nach Kant davon ausgehen, dass es wenigstens um die wirkliche Welt, in der er moralisch handelt, wesentlich besser bestellt ist, wenn es Gott tatsächlich gibt.162 Eine analoge Schlussfolgerung lässt sich aus dem OA in der oben entwickelten hegelianischen Interpretation ziehen. Denn wenn die Wirklichkeit des ,absolut Vollkommenen‘ die notwendige Gelingensbedingung für jede Art der Erkenntnis bildet, dann setzt Kant in der Formulierung seiner Einwände das schon voraus, was er mit diesen gerade bestreitet. Selbst wenn man aus anderen Gründen Zweifel an der Schlüssigkeit dieser Begründungen hegt, wird man ihnen zumindest nicht mit Kant vorwerfen können, sie ,definierten‘ das Absolute geradezu ins Dasein.163 Die Gründe für Kants Einwand, das OA beruhe auf einer fehlerhaften Auffassung von Existenzaussagen, sind daher bislang wenig überzeugend. Damit ist allerdings sein Kritikpotential nicht erschöpft. Bislang haben wir nur gesehen, dass Kant die These ablehnt, es gäbe analytische Existenzurteile. Man könnte aber auch umgekehrt fragen, unter welchen Bedingungen eine synthetische Existenzaussage nach Kant gerechtfertigter Weise vertreten werden kann. Tatsächlich behauptet Kant explizit, dass die menschliche Erkenntnis einer Existenztatsache denjenigen Bedingungen unterliegt, die er seinen ,Postulaten des empirischen Denkens‘ formuliert.164 Entsprechend heißt es in seiner Widerlegung des OA,
161 Eine ganze Reihe zeitgenössischer Interpreten äußert daher nicht zu Unrecht starke Zweifel, ob Kant überhaupt einen nicht-zirkulären oder gar relevanten Einwand formuliert. Vgl. u.a. P 1966, S. 543; O 1995, S. 37 f.; L 2005a, S. 107 f.; G 2009, S. 126–128; L 2013a, S. 396 f. und M 2020, S. 119. 162 Dass Kant Anselms Prämisse anfechtet, wie O. Höffe behauptet, ist daher zweifelhaft. Vgl. H 2011, S. 267. Denn genau genommen vertritt Kant sogar die noch stärkere These, dass die Möglichkeit des von Gott gewährleisteten ,höchsten Guts‘ den maximalen Wert für jede mögliche Welt definiert. So schließt Kant etwa aus der Konklusion seines moralischen Arguments: „Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“ (KpV A 226/AA V, S. 125) 163 Wenn H. Tegtmeyers Interpretation zutrifft, dann lässt sich Kants Einwand nicht einmal gegen das cartesische OA vorbringen, gegen das er vornehmlich gerichtet ist. Nach Tegtmeyer argumentiert Descartes in der V. Meditation für die notwendige Existenz und Aseität des Vollkommenen, dessen faktische Existenz schon durch das Argument der III. Meditation erwiesen wird. Vgl. T 2013, S. 172 f. 164 Das relevante Postulat lautet: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.“ (KrV A 218/B 266) Weiter unten gibt Kant folgende Erläuterung: „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar, von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang
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dass eine Entität nur dann als existierend erfasst werden kann, wenn „die Erkenntnis jenes Objekts auch a posteriori möglich sei.“ (KrV A 600/B 628) Nun scheint der Hintergrund dieser Erkenntnisbedingung klar zu sein. Denn sie besteht in der kantischen Überzeugung, dass in unserer Erkenntnispraxis nur über eine empirische Anschauung ein epistemischer Kontakt zu ihren Bezugsgegenständen hergestellt werden kann.165 Gleichzeitig ist diese Kritiklinie aber prima facie wenig aussagekräftig. Denn die einzige Voraussetzung, die für diese Erkenntnisbedingung erfüllt sein muss, besteht nämlich in dem schlichten Umstand, dass die „Existenz“ einer Sache „als in dem Kontext der gesamten Erfahrung enthalten gedacht“ (ebd., A 600 f./B 628 f.) werden muss. Zwar kann man auch hier ein spezifisch kantisches Motiv erkennen, da sich ohne diesen Zusatz alle wissenschaftlichen Hypothesen als ungerechtfertigte Erkenntnisansprüche erweisen müssten, die zur Erklärung bestimmter Phänomene und Ereignisse die Existenz unbeobachtbarer Entitäten postulieren.166 Behauptet man hingegen, dass Entitäten auch dann in möglichen Wahrnehmungskontexten stehen, wenn nur die Effekte ihrer kausalen Wirksamkeit beobachtet werden können, sind Paritätsargumente unvermeidlich.167 Denn wenn die Existenz des Absoluten nur möglich ist, dann zeigt schon jedes aposteriorische Argument, dass seine Erkenntnis in diesem Sinne „auch a posteriori möglich“ (ebd., A 600/B 628) ist. Genau genommen kann man dieselbe Schlussfolgerung auch aus der Möglichkeit einiger apriorischer Argumente ziehen. Bspw. folgt aus jeder beliebigen empirischen Erkenntnis eines mesoskopischen Gegenstandes trivialerweise dessen me-
desselben mit irgend einer wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen.“ (ebd., A 225/B 272) Auf die Bedeutung der ,Postulate‘ in Kants Widerlegung des OA hat H.G. Melichar zu Recht mit Nachdruck hingewiesen. Vgl. M 2020, bes. S. 91–94. 165 Für Kant muss ein solcher Kontakt kausaler Natur sein, der im Falle unserer Erkenntnis in Form sinnlicher Empfindung bewusst wird. Vgl. W 2015b und oben S. 160. Dieselbe Schlussfolgerung gewinnt man, wenn man mit O. Höffe die ,Realität‘ ,realer Prädikate‘ von Kants ,Antizipationen der Wahrnehmung‘ her versteht. Vgl. KrV A 166/B 207 und H 2011, S. 266. 166 Vgl. W 2010, S. 259 f. In diesem Sinne könnte man Kants kausales Kriterium als Schwundform des alten platonischen Gedankens verstehen, nach dem eine Entität nur dann wirklich existiert, wenn es kausal wirksam ist oder etwas auf sie einwirken kann. Vgl. Soph. 247e und die Erläuterungen in G 1969, S. 65–74. Vor diesem Hintergrund würden auch die Zirkularitäts- und Regressprobleme einer bloßen Quantorenanalyse des Existenzprädikats verschwinden. Vgl. L 2013a, S. 396 f. und V 2014. Denn das kausale Kriterium bietet zumindest eine Erläuterung, ob und wann eine Entität wirklich einen Begriff instantiiert, die in existenzquantifizierten Aussagen nicht gegeben ist. 167 Die zugehörige Prämisse formuliert Hegel in der WdL: „Gott als lebendiger Gott, und noch mehr als absoluter Geist wird nur in seinem Thun erkannt. Früh ist der Mensch angewiesen worden, ihn in seinen Werken zu erkennen; aus diesen erst können Bestimmungen hervorgehen, welche seine Eigenschaften genannt werden; so wie darin auch sein Seyn enthalten ist. So faßt das begreiffende Erkennen seines Wirkens, d.i. seiner selbst, den Begriff Gottes in seinem Seyn, und sein Seyn in seinem Begriffe.“ (WdL II, GW 12, S. 128)
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taphysische Möglichkeit und seine Denkbarkeit. Beides kann aber nach Kant, wie wir gesehen haben, nur dann von uns angenommen werden, wenn etwas gibt, aus dessen Natur sich die Möglichkeiten aller Dinge erklären lassen und das Kant selbst mit dem ER identifiziert. Die naheliegendste kantische Antwort würde vermutlich in dem Hinweis bestehen, dass postulierte theoretische Entitäten derselben raumzeitlichen Ordnung wie wahrnehmbare Gegenstände angehören, während dies für Gott per definitionem nicht gelten kann.168 Diese Aussage wäre für Kant schon deshalb attraktiv, weil sie zwar unsere Erkenntnis von Existenztatsachen im gewünschten Maße restringieren würde, aber gleichzeitig mit der logischen Möglichkeit eines alternativen epistemischen Zugangs zu Gott kompatibel wäre, den Kant hypothetisch Gott selbst zuschreibt.169 Trotzdem würde auch diese Reformulierung von Kants Einwand in hegelscher Perspektive kaum einen aussichtsreichen Einwand formulieren. Denn zum einen würde Hegel mit guten Gründen bestreiten, dass Kant eine kohärente Erklärung dafür anbieten kann, warum lediglich raumzeitliche Entitäten Bezugsgegenstände unserer Erkenntnispraxis sein können.170 Zum anderen würde Hegel nicht nur Kants mögliche Begründungen, sondern diese Annahme einfach direkt angreifen. Sollte jede Erkenntnispraxis nur dann gelingen können, wenn die systematische Ordnung der Gesamtwirklichkeit mit der vernünftigen Ordnung wahrer Aussagen in letzter Instanz im Absoluten zusammenfällt, dann haben auch Kants theoretische Annahmen über synthetische Existenzurteile den epistemischen Zugang zum Absoluten zur notwendigen Bedingung. Möchte man nun trotz dieser Meta-Kritik an den kantischen Restriktionen festhalten, müsste man also nicht nur Hegels Begründungen abweisen können, sondern auch über zusätzliche Gründe verfügen, die die eigene Auffassung stützen. Andernfalls würde man leicht den hegelschen Verdacht erregen, die Begrenzung unserer Erkenntnisfähigkeiten zum Vorwand zu nehmen, um unter der Hand die Maßstäbe des Erkennbaren – im wörtlichen Sinne – willkürlich festzulegen. Hegel selbst scheint sogar der Meinung zu sein, dass dieser Verdacht im Falle Kants mehr als gerechtfertigt ist.171 Denn in Kants Philosophie soll nämlich genau dasjenige Selbstmissverständnis vernünftigen Lebens seinen in Theorie gegossenen Ausdruck finden, das den „Gegensatz des Bewusstseyns“ (WdL I/1,
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Eine solche Lesart findet sich etwa in H 2008, S. 105–112, bes. 111 f. Vgl. KU § 76, B 340 f. Wenn Gottes Existenz logisch möglich ist, dann auch ein ,synthetisches‘, aposteriorisches Urteil über seine Existenz, dessen Grund dann einfach in Gottes Selbstbewusstsein liegen würde. Vgl. F 1981, S. 235. 170 Zu Hegels Gründen vgl. die Ausführungen im Exkurs in II.1 und ferner II.2.3. Zum selben Resultat kommt auch H.G. Melichar von Hindrichs’ Lesart der kantischen Kritik. Vgl. M 2020, S. 130–133. 171 Genauer betrifft dieser Verdacht nach Hegel die ganze moderne, empiristische Tradition, zu der nach Hegel ja Kant ohnehin gehört. Vgl. im Folgenden u.a. Hegels Ausführung im Kolleg von 1824 in VPR 5, S. 111 f. und 117–119. 169
4.2 Die religionsphilosophische Dimension des ontologischen Arguments
389
GW 21, S. 64) ausdrücklich für unüberwindbar hält, obwohl es diesen Gegensatz schon in seiner Formulierung überwunden haben muss.172 Im letzten Abschnitt hatten wir nun gesehen, dass nach Hegel die Bescheidenheitsbekundung, wir könnten unmöglich erfassen, wie es sich mit den Sachen selbst verhält, sich nicht nur unmittelbar selbst widerspricht. Sie definiert zugleich stillschweigend die epistemischen und propositionalen Korrektheitsstandards selbst, die nach ihrer eigenen Auffassung einen subjektunabhängigen Grund besitzen sollen. Interessanterweise meint Hegel, dass selbst diese Konsequenz des ,modernen‘ Selbstverständnisses rationalen Lebens einen gewissen theoretischen Wert besitzt – und zwar, weil es unter negativen Vorzeichen aufzeigt, wie es sich eigentlich verhält. Im Kolleg von 1824 heißt es entsprechend: Das ist also die Größe dieses Standpunkts, der der modernen Welt angehört, daß sich das Subjekt so in sich selbst vertieft hat, daß das Endliche sich selbst als Unendliches weiß und in dieser Unendlichkeit mit der Endlichkeit behaftet ist und mit dem Gegensatz behaftet ist, den es getrieben ist aufzulösen. (VPR 5, S. 112)173
Mit dieser allgemeinen Diagnose bestätigt sich für Hegel nochmals das Ergebnis seiner Diskussion des OA. Eine Person, die im Rückgriff auf die ,modernen‘ Erkenntnisrestriktionen den Zugang zum Absoluten vollständig bestreitet, legt sich in der letzten Konsequenz darauf fest, sich selbst als ,Endliches‘ mit dem Absoluten zu identifizieren, von dem sie zugleich meint, es sei als ,Unendliches‘ von uns radikal verschieden. Diese Konsequenz ist für Hegel deshalb unvermeidlich, weil man selbst in der explizit behaupteten Unkenntnis dessen, in dem die Normen der Wahrheit und des Erkennbaren letztlich liegen, zugleich beanspruchen muss zu wissen, was tatsächlich der Fall ist und sein muss, wenn man eine solche Behauptung formuliert. Nimmt man dann aber diese Behauptung selbst ernst, dann können die epistemischen und alethischen Maßstäbe offenbar nur dort begründet sein, zu dem das ,endliche‘ Subjekt selbst immer Zugang hat, nämlich zu sich selbst. In dieser Selbstidentifikation mit dem ,Absoluten‘ und ,Unendlichen‘ besitzt das ,moderne‘ Subjekt aber zugleich das Selbstbewusstsein seiner eigenen ,Endlichkeit‘. Daher muss es den Widerspruch einsehen, mit dem sein epistemisches Selbstverständnis „behaftet“ ist und von dem es sich folglich „getrieben“ fühlt, ihn „aufzulösen“ (ebd.).174 172
Vgl. Enz. § 415A, GW 20, S. 422 f. Vgl. auch die parallelen Passagen im Manuskript in VPR 5, S. 8–10. 174 Nach Hegel könnte man es daher besser wissen, wenn man nur Anselm v. Canterbury verstanden hat, wie er im selben Kontext des Kollegs von 1824 ausführt: Denn „die Anselmsche Ansicht, die metaphysische, […] legt den absoluten Gedanken, die absolute Idee, die die Einheit des Begriffs und der Realität ist, zum Grunde. Diese alte Ansicht steht insofern höher, daß sie das Konkrete nicht als empirischen Menschen, als empirische Wirklichkeit nimmt, sondern als Gedanken – daß sie nicht dabei stehenbleibt, wir müssen uns am Unvollkommenen festhalten, beim subjektiven Begriff stehenbleiben, sondern [der Ausgangspunkt ist] ein Begriff, der zugleich Realität ist. In der modernen Ansicht ist der Widerspruch nicht aufgelöst, daß man das Konkrete gelten läßt und doch auch den einseitigen subjektiven Begriff.“ (VPR 5, S. 118 f.; der Zusatz in eckigen Klammern stammt vom Hrsg.) 173
390
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
Wenn Hegels Rekonstruktion des OA und seine Kant-Kritik korrekt ist, sollte man vermutlich auch wissen, welche Therapie auf diese Diagnose folgen sollte – nämlich diejenigen Prämissen zu verwerfen, die den Selbstwiderspruch hervorbringen und statt dessen diejenige „absolute Grundlage“ zu akzeptieren, die selbst epistemische Möglichkeit dieses Widerspruchs erklärt: die „Einheit des Begriffs und der Realität“ (ebd., S. 11).
4.3 Abschlussbemerkung Mit den Diskussionsergebnissen der letzten Kapitelabschnitte bestätigt sich nochmals unsere exegetische Ausgangsthese, dass Hegel die These der Unmöglichkeit natürlicher Theologie in der kantischen Fassung verwirft. Denn zum einen hatte sich gezeigt, dass sich Hegels eigener Vorschlag zur Systematisierung der Gottesbeweise nicht nur grundlegend vom kantischen unterscheidet, sondern zugleich die Probleme vermeidet, die mit Kants vermeintlichem Vollständigkeitsbeweis verbunden sind. Kants Behauptung, dass es keine weiteren Gottesbeweise neben dem KA, TA und OA geben kann,175 wird von Hegel weder de facto akzeptiert, noch wäre sie unter seinen Prämissen akzeptabel. Ein analoger Schluss konnte zum anderen aus der hegelschen Analyse und Bewertung des OA gezogen werden. Nicht nur erfüllt Kants Kritik keineswegs den Anspruch einer ultimativen Widerlegung, den Kant damit verbindet. Mit Hegel kann man sogar sagen, dass Kant nicht einmal die Kernintuitionen des Arguments authentisch rekonstruiert und wiedergibt. Am vielversprechendsten haben sich Kants epistemologische Bedenken erwiesen, die er gegenüber theologischen Existenzaussagen äußert. Jede echte epistemische Bezugnahme setzt danach einen kausalen Kontakt zum jeweiligen Referenzgegenstand voraus, der für Kant letztlich nur durch Anschauung gewährleistet werden kann. Im Falle Gottes wäre dies aber eine nicht-empirische Anschauung, zu der wir, als endliche Personen, nach Kant aber nicht fähig sind. Zwar haben wir gesehen, dass es grundsätzlich schwierig ist, mit Kant eindeutige und prinzipielle Grenzlinien für unsere Erkenntnispraxis zu ziehen. Daraus scheint allerdings nicht die stärkere These zu folgen, dass menschliche Erkenntnisfähigkeiten faktisch in gar keiner Hinsicht begrenzt sind. In der Tat könnte man abschließend allgemein fragen, wie berechtigt Hegels Behauptung ist, wir hätten in jedem Erkenntnisvollzug einen gewissen Zugang zum ,absoluten Erkennen‘, und ob sich die kantische Skepsis nicht in schwächerer Form reformulieren lassen könnte. Würde man nämlich unterstellen, das menschliche Wissen und das Selbsterkennen der ,absoluten Idee‘ seien qualitativ identisch, hätte dies
175 „Der erste Beweis ist der physikotheologische, der zweite der kosmologische, der dritte der ontologische Beweis. Mehr gibt es ihrer nicht, und mehr kann es auch nicht geben.“ (KrV A 591/B 619)
4.3 Abschlussbemerkung
391
kontra-intuitive, wenn nicht falsche Konsequenzen: Denn dann müssten wir in einer vollzogenen Erkenntnis unseres eigenen Wesens immer schon um die ,absolute Wahrheit von allem‘ wissen – und zwar, weil unsere Natur dann in nichts anderem bestehen würde als dasjenige Selbsterkennen zu sein, das zugleich immer schon die Gesamtwirklichkeit in allen ihren Besonderungen zum Inhalt hat. Und höchstwahrscheinlich wird kein Mensch von sich sagen können, dass er diese Form des Wissens tatsächlich besitzt. Auf diesen Einwand würde Hegel antworten, dass er auf einer falschen Auffassung der Präsenz des Absoluten in unserer Erkenntnispraxis beruht. In keinem Falle scheint Hegel damit zu meinen, dass jede einzelne Person im wörtlichen Sinne allwissend ist. Denn dies würde schlicht bedeuten, dass für jede mögliche Proposition gelten müsste, dass sie genau dann wahr ist, wenn jeder einzelner Mensch davon weiß, und dies ist es gerade nicht, was Hegel behauptet, wenn er vom ,absoluten Erkennen‘ spricht. In Schlussabschnitten der beiden Logiken vertritt er vielmehr die These, das Erkennen der ,absoluten Idee‘ werde für uns dann transparent, wenn wir den ganzen Weg nochmals höherstufig reflektieren, der uns zu ihm geführt hat. Darin werden aber nicht alle kategorientheoretischen Wahrheiten aufgezählt, sondern es wird die Methode explizit gemacht, mit deren Hilfe diese Wahrheiten in der Logik systematisch entwickelt und einsichtig gemacht werden konnten.176 Dies deckt sich in Hegel Selbstverständnis mit seiner Bestimmung der ,absoluten Idee‘. Denn die Methode ist hier kein äußerliches Erkenntnismedium, das auf den Gegenstandsbereich der Logik angewandt wird.177 Sie ist vielmehr in ihrem Anfang, ihrer Durchführung und in ihrem Resultat nichts anderes als die ,absolute Idee‘ selbst.178 Ein Verständnis des ,absoluten Erkennens‘ setzt damit zum einen die methodische Selbstreflexion im Rahmen einer durchgeführten Kategorientheorie voraus. Zum anderen erfordert sie eine weitergehende Reflexion auf die konkrete menschliche Bezugnahme auf das Absolute, die gerade in der Ausarbeitung einer solchen Theorie manifest wird.
176
Vgl. u.a. WdL II, GW 12, S. 237 f. und Enz. § 236 f., GW 20, S. 228 f. Vgl. WdL II, GW 12, S. 238 f. Worauf Hegel hier vermutlich zurückgreifen kann, ist ein aristotelisches Prinzip, demzufolge die Güte und Vollkommenheit einer Erkenntnis darin besteht, mit möglichst minimalen begrifflichen Mitteln eine möglichst maximale Anzahl von Erkenntnisobjekten ihrem Wesen nach erfassen zu können. Vgl. S/K 1995, S. 103–107, bes. 106 f. In Hegels Selbstverständnis zeichnet sich sein ganzes System wiederum dadurch aus, dass ein einziger ,Begriff‘ in seiner Wirklichkeit in letzter Instanz jedes Element des Systems erklären kann, einschließlich der Methode der Entwicklung systematischer Erkenntnis selbst. Vgl. Enz. § 18, GW 20, S. 59 f. 178 Hegel zeigt dies konkret anhand der metastufigen Reflexion (i) des Anfangs der Logik in der bestimmungsärmsten Kategorie des ,Seins‘ (vgl. WdL II, GW 12, S. 239–141), (ii) der Methode der Kategorienexplikation in der dialektischen Entfaltung jeder einzelnen logischen Kategorie (vgl. ebd., S. 241–249) und schließlich (iii) des Resultats im vollständigen System der Kategorien, das sich in Form der ,absoluten Idee‘ selbst einholt (vgl. ebd., S. 249–253). Vgl. auch die instruktive Übersicht und Diskussion in S 2018, S. 734–753. 177
392
4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
In gewisser Weise lässt sich Hegels Grundidee der retrospektiven Selbstreflexion an den letzten beiden Kapitelabschnitten konkret machen. Denn in Abschnitt II.4.1 haben wir gesehen, dass ein System der Gottesbeweise nach Hegel zwar nicht alle, aber doch die wesentlichen Stufen eines umfassenden, ontologischen Kategoriensystems reformuliert und darstellt. Jedes theistische Argument übersetzt dabei jeweils (i) vertikale inferentielle Beziehungen zwischen den kategorialen Bestimmungen des Endlichen und des Absoluten in eine syllogistische Form, die in einer höherstufigen Analyse offengelegt werden können.179 Die systematischen Beziehungen zwischen den Begründungsformen lassen sich hingegen (ii) dadurch erklären, dass zwischen den sog. ,metaphysischen Begriffe‘ des Absoluten horizontale inferentielle Beziehungen bestehen, in denen jeweils der logisch frühere Begriff durch den logisch späteren kohärent entwickelt wird.180 Beide Aspekte lassen sich durch zwei weitere in ihrer Einheit fassen. Denn die kategorialen Bestimmungen der endlichen Dinge sollen nach Hegel (iii) in ihrem essentiellen Bezug zum Absoluten dessen Natur selbst transparent machen. Endliche Entitäten sind daher in jedem ihrer Wesenszüge eine Darstellung dessen, was ihre Natur und Existenz immer schon ermöglicht.181 Daraus ergibt sich schließlich (iv), dass auch zwischen den Kategorien endlicher Dinge analoge horizontale Beziehungen bestehen können. Anspruchslosere, weil ,einfachere‘ Kategorien endlicher Entitäten erhalten in den jeweils logisch späteren, ,reicheren‘ Kategorien ihren eigentlichen Ausdruck.182 Wie oben ausführlich dargelegt wurde, besteht die herausragende Rolle des OA darin, dass es das, was kategorial im KA und TA implizit intendiert ist, vollständig explizit macht. Demgemäß wurde erstens gezeigt, dass die spezifische Auffassung der ,Objektivität‘ des Absoluten im KA und im TA für Hegel erst durch das Selbstdenken des Absoluten kohärent entwickelt werden kann, das in Anselms Gottesformel steckt. Ebenso wie alle Kategorien der WdL in die Bestimmung der ,absoluten Idee‘ zurücklaufen, ist es die Bestimmung der ,absoluten Wahrheit‘, in der das System der Gottesbeweise kulminiert. Die religionsepistemologische Analyse hatte zweitens ergeben, dass die Bildung und Formulierung des OA ein ganz spezifisches Selbstverständnis voraussetzt, in dem eine gelingende Bezugnahme auf Absolute nicht nur für möglich, sondern für wirklich gehalten werden muss. Sollte Hegel also mit seiner komplexen Analyse des OA recht haben, dann müsste dessen adäquates Verständnis zeigen, was es mit unserem Wissen vom ,absoluten Erkennen‘ eigentlich auf sich hat.183 Denn das OA 179 Dazu gehören insbesondere die Kategorienpaare des ,Endlichen‘ und ,Unendlichen‘, des ,Kontingenten‘ und ,Notwendigen‘ (vgl. auch Abschn. II.2.5), und der endlichen ,Zweckmäßigkeit‘ und der ,Weisheit‘ des Absoluten (vgl. Abschn. II.3.2). Für das OA könnte man hingegen mit Hegel die Kategorien ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ heranziehen. 180 Ein Beispiel wäre Hegels Explikation des Begriffs der ,Weisheit‘ aus dem Begriff der ,absoluten Notwendigkeit‘ und ,Macht‘. Vgl. oben II.3.2. 181 Vgl. oben II.2.5. 182 Zur Einfachheit und Konkretion von Kategorien vgl. oben S. 369, Fn. 92. 183 Tatsächlich lassen sich die beiden Fragen des OA nach der ,Objektivität‘ des Absoluten
4.3 Abschlussbemerkung
393
,ergänzt‘ nicht nur das System der Gottesbeweise, sondern artikuliert die kategorialen Strukturen der kontingenten Wirklichkeit zusamt aller Momente des Absoluten, die den Inhalt des ganzen Systems bilden – einschließlich unserer Erkenntnis und Rekonstruktion des Systems selbst. Und da das Absolute auf jeder Stufe des Systems selbst manifest wird, könnte man auch sagen, dass die methodisch kontrollierte Ausarbeitung des Systems und seine Vollendung im OA daher der herausragende Ausdruck der Selbstexplikation des Absoluten ist,184 von dem in Abschnitt II.4.1 die Rede war. Fragt man also nach dem genauen Inhalt ,absoluten Erkennens‘, der uns zugänglich ist, dann könnte Hegel salopp auf sein System der Gottesbeweise und seine Theorie religiöser Denk- und Begründungsformen verweisen. Dies mag zwar ein verhältnismäßig anspruchsvolles Ergebnis sein. Es ist aber weniger anspruchsvoll als der o.g. Einwand suggeriert, der meint, unser Zugang zum ,absoluten Wissen‘ sei mit Gottes Blick auf die Gesamtwirklichkeit identisch.185 Denn aus dem Umstand, dass wir Gottesbeweise entwickeln und ihre Systematik im Sinne der hegelschen Logik rekonstruieren können, folgt nicht, dass wir in einer endlichen Zeitspanne den Grad göttlicher Allwissenheit erreichen. Religiöse Begründungsformen geben vielmehr den Einblick, was es mit der kontingenten Gesamtwirklichkeit in letzter Instanz auf sich hat, deren Teil wir sind. Dabei sehen wir nach Hegel nicht nur ein, dass deren Struktur und Existenz sich letztlich vom Absoluten selbst her erklärt. Vielmehr erkennen wir, dass auch und gerade unser Zugang zum Absoluten im Rahmen des Systems der Denkformen ein Ausdruck seiner Selbstdarstellung und -bestimmung ist, die die Natur ,absoluten Er-
und nach der epistemischen Bezugnahme auf sein Wissen mit Hegel in eine einzige Formel gießen: ,Erkennen‘ ist das, was den ,Geist‘ allgemein auszeichnet (vgl. Enz. § 439, GW 20, S. 434 und oben I.2.1), das menschliche ,Erkennen‘ des ,absoluten Erkennens‘ hingegen kennzeichnet wesentlich seine Kulmination im ,absoluten Geist‘ (vgl. Enz. § 563 f., GW 20, S. 549 f. und unten III.5.5). Kurz: Wenn das Absolute nur in letzterer Form eigentlich ,objektiv‘ ist, dann folgt, dass seine „wahrhafte Objectivität […] nur im Elemente des Gedankens ist, dem Elemente, in welchem allein der reine Geist für den Geist ist“ (Enz. § 562A, GW 20, S. 548). Vgl. auch GVL, GW 18, S. 234. 184 Dieser Gedanke entspricht – wie Hegel erklärt – dem kantischen „Princip des anschauenden Verstandes […], worin das Besondere, welches für das Allgemeine (die abstracte Identität) zufällig sey und davon nicht abgeleitet werden könne, durch diß Allgemeine selbst bestimmt werde“ (Enz. § 55, GW 20, S. 93). Die ,absolute Idee‘ stellt daher das kantische „Synthetisch-Allgemeine[…]“ (KU § 77, B 348) dar – ein umfassendes Universale mit, wie man sagen könnte, maximaler inferentieller und explanatorischer Kraft bzgl. der essentiellen Bestimmungen seiner selbst wie der von ihm unterschiedenen Entitäten. 185 Im Anschluss an Anm. 184 könnte man denselben Punkt auch so ausdrücken, dass die Durchführung des Systems die inferentielle Kraft des ,absoluten Begriffs‘ in den Grenzen des Systementwurfs artikuliert. Aus der Tatsache, dass man das Erklärungspotential eines solchen Begriffs entdeckt hat, folgt aber nicht, dass man alle seine epistemisch möglichen Konsequenzen schon de facto und korrekt gezogen hat. Wäre Hegel tatsächlich dieser Meinung gewesen, hätte er die Enzyklopädie gewiss nicht nach der Erstveröffentlichung mehrfach überarbeitet.
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4. System der Gottesbeweise und Bedeutung des ontologischen Arguments
kennens‘ ausmacht.186 Der uns zugängliche Gehalt ,absoluter Wahrheit‘ und ,Vollkommenheit‘ ist daher für Hegel nichts anderes als das, was in zugespitzter Form ohnehin schon in Anselms unum argumentum formuliert und gedacht wurde.
186 J.N. Findlay formuliert Kants epistemologische Skepsis am OA treffend so: „God Himself, in being in some manner self-aware, may ipso facto be aware of His own existence and necessary existence, but this sort of self-authenticating concept, which is one with an intuition, is certainly not for us.“ (F 1981, S. 235) Wenn Hegels Rekonstruktion korrekt ist, könnte er gerade das OA heranziehen, um dem letzten Teilsatz des Zitats begründet zu widersprechen.
5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem Mit den Diskussionsergebnissen von Teil I und II zeichnet sich ein klareres Bild von Hegels eigener Antwort auf das Rechtfertigungsproblem ab, die zum Abschluss dieses Teils nochmals umrissen werden soll. Seine wesentlichen Prämissen fasst Hegel besonders bündig zu Beginn der Gottesbeweisvorlesungen zusammen und es lohnt sich, diese Passagen vor dem Hintergrund der entwickelten Interpretation näher zu beleuchten. Hegel greift dort auf seine fundamentale These zurück, der Gehalt der Gottesbeweise bestehe in der „Erhebung des denkenden Geistes zu dem, der selbst der höchste Gedanke ist, zu Gott“ (GVL, GW 18, S. 234). Gleich im Anschluss heißt es darüber: Dieselbe ist ferner wesentlich in der Natur unseres Geistes begründet, sie ist ihm nothwendig; diese Nothwendigkeit ist es, die wir in dieser Erhebung vor uns haben, und die Darstellung dieser Nothwendigkeit selbst ist nichts anderes als das, was wir sonst Beweisen nennen. (ebd., S. 235)
Das Spezifikum dieser Aussagen besteht hierbei in einer Doppeldeutigkeit des modalen Ausdrucks der ,Notwendigkeit‘, die man mit Hegels Theorie religiösen Denkens auflösen kann. In einem ersten, schwächeren Sinne soll die Erhebung notwendig sein, weil sie zur „Natur unseres Geistes“ gehört und für uns als geistige und vernünftige Lebewesen daher konstitutiv ist. Gleichzeitig ist diese Form der Notwendigkeit insofern schwächer, als sie zunächst nur das Ziel und die Norm beschreibt, die sich zwar aus unserer spezifischen Identität ergibt, aber nicht unter allen Umständen und in allen Hinsichten immer vollständig verwirklicht sein muss. In der zweiten Bedeutung zielt die Rede von der Notwendigkeit hingegen auf die Art und Weise, wie die vollzogene Erhebung mindestens in der Theorieperspektive in ihrer Notwendigkeit ,dargestellt‘ werden soll und muss – nämlich in derjenigen Ausdrucksform, die man nach Hegel gewöhnlich als die Praxis des „Beweisen[s]“ (ebd.) bezeichnet. Beide Bedeutungsdimensionen lassen sich mit den bisherigen Argumentationsergebnissen weiter differenzieren und mit folgenden fünf Überlegungen zuspitzen. Erstens deckt sich der normative und teleologische Sinn des Notwendigkeitsbegriffs mit Hegels Axiologie im Allgemeinen und mit seinen Thesen zu den objektiven Standards epistemischer Bewertung im Besonderen. Denn Normen ergeben sich für Hegel in der Regel daraus, was bestimmte Entitäten als solche ausmacht. Daher muss auch der Maßstab für Erkenntnisansprüche immer von der Natur bzw. dem ,Begriff‘ vernünftigen Lebens her analysiert werden können,
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5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem
damit er von Personen als verbindlich anerkannt werden kann und zumindest deren implizites Selbstverständnis trifft. Wie wir in Kap. I.2 gesehen haben, sind Menschen für Hegel als wesentlich ,denkende‘ Individuen von Natur aus und in fundamentaler Weise an der Bildung ,wahrer‘ und ,vernünftiger Gedanken‘ interessiert. Die Aussagen über deren teleologische Notwendigkeit besagen dann schlicht, dass dieser Sachverhalt aus der Struktur und der Ausrichtung unserer Urteils- und Schlusspraxis her erklärt werden kann – und zwar in einer Weise, die sich letztlich mit unserem fundamentalen Selbstbild als rationale Individuen decken sollte. Diese allgemeine Zielrichtung, die die Norm der theoretischen Seite unseres Lebens beschreibt, muss für Hegel zweitens inhaltlich näher qualifiziert werden, da nicht jede mögliche korrekte Aussage gleichermaßen von uns begründet eingesehen werden muss. Vielmehr meint Hegel, dass nur solche Urteile im Höchstmaß als epistemisch erstrebenswert gelten können, die sich in letzter Instanz mit dem „höchste[n] Gedanken“ überschneiden oder decken. Und dieser ist wiederum nichts anderes als die kohärente Beschreibung „Gott[es]“ (ebd., S. 234). Entsprechend heißt es später in den Gottesbeweisvorlesungen, dass der „Zweck[…] des Geistes“ demnach wesentlich darin besteht, „daß er des Unendlichen, Ewigen, daß er Gottes inne und in ihm innig werde“ (ebd., S. 240).1 Diese für Hegel fundamentale Aussage lässt sich dabei als eine Vertiefung seiner generellen Überzeugung verstehen, dass in der Höchstform des Erkennens zugleich gewusst wird, was es mit dem Erkennen selbst auf sich hat.2 Denn, wie in II.4.2 dargelegt wurde, zeichnet sich die Natur Gottes nach Hegel durch vollkommenes Selbstdenken und -wissen aus, das auch und v.a. in jedem endlichen Erkenntnisakt selbst präsent sein muss.3 Echte menschliche Selbsterkenntnis und die Erkenntnis des Absoluten als ,absolute Idee‘ implizieren sich daher gegenseitig.4 1 Vgl. auch oben I.1.1 und ferner zum Endzweck im Denken des Absoluten oben S. 338 Fn. 289. 2 In den Worten der zweiten Vorrede zur WdL formuliert: „Der wichtigste Punkt für die Natur des Geistes ist das Verhältniß nicht nur dessen, was er an sich ist, zu dem was er wirklich ist, sondern dessen als was er sich weiß; dieses Sichwissen ist darum weil er wesentlich Bewußtseyn, Grundbestimmung seiner Wirklichkeit.“ (WdL I/1, GW 21, S. 15 f.) 3 Hegel kann daher an der oben zitierten Stelle der Gottesbeweisvorlesungen behaupten, dass die Erhebung in einer kohärenten Explikation sich gewissermaßen selbst beweist: „Daher haben wir nicht diese Erhebung auswärts zu beweisen; sie beweist sich an ihr selbst, dieß heißt nichts anderes, als sie ist für sich nothwendig; wir haben nur ihrem eigenen Processe zuzusehen, so haben wir daran selbst, da sie in sich nothwendig ist, die Nothwendigkeit, deren Einsicht eben von dem Beweise gewährt werden soll.“ (GVL, GW 18, S. 235) Gemessen an Hegels theoretischem Aufwand sollte es klar sein, dass auch das bloße ,Zusehen‘ fehleranfällig ist und daher Raum für echte Selbstmissverständnisse lässt. 4 Diese Bestimmung des epistemischen Zieles vernünftigen Lebens als Selbsterkenntnis im Spiegel des Selbstdenkens des Absoluten drückt Hegel auch im Rückgriff auf die Doppelbedeutung des aristotelischen Begriffs der νο ησις νοη σεως aus: „Dieser absolute Gehalt, der in sich concrete Geist ist eben diß, die Form, das Denken, selbst zu seinem Inhalte zu haben; zu der Höhe des denkenden Bewußtseyns dieser Bestimmung hat sich Aristoteles in seinem
5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem
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Wie sich in Hegels Analyse des OA gezeigt hat, ist diese Form der Selbsterkenntnis zwar alles andere als trivial. Allerdings folgt daraus drittens, dass selbst Verfehlungen dieses Ziels, etwa in der Bildung falscher, unbegründeter oder einseitiger Urteile über das Absolute, nur vor dem Hintergrund der teleologischen Notwendigkeit überhaupt als solche identifiziert und eingeordnet werden können. Theorien, die religiöse Äußerungen außerhalb der menschlichen Erkenntnisbildung verorten und sie damit aus dem Geltungsskopus epistemischer Normen nehmen wollen, sind unter hegelschen Prämissen per se inakzeptabel und müssen daher in der Durchführung das ganze Phänomen verfehlen. Analoges gilt für die oben diskutierten Varianten der Basalitätsthese, die zwar den kognitiven Gehalt und die potentielle Rechtfertigungsbedürftigkeit des Gottesglaubens anerkennen, allerdings die Relevanz rationaler Begründungsformen im ,Denken‘ bestreiten.5 Vor diesem Hintergrund lässt sich viertens der zweite Sinn von Hegels Gedanken der Notwendigkeit religiösen Denkens klären, von dem her Hegels Verhältnis zum Kantianismus präziser bestimmt werden kann. Denn Begründungen werden wesentlich in unserer Urteils- und Schlusspraxis geleistet. Da diese in letzter Instanz auf die Bildung des Gottesgedankens abzielt, könnte man daher in einem abgewandelten Sinne sagen, die denkende ,Erhebung‘ zu Gott sei inferentiell notwendig. Der Gottesgedanke sollte daher auf einem generellen Typus der Begründung beruhen, dessen gewöhnliche, wenn auch nicht einzige Form in deduktiven Argumentationen besteht. Hegel kann daher von der „Darstellung“ der normativen „Nothwendigkeit“ sagen, sie sei „selbst nichts anderes […] als das, was wir sonst Beweisen nennen.“ (GVL, GW 18, S. 235)6 Diese These hat dabei eine starke Affinität zu Kants fundamentaler These der Notwendigkeit des Gottesglaubens,7 die in diesem Teil ausführlich rekonstruiert und in hegelscher Perspektive diskutiert wurde. Mit Kant teilt Hegel dabei die allgemeine Überzeugung, dass die Motivation und die Versuche, Gott mindestens a posteriori zu beweisen, sich aus der genannten Zielrichtung erklären lassen, die vernünftiges Leben wesentlich ausmacht. Anders als Kant glaubt Hegel aber nicht, die „teleologia rationis humanae“ (KrV A 839/B 867) erfülle sich letztlich nur durch unsere moralische Praxis. Dies wäre für Hegel nur dann der Fall, wenn einerseits starke inhaltliche Gründe gegen theistische Argumente vorlägen, die aber andererseits nicht stark genug wären, um eine praktische Rechtfertigung von vornherein zu neutralisieren. In komplexen Argumentationen kann Hegel vielmehr nachwei-
Begriffe der Entelechie des Denkens, welches νο ησις τηÄ ς νοη σεως ist, über die platonische Idee (die Gattung, das Substantielle) emporgehoben.“ (Enz. § 552A, GW 20, S. 538) 5 Dies war das Ergebnis der Diskussion der Spielarten des Non-Kognitivismus (Kap. I.4) wie der starken und moderaten Basalitätsthese Jacobis und Plantingas (Kap. I.5). 6 Analog spricht Hegel in Enz. § 68A von den „eigenen, nothwendigen Vermittlungen des Geistes“, die sich in den „sogenannten Beweise[n] vom Daseyn Gottes“ (GW 20, S. 109) ausdrücken. 7 Vgl. insbesondere II.2.2 und II.3.1.
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5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem
sen, dass Kants Rechtfertigungsversuch keine dieser Bedingungen – individuell oder in Konjunktion – einlösen kann. Weder überzeugen in hegelscher Perspektive Kants empiristisch inspirierte Einwände in der Analytik und der Unmöglichkeitsnachweis in der Dialektik der KrV,8 noch kann seine moralische Begründung im Rahmen seines Gesamtsystems konsistent formuliert werden.9 Gesetzt, es gibt keine weiteren inhaltlichen Einwände gegen die drei großen Gottesbeweistypen, dann lässt sich also in hegelscher Perspektive kaum bezweifeln, dass Gläubige einen echten und einlösbaren Wissens- und Erkenntnisanspruch erheben können bzw. dürfen. Von hier aus kann man Hegels Theorie religiösen Denkens fünftens mit der klassischen natürlichen Theologie vergleichen, in deren Rahmen ebenfalls eine Variante der teleologischen Notwendigkeit des Gottesgedankens vertreten wurde.10 Den wichtigsten Vorbehalt, den Hegel insbesondere gegen die frühneuzeitliche Fortsetzung der Gottesbeweistradition vorbringt, ist dabei in erster Linie formaler Natur. Wie in Kap. II.2.4 gezeigt wurde, ist Hegel der Überzeugung, dass insbesondere direkte Beweise unweigerlich den Eindruck erwecken, es könne Aussagen in Prämissenform geben, die ohne einen impliziten Bezug zum Absoluten wahr und prinzipiell erkennbar sein können. Diese Formschwäche, die mit dem Begriff des Absoluten inkompatibel ist, lässt sich umgekehrt dadurch vermeiden, indem man die grundlegenden, inferentiellen Begründungsfiguren als einen Subtyp indirekter oder negativer Argumente rekonstruiert. Hegels Hinweis auf die Formprobleme klassischer Gottesbeweise bildet daher für ihn keine Grundlage für einen prinzipiellen Zweifel am Rechtfertigungszustand des Gottesglaubens. Vielmehr zeigt sich für ihn in meta-theoretischer Reflexion der eigentliche Schlussgehalt der Gottesbeweise, der in ihnen zwar defizient artikuliert wird, aber dennoch eine echte Einsicht in diejenigen kategorialen Verhältnisse bietet, die uns die Struktur des Absoluten und der Wirklichkeit transparent machen. Hegel fügt dem die entscheidende Überzeugung hinzu, dass alle Menschen als Menschen spätestens im Rahmen ihrer religiösen Praxis zu dieser Einsicht kommen. Denn die vernünftige Bildung des Gottesgedankens ist als solche nichts anderes als die „Erhebung des Menschengeistes zu Gott“ (GVL, GW 18, S. 234).11 8 Hegels Meta-Kritik an Kants Unmöglichkeitsnachweis wurde insbesondere in den Abschnitten II.2.3, II.3.2 und II.4 diskutiert. Mögliche generelle Einwände aus der Analytik waren hingegen Thema des Exkurses in II.1. 9 Vgl. II.3.2. 10 Schon oben II.2.2, S. 169 wurde auf die aristotelischen Varianten von der These teleologischer Notwendigkeit hingewiesen. Diese Überzeugung ist freilich keineswegs auf den Aristotelismus beschränkt. K. Westphal bemerkt etwa zu Hegels Gottesbeweisvorlesungen: „In concert with a tradition which includes Descartes and Aquinas as well as Augustine and Pascal, Hegel is presenting the question of God as the question of human happiness, the satisfaction of man’s deepest and innermost longings.“ (W 1974, S. 46) Vgl. zu dieser Tradition in systematischer Hinsicht R 1993. 11 Dasselbe generische Urteil fällt Hegel, wie in oben der Einleitung betont, in Enz. § 50A, GW 20, S. 87. Vgl. zu Hegels Programm im Allgemeinen oben II.2.3.
5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem
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Wie Hegel für diese anspruchsvolle These in concreto argumentiert, wird im folgenden Teil weiter untersucht werden. Setzt man zunächst hypothetisch dessen Gültigkeit voraus, zeigen sich die Konsequenzen für das Rechtfertigungsproblem: Denn wenn sich der epistemische Rechtfertigungsstatus des Gottesglaubens immer von den Normen vernünftigen Lebens her definiert, dann besteht kein prinzipieller Zweifel mehr, dass der mit theistischen Überzeugungen erhobene Erkenntnisanspruch wirklich erfüllt ist, wenn die genannten Begründungsleistungen des ,Denkens‘ erbracht wurden. Alles andere wäre für Hegel mehr als erstaunlich. Denn, wie sich in den Detailanalysen der drei Gottesbeweistypen gezeigt hat, könnten ohne das implizite Wissen um das Absolute fundamentale Einsichten für Hegel gar nicht kohärent formuliert werden, die zugleich die menschliche Theorie und Praxis als solche möglich machen. Die bloße Existenz endlicher und kontingenter Individuen (Abschnitt II.2.5), die Ermöglichung zielgerichteten Verhaltens (Abschnitte II.3.2 und II.3.3), ja selbst die fundamentale Überzeugung, dass die Natur als Ganze erkennbar systematisch organisiert ist und unsere objektiven Wissensansprüche daher erfüllbar sind (Abschnitt II.4.2), hängen vielmehr intrinsisch an der Erkenntnis des Absoluten und seines Verhältnisses zur kontingenten Gesamtwirklichkeit. Wollte man Hegels Ansatz mit einem Label versehen, könnte man ihn als moderaten Evidentialismus verstehen. ,Evidentialistisch‘ ist er, weil er die epistemische Rechtfertigung des Gottesglaubens von Begründungsleistungen abhängig macht, die im Kern inferentieller Natur sind. Gleichzeitig weicht er von der aufklärerischen Standardlinie darin ab, dass die Adäquatheit der Begründung nicht von direkten und artikulierten Schlussfolgerungen aus wahren, basalen und rational akzeptablen Meinungen abhängt.12 Vielmehr besteht sie in der essentiellen Zusammengehörigkeit von wahren fundamentalen Einsichten in die kategoriale Struktur der Wirklichkeit und dem Absoluten, die in religiösen Denkund Begründungsformen transparent wird. Da diese Einsicht zudem schon der normalen Ausbildung des Gottesgedankens zugrunde liegt, ergibt sich eine wichtige Unterscheidung im Verständnis der leitenden epistemischen Normen sowie der Bedingungen ihrer Einlösung. Denn während es der aufklärerische Evidentialismus zu einer epistemischen Pflicht erklärt, den Gottesglauben aktiv und explizit in Form von durchgeführten deduktiven oder induktiven Argumenten zu beweisen,13 ist die Erkenntnis des Absoluten für Hegel das natürliche Ziel des Geistes, das durch Begründungsformen eingelöst wird, die nicht explizit argumentativ sein müssen. Wie schon oben in II.2.5 bemerkt wurde, verfügen religiöse Personen und Personengemeinschaften in ihrem impliziten kategorialen Wissen damit immer schon über angemessene Gründe für die Überzeugung von der Existenz des Absoluten, die in letzter Instanz über dessen Rechtfertigungsstatus 12
Vgl. Kap. I.3. Die deontologische Auffassung epistemischer Normen wurde oben in I.5.2 mit Plantinga diskutiert. In I.2.2 wurde schon darauf hingewiesen, dass sie mit hegelschen Prämissen inkompatibel ist. 13
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5. Zwischenkonklusion: Hegels Antwort auf das Rechtfertigungsproblem
positiv entscheiden müssen. Daher ist Hegels Forderung nach vernünftigen Gründen ,moderat‘, weil eine korrekte Auffassung epistemischer Ziele und Normen den Gläubigen nicht mehr abverlangt als das, was wie als vernünftige Akteure in der normalen Bildung ihres Glaubens ohnehin schon erfüllen (sollten).14 Wie sich im nächsten Teil zeigen wird, ist es dabei im hegelschen Theorierahmen nicht ausgeschlossen, dass religiöse Personen sich über die eigentliche und de facto vorliegende Begründungbasis ihres Glaubens täuschen können. Vielmehr bietet Hegel eine Erklärung an, wie und unter welchen Bedingungen solche Selbstmissverständnisse entstehen, die einen philosophischen Nachweis des Gerechtfertigtseins des Gottesglaubens erforderlich machen.15 Seine Analysen der religiösen Ausdrucks- und Erkenntnisformen, die einen wesentlichen Teil dieses Nachweises bilden, zeigen zugleich, dass die normale religiöse Überzeugungsbildung immer schon ihren Ausgang in den Vollzügen des Denkens nimmt, die für ihren Wissensstatus sorgt. Jeder philosophische Rechtfertigungsversuch muss daher in letzter Instanz das offenlegen, was das Entstehen des Gottesgedanke überhaupt ermöglicht und verwirklicht.
14 Im Anschluss T. Dougherty und Chr. Tweedt könnte man auch von „evidentialism“ und „hyperevidentialism“ sprechen. Vgl. D/T 2015, S. 552. 15 Zur Relevanz der Unterscheidung zwischen dem positiven Rechtfertigungszustand einer Überzeugung und Rechtfertigungsnachweisen, die oben in I.2.2 mit W. Alston eingeführt wurde, vgl. unten Abschn. III.2.
Teil III
Denken, Vorstellen und Hegels Deutung der Religionsformen
1. Einleitendes über einige Komplikationen Wie wir in Teil II gesehen haben, enthält Hegels komplexe Aneignung der Gottesbeweistradition seine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem und damit auf den in Kap. I.3 skizzierten evidentialistischen Einwand. Zugespitzt formuliert, akzeptiert Hegel zwar die Forderung nach inferentiellen Gründen für den Gottesglauben. Gegen die aufklärerische Kritik betont er aber zum einen, dass die Schlussform, die zu legitimen theologischen Wahrheitsansprüchen führt, von Standardfassungen direkter Argumente entscheidend abweicht. Zum anderen vertritt er die entschieden stärkere These, dass diese Denk- und Begründungsformen zum Wesen vernünftiger Fähigkeiten gehören und daher von erkenntnisfähigen Lebewesen immer schon und von Natur aus umgesetzt werden. Die Überlegungen zu Hegels Theorie sind allerdings bislang unvollständig geblieben. Während es oben in Teil II den Eindruck gemacht haben könnte, als ob Hegel lediglich die Validität der faktischen theistischen Überzeugungen aufzeigen wollte, geht er vielmehr noch weiter, wenn er von einem Nachweis der ,Notwendigkeit‘ des religiösen Bewusstseins spricht.1 So heißt es gleich zu Beginn des Manuskripts von 1821 programmatisch: Denn die Philosophie hat […] die Notwendigkeit der Religion an und für sich selbst zu entwickeln und vorzustellen – es zu begreifen, daß der Geist von den anderen Weisen seines Wollens, Vorstellens und Fühlens zu dieser seiner absoluten Weise fortgeht und fortgehen muß – Notwendigkeit, daß sie das Schicksal, die Wahrheit des Geistes ist (VPR 3, S. 8 f.).
Hegels Rede von ,Notwendigkeit‘ erlaubt eine schwächere und eine stärkere Lesart. Die schwächere Interpretation, die in Kap. II.5 dargestellt wurde, besagt dabei, dass jedes erkenntnisfähige Individuum aufgrund seiner ihm eigentümlichen Formen des Denkens gar nicht anders kann, als früher oder später den Gedanken des Absoluten auszubilden.2 Von dieser Form der ,doxastisch-epis1 Die Forderung eines Nachweises der Notwendigkeit religiöser Erkenntnis formuliert Hegel auch in der Enzyklopädie Vgl. bspw. in Enz. § 573, GW 20, S. 555 und hierzu auch T 1970, S. 304–306. Die Stellen im ersten Teil der Religionsphilosophie lassen sich als Erläuterung dieser Vorgabe verstehen. Vgl. im Folgenden bes. VPR 3, S. 130–142, 222–227, 277–279 und 280 f. Fn. 2 Mit Blick auf die Ergebnisse von Abschn. II.2.5 könnte man etwa sagen, dass nach Hegel jeder Mensch in der Einsicht, was es heißt ein Endliches zu sein, notwendigerweise zum Glauben an die Existenz eines Unendlichen geführt wird. In diesem Sinne zitiert Hegel etwa Lucilio Vaninis Bemerkung, jeder Strohhalm könne als Beweis für Gottes Existenz herangezogen werden. Vgl. ebd., S. 132 und 224.
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1. Einleitendes über einige Komplikationen
temischen‘ Notwendigkeit, wie man sie nennen könnte, kann man aber die stärkere unterscheiden, die von der Notwendigkeit der Existenz von Religion überhaupt ausgeht. Damit scheint Hegel zu meinen, dass sich im Rahmen eines kohärenten und alternativlosen philosophischen Systems nachweisen lässt,3 dass das menschliche Bewusstsein des Absoluten in jeder wahren Beschreibung, wie die Welt sein könnte, vorkommen muss. In diesem Sinne bemerkt Hegel in einer Passage, die vermutlich dem Kolleg von 1831 entstammt: Die Religionsphilosophie macht einen Teil der ganzen Philosophie aus: Die Teile der Philosophie sind die Glieder einer Kette, eines Kreises; sie werden entwickelt in diesem Zusammenhänge, und darin wird ihre Notwendigkeit dargestellt. (ebd., S. 280 Fn.)4
Setzt man nun hypothetisch voraus, Hegels Notwendigkeitsbegriff sei hinreichend disambiguiert,5 so stellt sich die Frage, ob sich seine starke These ohne eine vollständige Rekonstruktion des gesamten Systems überhaupt sinnvoll nachvollziehen lässt. Da Hegel aber meint, spätestens in der Höchstform dessen, was im Rahmen des religiösen Bewusstseins geleistet werden kann, werde die These selbst zumindest ansatzweise transparent,6 müsste sie auch im Rekurs auf Hegels Theorie religiösen Denkens erklärt werden können. Mit Blick auf die Ergebnisse von Teil II lässt sich seine Gedankenfolge ungefähr so wiedergeben: Für Hegel wie für das religiöse Bewusstsein steht zunächst (i) fest, dass es das Absolute tatsächlich gibt, dessen Natur sich durch folgende Züge kennzeichnen lässt: Hinsichtlich seines Wesens ist es allumfassend und ,wahrhaft unendlich‘, existiert mit absoluter Notwendigkeit und beweist seine ,Macht‘ dadurch, dass alles von ihm Unterschiedene von ihm ontologisch und hinsichtlich seiner Identität und Erkennbarkeit abhängig ist.7 Diese Abhängigkeit findet (ii) ihren adäquaten Ausdruck in der Tatsache, dass das gesamte zielgerichtete Verhalten in der natürlichen Wirklichkeit seinen Abschluss darin findet, dass in ihr Wesen entstehen, die in der Lage sind, auf die Struktur der Natur selbst zu reflektieren.8 Da diese 3
Vgl. dazu auch ebd., S. 265 f. Wie in den parallelen Passagen im Manuskript ebd., S. 132–139, gibt Hegel gleich im Anschluss an dieses Zitat eine Synopse der gesamten Systementwicklung bis zum religiösen Bewusstsein und kommt dabei zum Schluss: „In diesem notwendigen Gang liegt der Beweis, daß die Religion etwas Wahrhaftes ist, und derselbe Gang bringt unmittelbar den Begriff der Religion hervor. Die Religion ist so gegeben durch das, was ihr in der Wissenschaft vorangeht, also als notwendig erkannt.“ (ebd., S. 281 Fn.) 5 Die Notwendigkeit der menschlichen, religiösen Bezugnahme ist schwächer als die unbedingte Notwendigkeit des Absoluten, weil sie dessen Existenz voraussetzt. Zudem ist fraglich, ob die Notwendigkeit des religiösen Bewusstseins als logisch im weiten Sinne zu verstehen ist. Zur Modalität der Existenz der Welt vgl. auch unten III.5.4. 6 Damit meint Hegel die christliche Religion, in der spätestens durch die Bildung der Inkarnationslehre die Mensch-Gott-Beziehung als solche thematisch geworden ist. Entsprechend taucht die These von der ,Notwendigkeit religiösen Bewusstseins‘ in Hegels Interpretation der ,vollendeten Religion‘ und in seinem Inkarnationsbeweis in anderer Form wieder auf. Vgl. u.a. VPR 5, S. 122, 196–198 und 237–239. 7 Dies war das Ergebnis der Rekonstruktion in den Abschn. II.2.4 und II.2.5. 8 Vgl. die Abschn. II.3.2 und II.3.3. 4
1. Einleitendes über einige Komplikationen
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Struktur aber vom Absoluten her erklärt werden kann, ergibt sich (iii), dass der Endzweck natürlichen und geistigen Lebens nicht nur in der Erkenntnis der Natur als Ganzer, sondern in der Einsicht in deren Ursprung und Ziel im Absoluten selbst besteht.9 Setzt man schließlich mit Hegel (iv) voraus, dass die Annahme der Nicht-Erfüllbarkeit dieses Endzwecks zu Widersprüchen mit den essentiellen Bestimmungen des Absoluten führt und Hegels Theorie religiöser Überzeugungsbildung tatsächlich alternativlos ist, dann folgt, dass es Wissen und Erkenntnis des Absoluten notwendigerweise geben muss. Selbst wenn man nun die Gültigkeit dieser Schlussfolgerung anerkennt, scheint die Konklusion aber starken Einwänden ausgesetzt. Erstens ist Hegel Schlussfolgerung unter Voraussetzung von Aussage (iv) im höchsten Maße kontra-intuitiv. Denn schon die Tatsache, dass Hegels Theorie, die sich einer komplexen, meta-stufigen Interpretation der Gottesbeweise verdankt, in dieser Form vermutlich nur von Hegel entwickelt wurde, zeigt schon mögliche Schwächen der bisherigen Überlegungen an. Zumindest kann man prima facie sagen, dass sich in den schriftlichen und mündlichen Äußerungen von Gläubigen höchstwahrscheinlich keine explizite Formulierung von Hegels Theorie kategorialen Wissens und Denkens findet. Zweitens lassen sich alle Vorbehalte wiederholen, die neuerdings etwa gegen A. Plantingas Argument für den Wissensstatus des Gottesglaubens vorgebracht werden, von dem oben in I.5.2 die Rede war.10 Jedenfalls scheint die Konklusion der Tatsache zu widersprechen, dass es eine unüberschaubare Diversität sich gegenseitig ausschließender religiöser Überzeugungen gibt und einige Personen sogar für sich beanspruchen, aus guten Gründen gar keine oder, wenn überhaupt, nur negative Überzeugungen bzgl. des Absoluten zu besitzen.11 Schließlich könnte ein Hegelkenner drittens zu Recht einwenden, dass die Konklusion des genannten Arguments mindestens die Hälfte von Hegels eigentlicher Meinung verschweigt. Es geht ihm nämlich nicht nur – wie etwa Plantinga – darum, aus der Existenz Gottes dessen höchstwahrscheinliches Erkannt-Werden zu begründen. Vielmehr vertritt Hegel die stärkere These, dass im menschlichen Wissen von Gott geradezu das Wissen, das Gott von sich selbst hat, zum Ausdruck gebracht wird.12 Während man hinsichtlich der bisherigen Re9
Vgl. hierzu die Abschn. II.3.3 und II.4.1. Vgl. v.a. die Kritik in W 2007, Kap. 4.2, bes. S. 425–427. 11 Bezeichnenderweise führt Hegel diesen Einwand bisweilen selbst als Begründung für seine Forderung eines Notwendigkeitsnachweises heran. Im Kontext der oben zitierten Stelle heißt es etwa: „Man könnte nun zwar sagen, jener Beweis sei nicht nötig, und sich darauf berufen, daß alle Völker Religion hätten. Aber dies ist nur etwas Angenommenes und mit dem Ausdruck ,Alles‘ geht man überhaupt nicht besonders gut um. Sodann gibt es doch auch Völker, von denen man schwerlich sagen dürfte, daß sie Religion haben: Ihr Höchstes, das sie etwa verehren, ist Sonne, Mond, oder was ihnen sonst in der sinnlichen Natur auffällt. Auch gibt es die Erscheinung eines Extrems von Bildung, daß das Sein Gottes überhaupt geleugnet worden ist, und ebenso, daß die Religion die Wahrhaftigkeit des Geistes sei […]. Sonach wäre es keineswegs überflüssig, die Notwendigkeit der Religion aufzuzeigen, und es kann mit Recht in wissenschaftlicher Rücksicht gefordert werden.“ (VPR 3, S. 280 Fn.) 12 Vgl. Enz. § 564A, GW 20, S. 550 und zur Erläuterung unten Abschn. III.5.5. 10
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1. Einleitendes über einige Komplikationen
konstruktion vielleicht noch sagen könnte, dass sie zumindest in Grundzügen mit dem Selbstverständnis der traditionellen Theologie übereinstimmen, wird man vermutlich spätestens an dieser Stelle nicht mehr gewillt sein, Hegels theoretischen Zielsetzungen zu folgen. Alle drei Einwände sind m.E. prima facie gerechtfertigt und scheinen nicht nur Hegels Notwendigkeitsthese, sondern auch seine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem zu treffen. Gleichzeitig finden sich bei ihm genügend argumentative Ressourcen, um ihnen zu begegnen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Dazu werden zunächst diejenigen Präzisierungen in Hegels Theorie religiösen Denkens dargelegt, die eine Antwort auf den ersten Einwand bieten. Wie sich zeigen wird, verpflichtet sich Hegel nämlich nirgendwo auf die These, dass sich das kategoriale Wissen im religiösen Bewusstsein explizit und in einer Theoriesprache, wie der des hegelschen Systemgebäudes, artikulieren muss. Die relevanten Formen des Denkens und der Begründung werden in der religiösen Überzeugungsbildung vielmehr hauptsächlich unbewusst vollzogen (Kap. III.2). Die gewonnenen konzeptuellen Perspektiven auf das Absolute oder Gott werden für Hegel dabei in der Regel nicht mit einem ausgereiften philosophischen Vokabular, sondern durch eine möglichst authentische figurative Rede zur jeweiligen Darstellung gebracht (Kap. III.3). Seine Überlegungen zum Zusammenhang von philosophischem ,Nachdenken‘ und dem ,Denken‘ bzw. ,Vorstellen‘ in der Religion werden dann die Grundlage für die Antwort auf den zweiten Einwand bilden. Dabei soll ein Blick auf Hegels Interpretation ausgewählter nicht-christlicher Religionsformen zeigen, warum Hegel meinen kann, dass seine Systematisierung der Gottesbeweise zugleich einen Einblick darein bietet, warum sich das religiöse Bewusstsein genau so entwickeln musste, wie es sich entwickelt hat (Kap. III.4). Die Pluralität religiöser Überzeugungen spiegelt für ihn die notwendigen Stufen der Entwicklung des kohärenten Begriffs des Absoluten wieder, der im Rahmen des religiösen Bewusstseins immer zum eigenen Selbst- und Weltverständnis ins Verhältnis gesetzt wird. Da Hegel der Meinung ist, dass die GottWelt-Mensch-Beziehung auf jeder Stufe der Religionsgeschichte zumindest ansatzweise transparent wird,13 werden sich schon hier die Ressourcen für die Beantwortung des dritten Einwandes andeuten. Im letzten Schritt soll daher untersucht werden, ob Hegel auf Basis seines Begriffs des Absoluten und seiner Theorie religiösen Denkens über gute Gründe verfügt, um den Revisionsvorwürfen zu begegnen, die zumeist zu einem Pantheismus- und Atheismus-Verdacht zugespitzt werden. Dabei werde ich mich auf ausgewählte Aspekte von Hegels Interpretation des Christentums konzentrieren (Kap. III.5.).
13
Vgl. hierzu auch unten III.5.6.
2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens Der erste Einwand besagt zunächst so viel, dass Hegels Theorie aufgrund der Diskrepanz zwischen der tatsächlichen religiösen Überzeugungsbildung und den Schlussformen, die nach Hegel religiöse Erkenntnisse ermöglichen sollen, keinerlei Anfangsplausibilität beanspruchen kann. Blickt man genauer auf seine Äußerungen, dann lässt sich m.E. eine zweischrittige Antwort auf das genannte Problem entwickeln: Dabei muss zunächst allgemein zwischen dem religiösen Denken selbst und den Explikationsbemühungen der Philosophie unterschieden werden. In einem zweiten Schritt muss genauer darauf geachtet werden, wie und in welcher Form das religiöse Bewusstsein die Resultate des Denkens konkret zum Ausdruck bringt. In diesem Kapitel werde ich mich dem ersten Schritt widmen, bevor ich mich im darauffolgenden Kapitel dem zweiten Schritt zuwende. Der erste Schritt lässt sich paradigmatisch an zwei Stellen im Kolleg von 1827 und 1831 erläutern.1 Kurz vor seiner in Abschnitt II.2.4 ausführlich rekonstruierten These, alles Endliche beziehe sich durch seine ,Selbstaufhebung‘ immer schon auf das Unendliche, betont Hegel zunächst, dass diese Einsicht eigentlich schon Teil des Common Sense selbst sei: Dieser Satz in seiner spekulativen Bedeutung und Form wird in der Logik behandelt; wir sind aber auch von selbst davon überzeugt und können so an das gewöhnliche Bewußtsein provozieren, daß die endlichen Dinge die Bestimmung haben, zu fallen – ihr Sein ein solches ist, das sich zugleich selbst aufhebt. (VPR 3, S. 315)
Dieser Passus macht hier zunächst nur darauf aufmerksam, dass das Ergebnis der komplexen Argumentation in der WdL zugleich mit dem Inhalt einer Einsicht zusammenhängt, die gewöhnlich jedem denkenden Lebewesen zukommt. Für Hegel scheint aber klar zu sein, dass auch der inferentielle Prozess, durch den man zu dieser Einsicht gelangt, ein wesentlicher Teil religiösen Denkens sein muss. Entsprechend bemerkt Hegel an derselben Stelle zum inferentiellen Übergang vom ,Endlichen‘ zum ,Unendlichen‘: Dieser affirmative Gang ist der Gang unseres Geistes; dies macht sich bewußtlos in unserem Geist; die Philosophie aber ist, das Bewußtsein davon zu haben. Wir machen dasselbe, wenn wir uns zu Gott erheben. (ebd., S. 316)
1 Vgl. im Folgenden auch die parallelen Behauptungen in den Gottesbeweisvorlesungen in GVL, GW 18, S. 275 und zu den zitierten Stellen ferner bes. H 2013, S. 148 f.
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2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens
Dieselbe Behauptung findet man in der Strauß-Nachschrift des Kollegs von 1831. Dort heißt es in den einführenden Überlegungen zu der dem kosmologischen Argument entsprechenden Religionsform: Die Erhebung des Bewußtseins. Diese ist nicht bloß unser Gedanke, sondern sie gehört dem Bewußtsein dieser Religionsform selber an, welches sich als Denken erhebt, aber ohne Gedanken darüber zu haben. Die denkende Betrachtung dieser denkenden Erhebung ist unsere Zutat. (VPR 4, S. 615)2
Die Aussage dieser Stellen scheint klar zu sein: Während im Rahmen einer philosophischen Theorie des religiösen Denkens Form und Inhalt der Schlussfolgerung jeweils selbst thematisch werden müssen, gilt dies nicht gleichermaßen für das religiöse Bewusstsein selbst. Gleichzeitig lässt sich Hegels Aussage klar von schwächeren Thesen abgrenzen, die entweder behaupten, religiöses Denken sei nur eine Fähigkeit, in dieser Weise zu schließen, die eigentlich erst von Philosophen ausgeübt wird;3 oder die darauf verweisen, dass es lediglich eine vernünftige Disposition sei, im Zuge des expliziten Hinweises auf die jeweiligen argumentativen Grundlagen den Schluss auf die Abhängigkeit des ,Endlichen‘ vom ,Unendlichen‘ zu ziehen.4 Stattdessen betont Hegel deutlich, dass die inferentiellen Fähigkeiten schon auf dieser basalen Stufe von philosophisch uninformierten Personen in der religiösen Überzeugungsbildung korrekt ausgeübt werden. Natürlich provozieren Hegels Aussagen sofort die Nachfrage, wie religiöses Denken zum einen eine immer schon vollzogene Aktivität sein kann, obwohl sie zum anderen zunächst überhaupt nicht in erstpersonaler Perspektive ins Bewusstsein tritt bzw. treten muss.5 Mit Blick auf das oben aufgeworfene Problem 2 Den Unterschied zwischen dem religiösen Denken und der höherstufigen philosophischen Reflexion hebt Hegel an derselben Stelle gleich nochmals hervor: „Allerdings geht diese Erhebung im Denken vor, aber es kann nicht oft genug gesagt werden: ein anderes ist Denken, ein anderes, ein Bewußtsein darüber haben.“ (VPR 4, S. 616) Ähnlich heißt es gleich zu Anfang der Enzyklopädie: „Allein es ist verschieden, solche vom Denken bestimmte und durchdrungene Gefühle und Vorstellungen, – und Gedanken darüber zu haben.“ (Enz. § 2A, GW 20, S. 41) 3 So interpretiert etwas Th. Lewis die Sektion über das ,Denken‘ im Kolleg von 1827. Vgl. L 2011, S. 159 f. 4 Mit R Audi lässt sich eine bloße Fähigkeit bzw. ein „cognitive potential“ von einer „disposition to believe“ insbesondere dadurch unterscheiden, dass bei einer Glaubensdisposition bei der jeweiligen Person schon ein konkretes kausales Motiv für die Überzeugungsbildung zur Verfügung steht, die aber noch nicht vollzogen wurde. Vgl. A 1994, S. 426 f. Wie sich zeigen wird, kann man Audis Unterscheidungen auch für Hegels Theorie produktiv machen. Die Unterscheidung zwischen ,kognitivem Potential‘ und einer tatsächlichen, okkurrenten religiösen Meinung macht Hegel bisweilen selbst deutlich: „Ein anderes […] ist der Religion fähig zu seyn, […] ein anderes Religion zu haben.“ (Enz. § 71A, GW 20, S. 112 Fn.) 5 Eine solche Frage wird dann unvermeidlich, wenn man zwar Hegels Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Denken betont, aber gleichzeitig die These vertritt, die kategorialen Gehalte, die in der WdL entwickelt werden, müssten dem religiösen Bewusstsein notwendig als „ein externer Bewertungsmaßstab“ (M 2018, S. 72) erscheinen. Zwar ist es sicherlich richtig, dass Gläubige in der Regel nicht die explikativen Mittel zur Verfügung
2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens
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wirkt Hegels Rede von der ,Bewusstlosigkeit‘ religiöser Erhebung zudem wie ein illegitimer Taschenspielertrick. Denn solange das konkrete Denken eben nicht Inhalt des Selbstverständnisses religiösen Glaubens sein muss, lässt sich scheinbar jeder beliebige Gehalt in den Gegenstand der theoretischen Betrachtung hineinprojizieren. Und jede gegenteilige Aussage seitens der Gläubigen könnte man dann mit dem Hinweis abwehren, dass sie sich dessen eben in der Regel nicht bewusst sind. Hegel müsste also eine Antwort auf die Frage geben können, welche konkreten Erklärungspotentiale die These besitzt, der religiösen Überzeugungsbildung lägen wesentlich nicht-bewusste Vollzüge der inferentiellen Fähigkeiten zugrunde. Soweit ich sehen kann, finden sich bei Hegel zwei miteinander eng verwandte Erklärungsversuche. Der erste baut auf Hegels allgemeiner Überzeugung auf, die Fähigkeit des Denkens sei dasjenige, was Menschen zu dem macht, was sie sind. In diesem Sinne ist für Hegel etwa die Begriffs- bzw. Urteilsbildung und das Ziehen von Schlussfolgerungen nicht etwa ein kognitives Vermögen, das zu denjenigen Fähigkeiten bloß hinzukommt, die Menschen auch mit höheren Lebewesen teilen. Vielmehr drückt die Fähigkeit zu denken für Hegel die Art und Weise aus, wie alle für die Lebensform des Menschen notwendigen Vermögen besessen und verwirklicht werden.6 Entsprechend gilt für Hegel, dass Menschen mit einigen Tieren zwar die Fähigkeiten teilen, sinnlich wahrzunehmen, Informationen im Gedächtnis zu speichern und auf dieser Basis (quasi-)willentlich Ziele zu verfolgen und zu verwirklichen. Unter der Bedingung des Denkens werden solche Fähigkeiten aber in der Weise des Besitzes und der Ausübung ,transformiert‘.7 So schreibt Hegel in der Vorrede zur zweiten Auflage der WdL über das Denken bzw. das „Logische“, dass es
haben, eine Kategorientheorie im Stil der hegelschen WdL zu verfassen, wie Mooren betont. Andererseits müssen sie nach Hegel offenbar zumindest die relevanten begrifflichen und inferentiellen Regeln beherrschen, um überhaupt zu einer Überzeugung über das Absolute kommen zu können. 6 Diese These ist im Übrigen gutes aristotelisches Erbe. Vgl. O 2007, S. 248 f. und B 2018, S. 83–106. Mit A. Kenny, der ebenfalls an diese Tradition systematisch anknüpft, könnte man auch sagen, dass ,Denken‘ oder ,Rationalität‘ eine Fähigkeit zweiter Stufe ist, die es uns ermöglicht, bestimmte Befähigungen erster Stufe, wie etwa das Verstehen einer bestimmten Sprache, zu erwerben und einzuüben. Vgl. K 1989, S. 20 und 123. 7 Der von M. Boyle in die Debatte gebrachte Terminus der „transformative theory of rationality“ (B 2016, S. 530) ist dabei neutraler als etwa die Rede vom „Monismus des Denkens“, die F. Knappik seiner Hegelinterpretation zugrunde legt und im Anschluss an Descartes’ Begriff der cogitatio entwickelt. Vgl. K 2013, S. 384. Eine solche Engführung ist irreführend, da es nach Hegel zwar kein menschliches Anschauen und Vorstellen ohne Denken geben kann, aber die bloße Tatsache, dass diese Vermögen und Akte Formen des ,Bewusstseins‘ im weitesten Sinne sind, nicht deren Identifikation impliziert, was auch Knappik nicht behaupten möchte.
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2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens
sich in alles Naturverhalten des Menschen, in sein Empfinden, Anschauen, Begehren, Bedürfniß, Trieb eindrängt und es dadurch überhaupt zu einem Menschlichen, wenn auch nur formell, zu Vorstellungen und Zwecken, macht. (WdL I/1, GW 21, S. 11)8
Von hier aus gesehen lässt sich nun eine erste Antwort auf die o.g. Frage entwickeln: Denn, wenn es zur Natur des Menschen gehört zu denken und das religiöse Bewusstsein ihr höchster Ausdruck ist, dann müssen Personen dies gewissermaßen immer schon ausbilden oder zumindest dazu tendieren. Entsprechend vertritt Hegel die Meinung, dass nur rationale oder denkende Wesen religiös sein können.9 Noch genauer könnte man mit Hegel darauf abheben, dass, wenn Denken den Lebensvollzug des Menschen tatsächlich wesentlich auszeichnet, Religion jedem Menschen ebenso natürlich wäre wie jeder andere Prozess, der zur Verwirklichung der eigenen Lebens- und Existenzform führt – darunter dann auch diejenigen, die selbst niemals direkt in den Bereich bewusster Aufmerksamkeit fallen. Entsprechend kritisiert Hegel gleich zu Anfang der Enzyklopädie Theorien, die es zur notwendigen Bedingung theistischer Überzeugungsgenese machen, zuvor einen erfolgreichen Gottesbeweis entwickelt zu haben. Er schreibt: Dergleichen Behauptung käme mit der überein, daß wir nicht eher essen könnten, als bis wir uns die Kenntniß der chemischen, botanischen oder zoologischen Bestimmungen der Nahrungsmittel erworben, und wir mit der Verdauung warten müßten, bis wir das Studium der Anatomie und Physiologie absolvirt hätten. (Enz. § 2A, GW 20, S. 41)
Der Fehler in einer solchen Auffassung besteht für Hegel dabei darin, dass sie nicht in der Lage ist, zwischen dem natürlichen und prinzipiell verlässlichen Denkprozess und der Reflexion darauf im „Nachdenken“ (ebd.) zu unterschei-
8 „Indem nur dem Menschen Religion, Recht und Sittlichkeit zukommt, und zwar deswegen, weil er denkendes Wesen ist, so ist in dem Religiösen, Rechtlichen und Sittlichen – es sey Gefühl und Glauben oder Vorstellung, – das Denken überhaupt nicht unthätig gewesen; die Thätigkeit und die Productionen desselben sind darin gegenwärtig und enthalten.“ (Enz. § 2A, GW 20, S. 40 f.) Die Omnipräsenz des Denkens wird erhellend von Chr. Halbig als vermögenstheoretischer ,Holismus‘ rekonstruiert. Vgl. H 2002, Kap. 3. 9 Vgl. u.a. VPR 3, S. 271. Die These, dass nur denkende Wesen religiös sind oder sein können, ist wesentlich schwächer als die inakzeptable Umkehrung, dass alle Menschen religiöse Wesen sind. Sie ist aber auch schwächer als die heute sicherlich inakzeptable generische Aussage, dass Menschen religiöse Wesen sind. Denn diese unterscheidet sich von den beiden anderen darin, dass sie eine überwiegende Anzahl an Ausnahmen zulässt. Zu generischen Aussagen bei Hegel vgl. K 2013, Kap. 4.5. Generische Urteile dieser Art finden sich allerdings bei Hegel – mit ebenfalls inakzeptablen evaluativen Schlussfolgerungen etwa in VPR 3, S. 10. Solche Äußerungen lassen sich vielleicht mit Hegels weitem Religionsbegriff abschwächen und mit Putnam so erläutern, dass das religiöse Bewusstsein für jeden eine „basic human potentiality“ (P 1997a, S. 492) darstellt. Ob Hegel aber auch die nicht bloß deskriptive Aussage akzeptiert hätte, dass „the exercise of that potentiality is not a real possibility for every human being at every time“ (ebd.), ist m.E. fraglich. Zumindest zieht er, wie gesagt, gelegentlich gegenteilige normative Schlussfolgerungen und spricht dabei sicherlich nicht als unser Zeitgenosse.
2. Die ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens
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den.10 Da ,Denken‘ die hier relevante Tätigkeit in der Überzeugungsbildung darstellt, die dann im ,Nachdenken‘ thematisch werden kann, hätte ohne diesen Unterschied der gesamte Vollzug kognitiven Lebens überhaupt (noch) nicht stattgefunden.11 Dieser erste Antwortversuch bietet nun gewiss eine gute exegetische Diskussionsgrundlage. Denn zumindest kann er erklären, warum wir nun gar nicht anders können, als zu urteilen und zu schlussfolgern, selbst wenn dies nicht (immer) in unserem Bewusstseinsfeld explizit auftaucht. Andererseits ist die bloße Behauptung der natürlichen Notwendigkeit noch nicht hinreichend konkret, wenn sie nur in Analogie zu Vitalfunktionen entwickelt wird. Da etwa explizierbare Inferenzen einem rationalen Lebewesen genauso ,natürlich‘ sein können wie etwa der bewusstlose Metabolismus, reicht der Vergleich also nicht aus, um die Gleichung ,natürlich = bewusstlos‘ für das Denken zureichend zu begründen. Um Hegels zweite und m.E. aussichtsreichere Erklärung zu verstehen, lohnt es sich zunächst allgemein auf Beispiele zu rekurrieren, die man mit einiger Plausibilität tatsächlich als eine Form der nicht-bewussten Überzeugungsbildung verstehen kann. Setzt man etwa voraus, dass bestimmte Formen der Erfahrung im Kern begrifflich oder propositional gegliederte Meinungsdispositionen darstellen,12 kann man etwa sagen, dass, wenn ich z.B. sehe, dass p der Fall ist, ich auch dann meinen oder glauben kann (bzw. muss), dass p, wenn ich nicht explizit und bewusst die Aussage bilde und laut ausspreche, dass ich das tue – v.a. dann, wenn der besagte Sachverhalt lediglich den Inhalt einer halbbewussten, aber wesentlich handlungsleitenden Wahrnehmung bildet.13 Wenn eine Person etwa beim Überqueren einer Straße sieht, dass ihr ein Auto entgegenkommt, und daraufhin ihr Schritttempo erhört, wird man ihr eine entsprechende Überzeugung auch dann zuschreiben können, wenn sie das nicht für alle Mitanwesenden oder für sich im stillen Sprechen verbalisiert.14 Analoges gilt für Hegel schon für ganz alltägliche 10 Im selben Sinne interpretiert Chr. Halbig diese Stelle in seiner instruktiven Rekonstruktion in H 2002, Kap. 4, bes. S. 148–160. Im Anschluss an Halbig hat auch N. Mooren die Relevanz dieser Unterscheidung von ,Denken‘ und ,Nachdenken‘ für Hegels Religionsphilosophie hervorgehoben. Vgl. M 2018, S. 79–82. 11 Ähnliches lässt sich mit Alston über den sprachlichen Ausdruck des ,Denkens‘ sagen: „If rules of speech and of belief formation could not be operative without being verbally articulated, our voices would be stilled and our minds emptied of cognitive content.“ (A 1991, S. 200) 12 Vgl. V/T 2000, S. 26–28 und MD 2005, S. 24–26. Zur begrifflichen Struktur der Erfahrung bei Hegel vgl. auch die Ausführungen oben in I.2.2. 13 Weitere Fälle wären etwa explizite Urteile von Personen, die einen Erfahrungsgehalt zum Ausdruck bringen, aber noch nicht über das adäquate Vokabular verfügen, dies zu tun – etwa weil ihnen die Art der jeweiligen Gegenstände nicht bekannt ist. So kann man etwa nach W. Alston durchaus Formen religiöse Erfahrungen machen, ohne dass man sich dessen bewusst wird, dass es sich um einen spezifisch religiösen Erfahrungsgegenstand bzw. Sachverhalt handelt. Vgl. A 1991, S. 11 f. 14 In diesem Sinne versteht R. Audi Meinungen „a (state of) readiness to act in certain ways appropriate to its content, at least by affirming the proposition believed“ (A 1994,
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Formen der Schlussfolgerung sowie die Kenntnis der darin involvierten inferentiellen Regeln.15 Ein solcher Fall einer dispositionellen Meinung und Überzeugung ist zum einen zwar schwächer als eine okkurrente, die spätestens durch Erinnerung im Aufmerksamkeitsfeld erscheinen kann. Mit R. Audi gesprochen, ist sie aber zugleich stärker als eine Disposition zu glauben, dass etwas der Fall ist. Eine solche Glaubensdisposition liegt etwa dann vor, wenn eine Person in ihrer Überzeugung, dass p, über einen konkreten Grund für eine weitere Meinung, dass q, verfügt, weil q aus p folgt, die Person dies aber noch nicht explizit eingesehen hat.16 Während im letzteren Falle die Meinung, dass q, eben (noch) nicht in erstpersonaler Hinsicht zugänglich gemacht wurde, obwohl die Person aufgrund zuvor akzeptierter Aussagen dazu tendieren müsste, ist dies eine Grundbedingung eines schon ausgebildeten dispositionellen Glaubens. Vor diesem Hintergrund lassen sich Hegels Überlegungen zum ,bewusstlosen‘ Denken im Rahmen des religiösen Bewusstseins ungefähr so plausibilisieren: Konkrete Glaubensdispositionen würden in Hegels Ansatz einer religiösen Überzeugung entsprechen, deren Ausbildung zwar einer Person jederzeit möglich ist, weil sie letztlich eine höhere Explikationsstufe des jeweils entwickelten Begriffs des Absoluten darstellt, die aber von der Person als solche (noch) nicht eingesehen wurde.17 Die Bildung der Überzeugung, dass die zweckmäßige Ordnung der Welt im Absoluten begründet ist, würde daher für Hegel eine konkrete Glaubensdisposition für solche Personen darstellen, die schon zur Erkenntnis gekommen sind, dass das Absolute das ,wahrhaft Unendliche‘ und das ,absolut Notwen-
S. 423 f.). Im Folgenden übernehme ich Audis hilfreiche Unterscheidung von „dispositional beliefs“ und „dispositions to believe“ (ebd., S. 419). 15 Prägnant heißt es etwa in einem Vorlesungszusatz: „Darüber ist […] zu bemerken, daß die verschiedenen Formen des Schlusses […] in unserem Erkennen sich fortwährend geltend machen. Wenn z.B. jemand zur Winterszeit des Morgens beim Erwachen die Wagen auf der Straße knirren hört und dadurch zu der Betrachtung veranlaßt wird, daß es wohl stark gefroren haben möge, so vollbringt er hiermit eine Operation des Schließens, und diese Operation wiederholen wir täglich unter den mannigfaltigsten Komplikationen.“ (Enz. § 183Z, TWA 8, S. 335; vgl. die Aussagen in VPR 4, S. 615 f.) Im Sinne von Enz. § 2A fügt Hegel gleich hinzu: „Es dürfte somit wenigstens von nicht geringerem Interesse sein, sich dieses seines täglichen Tuns […] ausdrücklich bewußt zu werden, als es ja von anerkanntem Interesse ist, nicht nur von den Funktionen unseres organischen Lebens […], sondern auch von den Vorgängen und Gebilden der uns umgebenden Natur Kenntnis zu nehmen. Dabei wird unbedenklich zuzugeben sein, daß, sowenig es, um gehörig zu verdauen, zu atmen usw., eines vorgängigen Studiums der Anatomie und der Physiologie bedarf, ebensowenig auch, um richtige Schlüsse zu ziehen, man vorher Logik studiert zu haben braucht.“ (Enz. § 183Z, TWA 8, S. 335 f.) Zu Alltagsformen des praktischen und theoretischen Schließens vgl. K 1989, S. 42 f. 16 Vgl. A 1994, S. 422. 17 Dies folgt aus Hegels allgemeinem Begriffsholismus, der wiederum einen Holismus ,metaphysischer Begriffe‘ des Absoluten impliziert, der nach Hegel einer erfolgreichen Systematisierung aller Gottesbeweise zugrunde liegt. Vgl. oben Abschn. II.4.1.
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dige‘ ist, die aber die entsprechende begriffliche Schlussfolgerung noch nicht de facto gezogen haben.18 Anders verhält es sich mit Überzeugungen, die hinsichtlich der Genese des Begriffs des Absoluten relativ fundamental sind, weil sie nach Hegel für das religiöse Bewusstsein die Voraussetzung bilden, den schon erworbenen Begriff weiter zu explizieren. Entsprechend ist für Hegel gerade das Kategorienverhältnis des ,Endlichen‘ und ,Unendlichen‘ im Sinne der obigen Zitate das Paradebeispiel des Inhalts nicht-bewusster Überzeugungsbildung, der nach Hegel sogar dem Common Sense zugeschrieben werden kann. Einmal erworben, aber (noch) nicht explizit gemacht, wird man die entsprechende Meinung also nach den obigen Unterscheidungen einen dispositionellen Glauben nennen können. Eine solche Zuordnung lässt sich nun sicherlich schwerlich allein durch eine Analogie zu sinnlichen Erfahrungen als Meinungsdispositionen deuten. Im Rahmen religiöser Überzeugungsbildung wäre eine Engführung mit dem Erwerb von Meinungen durch die Mitteilung von Zeugniswahrheiten sicherlich zunächst naheliegender. Für Hegel setzt ja ohnehin Meinungs- und Erkenntnisbildung – wie sich in Abschnitt I.2.2 gezeigt hat – ,allgemeines Selbstbewusstsein‘ voraus. Das heißt genauer, dass eine Person nur dann einen echten Wissensanspruch erheben kann, wenn sie sich zugleich dessen oblique bewusst sein kann, dass jede andere an Wahrheit interessierte Person sich an ihre Stelle stellen könnte. Im engeren Sinne ist für Hegel die Ausbildung des religiösen Glaubens zudem gar nicht ohne einen Prozess möglich, in dem eine Person eben zu einem Mitglied einer Religionsgemeinschaft wird. Ein solcher Prozess besteht dabei nicht nur in der Teilnahme an religiösen Riten und Kulten, sondern v.a. in der sie begleitenden religiösen Bildung und Erziehung, in der die Person lernen kann, was es bedeutet, als Mitglied der Religionsgemeinschaft an diesen Praktiken teilzuhaben.19 Daher betont Hegel scharf gegen Jacobi, „daß Religion, Sittlichkeit, so sehr sie ein Glauben, unmittelbares Wissen sind, schlechthin bedingt durch die Vermittlung seyen, welche Entwicklung, Erziehung, Bildung heißt.“ (Enz. § 67, GW 20, S. 108) Im Rahmen der Teilnahme am religiösen Kultus hört eine Person dann von denjenigen Lehr-
18 Vgl. zu diesem Beispiel die Ausführungen in II.3.3 und II.4.2. Da nach Hegel spätestens die meta-stufige Explikation die Schlüssigkeit solcher Übergänge begründet, haben solche Glaubensdispositionen immer eine normative Dimension: Jedes rationale Individuum, dass die erste Aussage gebildet hat, sollte um des Erkenntnisziels der Wahrheit willen, die zweite Überzeugung bilden. Zum irreduzibel normativen Charakter von Inferenzen vgl. auch H 2015. 19 Hegels Betonung der Wichtigkeit des kirchlichen Lehramts (vgl. u.a. VPR 5, S. 86 f. oder 256 f.) lässt sich m.E. schon dadurch erklären, dass nach Hegel die Güte einer religiösen Haltung und Praxis sich u.a. nach dem Begriff des Absoluten richtet, der den Inhalt der entsprechenden Überzeugung bildet. Dies kann sich für Hegel sogar in konfessionellen Unterschieden in ein und derselben Religion niederschlagen. Nach Hegel ist etwa das protestantische Abendmahl der katholischen Eucharistiefeier überlegen, weil sich in der Transsubstantiationslehre eine in seinen Augen fehlerhafte Auffassung des Gott-Mensch-Verhältnisses ausdrückt. Vgl. u.a. Enz. § 552A, GW 20, S. 533 f.
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inhalten, die den religiösen Praktiken zugrunde liegen, und bildet so zumindest ein dispositionelles Für-Wahr-Halten aus, wenn sie regelgeleitet, zielgerichtet und nicht etwa blind an diesen Praktiken partizipiert. Das in der religiösen Praxis umgesetzte know how könnte man in diesem Sinne als eine der Grundlagen für das propositionale Wissen der Gläubigen ansehen, das sie dann im Rahmen der Lehre für sich selbst ausdrücklich machen können.20 Eine solche Modellierung der ,bewusstlosen‘ Meinungsbildung kann aber für Hegel nicht die ganze Wahrheit sein. Denn zum einen sind Aussagen wie ,Gott ist das wahrhaft Unendliche‘ etc. höchstwahrscheinlich gar nicht oder zumindest nicht immer Teil religiöser Lehrinhalte.21 Zum anderen setzt die individuelle Meinungsübernahme im Rahmen von Mitteilungsakten für Hegel bereits spezifische kognitive Leistungen bei den beteiligten Personen voraus. So sagt Hegel zur Vermittlung religiöser Aussage im Kolleg von 1827: Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung in uns. Das ist ein großer Grundsatz, den wir wesentlich festhalten müssen. Es liegt darin, daß weder die positive Offenbarung noch die Erziehung Religion bewirken kann, so daß Religion ein von außen Gewirktes, mechanisch Hervorgebrachtes und in dem Menschen Gesetztes wäre. Wissen der Religion ist allerdings notwendig; es gehört jene Vermittlung dazu. Aber sie muß nicht als etwas Mechanisches betrachtet werden, sondern als eine Erregung. […] Er (= der Mensch, W.L.) ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muß es in ihm zum Bewußtsein gebracht werden. (VPR 3, S. 307)22
Die „eigene innere Natur des Geistes“, die die Grundlage der Akzeptanz von Zeugniswahrheiten in Personen bildet, ist dabei für Hegel deren „Vernunft“ (ebd.), wie er an derselben Stelle ausführt. Die erfolgsversprechende Vermittlung und Lehre religiöser Wahrheiten setzt damit schon voraus, dass die jeweiligen Personen in der Lage sind zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Dazu muss 20 So könnte man Hegels These deuten, dass in der Einsicht in die Präsenz des Absoluten im Gottesdienst, die im Rahmen dieser Praxis erworben wird, „Gefühlsandacht“ und „Denken“ (Enz. § 571, GW 20, S. 553) zusammenkommen. Vgl. auch Enz. § 555, GW 20, S. 543. Religiöse Überzeugung könnten in diesem Sinne zusammen mit dem Handlungswissen der kultischen Praxis gebildet werden. Vgl. M 2018, S. 107 f. 21 Zudem setzen diejenigen Religionsformen, die nach Hegel diese Auffassung des Absoluten zu ihrem Zentrum haben, ihren Kultus in Form von Mediations- und Kontemplationspraktiken um, die aber für Hegel nicht gleichermaßen auf eine intersubjektive, institutionalisierte Praxis angewiesen sind. Vgl. VPR 4, S. 238 f., 491 und 495 Fn. 22 Ähnlich heißt es im Kolleg von 1824 über die im Kultus erfahrene Gnade Gottes: „Das, was die Gnade Gottes genannt worden ist, die Wirksamkeit der Gnade, hat für die Reflexion diese Schwierigkeit im Verhältnis mit der Freiheit des Menschen. So ist das, was man den Menschen heißt, diese Seite, nicht wenigstens ein Stein dabei, so daß also die Wirksamkeit der Gnade nicht bloß ein mechanisches Tun, ein Wirksamsein in einem passiven Material ist – der Mensch das passive Material wäre, ohne dabei zu sein.“ (VPR 3, S. 249) In diesen Zitaten wird deutlich, dass der ,Zeuge‘ religiöser Wahrheiten nicht allein die anderen Mitglieder der Religionsgemeinschaft sein müssen, sondern – zumindest nach dem christlichen Selbstverständnis – Gott, als der Hl. Geist, sein kann. Diese Annahme wird uns weiter unten noch genauer beschäftigen. Vgl. unten Abschn. III.5.5.
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offensichtlich zumindest ein rudimentäres Vorverständnis dessen vorliegen, was bzw. wer das Bezugsobjekt religiöser Rede und Praxis überhaupt sein kann.23 Daher kann die Teilhabe am Kultus und die Mitteilung religiöser Aussagen vielleicht zum Teil erklären, wie man zu ganz spezifischen religiösen Überzeugungen kommt – sagen wir, was etwa im Rahmen der Eucharistie eigentlich geschieht. Sie erklärt aber nicht die Bildung des relevanten Gottesbegriffs in all seinen möglichen Aspekten. Allerdings findet sich bei Hegel eine weitaus subtilere Begründung des dispositionellen Charakters der fraglichen religiösen Überzeugungen, die insgesamt die kategoriale Natur der begrifflichen Bestimmungen zur Kernprämisse machen kann.24 Dabei fällt für Hegel zunächst besonders die Unwillkürlichkeit der kompetenten Verwendung kategorialer Ausdrücke ins Gewicht. Ähnlich wie wir uns schwerlich dazu entscheiden können, bestimmte Erfahrungen zu machen oder Behauptungen zu vernehmen, steht es nämlich für uns zur Wahl, oberste „Denkbestimmungen“ in der Bildung wohlformulierter Urteile zu gebrauchen: „[I]m Gegentheil muß sich unser Denken nach ihnen beschränken und unsere Willkühr oder Freyheit soll sie nicht nach sich zurichten wollen.“ Und dies gilt nach Hegel aus folgenden Gründen: Insofern […] das subjective Denken unser eigenstes, innerlichstes Thun ist, und der objective Begriff der Dinge die Sache selbst ausmacht, so können wir aus jenem Thun nicht heraus seyn, nicht über demselben stehen, und ebenso wenig können wir über die Natur der Dinge hinaus. (WdL I/1, GW 21, S. 14)
In diesem Passus finden sich zwei für uns relevante Behauptungen: Im Einklang mit seiner Kant-Kritik meint Hegel zum einen, kategoriale Bestimmungen seien Wesenszüge der Dinge selbst.25 Da sich nun, wie schon in Abschnitt I.2.1 deutlich wurde, rationales Leben durch intrinsische Wahrheitsausrichtung auszeichnet und dadurch sein spezifisches Verhalten als Ganzes organisiert, können wir über unser kategoriales Denken nicht frei verfügen, selbst wenn wir eine bewusste Haltung ihm gegenüber einnehmen können. Wie dies nun zum dispositionellen Charakter der genannten Überzeugungstypen führt, wird durch die Begründung deutlicher, die Hegel für den irreduzibel objektiven Gehalt unseres Denkens anführt. Im Kontext des o.g. Zitates behaup-
23 In diesem Sinne erinnert Hegel an den genannten Stellen an die platonische AnamnesisLehre. Vgl. VPR 3, S. 307 und Enz. § 67, GW 20, S. 108 f. Auf die Details dieses Zusammenhangs werde ich unten in Abschn. III.5.5 eingehen. 24 Diese Argumentationslinie findet sich in komprimierter Fassung auch in der zehnten von Hegels Gottesbeweisvorlesungen. Vgl. bes. GVL, GW 18, S. 275 f. Bei der Darstellung von Hegels allgemeiner Prämisse, die die Rolle metaphysischer Kategorien in der logischen Tiefengrammatik unserer Alltagsrede ausdrücklich macht, werde ich mich aber an den ausführlicheren Überlegungen in der Vorrede zur zweiten Ausgabe WdL orientieren, die vermutlich kurz nach den Gottesbeweisvorlesungen entstanden ist. 25 Zu Hegels Kritik an kantianischen Formen des Anti-Realismus vgl. den Exkurs in Kap. II.1.
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tet er nämlich, dass die „Denkbestimmungen, von denen wir allenthalben Gebrauch machen, […] uns in jedem Satze, den wir sprechen, zum Munde herausgehen.“ (ebd., S. 12) Und da ohne die Fähigkeit zu sprachlichen Äußerungen menschliches Leben nicht möglich wäre, ist schon in den basalsten Vollzügen kategoriales Wissen enthalten, das einen rationalen und wahrheitsfähigen Objektbezug überhaupt gewährleistet.26 Was Hegel damit genauer meint, lässt sich anhand eines seiner Beispiele illustrieren: Wenn ich etwa einen singulären Aussagesatz wie „[D]iß Blatt ist grün“ bilde, sind schon „Kategorien, Seyn, Einzelnheit eingemischt“ (Enz. § 3A, GW 20, S. 42).27 Setzt man mit P. Geach voraus, dass für den Besitz eines Begriffs dessen regelgeleitete Verwendung im Rahmen von wohlgeformten Urteilen hinreichend ist,28 dann kann man Hegels Beispiel als einen Hinweis deuten, dass kompetente Sprecher immer ein implizites Wissen um die kategorialen Bestimmungen und die Anwendungsbedingungen der entsprechenden Begriffe besitzen müssen.29 In diesem Sinne muss ich zumindest im Bilden und Äußern der zitierten Aussage implizit wissen, was es heißt, ein raumzeitlich identifizierbares Individuum zu sein, auf das ich mit indexikalischen Ausdrücken Bezug nehme. Zum anderen muss ich ebenfalls implizit um die Funktion der Kopula als Zuschreibung der, wie Hegel sagen würde, ,Inhärenz‘ einer Eigenschaft wissen – und zwar genauer einer bestimmten Klasse von Eigenschaften, nämlich Sinnesqualitäten.30 Neben den allgemeinontologischen Kategorien der Individualität und Eigenschaftsexemplifikation enthält die singuläre Aussage schließlich die Bestimmungen, die für das kosmologische Argument relevant sind: Denn zum einen kommt dem Blatt zusamt seiner Eigenschaft, grün zu sein, die höherstufige Eigenschaft zu, im qualitativen Sinne endlich zu sein. Zum anderen ist das Haben der Sinnesqualität wie die Existenz des Baumes lediglich metaphysisch kontingent. Anders ausgedrückt: Im Erlernen und kompetenten 26 „In Alles, was ihm [= dem Menschen, W.L.] zu einem Innerlichen, zur Vorstellung überhaupt, wird, was er zu dem seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt, und was er zur Sprache macht und in ihr äussert, enthält eingehüllter, vermischter, oder herausgearbeitet, eine Kategorie; sosehr natürlich ist ihm das Logische, oder vielmehr dasselbige ist seine eigenthümliche Natur selbst.“ (WdL I/1, GW 21, S. 10) Der ,transzendentale‘ Charakter allgemein-metaphysischer Kategorien wurde oben in Abschn. II.2.5 ausführlich besprochen. 27 Zu diesem Beispiel vgl. auch H 2002, S. 171 f. und 365 f. 28 Vgl. G 1957, S. 12–14. 29 Zur Unterscheidung von ,implizitem‘ und ,explizitem Wissen‘ und dessen Relevanz für Hegel vgl. bes. H 2002, S. 158–160 und M 2018, S. 80 f. Die folgenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf das Wissen einer Person, wie man einen Begriff korrekt in Urteilen anwendet; nicht aber um das artikulierte propositionale Wissen, dass bzw. welche Regeln konkret gelten, die sich wiederum in der korrekten Verwendung nach den kategorialen Grundzügen der Dinge richten. Vgl. G 1957, S. 16. 30 Vgl. Enz. § 170, GW 20, S. 185. Zum konkreten Zusammenhang zwischen Logik bzw. Ontologie und Grammatik heißt es bei Hegel entsprechend: „Das Formelle der Sprache aber ist das Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet, dieser logische Instinkt bringt das Grammatische hervor.“ (Enz. § 459A, GW 20, S. 454) Vgl. hierzu auch Enz. § 20A, GW 20, S. 64 f.
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Anwenden sprachlicher Regeln beginnt ein Sprecher die Bezugsgegenstände in einem bestimmten Fokus zu sehen, der in korrekten Aussagen wesentlich von kategorialen Grundzügen der Dinge selbst bestimmt ist.31 Da sich Kategorien gerade dadurch auszeichnen, den Allgemeinheitsgrad natürlicher Gattungen und Arten zu übersteigen, ist der implizite Objektivitätsanspruch in solchen Aussagen für Hegel unhintergehbar: Jeder Versuch, ihn durch einen Verweis auf historisch kontingente Begriffsschemata zu relativieren, würde in der theoretischen Qualifikation wiederum ontologische und modale Kategorien in Anspruch nehmen, die dann nur um den Preis eines Regresses oder eines schlechten Zirkels nochmals auf dritter Stufe eingeholt werden müssten.32 Von hier aus gesehen lässt sich die oben eingeführte Rede vom dispositionellen Glauben vom Absoluten mit folgenden hegelschen Thesen präzisieren: Erstens lässt sich kein wahrheitsfähiger Satz kohärent äußern, der nicht im korrekten Regelgebrauch auf kategoriale Bestimmungen zurückgreift. Zweitens können diese nur dann nach Hegel korrekt auf endliche Entitäten angewendet werden, wenn diese zugleich ihrem Wesen nach auf die Bestimmungen des Absoluten verweisen, was in religiösen Denkaktivitäten transparent und thematisch wird. So ermöglicht etwa die Einsicht in den essentiellen Bezug zum ,Unendlichen‘ und ,absolut Notwendigen‘ das Verständnis, was es eigentlich heißt, ein Endliches oder Kontingentes zu sein.33 In der Ausbildung und Ausübung ihrer begrifflichen Fähigkeiten, die in Urteilen umgesetzt werden, erlernen Personen daher ein System von Kategorien, das drittens zugleich den Hintergrund der normalen Genese religiöser Überzeugungen bildet. In diesem Sinne kann Hegel sagen, die Einsicht in die kategorialen Verhältnisse und der Schluss auf das Unendliche „macht sich bewußtlos in unserem Geist“ (VPR 3, S. 316). Selbst wenn wir kein höherstufiges Wissen oder zumindest Bewusstsein von diesen Kategorien haben, müssen sie 31 In den Worten von W. de Vries: „Thinking expresses itself in the use of a sign.“ ( V 1988b, S. 169) In diesem Sinne gilt auch nach Hegel, dass Begriffe dieser Art die logische Tiefengrammatik bilden, die einen erfolgreichen Objektbezug in sinnvollen Sätzen ermöglichen. Vgl. R/F 1961, S. 232 und L 2008, S. 35 f. 32 Dies ergibt sich etwa, wenn man Begriffsschemata in der Theorieperspektive immer bzgl. historisch kontingenter sozialer Lebensformen relativiert. Denn soziale Lebens- und Praxisformen sind selbst soziale Entitäten, deren Eigenschaften nach Hegel nicht auf die intrinsischen Eigenschaften der beteiligten Personen reduzierbar sind. Vgl. Q 2011, S. 264. Man muss von ihnen daher zumindest sagen können, dass sie metaphysisch kontingent und über irreduzible Eigenschaften verfügen, die wiederum in Hegels Sinne ebenfalls qualitativ endlich sind etc. Wollte man diese sozialontologischen Bestimmungen entsprechend relativieren, müsste man darin entweder wieder von denselben Kategorien Gebrauch machen oder die Relation selbst wiederum relativieren. Dieses Regressargument lässt sich ohne weiteres auf alle Versuche der theoretischen Relativierung von Begriffsschemata übertragen. Vgl. A 2001, S. 32 f. und ähnlich auch W 1989, S. 222. Dass in jeder scheinbar subjektiven oder intersubjektiven Qualifikation letztlich ein irreduzibel objektiver Gehalt steckt, zeigt Th. Nagel in seiner Interpretation des cartesischen cogito. Vgl. N 1997, Chap. 2. 33 Vgl. hierzu die Ausführungen in II.2.5.
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uns, wie Hegel sagt, zumindest „bekannt“ (WdL I/1, GW 21, S. 12) sein, bevor wir anfangen deren Netzwerk methodisch kontrolliert zu explizieren. Ebenso wie wir etwa durch eine gemachte Erfahrung zumindest implizit meinen können, dass etwas der Fall ist, reicht damit schon die Vertrautheit mit kategorialen Bestimmungen aus, um einen dispositionellen Glauben von der Existenz des Unendlichen und Absoluten zu entwickeln. Diese Präzisierungen haben wichtige epistemologische Konsequenzen. Erstens nämlich erlauben sie eine genauere Auskunft darüber, inwiefern man dem religiösen Denken echte Begründungsleistungen zuschreiben kann und darf, die wiederum Bedingung für ihren epistemischen Rechtfertigungsstatus sind. Schon in Abschnitt I.2.2 wurde mit W. Alston darauf hingewiesen, dass die Rede von ,Rechtfertigung‘ mindestens zwei unterschiedliche Interpretationen zulässt. In diesem Sinne ist eine Person in ihrer Überzeugung genau dann gerechtfertigt, wenn sie sie sich entweder mit der Erfüllung bestimmter normativer Bedingungen in einem Zustand des Gerechtfertigtseins befindet oder die Person bewusst einen aktiven Nachweis dieses Zustands geleistet hat.34 Eine Wahrnehmungsmeinung befindet sich so prima facie im Rechtfertigungszustand, wenn die Person, nachdem sie gesehen hat, dass p, spontan die dispositionelle Überzeugung ausbildet, dass p der Fall ist – und dies selbst dann, wenn der Person dies nicht (sofort) bewusst ist. Ein Nachweis wäre hingegen dann gegeben, wenn die Person auf die Nachfrage hin, warum sie glaubt, dass p, die Grundlagen ihrer Überzeugungen offenlegt, etwa wenn in dem sie sagt, dass sie gesehen hat, dass p der Fall ist. Insofern nun religiöses Denken für Hegel auch und vor allem bewusstlos arbeitet, können religiöse Überzeugungen daher immer im erstgenannten Sinne gerechtfertigt sein, wenn sie wesentlich auf solchen Prozessen beruhen. Was folgt daraus aber nun für den – unter Umständen notwendigen – Nachweis, dass sie in diesem Sinne gerechtfertigt sind? Zunächst ergibt sich für Hegel eine Grundlage für die weitergehende These, dass jeder höherstufige Rechtfertigungsnachweis immer auf das zurückgreifen kann, was im religiösen Denken eigentlich schon liegt bzw. liegen muss;35 und zwar weil es für Hegel gar kein Bezugsobjekt religiöser Rede geben kann, das nicht über die entwickelten Wesenszüge verfügt, die zugleich mit den basalsten ontologischen Kategorien verwoben sind. Sowohl Gottesbeweise als auch deren meta-theoretische Interpretationen in einer umfassen-
34
Vgl. A 1991, S. 71 und . 2005a, S. 18. Im Manuskript heißt entsprechend: „[N]icht erst auf Philosophie haben die Menschen zu warten gehabt, um das Bewußtsein, die Erkenntnis der Wahrheit zu empfangen.“ (VPR 3, S. 159) Nach dem oben Gesagten lässt sich dies nicht nur als Aussage über die genetische Unabhängigkeit der Bildung religiöser Überzeugungen von der Philosophie verstehen. Vgl. M 2018, S. 223 f. Durch die Ausübung rationaler Fähigkeiten in der Ausbildung des Gottesbegriffs werden vielmehr schon Begründungen geleistet, durch die Personen die ,Wahrheit‘ tatsächlich erkennen. Entsprechend halte ich die These für fraglich, dass religiöse Überzeugungen „im Hinblick auf ihre Geltung und Begründung“ nach Hegel tatsächlich „auf das Vermögen philosophischen Explizierens angewiesen“ (ebd., S. 223) sind. 35
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den Kategorienlehre können demnach einen Rechtfertigungsnachweis leisten, indem sie die z.B. die intrinsische Zusammengehörigkeit von ,Endlichem‘ und ,Unendlichem‘ unterschiedlich explizieren und sie dabei als Inhalt einer korrekten Einsicht ausweisen. Die implizite Begründung im Rahmen dispositioneller Meinungsbildung und die vollartikulierte Rechtfertigung aus dem kategorialen Gehalt bilden dabei für Hegel zweitens die äußersten Ränder eines Spektrums, das alternative, aber defiziente Formen des bewussten Nachweises seitens der Gläubigen keineswegs ausschließt.36 Solche Typen der „Beglaubigung“ (VPR 5, S. 181) können für Hegel etwa der Verweis auf Wunderberichte sein, deren behauptete Zuverlässigkeit dann als Grundlage probabilistischer Beweise für die Historizität etwa der leiblichen Auferstehung herangezogen wird. Ferner können die jeweiligen Überzeugungen von den Gläubigen als Produkt der Wirkung des Hl. Geistes verstanden werden oder aus vorher schon akzeptierten „allgemeinen Grundsätzen“ (ebd., S. 182)37 quasi-argumentativ begründet werden. Solche bewusst vorgebrachten Typen der Begründung sind zwar für Hegel dem Rechtfertigungsnachweis der Philosophie unterlegen und müssen sich – anders als religiöses Denken – auch nicht in der Biographie eines Menschen finden lassen.38 Sie zeigen aber an, dass sich die Optionen eines Rechtfertigungsversuchs nicht in den genannten Grenzfällen erschöpfen.39 Der Grund, warum diese Rechtfertigungstypen dem religiösen Denken und dessen philosophischer Explikation unterlegen sind, muss nach Hegel daran liegen, dass sie sich nicht gleichermaßen auf die kategorialen Einsichten beziehen, die einen Bezug auf das Absolute überhaupt möglich machen. Die potentielle Intransparenz der schon unbewusst geleisteten, eigentlichen Begründungen ist dann aber drittens mit einer Komplikation innerhalb der hegelschen Theorie 36 Vgl. im Folgenden bes. die Stufen der „Beglaubigung“ in VPR 5, S. 182–184 und die parallelen Ausführungen im Manuskript in VPR 3, S. 153 f. 37 Vgl. die parallelen Ausführungen im Hinrichs-Vorwort in GW 15, S. 139 f. 38 Über die genannten Formen der Beglaubigung sagt Hegel daher im Kolleg von 1827: „Da sind Bildungsstufen, Lebenswege der Menschen sehr verschieden, ihre Bedürfnisse ebenfalls.“ (VPR 5, S. 183) Er fügt aber sogleich hinzu: „Das höchste Bedürfnis aber des menschlichen Geistes ist das Denken so, daß das Zeugnis des Geistes nicht nur auf jene nur anklingende Weise der ersten Sympathie vorhanden sei, noch auf die zweite Weise, daß im Geiste solche festen Grundlagen sind, auf welche Betrachtungen gebaut, solche festen Voraussetzungen, aus denen Schlüsse, Herleitungen gezogen werden. Das Zeugnis des Geistes in seiner höchsten Weise ist die Weise der Philosophie, daß der Begriff rein als solcher aus sich ohne Voraussetzungen die Wahrheit entwickelt und entwickelnd erkennt und in und durch diese Entwicklung die Notwendigkeit der Wahrheit einsieht.“ (ebd.) 39 Mit Blick auf das von Hegel beschriebene Spektrum möglicher Formen der Rechtfertigung könnte man daher überlegen, ob trotz der epistemischen Höchstleistung, die Hegel der Philosophie zuschreibt, für Gläubige nicht auch kontextualistisch verstandene Rechtfertigungsnachweise unter bestimmten Umständen zulässig wären. Solche schwächeren Rechtfertigungstypen scheint Hegel etwa für sittliche Überzeugungen in Erwägung zu ziehen. Vgl. hierzu bes. Q 2011, S. 295–297.
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verbunden: Denn da sich religiöses Denken zunächst ohne höherstufiges Wissen der kognitiven Prozesse vollzieht, ist es für Hegel per se nicht (immer) Teil des ausdrücklichen Selbstverständnisses, das religiöse Personen von sich und ihren fundamentalen Überzeugungen besitzen. Solange sich diese Personen nun in einem kulturellen Umfeld befinden, in dem dieses Selbstverständnis nicht von außen her gesehen fraglich wird bzw. werden kann, können religiöse Überzeugungen in der Perspektive der Gläubigen ebenso unproblematisch sein.40 Wie sich schon in Kap. I.3 gezeigt hat, ändert sich dies genau dann, wenn sich die epistemischen Anforderungen unter einem gewandelten Verständnis dessen verschärfen, was zu einer echten Erkenntnis gehört – etwa wenn bestimmte wissenschaftliche Methoden als Standard für die Wissensbildung herangezogen werden. Da Gläubige nach Hegel nicht (immer) eine Epistemologie ihrer eigenen Überzeugungen bilden können und aufgrund der ,Bewusstlosigkeit‘ religiösen Denkens auch nicht (immer) die Kriterien der Zuverlässigkeit ihrer kognitiven Prozesse kennen, kann es daher gleich zu einer doppelten Verunsicherung kommen: Von der einen Seite kann ein Gläubiger mit einem Erkenntnisideal konfrontiert sein, dem der eigene Glaube womöglich nicht entsprechen kann. Auf der anderen Seite kann es hingegen Versuche geben, etwa im Rahmen der natürlichen Theologie den Nachweis zu führen, dass diese erste Verunsicherung keine bleiben sollte. Zur Veranschaulichung kann man für diesen Umstand leicht Beispiele in anderen basalen kognitiven Prozessen heranziehen: So ist z.B. der Bildungsprozess von Wahrnehmungsüberzeugungen generell in erstpersonaler Perspektive vollkommen unproblematisch – und dies selbst dann, wenn sich einzelne Überzeugungen als falsch herausstellen. Verunsicherung kann aber dann auftreten, wenn etwa Außenweltskeptiker Zweifel an dem Prozess als solchem sähen. Da Personen in der unmittelbaren Ausbildung dieser Meinungen nicht (immer) über eine eigene ausgearbeitete Epistemologie verfügen, werden sie womöglich nicht nur von der Skepsis selbst verunsichert,41 sondern auch von denjenigen Theorien, die gerade dem Alltagswissen und dem unmittelbaren Selbstverständnis zur Hilfe kommen wollen. Der Common Sense muss sich in diesem Sinne nicht immer mit einer Common-Sense-Epistemologie identifizieren.42
40 In solchen religiös homogenen Kontexten scheint daher folgende Überlegung von R. Swinburne zum mittelalterlichen ,Dorfbewohner‘ zu gelten: „In virtue of the Principle of Testimony, the villager was right so to believe (on his evidence it was probably true) – in the absence of counter-evidence (which may be simply counter-testimony; other people telling our villager differently).“ (S 22005, S. 90) 41 Wenn Hegel recht hat, dann können Personen teilweise dazu neigen, ,modernistische‘ Annahmen in ihr Selbstverständnis aufzunehmen und daraus anti-realistische Schlüsse zu ziehen, selbst wenn sich ihr implizites Alltagswissen davon radikal unterscheidet. Vgl. dazu auch oben Abschn. II.4.2. 42 Chr. Halbig unterscheidet in diesem Sinne mit Hegel zwischen „dem Common Sense selbst“, „dem Selbstverständnis des Common Sense“, „einer Common Sense-Philosophie“ und schließlich „einer philosophischen Theorie des Common Sense“ (H 2002, S. 319).
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Man könnte nun meinen, dass Gläubige im Rahmen der doppelten Verunsicherung wohl geneigt sind, sich die Aussagen natürlicher Theologie oder der spekulativen Philosophie zu eigen zu machen, um damit der ersten Verunsicherung zu begegnen. Im Rahmen religiöser Meinungs- und Erkenntnisbildung steht ihnen dieser Weg aber aus einem weiteren Grund nicht (immer) offen. Denn eben weil der zugrunde liegende Begriff des Absoluten für den einzelnen Gläubigen nicht (immer) als solcher transparent ist, ist es nicht (immer) gewährleistet, dass der Ausdruck der schon geleisteten Einsicht in religiöser Rede mit dem übereinstimmt, was ein natürlicher Theologe oder ein spekulativer Philosoph im Rahmen seines Rechtfertigungsnachweises explizit formuliert. Vielmehr meint Hegel starke Gründe dafür zu haben, dass dies (in der Regel) kaum bis gar nicht der Fall ist. Der Hinweis auf die Bewusstlosigkeit von Denkleistungen ist daher nur der erste Schritt zur Beantwortung des eingangs angeführten Einwands, der Hegels Theorie religiösen Denkens im konkreten religiösen Vokabular nicht wiederfinden kann. Er lässt vielmehr erst dann vollständig ausräumen, wenn man die bisherigen Überlegungen um eine Analyse und Rekonstruktion der faktischen religiösen Ausdrucksformen ergänzt.
3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘ Im letzten Kapitel haben wir gesehen, wie für Hegel Denk- und Begründungsformen in der religiösen Erkenntnisbildung implizit und unbewusst umgesetzt werden (können). Damit konnte ein wesentlicher Teil des in III.1 entwickelten Einwands entschärft werden, dem zufolge Hegels Theorie religiösen Denkens kaum eine Basis in der tatsächlichen religiösen Meinungsbildung haben kann. Eine hinreichende Antwort kann aber zugleich auf eine stärkere These rekurrieren. Denn nach Hegel kann die Konstitution der normalen religiösen Ausdrucksformen ohne Denkleistungen überhaupt nicht erfasst und erklärt werden. An dieser Stelle müssen nun Hegels allgemeine Überlegungen darüber ins Spiel kommen, was eine Erkenntnis und Rede zu einer ,religiösen‘ Erkenntnis oder Äußerung im besonderen Sinne macht. Wie schon in Abschnitt I.1.1 erwähnt wurde, führt Hegel zur Spezifikation drei fundamentale Formen der bewussten Bezugnahme auf das Absolute ein,1 um Religion im engeren Sinne von Kunst und Philosophie unterscheiden zu können. Auf dieser Basis hat sich in der Hegelforschung die in Handbüchern nachlesbare Kurzformel eingebürgert, der zufolge „Religion“ in dieser Hinsicht das „Selbstbewußtsein des Geistes in Form der Vorstellung“2 darstellt. Vor diesem Hintergrund mag es merkwürdig erscheinen, dass bislang nur vom ,Denken‘ in der Religion die Rede war, das laut der Standardlesart eigentlich die spezifische Differenz des philosophischen Zugangs zum Absoluten ausmachen soll. Spätestens mit dem letzten Kapitel ist aber deutlich geworden, dass Hegels allgemeine Rede vom ,Denken‘ weitaus komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Seine ausführlich begründete Rede von der Rolle des ,Denkens‘ in der religiösen Überzeugungsgenese sowie seine Unterscheidung des dispositionellen ,Denkens‘ vom ,Nachdenken‘ in der Philosophie zeigen daher schon an, dass die scharfe Abgrenzung religiöser Erkenntnisformen zumindest in dieser undifferenzierten Form irreführend ist.
1 Religion im weiten Sinne umfasst dabei alle drei Formen der bewussten Bezugnahme auf das Absolute. Vgl. Enz. § 554, GW 20, S. 542. 2 J 22010, S. 455. Vgl. ferner auch etwa I 1992, S. 254 f. A. Peperzak weist darauf hin, dass Hegel, anders als in den anderen Teilen der Enzyklopädie, in den Einführungsparagraphen der ,Philosophie des absoluten Geistes‘ keine Einteilung vornimmt und man daher die genannte Spezifikation interessanterweise keineswegs an der Stelle finden kann, wo man sie am ehesten vermuten würde. Vgl. P 1987, S. 87.
424
3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Das Problem der Anwendbarkeit von Hegels zentraler religionshermeneutischer Kategorie lässt sich offensichtlich nur dann lösen, wenn man seine konkreten Analysen genau in den Blick nimmt. Dabei soll im Folgenden die interpretatorische These vertreten werden, dass die möglichen konzeptuellen Unschärfen im Begriff der ,Vorstellung‘ dem Charakter dieser Erkenntnisform selbst geschuldet sind und der Begriff daher je nach Kontext differenziert werden muss. Dazu soll in einem ersten Schritt Hegels allgemeine Eingrenzung des Vorstellungsbegriffs zu Wort kommen (Abschnitt III.3.1), um dann in einem zweiten Schritt die Anwendung auf die religiöse Überzeugungsbildung kritisch zu prüfen (Abschnitt III.3.2). Anhand von Hegels Beispielen werde ich dabei die genannte Hauptthese des Abschnitts plausibilisieren, wobei die Auswahl durch die vorhergehenden Interpretationen begründet wird. Im Anschluss an die resultierenden Konsequenzen für den Zusammenhang zwischen Religion und Philosophie (Abschnitt III.3.3) werde ich schließlich die hegelsche Antwort auf den in Kap. III.1 entwickelten Einwand abrunden (Abschnitt III.3.4).
3.1 Hegels allgemeine Charakterisierung der ,Vorstellung‘ Schon die einführenden Bemerkungen deuten an, dass man innerhalb von Hegels Begriffsanalyse grob gesprochen zwei Ebenen unterscheiden musst. Auf der ersten Ebene führt er den Vorstellungsbegriff zunächst als allgemeine erkenntnistheoretische Kategorie ein, um sie dann auf der zweiten Ebene als Unterscheidungskriterium verschiedener Erkenntnisformen des Absoluten zu verwenden.3 In diesem Sinne ergibt sich nach Hegel, dass sich die Kunstproduktion und -rezeption durch den ,anschauenden‘ Bezug, die religiöse Erkenntnis und Sprache durch die ,Vorstellung‘ und Philosophie schließlich durch das ,(Nach)denken‘ genauer auszeichnen lassen.4 Ein korrektes Verständnis von Hegels Einteilungsversuch setzt daher seine allgemeine Explikation der Vorstellungskategorie voraus, um die es im Folgenden gehen soll. Schon die Grobkennzeichnung der ersten Ebene macht dabei deutlich, dass es sich bei der ,Vorstellung‘ – wie auch bei der ,Anschauung‘ und dem ,Denken‘ – um eine Form des ,Erkennens‘ handelt.5 Setzt man die in Kap. I.2 analysierten Grundzüge kognitiver Akte voraus, dann muss für alle Erkenntnistypen die starke Voraussetzung gelten, dass ihr Gehalt zu den Erkenntnisgegenständen in der ihnen charakteristischen kognitiven Identitätsbeziehung steht. In einem kor3 Zu dieser wichtigen Unterscheidung zwischen dem ,epistemologischen‘ und ,metaphilosophischen‘ Gebrauch, die ich im Folgenden aufgreife, vgl. bes. H 2015. 4 In diesem Sinne fasst etwa V. Hösle, der diese Zuordnung zu Recht kritisiert, Hegels Meinung folgendermaßen zusammen: „In der Kunst werde [nach Hegel, W.L.] das Absolute angeschaut, in der Religion vorgestellt und in der Philosophie gedacht.“ (H 1987, Band 2, S. 592) 5 Vgl. im Folgenden auch W 2010, S. 79–84 und H 2015, S. 158–160.
3.1 Hegels allgemeine Charakterisierung der ,Vorstellung‘
425
rekten Anschauungs-, Vorstellungs- oder Denkakt ist deren Gehalt immer identisch mit der Struktur der jeweiligen Bezugsgegenstände.6 Dabei muss für jede Erkenntnisart spezifiziert werden, welche Aspekte der Gegenstände in den Vordergrund treten bzw. wie indirekt jeweils die Repräsentationsform ist, die durch die Identitätsbeziehung allgemein ermöglicht wird.7 Unter dieser Voraussetzung ist dann auch für alle Formen die schwächere Bedingung der intersubjektiven Mitteilbarkeit kognitiver Akte erfüllt. Demgemäß gilt für jedes Erkenntnissubjekt, dass es im Vollzug eines kognitiven Akts mindestens implizit weiß, dass jedes andere rationale Subjekt an dessen Stelle denselben Gehalt ausbilden sollte.8 Während die zweite Voraussetzung nochmals unterstreicht, dass die Produkte kognitiver Akte immer öffentlich kommunizierbar sind und die Rede vom ,religiösen Bewusstsein‘ sich daher für Hegel nicht auf Einzelpersonen beschränken kann, macht die erste Voraussetzung deutlich, dass alle Momente des Erkennens einen echten epistemischen Zugang zu ihren Gegenständen ermöglichen, wenn auch ihr spezifischer Charakter unter bestimmten Umständen zu Fehlrepräsentationen und -urteilen führen kann. Wie unterscheidet sich nun ,Vorstellung‘ von den anderen Erkenntnisformen? Das Hauptmerkmal, dass alle Typen der ,Vorstellung‘ nach Hegel durchziehen soll, ist dessen charakteristische Mittelstellung zwischen den anderen kognitiven Fähigkeiten der ,Anschauung‘ und des ,Denkens‘.9 Dabei unterscheidet Hegel gleich in der Einführung des Begriffs in Enz. § 20A wesentlich zwei Hinsichten, nämlich (A) die für die Vorstellung spezifische Beziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Gehalt bzw. dem Bezugsgegenstand. Hinsichtlich der Objektseite nimmt er (B) dessen Darstellungsweise für die vorstellende Person in den Blick. In ihr besteht zwar eine gewisse Kontinuität zu derjenigen des ,Denkens‘, indem sie sich nach Hegel (B.1) in allgemeiner und einfacher Weise auf (B.2) verschiedene Gegenstandsbereiche beziehen kann. Gleichzeitig soll sie sich (B.3) 6
Vgl. oben Abschn. I.2.1. So tritt bei der ,Anschauung‘ die ,Einzelheit‘, bei der ,Vorstellung‘ und ,Denken‘ hingegen verschiedene Stufen des Allgemeinen in den Vordergrund. Vgl. K 2013, S. 389. Mit dem Ausdruck ,indirekt‘ ist hier lediglich gemeint, dass bspw. in der sprachlichen Bezugnahme die verwendeten Zeichen durch eine ,Allgemeinvorstellung‘ auf das Bezeichnete gerichtet sind, die die Zeichenbedeutung bildet. Vgl. u.a. Enz. § 458, GW 20, S. 451 f. und ferner V 1988b, S. 149 f. Diese Aussage verpflichtet sich aber nicht auf einen ,Repräsentationalismus‘, demzufolge mentale Repräsentationen die eigentlichen Erkenntnisund Redegegenstände bilden. Vgl. K 2015, S. 89 und H 2002, S. 367–371. Dies wird – wie Chr. Halbig zu Recht betont – durch die kognitive Identitätsthese ausgeschlossen. Vgl. ebd., S. 360–366. 8 Vgl. oben I.2.2. Dies gilt für Hegel selbst für die basalste Form des Erkennens im ,Anschauen‘, die die Fähigkeit voraussetzt, von den eigenen egozentrischen Interessen im Betrachten des Gegenstandes absehen zu können. Diese Fähigkeit, die auch in der traditionellen Unterscheidung zwischen ,Wahrnehmung‘ und ,Anschauung‘ mitschwingt (vgl. T 2013, S. 141 f.), nennt Hegel ,Aufmerksamkeit‘. Vgl. etwa Enz. § 448, GW 20, S. 444 f. und VPhG 13, S. 189 und 195. 9 Vgl. Enz. § 451A, GW 20, S. 445 f. und ferner H 2015, S. 160 f. 7
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
durch die ihr charakteristische ,Vereinzelung‘ und Isolation von Vorstellungsinhalten wiederum vom ,Denken‘ unterscheiden lassen.10 Hegel schreibt daher: Das Vorstellen hat solchen sinnlichen Stoff zum Inhalte aber in die Bestimmung des Meinigen, daß solcher Inhalt in Mir [= (A)] ist, und der Allgemeinheit, der Beziehung-auf-sich, der Einfachheit gesetzt [= (B.1)]. – Außer dem Sinnlichen hat jedoch die Vorstellung auch Stoff zum Inhalt, der aus dem selbstbewußten Denken entsprungen, wie die Vorstellungen vom Rechtlichen, Sittlichen, Religiösen, auch vom Denken selbst [= (B.2)], und es fällt nicht so leicht auf, worin der Unterschied solcher Vorstellungen von den Gedanken solchen Inhalts zu setzen sey. […] Die Eigentümlichkeit der Vorstellung aber ist im Allgemeinen auch in dieser Rücksicht darein zu setzen, daß in ihr solcher Inhalt gleichfalls vereinzelt steht [= (B.3)].“ (Enz. § 20A, GW 20, S. 63)
Während man die Hinsichten (A), (B.1) und (B.2) relativ leicht anhand der Paradigmenfälle der ,Vorstellung‘ verdeutlichen kann, bereitet, wie sich gleich zeigen wird, besonders das Kriterium der ,Vereinzelung‘ (B.3) gewisse Schwierigkeiten. Generell bildet Hinsicht (A) für Hegel die spezifische Differenz zur ,Anschauung‘, der zufolge einem Subjekt in Vorstellungsakten ein bestimmter Erkenntnisgehalt als ihm zugehörig und als transtemporal und -lokal zugänglich aufgefasst wird bzw. werden kann.11 Was Hegel damit meint, lässt sich beispielhaft an der für Hegel basalsten Form eines Vorstellungsprodukts, dem ,Erinnerungsbild‘, zeigen:12 Während einer Person ein Einzelding in einer empirischen ,Anschauung‘ immer situationsgebunden präsentiert wird, befähigt dieser Vorstellungstyp sie dazu, sich auf denselben Gegenstand auch dann zu beziehen, wenn sie sich nicht an der entsprechend naheliegenden Raumzeitstelle befindet und der Gegenstand nicht in ihrem Sichtfeld auftaucht.13 Entsprechend kann ein Subjekt in der anschaulichen Präsenz eines Baumes bspw. das Urteil ,Dieser Baum trägt gerade reiche Frucht‘ bilden. Die Fähigkeit der Erinnerung ermöglicht es dem Subjekt dann, dasselbe Urteil zu fällen, wenn es sich zu einer anderen Zeit an
10 Mit diesen Hinsichten kann man m.E. klarer zwischen dem Begriff der ,Vorstellung‘ als „Vermögen“ oder, wie Hegel auch sagt, als „Thätigkeitsweise[…] des Geistes“ (Enz. § 440A, GW 20, S. 434) und als bestimmter kognitiver (Re-)präsentation eines Erkenntnisgegenstands unterscheiden, was ich oben in Anlehnung an P. T. Geach den ,Gehalt‘ genannt habe. Vgl. G 1957, S. 1 f. In diesem Sinne bezeichnen Hegels Ausdrücke ,Erinnerung‘, ,Einbildungskraft‘ und ,Gedächtnis‘ in erster Linie Typen der Vorstellungsfähigkeit; die Termini ,Erinnerungsbild‘, ,Allgemeinvorstellung‘ und ,Zeichen‘ hingegen das Produkt ihrer Ausübung sowie dessen charakteristischen Gehalt. Davon unterschieden sind schließlich die möglichen Bezugsgegenstände der ,Vorstellung‘ wie raumzeitliche Einzeldinge, Eigenschaften etc., die Inhalt verschiedener Erkenntnisformen sein können. 11 Vgl. K 2015, S. 105 f. und zur ,Meinigkeit‘ von Vorstellungsprodukten ferner H 2015, S. 160 f. 12 Vgl. im Folgenden Enz. § 452–454, GW 20, S. 446–448; ferner V 1988b, S. 119–134 und W 2010, S. 86–88. 13 Analog interpretiert F. Knappik Hegels Ausführungen in Enz. § 453A als eine Theorie „re-identifikatorische[r] Fähigkeit“ (K 2015, S. 107).
3.1 Hegels allgemeine Charakterisierung der ,Vorstellung‘
427
einem ganz anderen Ort befindet oder sich noch am selben Ort befindet, dem Baum aber den Rücken zugekehrt hat oder die Augen geschlossen hält.14 Aus diesem ersten Gedanken der transsituativen Verfügbarkeit ein und desselben Erkenntnisinhalts lassen sich Hegels Bemerkungen folgendermaßen plausibilisieren: Während eine Person in einer Anschauungssituation sich nicht (immer) des Unterschieds subjektiver und objektiver Anteile der Erkenntnis bewusst ist, eben weil der Gegenstand ihr unmittelbar präsent ist, weiß sie in der ,Erinnerung‘ zumindest implizit, dass sie über ein Erkenntnismedium verfügen muss, um sich desselben Gegenstands in verschiedenen Situationen bewusst zu werden. In einem Vorstellungsakt wird es daher für mich in erstpersonaler Perspektive transparent, dass ein bestimmter Informationsgehalt gewissermaßen ,mir‘ angehören muss, damit ich mich im Prinzip immer auf den entsprechenden Referenzgegenstand beziehen kann.15 Die Dimension der ,Meinigkeit‘ eines Vorstellungsgehalts zeigt damit nicht nur die besondere Fähigkeit eines Subjekts an, den eigenen Erkenntnisinhalt vom Gegenstand schärfer zu unterscheiden, was wiederum ein explizites Bewusstsein der Wahrheitsfähigkeit kognitiver Akte ermöglicht.16 Sie erklärt zudem denjenigen Aspekt von Hinsicht (B), der die Kontinuität zum ,Denken‘ deutlich macht. Denn während in einer Anschauungssituation ein Gegenstand in einer Fülle von Aspekten präsent ist, die sich nicht in einer endlichen Konjunktion empirischer Urteile vollständig beschreiben lässt,17 macht es gerade den Bildcharakter einer Erinnerung aus, dass sie auf ein Minimum von Informationen beschränkt ist, um im Gedächtnis gespeichert werden zu können: Das Bild hat nicht mehr die vollständige Bestimmtheit, welche die Anschauung hat, und ist willkürlich oder zufällig, überhaupt isolirt von dem äußerlichen Orte, Zeit und dem unmittelbaren Zusammenhang, in dem sie stand. (Enz. § 452, GW 20, S. 446)18 14 Ich ignoriere hier Hegels Binnendifferenzierung dieses Vorstellungstyps, die auf die Frage abzielt, ob das Subjekt jeweils in der Lage ist, sich den Gegenstand willentlich in Erinnerung zu rufen. So soll ein Erinnerungsgehalt im genetischen Sinne zunächst ganz unwillkürlich und nicht-bewusst gespeichert werden, um sich dann in Anschauungssituationen – wie Hegel sagt – zu ,bewähren‘, in denen der erinnerte Einzelgegenstand erneut direkt präsent ist. Durch den wiederholten Vorgang wird dann ein Subjekt befähigt, auf den Gehalt spontan zurückzugreifen. Vgl. Enz. § 454, GW 20, S. 447 f. und V 1988b, S. 132–134. 15 Formuliert man den Charakter der ,Meinigkeit‘ in Vorstellung in diesem Sinne, verpflichtet man sich nicht unbedingt auf einen lokalen ,Repräsentationalismus‘ in Vorstellungsprodukten, wie etwa W. DeVries behauptet. Vgl. V 1988b, S. 170 und zur Kritik H 2002, S. 360–363 Fn. 48. 16 In diesem Sinne interpretiert Halbig m.E. zu Recht die spezifische Form der Distanznahme in der ,Vorstellung‘. Vgl. H 2015, S. 160. 17 Vgl. VPhG 13, S. 199 und zur Debatte um die sog. ,Feinkörnigkeit‘ der Anschauung auch L 2013. Zur intrinsischen Unterbestimmtheit von Bildern vgl. ferner K 2015, S. 106 f., der im Anschluss an Enz § 453A dieses Vorstellungstypus als Fähigkeit „numerische[r] Re-identifikation eines Einzelgegenstandes“ (ebd., S. 106) versteht. 18 Vgl. hierzu W 2010, S. 87 und V 1988b, S. 132. Die Abstraktion vom „äußerlichen Orte“ und von der „Zeit“ hat für Hegel zudem die Kehrseite, dass „die Intelli-
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Wie schon oben angedeutet wurde, folgt für Hegel daraus zum einen die (relative) Einfachheit eines Vorstellungsgehalt, in dem die verschiedenen Aspekte ein und desselben Gegenstands vereinheitlicht werden.19 Und da ein Bild eben dadurch wesentlich gekennzeichnet ist, dass es von Aspekten der Anschauung abstrahiert, hat es zum anderen gegenüber Anschauungsgehalten einen höheren Allgemeinheitsgrad.20 Es kann nämlich nicht nur auf denselben Gegenstand unter mehreren oder allen möglichen Umständen zutreffen. Je mehr dabei von individuellen Aspekten abgesehen wird, desto eher kann das Bild – sagen wir dieses Baumes hier – eine Gegenstandart oder –typus repräsentieren und potentiell auf andere, numerisch verschiedene Vorkommnisse angewendet werden.21 Beide Momente des Vorstellungsgehaltes – die ,Einfachheit‘ und die ,Allgemeinheit‘ – finden sich in den beiden höheren Vorstellungsformen wieder, die Hegel im Anschluss an seine Analyse der Erinnerung thematisiert und die für den Kontext der religiösen Erkenntnisform direkt relevant sind. Formen der numerischen und qualitativen Wiedererkennung desselben Objekts unter anderen Umständen durch Erinnerungsbilder sind nämlich mindestens implizit merkmalsgebunden.22 Spätestens in der Kenntnisnahme, dass bspw. das Bild eines einzelnen Baumes je nach Grad der Bestimmtheit auf potentiell unendlich viele Exemplare desselben Gegenstandtyps zutreffen kann, wird es für das Subjekt nach Hegel deutlich, was Bäume jeweils gemeinsam haben. Eine solche Kenntnisnahme setzt dabei die Assoziations- bzw. Abstraktionsleistungen der sog. ,reproduktiven Einbildungskraft‘ voraus,23 deren Produkte dann eben nicht einzelne Gegenstände, sondern die Eigenschaften oder Arten von Einzeldingen zum Inhalt haben. Diesen Typus der Repräsentation, den Hegel auch „allgemeine Vorstellung“ (Enz. § 455, GW 20, S. 448) nennt, bildet dann die Grundlage für die nächste Art von ,Vorstellungen‘. Sie beruht auf der Fähigkeit, gebildete Allgegenz den Inhalt des Gefühls in ihre Innerlichkeit, in ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit“ (Enz. § 452, GW 20, S. 446) versetzt. Dies hat, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, auch Konsequenzen für die spezifische Verfassung religiöser Vorstellungsgehalte. 19 In diesem Sinne spricht Hegel auch von „Synthesen“ der ,Vorstellung‘. Vgl. Enz. § 451, GW 20, S. 446. 20 Vgl. dazu K 2015, S. 105 f.; H 2015, S. 161 und allgemein auch K 1989, S. 118. 21 In dieser Hinsicht unterscheidet sich diese Form der Allgemeinheit etwa von derjenigen der Anschauung, in der Einzeldinge in ein allgemeines Raumzeitsystem eingeordnet und dadurch identifizierbar werden können. Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen zu Enz. § 448 in K 2015, S. 100–103. 22 Vgl. hierzu und zur Überleitung zur sog. ,reproduktiven Einbildungskraft‘ ebd., S. 110. 23 Obwohl sich in Hegels Vorlesungen Stellen finden, die so klingen, als ob er die empiristische Analyse der Begriffsbildung aufgreifen würde (vgl. VPhG 13, S. 204 f.), hat er diese Analyse in Enz. § 455A als letztlich explanatorisch leeren Theorieansatz kritisiert. Vgl. V 1988b, S. 137 f. und K 2015, S. 108 f. Zugunsten von Hegels Kritik spricht, dass Theorien, die Begriffsbildung allein von der diskriminativen Aufmerksamkeit auf Sinnesdaten her analysieren, sogar an der Bildung empirischer Begriffe, wie etwa Farbbegriffe, scheitern, wie P.T. Geach gezeigt hat. Vgl. G 1957, S. 18–38.
3.1 Hegels allgemeine Charakterisierung der ,Vorstellung‘
429
meinvorstellungen mittels sinnlich wahrnehmbarer Medien zum Ausdruck zu bringen und dadurch anderen Personen mitteilbar zu machen. Konkret wird dabei diesen Medien durch die sog. „Phantasie“ (Enz. § 456, GW 20, S. 450) eine öffentliche Stellvertreterfunktion für die Bezugsgegenstände und die (mit-)gemeinten Vorstellungen in Form von ,Zeichen‘ zugewiesen.24 Ebenso wie Erinnerungsbilder und Allgemeinvorstellungen zeichnen sich (nicht-)sprachliche ,Symbole‘ und ,Zeichen‘ durch die o.g. Merkmale der ,Meinigkeit‘ und der Allgemeinheit und Einfachheit aus. Denn zum einen sind sie schon in ihrer Konstitution von den Gegenständen unterschieden, zu denen sie in einer Beziehung der Signifikation stehen. Zum anderen besitzt ein und derselbe Zeichentypus mehrere Zeichentokens, die jeweils für eine potentiell unendliche Anzahl der bezeichneten Gegenstände stehen. Hegels epistemologische Kriterien der Unterscheidung zwischen ,Anschauung‘ und ,Vorstellung‘ sind von hier aus gesehen also durchaus nachvollziehbar. Weitaus schwieriger zu verstehen ist hingegen die Differenz zwischen ,Vorstellen‘ und ,Denken‘, die Hegel auf die ,Vereinzelung‘ in der Darstellung der Erkenntnisinhalte zurückführt [= (B.3)]. Was damit gemeint ist, zeigt sich deutlicher, wenn man Kriterium (B.2) Rechnung trägt, demzufolge die Vorstellungsfähigkeit sich nicht nur auf Gegenstandsbereiche bezieht, die im Kontext möglicher Wahrnehmung stehen,25 sondern auch nicht-empirische Entitäten auf unterschiedlichen Allgemeinheitsniveaus zum Inhalt haben kann. In diesem Sinne lassen sich nicht nur individuelle sittliche Normen und Güter oder Gegenstände des religiösen Bewusstseins ,vorstellen‘, sondern es gibt auch „Vorstellungen vom Rechtlichen, Sittlichen, Religiösen, auch vom Denken selbst“ (Enz. § 20A, GW 20, S. 63). Hegels allgemeine Idee scheint dabei zu sein, dass sich die jeweilige Ordnung der wesentlichen Bestimmungen der Erkenntnisgegenstände im ,Vorstellen‘ und im ,Denken‘ darin unterscheidet, dass nur im Denken die intrinsische Einheit der Bestimmungen einsichtig wird.26 Als Vorstellungsinhalte erben sie hingegen die für die Anschauung charakteristische ,Äußerlichkeit‘ von Begriffsmerkmalen, die in deren quasi-raumzeitlicher Nebenordnung deutlich werden soll. Entsprechend soll eine Vorstellung Begriffsbestimmungen „in ihrem unbe24 Vgl. Enz. § 458A, GW 20, S. 452 und W 2010, S. 88 f. Auf Binnendifferenzierungen in Hegels Zeichentheorie und Semantik werde ich im nächsten Abschnitt genauer eingehen. 25 Allerdings sollte man hier hinzufügen, dass Hegel auch auf Formen rationaler Intuition hinweist. So meint er etwa, man könne das „Denken[…]“ zu Beginn der WdL „wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches Anschauen nennen“ (WdL II, GW 12, S. 239; vgl. auch WdL I/1, GW 21, S. 69) Zudem soll spätestens am Ende des enzyklopädischen Systems deutlich werden, dass das „selbstbewußte[…] Denken“ (Enz. § 572, GW 20, S. 555) der Philosophie zugleich eine „einfache geistige Anschauung“ (ebd., S. 554) darstellt. 26 Eine solche Einheit wird nach Hegel in sog. ,Schlüssen der Notwendigkeit‘ inferentiell artikuliert, in denen klassisch verstandene Gattungsbegriffe als Mittelterme fungieren und dadurch die Einheit verschiedener Bestimmungen expliziert wird. Vgl. u.a. Enz. § 191, GW 20, S. 199 und zur Erläuterung etwa S 2004, Kap. 11, bes. S. 195–198.
430
3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
stimmten Raume durch das bloße Auch verbunden nebeneinander“ (ebd., S. 64) stehen lassen. So kann ein echter Begriff animalischen Lebens nach Hegel z.B. erklären, warum sich in der Lebensform eines Tiers seine organische ,Gestalt‘, seine Umweltbeziehung in der ,Assimilation‘ und die Beziehung zur eigenen Gattung in der (sexuellen) Reproduktion und in seinem Ableben notwendigerweise gegenseitig voraussetzen.27 Umgekehrt fasst die Vorstellung derselben Gegenstandsart diese Propria lediglich in loser Konjunktion und Aufzählung zusammen – etwa in der Form: ,Zu einem Lebewesen gehört neben den Eigenschaften, die sie mit Pflanzen teilen, auch Wahrnehmung und Lokomotion‘ –, ohne einen Grund für deren notwendige Einheit angeben zu können.28 Welche Konsequenzen diese Überlegungen zur ,Vereinzelung‘ von Begriffsmerkmalen für die religiöse Erkenntnisform und deren philosophische Aneignung haben, wird uns weiter unten beschäftigen. Als kritische Zwischenkonklusion lässt sich hier zunächst festhalten, dass der Verweis auf die Paradigmenfälle Hegels Kriterien zwar nachvollziehbar macht. Gleichzeitig ist aber erstens fraglich, ob die Fülle von Phänomenen, die Hegel unter dem Term ,Vorstellung‘ vereinen möchte, nicht die begriffliche Einheit der Kategorie gefährdet. Zwar stehen ,Erinnerungsbilder‘, ,Allgemeinvorstellungen‘, ,Symbole‘ und ,Zeichen‘ sicherlich in einem genetischen Zusammenhang, in dem die Bildung des jeweiligen Vorstellungstyps den jeweils früheren voraussetzt.29 Ob daraus aber zugleich folgt, dass die in Enz. § 20A genannten Kriterien im gleichen Sinne auf alle Vorstellungsformen angewendet werden können, ist nicht unmittelbar ersichtlich. Zweitens scheinen einige dieser Kriterien nicht einmal auf alle Typen von Vorstellungsprodukten anwendbar zu sein. So ist etwa der Gedanke der ,Vereinzelung‘ deutlich auf ,Allgemeinvorstellungen‘ zugeschnitten und ist zudem nicht immer, wie sich zeigen wird, mit Hegels Erläuterungen zu spezifisch religiösen Vorstellungen inkompatibel.30
27 Vgl. die Übersicht über die Momente des „thierische[n] Organismus“ in Enz. § 352, GW 20, S. 353 und dazu W 2013, S. 121. Ein einheitliches explanans für alle von Hegel genannten Bestimmungen von Tieren könnte man etwa mit Hösle in deren ,Heterotrophie‘ sehen. Vgl. H 1987, Band 2, S. 321 f. Ein verwandtes Verfahren findet man in der aristotelischen Tradition, die die Wahrnehmungsfähigkeit von Tieren zum Ausgangspunkt der Erklärung der Propria nimmt. Vgl. O 2007, S. 184–186. 28 Vgl. auch K 2013, S. 229–232 und 376–379. 29 Vgl. W 2010, S. 89 f. Die Behauptung einer genetischen Einheit scheint auch Hegels Intention zu sein, wenn er die verschiedenen Formen der Vorstellung wesentlich als Stationen eines „Weg[es] der Intelligenz“ (Enz. § 451, GW 20, S. 445) bezeichnet. 30 Religiöse Vorstellungen sind für Hegel etwa auch Narrative, die sich dadurch auszeichnen, dass die Ereignisse des erzählten Geschehens nicht einfach nur in ihrer Sukzession aufgezählt werden, sondern als Handlungsfolge intentional und kausal verknüpft werden. Vgl. Enz. § 565, GW 20, S. 551.
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis „Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein und macht den Ausdruck bildlich und damit uneigentlich.“ Gottlob Frege, „Der Gedanke“31
Selbst wenn man nun von den zuletzt entwickelten Problemen absehen könnte, bliebe immer noch unklar, inwiefern Hegels allgemeine Überlegungen dazu helfen, seine Klassifikation der religiösen Erkenntnis- und Redeform genauer zu verstehen. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Fülle der Entitäten, die der Begriff einfangen soll, legt den Schluss nahe, dass er für diese Zwecke schlicht unbrauchbar zu sein scheint. Denn zum einen ist durch die bloße Nennung der Kategorie a priori überhaupt nicht klar, welche der drei bzw. vier Formen der Vorstellungsfähigkeit – ,Erinnerung‘, ,reproduktive‘ bzw. ,produktive Einbildungskraft‘ und ,Gedächtnis‘ – und der drei Typen von Vorstellungsprodukten – ,Erinnerungsbild‘, ,Allgemeinvorstellung‘, ,Symbole‘ bzw. ,Zeichen‘ – eigentlich das Wesen religiöser Erkenntnisbildung einfangen sollen. Entscheidet man sich aus guten Gründen für die produktive Einbildungskraft und ihre Produkte, dann ergeben sich zum anderen systematische Probleme, die noch dadurch verschärft werden, dass Hegel die strenge Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisformen des Absoluten nicht konsequent durchführt. Bei Licht besehen scheint sie nämlich gleich in dreifacher Hinsicht zu kollabieren: 1. Der Vorstellungsbegriff markiert für sich genommen keinen relevanten Unterschied zwischen Religion und Kunst. Denn warum sollte gerade der symbolische Ausdruck nur der Religion im engeren Sinne vorbehalten sein? Man kann mit Kant vielleicht sagen, dass zur Kunstrezeption die Fähigkeit nicht-interessegeleiteter Anschauung gehört. Aber es ist wenig plausibel zu behaupten, dass die Kunstproduktion und ihre Resultate sich nicht ebenso der produktiven Einbildungskraft verdanken sollen.32 Hegel selbst bezeichnet die basalsten Formen der „Phantasie“ als „symbolisirende, allegorisirende oder dichtende Einbildungskraft“ (Enz. § 456, GW 20, S. 450) und nutzt gerade deren Produkte – etwa den Begriff des ,Symbols‘ – für die Systematisierung der Kunstformen, die wiederum die Basis für seine Einteilung der Phasen der Kunstgeschichte darstellt.33 2. Ebenso wenig scheint die Vorstellungskategorie eine scharfe Grenze zwischen Religion im engeren Sinne und Philosophie ziehen zu können. Zum einen benutzt Hegel nämlich den Vorstellungsbegriff zur Kennzeichnung defizienter Formen der Philosophie, etwa
31
F [1918] 1976, S. 40 Fn. Vgl. H 1987, Band 2, S. 594 und P 1987, S. 87. 33 Vgl. u.a. Enz. §§ 561 f., GW 20, S. 546 f. Zudem nutzt die Kunst das ihr verfügbare „Material[…], worunter auch die subjectiven Bilder und Vorstellungen gehören“, sowie die „Naturformen nach deren Bedeutung“ für den „Ausdruck des geistigen Gehalts“ (Enz. § 558, GW 20, S. 544), was für Hegel nur eine andere Wendung für die Funktion von ,Zeichen‘ ist. Vgl. dazu auch Enz. § 556, GW 20, S. 543. 32
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
der Definitions- und Urteilspraxis der sog. ,vormaligen Metaphysik‘.34 Zum anderen ist nicht einmal klar, ob Hegel in der – seiner Meinung nach – konsequenten Durchführung spekulativer Philosophie völlig ohne ,Vorstellungen‘ auskommt bzw. auskommen kann. Dazu zählen nicht nur Formen der Analyse, denen Hegel explizit ,Vorstellungen‘ zugrunde legt, wie etwa – wenn auch mit Vorbehalt – der Begriff des ,Anfangs‘.35 Darüber hinaus tauchen selbst im Haupttext der WdL immer wieder Sätze auf, bei denen die Forderung der ,Vorstellungsfreiheit‘ äußerst fraglich ist und daher Hegelinterpreten von jeher vor Rätsel stellen.36 3. Unabhängig von dem fehlenden Abgrenzungspotential scheinen die Begriffsmerkmale der Vorstellung nicht einmal dazu in der Lage zu sein, Religion als Ganze und die von Hegel ins Auge gefassten Religionsformen angemessen zu charakterisieren. (i) zeigt beispielsweise schon ein oberflächlicher Blick auf Hegels Detailinterpretationen, dass für die basalsten Religionsformen die Kategorie – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. In diesem Sinne soll nach Hegel bspw. die direkte anschauliche Gegenwart des Absoluten in Formen der sog. ,unmittelbaren Religion‘ im Vordergrund stehen, in der dessen symbolische Repräsentation im religiösen Bewusstsein folglich nicht auftaucht.37 Und selbst dieser Umstand entwickelt sich für Hegel frühestens auf der Ebene der sog. ,ägyptischen Religion‘.38 Hegels implizite Einteilung der Religionsgeschichte nach den in der Psychologie analysierten Erkenntnisformen führt daher (ii) zu dem Umstand, dass für einige Religionsformen die Kategorie des ,Denkens‘ zumindest zum Teil die dominante Rolle einnimmt. So sagt Hegel explizit von der sog. ,jüdischen Religion‘, dass schon dort in der Teilnehmerperspektive deutlich wird, dass deren zentrales Bezugsobjekt – ,Gott‘ – nur im Denken zugänglich wird, und zwar, weil sich spätestens dort die Überzeugung von der Transzendenz des Absoluten gegenüber der raumzeitlichen Wirklichkeit ausbildet.39
34
Vgl. u.a. Enz. § 29f, GW 20, S. 71. Zu Hegels Kritik vgl. auch oben den Exkurs in II.1. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 60 f. und Enz. § 86, GW 20, S. 122 f. Allerdings ist dies für Hegel nicht der einzige und schon gar nicht der beste Weg, um sich dem Gedanken des ,Anfangs‘ im ,Sein‘ zu nähern. 36 Dazu zählen etwa Passagen, wie die folgende: „Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort dar“ (WdL II, GW 12, S. 237). Mind. ebenso schwierig ist das schöpfungstheologische Vokabular am Ende der WdL. Vgl. unten Abschn. III.5.4. L. Siep schreibt hierzu zu Recht: „Wenn ,Entschluß‘ ebenso wie ,höchste zugeschärfteste Spitze‘ aber nur Metaphern sein sollen, dann ist Hegels Rede von der Aufhebung der Vorstellungen in Begriffe, der Religion in Philosophie, problematisch.“ (S 2018, S. 777) 37 Vgl. dazu auch unten III.4.2. 38 Vgl. u.a. VPR 4, S. 272 f., 524 und 629 f. 39 Vgl. u.a. ebd., S. 59, 325, 561 und 625. Genau genommen kann diese Aussage für Hegel nicht exklusiv für das Juden- bzw. dann für das Christentum gelten. Denn das ,Nichts‘ der ,Religion des In-sich-seins‘ und ,Brahman‘ in der ,indischen Religion‘ sind ebenso wenig sinnlich wahrnehmbar wie der Schöpfergott. Vgl. VPR 3, S. 233 und unten III.4.2. Entsprechend heißt es etwa über die Konzeption des Absoluten der ,indischen Religion‘ im Kolleg von 1827: „Es ist in der indischen Religion eben diese Substantialität, und zwar als reines Denken, reines Insichsein vorhanden“ (VPR 4, S. 478; vgl. auch ebd., S. 485 f. Fn). Daher gilt m.E. die Schlussfolgerung, die M. Theunissen auf Basis ähnlicher Prämissen zieht: „Obwohl die spezifische Form des Glaubens die Vorstellung ist, bewegt er sich also auch im Medium der Anschauung und des Begriffs.“ (T 1970, S. 146) 35
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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Angesichts dieser Problemlage mag es kaum verwundern, dass Hegels Angabe der spezifischen Differenz der Religion im engeren Sinne bei neueren Interpreten Irritationen hervorgerufen hat.40 Zumindest wird auf dieser Basis fraglich, ob klare Abgrenzungen zwischen den Erkenntnisformen überhaupt haltbar sind. Ob dies gleich dazu führen muss, Hegels zentrale religionshermeneutische Kategorie völlig über Bord zu werfen, ist allerdings m.E. nicht völlig eindeutig. Eine benevolentere Lesart müsste jedenfalls darauf aufmerksam machen, dass Hegel die Grenz- und Trennlinien längst nicht so scharf zieht, wie dies sein Religionsbegriff zu suggerieren scheint. Er bezweifelt sogar explizit, dass diese prinzipiell gezogen werden können. So heißt es etwa im Manuskript: Der Inhalt – das, was für das Bewußtsein ist – ist derselbe, und diese Formen können nicht so unterschieden werden, als ob in der Kunst und ihrem Bewußtsein nicht Vorstellungen und Gedanken, eben in der Religion nicht Kunst, unmittelbare Anschauung und Gedanken vorhanden waren; dies läuft zugleich durcheinander, und wesentlich, weil jedes dieser so Unterschiedenen zugleich Totalität des Bewußtseins und Selbstbewußtseins ist. (VPR 3, S. 143)41
Diese Aussagen sind im Einklang mit Hegels grundlegender These, dass die Ausübung derjenigen kognitiven Vermögen, die Menschen mit Tieren teilen, immer die höherstufigen vernünftigen Fähigkeiten mit voraussetzt, wenn nicht zugleich mit aktualisiert.42 Im Falle des Vorstellungsvermögens liegt diese These deshalb nahe, weil zumindest die Erinnerungsfähigkeit und die beiden Arten der Einbildungskraft auf die Produkte der Anschauung und des Denkens zurückgreifen, um diese in Erinnerungsbilder oder in Formen der zeichenhaften Repräsentation zu verwandeln. Hegels Theorie lässt damit sicherlich keine scharfe Trennung der
40 Vgl. etwa G 2015. Gabriel geht so weit, zu bezweifeln, dass es Hegel tatsächlich mit seinem Vorstellungsbegriff auf echte und historische Formen der Religion im engeren Sinne abgesehen hat. Vielmehr habe Hegel „Religion“ – so Gabriel – „als eine bestimmte Einstellung zu spekulativen Gegenständen, d.h. als eine bestimmte Form zu philosophieren“ verstanden, „nämlich im Modus der Vorstellung“ (G 2015, S. 21). Als Interpretationsthese ist diese Aussage aber wenig überzeugend. Denn warum sollte Hegel in den letzten zehn Jahren seines Lebens vier Vorlesungszyklen halten, in denen er explizit den Religionsbegriff der Enzyklopädie verwendet, um gerade Religionen – wie den Buddhismus, Hinduismus, Zoroastrismus etc. – zu klassifizieren und philosophisch zu interpretieren, und sich dafür mit der gesamten ihm verfügbaren religionswissenschaftlichen Literatur auseinandersetzen, wenn es ihm dabei in seinem Selbstverständnis eigentlich um etwas völlig anderes geht? Mit diesem Einwand sagt man allerdings noch nichts über Gabriels Prämissen und über die m.E. völlig berechtigte Frage aus, wie brauchbar Hegels Vorstellungskategorie ist, um klare klassifikatorische Abgrenzungen vorzunehmen. Ob und inwiefern Gabriels Ausgangsprämissen systematisch plausibel ist, wird sich im Folgenden zeigen. 41 Vgl. zur Einheit von Kunst und Religion auch Enz. § 562A, GW 20, S. 547 f. und ferner allgemein auch T 1970, S. 146; J 1983, S. 113 und P 1987, S. 91. 42 Vgl. oben III.2. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch N. Mooren in ihrer Interpretation der zitierten Stelle. Vgl. M 2018, S. 77 f.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Fähigkeiten und ihrer Ausübung zu.43 Sie tendiert eher zu einer Kontinuitätsbehauptung und kann damit die o.g. Einwände allgemein entschärfen. Erledigt werden sie dadurch allerdings nicht: Wenn man Hegel nämlich nicht auf die unplausible These verpflichten möchte, alle kognitiven Fähigkeiten und deren Produkte seien in letzter Instanz identisch,44 benötigt seine Theorie zumindest für die Typen der ,Vorstellung‘ genau diejenigen Unterscheidungskriterien, die die Einwände gerade einfordern. Um Hegels Unterscheidungsversuche dennoch einzuholen, möchte ich im Folgenden vorschlagen, die Annahme, beim Begriff der ,Vorstellung‘ handle es sich um eine einheitliche und klar isolierbare Kategorie, zumindest versuchsweise aufzugeben. Stattdessen soll von der schwächeren These ausgegangen werden, dass Hegel in der Abgrenzung der spekulativen Philosophie von der Religion im engeren Sinne und von defizienten Formen der philosophischen Praxis auf zwei unterschiedliche Bedeutungsdimensionen des Vorstellungsbegriffs zurückgreift, die kontextspezifisch differenziert werden müssen. Ähnlich wie bei Hegels allgemeiner Epistemologie der ,Vorstellung‘ gehe ich dabei davon aus, dass die jeweiligen Typen von Vorstellungsprodukten in einem engen und mindestens genetischen Zusammenhang stehen, der aber eine vollständige Identifikation blockiert. Im Rekurs auf die erste Bedeutungsdimension werde ich mich dabei zunächst v.a. den o.g. Einwände (1) und (3) zuwenden. In Abschnitt III.3.3 wird dann mithilfe der zweiten Bedeutungsdimension die metaphilosophische Begriffsverwendung geklärt, die der Einwand (2) angreift. Hegel über Symbole und Metaphern Die erste Bedeutungsdimension lässt sich am einfachsten durch eine Begriffserläuterung Hegels klären, nach der „Vorstellungen“ wesentlich „als Metaphern der Gedanken und Begriffe angesehen werden [können]“ (Enz. § 3A, GW 20, S. 42).45 Wie wir schon gesehen haben, kann diese Aussage sicherlich nicht unmittelbar als definiens gelten, da nach der o.g. Hinsicht (B.2) der Gehalt von Vorstellungen nicht auf einen nicht-empirischen Gegenstandsbereich festgelegt sein soll und nicht einmal vollständig indexfrei sein muss. Allerdings enthält diese Erläuterung 43 Eine solche zur Trennung tendierende Klassifikation findet man etwa in sog. Modularitätstheorien des Geistes Vgl. hierzu H 2002, S. 109 f. 44 Ein mentales Bild einer individuellen Anschauungssituation ist offensichtlich nicht identisch mit der abstrahierenden Repräsentation allgemeiner Eigenschaften. Die ,Allgemeinvorstellung‘ einer nicht-individuellen Eigenschaft F ist ebenfalls nicht dasselbe wie etwa ein hierfür verfügbares konventionelles Zeichen – etwa der Großbuchstabe ,F‘. Die Fähigkeit, zu abstrahieren und zu assoziieren, fällt schließlich nicht mit dem impliziten Wissen zusammen, dass der Buchstabe ,F‘ für die Eigenschaft F stehen kann. Die Rede von einem „Monismus des Denkens“ (K 2013, S. 384) bei Hegel halte ich daher insgesamt für problematisch – zumindest dann, wenn man darunter einen nicht weiter qualifizierten Artenbzw. Typenmonismus versteht. 45 Vgl. im Folgenden auch S 2013, S. 417.
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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zwei wichtige Hinweise zur Charakterisierung der religiösen Erkenntnis- und Redeform. Denn zum einen wurde besonders in Kap. III.2 gezeigt, dass das Bezugsobjekt religiöser Einstellungen nicht nur prinzipiell im Denken zugänglich ist, sondern schon im religiösen Bewusstsein Inhalt einer kategorialen, wenn auch nicht unbedingt bewussten Einsicht ist.46 Zum anderen macht das Zitat deutlich, dass nach Hegel diese Einsicht dort in der Regel zunächst in figurativer und zwar genauer in metaphorischer Form zum Ausdruck gebracht wird. Was man mit Hegel unter einem metaphorischen Ausdruck genauer zu verstehen hat, lässt sich im Rückgriff auf Hegels Ästhetik klären. So heißt es etwa in der Hotho-Nachschrift des Kollegs über Kunstphilosophie von 1823: „Die Metapher ist ein ganz kurzes Symbol, das in ein Bild konzentriert ist. […] Aus der sinnlichen Bedeutung hat sich das Geistige als damit analog hervorgearbeitet.“ (VPK 2, S. 146 f.)47 Trotz der Knappheit dieser Aussage kann man ihr Folgendes entnehmen: Zunächst sind Metaphern ,Symbole‘, die für Hegel die genetisch fundamentalste Form zeichenhafter Repräsentation darstellen. Im Sinne traditioneller Bestimmungen sind Zeichen und ihre Verwendung im weiten Sinne48 dabei wesentlich Produkte kognitiver Aktivität, in denen einer konzeptuellen Information über einen Bezugsgegenstand, die Hegel bisweilen selbst ,Vorstellung‘ nennt,49 ein Stellvertreter zugeordnet ist, der diesen Gegenstand bezeichnet. Als nicht-sprachliche oder sprachliche Ausdrücke sind solche Stellvertreter zwar in der Regel sinnlich wahrnehmbar, wie Hegel auch selbst betont,50 und damit öffentlich zugänglich. Betrachtet man den ersten Satz des obigen Zitats isoliert,
46 In diese Richtung geht auch die deutlich stärkere Behauptung Hegels, dass die „Vorstellung auch Stoff zum Inhalt“ haben kann, „der aus dem selbstbewussten Denken entsprungen“ (Enz. § 20A, GW 20, S. 63) ist. 47 Vgl. auch die parallelen Ausführungen in der Nachschrift desselben Kollegs von P. von der Pfordten in PhK, S. 139–141. 48 Um Missverständnisse zu vermeiden, werde ich im Folgenden Zeichen im weiten Sinne von Zeichen im engen, spezifisch hegelschen Sinne unterscheiden. Zeichen im engen Sinne sind damit ein Subtyp von Zeichen im weiten Sinne, für den die Konventionalität der Bezeichnungsfunktion kennzeichnend ist: „[B]eim Zeichen als solchen […] geht der eigene Inhalt der Anschauung, und der, dessen Zeichen sie ist, einander nichts an. Als bezeichnend beweist daher die Intelligenz eine freiere Willkühr und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung, denn als symbolisirend.“ (Enz. § 458A, GW 20, S. 452) Auf einen weiten Begriff des ,Zeichens‘ bei Hegel weist etwa die Hotho-Nachschrift hin, wenn es vom ,Symbol‘ heißt: „Symbol ist ein Zeichen, enthält eine Bedeutung und eine Weise der Darstellung derselben.“ (VPK 2, S. 119) 49 Vgl. etwa Enz. § 458, GW 20, S. 451 f. 50 Daher ist in der semiotischen „Einheit selbstständiger Vorstellung und einer Anschauung“ für Hegel „die Materie der letztern zunächst wohl ein aufgenommenes, etwas unmittelbares gegebenes (z.B. die Farbe der Cocarde u. dgl.).“ (Enz. § 458, GW 20, S. 451 f.) Analog heißt es im religionsphilosophischen Kolleg von 1827 über das „Symbolisch[e]“ bzw. „Allegorisch[e]“, dass hier ein „Gedoppeltes“ vorliege, „einmal das Unmittelbare und dann, was damit gemeint ist, das Innere; dies ist gegen das Erste zu unterscheiden, welches das Äußere ist.“ (VPR 3, S. 293)
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
könnte man allerdings vermuten, dass nicht jedes zeichenhafte ,Bild‘ tatsächlich eine empirische Entität im Normalsinn sein muss. Nicht explizit durch sinnliche Medien ausgedrückte Repräsentationen könnten auch bspw. mentale (Erinnerungs-)Bilder sein, die für ein Individuum oder eine Eigenschaft stehen und die daher ihrer Funktion nach analog zu sinnlichen Zeichen verstanden werden können.51 ,Symbole‘ sollen sich für Hegel im engeren Sinne dadurch auszeichnen, dass in ihnen diese Zuordnung nicht (vollständig) arbiträr, sondern vielmehr – im Peirce’schen Sprachgebrauch – ,ikonisch‘ ist.52 In diesem Sinne ist etwa für Hegel der Löwe als normales Exemplar seiner Art ein ,Symbol‘ für die Eigenschaft der Kraft und Stärke, weil er sie im Rahmen seiner Artzugehörigkeit notwendigerweise instantiiert und in seinem Verhalten darstellt.53 Aufgrund der Vieldeutigkeit des Symbols ist dabei für Hegel erstens eine vollständige Entsprechung zwischen Bedeutung und Zeichen keineswegs gesichert. In diesem Sinne meint er, „daß das Symbol seiner Bedeutung noch nicht ganz adäquat ist.“ (VPK 2, S. 119) Zweitens soll im Symbol der Zeichencharakter für das Zeichen gebrauchende Subjekt nicht (immer) „ausdrücklich gesetzt“ (ebd., S. 120) sein. Dies unterscheidet es von Fällen, in denen der Unterschied zwischen Bedeutung und Zeichen schon explizit gemacht wurde, wie dies etwa der Fall ist, „wenn z. B. Luther singt: Eine feste Burg ist unser Gott.“ (ebd.)54 Damit lassen sich Symbole schärfer von ,Allegorien‘ unterscheiden, in denen dem Zeichen verwendenden Subjekt die Begriffs-
51 Hegels allgemeine Äußerungen zur ,Vorstellung‘ im religiösen Bewusstsein lassen dies daher bisweilen offen. Vgl. ebd. In diesem Sinne wurde oben stets von der Vorstellung als Erkenntnis- und Redeform gesprochen, was beide Bedeutungsspektren abdeckt. 52 Ein ,Ikon‘ ist ein Zeichen, bei dem zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten deutlich sicht- bzw. erkennbare qualitative oder strukturelle Ähnlichkeiten bestehen sollen. Vgl. hierzu die instruktiven Erläuterungen in H 1969, S. 240–242. Auf die Relevanz dieses Zeichentyps zum Verständnis von Hegels Symbolbegriff weist auch F. Knappik hin. Vgl. K 2015, S. 112. 53 „Das Symbol also stellt sich zugleich selbst vor. Der Löwe z. B. ist das Symbol der Stärke. Der Löwe – für sich als Löwe – ist stark; er enthält in sich selbst das, dessen Bedeutung er erscheinen macht.“ (VPK 2, S. 119) In diesem Sinne könnte man mit F. v. Kutschera noch schärfer Symbole als Sinnbilder – wie der einzelne Löwe – von deren symbolischer Darstellung in sinnlichen, etwa in malerischen Ausdrucksmedien, unterscheiden. Vgl. K 1989, S. 58–60. 54 Hegel lässt hierauf gleich ein biblisches Beispiel folgen: „Ebenso ist es gemeint, wenn in der Bibel steht: Gott zerbricht ihre Zähne im Maul. Wir sehen, daß hier nicht die wirklichen Zähne gemeint sind, sondern daß der Ausdruck symbolisch ist.“ (VPK 2, S. 120) Dass Hegel an dieser Stelle und an anderen Stellen alttestamentliche Beispiele bringt, verrät gerade seine tieferliegende Pointe, dass im Laufe der Kunst- und Religionsgeschichte der figurativ-symbolische Ausdruck immer mehr in die Perspektive des religiösen Bewusstseins selbst rückt. Analog zur Religionsphilosophie markiert die Hotho-Nachschrift den entsprechenden Wendepunkt in der ,ägyptischen Religion‘ (vgl. ebd., S. 136–138), während in der ,jüdischen Religion‘ gerade die Unangemessenheit des Empirischen als Darstellung des Absoluten erkannt wird. Vgl. ebd., S. 140 f.
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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merkmale, etwa einer Tugend, schon klar vor Augen stehen, bevor es dann eine entsprechende Versinnbildlichung in Form einer Personifikation sucht und findet.55 ,Symbole‘ sollen nun nach der obigen hegelschen Erläuterung Metaphern als Subspecies enthalten. Die genauere Eingrenzung wird von Hegel dadurch geleistet, dass eine Metapher wesentlich in einem mindestens impliziten und unausgeführten Vergleich bestehen soll. Dabei denkt er wahrscheinlich an die vierte Bestimmung der aristotelischen Definition in der Poetik: Die Metapher ist die Übertragung eines Worts (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. (Poet. 1457b)56
Mit dieser Engführung würde man die o.g. hegelsche Kennzeichnung der Metapher zwar genuin auf eine Redefigur einschränken, aber in einer Weise, die dem normalen Sprachgebrauch entspricht und mit der man das, was Hegel meint, deutlich besser fassen kann. Gleichzeitig eröffnet sich damit das komplexe Feld der Theorie metaphorischer Rede. Im Folgenden werde ich das Feld nur so weit abstecken, wie es für die Ordnung und das Verständnis von Hegels Äußerungen notwendig ist.57 Im Rahmen der hegelschen Prämissen muss eine metaphorische Redefigur die generischen Eigenschaften symbolischer Darstellung erben. Das heißt genauer, dass die Relata der metaphorischen Rede in einem zumindest angedeuteten und erkennbaren ikonischen Verhältnis der Abbildung stehen müssen. In diesem Sinne lässt sich Hegels Rede vom ,Löwen‘ als Sinnbild der Stärke etwa in das Standardbeispiel einer metaphorischen Äußerung ,A ist ein Löwe‘ umformulieren,58 wobei der Eigen- oder Artname A auf eine menschliche Person oder die
55 Vgl. ebd., S. 146 und K 1989, S. 62. Hegels Theorie schließt übrigens nicht aus, dass mehrere Typen symbolischer Darstellung miteinander verschaltet werden können. So nennt etwa der Zusatz zu Enz. § 457 das Symbol des „Adler[s]“ für die „Stärke Jupiters“ (Enz. § 457Z, TWA 10, S. 269; vgl. hierzu K 2015, S. 113). Wie sich unten in Abschn. III.4.2 zeigen wird, lässt sich der Gott Jupiter nach Hegel selbst als ein allegorischer Ausdruck des römischen Imperiums und dessen Expansionswillen verstehen. Der römische Adler wäre damit ein symbolischer Repräsentant zweiter Ordnung, der auf der ersten Ebene eine Qualität eines Gottes darstellt, der wiederum selbst die analogen Eigenschaften des römischen Reiches bildlich ausdrückt. 56 Eine instruktive Erläuterung von Aristoteles’ Definition der Metapher findet sich in H 1969, S. 235–247. Henle unterscheidet traditionell Aristoteles’ Gattungsbegriff der Metaphern im weiten Sinne oder ,Tropen‘ von der o.g. vierten Klasse (vgl. ebd., S. 238 f.). Diese vierte Klasse kann man mit Henle dann wiederum in zwei Subspecies unterteilen, die Metaphern im engeren Sinne und das Simile (vgl. ebd., S. 246 f.). Diese letztere Unterscheidung greift, wie wir sehen werden, auch Hegel auf. 57 Im Folgenden richte ich mich – trotz wichtiger Differenzen im Detail – besonders nach B 1955; H 1969; A 1989a, S. 17–38 und K 1989, S. 372–374. 58 In der Nachschrift des Kollegs von 1826 von P. v. der Pfordten wird entsprechend auf
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Spezies ,Mensch‘ verweist. In ihrer genuin metaphorischen Komponente wird nun in dieser Äußerung – um mit M. Black zu sprechen – eine Art zweites Satzsubjekt ,ein Löwe‘ eingeführt, das als Modell für das Hauptsubjekt A fungieren soll.59 Bei einer erfolgreichen Metapher zeigen dabei die in der konventionellen Bedeutung des Ausdrucks ,Löwe‘ mitschwingenden und erkennbaren Assoziationen diejenigen Eigenschaften an, in denen sich Haupt- und Nebensubjekt gleichen und entsprechend für den Aufbau des Modells ausschlaggebend sind.60 Über diesen Umweg formuliert der Satz ,A ist ein Löwe‘ folglich die genauen Vorgaben, wie man sich A in den entsprechenden Hinsichten – hier etwa Stärke, Nobilität, Mut etc. – zu denken hat.61 Vor diesem Hintergrund lässt sich Hegels genuin aristotelische These verstehen, Metaphern könne man als eine Art verkürzten und nicht ausgeführten Vergleich verstehen.62 Eine erfolgreiche Metapher erlaubt daher mindestens in der expliziten Reflexion immer eine Reihe von Paraphrasierungen – grob gesprochen in der Form ,A ist wie ein F hinsichtlich der Eigenschaften G1 & … & Gn‘. Zwei Dinge sind dabei für Hegel jedenfalls ausschlaggebend: Zum einen muss die metaphorische Einordnung von A als ein F immer im uneigentlichen bzw. nichtwörtlichen Sinne verstanden werden.63 Zum anderen sind die genauen Implikationen dieser Einordnung für Hegel kontextspezifisch.64
den Ausdruck ,Löwe‘ als Metapher hingewiesen – und zwar mit expliziten Rückbezug zu Aristoteles’ Metapherntheorie. Vgl. PhK, S. 140. 59 Vgl. B 1955, S. 286 f. und zu Metaphern als ,Modellen‘ etwa A 1989a, S. 22 f. und G 2019, S. 216. Die Rede von der ,Modellierung‘ findet man im Kontext der Hegelforschung andeutungsweise in M 2018, S. 193. 60 Entscheidend ist dabei für eine erfolgreiche Metapher ein – wie M. Black sagt – in der konventionellen Bedeutung enthaltenes „system of associated commonplaces“ (B 1955, S. 287). 61 Noch präziser spricht Henle von der Metapher als „eine Formel zur Konstruktion von icons“ (H 1969, S. 242). Vgl. auch A 1989a, S. 22 f. 62 „Die Vergleichung ist eine ausgeführte Metapher, die Einheit eines Bildes und der Bedeutung.“ (VPK 2, S. 147) Vgl. PhK, S. 140 und allgemein auch K 1989, S. 373. Im aristotelischen Rahmen kann man eine solche Annahme je nach Art der ausgeführten Analogie noch genauer spezifizieren. Vgl. hierzu etwa T 2013, S. 114. Dass Hegel de facto mit der traditionellen Metapherntheorie bricht, wie A. Grau behauptet (vgl. G 2006, S. 77), scheint mir daher fraglich zu sein. 63 Vgl. VPK 2, S. 277. Zur Präzisierung müsste man hier allerdings hinzufügen, dass konkrete Unterscheidung des wörtlichen vom nicht-wörtlichen Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks im hohen Maße kontextrelativ ist. So weist etwa S. Gäb mit Searle darauf hin, dass etwa ein scheinbar metaphorischer Satz wie „Tom ist ein Gorilla“ auch wörtlich gemeint sein kann, wenn er im Zoo beim Gespräch über Affenarten geäußert wird. Vgl. G 2014, S. 83 f. 64 „In der Metapher muß durch den Zusammenhang gegeben sein, was sie bedeuten soll.“ (VPK 2, S. 147) Es gibt also für Hegel nicht immer, wie etwa M. Black der aristotelischen Theorie metaphorischer Rede unterstellt (vgl. B 1955, S. 284 f.), von vorneherein objektive und nur zu entdeckende Vergleichsmaßstäbe zwischen dem Haupt- und dem Modellsubjekt.
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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Religiöses Erkennen und metaphorische Rede Überträgt man nun diese Thesen auf eingangs genannte hegelsche Definition der Religion im engeren Sinne, dann ergibt sich ungefähr folgendes Bild: Wenn Hegel sagt, in der religiösen Erkenntnis- und Redeform werde dessen Bezugsobjekt ,vorgestellt‘, dann folgt aus seinen theoretischen Voraussetzungen, dass dem Absoluten darin im uneigentlichen bzw. indirekten Sinne Eigenschaften vermittels der Präsentation von Modellsubjekten zugeschrieben werden.65 Auf den ersten Blick scheint damit Hegels Theorie unnötig komplex zu werden. Dieser Eindruck schwindet aber, wenn man die Elemente figurativer Rede von den Überlegungen in Kap. III.2 her versteht. Dort hatte sich gezeigt, dass schon im religiösen Denken genuin metaphysisch-begriffliche Konzeptionen des Absoluten im dispositionellen und ,bewusstlosen‘ Modus gebildet werden. In diesem Sinne muss eine religiöse Person immer schon zumindest eine rationale Intuition und Ahnung davon besitzen, was es mit dem Bezugsobjekt seiner religiösen Praxis auf sich hat, selbst wenn sie nicht (immer) in der Lage ist, dies adäquat zu artikulieren. Die Fähigkeit der symbolischen Einbildungskraft verhilft ihr nun dazu, diese mögliche konzeptuelle Intransparenz dadurch aufzulösen, indem sie nach passenden Modellen in empirischen oder sozialen Bereichen sucht, die ihr aus dem Alltag vertrauter sind. Anders ausgedrückt: Die figurative Erkenntnis und Rede hat für eine religiöse Personengemeinschaft in erster Linie die Funktion der weiteren Erschließung derjenigen tieferliegenden Dimension, die zwar für ihre Lebenspraxis ultimativ bestimmend ist, zu deren Beschreibung ihr aber in der Regel zunächst nur ein undifferenziertes, alltagssprachliches Vokabular zur Verfügung steht.66 In den Worten der hegelschen Metapher über die kognitive Funktion der Metapher: „Aus der sinnlichen Bedeutung hat sich das Geistige als damit analog hervorgearbeitet.“ (VPK 2, S. 146 f.)67 Bevor diese allgemeine Überlegung anhand von Hegels eigenen Beispielen konkretisiert wird, soll vorher kurz untersucht werden, ob die erste Bedeutungsdimension von Hegels Vorstellungsbegriff vor diesem Hintergrund ein gutes Unterscheidungskriterium der Religion im engeren Sinne bieten kann. Sieht man
65 Vgl. im Folgenden besonders VPR 3, S. 293. In diesem Sinne bezeichnet S. Gäb die kognitive Leistung der Bildung wie auch des Verstehens von Metaphern prägnant als „process of seeing-as“ (G 2014, S. 81 Fn. 1). 66 Zur Erschließungsfunktion von ,Metaphern‘ im Allgemeinen vgl. auch H 1969, S. 252–256 und B 1977. 67 Analog lässt sich m.E. die folgende hegelsche Äußerung über die ,symbolische‘ Kunstform verstehen: „Der Inhalt ist nur als der abstracte Gott des reinen Denkens, oder ein Streben nach demselben, das sich rastlos und unversöhnt in allen Gestaltungen herumwirft, indem es sein Ziel nicht finden kann.“ (Enz. § 561, GW 20, S. 546) Allerdings gilt der letzte Nebensatz nicht für die beiden anderen Kunstformen, in denen entweder ein perfekter Ausgleich zwischen Bedeutung und Darstellung (vgl. ebd.) oder ein eingesehener Bedeutungsüberschuss vorliegt (vgl. Enz. § 562, GW 20, S. 546 f.). Vgl. dazu auch H 2020, Sect. 6.2.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
zunächst von der möglichen Kontinuität zur zweiten Bedeutungsdimension ab, so wird zumindest die spezifische Differenz zur Philosophie deutlicher. Genuin philosophische Aussagen über denselben Bezugsgegenstand, wie „Das Absolute ist die allgemeine und Eine Idee“ (Enz. § 213A, GW 20, S. 215) oder „Das Absolute ist der Geist“ (Enz. § 384A, GW 20, S. 382), zeichnen sich demnach in erster Linie dadurch aus, dass darin ein im Denken begriffenes attributives Moment dem Absoluten direkt und im eigentlichen Sinne zugeschrieben wird. Daher muss in solchen Aussagen auch kein Umweg über implizite Vergleiche mit sinnlichen Modellsubjekten gemacht werden. Wegen ihres ,symbolischen‘ Charakters gilt hingegen von der religiösen Erkenntnisform, dass solche quasi-instinktiv vollzogenen und unausgeführten Vergleiche dem religiösen Bewusstsein nicht (vollständig) transparent sein und auch nicht (immer) intendiert vollzogen werden müssen. In religiöser Perspektive geben sie vielmehr zunächst lediglich eine Andeutung, was man sich unter dem Absoluten und seiner Beziehung zur Welt eigentlich genau ,vorzustellen‘ hat – und zwar indem ein möglichst authentisches und anschauliches Bild für den entsprechenden metaphysischen Sachverhalt präsentiert wird.68 Hegel schließt dabei, wie sich unten zeigen wird, keineswegs aus, dass dem religiösen Bewusstsein zumindest schon einleuchtet, dass Modell und Wirklichkeit sich nicht in allen Hinsichten decken (können). Darüber hinaus machen Hegels Interpretationen einiger Religionsformen deutlich, dass sich in deren Beschreibungen durchaus Ausdrücke für das Absolute finden, die schon von den jeweiligen Religionsgemeinschaften selbst als adäquate, nicht-bildliche Terme verstanden werden müssen.69 Beide Sachverhalte müssen dabei für Hegel freilich stets im Kontext der jeweiligen Religionsform genauer geklärt werden. Sie zeigen allerdings an, dass die Kontinuitäten zwischen der religiösen und philosophischen Erkenntnisform weitaus größer sein müssen, als gängige Abgrenzungen bisweilen suggerieren. Insofern Metaphern nun auch, wie Hegel selbst weiß, ein poetisches Stilmittel darstellen, ist die Differenz zur Kunst weniger augenscheinlich. Im Rückgriff auf eine Überlegung von V. Hösle könnte man ein Unterscheidungskriterium darin sehen, dass die religiöse Rede – zumindest in ihren doktrinellen Aussagen – mittels metaphorischer Wendungen propositionale Wahrheitsansprüche bzgl. des Absoluten erhebt.70 Dass dies nicht schon durch die Redeform unmöglich ge-
68 In diesem Sinne erinnert Hegels Vorstellungsbegriff, wie V. Hösle bemerkt, an G. Vicos Epistemologie der metaphorischen Rede Vgl. H 1987, Band 2, S. 595 Fn. 9. 69 Vgl. unten Abschn. III.5.3 und III.5.4. Allerdings rechtfertigt die Tatsache, dass hier nicht-bildliche Ausdrücke gebildet werden, noch nicht, dass es sich um echte Begriffe handelt. Denn, wie sich im letzten Abschnitt gezeigt hat, müssen diese spätestens in der Explikation die explanatorische Kraft beweisen, das Netz seiner Spezies und Merkmale kohärent zu artikulieren. 70 Vgl. H 1987, Band 2, S. 600 f. und die Thesen in P 1987, S. 95 und J 2 2010, S. 455. Diese Überlegungen decken sich weitestgehend mit Hegels Abgrenzungen im Manuskript von 1821, etwa in VPR 3, S. 148–150.
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
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macht wird, zeigt sich schon an dem trivialen Umstand, dass sich die metaphorische Rede spätestens im Paraphrasierungsversuch als dem Gegenstand inadäquat erweisen kann, etwa wenn ich einen schwachen, kränklichen oder ängstlichen Menschen einen ,Löwen‘ nenne. Von hier aus lassen sich zwei wichtige Konsequenzen ziehen. Solange es in der Metaphernbildung einen adäquaten Vergleichsmaßstab in den impliziten ,metaphysischen Begriffen‘71 des Absoluten gibt, müssen religiös-figurative Äußerungen erstens stets kognitiv verstanden werden.72 Spätestens in ihrer reflexiven Deutung müssen sie immer etwas darüber aussagen, was es mit dem Absoluten und seinem Verhältnis zur Welt eigentlich auf sich hat. Die mindestens implizit eingesehene Vergleichskomponente erlaubt dabei zweitens keine definitiven Schlüsse darüber, ob die in den metaphorischen Assertionen modellierten Sachverhalte immer in der Teilnehmer- oder Beobachterperspektive als bloße Fiktionen angesehen werden müssen. Der implizite Rekurs auf metaphysische Auffassungen des Absoluten zeigt vielmehr, dass die Frage, ob bestimmte religiöse Behauptungen wahr, falsch oder unentscheidbar sind und ggf. radikal revidiert werden müssen, schon entschieden ist, bevor man theoretische Aussagen über die sinnvolle Funktion und Bedeutung religiöser Rede formuliert.73 Als globaler Fiktionalist müsste Hegel etwa von vornherein die stärkere Prämisse vertreten, dass alle modellierten Sachverhalte – darunter die Existenz Gottes – sich mindestens in der Theorieperspektive durchgängig als nützliche ,Fiktionen‘ herausstellen oder als solche behandelt werden müssen. In der Konsequenz müsste Hegel behaupten, dass es darüber hinaus für alle Angehörigen jeder Religionsgemeinschaft wünschenswert wäre, wenn sie diese Auf-
71
Zum Begriff und zur Funktion ,metaphysischer Begriffe‘ des Absoluten vgl. oben II.2.3. Vgl. die gegenteilige Interpretationsthese über Hegels Metapherntheorie bei G 2006, S. 78. Sie gerät allerdings mit der Prämisse in Konflikt, dass Metaphern für Hegel – wie für Aristoteles – verkürzte Vergleiche darstellen, die sehr wohl zutreffend oder nicht-zutreffend sein können. Die von D. Davidson vertretene These, metaphorische Äußerungen ließen sich auf nicht-deskriptive Sprachfunktionen reduzieren, die Grau ebd., S. 76–79 auch Hegel unterstellt, ist zudem systematisch gleich in mehrfacher Hinsicht anfechtbar. Vgl. die erhellenden Überlegungen in G 2014, S. 82 f. und . 2019, S. 216. 73 Dies zeigt sich schon daran, dass fiktionalistische Auffassungen den Aussagegehalt realistisch interpretierter Behauptungen über einen Gegenstandbereich voraussetzen und diesen Gehalt lediglich mit einem ,Als ob‘-Operator versehen, der wesentlich ein Ausdruck einer agnostischen bis negativen Einstellung gegenüber der Existenz der Gegenstände darstellt. Vgl. L P 2016, S. 180 f. und 183 f. sowie G 2019, S. 214 f. Eine Übersetzung einer Behauptung der Form: „Es ist der Fall, dass p“ in die Aussage: „In der Fiktion F ist es wahr, dass p“ ist daher bei allen Arten von Behauptungen trivialerweise immer möglich. Die entscheidende Frage ist, ob die zugrunde liegende Einstellung gerechtfertigt ist, auf die man sich und andere verpflichtet. Ebenso kann man – wie Th. Lewis – Hegel die These unterstellen, alle religiösen ,Vorstellungen‘ seien nur als Projektionen menschlicher Personengemeinschaften zu verstehen. Vgl. L 2015b, S. 210 und . 2011, S. 168 f. Man muss dann aber die exegetische Beweislast tragen, eine streng atheistische bis agnostische Haltung anhand der Hegeltexte zu belegen oder unter hegelschen Prämissen zu rechtfertigen. Vgl. ferner unten III.5.1, S. 501 Fn. 4. 72
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
fassung in ihr Selbstverständnis aufnehmen, was letztlich auf einen von Hegel de facto abgelehnten Funktionalismus hinauslaufen muss.74 Mit mindestens gleichem Recht könnte man aber behaupten, die metaphorische Gottesrede nehme zumindest implizit ihren Ausgang bei den ,metaphysischen Begriffen‘, die Hegel in seiner religionsepistemologischen Analyse der Gottesbeweise herausstellt und die mit klassisch theistischen Intuitionen kompatibel sind.75 Hegels Theorie figurativer Rede und Erkenntnis des Absoluten ist daher mit den in Teil II rekonstruierten metaphysischen und epistemologischen Rahmenannahmen komplementär. Vor diesem Hintergrund scheint es nun plausibel, die propositionsförmigen Wahrheitsansprüche der Religion im engeren Sinne als Unterscheidungsgrund zur Kunst einzuführen. Ein solcher Abgrenzungsversuch ist aber cum grano salis zu nehmen. Denn zum einen gibt es auch poetische Elemente in der religiösen Sprache – etwa, wenn der H in Psalm 104 mit den Worten angesprochen wird: „Du hast die Erde auf Pfeiler gegründet; in alle Ewigkeit wird sie nicht wanken.“ (Ps. 104, 5 EÜ)76 Zum anderen erheben Kunstwerke für Hegel auch in einem anderen Sinne einen Wahrheitsanspruch, indem sie in sinnlich wahrnehmbaren Medien darstellen, wie es sich mit einer geistigen Sache wirklich verhält. In diesem Sinne zeigt etwa Sophokles’ Antigone für Hegel den Konflikt zwischen dem menschlichen und göttlichen Gesetz und im weiteren Sinne die Tragik der griechischen Sittlichkeit.77 Trotzdem ist ein solcher Wahrheitsanspruch aber ganz anders geartet. Denn sie bringt die ontologische Wahrheit einer Sache nicht durch ein Netz von Aussagen zum Ausdruck. Vielmehr wird diese hier den Rezipienten, die derselben sittlichen und religiösen Umwelt angehören, in der Aufführung der theatralischen Handlung in exemplarischer Weise ,anschaulich‘ gemacht.78 He-
74 Vgl. oben I.4. Zudem würde vom fiktionalistischen Gläubigen erfordert, in Fiktionen ,einzutauchen‘, die von ihm zugleich als solche (an)erkannt werden sollen, womit die wünschenswerte Illusion wieder durchbrochen wird. Zu diesen und weiteren Problemen des religiösen Fiktionalismus vgl. L P 2016 und G 2019, S. 215 f. 75 Vgl. unten III.5. Im Übrigen ist eine realistische Auffassung metaphorischer Gottesrede auch dann als Theorieoption gegeben, wenn man – anders als Hegel – von der konzeptuellen Transzendenz des Absoluten ausgeht. Vgl. S 1985, Chap. VII und VIII sowie G 2014. Unabhängig davon gehört die theoretische Annahme, dass man sich über die Natur Gottes auch durch die analoge Erweiterung unseres Alltagsvokabulars mittels der kreativen Einbildungskraft verständigen kann, ohnehin zum Kernbestand der klassischen Theologie. Vgl. K 1989, S. 120 f. 76 Hegel nennt die Psalmen (und besonders Psalm 104) als „schönste[…] Beispiele“ für die „Größe und Erhabenheit“ in der sog. „heiligen Poesie“ (VPK 2, S. 141). Darüber heißt es: „Diese Preise der Herrlichkeit Gottes sind ihr Hauptinhalt, gegen welchen Gott das Äußerliche nur ein Schmuck ist, der ihm zu dienen hat. Alles Leben verdankt seine Kräftigkeit nur Gottes Güte und vergeht vor seiner Macht.“ (ebd.) Vgl. dazu auch unten III.4.2. 77 So Hegels berühmte These in der Phänomenologie des Geistes. Vgl. PhG, GW 9, S. 241–264; ferner VPR 4, S. 557 f. und hierzu allgemein auch K 1989, S. 431 f. 78 Vgl. H 1987, Band 2, S. 602–604; K 1989, S. 192–197 und zum hier relevanten Wahrheitsbegriff auch oben Abschn. I.2.1. Hegels allgemeine Aussagen über das in
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gels Abgrenzungsmerkmal für die Kunst ist daher weniger eine Angabe eines für die Kunstrezeption notwendigen Vermögens, sondern vielmehr eine nähere Bestimmung der Darstellungs- und Ausdrucksfunktion von Kunstwerken, deren Realisierung in der Regel situationsgebunden ist79– bspw. in der Aufführung von Musik- und Theaterstücken, der Ausstellung von Gemälden oder der Rezitation von Gedichten etc. Doktrinelle Aussagensysteme haben umgekehrt auch eine wichtige Funktion in der kultischen Praxis, sind aber nicht gleichermaßen auf ,Anschaulichkeit‘ angewiesen.80 Die erste Bedeutungsdimension erklärt damit aber nicht nur die Unterschiede zwischen den Erkenntnisformen. Sie gibt zugleich einen guten Hinweis, wie sich das Problem der scheinbaren Nicht-Anwendbarkeit der Vorstellungskategorie auf bestimmte Religionsformen lösen lässt. In jedem Falle präziseren die obigen Erläuterungen nochmals Hegels o.g. These, dass die Bildung von ,Vorstellungen‘ ohne implizite Gedanken nicht möglich ist. Andernfalls könnte man Vorstellungen kaum als „Metaphern der Gedanken und Begriffe“ (Enz. § 3A, GW 20, S. 42) kennzeichnen.81 Ein genauerer Blick auf diese beiden Pole religiöser Überzeugungsbildung und auf deren Verhältnis erlaubt es, Hegels Theorie in folgenden Hinsichten näher auszudifferenzieren: Erstens scheint hieraus seine allgemeine Annahme zu folgen, dass man zumindest in einigen Fällen schon in der religiösen Äußerung um deren genuin figurativen Charakter implizit weiß, und zwar weil die Inadäquatheit des jeweiligen Bildes dem religiösen Subjekt zugleich mit einleuchtet.82 Im Sinne der Überlegungen in Kap. II.4.1 und III.2 ist dies nach Hegel zweitens davon abhängig, wie reich und transparent der zugrunde liegende ,metaphysische Begriff‘ des Absoluten ist, der in der Rede modelliert werden soll. Je ,konkreter‘ ein solcher Begriff in Hegels Sinne ist, desto mehr Implikationen ergeben sich damit für die Beziehungen zwischen dem Absoluten und der Welt, Kunstwerken dargestellte Schöne sind damit eng verwandt mit dem traditionellen (platonischen) Gedanken, das Schöne sei eine ,transzendentale‘ Eigenschaft, die sich von den anderen Transzendentalien durch ihre Anschaulichkeit bzw. Vernehmbarkeit unterscheidet. Vgl. dazu besonders T 2015b. 79 Dies deckt sich mit Hegels Sprachgebrauch etwa in Enz. § 558, GW 20, S. 544. Von hierher erklärt sich zudem die von Hegel betonte Angewiesenheit des jeweiligen Werks auf Kunstrezipienten. Vgl. Enz. § 556, GW 20, S. 543 und VPR 3, S. 144–146. 80 Propositionale Gehalte sind ohnehin nicht identisch mit deren Ausdruck in Behauptungsakten, geschriebenen Sätzen oder anderen konkreten Entitäten, wie A. Plantinga ausführt. Vgl. WPF, S. 117–120. 81 Entsprechend notiert Hegel im Manuskript seiner Berliner Antrittsrede: „[D]as Verhältniß des Erkennens ist Glauben –; – auch nur untermischt mit Gedanken.“ (GW 18, S. 24) Dass die ,Vorstellung‘ im Falle der Erkenntnis des Absoluten seinen Ausgang von implizit gebildeten Begriffen nehmen muss, deckt sich mit dem Befund, dass die Einbildungskraft als solche keine eigenständigen Erkenntnisse generiert, sondern die Inhalte anderer Erkenntnisformen transformiert. Vgl. unten III.3.4 und die parallele These in K 1989, S. 121. 82 So heißt es in der Strauß-Nachschrift: des Kollegs von 1831 „Zur Vorstellung gehört zuerst das Bildliche, wobei wir dann gleich wissen, daß dies nicht eigentlich zu nehmen, sondern vom Bild seine Bedeutung zu unterscheiden ist. Z.B.: Gott hat einen Sohn gezeugt.“ (VPR 3, S. 356) Vgl. die parallele Passage im Kolleg von 1827 ebd., S. 293.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
die dann in der religiösen Rede zum Ausdruck gebracht werden können.83 Diese Konsequenz macht schließlich drittens deutlich, dass der Begriff der religiösen ,Vorstellung‘ Binnenunterscheidungen durch graduelle Abstufungen zulässt. Allgemein gilt, dass die Modellierung in metaphorischen Wendungen und Sätzen besser oder schlechter sein kann – und zwar je nach dem, wie viele Begriffsmerkmale für die Relata des Vergleichs eingesehen werden. Hegel kann entsprechend die Religionsformen danach einteilen, ob sie den passenden metaphorischen Ausdruck noch suchen – bspw., weil ihr Begriff des Absoluten nicht konkret genug ist –84 oder ob dieser im Rahmen der Möglichkeiten der figurativen Rede schon gefunden wurde. Diese Überlegung lässt damit ein Spektrum von Fällen zu, an dessen einen Ende der Vergleich in eine Identifikation mit dem natürlichen Modellsubjekt bzw. -bereich umschlägt.85 Am anderen Ende des Spektrums steht hingegen die philosophische Erkenntnisform, die den metaphorischen Vergleich durch unvermittelte, wörtliche Rede ersetzt und deren Kontinuität zur Religion uns in Abschnitt III.3.3 beschäftigen wird. Paradigmenfälle der religiösen Vorstellung Auf Basis dieser allgemeinen Überlegungen kann man die Auswahl von Hegels Beispielen gut plausibilisieren, die vornehmlich der jüdisch-christlichen Religionsform entstammen. Denn anders als in den anderen Religionsformen liegt ihr eine adäquate Gotteskonzeption zugrunde, in der das Absolute implizit als ,absolute Idee‘ eingeordnet wird. Gemäß der Überlegungen in Abschnitt II.4.2 ist dieser Begriff für Hegel reich genug, um differenzierte Implikationen sowohl hinsichtlich der internen Struktur des Absoluten wie auch seines Verhältnis zur Welt und zum Menschen zu ziehen, die wiederum entscheidend die religiöse Sprache konstituieren.86 Als Modellentität bzw. -bereich dienen dabei für Hegel ins83
Zu den Details dieser Theorie vgl. unten Abschn. III.4.1 und III.4.2. „In den Religionen, in welchen die Idee noch nicht in ihrer freien Bestimmtheit offenbar geworden und gewußt wird, thut sich wohl das Bedürfniß der Kunst hervor, um in Anschauung und Phantasie die Vorstellung des Wesens zum Bewußtseyn zu bringen, ja die Kunst ist sogar das einzige Organ, in welchem der abstracte, in sich unklare aus natürlichen und geistigen Elementen verworrene Inhalt sich zum Bewußtseyn zu bringen und streben kann. Aber diese Kunst ist mangelhaft; weil sie einen so mangelhaften Gehalt hat, ist es auch die Form […].“ (Enz. § 562A, GW 20, S. 547) 85 Dies geschieht nach Hegel genau dann, wenn in basaler Form gewusst wird, was es heißt, das Absolute zu sein, und in der Folge im natürlichen Bereich ein Gegenstand herausgegriffen wird, in der es als anschaulich gegeben verstanden werden kann. Daraus ergibt sich Hegels Rede von der sog. ,Naturreligion‘, die er allerdings als Grenzfall nur zögerlich ,Religion‘ nennt. Vgl. III.4.2. 86 Zur besonderen Rolle und Authentizität christlicher Gottesvorstellungen bei Hegel vgl. auch T 1970, S. 235. Allerdings stellt Theunissen die falsche Behauptung auf, die ,Vorstellung‘ des Absoluten in nicht-christlichen Religionen sei für Hegel „durchaus auch das Gegenteil vom Wirklichen“ und damit „,bloße‘ Vorstellung, eine Fiktion“ (ebd.). Nach dieser Aussage wäre etwa der Schöpfungsglaube im Judentum und im Islam eine Fiktion, was mit Hegels alethischem Inklusivismus inkompatibel ist. Vgl. unten Abschn. III.4.1. 84
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gesamt raumzeitliche Vorgänge und Geschehnisse sowie die dabei involvierten menschlichen oder nicht-menschlichen Individuen. So heißt es im wichtigsten religionshermeneutischen Paragraphen von der „Vorstellung“ in der sog. ,geoffenbarten Religion‘: Diese giebt den Momenten seines Inhalts […] Selbständigkeit und macht sie gegen einander zu Voraussetzungen, und aufeinander folgenden Erscheinungen und zu einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen. (Enz. § 565, GW 20, S. 551)87
Diese allgemeine These konkretisiert Hegel in den Folgeparagraphen der Enzyklopädie anhand aller wesentlichen Aussagen des christlichen Credo. Da es hier nur darum gehen soll, Hegels Vorstellungsbegriff zu plausibilisieren, beschränke ich mich hier auf drei für Hegel paradigmatische Fälle, die die Beziehung des Absoluten (a) zu sich selbst, (b) zur Wirklichkeit als Ganzer und (c) zum Menschen zum Ausdruck bringen sollen. Ad (a): Die Selbstbeziehung des Absoluten und die Trinität. Hinsichtlich der figurativen Repräsentation der Selbstbeziehung des Absoluten vermerkt das Manuskript zu Hegels Berliner Antrittsrede knapp, aber prägnant: „[S]ich selbst anzuschauen – sich gegenüber zu treten, für sich selbst zu werden – Erzeugung eines Sohnes“ (GW 18, S. 24). Die ersten beiden Stichworte der Notiz legen es nahe, den fraglichen ,metaphysischen Begriff‘ von Hegels Ideenlogik und besonders von der dort beschriebenen kognitiven Selbstbeziehung des Absoluten her zu verstehen.88 Vor dem Hintergrund der Überlegungen in Abschnitt II.4.2 bedeutet dies genauer, dass das Absolute sich durch eine besondere Form des Selbsterkennens auszeichnet, in der nicht nur es selbst, sondern auch all das, was sich von ihm unterscheidet, Inhalt seines ungeteilten Erkenntnisakts ist. Mit der Einsicht in diese komplexe interne Struktur besitzt man damit nach Hegel alle philosophischen Prämissen, um deren religiöse Modellierung zu interpretieren. Im Anschluss an den scholastischen Aristotelismus heißt es daher an einer Stelle über den kognitiven Akt, der mit der Natur des Absoluten identisch ist: Die reine Tätigkeit ist Wissen (in der scholastischen Zeit: actus purus), um aber als Tätigkeit gesetzt zu sein, muß sie in ihren Momenten gesetzt sein: Zum Wissen gehört ein Anderes, das gewußt wird, und indem das Wissen es weiß, so ist es ihm angeeignet. Hierin liegt, daß Gott, das ewig an und für sich Seiende, sich ewig erzeugt als seinen Sohn, sich von sich unterscheidet – das absolute Urteil. Was er aber so sich von sich unterscheidet, hat nicht die Gestalt eines Andersseins, sondern das Unterschiedene ist unmittelbar nur das, von dem es geschieden worden. (VPR 5, S. 208 f. Fn.)89 87 Vgl. hierzu und im Folgenden auch T 1970, S. 225–244 und P 1987, S. 94–96. 88 Dass die Idee sich im technischen Sinne zugleich ,denkt‘ und ,anschaut‘ macht Hegel sowohl in der Ideenlogik als auch am Ende der Enzyklopädie deutlich. Vgl. Enz. §§ 236f, GW 20, S. 228 f. und § 572, GW 20, S. 554 f. 89 In dieser Passage ist Hegels Deutung des Zeugungsgedankens m.E. deutlich klarer als in den parallelen Äußerungen in Enz. § 567, GW 20, S. 551 f.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Hegels interpretative Schlussfolgerung lässt sich auch so wiedergeben: Jeder echte Erkenntnisakt hat einen Erkenntnisinhalt bzw. einen Gegenstand, worauf er sich im mindestens obliquen Sinne bewusst richtet.90 Was Erkenntnisakte als solche auszeichnet, kann dabei selbst Inhalt desjenigen höherstufigen Wissens werden, der deren wesentliche Momente expliziert und selbstbewusst artikuliert. In diesem Erkennen ist der Inhalt und Gegenstand folglich das, was es heißt, Wissen zu haben. Die eigene essentielle Identität deckt sich darin mit dem, was in normalen, objektstufigen Akten als ein extramentales „Anderes“ (ebd., S. 209 Fn.) auftritt. Für „Gott“ soll aber gelten, dass er „die Tätigkeit des reinen Wissens, die bei sich selbst seiende Tätigkeit [ist]“ (ebd., S. 208 Fn.).91 Er ist damit nicht nur ein Fall der Wissensprinzipien, sondern ist seiner Natur nach identisch mit dem, was es gemäß den obigen Aussagen heißt, im vollen Sinne zu erkennen. Folglich muss die vollkommene Selbsttransparenz Gottes sich zwar in unterschiedene Momente artikulieren, die aber zugleich im Wissen um sich selbst zusammenfallen. In der figurativen Repräsentation werden diese Momente, die aufgrund der Einfachheit des göttlichen Erkenntnisakts zugleich das Wesen des Absoluten ausmachen, zunächst in zwei bzw. drei verschiedene Entitäten ,verselbstständigt‘. Die schon implizit eingesehene Einheit und Verschiedenheit der Momente wird dabei indirekt, d.h. durch einen Abgleich mit einer spezifischen Kausalbeziehung und einer sittlichen Relation zwischen zwei menschlichen Personen bildlichen zur Darstellung gebracht.92 So dient der natürliche Prozess der ,Zeugung‘ als Modell für die Relation zwischen dem Absoluten als erkennendem Ursprung und seinem Wesen, das als Ausdruck der Welt als Ganzer zugleich dessen Erkenntnisinhalt ist.93 In dieser Ursprungsbeziehung wird zum einen die Differenzierung in zwei unterschiedene Momente ausgedrückt, und zwar genauer durch das Bild eines ,Vaters‘, der seinen ,Sohn‘ zeugt.94 Die Einheit und Identität beider 90 Zu Hegels Analyse des Erkenntnisbegriffs vgl. ferner I.2 und zur Selbsterkenntnis des Absoluten unten Abschn. II.4.2. 91 Vgl. zur Rede von Gott als actus purus auch VPR 5, S. 16. 92 Vgl. ebd., S. 21, 128 f. und 201. 93 Zur innertrinitarisch ausgedrückten Gott-Welt-Beziehung heißt es im Manuskript von 1821 entsprechend: „Gott ist die Wahrheit, die Substanz des Universums, nicht bloß ein abstrakt Anderes. Es ist daher derselbe Stoff, es ist die intellektuelle göttliche Welt, das göttliche Leben in ihm selbst, das sich entwickelt; […] jenes Leben ist das ewige; das Leben der Welt daher dort in seiner ewigen Gestalt; alles sub specie aeterni. Z. B. endliche Welt, Natur und endliches Bewußtsein ist der Gegensatz, das Andere der Idee; in Gott ist, wie es die Religion vorstellt, das Andere Gottes sein Sohn, d. i. er als Anderes, das in der Liebe, in der Göttlichkeit bleibt – und der Sohn ist die Wahrheit der endlichen Welt.“ (VPR 3, S. 141 f.) Vgl. zur Deutung dieser Passage oben Abschn. II.4.2 und zum Thema allgemein auch S 1950, S. 92. 94 Im Manuskript vermerkt Hegel daher: „Erzeugen ist […] ein bildlicher Ausdruck des Verhältnisses der absoluten Idee in sich selbst, der von dem Leben genommen ist, das allerdings die Idee in sich trägt, aber auf eine natürliche Weise.“ (VPR 3, S. 157) Dies spricht übrigens gegen die von Theunissen vorgebrachte These, „dass die innere Differenzierung Gottes […] sich als solche vorstellendem Denken entzieht.“ (T 1970, S. 264) Dass
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soll zum anderen in der Gleichartigkeit der beiden Modellsubjekte zum Ausdruck kommen, die gerade zur Definition von Zeugungsprozessen gehört.95 Das Moment der Einheit beider wird im trinitätstheologischen Vokabular schließlich in der symmetrischen, reziproken Relation der ,Liebe‘ zwischen zwei gleichrangingen Personen weiter expliziert, deren Identität und Existenz jeweils durch die des anderen bedingt ist.96 Die Ausdrücke der ,Zeugung‘ und ,Liebe‘ können in der Anwendung auf das Absolute niemals eine wörtliche Zuschreibung einer zweistelligen generativen und sozialen Relation zwischen Personen im Normalsinn implizieren, die auch im religiösen Selbstverständnis nur eine analoge Beschreibung der besonderen Selbstbeziehung Gottes sein soll. Wenn Christen von der ,Zeugung‘ der zweiten trinitarischen Person sprechen, sollte man ihnen nach Hegel daher nicht unterstellen, sie würden tatsächlich glauben, der ,Sohn‘ Gottes sei ein Produkt sexueller Reproduktion.97 Ad (b): Die Schöpfungsvorstellung. Analog muss man auch den Mechanismus der religiösen Repräsentation im Falle der Beziehung zwischen dem Absoluten und der Welt verstehen. Aufgrund der Differenzierung zwischen Gott und Welt wird hier zunächst klar zwischen zwei Entitäten und Gegenstandsbereichen unterschieden. Insofern Gott als ,Idee‘ personenähnlich verstanden wird,98 kann auch hier für die implizit begriffene ontologische Abhängigkeitsbeziehung ein Typus der Kausalrelation als Modell herangezogen werden. Und da in diesem
zwischen der immanenten Trinität und deren Ausdruck in der Schöpfung schon im christlichen Glauben unterschieden wird, machen etwa die Wendungen für die Konsubstantialität des Sohnes im Nicäno-Konstantinopolitanum deutlich, wie bspw. das Deum verum de Deo vero etc. Vgl. P 1987, S. 102. 95 „Lebendiges – bringt sich selbst hervor“ (VPR 5, S. 21), notiert Hegel daher im Manuskript. Vgl. ebd., S. 129 und 201 und zur natürlichen Selbst- bzw. Arterhaltung in der ,Begattung‘ auch Enz. §§ 369 f., GW 20, S. 369 f. ,Zeugung‘ lässt sich demnach mit dem klassischen Gedanken der sog. generatio homonyma einordnen, den noch Kant reformuliert (vgl. KU § 80, B 370 f. Fn.). Gleichzeitig scheint dieser Umstand der oben zitierten These aus Enz. § 565 zu widersprechen, in der religiösen Vorstellung kämen nur ,Reflexionsbestimmungen‘ zum Ausdruck. Denn der ,Gattungsprozess‘, der hier als Modell dient, soll gerade nicht mit der wesenslogischen, a-teleologischen Kategorie der ,Kausalität‘ identisch sein, sondern wird von Hegel der Ideenlogik zugewiesen. Vgl. WdL II, GW 12, S. 189–191. 96 „Denn die Liebe ist ein Unterscheiden zweier, die doch füreinander schlechthin nicht unterschieden sind.“ (VPR 5, S. 201; vgl. auch ebd., S. 21 und 209 Fn.) Im Hintergrund stehen Hegels Überlegungen zur Liebe und Ehe in der Rechtsphilosophie. Vgl. GPR §§ 161–163, GW 14/1, S. 145–147. 97 „So sind in der Religion viele Formen, von denen wir wissen, daß sie nur Metaphern sind. Z. B. wenn wir sagen, daß Gott einen Sohn erzeugt habe, so wissen wir wohl, daß das nur ein Bild ist; ,Sohn‘, ,Erzeuger‘, gibt die Vorstellung von einem bekannten Verhältnis, das, wie wir wohl wissen, nicht in seiner Unmittelbarkeit gemeint sein, sondern ein anderes Verhältnis bedeuten soll, das ungefähr diesem gleicht. Dieses sinnliche Verhältnis hat eben in sich am meisten Entsprechendes dem, das in Bezug auf Gott eigentlich gemeint ist.“ (VPR 3, S. 293) 98 Wie weit diese Personenähnlichkeit geht, wird in Abschn. III.5.3 zu fragen sein.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Fall die Unterscheidung größer zu sein scheint als zwischen den Momenten der Selbstbeziehung des Absoluten, bietet sich für die religiöse Vorstellung die Relation zwischen einem Akteur und seinem intendierten Handlungsprodukt an.99 Im Satz „Gott hat die Welt erschaffen“ wird die Beziehung der Abhängigkeit demnach „als ein Handeln nach Aussen, als ein Geschehen“ (GW 18, S. 24) verstanden. Der Vorstellungscharakter der Schöpfungsidee zeigt sich dabei für Hegel nicht nur daran, dass diese in ihrer Vergegenwärtigung vom (mentalen) Bild eines zeitlichen Handlungsvollzugs begleitet wird, den das grammatische Perfekt im zitierten Satz markiert. Die Unterscheidung zwischen Akteur und Handlungsresultat soll zugleich durch das (mentale) Bild einer räumlichen Trennung verstärkt werden. Allerdings stellt das Schöpfungsbild einen Sonderfall dar. Denn, wie sich weiter unten zeigen wird, ist hier fraglich, ob es alle Kriterien einer ,Vorstellung‘ erfüllen kann.100 Trotz der erwähnten quasi-raumzeitlichen101 Ordnung seines Gehalts wird mit ihm ausgesagt, dass Gott die gesamte kontingente Wirklichkeit aus dem Nichts hervorbringt, wie Hegel selbst betont. Für das religiöse Bewusstsein muss also hier die Inadäquatheit eines sinnlichen Bildes am augenfälligsten sein. Im Kolleg von 1827 nennt Hegel daher das Schöpfungsmodell eine wesentlich „nichtsinnliche Gestaltung[…]“ (VPR 3, S. 295) und fügt hinzu: „Nun sagen wir: ,Die Welt ist erschaffen‘ und bezeichnen damit eine ganz andere Tätigkeit als sonst eine empirische.“ (ebd., S. 296) Ad (c): Die Erzählung vom Sündenfall. Schließlich zeigt sich ein ähnliches Verfahren des impliziten Vergleichs auch in der religiösen Beschreibung der GottMensch-Beziehung. Dies lässt sich knapp anhand von Hegels Interpretation von Gen. 3 illustrieren.102 Die Beziehung des Absoluten zum Menschen im Allgemeinen wird dabei narrativ als eine Geschichte von drei individuellen Personen dargestellt. Das, was nach Hegel jede menschliche Person in ihrer ontogenetischen
99
Vgl. H 2015, S. 161. Vgl. III.5.4. Zudem wird auch hier das Kriterium von Enz. § 565 verletzt, dass in der ,Vorstellung‘ wesenslogische Kategorien gebraucht werden. Vgl. ferner Enz. § 567, GW 20, S. 551. Denn selbst wenn der Schöpfungsgedanke die Herstellung eines Artefakts als Modell verwendet, wäre dies kein Fall der ,Kausalität‘ im technischen hegelschen Sinne, sondern würde am ehesten der objektivitätslogischen Kategorie der äußeren ,Teleologie‘ angehören. Vgl. zu dieser Engführung auch S 2018, S. 766. Hegel bemerkt dies übrigens selbst, wenn er etwa im Manuskript von 1821 notiert: „Erschaffen ist nicht Grund, Ursache sein – ist ein Höheres als diese beschränkten Denkbestimmungen und enthält das spekulative Verhältnis, das Produzieren der Idee“ (VPR 3, S. 157; vgl. ebd., S. 235). 101 Ähnlich heißt es in der Berliner Antrittsrede: „In Allem dieser Weise der Vorstellung – ist eine Fremdartigkeit, Aüsserlichkeit – in Zeit und Raum – andere Zeit, anderer Raum – andre Wirklichkeiten“ (GW 18, S. 24). In diesem Sinne sehen einige Interpreten im Gedanken der ,Trennung‘ ein Grundkonstituens der ,Vorstellung‘. Vgl. u.a. T 1970, S. 133 und H 2013, S. 148. 102 Vgl. im Folgenden u.a. VPR 5, S. 220–231 und ferner die neuere Interpretation in H 2017, S. 403–407. 100
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Entwicklung vollzieht,103 nämlich die Entfaltung der menschlichen Handlungsund Wahlfähigkeit, wird hier als ein Handlungsresultat zweier Personen zu einer bestimmten Zeit – am Anfang der Menschheitsgeschichte – an einem bestimmten Ort – dem Paradies – verstanden.104 Das Vermögen der Wahl ist dabei die Quelle eines zugleich fehleranfälligen als auch echten Selbstverständnisses eines gelingenden geistigen Lebens. Dies wird im Narrativ als eine (nicht in jeder Hinsicht) selbstverschuldete und darauf von Gott sanktionierte Verbotsübertretung dargestellt – als das Essen der Früchte des Baumes der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies –, die aber paradoxerweise für die Verwirklichung der Gottesebenbildlichkeit notwendig sein soll.105 Im christlichen Heilsschema besteht deren nächster Schritt in der Erfüllung des entstandenen Heilsbedürfnisses durch Gottes Annahme der menschlichen Natur in seiner Inkarnation.106 Die Rolle der Christusgestalt in Hegels Religionsphilosophie wirft dabei bekanntlich exegetische Probleme auf, die im Rahmen dieses Kapitels nicht gelöst werden können. Da sie die Komplexität und vor allem Flexibilität von Hegels Begriff der Vorstellung verdeutlichen, sollen die möglichen Quellen der verschiedenen Deutungsoptionen aber zumindest kurz angedeutet werden. In der Hegelliteratur findet sich spätestens seit D.F. Strauß die These, dass Jesus Christus von Hegel als ,Vorstellung‘ im Sinne der rekonstruierten Bedeutungsdimension verstanden und in der Folge als Fiktion behandelt wird.107 Diese Schlussfolgerung liegt nahe, wenn man ,Vorstellungen‘ nur als menschliche Ausdrucksformen vom Typ intendiert produzierter Zeichen auffasst. Sie folgt aber nicht zwingend aus den theoretischen Prämissen von Hegels Psychologie. ,Vorgestellt‘ werden können nach Hegel auch genuin empirisch-historische Sachverhalte und Ereignisse; und zwar, indem sich mit-anwesende Personen an sie ,erinnern‘ und dann das erworbene Wissen mündlich oder schriftlich weiterreichen.108 Diese Lesart deckt sich mit Hegels Aussage, bei der Geschichte Christi 103 Vgl. VPR 5, S. 225. Das dies dem Menschen eigentümlich ist, soll dann für Hegel in dem Bild zum Ausdruck gebracht werden, dass Adams und Evas Schuld biologisch vererbt wird. Vgl. ebd. 104 In der Berliner Antrittsrede notiert Hegel entsprechend, das Sündenfallnarrativ sei eine „Anschauung in einem Andern als an einem besonderen Individuum – nicht als an und für sich selbst in der Vernunft“ (GW 18, S. 24). 105 „Die Erkenntnis ist das Prinzip der Geistigkeit, die aber, wie gesagt, auch das Prinzip der Heilung des Schadens der Trennung ist. Es ist in diesem Prinzip des Erkennens auch das Prinzip der Göttlichkeit gesetzt, das durch fernere Ausgleichung zu seiner Versöhnung, Wahrhaftigkeit kommen muß.“ (VPR 5, S. 139; vgl. ebd., S. 42) 106 Zu den Voraussetzungen und zur Bedeutung der Inkarnation vgl. u.a. ebd., S. 231–239. 107 In diesem Sinne behauptet etwa Chr. Halbig, dass „die einzigartige Stellung Christi als göttlicher Inkarnation“ „bei Hegel als bloße Metapher des für jeden Menschen erreichbaren Gottmenschentums erscheint“ und dadurch „obsolet“ (H 2013b, S. 202) werden würde. Vgl. zu dieser schon von Strauß vertretenen These u.a. H 1987, Band 2, S. 640; L 2011, S. 218–220 und M 2018, S. 190–192. 108 Auf die resultierenden Ambiguitäten hat mit Nachdruck M. Theunissen hingewiesen. Vgl. hier und im Folgenden T 1970, S. 234–236.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
handle es sich um konkrete Anschauungssituationen.109 Verbunden mit der diskutierten Bedeutungsdimension könnte man in einem zweiten Schritt dafür argumentieren, dass Hegel das historische Individuum Jesus Christus selbst als Bedeutungsträger auffasst, dessen Leben den theologischen Sinn seiner Geschichte zum Ausdruck bringt. So heißt es etwa im Kolleg von 1827: Doch gibt es dann auch Geschichtliches, das eine göttliche Geschichte ist, und zwar so, daß es im eigentlichen Sinn Geschichte sein soll: die Geschichte Jesu. […] Die Geschichte Jesu ist ein Gedoppeltes, eine göttliche Geschichte – nicht nur diese äußerliche Geschichte, die nur als gewöhnliche Geschichte eines Menschen aufgenommen werden sollte, sondern sie hat Göttliches zu ihrem Inhalt, göttliches Geschehen, göttliches Tun, absolut göttliche Handlung. Diese absolute göttliche Handlung ist das Innere, Wahrhafte, Substantielle dieser Geschichte und ist eben das, was Gegenstand der Vernunft ist. (VPR 3, S. 294)110
Anders als in fiktionalistischen Interpretationen könnte man so darauf beharren, dass Hegels Rede von der ,Vorstellung‘ ihn nicht per se darauf festlegt, das gesamte evangelische Narrativ als ein Produkt menschlicher Phantasie zu begreifen. Zumindest einige der erzählten Ereignisse kann man mit Hegel als historische Tatsachen mit Zeichencharakter auffassen, deren theologische Signifikanz dann spätestens im Aufbau des kirchlichen Lehramts eingeholt wurde.111 Diese 109 Vgl. u.a. Enz. § 570, GW 20, S. 553. D.F. Strauß hat diese Interpretationsoption dadurch zu blockieren versucht, indem er in Rückbezug auf die Phänomenologie behauptet hat, für Hegel gäbe es kein echtes indexikalisches Wissen. Vgl. hierzu T 1970, S. 238–240. Diese Prämisse ist aber bestenfalls fragwürdig. Vgl. V 1988a und zur Kritik an Strauß T 1970, S. 236–242. Aus Hegels These der Notwendigkeit der Anschaulichkeit der gottmenschlichen Einheit im Leben Christi folgt damit auch nicht V. Hösles Behauptung, Hegels Inkarnationsbeweis ziele nur auf die Notwendigkeit des doxastischen Glaubens an die Inkarnation. Vgl. H 1987, Band 2, S. 640 f. Fn. 108 und hierzu H 2017, S. 412 f. Dies würde dem Erfolgssinn des Begriffs der ,Anschauung‘ widersprechen, die Hegel, wie die ,Vorstellung‘, in der Psychologie als Erkenntnis einstuft. 110 Im Sinne dieser Äußerungen ist etwa Hegels These, im historischen Ereignis des Kreuzestods Christi schließe sich – spätestens in der theologischen Aneignung – die inntertrinitarische, ewige Selbstbeziehung Gottes für die christliche Personengemeinschaft auf. Vgl. hierzu VPR 5, S. 251 und 286 f.; und zur Deutung H 2017, S. 419 f. 111 Gestützt wird diese These durch die von Hegel betonte Singularität der Inkarnation. Vgl. u.a. VPR 5, S. 49, 237 Fn., 238 und 283. Allerdings scheint dies in Spannung zu den obigen Überlegungen stehen, wenn man die relevante Signifikationsbeziehung vom konventionellen Sprachgebrauch her auffasst. Christus wäre als zeichenartiger Bedeutungsträger so beliebig austauschbar. Eine von Hegel unabhängige Antwort liegt in der Idee des späten Luthers, die Gott-Welt-Beziehung in Analogie zu – mit J. Searle gesprochen – deklarativen Sprechakten zu verstehen. Vgl. S 2018, S. 55–61. Jedes Geschöpf ist so durch göttliches Sprechen zugleich ein Zeichen mit individueller Bedeutung und damit eingebettet in den Gesamtsinn der Schöpfung, der sich in Christus aufschließt, der in seiner menschlichen Natur selbst unter die Geschöpfe tritt und darin selbst Zeichencharakter besitzt. Chr. Schwöbel formuliert die Konsequenzen für den Inkarnationsgedanken besonders prägnant: „[T]he creative Word speaks these words and the divine grammar arranges their relationships, all of which become accessible in the medium of created matter. As the continuing embodied address of God, Christ becomes the key to understanding all reality though [sic!] the experience
3.2 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der religiösen Erkenntnis
451
Lesart schließt dabei keineswegs aus, dass Hegel einige der überlieferten Zeugnisse für unhistorisch gehalten haben könnte – darunter der bekannte Streitfall der leiblichen Auferstehung Christi.112 Sie zeigt aber den theoretischen Spielraum an, den die Vorstellungskategorie generell eröffnet. Als Zwischenkonklusion lässt sich damit erstens festhalten, dass Hegels allgemeine Äußerungen zur religiösen Erkenntnisform nicht nur für jede Religionsform genau spezifiziert werden muss. Selbst innerhalb ein und derselben Religionsgestalt können für Hegel ganz unterschiedliche Typen der religiösen Vorstellung vorkommen. Mögliche Sonderfälle sind, wie sich gezeigt hat, zum einen der Schöpfungsgedanke, bei dem die Unzulänglichkeit der metaphorischen Modellierung besonders offensichtlich ist; und zum anderen die evangelischen Christuserzählungen, die sich von echten ,Allegorien‘ – wie etwa für Hegel das Sündenfallnarrativ – darin unterscheiden, dass einige der überlieferten Stationen durchaus historische Tatsachen darstellen können.113 Vergleicht man Hegels Auslegungen des trinitätstheologischen Vokabulars und des Schöpfungsgedankens mit seinem in Enz. § 565 formulierten Programm, muss man zweitens kritisch anmerken, dass dieses nicht dazu in der Lage ist, alle Feinheiten seiner durchgeführten Interpretationen einzuholen. Die Behauptung, in die Komponenten der religiösen ,Vorstellungen‘ würden wesenslogische „Reflexionsbestimmungen“ (Enz. § 565, GW 20, S. 551) einfließen, wird gerade nicht allen Interpretanda gerecht.114 So gehört der Zeugungsbegriff etwa der Ideenlogik an und der Schöpfungsgedanke passt hingegen – wenn er überhaupt einer Kategorie zugeordnet werden kann – am besten zum Begriff der ,äußeren Zweckmäßigkeit‘. Die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um objektivitäts- und ideenlogische Kategorien handelt, deutet drittens darauf hin, dass Hegel die Möglichkeiten seines Übersetzungsprogramms nicht vollständig ausgeschöpft hat. Da er etwa selbst darauf hinweist, dass die ,absolute Idee‘ im echten Sinne kognitiv ,lebendig‘ ist,115
of reality. It is here that the metaphor of the book is in a most radical way subverted. The author of the book, who has made the book a meaningful whole, no longer stands outside the story but becomes a character within it. His life and death become the overarching plot.“ (ebd., S. 62) 112 Selbst M. Theunissen, der u.a. im Anschluss an das Manuskript von 1821 behauptet (vgl. VPR 5, S. 67), dass Hegel „die Faktizität der Auferstehung“ (T 1970, S. 282 Fn. 166) betone, muss zugeben: „Hegel kontaminiert […] Ostern und Pfingsten, die Auferstehung und die Ausgießung des Heiligen Geistes, durch die sich nach seiner Lehre allererst eine Gemeinde bilden konnte.“ (ebd., S. 282) Vgl. auch die analogen Thesen bei H 2013, S. 196. 113 Zur Unterscheidung der Geschichte Christi von ,Mythen‘ vgl. VPR 3, S. 294. Diese Abgrenzung wird dadurch gestützt, dass Hegel etwa die mythische und allegorische Rede über die Götter der ,griechischen Religion‘ tatsächlich fiktionalistisch versteht. Vgl. u.a. VPR 4, S. 549 f. und 638. 114 Zur Identifikation der ,Reflexionsbestimmungen‘ mit wesenslogischen Kategorien vgl. auch T 1970, S. 232. 115 Vgl. WdL II, GW 12, S. 180.
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
könnte man erwägen, ob deren Produkt – das Wissen um sich selbst – nicht zumindest in analoger Erweiterung als ,Erzeugnis‘ aufgefasst werden könnte.116 Dies wäre mit der Tatsache kompatibel, dass der Gedanke im religiösen Erkennen stets von (mentalen) Bildern natürlicher Zeugung begleitet wird.117 Dass Hegel dieser Versuchung bisweilen erlegen ist, zeigt z.B. seine Bemerkung, dass in der „Thätigkeit des Erkennens“ „die ewige an und für sich seyende Idee sich ewig als absoluter Geist bethätigt, erzeugt und genießt“ (Enz. § 577, GW 20, S. 571).118 Diese und andere Stellen, die nicht im Kontext der Interpretation religiöser Aussagen stehen, bringen Hegel offensichtlich in die Schwierigkeit, philosophisch mithilfe von Metaphern zu sprechen – zumindest dann, wenn man die Bezeichnungen der drei eben genannten Akte der Idee nicht als technische Ausdrücke anerkennen möchte. Daher zeigt sich viertens, dass scharfe Abgrenzungen zwischen ,Vorstellung‘ und ,Begriff‘ von Hegel faktisch nicht konsequent durchgeführt werden – und vielleicht sind sie nicht einmal vollständig durchführbar.
3.3 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der Philosophie Es scheint nicht nur fraglich, ob Hegel sein enzyklopädisches System ,vorstellungsfrei‘ ausbuchstabiert. Vielmehr findet in seiner Begriffsverwendung eine Bedeutungsverschiebung statt, auf die er v.a. dann rekurriert, wenn er den Anspruch echter spekulativer Philosophie von defizienten Formen der philosophischen Praxis abgrenzt. Da diese zweite Bedeutungsdimension in Hegels metaphilosophischer Verwendung der Vorstellungskategorie mögliche Kontinuitäten zwischen Religion im engeren Sinne und der philosophischen Erkenntnis anzeigt, soll diese im Folgenden genauer beleuchtet werden. Wir hatten schon im letzten Abschnitt gesehen, dass für Hegel etwa der Schöpfungsgedanke einen wesentlich nicht-empirischen Gehalt in der Repräsentation besitzt. Während man sich nun die Schöpfung zumindest im Ansatz als Handlungsvollzug ,vorstellen‘ kann, gibt es für Hegel weitere Vorstellungstypen, die zwar auch auf „nichtsinnliche Gestaltungen“ (VPR 3, S. 295) zurückgreifen, bei 116 Vgl. z.B. Thomas’ Weiterentwicklung von Augustinus’ komplexen Überlegungen zum Zeugungsgedanken u.a. in SCG IV, Kap. 11 und hierzu MC 1999. Seltene wie interessante Engführungen von Augustinus’, Thomas’ und Hegels Trinitätslehre finden sich in H 1989, S. 52–70, K 2001, S. LXIIf. und H 2020. 117 In W. Alstons Worten: „[T]he fact that we must begin with creatures [d.h. wenn wir theologische Terme bilden, W.L.] is quite compatible with the supposition that at some later stage terms take on special technical senses in theology After all, that is what happens in science. There, too, it can be plausibly argued that we can learn theoretical terms in science only if we have already learned commonsense meanings of these and other terms – senses in which the terms are true of ordinary middle-sized objects.“ (A 1989a, S. 45) 118 Noch schwieriger fällt die Interpretation von Paragraphen der Enzyklopädie, in denen, wie etwa in Enz. § 567, ,vorstellendes‘ wie wesens- und begriffslogisches Vokabular gemischt verwendet wird. Vgl. T 1970, S. 247.
3.3 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der Philosophie
453
denen aber eine figurative Modellierung nicht mehr im selben Maße möglich ist. Als Beispiel für Vorstellungen mit „geistige[m] Inhalt“ nennt Hegel den Satz „Gott ist allweise, allgütig, gerecht“ (ebd., S. 296).119 Legt man die Maßstäbe der ersten Bedeutungsdimension an, dann wird man hier kaum von einer ,Vorstellung‘ sprechen können. Zwar ist es notorisch umstritten, wie weit die Personenähnlichkeit des Absoluten bei Hegel geht.120 Doch selbst wenn man annimmt, dass diese keine Grundlage für eine echte personale Auffassung des Absoluten bietet, wird man zugeben müssen, dass die Zuschreibung von Weisheit, Güte und Gerechtigkeit keinen impliziten Vergleich mit sinnlich wahrnehmbaren Entitäten enthalten muss. Die Güte und Gerechtigkeit einer Person kann sich im Vollzug entsprechender Handlungen zeigen. Das wahrnehmbare Verhalten gibt aber in erster Linie nur Indizien für eine Einsicht, die wesentlich in einer rationalen Beurteilung gewonnen wird. Damit zeigt sich zwar schon, dass dieser neue Vorstellungstyp in Kontinuität zur ersten Bedeutungsdimension steht – nämlich, indem personale Attribute explizit reflektiert werden, die schon im Gedanken einer Schöpfungshandlung liegen. Die Rede von ,Vorstellungen‘ als ,Metaphern von Gedanken‘ scheint hier allerdings wenig Sinn zu machen. Welchen Aspekt des allgemeinen Vorstellungsbegriffs Hegel hier im Blick hat, wird durch seine eigene Erläuterung des genannten Beispiels deutlicher: Wenn wir sagen: ,Gott ist allweise, allgütig, gerecht‘, so haben wir gewisse Inhaltsbestimmungen; jede derselben ist einfach und selbständig neben der anderen. Die Verbindungsweisen der Vorstellungen sind ,und‘ und ,auch‘. Andererseits sind die Bestimmungen wie ,allweise‘ usf. auch Begriffe; aber soweit sie noch nicht in sich analysiert, die Unterschiede noch nicht gesetzt sind, wie sie sich aufeinander beziehen, gehören sie der Vorstellung an. (ebd.)121
Hier wird klar, dass für die vorliegende Bedeutungsdimension nicht etwa der Gehalt, sondern die Weise der Darstellung und die Form des Ausdrucks des ,vorstellenden‘ Subjekts wesentlich ist. In diesem Sinne kann ,Weisheit‘ zwar dem Inhalt nach durchaus begrifflich sein.122 Gleichzeitig wird dieser Inhalt aber in der ,Vorstellung‘ nicht in seine Begriffsmerkmale analysiert und kann daher als ,einfach‘ bezeichnet werden. Ferner sollen in der ,Vorstellung‘ die inferentiellen Beziehungen zu anderen Begriffen unartikuliert bleiben und daher nur in einer losen Konjunktion verbunden werden, die der ,Vorstellung‘ den Anstrich von Zufälligkeit gibt.123 119
Vgl. hierzu auch Enz. § 20A, GW 20, S. 64. Vgl. unten Abschn. III.5.3. 121 Vgl. die analogen Erläuterungen Hegels in Enz. § 20A, GW 20, S. 64 und hierzu auch H 2015, S. 162. 122 Entsprechend heißt es im Manuskript: „Die Weisheit ist ein allgemeiner Ausdruck, und es ist Sache der philosophischen Erkenntnis, diesen Begriff in der Natur zu erkennen, sie als System, eine Organisation zu fassen, worin sich die göttliche Idee abspiegelt.“ (VPR 5, S. 28) 123 „Es heißt dann: ,es geschieht etwas‘, ,es verändert sich‘, oder: ,ist dies, so ist auch das, und dann ist es so‘. Diese Bestimmungen haben so zunächst die Zufälligkeit, die ihnen erst in der Form des Begriffs abgestreift wird.“ (VPR 3, S. 296) 120
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Was Hegel hier also im Blick hat, ist das o.g. Kriterium der ,Vereinzelung‘ und ,Äußerlichkeit‘, das er in seinen allgemeinen Überlegungen epistemologischen Vorstellungsbegriffs nennt. Dies rechtfertigt sicherlich Hegels lose kategoriale Zuordnung.124 Zugleich unterstreicht dies aber die Tatsache, dass er damit eine neue Bedeutungsdimension einführt. Erstens wurde darauf hingewiesen, dass das Äußerlichkeitskriterium dazu dient, ,Allgemeinvorstellungen‘, die einen direkt repräsentierten, konzeptuellen Gehalt besitzen, von echten ,Begriffen‘ zu unterscheiden. Damit geht ihnen aber, wie schon gesagt, der metaphorisch-figurative Charakter vollständig ab. Zweitens lässt sich das fragliche Kriterium, wenn überhaupt, nur ansatzweise in der ersten Bedeutungsdimension wiederfinden. Denn in Enz. § 565 macht Hegel darauf aufmerksam, dass die in der ,Vorstellung‘ verselbständigten Momente nicht willkürlich durch einen bloßen Konjunktionsoperator verbunden werden, sondern durch Vergleiche zu kausalen und sozialen Beziehungen, die –im Falle der ,Zeugung‘ – gerade nicht kontingent sein sollen.125 Diese Überlegungen machen m.E. deutlich, dass die Verbindungslinien zwischen diesen beiden Bedeutungsdimensionen keineswegs im Begriffsinhalt liegen. Sie ergeben sich höchstens aus der Tatsache, dass ,Allgemeinvorstellungen‘ etwa im Falle von Gottesattributen von religiösen Bildern in ihrer Genese abhängig sind. Sie entstehen in diesem Zusammenhang etwa dann, wenn man vom Schöpfungsgedanken ausgehend auf die intrinsischen Attribute der involvierten Person oder ,Quasi‘-Person schließt.126 Damit geben sie einen ersten Einblick in das, was man sich gemeinhin unter dieser oder einer Person ,vorzustellen‘ hat. Daher wird in ,Allgemeinvorstellungen‘, wie Hegel an anderer Stelle betont, über einen Gegenstand ein ,Vor-urteil‘127 gefällt. Durch ein überliefertes und wesentlich durch
124 Sie wird von Hegel dadurch verstärkt, dass die Nebenordnung von Begriffsinhalten mittels der Konjunktion ,und‘ dabei in Analogie zur zeitlichen Sukzession verstanden wird: „Recht, rechtliche und dergleichen Bestimmungen stehen zwar nicht im sinnlichen Außereinander des Raums. Der Zeit nach erscheinen sie wohl etwa nacheinander, ihr Inhalt selbst wird jedoch nicht als von der Zeit behaftet, in ihr vorübergehend und veränderlich vorgestellt.“ (Enz. § 20A, GW 20, S. 63 f.). 125 In Enz. § 20A weist Hegel zwar auch auf mögliche Formen der Verknüpfung von Allgemeinvorstellungen hin, meint aber, dass diese sich dem „Verstande“ – als einer Form des ,Denkens‘ – verdanken würden, „der sich von jener [= der Vorstellung, W.L.] nur dadurch unterscheidet, daß er Verhältnisse von Allgemeinem und Besondern oder von Ursache und Wirkung u.s.f. und dadurch Beziehungen der Notwendigkeit unter den isolirten Bestimmungen der Vorstellung setzt“ (ebd., S. 64). 126 Sie bilden damit die Grundlage für das, was Hegel als ,reflektierendes Denken‘ bezeichnet, das er scharf von religiösen Vorstellungen und vom spekulativen Denken unterscheidet. Vgl. u.a. Enz. § 573A, GW 20, S. 556; VPR 3, S. 156–163 und 299. 127 Hegel bemerkt etwa zur Gottesvorstellung im Kolleg zur Geistesphilosophie von 1827/28: „In der Vorstellung ist eine Grundlage, die mir vorhanden ist, es ist mir beigebracht worden diese Vorstellung von Gott, sie sagt meinem Innern zu, es ist aber immer eine Vorstellung, sofern es für mich in meiner Intelligenz ein Vorausgesetztes, Vorhandenes ist.“ (VPhG 13, S. 196) Zum Dogmencharakter von Vorstellungen vgl. ferner P 1987, S. 95.
3.3 Die Rolle der ,Vorstellung‘ in der Philosophie
455
Gedanken gefärbtes ,Bild‘ wissen Personen zuvor schon, was es mit einer Sache im Allgemeinen auf sich hat.128 Auf der zweiten Reflexionsstufe kann ein solches tradiertes Vorurteil dann in Form einer ersten Definition artikuliert werden, deren Korrektheitsstandard die genannte Vorstellung bildet. Geschieht dies in der o.g. Form der Äußerlichkeit, entspricht dies genau dem, was Hegel an der Definitionspraxis der sog. ,vormaligen Metaphysik‘ kritisiert.129 Wie schon oben betont wurde, meint er dabei nicht, dass Definitionen ihren Gegenstand vollständig verfehlen.130 Urteile, die nicht im engeren Sinne ,spekulativer‘ Natur sind, sind vielmehr deshalb defizient, weil sie nicht im angemessenen Maße die notwendige Einheit und Vollständigkeit der Merkmale eines Begriffs artikulieren. Sage ich bspw. ,Das Absolute ist wahrhaft unendlich, einfach, notwendig, mächtig, weise und vernünftig‘ fälle ich nach Hegel kein falsches Urteil. Ich verwische durch die Form dieser Rede nur die Tatsache, dass im Falle des Absoluten jeder dieser Begriffsinhalte in die anderen überführbar ist, was durch das methodisch kontrollierte Verfahren der Begriffsentfaltung expliziert werden kann. Dieses Verfahrens wird nach Hegel spätestens dann relevant, wenn in der nochmaligen Reflexion auf diese erste definitorische Artikulation mögliche Spannungen zwischen den Attributszuschreibungen sichtbar werden, wie etwa zwischen Gottes ,Güte‘ und ,Gerechtigkeit‘.131 Aus diesen Überlegungen zur zweiten Bedeutungsdimension wird also in Grundzügen deutlich, wie man im Anschluss an Hegel den Prozess verstehen kann, in dem ein religiöses Gottesbild in einen philosophischen oder quasi-philosophischen Gottesbegriff überführt wird. Da religiöse Vorstellungen für Hegel nur dann gebildet werden können, wenn schon ein implizit erschlossener ,metaphysischer Begriff‘ des Absoluten vorliegt, der dann durch ein möglichst authentisches Bild ausgedrückt wird, folgt für Hegel zum einen, dass die Übersetzungsleistung immer prinzipiell möglich sein muss. Zum anderen ergibt sich, dass auch die Konkretion des Bildes zumindest für die erste definitorische Artikulation der ,Allgemeinvorstellung‘ eine eminente Rolle spielt. Dies lässt sich prägnant an Hegels Bewertung der hochmittelalterlichen Scholastik in den philosophiegeschichtlichen Vorlesungen illustrieren:132 Auf der einen 128 Zur Rolle von ,Was ist…?‘-Fragen im ,reflektierenden Denken‘ vgl. auch VPR 3, S. 299 f. 129 Vgl. H 1990, S. 23–37. 130 Vgl. dazu die Ausführungen im Exkurs zu Kap. II.1. 131 Vgl. zu diesem Beispiel und zum Verhältnis zwischen ,Allgemeinvorstellungen‘ und dem ,reflektierenden Denken‘ etwa VPR 3, S. 299–301 und H 2015, S. 162–164. 132 Vgl. im Folgenden bes. VGP 9, S. 28–30. Hegels Hochschätzung der hochmittelalterlichen Scholastik kommt insbesondere in folgender Passage des Hinrichs-Vorworts unmissverständlich zum Ausdruck: „Wenn aber in das religiöse Bedürfniß das Element der Grundsätze eingedrungen ist, so ist jenes Bedürfniß nun ungetrennt von dem Bedürfnisse und der Thätigkeit des Gedankens, und die Religion erfordert nach dieser Seite eine Wissenschaft der Religion, – eine Theologie. […] So hat sich im Mittelalter die scholastische Theologie erzeugt, – eine Wissenschaft, welche die Religion nach der Seite des Denkens und der Vernunft aus-
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
Seite findet man in ihr Hegels allgemeinen Vorwurf gegenüber der sog. ,vormaligen Metaphysik‘ wieder, die Scholastik habe nur eine geschichtlich überlieferte und teilweise als geoffenbart verstandene ,Allgemeinvorstellung‘ Gottes zum Prinzip und zum Maßstab ihrer Theologie gemacht.133 Da sie aber darin den christlichen Gottesgedanken in seiner ganzen Fülle zugrunde gelegt haben soll, hat die genuin philosophische Reflexion nach Hegel den spekulativen Gehalt geerbt, der in der religiösen Bildsprache schon selbst liegt. So heißt es im philosophiegeschichtlichen Kolleg von 1825/1826: [D]er Gegenstand der ganzen Idee ist mystisch, spekulativ, und darin liegt eben eine Aufforderung zum Denken, welche früher die Kirchenväter und jetzt die scholastischen Philosophen erfüllt haben. Die scholastische Philosophie ist so wesentlich Theologie und diese Theologie unmittelbar Philosophie. (VGP 9, S. 29)134
Daher kann eine Gottesvorstellung im Sinne der ersten Bedeutungsdimension im schwächeren Sinne für die Adäquatheit eines Gottesbegriffs verantwortlich sein, der sich erst einer höherstufigen Reflexion verdankt.135 Dass dies nach Hegel der Fall ist, zeigt sich daran, dass er der patristischen und scholastischen Metaphysik schon im Vokabular gegenüber der postaufklärerischen natürlichen Theologie den Vorrang gibt; und dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass letztere die genuin spekulativen Gehalte, wie etwa den Trinitätsgedanken, dem leeren ,Verstandesdenken‘ geopfert haben soll.136 Anders als vormoderne Formen der Theologie soll sich diese Theorieoption dadurch auszeichnen, dass sie den begriffli-
gebildet und sich bemüht hat, die tiefsten Lehren der geoffenbarten Religion denkend zu erfassen. Gegen die erhabene Richtung solcher Wissenschaft ist diejenige Weise der Theologie sehr zurück, die ihren wissenschaftlichen Unterscheid von der allgemeinen Religionslehre bloß in das geschichtliche Element setzt“ (GW 15, S. 140). Dieses Urteil hat Hegel sowohl in den religionsphilosophischen Kollegien spätestens ab 1824 als auch im späten veröffentlichten Werk ständig wiederholt. Vgl. etwa VPR 3, S. 47 f., 64 f., 248; GW 16, S. 207 und GVL, GW 18, S. 230 f. 133 „Es ist angegeben, daß das Philosophieren, das Denken, mit absoluter Voraussetzung behaftet war; es war dies die kirchliche Lehre – selbst zwar spekulativ, an sich das Wahre, aber doch in der Weise der Vorstellung. Das Denken erscheint also nicht als frei von sich ausgehend, sich in sich bewegend, sondern abhängig von einem gegebenen Inhalt, der spekulativ ist, aber noch die Weise des unmittelbaren Daseins in sich enthält.“ (VGP 9, S. 30) Hieraus versucht Hegel auch die tragende Rolle des deduktiven Beweisens in der Scholastik zu erklären. 134 Vgl. GW 15, S. 140 und zu Hegels wertschätzender Haltung gegenüber der Patristik und der mittelalterlichen Philosophie ferner B 1962, S. 316 f.; I 1992, S. 254 und bes. K 2000, S. 9 f. 135 „Da also der Inhalt zum Denken auffordert, kann diese wahre Theologie nur eine Philosophie sein.“ (VGP 9, S. 29) 136 In diesem Sinne schreibt Hegel: „Gibt der Geist dieser endlichen Reflexion nach, welche sich Vernunft und Philosophie (– Rationalismus) genannt hat, so verendlicht er den religiösen Inhalt, und macht ihn in der That zunichte. Die Religion hat dann ihr vollkommenes Recht, gegen solche Vernunft und Philosophie sich zu verwahren und feindselig zu erklären.“ (Enz. § 573, GW 20, S. 556) Vgl. auch VPR 3, S. 162 f.
3.4 ,Vorstellung‘ und das Rechtfertigungsproblem
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chen Reichtum und die aus ihm folgende Authentizität des Gottesbildes auf ein verträgliches Minimum reduziert, das dann ,natürliche Religion‘ genannt wurde.137 Übernimmt man zugleich die Rationalitätskriterien der Aufklärungstheologie, folgt für Hegel ganz natürlich, den begrifflichen Gehalt religiöser Überzeugungen vollständig über Bord zu werfen und diese lediglich als Ausdruck vor-propositionalen Erlebens zu verstehen.138 In diesem Rahmen gibt die zweite Bedeutungsdimension einerseits die relevanten Hinweise, in welchem Sinne sich Brücken zwischen dem religiösen Alltagsbewusstsein und der philosophischen Reflexion bauen lassen, deren Motivation schon in der Religion selbst liegt.139 Andererseits bieten sie zugleich diejenigen Kategorien, die Hegel für seine Zeitdiagnostik benötigt. Zwar scheint für ihn die vormoderne Theologie dem spekulativen Gehalt der christlichen Religion besser gerecht zu werden. Unter modernen erkenntnistheoretischen Prämissen wird dem religiösen Bewusstsein aber diese Option gerade verstellt.140 Als Theoriegebilde der philosophischen Selbstverständigung bleiben ihm demnach nur noch die Aufklärungs- und Gefühlstheologie sowie der rein historisch-kritische Zugang zu den eigenen Glaubensgehalten, die aber nicht mehr ihre Wahrheit, sondern nur noch deren historische Entstehungsbedingungen untersuchen. Nach Hegel muss man in dieser Situation die Hoffnung auf die genuin spekulative Form der Philosophie setzen, die ähnlich wie ihre vormodernen Vorgänger dem Reichtum des Geglaubten gerecht wird und zugleich der aufklärerischen Kritik Rechnung tragen kann.
3.4 ,Vorstellung‘ und das Rechtfertigungsproblem Möchte man Hegels Vorstellungskategorie mit einem einzigen Stichwort erläutern, so könnte man die Ausübung der Vorstellungsfähigkeit im Anschluss an W. Alston als ,transformative doxastische Praxis‘141 bezeichnen: In ihrer genuin religiösen Form greift sie sowohl auf Anschauungs- als auch auf Denkinhalte zu137
Vgl. VPR 4, S. 415 f. und 612. Zu Hegels Kritik an der sog. Gefühlstheologie vgl. oben Kap. I.4. 139 Noch präziser spricht Hegel diesbezüglich in den Vorlesungen über die Kirchenväter, deren philosophische Reflexion mit platonischen Mitteln er als die Einlösung des jesuanischen Versprechens in Joh 15, 26 deutet, der Paraklet werde kommen und die Jünger alles lehren. Vgl. VGP 9, S. 14 f. Die Behauptung, in Hegels Sinne könnten Gläubige nicht als religiöse Menschen eine reflexiv-philosophische Haltung gegenüber ihrem eigenen Glauben einnehmen (vgl. M 2018, S. 90), halte ich daher für problematisch. Sie widerspricht zudem Hegels Generalthese, im christlichen Glauben werde selbst thematisiert, was es heißt, religiös zu sein. Vgl. unten Abschn. III.4.2. 140 Zu diesen Prämissen vgl. auch oben Kap. I.3. 141 Vgl. A 1991, S. 157. Allerdings müsste man hier die weitergehende hegelsche These mit hinzunehmen, dass Überzeugungsbildung im Vollsinne nur dort stattfinden kann, wo schon eine Syntax und Grammatik existiert, die nach Hegel wiederum den „logische[n] Instinkt“ (Enz. § 459A, GW 20, S. 454) der Urteils- und Schlusspraxis voraussetzt. 138
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3. ,Denken‘ und ,Vorstellen‘
rück, um diese in ein einziges figuratives Gebilde zu verwandeln, das ihr zur Erschließung ihres Bezugsobjekts dient. In einer höheren Form der Vorstellungsfähigkeit kann dies wiederum in rudimentäre Typen der Wesenserkenntnis umgesetzt werden, die dann die Grundlage für erste Definitionsversuche in der theologischen Praxis bilden. Aus dieser Überlegung lassen sich abschließend zwei wichtige Konsequenzen für den vorliegenden Kontext ziehen. Erstens vervollständigt sie die schon begonnene Antwort auf den ersten der drei Einwände gegen Hegels Theorie religiösen Denkens, die in Kap III.1 vorgebracht wurden. Dieser bezweifelte deren Anfangsplausibilität, weil Hegels kategorientheoretische Aussagen scheinbar kein Äquivalent in religiösen Ausdrucksformen und deren traditioneller theologischer Explikation besitzen. Wie wir in diesem und im letzten Kapitel gesehen haben, besteht Hegels Antwort zunächst in dem Nachweis, dass das relevante kategoriale Wissen in der Regel implizit gebildet wird. Dem fügt sie in einem zweiten Schritt den Gedanken hinzu, dass das kategoriale Wissen um das Absolute den Maßstab für die religiöse Bildsprache bildet, in der die Einsichten in der Regel zum Ausdruck gebracht werden. In einer echten philosophischen Reflexion kann dann derjenige begriffliche Gehalt freigelegt werden, von dem schon die religiöse Vorstellung ihren Ausgang nimmt.142 Entgegen der Standardcharakterisierung des hegelschen Religionsbegriff muss allerdings betont werden, dass die Kontinuitäten zu anderen Erkenntnisformen des Absoluten nicht nur größer sind, als Hegel selbst bisweilen suggeriert. Die Behauptung, die religiöse Bezugnahme auf das Absolute sei durch und durch ,vorstellend‘, ist sicherlich weder in exegetischer noch in systematischer Hinsicht haltbar. Behält man aber den hegelschen Theorierahmen mit den oben entwickelten Zusatzqualifikationen bei, lässt sich zweitens seine komplexe Antwort auf das Rechtfertigungsproblem vervollständigen, das das Generalthema der vorliegenden Studie darstellt. Gerade im letzten Kapitel hatte sich gezeigt, dass Hegels Theorie religiösen Denkens einen weiteren Grund für seine These bietet, religiösen Überzeugungen kämen durch ihren rationalen Ursprung per se Rechtfertigungsstatus zu. Aufgrund des impliziten und dispositionellen Charakters dieses Denkens ergab sich zugleich, dass es unter bestimmten geistesgeschichtlichen Vorzeichen einer doppelten Verunsicherung ausgesetzt sein kann: Zum einen von religionskritischer Seite, die unter Voraussetzung plausibel erscheinender Rationalitätsstandards die Wahrheit und Kohärenz religiöser Aussagen bezweifelt, und zum anderen von philosophischer Seite, die religiöse Überzeugung gegen diese Kritik zu verteidigen versucht, aber in einer Sprache, in der sich das religiöse Bewusstsein nicht immer wiedererkennt.143 Unter solchen Bedingungen motiviert 142 Daher hat Hegel auch eine Antwort auf Theunissens Frage bzgl. der vorstellenden, ,trennenden‘ Aneignung metaphysischer Gehalte: „Wie kann Vorstellung trotz dieser Trennung überhaupt noch Zugang zum absoluten Inhalt gewinnen?“ (T 1970, S. 258) 143 Zum Problem der ,Unverständlichkeit‘ der Philosophie vgl. auch Enz. § 3A, GW 20, S. 42 f. und hierzu H 2002, S. 164–167. Vor dem Hintergrund von Hegels Wertschätzung
3.4 ,Vorstellung‘ und das Rechtfertigungsproblem
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sich für Hegel der philosophische Nachweis, dass schon in der normalen religiösen Überzeugungsbildung implizit eine Begründungsleistung erbracht wurde. Nach dem Gesagten muss Hegels Programm zwei Voraussetzungen erfüllen. Es muss einerseits zeigen, dass religiösen Überzeugungen ein korrekter, begründeter und tatsächlich erfüllter Begriff des Absoluten zugrunde liegt. Dieser inhaltliche, metaphysische Nachweis muss andererseits durch einen erkenntnistheoretischen ergänzt werden. In diesem werden mögliche Unstimmigkeiten in der religiösen Beschreibung des Absoluten auf deren metaphorischen Charakter zurückführt, der aber – wenn Hegel recht hat – vom religiösen Bewusstsein teilweise schon selbst eingesehen und sogar durchbrochen wird.144 Eine Begründung und Aneignung religiöser Aussagen, die sich allein auf theistische Argumente und Beweise im Stil der traditionellen natürlichen Theologie zurückzieht, kann daher in hegelscher Perspektive in philosophischer Hinsicht kaum erfolgsversprechend sein. Aussichtsreich ist sie nach Hegel erst dann, wenn eine ausgearbeitete spekulative Kategorienlehre mit einer Epistemologie religiöser Überzeugungen zu einer systematischen philosophischen Religionstheorie verbunden wird.145
platonischer und aristotelischer Formen der Theologie, die in die Dogmenauffassung eingeflossen sind, fragt es sich allerdings, ob eine spekulative Aneignung des christlichen Glaubens nach Hegel nicht auch die Ressourcen vormoderner Theoriebildung nutzen sollte. 144 Dieses Vorgehen hat bei Interpreten wie M. Gabriel den Verdacht hervorgerufen, Hegels Religionsphilosophie sei wenig mehr als eine defiziente Form der ,Allegorese‘ religiöser Aussagen, die von vornherein alle Elemente als ,metaphorisch‘ einstufe, die nicht zu Hegels eigenem philosophischen Programm passe, die Gabriel lediglich als eine „Theorie der Totalität“ (G 2015, S. 19) interpretiert. Vgl. ebd., S. 18–21. Dieser Einwand ist aber nur dann berechtigt, wenn man von der Tatsache absieht, dass Hegel dies nicht nur als Programm formuliert, sondern in umfangreichen Detailanalysen aller ihm bekannten historischen Religionen durchgeführt hat, die bei Gabriel keine Erwähnung finden. Dass Hegel dabei Attribute des Absoluten expliziert, die über eine bloße ,Totalitätstheorie’ weit hinausgehen, hat sich schon in Teil II gezeigt. Ob und wie Hegels Thesen als Deutungsinstrument für den klassischen Theismus dienen kann, wird unten in Kap. III.5 untersucht. 145 Ob eine systematische Religionsphilosophie große Wellen schlagen kann, ist für Hegel allerdings fraglich. Im ersten Kolleg bezweifelt er sogar, dass die Einlösung seines Programms eine flächendeckende Wirkung entfalten und in diesem Sinne alle Gesellschaftsschichten erreichen kann. Vgl. VPR 5, S. 93–97 und zur teilweisen Revision des dortigen Urteils etwa L 2013.
4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität Die Rahmenvoraussetzungen von Hegels Lösung des Rechtfertigungsproblems, die im letzten Abschnitt nochmals zusammengefasst wurden, bilden zugleich die Grundlage für die Replik auf den zweiten Einwand, der in Kap III.1 genannt wurde. In der obigen Formulierung setzt er mit Bezug auf die Pluralität und Diversität von Religionen ein Fragezeichen hinter Hegels starke These der notwendigen Existenz religiösen Bewusstseins. In welcher Weise kann diese skeptische Anfrage in einen Einwand umformuliert werden? Zunächst könnte ein Kritiker darauf verweisen, dass Hegels These nicht nur die schwächere Behauptung enthält, es müsse unter allen Umständen lediglich eine bewusste Bezugnahme auf das Absolute geben. Analog zu A. Plantinga meint er vielmehr,1 dass, wenn das Absolute tastsächlich existiert, es von ihm unterschiedene Wesen geben muss, die dieses tatsächlich auch erkennen. Ein solcher Einwand aus der religiösen Pluralität könnte zwei Formen annehmen: Er könnte zum einen im Verweis auf die Tatsache religiöser Diversität die Konklusion von Hegels Notwendigkeitsnachweis bestreiten. Zum anderen könnte er mithilfe dieser Kritiklinie modo tollente dessen Kernprämissen anfechten, indem er zugleich das Ausgangskonditional mit Hegel als alternativlos ausweist. Denn wenn es tatsächlich notwendigerweise der Fall ist, dass, wenn das Absolute existiert, es sich uns wirklich zu erkennen gibt, dann muss gerade der Mangel an Wissen von ihm ein guter Grund gegen die Annahme seiner Existenz sein. Im Anschluss an die neuere Debatte sei der erste Einwand das epistemologische, der zweite Einwand hingegen das theologische Problem religiöser Diversität genannt.2 Formuliert man das Problem auf diese Weise, sieht man sofort, dass dessen zweite Fassung die erste für seine Schlüssigkeit voraussetzt. Um aus der religiösen Diversität ein epistemologisches Problem machen zu können, muss der Einwand also zunächst dafür plausibel argumentieren, dass schon die Existenz alternativer religiöser Überzeugungssysteme Hegels religionsphilosophische These
1
Vgl. zu dieser Analogie oben Abschn. I.5.2 und Kap. III.1. Zum Zusammenhang des epistemologischen und des theologischen Problems, vgl. bes. A 1991, S. 266 Fn. 13; W 2007, S. 139–146 und zu Plantinga ebd., S. 423–427. Im Anschluss an J.L. Schellenberg wird der theologische Einwand in der zeitgenössischen Debatte zumeist als ,Argument aus der göttlichen Verborgenheit‘ (,Divine Hiddenness‘) diskutiert. Vgl. u.a. S 2015. 2
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
unterminiert, der Erkenntnis- und Wissensanspruch des religiösen Bewusstseins müsse tatsächlich eingelöst werden.3 Ein solcher Einwand hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn bestimmte Voraussetzungen hinreichend plausibilisiert wurden, die ich im Folgenden im Anschluss an A. Plantinga entwickeln will.4 Zunächst benötigt er eine Aussage über die Diversität religiöser Wahrheitsansprüche, der Form: (i) Es gibt mindestens zwei verschiedene religiöse Überzeugungssysteme, die miteinander inkompatible Aussagen über denselben Referenzgegenstand enthalten.
In dieser Hinsicht setzt das epistemologische Problem trivialerweise voraus, dass das sog. alethische Problem religiöser Pluralität schon zugunsten einer mindestens schwachen Form des Exklusivismus gelöst wurde.5 Dabei schließt (i) von vornherein sowohl bestimmte Varianten des Pluralismus als auch des Skeptizismus und des Naturalismus aus.6 Denn versteht man die Inkompatibilitätsbehauptung so, dass religiöse Überzeugungssysteme konträre Aussagen vertreten, die aber allesamt in letzter Instanz falsch oder ungerechtfertigt sind, dann kann keines von ihnen auch nur im Ansatz einen erfüllbaren Wissensanspruch erheben. Das epistemologische Problem wäre dann gewissermaßen schon in negativer Hinsicht gelöst. Gleichzeitig muss aber zumindest feststehen, dass die Frage vorab (noch) nicht in argumentativer Hinsicht entschieden wurde oder, stärker formuliert, gar nicht entscheidbar ist, weil etwa gilt: (ii) Keine der fraglichen Aussagen stellt eine Konklusion eines Beweises dar.7
Allerdings ist auch diese Voraussetzung noch nicht hinreichend. Denn, wie sich nochmals in den letzten beiden Kapiteln gezeigt hat, teilt Hegel mit A. Plantinga die Überzeugung, dass es Formen der Begründung religiöser Überzeugung gibt, die nicht auf selbstevidente Axiome zurückgreifen, aus denen mit mathemati-
3 In A. Plantingas Terminologie formuliert, müsste also gezeigt werden, dass religiöse Diversität für Hegels Religionstheorie mind. einen ,undercutting (warrant) defeater‘ darstellt. Vgl. WCB, S. 359 f. 4 Vgl. im Folgenden ebd., Chap. 13. Plantingas Problemaufbau und Lösungsvorschlag habe ich an anderer Stelle ausführlicher diskutiert. Vgl. L im Erscheinen b). 5 Vgl. WCB, S. 440. Im Folgenden unterscheide ich die Frage nach der Wahrheit von bestimmten religiösen Kernaussagen von der Frage nach dem epistemischen Rechtfertigungsstatus religiöser Überzeugungen (vgl. I 2017) und verstehe mit Chr. Weidemann den alethischen Inklusivismus als einen Subtyp des alethischen Exklusivismus im generischen Sinne. Vgl. W 2007, S. 142 Fn. 103. Vom Inklusivismus als schwachem Exklusivismus unterscheidet sich ein starker alethischer Exklusivismus dann darin, dass dieser alle Aussagen anderer Religionen für falsch und nur die der eigenen für richtig hält. 6 Zur Einteilung religionsepistemologischer und -theologischer Modelle religiöser Diversität vgl. u.a. S-L 2005, S. 62–71; K 2008, S. 831–838; H 2011, S. 192 und I 2017, S. 731–735. 7 Vgl. WCB, S. 440.
4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
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scher Sicherheit die gewünschte Konklusion folgt.8 Wenn Hegel recht hat, können direkte Beweise in der Regel schon ihrer Form nach nicht beanspruchen, einen solchen Nachweis leisten zu können, wie in Abschnitt II.2.4 dargelegt wurde. Ein Einwand aus der religiösen Pluralität müsste folglich ausschließen, dass sich das Problem durch nicht-argumentative Formen der Begründungen entscheiden lässt – etwa indem er annimmt:9 (iii) Die fraglichen religiösen Erkenntnisansprüche besitzen allesamt einen gleichstarken bzw. -schwachen epistemischen Status.
Eine solche Annahme schließt freilich nicht aus, dass es für jedes Überzeugungssystem tatsächlich nicht-argumentative Begründungsformen gibt. Sie verneint lediglich, dass sie in mindestens einem Falle zu einem besser fundierten religiösen Wissensanspruch führen können. Der epistemologische Einwand aus der religiösen Diversität könnte nun auf Basis dieser Voraussetzungen argumentieren, dass alle fraglichen religiösen Wissensansprüche sich gegenseitig neutralisieren müssen. Leuchtet es jedem Gläubigen in erstpersonaler Perspektive ein, dass die jeweils eigenen Gründe keineswegs stärker sind, als die der anderen, dann steht ihnen wegen (iii) kein höherstufiger Grund zur Verfügung, von der Adäquatheit der je eigenen Begründungsform überzeugt zu sein.10 Wenn das aber der Fall ist, dann scheint kein einziges religiöses Überzeugungssystem einen erfüllten Wissensanspruch zu enthalten – und dies selbst dann, wenn mindestens eines von ihnen de facto korrekte und wahre Aussagen formuliert. Sollte schließlich Hegels Schluss von der Existenz des Absoluten auf dessen Erkanntwerden alternativlos sein, dann stellt sich damit das o.g. theologische Problem ein. Blickt man nun vor dem Hintergrund beider Einwände in die einschlägigen Hegeltexte, wird man prima facie mit einem ganz anderen Problemkomplex konfrontiert. So heißt es etwa an einer Stelle der Strauß-Nachschrift, die Hegels Fragestellung prägnant zusammenfasst: 8 Von Plantinga unterscheidet sich Hegels Theorie religiöser Begründung in ihrer spezifischen Betonung der Urteils- und Schlusspraxis. Vgl. die Kritik an Plantinga oben in Abschn. I.5.2. 9 Vgl. zur Annahme epistemischer Parität auch WCB, S. 451 f. So formuliert, impliziert die Paritätsannahme (iii) die Unbeweisbarkeitsthese (ii), wenn auch die Umkehrung nicht gilt. Für das epistemologische Problem ist daher (i) und (iii) ausreichend. Den Kontrast zwischen (ii) und (iii) erwähne ich nur als Hinweis, dass (ii) noch nicht ausreicht, um religiöse Diversität als Problem zu begreifen. Darüber hinaus wird beim Aufbau des epistemologischen Problems bisweilen eine weitere Annahme eingeführt, der zufolge sich alle Dialogpartner als gleichberechtigte, moralisch und epistemisch integre Personen anerkennen, die die Überzeugungen der anderen hinreichend zur Kenntnis genommen haben. Vgl. WCB, S. 440. Religiöse Meinungsverschiedenheiten sind in diesem Sinne immer sog. ,peer conflicts‘. Vgl. I 2017, S. 723. 10 In jedem Falle müsste in der Teilnehmerperspektive die Glaubensstärke und mit ihr die Aussicht auf eine starke epistemische Rechtfertigung gesenkt werden. Vgl. etwa A 1991, S. 275 f. und in diesem Zusammenhang auch WPF, S. 18 f.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Die Religion ist Gattung, und die Religionen Arten. Diese dürfen aber nicht empirisch aufgenommen, sondern müssen aus dem Allgemeinen hergeleitet werden. Wir haben angefangen von dem Begriff der Religion, d. h. von dem, was sie an sich oder für uns ist; das andere ist nun, zu sehen, wie dieser Begriff der Religion sich an und für sich realisiert. Die Religion hat ihre Realität im Bewußtsein. Erst in der wahrhaften Religion ist das Bewußtsein dem Begriff der Religion angemessen; in den niedrigeren Religionen ist wohl auch der Begriff der Religion vorhanden, aber nur erst an sich – was er in Wahrheit ist, ist noch nicht im Bewußtsein vorhanden. (VPR 4, S. 611)11
An dieser Stelle lässt sich Hegels systematische Fragestellung sowie seine wertenden Schlussfolgerungen ablesen, die sich auch in den anderen Kollegien finden. Worum es Hegel geht, ist zunächst die Klärung des Verhältnisses seines allgemeinen Religionsbegriffs zu den verschiedenen Arten oder Formen von Religionen.12 Wie der zweite Satz verdeutlicht, wendet Hegel hier dasjenige Kriterium an, das eine bloße ,Allgemeinvorstellung‘ von einem ,Begriff‘ im emphatischen Sinne unterscheidet.13 Ihm zufolge muss der Inhalt eines Begriffs nicht nur hinreichend sein, alle seine Merkmale vollständig zu explizieren, sondern er muss zugleich eine Erklärung seiner vollständigen Einteilung in Subspecies enthalten.14 Sollte eine Begriffsexplikation und -spezifikation in diesem Sinne gelingen, ergibt sich für Hegel eine Grundlage der Bewertung verschiedener Religionsformen und -gestalten. Denn, wie wir in Abschnitt I.2.1 gesehen haben, beinhaltet Hegels allgemeine Analyse von Wertaussagen, dass man eine Entität genau dann als ,gut‘ im attributiven Sinne bezeichnen kann, wenn sie in ihrer tatsächlichen Existenz dem ihr immanenten Maßstab entspricht, der sich aus ihrem ,Begriff‘ herleitet. Konsequenterweise unterscheidet Hegel daher im obigen Zitat die „wahrhafte[…] Religion“, die dem „Begriff der Religion angemessen“ ist und die davon 11
Vgl. auch die parallelen Stellen in VPR 4, S. 1 f. und 411 f. Fn. Ich verwende auch im Folgenden die Unterscheidung zwischen ,Religionsformen‘ als Arten bzw. Momente der Entwicklung des generellen Religionsbegriffs und ,Religionsgestalten‘ als individuellen, historischen Religionen auf. Vgl. oben S. 13 Fn. 51. Zudem werde ich auch hier wie oben Th. Lewis’ Vorschlag übernehmen (vgl. oben S. 23 Fn. 73), immer Hegels eigene Namen für die Religionsgestalten zu verwenden, die ich – wie auch die anderen hegelschen technischen Termini – durch einfache Anführungszeichen kennzeichne. Wie ebenfalls oben schon bemerkt, trägt dies zum einen dem von Lewis hervorgehobenen Umstand Rechnung, dass Hegels religionsphilosophische Interpretanda nicht einfach mit den sog. ,Weltreligionen‘ identisch sind, deren gängige Auffassung ohnehin kritisch geprüft werden muss. Vgl. L 2011, S. 189–191 und v.a. . 2015a, S. 214–217. Zum anderen hat dies den weiteren Vorteil, schärfer zwischen dem Selbstverständnis der nicht-christlichen Religionen und Hegels Deutungsversuchen unterscheiden zu können, auf die ich mich auch im Folgenden ausschließlich beziehen werde. Ob und inwieweit Hegels Deutungen korrekt sind und das Selbstbild der religiösen Traditionen treffen, kann hier nicht entschieden werden. Vgl. zu dieser Frage schon S 1955 und L 1975. 13 Vgl. oben Abschn. III.3.1 und III.3.3. 14 Vgl. hierzu auch W 1997, S. 152–157 und zur religionsphilosophischen Dimension ferner H 2015, S. 156 f. Diese ,Selbstbesonderung‘ von ,konkreten Begriffen‘ wird nach Hegel in disjunktiven Schlüssen artikuliert. Vgl. WdL II, GW 12, S. 123–125 und dazu S 2018, S. 549–553. 12
4.1 Hegels ,kritischer Inklusivismus‘ und dessen Konsequenzen
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weiß, von den „niedrigeren“ und „unwahre[n] Religionen“ (ebd.), bei denen dies nicht der Fall ist.15 Entsprechend ergibt sich, dass sowohl die Systematisierung, um die es Hegel hier in erster Linie geht, als auch die Evaluierung von Religionsformen an einen echten Religionsbegriff rückgebunden ist. In diesem Rahmen muss daher entschieden werden, ob Hegels Religionstheorie die nötigen argumentativen Ressourcen enthält, um auf die zwei Einwände aus der religiösen Pluralität reagieren zu können. Im Folgenden werde ich deshalb in einem ersten Schritt zeigen, dass mit der bisherigen Rekonstruktion diejenigen Elemente des hegelschen Religionsbegriffs zusammengestellt werden können, die für eine Antwort auf das epistemologische Problem relevant sind (Abschnitt III.4.1). Im zweiten Schritt werde ich dafür argumentieren, dass Hegels Antwort auf das theologische Problem in instruktiver Weise noch über eine bloße Beseitigung der Prämissen des epistemologischen Einwands hinausgeht (Abschnitt III.4.2). Dabei werde ich insbesondere auf einige der problematischen Seiten von Hegels Umgang mit den nichtchristlichen Religionen eingehen, die abschließend nochmals allgemein reflektiert werden sollen (Abschnitt III.4.3).
4.1 Hegels ,kritischer Inklusivismus‘ und dessen epistemologische Konsequenzen Um Hegels Antwort auf das epistemologische Problem systematisch einordnen zu können, lohnt es sich, seine Verquickung von begrifflichen und evaluativen Elementen genauer zu betrachten, die sein eigenes Interesse an der religiösen Pluralität leitet. Ihr zufolge bildet dasjenige Kriterium, dass die Identifikation einer echten religiösen Einstellung ermöglicht, zugleich die Grundlage zu deren Bewertung.16 Zur Klärung dieses Problem müssen daher zunächst diejenigen 15 Analog heißt es in einer parallelen Passage über die ,bestimmten Religionen‘, die ebenfalls dem Kolleg von 1831 entstammt und Hegels inakzeptable evaluative Schlussfolgerungen deutlich macht: „Diese […] Religionen sind nur besondere Momente des Begriffs, und eben damit entsprechen sie dem Begriff nicht, denn er ist nicht wirklich in ihnen. So ist der Mensch zwar an sich frei, die Afrikaner, Asiaten aber sind es nicht, weil sie nicht das Bewußtsein dessen haben, was den Begriff des Menschen ausmacht. Die Religion ist nun in ihrer Bestimmtheit zu betrachten; das Höchste, das erreicht wird und werden kann, ist, daß die Bestimmtheit der Begriff selbst ist; wo also die Schranke aufgehoben und das religiöse Bewußtsein nicht vom Begriff unterschieden ist – dies ist die Idee, der vollkommen realisierte Begriff, davon kann aber erst im letzten Teil die Rede sein.“ (VPR 4, S. 412 Fn.; vgl. ferner auch ebd., S. 1 und 413–415) Die Behauptung, die hegelsche Religionsphilosophie könne in der philosophischen Theorieperspektive die Selbstwidersprüchlichkeit von Superioritätsansprüchen in allen Religionen zeigen und beweise gerade darin ihre ,Aktualität‘ (vgl. B/ W 2020, S. 86 f. und 94 f.), ist daher mit Hegels tatsächlichen religionsphilosophischen Werturteilen offensichtlich inkompatibel. 16 Für eine verwandte, aber deutlich schwächere Schlussfolgerung wurde schon oben in Abschn. I.1.1 mit J.N. Findlay argumentiert.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Komponenten von Hegels Religionsbegriff herausgestellt und systematisiert werden, die in den bisherigen Rekonstruktionen schon zur Sprache gekommen sind. In diesem Sinne wurde schon in Abschnitt I.1.1 darauf hingewiesen, dass eine theoretische oder praktische Einstellung einer Person bzw. einer Personengemeinschaft für Hegel nur dann als ,religiös‘ im weiten Sinne eingestuft werden kann, wenn diese das Absolute zum Bezugsobjekt haben. In den letzten zwei Kapiteln wurden hingegen diejenigen Elemente geklärt, die für Hegel das Spezifikum der religiösen Bezugnahme im engeren Sinne ausmachen. Ihnen zufolge lässt sie sich durch folgende drei Ebenen kennzeichnen:17 A. Auf der ersten Ebene findet in der Bezugnahme die in der Regel dispositionelle Bildung eines ,metaphysischen Begriffs‘ des Absoluten statt.18 Sie ergibt sich auf der basalsten Ebene, wie sich insbesondere in Abschnitt II.2.5 gezeigt hat, aus der Klärung der Frage, was es für ein kontingentes und endliches Individuum eigentlich heißt zu existieren zu können. Folglich beschreibt ein ,metaphysische Begriff‘ des Absoluten nicht nur dessen intrinsische Natur, sondern immer auch zugleich dessen eigentümliche Relation zu dem, was durch das Absolute bedingt ist.19 B. Auf der zweiten Ebene wird die konzeptuelle Intransparenz in der Teilnehmerperspektive des religiösen Bewusstseins in der Regel dadurch beseitigt, indem für eine noch undifferenzierte Konzeption ein möglichst authentisches Modell im Bereich der empirischen Wirklichkeit gesucht wird.20 Zusammen mit der ersten Ebene erklärt dies für Hegel die eigentümliche Konstitution der im engeren Sinne religiösen Erkenntnisform, die ihren Gehalt eben zumeist figurativ erschließt und zum Ausdruck bringt.21 17 Wegen der Anschlussfähigkeit an die bisherigen Rekonstruktionen richte ich mich hier in erster Linie nach der Binnendifferenzierung des hegelschen Religionsbegriff im Manuskript von 1821 und F. Schicks hervorragender Rekonstruktion. Vgl. VPR 4, S. 1 f. und S 2013, S. 411–417. Diese Unterscheidung der Momente hat Hegel in den Kollegien von 1824 und 1831 wieder aufgenommen (vgl. VPR 3, S. 57–59 und 352) und, wie sich im Verlauf dieses Kapitels zeigen wird, findet sie sich auch implizit in der Vorlesung von 1827. 18 Vgl. oben Kap. III.2 und zu den ,metaphysischen Begriffen‘ des Absoluten im Allgemeinen oben Abschn. II.2.3. 19 Zu den verschiedenen horizontalen und vertikalen inferentiellen Beziehungen zwischen den Kategorien des Endlichen und des Absoluten und dem System ,metaphysischer Begriffe‘ vgl. insbesondere oben II.4.1. 20 Zu den Details dieser Bedeutungsdimension des Vorstellungsbegriffs vgl. oben Abschn. III.3.2. Im Kolleg von 1824 heißt es daher über die erste und die zweite Ebene: „Das erste ist, [daß wir] die Gedankenbestimmtheit von Gott [angeben] und zugleich die Bestimmtheit des Endlichen und dessen Aufhebung – [wobei] mittels des Aufhebens eben die Vorstellung von Gott hervorgehen soll – [und] die reine Gedankenbestimmtheit der Religion, einer religiösen Stufe des Bewußtseins festhalten. Das zweite ist, daß wir die Gestalt, die Vorstellung dieser Bestimmtheit betrachten, welche Gestalt diese Bestimmtheit haben muß.“ (VPR 3, S. 58; die Zusätze in eckigen Klammern stammen vom Hrsg.) 21 Beiden Ebenen lassen sich m.E. die ersten beiden Momente des vollständigen, ,spekulativen‘ Religionsbegriffs im Kolleg von 1827 zuordnen. Vgl. hierzu bes. H 2013 und . 2015, S. 157–159. Allerdings seien noch drei Differenzen zur obigen Einteilung benannt: Erstens ist das „Wissen von Gott“ (VPR 3, S. 277) im Kolleg von 1827 weiter gefasst, weil Hegel neben der ,Vorstellung‘ und ,Denken‘, wie in den früheren Kollegien, auch die Konsequenzen für religiöse Emotionen mitthematisiert. Vgl. ebd., S. 285–291 und hierzu
4.1 Hegels ,kritischer Inklusivismus‘ und dessen Konsequenzen
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C. Die dritte, bislang weniger betrachtete Ebene besteht für Hegel schließlich darin, dass sich aus der mindestens in der ,Vorstellung‘ zugänglich gemachten Verhältnisbestimmung zwischen dem Absoluten und den endlichen Individuen ein spezifisches religiöses Selbstverständnis entwickelt.22 In ihm positionieren sich religiöse Personen in diesem Bedingungsgefüge und erklären hieraus die normativen Anforderungen, die an sie gestellt werden. Die so aus der Beziehung zum Absoluten gewonnene religiöse Axiologie bestimmt dann wesentlich die konkrete Verfassung der jeweiligen kultischen Praxis.
Zusammenfassend heißt es in diesem Sinne im Manuskript: In diesem Element ist dann zu betrachten, wie die Momente der Religion sich zu einander verhalten und wie sie bestimmt sind, α) die Bestimmtheit Gottes, dessen metaphysischer Begriff, β) die Subjektivität des Selbstbewußtseins, seine religiöse Gesinnung, und damit auch der Sinn seines Kultus, seines sich die Gewißheit der Identität mit seinem Wesen zu geben. (VPR 4, S. 1)23
Mit diesen drei Ebenen sind schließlich zwei zentrale Konsequenzen verbunden: Zum einen soll sich nach Hegel in der historischen Gesamtentwicklung des religiösen Bewusstseins ein höherstufiges Wissen bilden, in dem sukzessive eingesehen wird, was es eigentlich heißt, religiös zu sein. Zum anderen soll in der Bildung des jeweiligen religiösen Selbstwissens zugleich transparent werden, dass dieses ohne die gleichzeitige Präsenz des Absoluten weder möglich noch wirklich gewesen wäre, die spätestens in der philosophischen Theoriebildung als eine spezifische Form des Selbstwissens des Absoluten aufgefasst werden kann.24 ,Religion‘ ist in diesem vollen Sinne daher für Hegel nicht nur eine selbstbewusste Bezugnahme des Menschen auf das Göttliche. Sie schließt zugleich die essentiellen Momente der Selbstbeziehung des Absoluten selbst auf.25
oben Kap. I.4. Zweitens spricht das Kolleg von 1827 beim ersten Moment nicht nur vom ,Begriff‘ des Absoluten, sondern vom Absoluten selbst. Vgl. VPR 3, S. 266–277 und den dortigen allgemeinen Bestimmungen auch oben Abschn. I.1.1. 22 Ein Spezifikum dieser Ebene liegt darin, dass das vorgängige Selbstverständnis geistigen Lebens auch umgekehrt das Bild des Absoluten mitbestimmt. Daher stellt Hegel insbesondere im Kolleg von 1827 und 1831 ein Wechselverhältnis zwischen menschlichem Freiheitsund Gottesbewusstsein heraus. Vgl. VPR 4, S. 413 und 611. 23 Präziser heißt es bei F. Schick: „Alle Formen der Religion […] enthalten Vorstellungen von einem unbeschränkten Wahren, Deutungen des natürlichen und geistigen Lebens aus dieser Warte und prozedurale, kultische Formen des Sich-Beziehens auf das unbeschränkt Wahre.“ (S 2013, S. 419) 24 Hegels philosophische Begründung dieser Auffassung wurde oben schon in Abschn. II.4.2 breiter rekonstruiert, die – grob gesprochen – auf der Aussage aufbaut, dass jede menschliche Erkenntnis sich in letzter Instanz dem Wissen des Absoluten selbst verdankt. 25 Die Religionsgeschichte muss in diesem Sinne für Hegel als eine Entfaltung der verschiedenen Aspekte der Präsenz des Selbstwissens des Absoluten im Wissen des Menschen verstanden werden, in denen jeweils die Einheit, die Trennung und die Versöhnung zwischen beiden in der Zeit zur Darstellung kommt. Vgl. u.a. VPR 3, S. 85 f.; und hierzu bes. H 2015, S. 159–163 und N 2015, S. 143–152.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Diese beiden Konsequenzen werden uns in den nächsten Abschnitten noch näher beschäftigen.26 Für den vorliegenden Problemkomplex reicht aber der Hinweis aus, dass besonders die erste und die von ihr spezifisch abhängige zweite Ebene diejenigen Elemente enthalten, die für die Lösung des epistemologischen Einwands relevant sind. Dies ist dann der Fall, wenn man in Hegels Religionstheorie einen Zusammenhang zwischen der jeweils entwickelten Konzeption des Absoluten und dem epistemischen Status des resultierenden religiösen Überzeugungssystems herstellen lässt. Mit Blick auf die bisherigen Diskussionsergebnisse lässt sich dies wie folgt bewerkstelligen. Zum einen wurde in Abschnitt II.4.2 erklärt, dass die ,metaphysischen Begriffe‘ des Absoluten, die den Gehalt religiöser Überzeugungen bestimmen, für Hegel ein Netzwerk bilden, in dem die logisch späteren Begriffe die kohärenten Explikationen der jeweils früheren darstellen. Wie in Abschnitt III.2 gezeigt wurde, lassen sich aus der begrifflichen Dimension der Objektseite religiösen Glaubens konkrete Aussagen gewinnen, welche Glaubensdispositionen für die jeweiligen Personen folgen (sollten). Hat eine Person demzufolge etwa schon erkannt, dass das Absolute allumfassend und ,wahrhaft unendlich‘ ist, disponiert sie sich damit selbst zur Akzeptanz der weitergehenden Aussage, dass das Absolute mit absoluter Notwendigkeit existiert und ontologisch unabhängig ist.27 Da die letztere Aussage eine begriffliche Inferenz korrekt artikuliert, hat diese Glaubensdisposition für die Person zugleich eine normative Komponente. Mit R. Brandom gesprochen verpflichtet sie sich auf das Ziehen dieser Konsequenz spätestens in dem Moment, wo sie den ersten Begriff selbstbewusst gebildet hat.28 Nach dem oben Gesagten kann die Erfüllung solcher „conceptual commitments“29 mindestens drei verschiedene, aber miteinander eng verbundene Richtungen einschlagen: In ihr kann das religiöse Bewusstsein erstens die Natur des Absoluten selbst näher bestimmen. Daraus kann es zweitens die Implikationen für die Bestimmung des Verhältnisses des Absoluten zur kontingenten und endlichen Wirklichkeit ziehen.30 Schließlich kann es 26 Hegels Entwicklungsthese wird im nächsten Abschnitt ausführlicher diskutiert. Die schon erwähnte Behauptung, dass „Religion“ das „Wissen des göttlichen Geistes von sich durch die Vermittlung des endlichen Geistes“ (VPR 3, S. 222 Fn.; vgl hierzu H 2015, S. 158) sei, werde ich unten in Kap. III.5.5 und III.5.6 genauer rekonstruieren. Denn aufgrund der naheliegenden Missverständnisse hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der menschlichen Bezugnahme und dem Absoluten, die in vielen Interpretationsansätzen der Tendenz nach schlicht zusammenfallen, erfordert sie eine gesonderte Diskussion. 27 Zu den Details von Hegels logischer Begründung dieser These vgl. oben II.2.5. 28 Diesen Typ der „conceptual norms“ (B 2009, S. 33) nennt Brandom auch „ampliative responsibility“ (ebd., S. 36), mit der sich ein rationales Lebewesen implizit darauf verpflichtet, die materialen Inferenzen der jeweiligen Begriffe konsistent und vollständig zu artikulieren. Die selbstbewusste Anerkennung solcher ,konzeptueller Verpflichtungen‘ wäre daher ein Indikator für das, was B. Irlenborn die „[e]rkenntnistheoretische Lernoffenheit“ (I 2017, S. 740) einer religiösen Person nennt. 29 B 2009, S. 64. 30 Da sich der Besitz fundamentaler Begriffe des Absoluten gerade aus dem Wissen um die Konstitution endlicher und kontingenter Individuen ergibt, kann die Implikationsbeziehung auch in die andere Richtung ausbuchstabiert werden.
4.1 Hegels ,kritischer Inklusivismus‘ und dessen Konsequenzen
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beide Betrachtungen zur Grundlage für die eigene Positionsbestimmung im Verhältnis zwischen dem Absoluten und der Welt machen und auf dieser Basis drittens das Selbstverständnis seiner religiösen Praxis ausbilden. Wie Hegel diese abstrakten Überlegungen in seinen Deutungen der Religionsformen konkretisiert, wird im nächsten Abschnitt noch genauer erläutert. Hier soll zunächst eine doppelte Konsequenz für die Bewertung des epistemologischen Ausgangsproblem festgehalten werden: Da die logisch späteren Begriffe jeweils nur die selbstbewussten Explikationen der früheren sind, folgt erstens, dass die späteren Begriffe die früheren in sich enthalten und damit die Aussagen, die aus diesen folgen, nicht als solche ungültig machen.31 Wenn Hegels Theorie religiösen Denkens korrekt ist, dann ergibt sich im idealen Grenzfall die Möglichkeit einer Religionsform, die die maximale Anzahl aller konzeptueller Verpflichtungen in dem Rahmen selbstbewusst erfüllt, der für Religion im engeren Sinne kennzeichnend ist.32 Und dies heißt genauer, dass spätestens die höherstufige philosophische Reflexion auf die figurativen Elemente dieser Religion offenlegen kann, dass das Absolute als ,absolute Idee‘ mit all seinen theoretischen und axiologischen Konsequenzen in ihr ,vorstellig‘ gemacht wird. Denn nur unter dieser Beschreibung kann das Absolute nach Hegel erst korrekt und vollständig erfasst werden.33 Seine weitergehende Überzeugung ist es dabei, dass diese Möglichkeit von genau einer Religionsgestalt erfüllt wird, die sich in philosophisch gerechtfertigter Hinsicht mit dem Christentum identifizieren lässt. Im Anschluss an die Terminologie von B. Irlenborn kann man Hegels Religionstheorie damit als Plädoyer für eine starke Variante des epistemischen Inklusivismus verstehen.34 Ihm zufolge gilt, dass es genau ein religiöses Überzeugungssystem gibt bzw. geben muss, das alle erfüllten Wissensansprüche der anderen, von ihm unterschiedenen religiösen Überzeugungssysteme in sich enthält.
31 Mit B. Irlenborn, der einen ähnlichen Gedanken im Anschluss an J. Searles Referenztheorie entwickelt, kann man diese Kernannahme auch „[e]pistemische Inklusivität“ (I 2017, S. 738) nennen. Vgl. ebd., S. 738 f. Auf Basis dieser These ist folgende Schlussfolgerung von V. Hösle ungültig: „Wenn eine Religion oder Philosophie wahr ist, dann muß jede andere falsch sein – das ist eine Grundüberzeugung, die Religion und Philosophie gemeinsam ist und die diese nicht verleugnen können, ohne ihr Wesen aufzugeben.“ (H 1987, Band 2, S. 601) 32 Der komplexe Zusammenhang zwischen den Ebenen des Religionsbegriffs und deren figurativer Ausdruck zeigt an, dass die Bewertung einer Religionsform sich nicht nur auf den ,metaphysischen Begriff‘ beschränken muss. Der Einfachheit halber werde ich mich hier hauptsächlich auf die konzeptuellen Verpflichtungen konzentrieren. 33 Zur Auffassung und Beschreibung des Absoluten als ,absolute Idee‘ vgl. oben Abschn. II.4.2 und II.4.3. 34 Vgl. I 2017, S. 735–741. Anders als in F. Hermannis Rede von Hegels Inklusivismus betrachte ich an dieser Stelle lediglich das Verhältnis der verschiedenen religiösen Wissensansprüche und noch nicht die Adäquatheit verschiedener Religionsformen hinsichtlich des ganzen Religionsbegriffs. Vgl. H 2013.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Diese These erlaubt zweitens sowohl eine genauere Verhältnisbestimmung der verschiedenen Religionsformen als auch eine Erklärung der Rolle, die die Religionsphilosophie darin zu spielen hat. Hegel ordnet nämlich jeder Religionsform eine Konzeption des Absoluten in Form eines bestimmten ,metaphysischen Begriffs‘ zu und versucht u.a. auf diese Weise die Frage ihrer Individuierung zu klären.35 Die Unterscheidung und Bewertung der Religionsformen vollzieht sich damit für Hegel außerhalb des Rahmens aller Religionsformen und zwar aus dem einfachen Grund, dass Hegels Religionstheorie nicht selbst der religiösen Erkenntnisform im engeren Sinne zuzuordnen ist.36 Daher ist Hegels Inklusivismus – mit F. Hermanni gesprochen – im doppelten Sinne ,kritisch‘37: Zum einen bewertet sie alle Religionsformen in philosophischer Hinsicht danach, inwiefern ihre jeweiligen Konzeptualisierungen dem Begriff des Absoluten (und allen seinen Konsequenzen) tatsächlich gerecht werden.38 Da nun auch Hegels Theorie des religiösen Denkens Aussagen darüber fällt, was über das Absolute geglaubt werden sollte, unterliegt sie zum anderen selbst demjenigen Maßstab, den sie an die jeweiligen Religionsformen heranträgt. Mit diesen Überlegungen kann man die eingangs entwickelten Voraussetzungen des epistemologischen Einwands abschließend wie folgt bewerten: Erstens muss Hegel Formulierungen der Inkompatibilitätsbehauptung (i) verwerfen, die diese Annahme ultima facie aus der Perspektive einer einzelnen Religionsform heraus verstehen. Solche Exklusivitätsansprüche ergeben sich dann, wenn im Selbstverständnis von Religionen die Beschreibungen einiger, aber nicht aller essentiellen Momente des Absoluten als vollständige Beschreibungen aufgefasst werden,39 während spätestens in der Theorieperspektive deren Einseitigkeit ein-
35 Vgl. u.a. VPR 3, S. 58. Wie man dies genau zu verstehen hat, wird uns im nächsten Abschnitt genauer beschäftigen. 36 Sie bewegt sich damit auch, anders als Leuze und Hodgson glauben, außerhalb des Christentums. Vgl. L 1975, S. 243 f. und H 2005, S. 219.; und zur Kritik bes. L 2011, S. 187 und H 2013, S. 153. Mit dieser kritischen Dimension wird m.E. auch die Kritik an der sog. ,Superioritätsbehauptung‘ dogmatischer Formen des Inklusivismus entschärft, die bisweilen von pluralistischer Seite vorgebracht wird. Vgl. u.a. SL 2017. Diese Kritik setzt eine enge Verbindung zwischen epistemischen, soteriologischen und moralischen Elementen voraus, die zwar in der Rede von der ,Religionstheologie‘ bisweilen miteinander verschaltet werden (vgl. S-L 2005, Kap. 2), die man aber zunächst unterscheiden sollte. Vgl. L 2006, S. 32f und W 2007, S. 142 f. Und selbst wenn man annimmt, dass diese Elemente untrennbar sind, dann müssen sich Christen zumindest nicht unmittelbar auf den soteriologischen Exklusivismus verpflichtet fühlen, der weite Teile ihrer Tradition beherrscht hat. Vgl. hierzu bes. H 2019. 37 Vgl. H 2011, S. 203–214 und . 2013. 38 Für die epistemische Bewertung eines bestimmten religiösen Überzeugungssystems gilt daher Hegels Aussage, die er gegen den Beweis e consensu gentium vorbringt: „Es kommt nicht darauf an, was an sich in einem Gegenstande enthalten sey, sondern was davon für das Bewußtseyn heraus ist.“ (Enz. § 71A, GW 20, S. 112 Fn.) 39 In diesem Sinne tendieren etwa nach Hegel besonders monotheistische Religionstypen zu stärkeren Formen des alethischen Exklusivismus. Vgl. hierzu etwa H 2005, S. 231.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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leuchten sollte.40 Dies hat zweitens Konsequenzen für die entscheidende Voraussetzung (iii), die die Gleichberechtigung aller religiösen Erkenntnisansprüche ausdrückt. Denn wenn es sich herausstellen sollte, dass eine Religionsform mehr begriffliche Verpflichtungen erfüllt und sich daraus ein angemessenes Selbstverständnis bildet, dann besteht kein Grund mehr, die Behauptung der universellen, epistemischen Parität zu akzeptieren. Schließlich meint Hegel, dies mit seiner philosophischen Interpretation des Christentums im echten Sinne nachgewiesen zu haben.41 Erweitert man in seinem Sinne den Begriff philosophischer Beweise, wäre für Hegel drittens die Annahme der Unbeweisbarkeits- bzw. Unentscheidbarkeitsbehaupung (ii) anfechtbar.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität Wenn Hegel also recht hat, dann lassen sich alle Annahmen des epistemologischen Einwands bestreiten. Um seine Antwort allerdings in all seinen Aspekten zu würdigen, reicht der Blick auf seine Binnendifferenzierung des Religionsbegriffs keineswegs aus. Vielmehr meint Hegel generell, der Spezifikation in bestimmte Religionsformen entspreche eine Form der Entwicklung, indem das, was die religiöse Bezugnahme auf das Absolute wirklich ausmacht, sukzessive Teil des religiösen Selbstbewusstseins wird. Entsprechend heißt es im Manuskript gleich im Anschluss an die im letzten Abschnitt zitierte Passage: Die Religion hat diese Bestimmtheiten zu durchlaufen, um aus ihnen sich die Natur ihres Begriffs [zu] gewinnen oder ihren Begriff sich gegenständlich (in der Vorstellung) zu machen, denn diese Bestimmtheiten sind die Momente, das Werden des Begriffs, und ihre Auflösung, Rückkehr ist eben der Begriff selbst. (VPR 4, S. 2; der Zusatz in der Klammer stammt vom Hrsg.)42
Die Logik der Selbstexplikation des Religionsbegriff erfolgt nun nach Hegel in einer Reihe von Stufen, in denen die spätere jeweils die frühere voraussetzt.43 Sie lässt daher nicht nur konkrete Aussagen hinsichtlich ihrer Bewertung, sondern auch bezüglich ihrer historischen Genese zu. Da für Hegel nämlich nicht alle 40 Einen ähnlichen Gedanken entwickelt W. Alston innerhalb seiner Theorie religiöser Präsenz-Erfahrungen. Vgl. A 2005b, S. 210–212. 41 Der Nachweis besteht hier nicht in einem deduktiven Beweis, sondern eher in der immanenten Kritik religiöser Selbstverständnisse, die dann zur Auszeichnung der ,vollendeten Religion‘ führen soll. Dazu mehr im folgenden Abschnitt sowie unten in Kap. III.5. 42 Diese Entwicklungsthese äußert Hegel in allen vier Vorlesungszyklen. Vgl. VPR 3, S. 28 f., 56–58, 84–86, 352; VPR 4, S. 143 f., 414 f. und 611. 43 Da in der Religion im vollen Sinne für Hegel zugleich die Natur des Absoluten manifest wird (vgl. oben Fn. 25), muss ihre geschichtliche Entwicklung daher immer auch als eine Form der Selbstexplikation und -darstellung des Absoluten in der Geschichte verstanden werden. Vgl. auch VPR 3, S. 85 f. Fn.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Momente des Absoluten und deren Implikationen für das Selbst- und Weltverständnis in einem Nu reflexiv eingeholt werden können, folgt für Hegel, dass sich die Gesamtentwicklung des religiösen Bewusstseins in der Geschichte vollziehen muss.44 Setzt man mit Hegel dabei voraus, dass sich die Etappen dieser Geschichte mithilfe der ,metaphysischen Begriffe‘ einzelnen Religionsformen zuschreiben lassen, ergibt sich die für unseren Kontext zweite wesentliche These Hegels. Ihr zufolge muss es mit metaphysischer Notwendigkeit mehr als ein religiöses Überzeugungssystem geben. Damit kehrt Hegels Pluralitätsthese das eingangs entwickelte theologische Problem gewissermaßen gegen sich selbst. Weit davon entfernt, dass die Vielheit religiöser Wissensansprüche die Möglichkeit echter Gotteserkenntnis unterminiert oder gar eliminiert, ist sie vielmehr die notwendige Grundlage seiner Verwirklichung. Ganz in diesem Sinne schreibt Hegel im Kolleg von 1824 der Religionsphilosophie das Potential einer „Theodizee“ (VPR 3, S. 60)45 zu. Einwände gegen Hegels Pluralitätsthese Trotz seiner bemerkenswerten Konsequenzen hat Hegels Pluralitätsthese in der Literatur vielfach systematische Zweifel hervorgerufen, die man in drei Gruppen von Einwänden einteilen kann. Gemäß der Verbindung verschiedener Ebene und Ziele, die oben in der Einführung benannt wurden, lassen sich (1) Hegels Systematisierung, (2) die daraus folgende Evaluation und schließlich (3) seine historisch-genealogischen Schlussfolgerungen angreifen. Eine systematische Bewertung von Hegels Thesen wird um eine Beschäftigung mit diesen Einwänden nicht herumkommen. Dabei bietet es sich an, insbesondere die Einwandtypen (1) und (2) zu diskutieren. Denn, wie die Hegelforschung zu Recht betont, ist die starke These, es gäbe eine einheitliche Religionsgeschichte, in der eine historisch spätere Religionsgestalt in direkter Auseinandersetzung die zeitlich frühere ablöst, sicherlich nicht haltbar. Nicht nur gibt Hegel unschlüssige Argumente für seine These.46 Sie scheitert spätestens an der tatsächlichen Geschichte der histo-
44 Vgl. etwa die Argumentationsstränge in VPR 3, S. 58 f., 90 f.; VPR 4, S. 415 und die Rekonstruktion in J 1986, S. 291; L 2011, S. 197 und H 2015, S. 159. Eine zusätzliche Prämisse für diese These findet sich in Enz. § 562A, wo Hegel im Rückgriff auf die entwickelten Zusammenhänge zwischen dem ,objektiven‘ und dem ,absoluten Geist‘ in Enz. § 552 für die Einheit der Welt-, Kunst- und Religionsgeschichte argumentiert. Vgl. Enz. § 562A, GW 20, S. 547. 45 Vgl. hierzu auch H 2015, S. 155. 46 Aus der oben wiedergegebenen hegelschen Prämisse folgt – wenn überhaupt – nur die generelle These, dass es eine Entwicklung des religiösen Bewusstseins in der Geschichte geben muss. Es folgt aber keineswegs die stärkere Behauptung einer kontinuierlichen und einheitlichen historischen Abfolge verschiedener Religionsformen. Vgl. die berechtigte Kritik in J 1986, S. 291 f.; . 22010, S. 466 und L 2011, S. 197 f. Allerdings reicht der Hinweis auf diesen Fehlschluss nicht aus, um Hegels Schluss auf die allgemeine Geschichtlichkeit des religiösen Bewusstseins zu blockieren und damit Hegels Religionstypologie voll-
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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rischen Religionen und wird zudem von Hegel selbst nicht konsequent durchgeführt.47 Da sich aber die Religionstypologie von konkreten genealogischen Thesen abkoppeln lässt48 und die Bewertungsebene wiederum von der Systematisierung abhängig ist, kann man sich auf die erste Gruppe von Einwänden zu konzentrieren, die insbesondere von W. Jaeschke vorgebracht wurden. Jaeschke behauptet, dass die Binnendifferenzierung des Religionsbegriffs zwar spätestens 1827 ausgereift ist, aber per se keine internen Prinzipien erkennen lässt, die Hegels konkrete Entwicklungslogik stützen könnte.49 Dieser Mangel werde nun bei Hegel dadurch kompensiert, indem er stets externe Kriterien heranziehe, die im Laufe der Kollegien fast alle verworfen oder zumindest stark modifiziert werden. In diesem Sinne systematisiere Hegel die Religionsformen 1821 in erster Linie gemäß der globalen Einteilung der WdL, ab 1824 hingegen durch die Gottesbeweise und die ,metaphysischen Begriffe‘. In den letzten Vorlesungen werde schließlich der Bezug zu den kategorialen Bestimmungen fast zum Verschwinden gebracht, indem 1827 die Gottesbeweise lediglich im ersten Teil der Religionsphilosophie besprochen werden und diese 1831 nur noch partiell als Ordnungskriterium auftreten.50 Jaeschkes Einwand lässt Hegels Experimentieren mit verschiedenen Systematisierungsprinzipien aber willkürlicher erscheinen als es tatsächlich ist. Wie in den Einzelanalysen von Teil II gezeigt wurde, stellt Hegel einen systematischen Zusammenhang zwischen dem kategorialen Wissen der Gläubigen, seinem syllogistischen Ausdruck in den Gottesbeweisen und der spekulativen Rekonstruktion dieser Schlüsse in Rahmen der WdL her.51 Die Systematisierung nach den Gottesbeweistypen, die Hegel schon 1821 konkret anwendet,52 ,ersetzt‘ in diesem Sinne gar nicht die Orientierung an der Einteilung der Logik, sondern ist nur dessen konsequentere Anwendung.53 Jaeschkes Behauptung wird nur dann plausibel, wenn man Hegel unterstellt, er übernehme blind die kantische Dreiteilung der Gottesbeweise.54 In Abschnitt II.4.1 wurde aber ausführlich dargelegt, dass ständig von einer generellen Entwicklungsthese zu trennen. Vgl. die Kritik an Th. Lewis in H 2013, S. 159 Fn. 68. Wie sich Hegels These der Geschichtlichkeit in einem alternativen Rahmen gerechtfertigt und überzeugend vertreten lässt, hat F. Hermanni gezeigt. Vgl. ebd., S. 159 f. 47 Vgl. J 22010, S. 464 f.; L 2011, S. 196–198 und H 2013, S. 158. 48 Vgl. J 22010, S. 465 f. und H 2013, S. 158–160. 49 Vgl. J 1986, S. 276–283; . 1994, S. XXIVf. und . 22010, S. 463. 50 Ähnlich gelagerte Bedenken zur ,Äußerlichkeit‘ von Hegels Systematisierungskriterien äußert auch P. Hodgson. Vgl. H 2005, S. 212 und 217–219. 51 Vgl. hierzu oben die Schlussbemerkungen von Abschn. II.2.5 sowie Abschn. II.4.1 und II.4.3. 52 Vgl. VPR 4, S. 5–10, 34–40, und 100–11. Jaeschke bemerkt dies selbst, etwa in J 1986, S. 279. 53 Hegels allgemeine Orientierung an der Dreiteilung der WdL im Manuskript von 1821 hat Fr. Schick überzeugend gegen Jaeschke verteidigt. Vgl. S 2013. 54 Vgl. J 1986, S. 279 f.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Hegel neben der Schlussrichtung v.a. die involvierten logischen Kategorien als Einteilungskriterium in Betracht zieht, die in Kants Systematisierung keine tragende Rolle spielen. Daher kann Hegel gerade im Kolleg von 1827, wo die früheren Einteilungsversuche nach Jaeschke scheinbar vollständig zurückgenommen werden, folgern: „Überhaupt kann man diese Beweise zu Dutzenden vermehren, jede Stufe der logischen Idee kann dazu dienen“ (VPR 3, S. 318).55 Aus dieser These folgt, dass die Systematisierung nach ,metaphysischen Begriffen‘ nur diejenigen kategorialen Bestimmungen heraushebt, die die jeweiligen Schlussfolgerungen in Beweisen ermöglichen. In diesem Sinne unterscheidet Hegel etwa 1824 Religionsformen danach, ob sie entweder die Kategorie des ,Unendlichen‘56 oder diejenigen der ,Einheit‘, der absoluten ,Notwendigkeit‘ und der ,Weisheit‘ ins Zentrum rücken.57 Analog bleibt auch 1831 die Orientierung an den Gottesbeweisen erhalten. Denn es ist zwar richtig, dass Hegel lediglich bei der Ableitung der zweiten Religionsform explizit vom kosmologischen Argument (= KA) spricht.58 Allerdings verwendet er bei der Beschreibung der vorhergehenden Religionsform ausdrücklich die für das KA relevante Kategorie der ,Macht‘, die nach Hegel in der Teilnehmerperspektive der vorhergehenden Religionsform nur undifferenziert aufgefasst wird.59 Hinsichtlich des Kollegs von 1827 schließlich nimmt Jaeschke nicht genügend zur Kenntnis, dass die Analyse der Gottesbeweise im ersten Teil der Explikation des kategorialen Wissens von Gott dienen soll.60 Und dieses wird von Hegel, wie sich gleich zeigen wird, in jeder seiner Teilinterpretationen mit in Anspruch genommen. Unabhängig von dem Willkürlichkeitsvorwurf scheint auch der Einwand der ,Äußerlichkeit‘ in der abstrakten Formulierung unzutreffend. Hegels ,metaphysische Begriffe‘ versuchen letztlich die verschiedenen religiösen Konzeptualisierungen einsichtig zu machen und zu systematisieren, die gerade konstitutiv für die religiösen Wissensansprüche sollen. Ein solches Vorgehen folgt nicht nur 55 Vgl. GVL, GW 18, S. 277 f. Von hier aus gesehen dürfte es für Hegel auch kein Problem darstellen, wenn er der ,chinesischen Religion‘ im Kolleg von 1831 die Kategorie des „Maß[es]“ (VPR 4, S. 618) zuschreibt, obwohl er – soweit ich sehen kann – nirgendwo explizit einen entsprechenden Gottesbeweis diskutiert. 56 Zum ,metaphysischen Begriff‘ der sog. ,unmittelbaren Religion‘ vgl. ebd., S. 155–171. 57 Zum ,metaphysischen Begriff‘ der ,Religionen der geistigen Individualität‘ vgl. ebd., S. 290–321. 58 Vgl. ebd., S. 615 f. 59 Vgl. ebd., S. 613. Hegels These der noch nicht eingesehen Differenz zwischen dem Absoluten, Natur und Mensch ermöglicht ihm hier gerade Schlussfolgerungen auf die konkrete Fassung dieser Religionsform. Vgl. zum Begriff der Macht auch oben II.2.5. 60 In diesem Sinne behauptet Hegel ausdrücklich: „[D]ie Explikation der Beweise vom Dasein Gottes, dieses vermittelten Wissens, ist die Explikation der Religion selbst.“ (VPR 3, S. 310) Auf diese auch in J 1986, S. 268 zitierte Stelle legt Jaeschke offenbar kein systematisches Gewicht – obwohl sich, wie sich zeigen wird, im zweiten und dritten Teil des Kollegs von 1827 direkte Übernahmen der ,metaphysischen Begriffe‘ der Gottesbeweise finden. Vgl. ferner auch VPR 5, S. 203, wo Hegel explizit – wie in den Kollegien von 1821 und 1824 – auf das ontologische Argument anspielt.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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konsequent aus den im letzten Abschnitt dargestellten Ebenen (A) und (B) von Hegels Religionsbegriff. Es reformuliert zudem die Intuitionen zeitgenössischer Entwürfe, nach denen religiöse Überzeugungssysteme sich gerade dadurch kennzeichnen, dass sie ein und dieselbe ,letzte Wirklichkeit‘ mit unterschiedlichen Begriffsschemata charakterisieren.61 Nun kann man allerdings zugestehen, die Kriterien seien zwar nicht willkürlich und äußerlich, aber mit Jaeschke darauf beharren, dass sie nicht hinreichend sind, um die konkrete Durchführung von Hegels Pluralitätsthese zu begründen. Auch dieser Einwand ist freilich präzisionsbedürftig. Denn wie schon die grobe Übersicht der verschiedenen Ebenen von Hegels Religionsbegriff zeigt, will Hegel nicht behaupten, verschiedene Beschreibungen des Absoluten würden allein die notwendige Pluralität der Religionen rechtfertigen.62 Was für Hegel vielmehr entscheidend ist, ist die Bildung eines Welt- und Selbstverständnisses im Rahmen eines schon implizit erschlossenen, aber in der Regel figurativ ausgedrückten ,metaphysischen Begriffs‘.63 Ein erfolgreicher Einwand müsste also Hegels Annahme bezweifeln, dass sich die Pluralitätsthese in dieser Form aus der Interdependenz der verschiedenen Ebenen und Momente des Religionsbegriffs rechtfertigen lässt.64 Hegels Rekonstruktion und Deutung der Religionsformen Schon der Ansatz eines Versuchs, Hegels Annahmen zu plausibilisieren, muss diesem Einwand aber gewisse Zugeständnisse machen. Denn zwar erhält Hegel in allen Kollegien die Überzeugung aufrecht, es müsse neben der ,vollendeten Religion‘ mindestens zwei weitere Religionsformen geben, und auch seine Zuordnung der ,metaphysischen Begriffe‘ bleibt relativ konstant. Dennoch sind die 61 Vgl. u.a. A 1991, S. 188–190. Einen Zusammenhang zwischen der Struktur bzw. den Bewertungskriterien von metaphysischen und religiösen Überzeugungssystemen stellen u.a. W. Wainwright und W. Löffler. Vgl. W 1995 und L 2010. Für eine positive systematische Würdigung von Hegels These des Zusammenhangs der Gottesbeweise und der religiösen Gottesauffassungen vgl. ferner bes. P 2015, S. 104. 62 Vgl. hierzu auch S 2013, S. 415–417. Unabhängig davon hat F. Hermanni ausführlich dafür argumentiert, dass sich die Pluralität der Religionsformen aus den unterschiedlichen Exponierungen der Momente des Religionsbegriffs ergibt, die aus den Verhältnisbestimmungen des menschlichen und ,absoluten Geistes‘ folgen (vgl. oben Fn. 25) und die von Hegel als Selbstexplikation der Momente des ,absoluten Geistes‘ in der Geschichte verstanden werden. Vgl. bes. H 2015, S. 159–162 und zur Kritik an Jaeschke auch ebd., S. 163–165. 63 Darüber hinaus verwendet Hegel schon ab 1821 bisweilen außerlogische, ästhetische Kategorien, wenn er etwa die zweite Religionsform „Religion der Erhabenheit und Schönheit“ (VPR 4, S. 29) nennt. 64 Ein wichtiger Teil des so reformulierten Einwandes ist der m.E. nicht unberechtigte Vorwurf von Jaeschke, dass die Orientierung an der Logik und den ,metaphysischen Begriffen‘ nicht immer eine unzweideutige und überzeugende Zuordnung zu Religionsformen bzw. Religionsgestalten ermöglicht. Vgl. etwa J 1986, S. 276–283.
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Differenzen in der konkreten Ordnung der Religionsformen so groß, dass das man Grund zur Vermutung hat, dass auch seine letzte Systematisierung im Kolleg von 1831 Hegel nicht vollständig befriedigt haben könnte.65 Welche genauen Konsequenzen dies für die Pluralitätsthese und deren evaluative Konsequenzen hat, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Dazu werde ich paradigmatisch auf die Analyse zweier Religionsformen in den letzten beiden Kollegien von 1827 und 1831 eingehen. Diese Auswahl rechtfertigt sich m.E. aus zwei Gründen: Erstens stellt das Kolleg von 1831, wie gesagt, Hegels letzten Systematisierungsversuch in groben Zügen dar, der – anders als im Kolleg von 1827 – noch expliziter auf seine Analysen der Gottesbeweise zurückgreift und daher für den Kontext der vorliegenden Untersuchung besonders gut geeignet ist. Umgekehrt bietet das Kolleg von 1827 aufgrund der besseren Überlieferung umfangreichere Interpretationen der einzelnen Religionsformen und kommt bei deren Einordnung und Bewertung zu teilweise radikal unterschiedlichen Konklusionen. Ein kurzer Abgleich beider Kollegien kann daher zweitens die möglichen Gründe von Hegels geänderter Meinung offenlegen und von dort aus die systematische Tragweite der Pluralitätsthese und von Hegels unterschiedlichen Beurteilungen der Religionsformen ermessen. Um eine Vergleichsgrundlage der Kollegien herzustellen und die Erklärungskraft der bislang rekonstruierten Momente von Hegels Religionsbegriffs zu prüfen, werde ich jeweils zunächst Hegels Ableitung der entsprechenden Religionsform mit den Ebenen seines Religionsbegriffs systematisch rekonstruieren, wie sie zu Beginn des letzten Abschnitts dargestellt und erläutert wurden. In einem zweiten Schritt werden dann die Einordnung und die Deutung der Religionsformen in den letzten beiden Kollegien untersucht. Eine systematische Rekonstruktion anhand von Hegels Theorie des religiösen Denkens hat den Vorteil, dass die spezifische Rolle des kategorialen Wissens und der ,metaphysischen Begriffe‘ des Absoluten für die konkrete Konstitution der Religionsformen genauer betrachtet werden kann. Daher wird im Folgenden gezeigt, dass Hegel, wie oben schon erwähnt, auch in den beiden letzten Kollegien an dieser Dimension seiner Religionsepistemologie festhält. Aus Gründen der Symmetrie zu Teil II der vorliegenden Studie, in dem das kategoriale Wissen anhand der Dreiteilung der Gottesbeweise umfassend analysiert wurde, hat die folgende Interpretation zudem eine gewisse Nähe zur Dreiteilung aller Religionsformen, wie Hegel sie im Kolleg von 1824 vornimmt, und nicht zur Vierteilung, die in den übrigen Kollegien verfolgt wird.66 Wie nicht zuletzt das Kolleg von 1831 zeigt, legt man sich zwar
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So auch etwa die Schlussfolgerung von P. Hodgson. Vgl. H 2005, S. 217 f. Die folgende Interpretation kann daher als Komplement und Ergänzung zu den Untersuchungen von F. Schick und F. Hermanni verstanden werden, die sich jeweils systematisch am ersten und am dritten Kolleg orientieren. Vgl. nochmals S 2013; H 2015 und . 2017. Ähnlich wie F. Schick werde ich mich dabei weniger auf den spekulativen Religionsbegriff konzentrieren, aus dem die Religionsformen als Stufen der geschichtlichen Selbstexplikation des ,absoluten Geistes‘ erklärt werden können, wie F. Hermanni 66
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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mit der Orientierung an den Gottesbeweisen nicht direkt auf diese Einteilung fest. Dennoch sollen zum Abschluss der folgenden Interpretation einige systematische Anfragen an die exponierte Stellung der sog. ,römischen Religion‘ gestellt werden, die in den Kollegien von 1821, 1827 und 1831 jeweils eine eigene Religionsform bildet. Die erste Religionsform Hegels systematische Möglichkeiten der Einteilung der Religionsformen müssen sich offensichtlich aus den Faktoren ergeben, die seinen Religionsbegriff konstituieren: Wie wir zu Anfang von III.4.1 gesehen haben, zeichnet sich eine religiöse Haltung für Hegel zunächst dadurch aus, dass in ihr ein implizit gebildeter Begriff des Absoluten im Rahmen einer ,Vorstellung‘ zum Ausdruck gebracht wird. ,Metaphysische Begriffe‘ sollen sich dabei durch ihre jeweilige ,Konkretion‘ von kategorialen Bestimmungen unterscheiden und systematisieren lassen, die dann einen Maßstab für die Authentizität der jeweiligen Gottesvorstellung bildet.67 Für die Einteilung der Religionsformen bedeutet dies, dass sich die genaue Verhältnisbestimmung zwischen dem Absoluten und der von ihm unterschiedenen Wirklichkeit wesentlich danach bestimmt, wie viel sich aus dem jeweils schon gebildeten Begriff direkt einsehen lässt.68 In Abschnitt II.2.5 wurde darauf hingewiesen, dass Hegel insbesondere den Begriff der ,wahren Unendlichkeit‘ zu den fundamentalsten theologischen Bestimmungen zählt.69 Stellt das religiöse Bewusstsein nun diese Kategorie in den Mittelpunkt ihres theoretischen und praktischen Interesses, ergibt sich unter hegelschen Prämissen folgendes: Zunächst ermöglicht diese Konzeption den Gläu-
überzeugend gezeigt hat. Der Fokus der folgenden Deutung ist zum einen dem Untersuchungsgegenstand der Studie geschuldet. Zum anderen soll – wie schon oben in Fn. 26 erwähnt – Hegels Begriff des ,absoluten Geistes‘ gesondert in Abschn. III.5.5. untersucht werden. Wie oben schon dargelegt, verhalten sich Hegels Systematisierungsansätze in seinem Selbstverständnis komplementär zueinander. Die vorliegende Interpretation verfolgt in diesem Sinne die Absicht, die besondere Rolle der religiösen Konzeptionen des Absoluten in Form ,metaphysischer Begriffe‘ ergänzend in den Blick zu nehmen, um von dort aus systematische Brücken zu Hegels vollem Religionsbegriff zu schlagen. Auf die Übereinstimmungen mit Hegels Ableitung aus dem vollen Religionsbegriff werde ich daher in Anmerkungen eingehen. 67 Vgl. hierzu die Erläuterungen in Abschn. III.3.2. 68 Dieser Gedanke folgt dem allgemeinen (religions-)philosophischen Programm, dass Hegel in Enz. § 573A formuliert: „Diese Vorstellungsweisen und Systeme gehen von dem Einen und dem gemeinschaftlichen Bedürfnisse aller Philosophien wie aller Religionen aus, eine Vorstellung von Gott und dann von dem Verhältniß desselben und der Welt zu fassen. In der Philosophie wird es näher erkannt, daß aus der Bestimmung der Natur Gottes sich sein Verhältniß zur Welt bestimmt.“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 565) 69 Vgl. im Folgenden auch die Rekonstruktion von F. Schick, die allerdings im Anschluss an das Manuskript von 1821 von anderen (seinslogischen) Kategorienpaaren ausgeht. Vgl. S 2013, S. 421–427.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
bigen die Einsicht, dass endliche Individuen hinsichtlich ihrer essentiellen Identität nicht nur auf andere endliche Individuen, sondern auch und v.a. auf eine Entität ausgerichtet sind, deren Natur zum Ausdruck bringt, was diese wirklich ausmacht.70 Bildet dies die einzige konzeptuelle Perspektive, hat dies vor dem Hintergrund der verschiedenen Ebenen religiöser Haltungen folgende Konsequenz: In ontologischer Hinsicht wird zwar klar, dass eine Unterscheidung zwischen den Bereichen des Endlichem und des Unendlichen gemacht werden muss. Gleichzeitig ist aber zum einen noch relativ unbestimmt, wo genau diese Grenzlinie verläuft; zum anderen kann diese Linie stets auch dadurch verwischt werden, dass das ,wahrhaft Unendliche‘ nicht radikal vom Endlichen getrennt sein kann, sondern das Endliche in seinem Wesen spezifisch zur Darstellung bringt.71 Nun ergibt sich für Hegel aus der Natur der religiösen Erkenntnisform, dass für diesen implizit erschlossenen metaphysischen Gehalt ein passender Ausdruck gesucht wird, mit dem sich religiöse Personen das Absolute modellhaft ,vorstellen‘ können. Aufgrund des unbestimmt bleibenden Verhältnisses von Einheit und Differenz folgt für die erste Religionsform in epistemologischer Hinsicht der Grenzfall einer religiösen ,Vorstellung‘, in der das Absolute mit seinem natürlichen oder geistigen Analogat identifiziert wird, in dem am ehesten dessen paradigmatische Stellung direkt oder indirekt anschaulich wird.72 Diese herausragende Stellung kann dadurch noch näher bestimmt werden, dass das identifizierte Absolute sich durch eine besondere augenscheinliche Kraft oder Macht über das von ihm unterschiedene Endliche auszeichnet.73 Mit dieser allgemeinen Bestimmung meint Hegel über ein begriffliches Instrumentarium zu verfügen, um sowohl magische Praktiken als auch Formen der religiösen Naturverehrung kategorial einzufangen. Im ersten Fall identifizieren
70 Zum Verhältnis der ,wahren Unendlichkeit‘ zum ,Endlichen‘ vgl. oben II.2.5. Dieser Begriff ist folglich auch konstitutiv für Hegels Auffassung des ,absoluten Geistes‘. Vgl. H 2013, S. 142–144. 71 In diesem Sinne bringt besonders diese erste Religionsform für Hegel die Allgegenwart des Absoluten im Endlichen zum Ausdruck: „Es hat auch deswegen Interesse, die Naturreligion kennenzulernen, um auch in ihr vor das Bewußtsein zu bringen, daß dem Menschen von jeher Gott überhaupt etwas Präsentes ist, und um so zurückzukommen von dem abstrakten Jenseits Gottes.“ (VPR 4, S. 429) Zur Engführung der Omnipräsenz mit dem ,wahren Unendlichen‘ vgl. auch Enz. § 573A, GW 20, S. 568 und oben II.2.5, S. 242. 72 Vgl. den analogen Schluss in S 2013, S. 425. ,Anschaulichkeit‘ unterscheidet diese Religionsform von logisch späteren wie der sog. ,ägyptischen Religion‘, wo natürliche Vorgänge nach Hegel explizit als ,Symbole‘ verstanden werden. Vgl. hierzu etwa VPR 4, S. 524 f. Die Einordnung der ,unmittelbaren Religion‘ als eine Religion der ,Anschauung‘ findet sich schon im Manuskript, wo Hegel über die religiöse Hochschätzung natürlicher Entitäten und deren (dort nicht bewusste) Repräsentationsfunktion bemerkt: „Solcher Naturgegenstand ist nicht Symbol, so daß dessen Bedeutung des Unendlichen unterschieden wäre im Denken und Vorstellung von seiner unmittelbaren Existenz, sondern Sonne usf. sind [für] das Selbstbewußtsein der unmittelbar gegenwärtige Gott.“ (ebd., S. 13; Zusatz in Klammern v. Hrsg.). Vgl. in diesem Kontext auch C 2012, S. 33. 73 Vgl. VPR 4, S. 429 und S. 613.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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sich bestimmte religiöse Subjekte quasi selbst mit der ,geistigen Macht‘ über die Dinge. Im zweiten Fall hingegen werden bestimmte natürliche Entitäten herausgegriffen, die eine augenscheinlich dominante Rolle im Kosmos einnehmen.74 Gleichzeitig wirft diese Charakterisierung für Hegel selbst Fragen auf. Einerseits bringt die ,Anschaulichkeit‘ des Absoluten in der schon unterschiedenen, endlichen Wirklichkeit Hegel dazu, eine kognitive Einstellung als ,religiös‘ einzustufen, die gerade die klare Unterscheidung zwischen ,Anschauung‘ und ,Vorstellung‘ aufzuheben scheint.75 Diese Konsequenz muss freilich nur solche Lesarten stören, die Hegels Differenzierung der Erkenntnisformen ohne deren intrinsischen Zusammenhang verstehen, der besonders für die religiöse Überzeugungsbildung konstitutiv ist. In Abschnitt III.3.2 wurde aber ausführlich dafür argumentiert, dass die Bildung einer Vorstellung des Göttlichen ohne die gleichzeitige Ausübung der Fähigkeiten des Denkens und der Anschauung überhaupt nicht möglich ist. Hegels Theorie der religiösen Erkenntnis beinhaltet daher durchaus begriffliche Mittel, um Fälle direkter Naturverehrung einzuordnen.76 Allerdings ergibt sich andererseits das Problem, dass eben aufgrund der genannten Einheit der Vermögen bestimmte Binnendifferenzierungen der theoretischen Beschreibungsebene nicht mehr anwendbar sind: Eine bestimmte natürliche Entität wird in diesem Sinne eben nicht als natürliche in unserem Alltagssinn verehrt,77 bspw. weil sie raumzeitlich verkörpert ist und in kausalen Regularitätsbeziehungen etc. steht.78 In ihr ist vielmehr eine Form der geistiger ,Macht‘ präsent, die in der Teilnehmerperspektive dieser Religionsform nicht nach der heute gängigen metaphysischen Unterscheidung des ,Mentalen‘ und ,Physischen‘ verstanden wird:
74 Vgl. ebd., S. 428 f. und zur ,Zauberei‘ bes. S. 435–437 und 613. Aufgrund des spezifischen Selbstverständnisses geistiger Lebewesen und der darin impliziten Höherbewertung des eigenen Lebensvollzugs meint Hegel folgern zu können, dass magische Praktiken logisch früher sind als die religiöse Anbetung natürlicher Entitäten. Vgl. ebd., S. 428. Für Hegel gibt es sogar konkrete Fälle einer atheistischen oder naturalistischen Form der magischen Selbstverehrung. Vgl. etwa ebd., S. 438 f. 75 Daraus erklärt sich Hegels Vorbehalt, magische Praktiken als ,religiös‘ zu bezeichnen. Vgl. ebd., S. 429 und 435 und zur Bewertung auch H 2015, S. 166. Die aufgehobenen Grenzen zwischen Vorstellung und Wahrnehmung betont auch F. v. Kutschera in seiner Phänomenologie des von ihm so genannten ,mythischen Denkens‘. Vgl. K 1990, S. 144 f. 76 Der Fall einer Identifikation des Absoluten mit dem empirisch zugänglichen Vorstellungsmedium wurde daher oben schon aus der Logik des hegelschen Vorstellungsbegriffs erklärt. Vgl. oben III.3.2. 77 Wäre dies nicht der Fall, würde sich Naturverehrung selbst aufheben, wie J. N. Findlay treffend schreibt: „One can worship wood and stone, but only because one endows them with marvellous, unmanifest properties of various sorts: to recognize them as mere wood and stone is to tend towards the end of one’s worship.“ (F 1967, S. 80) 78 Vgl. VPR 4, S. 434 f. und auch 176. Zum Kontrast zwischen dem ,mythischen‘ und naturwissenschaftlichen Denken vgl. auch K 1990, S. 158–160.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Naturreligion ist also nicht Religion, in der äußerliche, physische Gegenstände für Gott gehalten und als Gott verehrt werden, sondern dies, daß dem Menschen das Geistige wohl das Höchste ist, aber das Geistige zunächst in seiner unmittelbaren, natürlichen Weise. (VPR 4, S. 429)
Kennzeichnend für die erste Religionsform ist für Hegel daher die „Einheit des Geistigen und Natürlichen“ (ebd., S. 416).79 Aufgrund der in der Kategorie der ,wahren Unendlichkeit‘ eingesehenen Einheit der Wirklichkeit scheint auch die klare Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Elementen des Erkennens wegzufallen.80 Dies macht für Hegel nicht nur eine Interpretation dieser Religionsform aus der Teilnehmerperspektive unmöglich.81 Sie führt auch zur Skepsis gegenüber Zeugnissen, die von vorurteilsbeladenen Beobachtern stammen, die sich einer anderen religiösen Überzeugung zurechnen.82 Eine Konsequenz dieser Ausgangsvoraussetzungen ist die logische Spannung zwischen dem Versuch, eine bestimmte ,natürlich-geistige‘ Entität als das Unendliche zu identifizieren, und der gleichzeitigen Markierung der eingesehenen Unterschiede. Um diese Spannung aufzulösen, kommt es daher für Hegel innerhalb der ersten Religionsform zu einer stärkeren Differenzierung der verschiedenen Relata religiöser Einstellungen, die aber dennoch im Rahmen der hauptsächlich negativen Kennzeichnung des Absoluten verbleibt. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass nun die ontologische Unabhängigkeit des Absoluten und die Abhängigkeit endlicher und kontingenter Individuen stärker hervorgehoben werden.83 Zur dieser Bestimmung stehen dabei dem religiösen Bewusstsein besonders das implizit erschlossene Kategorienpaar von ,Substanz‘ und ,Akzidens‘ zur Verfügung.84 Auch hier hat die implizite metaphysische Neukonzeption direkte Fol79 Vgl. Enz. § 557, GW 20, S. 544. Ähnlich wie Hegel spricht etwa F. v. Kutschera vom „psycho-physischen Monismus“ (K 1990, S. 156) und macht damit deutlich, dass die üblichen Kategorien für die Festlegung von Typenmonismen hier fehlgreifen. Folgerichtig wird in dieser Religionsform die unvermittelte und noch undifferenzierte Einheit mit dem Absoluten thematisch, die das erste Moment der geschichtlichen Selbstentfaltung des Absoluten und damit des spekulativen Religionsbegriffs darstellt. Vgl. H 2015, S. 166 f. 80 Die Wirklichkeit wird damit nicht nur, wie man im Anschluss an F. v. Kutschera sagen könnte, im Spiegel des ,Numinosen‘ (vgl. K 1990, S. 152–158) erfahren, sondern auch vor dem Hintergrund von den Haltungen und Interessen der religiösen Subjekte. Vgl. ebd., S. 142–144. Ähnlich fasst Hegel im Kolleg von 1824 die ,unmittelbare Religion‘ als eine besondere Form des ,qualitativen‘ Bewusstseins auf. Vgl. VPR 4, S. 150–152. 81 „Sie bleiben immer Gegenstände unseres Gedankens, nicht unserer Subjektivität, unseres Gefühls; fassen können wir solche Religionen, uns aber nicht hineinempfinden“ (ebd., S. 434). Vgl. auch ebd., S. 176. 82 Im Kolleg von 1824 heißt es etwa: „Die Nachrichten über den Zustand der Völker hat man besonders von älteren Missionaren; in neueren Zeiten sind die Nachrichten dagegen sparsam, und man muß daher gegen manche Nachrichten alter Zeit Mißtrauen haben, besonders, da die Missionare natürliche Feinde der Zauberer sind; indessen ist das Allgemeine unbezweifelt durch eine Menge von Nachrichten.“ (ebd., S. 180) Dass Hegel diese Maxime der Quellenskepsis äußert, bedeutet freilich nicht, dass er sie konsequent angewandt hätte. 83 Zur analogen Argumentation im Manuskript vgl. S 2013, S. 424 f. 84 Vgl. VPR 4, S. 475 f. und besonders ebd., S. 616 f.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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gen für die beiden anderen Ebenen religiöser Haltungen. Dies kann man paradigmatisch an Hegels Interpretation der sog. ,indischen Religion‘ und der ,Religion des In-sich-Seins‘ zeigen.85 Beide sollen sich dadurch auszeichnen, dass nun das Absolute als solches von der endlichen Wirklichkeit abgehoben wird, wie schon die jeweilige Benennung zeigt. Das „Nichts“ (VPR 4, S. 461), die „Leere“ (ebd., S. 462) sowie „Brahman“ (ebd., S. 483) sollen in diesem Sinne anzeigen, dass es eine Entität gibt, von denen kontingente Individuen ihrer Existenz und ihrem Wesen nach einseitig abhängen, und die sich daher von jenen in ihrem ontologischen Status radikal unterscheidet.86 Dies hat für beide Religionsgestalten ebenfalls theoretische und praktische Konsequenzen: Aufgrund der genannten radikalen Unterscheidung ist nämlich zum einen schon in der Perspektive dieser Religionsgestalten klar, dass das Absolute nicht auf demselben Weg epistemisch zugänglich ist, wie die kontingenten natürlichen Dinge. Sowohl die ,Leere‘ als auch ,Brahman‘ sind in diesem Sinne religionstheoretisch nicht direkt als ,Vorstellungen‘ klassifizierbar, sondern sind vielmehr schon für das religiöse Bewusstsein wesentlich im ,Denken‘ erfassbar.87 Dies zeigt sich nach Hegel besonders in der Tatsache, dass sich deren religiöse Praxis hauptsächlich in Formen der Meditation und Kontemplation niederschlägt.88 Zum anderen soll sich aber für Hegel der kognitive Mechanismus der ,Vorstellung‘ auch hier nicht vollständig unterdrücken lassen. So soll etwa für die ,indische Religion‘ gelten, dass in ihr zwar schon in der Konzeption von ,Brahman‘ dessen inneres Verhältnis zur Welt – im Gedanken der „Trimurti“ (VPR 4, S. 483)89 – explizit thematisch wird. Der Fokus auf negative Kennzeichnungen wird aber für Hegel dadurch kompensiert, dass in der Suche nach dem passenden Ausdruck der symbolischen Einbildungskraft sozusagen freien Lauf gelassen wird.90 Umgekehrt wird in der ,Religion des In-sich-Seins‘ die Abstraktheit und 85 Zur (In-)adäquatheit von Hegels Interpretationsversuchen vgl. etwa L 1975, S. 61–114 und O 2012. 86 Vgl. VPR 4, S. 460 f., 483–485 und 619–623. 87 Vgl. etwa ebd., S. 464, 478 und 619. Dass dies der Fall sein muss, zeigt sich schon daran, dass nach Hegel der Terminus ,Nichts‘ ausdrücklich eine ontologische Kategorie bezeichnet. Vgl. auch WdL I/1, GW 21, S. 84 und 325. In der Vorlesung von 1827 identifiziert Hegel das ,Nichts‘ mit der ,wahren Unendlichkeit‘ (vgl. VPR 4, S. 464 f.). Ihm einen ,Nihilismus‘Vorwurf zu unterstellen, scheint von hier aus gesehen problematisch. Vgl. die Diskussion in O 2012. 88 Vgl. VPR 4, S. 462–464 und 490 f. 89 Vgl. zu Hegels Interpretation und zu seinen Quellen auch L 1975, S. 82–87. 90 Im Kolleg von 1831 heißt es: „An und für sich ist […] das Denken die Ausbildung des Unterschieds zum System der Erscheinung; weil aber das indische Prinzip noch nicht so weit gediehen ist, so fallt diese Entwicklung außer jenes Prinzip und ist wilder Unendlichkeit preisgegeben. […] Es sind alle Momente der Geistigkeit vorhanden, und doch machen sie nicht den Geist aus. Es ist nun zuerst dieses abstrakte Eine, sodann die Wildheit der ausgelassenen Phantasie und dann drittens die Zurücknahme in das Eine, woran sich der Kultus knüpft, zu betrachten.“ (VPR 4, S. 619 f.; vgl. ferner ebd., S. 478 f. und Enz. § 573A, GW 20, S. 561 f.) Ein Beispiel liegt für Hegel etwa darin, dass die Beziehung des Absoluten zu den
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Negativität schon in der Bezeichnung ,Nichts‘ bzw. ,Leere‘ reflektiert, von dem her auch der Wert und die Güte menschlicher und nicht-menschlicher Individuen her verstanden wird. Dem Selbstverständnis des epistemischen Zugangs zum Absoluten entspricht für Hegel die herausragende Stellung derjenigen, die im reinen Denken, d.h. in der Meditation, das wahre Verhältnis zwischen Absolutem und der Welt verstehen können.91 Gleichzeitig soll sich das Streben nach ,Anschaulichkeit‘ dadurch zur Geltung bringen, dass das Absolute mit einer Reihe bestimmter, herausragender Individuen identifiziert wird, in denen sich das Absolute sukzessive oder simultan (re-)inkarniert.92 Hegels Ableitung der ersten Religionsform wirft eine Reihe von Problemen auf: Auf der Ebene der Religionshermeneutik können seine Identifikationen und die darauf beruhenden Bewertungen der historischen Gestalten nicht in dieser Form aufrechterhalten werden. So wird bspw. Hegels Rede vom ,Nichts‘ und dem ,Leeren‘93 als „Substanz“ und „Prinzip“ (VPR 4, S. 460), die Hegel seinen Quellen entnimmt, nicht dem Umstand gerecht, dass sich einige Formen des Buddhismus gerade durch die Annahme auszeichnen, dass es überhaupt keine unabhängigen Entitäten gibt.94 Und selbst wenn es sachliche Gründe gibt, Hegels Identifikation mit bestimmten historischen Gründen unter anderen Prämissen zu akzeptieren, stellen sich andere Fragen, die besonders die Binnendifferenzierung der ersten Religionsform betreffen. Mit Blick auf die Neukonzeption im Kolleg von 1831 wird man vermutlich zweierlei festhalten können: Erstens bleibt es im hegelschen Rahmen unklar, ob die stärkere Unterscheidung zwischen dem Absoluten und der endlichen Wirklichkeit nicht zu einer eigenständigen Religionsform führen müsste. In diesem Sinne ordnet das Kolleg von 1831 die ,indische Religion‘ und den ,Buddhismus‘ zusammen mit der ,chinesischen Religion‘ einer zweiten Religionsform zu,95 während Hegel 1827 noch alle unter dem Titel der ,Unmittelbaren Religion‘ vereint. Ebenso fraglich ist zweitens, wie sich Hegels konkrete Über- bzw. Unterordnungen eigentlich sachlich rechtfertigen lassen. So lässt das Kolleg von 1831 überhaupt keine Gründe erkennen, warum nun genau der ,Buddhismus‘ über der ,indischen‘ Religion stehen soll,96 während Hegel 1824 kontingenten Dingen zwar auch schon hier als ,Schöpfung‘ vorstellig wird, solche Kosmogonien aber gleichzeitig immer notwendig im Plural vorkommen. VPR 4, S. 484. 91 Vgl. ebd., S. 462 und 465 f. 92 Vgl. ebd., S. 466 f. Zum selben Ergebnis kommt F. Hermannis Rekonstruktion. Demnach schlägt die rein negative Kennzeichnung des Absoluten deshalb in den ,Reinkarnationsgedanken‘ um, weil sie in widersprüchlicher Form der Signifikanz der menschlichen Beziehung zum Absoluten Rechnung tragen muss, die nach Hegel immer in religiösen Haltungen mitthematisiert werden muss. Vgl. H 2015, S. 167 f. 93 Das ,Nichts‘ und die ,Lehre‘ können zudem nicht, wie Hegel meint, miteinander identifiziert werden. Vgl. hierzu L 1975, S. 64 f. und zu Hegels Quellen vgl. ferner O 2012, S. 56–58. 94 Vgl. G 21958, S. 344–346; V 2002b und zu Hegel die ausführliche Diskussion in L 1975, S. 64–66. 95 Vgl. VPR 4, S. 618. 96 Vgl. C 2012, S. 39. Auf diese Neubewertung weist zu Recht auch Hermanni
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und 1827 die umgekehrte Reihenfolge vertreten hat. Gemessen an der Detailfülle von Hegels Interpretationen wird man vermutlich nicht a priori sagen können, Hegel verfüge in beiden Fällen über keinerlei Kriterien. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass seine Neukonzeption keine meta-stufigen Kriterien dafür bietet, welche Kriterien erster Stufe bei der Einordnung und der Bewertung leitend sein sollten: Soll man etwa die ,indische Religion‘ deshalb bevorzugen, weil in ihrem ,metaphysischen Begriff‘ die Selbstbeziehung des Absoluten in der ,Trimurti‘ ebenso thematisiert wird wie die darin mitreflektierte Beziehung zur Wirklichkeit als Ganzer?97 Oder soll man die im ,Buddhismus‘ konsequenter durchgeführte ,Vorstellungsfreiheit‘ zusammen mit den für Hegel annehmbareren axiologischen Komponenten in den Vordergrund rücken, die aus dessen religiösen Selbstverständnis folgen?98 Soweit ich sehen kann, sind beide Probleme allein auf Basis der Hegeltexte vermutlich kaum bis gar nicht entscheidbar. Ob und wie sich dieser Sachverhalt auf Hegels Pluralitätsthese auswirkt, wird am Ende der Rekonstruktion zu fragen sein. Die zweite Religionsform Bevor dies geschieht, muss aber weiter untersuchet werden, ob und wie die bislang verfolgte Interpretationsstrategie auch die Ableitung der weiteren Religionsformen nachvollziehbar machen kann. Wiederum aus Gründen der Symmetrie zu Kap. II.3 der Untersuchung müsste man ihren ,metaphysischen Begriff‘ durch den Fokus auf teleologische Attribute auszeichnen können. Für einen solchen argumentativen Zug stünden Hegel dabei mindestens zwei Begründungsstränge zur Verfügung: Erstens wurde schon oben Hegels Begründung rekonstruiert, die teleologischen Attribute als begriffliche Inferenz der ,absoluten Notwendigkeit‘ und der ,Macht‘ des Absoluten darzustellen,99 die die erste Religionsform kennzeichnen sollen. Tatsächlich greift Hegel bisweilen mindestens implizit auf diese Argumentation zurück100 und von hier aus lässt sich eine zweite
hin, nennt allerdings auch nicht direkt ein hegelsches Argument. Vgl. H 2015, S. 179. Seine eigene Rekonstruktion ebd., S. 166–169 scheint mehr für eine Nebenordnung zu sprechen. 97 Darin soll nach Hegel sogar schon die ,Selbsterzeugung‘ des Absoluten im reinen Denken und damit die immanente Trinität antizipiert werden. Vgl. etwa VPR 4, S. 485 f. Fn. und 620. 98 Zu Hegels Kritik am Kastensystem und seinen Quellen vgl. L 1975, S. 97–104 und H 1986. Zudem behauptet Hegel bisweilen, man könne den Kultus der ,indischen Religion‘ auch indirekt von deren Konzeption des Absoluten her bewerten: „[E]s verschwinden in dem Bewußtsein: ,Ich bin Brahm‘ alle Tugenden und Laster, alle Götter und endlich die Trimurti selbst.“ (VPR 4, S. 246 Fn.) 99 Vgl. die Rekonstruktion oben II.3.2. 100 Der Rückgriff auf diesen Argumentstrang in der Vorlesung von 1824 (vgl. VPR 4, S. 302 f.) ist besonders deutlich im letzten Kolleg. Vgl. VPR 4, S. 632. Zum Verhältnis zwischen ,Macht‘ und ,Freiheit‘ im Kolleg von 1827 vgl. auch ebd., S. 561 f.
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Gedankensequenz näher beleuchten, die besonders im vorliegenden Kontext relevant ist. Im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass für die erste Religionsform die Frage ausschlaggebend ist, wie man die Einheit zusammen mit der Unterschiedenheit des Absoluten und der endlichen Dinge adäquat auf den Begriff bringen kann.101 Und die Kategorie der ,Zweckmäßigkeit‘ scheint für das, was mit der unbestimmten Rede von der ,Macht‘ des Absoluten tendenziell widersprüchlich antizipiert wird, eine kohärente begriffliche Grundlage zu bieten.102 Was damit gemeint ist, lässt sich in zwei Schritten näher ausbuchstabieren. Greift man unter hegelschen Prämissen auf den Zweckbegriff zurück, folgt zunächst die These, dass die ganze Form und Weise der Existenz kontingenter Individuen durch dasjenige Verhalten konstituiert ist, das sich wesentlich auf artspezifische Zwecke ausrichtet.103 Durch diese Grobkennzeichnung lässt sich in einem zweiten Schritt eine doppelte Beziehung zum Absoluten herstellen: Erstens kann die Menge aller wesentlichen Einzelziele durch einen ausgezeichneten Endzweck geordnet werden, dessen Existenz und konkrete Form sich wiederum zweitens – zusamt den Einzelzwecken – aus dem Absoluten heraus erklärt werden kann.104 Das in der ersten Religionsform ungelöste Problem der Einheit und Differenz lässt sich vor diesem Hintergrund dann so klären: Zwar zeigt sich die Einheit des Absoluten mit der endlichen Wirklichkeit darin, dass die Existenz und die Natur endlicher Individuen sich wesentlich als Realisierungen von Zielen verstehen lassen, die immer auch ihre eigenen sind. Insofern man aber die Existenz der Einzelzwecke wie deren Ordnung keineswegs allein aus der Artzugehörigkeit von Individuen heraus erklären kann, übersteigt das Erklärungsprinzip dieser Zwecke zugleich die natürliche Ordnung und deutet auf den Unterschied zu dem Ursprung hin, dem sie sich verdanken.105 Was ist nun von dieser Rekonstruktion des Übergangs zu einer zweiten Religionsform zu halten? In religionshermeneutischer Hinsicht scheint die These
101 Denselben Ausgangspunkt wählt F. Schick in ihrer Rekonstruktion des Übergangs zur dritten Religionsform im Manuskript, an der ich mich im Folgenden orientiere. Vgl. S 2013, S. 432 f. 102 Zu Hegels Argument für die Einheit von Ursprung und Ziel in Zweckrealsierungen vgl. VPR 4, S. 598 f. 103 Setzt man mit Hegel voraus, dass die essentielle Identität endlicher Individuen festlegt, auf welche Ziele sie sich in ihrem Verhalten wesentlich richten (vgl. oben II.3.3), die Natur alles Endlichen aber im ,wahren Unendlichen‘ eigentlich zum Ausdruck kommt (vgl. oben II.2.5), dann kommt man zu der hier relevanten These, dass sich das Absolute im zielgeleiteten Verhalten endlicher Dinge selbst manifestiert. Die Einsicht in diese Einheit des Absoluten und Endlichen entspricht dann dem „Bewußtsein“, „daß das Schaffende sich in seinem Geschöpfe nur erhält und hervorbringt, so daß im Geschöpfe die Bestimmungen des Göttlichen selbst sind.“ (VPR 4, S. 594) 104 Vgl. unten Abschn. II.3.3 und zum Problem von Zweckregressen auch Abschn. II.3.1. 105 Diese Gedankensequenz hat zudem den Vorteil, dass sie Hegels Selbstverständnis gerecht wird, die Übergänge zwischen Religionsformen durch deren ,immanente Kritik‘ zu rechtfertigen. Vgl. L 2011, S. 181.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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prima facie unplausibel, dass teleologische Bestimmungen für die erste Religionsform überhaupt keine Rolle spielen. Hegel etwa selbst weist deutlich darauf hin, dass sich aus dem ,metaphysischen Begriff‘ der ersten Religionsform letzte Ziele ergeben, durch deren Verwirklichung in Meditation und Kontemplation die Gläubigen nicht nur „Heiligkeit“ erlangen, sondern sogar „glücklich“ (VPR 4, S. 462) werden wollen.106 Auf diesen Einwand hin könnte Hegel seine Thesen folgendermaßen präzisieren. Zwar ist es für ihn richtig, dass etwa aus der eingesehenen Tatsache, dass die Natur des Absoluten einen empirischen Zugang versperrt, unmittelbare Konsequenzen für die menschliche Lebensführung folgen – zumindest unter der religiösen Voraussetzung, dass das Absolute aufgrund seiner Natur im höchsten Maße verehrungswürdig ist und daher die menschliche Angleichung den höchsten Wert für die Gläubigen realisiert.107 Gleichzeitig folgt für Hegel aus der negativen Kennzeichnung der ,Nichtsinnlichkeit‘ des Absoluten die ebenso negative Zielsetzung, gewissermaßen keine ,sinnlichen‘, egozentrierten Interessen erster Stufe zu besitzen. Angestrebt wird hier also nach Hegel in erster Linie die Bildung von Präferenzen zweiter Ordnung, die individuelle Wertungen im Horizont des Selbsterhaltungsinteresses zugunsten eines Zustands der Wertungsindifferenz aufhebt.108 Die zweite Religionsform soll sich hingegen dadurch auszeichnen, dass das selbstbewusste Verfolgen eigener Zwecken genau dann ein Gut darstellt, wenn es mit der göttlichen Zweckordnung harmoniert, die sich durch einen positiv formulierbaren Endzweck auszeichnen lässt. Diese Replik lässt sich aus Hegels konkreten Interpretationen zweier Religionsgestalten entwickeln, die dem oben entwickelten Profil paradigmatisch entsprechen.109 Auch hier bietet es sich an, die Spielräume auszuloten, die aus den
106 Zu Hegels Interpretation des ,Kultus‘ der ersten Religionsform vgl. im Folgenden auch L 1975, S. 91–97. Nach Hegel soll sich gerade jede religiöse Haltung und Einstellung dadurch auszeichnen, dass sich aus dem Wissen um die Beziehung zum Absoluten normative Konsequenzen ergeben, wie man vor diesem Hintergrund sein Leben am besten führen soll. 107 Vgl. etwa VPR 4, S. 465. 108 Vgl. ebd., S. 465, 490 f. und 495. Auf Basis solcher Überlegungen erklärt sich wohl die gängige Unterstellung des ,Wertenihilismus‘ gegen diese Religionsformen, die man auch bei neueren Autoren findet. Vgl. etwa V 2002b und T 2007, S. 206. Selbst wenn dies zutreffend wäre, ist dieser Terminus aber irreführend. Denn es geht nicht um die Leugnung der Existenz von Gütern und Werten tout court, sondern gerade um die axiologische Auszeichnung der Zurückstellung egozentrierter Interessen. Zur Zurückweisung des Nihilismus-Verdachts etwa im Advaita Vedanta vgl. ferner die differenzierte Argumentation in R 2006, Chap. 6 und 7. 109 Nach Hegel müsste man noch genauer differenzieren, ob in den jeweiligen Religionsformen (i) überhaupt ein Endzweck formuliert wird und, wenn ja, ob er (ii) inhaltlich angemessen und kohärent ist. Im Kolleg von 1824 zeichnet Hegel mithilfe von Kriterium (i) die Axiologie der ,Religion der Schönheit‘ aus, die zwar partikuläre Ziele und Güter formuliert, aber keinen ,absoluten Zweck‘ kennt. Vgl. VPR 4, S. 382. Die ,römische‘, ,jüdische‘ sowie die ,mohammedanische Religion‘ formulieren zwar nach Hegel Endzwecke, sind aber für ihn in je unterschiedlicher Hinsicht auf ihre innere Kohärenz zu prüfen. Vgl. ebd., S. 398 f. und 579–582. Zu welchem Ergebnis Hegel dabei kommt, wird im Folgenden noch deutlicher
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
verschiedenen Ebenen des hegelschen Religionsbegriff folgen. Entsprechend könnte man fragen, welche konkreten intrinsischen Bestimmungen dem Absoluten zukommen müssen, damit die teleologische Ordnung der Natur aus ihm erklärt werden kann. Im Sinne der in Kap. II.3 rekonstruierten kategorialen Überlegungen, kommt Hegel zu dem Schluss, dass das Absolute als zwecksetzende Entität im religiösen Bewusstsein zumindest als personenähnlich, oder wie Hegel auch sagt, als „Subjektivität“ (VPR 4, S. 561) aufgefasst werden muss. Gemessen an dem o.g. Verhältnis zwischen dem Absoluten und der endlichen Wirklichkeit ergeben sich dann die Optionen, entweder die Differenz oder die Einheit zwischen beiden herauszustellen.110 Nach der ersten Option erklärt sich für Hegel eine Religionsgestalt, in der man – wie in der ersten Religionsform – das Absolute durch seine ,Macht‘ von der endlichen und abhängigen Wirklichkeit radikal unterscheidet. Nimmt man die obigen kategorialen Bestimmungen mit hinzu, hat dies zur Konsequenz, dass das Wesen und die Existenz der endlichen Einzeldinge aus den teleologischen Attributen folgen, die jetzt dem Absoluten selbst zugeschrieben werden. Damit erklärt sich die Natur der Dinge aus den festen Zielen, die das Absolute mit ihnen verfolgt; deren Existenz hingegen aus der ontologischen Abhängigkeit, die als zielgerichtete Form der Kausalität verstanden wird. Damit folgt die Neubestimmung des Absoluten als „absolute Weisheit“, die sich durch ihre „Macht“ (ebd.) von allem anderen radikal unterscheidet und durch ihre Ziele die Existenzform, das Verhalten und die Güte aller anderen Dinge bestimmt.111 Auf dieser Basis meint Hegel nun die weiteren Bestimmungen der sog. ,jüdischen Religion‘ ableiten zu können. Hinsichtlich des allgemeinen Gott-WeltVerhältnisses ergibt sich erstens, dass aufgrund der „Erhabenheit“ (ebd., S. 570)112 des einen Gottes die Identifikation mit Entitäten aus dem natürlichen werden. Dabei wird es nur um Hegels Analyse des Verhältnisses zwischen endlichen Zwecken und dem anerkannten göttlichen Endzweck gehen, deren begriffliche Deutungsinstrumente in II.3 umfänglich erläutert wurden. Auf die ,griechische Religion‘ werde ich im Folgenden nicht eingehen. Vgl. zur Deutung bes. S 2013, S. 430 f. und H 2015, S. 171–173. 110 Diese Überlegung stützt auch die Kriterien der ,Differenz‘ und ,Versöhnung‘ zwischen dem Absoluten und dem Menschen, mit denen man nach Hermanni die – in seiner Zählung – zweite und dritte Religionsform klassifizieren kann. Vgl. ebd., S. 169 und 175. 111 Zu Hegels Einordnung der ,jüdischen Religion‘, insbesondere in den letzten beiden Kollegien vgl. bes. L 1975, S. 169–180 und H 2005, S. 228–237. 112 Dieser Terminus ermöglicht Hegel m.E. diese Form der ,Transzendenz‘ von stärkeren zu unterscheiden, nach denen das Absolute vollständig epistemisch unzugänglich und von der kontingenten Wirklichkeit abgetrennt sein soll. Vgl. unten Abschn. III.5.2. ,Erhaben‘ ist das Absolute hier nur, weil ihm keine „sinnliche Gestaltung“ (VPR 4, S. 562) angemessen ist und eben deshalb schon in der religiösen Teilnehmerperspektive vorstellungsfrei gedacht werden muss: „Für diese Vernünftigkeit nun, die als Subjektivität, und zwar ihrem Inhalt nach als allgemeine Subjektivität und ihrer Form nach frei ist, für diese reine Subjektivität ist der Boden der reine Gedanke; sie ist dem Natürlichen entnommen und damit dem Sinnlichen, es sei in äußerlicher Sinnlichkeit oder es sei die sinnliche Vorstellung. Sie ist die geistige subjektive Einheit, und diese erst verdient für uns den Namen Gott.“ (ebd., S. 561; vgl. auch ebd.,
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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Gegenstandbereich vollständig blockiert wird. Da Gottes Wesen und seine Integrität als inkommensurabel angesehen werden, wird dabei zwar das ganze Universum „entgöttert“ (ebd., S. 567). Zweitens entsteht aber aufgrund der eingesehen „Heiligkeit“ (ebd., S. 562) Gottes die Idee einer naturgesetzlichen Ordnung, die sich wesentlich im regulierten und regelgeleiteten Verhalten der natürlichen Individuen ausdrücken soll, die darin auf die unwandelbaren Ziele Gottes ausgerichtet werden.113 Auf Basis der erkennbaren Personenähnlichkeit zwischen dem Absoluten und dem Menschen ergibt sich schließlich drittens dessen herausragende Rolle, die zur Grundlage seines religiösen Selbstverständnisses wird. Sie liegt im Erkennen und „Anerkennen“ (ebd., S. 570) der Güte der Welt, die jetzt wesentlich vom Schöpfungsgedanken und der herausgehobenen Stellung von Gottes ,Heiligkeit‘ verstanden werden muss. In diesem Sinne liegt der letzte Zweck der Welt als Ganzer in der angemessenen Wertschätzung ihres Wesens und Ursprungs, d.h. in der ,Verherrlichung‘ und dem Lobpreis Gottes.114 Sie zeitigt damit eminente Konsequenzen für das Selbstverständnis religiöser Praxis hat, die sich nicht zuletzt in der Anforderung des frommen und bedingungslos zuversichtlichen „Wandel[s] vor Gott“ (ebd., S. 571) niederschlagen, der für Hegel paradigmatisch in der Hiobserzählung zum Ausdruck kommt.115 Während nun die ,jüdische Religion‘ den Unterschied heraushebt, ist ebenso eine Religion denkbar, die die Einheit von Absoluten und der endlichen Wirklichkeit in der Zweckrealisierung betont. Im Grenzfall kann es dabei für Hegel geschehen, dass der Inhalt der Zwecke nicht von einem andersartig gedachten Absoluten, sondern umgekehrt von den Präferenzen menschlicher Akteure her verstanden wird. Deren einzige Beschränkung und Ordnung würde dann darin liegen, dass sie den Interessen eines politischen und sozialen Ganzen untergeordnet werden, das selbst Selbsterhaltungsinteressen verfolgt und nicht nur für seine Bürger Sorge trägt. Aus dieser Grundbestimmung folgt Hegels kategoriale Einordnung der ,römischen Religion‘116, auf die wir schon in Kap I.4. zu sprechen gekommen sind. Sie ähnelt der ,jüdischen Religion‘ zumindest darin, dass sie einen Endzweck annimmt – der Erhalt und die Expansion des römischen Imperiums.117 Dieser Endzweck ordnet nicht nur die individuellen Interessen und
S. 625) Diese Einsicht wird im Übrigen für Hegel im christlichen Gottesgedanken nicht etwa verworfen, sondern im Rahmen der immanenten Trinität nur weiter ausbuchstabiert. Vgl. ebd., S. 565, 574 und Enz. § 567, GW 20, S. 551 f. 113 Vgl. bes. VPR 4, S. 331, 568 f. und L 1975, S. 176 f. Die Behauptung der theistischen Entdeckung der Naturgesetzlichkeit findet man auch bei neueren Autoren wie A. Plantinga. Vgl. WCRL, S. 271–283 und dazu oben I.5.2. 114 „Das Anerkennen und Preisen Gottes ist die Bestimmung, die hier eintritt: Die ganze Welt soll die Ehre Gottes verkünden, und zwar die allgemeine Ehre. Nicht bloß das jüdische Volk, sondern die ganze Erde, alle Völker, alle Heiden sollen den Herrn loben.“ (VPR 4, S. 570 f.) 115 Vgl. ebd., S. 573. 116 Vgl. ebd., S. 580–582; ferner L 1975, S. 224–235 und L 2012. 117 Vgl. u.a. VPR 4, S. 582 und 640.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Ziele, sondern wird sogar zum zentralen Bezugsobjekt religiöser Praxis gemacht. Anders als in der vorigen Religionsgestalt erklärt sich die Existenz und das Wesen menschlicher Individuen eben nicht vom Absoluten her. Vielmehr folgt dessen Existenz und Wesen hier vollständig aus der Rolle, die es im Rahmen der Verwirklichung des Endzwecks des politischen und religiösen Lebens zu spielen hat: das Florieren und das Gedeihen des römischen Staats, oder die „Fortuna publica“ (VPR 4, S. 584). Aus der Pluralität der ebenfalls anerkannten individuellen Zwecke folgt unter den Prämissen des römischen ,Funktionalismus‘ daher zum einen der Polytheismus, insofern jedem Gott gewissermaßen ,allegorisch‘118 eine bestimmte Zweckerfüllung zugeschrieben wird: „Die Befriedigung der Bedürfnisse […] erscheint als eine Menge von Göttern.“ (ebd., S. 586) Aus der Rolle des genannten Endzwecks ergibt sich zum anderen die Zentralstellung desjenigen „Hauptgott[es]“, in dem sich das römische Imperium und dessen Würde darstellen soll: „Jupiter capitolinus“ (ebd., S. 584). Die Überordnung des genannten Endzwecks bei gleichzeitiger Überbewertung der individuellen Selbsterhaltungsinteressen der Bürger führt dabei insbesondere zu den paradoxen Merkmalen, die nach Hegel für die Axiologie der ,römischen Religion‘ konstitutiv sind: Sie erklärt etwa, warum es einerseits zu einer geradezu göttlichen Überhöhung des Kaisers des römischen Imperiums und andererseits zur Entwicklung des römischen Eigentumsrechts kommen konnte,119 das wiederum den Wert der Individuen reflektiert. Mit dieser Übersicht über Hegels Deutung können zwar plausible Gründe dafür angegeben werden, inwiefern die Kategorie der ,Zweckmäßigkeit‘ ein Unterscheidungskriterium zur ersten Religionsform bietet. Besonders schwer wiegt allerdings ein exegetischer Einwand. Denn die obige Rekonstruktion gerät offensichtlich mit der Tatsache in Konflikt, dass Hegel besonders im Kolleg von 1831 das teleologische Argument (= TA) und mit ihm die Kategorie der Zweckmäßigkeit einer dritten Religionsform zuordnet, deren historische Gestalten die ,griechische‘ und die ,römische Religion‘ sein sollen. Die Einteilung des Kollegs von 1831 erklärt sich formal zunächst dadurch, dass Hegel eine schärfere Grenzlinie zwischen der ,Naturreligion‘ und den sog. Religionen der „Entzweiung des religiösen Bewußtseins in sich“ (VPR 4, S. 615) zieht, die oben schon benannt wurde. Demgegenüber sollen sich wiederum die „Religionen der Freiheit“ (ebd., S. 623)120 dadurch auszeichnen, dass es in ihren Gestalten zu einer besonderen 118 Vgl. ebd., S. 124. Diese Bezeichnung rechtfertigt sich m.E. aufgrund der Charakteristika einer Allegorie, bei der im expliziten Wissen um eine abstrakte ,Allgemeinvorstellung‘ ein ihr adäquates Ausdrucksmedium, etwa in Form einer Personifikation, zugeordnet wird. Vgl. VPK 2, S. 146; L 1975, S. 229 f. und oben III.3.2. In der ,römischen Religion‘ soll daher nach Hegel jedem noch so trivialen Alltagszweck eine ,Gottheit‘ und eine damit verbundene kultische Feier entsprechen. Vgl. auch L 2012, S. 165. 119 Vgl. VPR 4, S. 589 f. und L 1975, S. 233–235. 120 Wie wenig aussagekräftig dieser Titel in der Strauß-Nachschrift ist, zeigt sich schon daran, dass Hegel zehn Jahre zuvor der ersten Religionsform Freiheitspotentiale zuschreibt, die gerade der ,römischen Religion‘ in ihrem „Gefühl der Abhängigkeit“ (VPR 4, S. 115)
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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Fokussierung auf die Einheit und ,Versöhnung‘ zwischen Göttlichem und Menschlichem kommt.121 Da hingegen die ,jüdische Religion‘ in ihrer Betonung des Unterschieds der vorhergehenden Religionsform ähnlicher sein soll, kann sie in dieser Neukonzeption scheinbar nur noch eine der vielen „Übergangsformen“ (ebd.) zur dritten Religionsform darstellen. Der exegetische Einwand trifft also de facto Hegels neuen Einteilungsversuch im letzten Kolleg. Er erklärt aber keineswegs dessen systematische Plausibilität, die man aus folgenden Gründen bezweifeln kann: Zum einen wird die zentrale Prämisse, die Religionsformen entsprächen den Gottesbeweisen und deren ,metaphysischen Begriffen‘, von Hegel im Kolleg intern nicht weiter qualifiziert. Dennoch schließt er daraus auf die kaum plausible These, dem TA entspreche nur die ,römische‘ und die ,griechische Religion‘,122 nicht aber die ,jüdische Religion‘. Dabei verwendet Hegel im selben Kolleg auch für die ,Übergangsformen‘ teleologische Kategorien, deren Inhalt derjenigen der ,griechischen Religion‘ nach hegelschen Prämissen überlegen sein müssten.123 Im Vergleich zum vorletzten Kolleg von 1827 erscheint die Überordnung der ,griechischen Religion‘ zum anderen als willkürlich: Dort soll gerade dasjenige Kriterium, das die Unterordnung im letzten Kolleg bewirkt, für dessen Überordnung verantwortlich sein: nämlich die klarere Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Subjektivität,124 die aus dem strengen Monotheismus ebenso folgt, wie die Unterordnung partikularer Zwecke unter den einen Endzweck, der der ,griechischen Religion‘ eben gerade mangeln soll. abgehen soll. Daher heißt es dort vom „Orientale[n]“, „Inder“ und vom „Grieche[n]“, er lebe „in seiner Religion ohne das Gefühl der Abhängigkeit; er ist vielmehr frei darin, wirft seine Abhängigkeit hinweg und hat sie weggeworfen; frei vor seinem Gott – in ihm, nur in ihm; außer der Religion abhängig, aber hier seine Freiheit.“ (ebd.) 121 Vgl. hierzu H 2015, S. 179. 122 Vgl. VPR 4, S. 632 f. Interessanterweise wird das TA in der Strauß-Nachschrift das TA nur der ,griechischen Religion‘ zugeordnet und dort insbesondere als Schluss auf die ,Weltseele‘ verhandelt, der oben im Abschn. II.3.2 diskutiert wurde. Damit unterscheidet sich das letzte Kolleg vom Kolleg von 1821, wo das TA dem metaphysischen Begriff der ,Religion der Zweckmäßigkeit‘ zugeschrieben wird. Vgl. ebd., S. 100–111. Hegel denkt hier vermutlich an seine These, die Kategorie der Teleologie sei erst von Sokrates explizit gemacht worden. Vgl. oben S. 291 Fn. 101. Schon im Manuskript bemerkt Hegel: „Wir finden vornehmlich bei Sokrates dies bestimmtere Bewußtsein der Zweckbeziehung; in ihm ist wesentlich dieser Begriff aufgegangen gegen die vorhergehende mechanische Betrachtungsweise; seinem Prinzip gegen die Ursachen, Urelemente ist das Gute, d. h. das, was Selbstzweck ist und was dem gemäß ist, aufgegangen.“ (VPR 4, S. 104) 123 In diesem Sinne heißt es in der Strauß-Nachschrift schon über die ,persische Religion‘: „Nun tritt die wesentliche Bestimmung, die Bestimmung nach dem absoluten Zweck ein, und dies ist das Gute.“ (ebd., S. 624; vgl. auch ebd., S. 626) Gerade der Mangel an dieser Bestimmung soll hingegen nach dem Kolleg von 1824 eine, wenn nicht die entscheidende Defizienz der ,griechischen Religion‘ darstellen. Vgl. ebd., S. 382. 124 Vgl. H 2015, S. 179 f. Zu überlegen wäre ferner, welche Rolle außertheoretische Gründe bei Hegels radikaler Neubewertung der ,jüdischen Religion‘ gespielt haben. Hodgson verweist mit Jaeschke auf religionspolitische Erwägungen. Vgl. H 2005, S. 236.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Welche allgemeinen Schlussfolgerungen hinsichtlich der hegelschen Pluralitätsthese lassen sich nun aus der hier vorgeschlagenen Interpretation ziehen? Die bislang rekonstruierten Grundzüge von Hegels Theorie scheinen, wie eingangs schon angedeutet, mehr für den Systematisierungsvorschlag von 1824 zu sprechen, die das wesentliche Unterscheidungskriterium der zweiten Religionsform in den Kategorien der ,Einheit‘, der ,absoluten Notwendigkeit‘ und v.a. der ,Weisheit‘ sieht.125 Dies führt zu der weiteren Frage, in welcher Hinsicht Hegels Über- und Unterordnungen der Gestalten der zweiten Religionsform gerechtfertigt sind. Mit den obigen Überlegungen scheint zumindest die Einordnung der ,griechischen Religion‘ einigermaßen einleuchtend. Schwieriger ist allerdings Hegels Überzeugung, die ,römische Religion‘ bilde die vorletzte Stufe in der Hierarchie der Religionsformen, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass er sie 1821, 1827 und 1831 jeweils einer eigenständigen Religionsform zuordnet.126 F. Hermanni hat in seiner umfassenden Rekonstruktion dafür argumentiert, dass sich diese Überordnung aus den drei Momenten aus Hegels spekulativem Religionsbegriff heraus rechtfertigen lassen muss:127 Demnach solle diese sich dadurch ergeben, dass in der dritten Religionsform der Gedanke der „Versöhnung“128 zwischen dem Göttlichen und Menschlichen exponiert werde, während in der zweiten Religionsform das Absolute zwar schon als Subjektivität gedacht werden müsse, der Aspekt des „Unterschieds“129 dort aber im Vordergrund stehe. Beide Entwicklungsstufen würden dabei jeweils aus intrinsischen Widersprüchen in der Verfassung der jeweils vorhergehenden Religionsform folgen. Mit der oben vorgeschlagenen Rekonstruktion könnte man aber an diese systematisch plausible und stringent durchgeführte Interpretation Rückfragen richten: Denn aus der oben entwickelten kategorialen Grundbestimmung eines verwirklichten Zweckzusammenhangs folgt, dass eine Form der Einheit und der ,Versöhnung‘ auch in der ,jüdischen Religion‘ eingesehen werden muss. Dies zeigt sich gleich in doppelter Hinsicht besonders deutlich in Hegels vorletztem Kolleg: Zum einen baut nämlich die radikale „Zuversicht“ des „Gerechten“ auf dessen
125 Vgl. VPR 4, S. 290–321. Freilich müsste mit der oben vorgeschlagenen Rekonstruktion auch diese Einteilung revidiert werden, denn die Einzigkeit und absolute Notwendigkeit des Absoluten bilden auch für Hegel Aspekte des Begriffs des Absoluten, der für die ,indische Religion‘ charakteristisch ist. Vgl. Enz. 573A, GW 20, S. 561 f. Bei einer erneuten Zuordnung wäre zudem dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Hegels komplexe Theorie teleologischer Bestimmungen eine Vielzahl möglicher TA differenziert zu deuten erlaubt, wie in Abschn. II.3.2, II.3.3 und II.4.1 gezeigt wurde. Hegels Zuordnung der Religionsformen zu den Gottesbeweisen und den ,metaphysischen Begriffen‘ ist damit weitaus erklärungskräftiger, als es auf den ersten Blick scheint. 126 Dieser Umstand hat daher bei einigen Interpreten für Irritationen gesorgt. Vgl. S 1955, S. 26; B 1962, S. 343 f. und H 1987, Band 2, S. 653 f. 127 Diese Momente ergeben sich aus der Struktur des ,absoluten Geistes‘ und seiner geschichtlichen Selbstentfaltung. Vgl. oben Fn. 25. 128 H 2015, S. 175. 129 Ebd., S. 169.
4.2 Hegels Pluralitätsthese und das theologische Problem religiöser Diversität
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„Bewusstsein“ der „Harmonie zwischen Macht und Weisheit“ (VPR 4, S. 573) in Gott auf. Anders als in der stoischen Anerkennung des ,blinden Schicksals‘ in der ,griechischen Religion‘ weiß demnach der Fromme, dass auch Entbehrungen und Leid durch Gottes Providenz zuletzt zum Guten gewendet werden müssen, wenn sie um einer authentischen moralischen und religiösen Lebenspraxis willen in Kauf genommen werden. Das Bewusstsein der Gläubigen um die Durchsetzung göttlicher Zwecke wird nach Hegel zum anderen noch durch das Wissen verstärkt, dass Gott im Selbstverständnis der ,jüdischen Religion‘ ein Volk der Gläubigen erwählt und mit ihnen einen Bund geschlossen hat.130 Wenn man Hegels Überordnung der ,römischen Religion‘ also streng axiologisch versteht, dann müsste man für die weitergehende These argumentieren, die in der ,römischen Religion‘ vorkommende Zweckeinheit sei gewissermaßen vollkommener. Soweit ich sehen kann, sind es in dieser Hinsicht v.a. zwei Gründe, die bisweilen angeführt werden: Zum einen könnte man in gewisser Hinsicht die Überhöhung egozentrischer, aber menschlicher Interessen vorbringen, die den christlichen Gedanken der gottmenschlichen Einheit scheinbar unter verkehrten Vorzeichen antizipiert.131 Zum anderen könnte man den Universalismus der ,römischen Religion‘ gegen den sog. ,Partikularismus‘ der ,jüdischen Religion‘ ausspielen.132 Beide Gründe sind aber wenig überzeugend. Gegen den zweiten lässt sich nämlich vorbringen, dass Hegel spätestens 1831 den Partikularismus-Vorwurf revidiert133 und schon 1827 bemerkt, dass selbst das Christentum, das er in allen Kollegien der ,römischen Religion‘ überordnet, von diesem Vorwurf eigentlich gar nicht freizusprechen sei.134 Der Vergleich mit dem Christentum macht dar-
130 Vgl. bes. VPR 4, S. 575–579 und zum Bund mit Gott ferner ebd., S. 62 f. und 347 f. Unterstützt wird dies besonders durch H.J. Schoeps’ Ausführungen, der u.a. diese Elemente in Hegels „Zerrbild“ (S 1955, S. 31) der ,jüdischen Religion‘ vermisst: Gegen Hegel schreibt er: „Aus dem Bild des Judentums als abstrakt-negativer Bestimmung der göttlichen Heiligkeit fallen daher alle widerstreitenden Züge fort, wie die positiven der Berith, des doppelseitig bindenden Bundesvertrages, der Nähe Gottes, da Gott in jeder betenden Gemeinde gegenwärtig ist, überall wo man seines Namens gedenkt, und der Gesetzesfreude, wie sie sich etwa in den Psalmen äußert.“ (ebd.) Vgl. hierzu ferner L 1975, S. 179 f., Fn. 216. 131 Das scheint die Überleitungsstrategie im Manuskript zu sein. Vgl. VPR 4, S. 130–137 und L 1975, S. 233–235. Hierzu bemerkt etwa E. Bloch spöttisch: „Parthenon und Kapitol liegen wie ganze Erdteile zwischen dem Alten und dem Neuen Testament; gleich als ob Jesus nicht aus dem spätjüdischen Messianismus stammte. Und als ob das Kirchenlied hieße: Es ist ein Reis entsprungen, von Pilatus kam die Art.“ (B 1962, S. 344) 132 Eine mögliche Spannung zwischen dem strengen Monotheismus und der ,Partikularität‘ der ,jüdischen Religion‘ deutet Hegel in VPR 4, S. 577 f. an. Dies hat etwa V. Hösle als die entscheidende Prämisse für Hegels Höherstellung des Islam gedeutet, in dem diese Spannung zugunsten des Universalismus aufgehoben werde. Vgl. H 1987, Band 2, S. 653 f. Fn. 129. 133 Vgl. besonders VPR 4, S. 575 Fn. und dazu L 1975, S. 179 und H 2005, S. 235 f. Besonders in dieser Hinsicht antizipiert Hegel de facto die oben zitierte Kritik in S 1955, S. 31. 134 Vom ,Partikularismus‘ heißt es dort: „Dies ist allerdings der Fall, aber auch mit anderen
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
über hinaus den ersten Grund zunichte. Denn dort ist die gottmenschliche Einheit ja gerade die paradigmatische Verwirklichung des Gedankens der Gottesebenbildlichkeit, die ja in Gen 1, 26 explizit formuliert wird.135 Der von Hegel so oft betonte Gedanke, „nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Werth hat“ (Enz. § 482, GW 20, S. 477) ergibt sich daher nicht aus einer Überbewertung der menschlichen Egozentriertheit, die er selbst scharf kritisiert.136 Er folgt vielmehr aus dem schon entwickelten Gottesgedanken, der aber auch nach Hegel die ,jüdische Religion‘ kennzeichnen soll. Konzentriert man sich vor diesem Hintergrund insbesondere auf den ,metaphysischen Begriff‘ der ,jüdischen Religion‘ und dessen Konsequenzen stellt sich schließlich die Frage, ob diese nicht vielmehr weit über der ,griechischen‘ und der ,römischen Religion‘ stehen müsste.137 Die Stellung, die für Hegel der jüdischchristlichen Gottesgedanken einnimmt, wird uns noch in Kap. III.5 näher beschäftigen. Hier möchte ich es nur bei dem Hinweis belassen, dass der Schluss von Hegels Systematisierung auf eine evaluative Hierarchie von Religionsformen mit den Werturteilen in Konflikt gerät, die Hegel de facto fällt bzw. auf Basis seiner eigenen Prämissen fällen sollte. Dies betrifft nicht nur den metaphysischen Gehalt der ,jüdischen Religion‘, sondern auch seine tatsächliche Bewertung der ,römischen Religion‘.138 Von hier aus gesehen ergeben sich zwei Möglichkeiten,
Religionen; der Gott der Christen ist es auch. Wir wissen wohl von einer Christenheit, stellen diese aber auch als eine Familie vor, eine Nation, ein Volk zusammen; so ist das Bewußtsein von Gott auch als von einem Nationalgott.“ (VPR 4, S. 576) Hösles Interpretation (vgl. Fn. 132) ist daher unter hegelschen Prämissen kaum aufrechtzuerhalten. 135 Bezeichnenderweise heißt es daher in der Strauß-Nachschrift, die „Geschichte vom Sündenfall“ habe „in der jüdischen Religion brachgelegen“ und sei „erst in der christlichen zu ihrer wahren Bedeutung gelangt.“ (VPR 4, S. 627) Gleichzeitig nennt Hegel aber vier Jahre zuvor das in der ,jüdischen Religion‘ reflektierte Erlösungsbedürfnis als Bedingung für die Inkarnation. Dies setzt aber das Narrativ des Sündenfalls voraus. Vgl. VPR 5, S. 231 und ferner VPR 4, S. 136 f. Analog schlussfolgert E. Bloch: „[E]s schlägt der Wahrheit ins Gesicht, das Christentum aus Rom, statt aus dem Prophetismus folgen zu lassen.“ (B 1962, S. 344) 136 Bezeichnenderweise formuliert der o.g. erste Überordnungsversuch gerade die Prämissen, die für Hegel der Grund für die negative Beurteilung der ,römischen Religion‘ sind: „Aber […] das Höchste in endlicher Weise aufgefaßt ist das Schlechteste.“ (VPR 4, S. 133) Vgl. zu dieser Stelle auch L 1975, S. 235. 137 V. Hösle hat aus diesem Grund mit K. Rosenkranz eine revidierte Hierarchie erwogen, in der die monotheistische Religionsform aufgrund ihres authentischen Gottesbegriffs die vorletzte Stufe vor dem Christentum bildet und damit nach der ,griechischen‘ und ,römischen Religion‘ kommt. Vgl. H 1987, Band 2, S. 653 f. 138 F. Hermanni weist etwa darauf hin, dass die Überbewertung der Kategorie der ,Versöhnung‘ in der ,römischen Religion‘ für Hegel zu einer schlechten Vergöttlichung mundaner Zwecke führt, weil sie das Moment der Einheit auf Kosten der Unterschiedenheit zwischen Göttlichen und Menschlichen exponiert. Damit findet nach Hermanni aber gerade Rückfall in die erste Religionsform statt. Vgl. H 2015, S. 177 f. Analog hat auch B. Labuschagne Hegels Deutung der ,römischen Religion‘ im Kolleg von 1824 als Schlusspunkt einer Verfallsgeschichte ,endlicher‘ Religionsformen interpretiert. Vgl. L 2012, S. 160.
4.3 Abschlussbemerkungen
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mit Hegels Deutung weiter zu verfahren. Entweder man hält an der starken evaluativen Komponente fest, die direkt aus dem hegelschen Theorierahmen zu folgen scheint.139 Dann aber muss man mit Hegel eine konkrete Aussage darüber treffen, welcher Wertmaßstab höherer Stufe nun genau über konfligierende Bewertungen erster Stufe entscheidet, die teilweise Religionsgestalten ein und derselben Religionsform betreffen – zumindest, wenn man an der These einer linear fortschreitenden Entwicklung des religiösen Bewusstseins festhalten möchte.140 Oder man nimmt gerade das mögliche Fehlen solcher Kriterien zum Anlass, um die evaluative Komponente der hegelschen Theorieperspektive zu revidieren oder um generell über die genauen Implikationen zwischen Systematisierung und Bewertung bei Hegel nachzudenken. Wir haben in diesem Abschnitt gesehen, dass die erste Möglichkeit sich wahrscheinlich nicht im Anschluss an die Hegeltexte durchführen lässt. Dies gibt einen prima facie-Grund, sich der zweiten Alternative zuzuwenden, auf die abschließend noch ein Blick geworfen werden soll.
4.3 Abschlussbemerkungen Mit den obigen Überlegungen konnten wir einen Einblick gewinnen, welche Möglichkeiten sich für Hegel bieten, seine Theorie religiösen Denkens zu nutzen, um einen Zusammenhang zwischen der begrifflichen Bestimmung religiöser Einstellungen, der Systematisierung der Religionsformen und ihrer Bewertung herzustellen. Von dort aus konnten mögliche Antworten auf die eingangs genannten Probleme religiöser Diversität entwickelt werden. Gleichzeitig wurde in der Rekonstruktion der Ableitung der Religionsformen auf spezifische Probleme hingewiesen, die sich nicht zuletzt in Hegels dreifacher Revision seiner Systematik niederschlägt. Da nun die konkrete Gestalt von Hegels Pluralitätsthese und sein ,kritischer Inklusivismus‘ von der Systematisierungsebene abhängt ist zum Abschluss zu fragen, welche generellen Schlussfolgerungen der obige Interpretationsvorschlag nahelegt. Angesichts der entwickelten Problemlage ist in der Hegelforschung insbesondere von P.C. Hodgson vorgeschlagen worden, Hegels Religionstheorie als systematische Begründung eines Pluralismus zu verstehen, der laut Hodgson seinem Anliegen deutlich mehr entsprechen soll als sein scheinbar vertretener Inklusi-
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Vgl. die einführenden Erläuterungen oben S. 464 f. Der Befund müsste ohnehin weitaus komplexer ausfallen. Denn Hegel nennt zwar die letzte Religionsform stets die ,vollendete Religion‘, die dem spekulativen Religionsbegriff am meisten entspreche. Gleichzeitig soll aus seiner Theorie der religiösen Entwicklung gerade nicht eine ununterbrochene ,Höherentwicklung‘ folgen, wie das Beispiel der ,römischen Religion‘ zeigt. Die systematische Identifikation einer Religionsform muss daher mit einer negativen Wertung in der Theorieperspektive kompatibel sein. Für hilfreiche Anmerkungen und Rückfragen zu diesem Problemkomplex möchte ich auch an dieser Stelle F. Hermanni und F. Schick herzlich danken. 140
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
vismus.141 Ein solcher Versuch der Abschwächung von Hegels Thesen hat insofern viel für sich, weil er einem schwerwiegenden Problem begegnen kann, das oben nur oberflächlich zur Sprache kam: Hegels Identifikation der abgeleiteten Religionsformen mit konkreten historischen Religionsgestalten. Zwar kann man Hegel sicherlich nicht vorwerfen, er habe seine eigene Systematik in die ihm verfügbaren Quellen schlicht hineinprojiziert.142 Man wird aber schwerlich behaupten können, Hegels Deutungen könnten nach fast zweihundertjähriger religionswissenschaftlicher Forschung immer noch in dieser konkreten Form übernommen werden. Neben einigen Fehlinterpretationen spricht besonders Hegels Doppelstandard bei der Bewertung nicht-christlicher Religionen gegen seine Theorie: Während Hegel nämlich lediglich der ,vollendeten Religion‘ eine innere Entwicklung zugesteht, die sich insbesondere in der philosophischen Reflexion niederschlagen soll, behandelt er die ,bestimmten Religionen‘ allesamt als statische Blöcke – und dies trotz gelegentlich konträrer Äußerungen.143 Versteht man nun Hegels Religionsphilosophie im Kern pluralistisch, wird man hingegen diese Vorwürfe nicht mehr in dieser Form aufrechterhalten können. Trotz dieser Attraktivität ist Hodgsons Vorschlag m.E. als Interpretationsthese sicherlich nicht haltbar, und dies besonders aus folgendem Grund: Als Religionspluralist müsste sich Hegel auf die These der epistemischen Gleichstellung der fraglichen religiösen Überzeugungssysteme verpflichten – und dies selbst dann, wenn sie, oberflächlich gesehen, inkompatible Wahrheitsansprüche erheben.144 In der Durchführung müsste Hodgsons Vorschlag damit zweierlei leisten 141
Vgl. etwa H 2005, S. 237 f. Dies ist das das Ergebnis von L 1975. W. Jaeschke bemerkt über Hegels Quellenumgang: „Nichts ist Hegels Bemühung um ein philosophisches Begreifen dieses reichen Materials weniger angemessen als das gängige Bild des Kathederphilosophen, der den bunten Reichtum der geschichtlichen Wirklichkeit durch ,Systemzwang‘, durch ein vorfabriziertes Netz abstrakter Bestimmungen zur fahlen Räson bringen will.“ (J 22010, S. 461) 143 Vgl. dazu auch L 1975, S. 240; H 2011, S. 212 und L 2011, S. 190. Hegels Thesen hierzu sind gleich in mehrfacher Hinsicht inkonsequent bis inkonsistent. Erstens ist Hegel in der Geschichtsphilosophie durchaus bereit, bestimmten nicht-christlichen, ,Volksgeistern‘, wie er sie nennt, eine Entwicklungsgeschichte zuzusprechen. Vgl. etwa VPWG 12, S. 113–117; 316–318 und 406. Unter der Prämisse der Einheit von Welt- und Religionsgeschichte (vgl. Enz. § 562A, GW 20, S. 547) führt dies aber zu einem Selbstwiderspruch. Zweitens scheint Hegel 1831 durchaus bereit zu sein, eine Form der Entwicklung in der ,jüdischen Religion‘ anzunehmen. Vgl. VPR 4, S. 575 Fn. und hierzu L 1975, S. 179. Man möchte dann aber fragen, warum er diese These nicht zumindest versuchsweise auf andere Religionen übertragen hat. Schließlich verweist Hegel drittens auf die philosophische Reflexion innerhalb bestimmter nicht-christlicher Religionen. Vgl. zur ,chinesischen‘ und ,indischen Philosophie‘ u.a. ebd., S. 55–60 und 110–114. 144 Bezeichnenderweise findet sich, soweit ich sehen kann, bei Hodgson keine einzige klare Definition des Pluralismus. Im Folgenden orientiere ich mich an S-L 2005, S. 66 f. und S. 70 f., konzentriere mich aber auf epistemologische Probleme. Eine ,hegelianische‘ Begründung des Pluralismus in axiologischer und soteriologischer Hinsicht ist m.E. noch schwieriger zu leisten. Zu Hegels Kritik an der ,indischen Sittlichkeit‘ vgl. etwa H 1986. 142
4.3 Abschlussbemerkungen
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können: Um den obigen Einwänden Rechnung zu tragen, müsste er sich zunächst eine vollständige Übersicht über die Entwicklung derjenigen Religionen verschaffen, die Hodgson für gleichberechtigt hält.145 Auf dieser Basis müsste man dann zeigen können, dass aus Hegels Theorierahmen die in Hodgsons Augen korrekte systematische Aussage folgt, dass die jeweiligen Überzeugungen hinsichtlich ihrer Wahrheit oder ihres Rechtfertigungsstatus’ gleichwertig sind. Ein solches Vorgehen würde sich aber denselben Vorwurf einhandeln, der gegen Hegel zu Recht vorgebracht wird. Denn ebenso wie Hegel maßt es sich an, die ausgewählten Religionen auch dann besser zu verstehen als sie sich selbst, wenn sie in ihrem Selbstbild gerade alternative Überzeugungen vertreten und die Wahrheit und Rechtfertigung der anderen Meinungen mit vorgebrachten Gründen bestreiten. Das Vorhaben einer kompletten systematischen Übersicht über alle fraglichen Religionen und ihre Entwicklung wird man zudem mit guten Gründen als ,überambitioniert‘ bezeichnen können.146 Und selbst wenn beides durchführbar wäre, würde er in noch größere Schwierigkeiten geraten: Will man nämlich Hegel nicht mit einer Form des Pluralismus in Verbindung bringen, die mit seinen Prämissen inkompatibel ist,147 dann gerät man in folgendes Dilemma: Denn dann müsste man entweder die Paritätsprämisse zusammen mit der Inkompatibilitätsbehauptung des einleitend entwickelten epistemologischen Problems behaupten und würde sich damit den theologischen Einwand einhandeln, den Hegels Pluralitäts- und Entwicklungsthese gerade lösen möchte. Oder man verwirft die Inkompatibilitätsannahme. Dann müsste aber man theoretisch nachweisen können, dass alle fraglichen Religionen selbst dann de facto wahre und miteinander kompatible Aussagen über denselben Bezugsgegenstand vertreten, wenn im jeweiligen religiösen Selbstverständnis damit das Gegenteil gemeint wird. Unter den hegelschen Voraussetzungen hätte dies zur Folge, dass sich alle relevanten Beschreibungen des Absoluten gegenseitig einschließen und damit zu einem einzigen System von Aussagen fusionieren müssten, womit der Pluralismus aber vom Inklusivismus ununterscheidbar wäre.148
145 Hodgson führt in seiner Interpretation neben dem Christentum lediglich die sog. nachachsenzeitlichen Religionen des Taoismus, Hinduismus, Buddhismus und des Judentums an. Vgl. H 2005, Chap. 10. Mit der obigen Qualifikation ,alle fraglichen bzw. hier relevanten Religionen‘ wird nur auf Hodgsons Auswahl Bezug genommen. Ihm wird daher nicht die These unterstellt, alle als Religion identifizierbaren Praktiken seien epistemologisch gleichwertig, die ohnehin von keinem Pluralisten vertreten wird. Vgl. hierzu S-L 2005, S. 70. 146 Zu diesem Vorwurf gegen Hegel vgl. L 2011, S. 200–202. 147 So etwa der viel diskutierte Pluralismus von J. Hick. Zur Kritik dieses Ansatzes in hegelscher Perspektive vgl. bes. H 2011, S. 200–203 und S 2015, S. 480–488. 148 Zur weiteren Kritik an Hodgson vgl. H 2013, S. 152 f. Fn. 47. Die oben entwickelte Kritik betrifft auch die folgende Behauptung von G. Bertram und T. Wieland über Hegel: „Es wäre verzerrend, seine Religionsphilosophie als Auszeichnung und Apologie der christlichen Theologie durch philosophische Mittel zu sehen. Das Gegenteil ist der Fall: Hegel geht davon aus, dass Religion grundsätzlich in einer Vielheit von Religionen existiert.“ (B-
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
Um dennoch an Hegels Religionstheorie festzuhalten, müsste also zumindest gezeigt werden, wie man die beiden Teilthesen von Hegels Inklusivismus trotz der o.g. Schwierigkeiten aufrechterhalten kann. Eine Verteidigung, die alle systematischen Feinheiten der Theorie einholt, liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Abschließend sei aber zumindest darauf hingewiesen, welche konkreten Möglichkeiten sich auf Basis der obigen Rekonstruktion anbieten könnten. Zunächst müsste eine Verteidigung bei denjenigen hegelschen Überlegungen ansetzen, die eine Verbindung zwischen der Systematisierung und Bewertung von Religionsformen und -gestalten herstellen. Generell scheinen die Kernintuitionen eines solchen Vorgehens weniger verwerflich: Auch in der Gegenwartsdebatte finden sich genuin philosophische Versuche, die nicht nur im Rahmen einer philosophischen Anthropologie oder Philosophy of Mind Grundstrukturen religiöser bis mystischer Haltungen zu explizieren versuchen, sondern diese auch im selben Atemzug kritisch würdigen.149 Zudem ist die Forderung nach einer vollständig wertneutralen Einstellung auf der Theoriebene wahrscheinlich ohnehin kaum durchführbar.150 Natürlich sind damit noch nicht die Einwände erledigt, die man zu Recht gegen die Durchführung von Hegels Theorie vorbringen kann. Zur Verteidigung einer revidierten Fassung seines ,kritischen Inklusivismus‘ könnte man aber etwa überlegen, ob sich der konkrete Zusammenhang zwischen der Systematisierungsund der Bewertungsebene nicht lockern lässt. In diesem Sinne könnte man etwa darauf hinweisen, dass Hegel in seiner Ableitung der Religionsformen alleine keine direkten Aussagen darüber macht, welche Religionsgestalten ihnen genau zugeordnet werden müssen. Und selbst wenn einige seiner Zuordnungen vielleicht nachvollziehbar wären, finden sich bei Hegel, wie gezeigt, wenig oder gar keine höherstufigen Bewertungskriterien für die Über- bzw. Unterordnung verschiedener Religionsgestalten. Diese Tatsache gibt Grund zur Vermutung, dass eine hegelianische Religionstheorie eine Entwicklung der nicht-christlichen Re-
/W 2020, S. 86; vgl. ebd., S. 87 und 95) In den letzten Abschnitten wurde gezeigt, dass sich nach Hegel die Notwendigkeit religiöser Pluralität und die philosophische „Auszeichnung“ der „christlichen Theologie“ komplementär zueinander verhalten, während die Autoren die erste zitierte Aussage auf Basis der letzten begründen. Die Pluralitätsthese und das ,Zerrbild‘ von Hegel sollen sich aber nach Hegel gegenseitig implizieren. 149 Vgl. für den deutschen Sprachraum etwa T 2006; . 2010 oder K 2012. Bei Kutschera findet sich übrigens auch eine der hegelschen Pluralitätsthese verwandte Annahme der „Evolution des Bewusstseins“ (ebd., S. 143), die er explizit im Anschluss an die klassische deutsche Philosophie entwickelt. 150 Diesen Punkt betont zu Recht Th. Lewis. Vgl. L 2011, S. 186. Autoren, die wie Hodgson einen Pluralismus im Rückgriff die Rede von ,achsenzeitlichen Religionen‘ zu begründen versuchen, geraten zudem spätestens dann in die Bewertungsfalle, wenn sie jene vor den ,vor-achsenzeitlichen‘ Religionen auszuzeichnen versuchen. Vgl. bspw. Jaspers’ eigene Abgrenzungsversuche in J 1983, S. 20–25. Einen tieferen Grund hierfür könnte man in H. Putnams ausführlich begründeten These sehen, dass eine von allen evaluativen Ausdrücken gereinigte Theoriesprache prinzipiell unmöglich ist. Vgl. etwa P 1981.
4.3 Abschlussbemerkungen
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ligionen parallel zum Christentum per se nicht ausschließen muss und auch nicht auf bestimmte Wertungen festgelegt ist.151 Hegels Ansatz wäre von hier aus gesehen wohl mehr die Begründung der notwendigen Pluralität verschiedener Religionstypen als eine vollständige Theorie der einheitlichen Entwicklung des religiösen Bewusstseins.152 Auf Basis dieses Gedankens müsste man dann den Problemen religiöser Diversität begegnen, die einleitend dargestellt wurden. Hinsichtlich des theologischen Problems könnte man z.B. erwägen, ob eine revidierte Pluralitätsthese nicht eine ähnliche Strategie begründen kann, die in der zeitgenössischen Debatte um das Problem der Übel gang und gäbe ist. Den modus tollens des theologischen Einwands kann man nämlich dadurch blockieren, indem man die implizite Annahme angreift, die Pluralität falscher Meinungen über das Absolute sei mit dessen Existenz logisch inkompatibel oder würde diese zumindest zu einem hohen Grad unwahrscheinlich machen. Als Prämisse würde Hegels Pluralitätsthese damit den schwächeren Schluss erlauben, es sei metaphysisch möglich, wenn nicht höchstwahrscheinlich, dass das Absolute trotz des verbreiteten partiellen NichtWissens um seine Wirklichkeit und Natur existiert. Selbst wenn also Hegels Religionstheorie keine ,Theodizee‘ bietet, so doch zumindest eine ,defense‘.153 Bezüglich des epistemologischen Problems könnte man zum einen darauf hinweisen, dass Hegels alethischer Inklusivismus einen Grund für die Annahme gibt, dass sich viele oberflächliche Inkonsistenzen bei näherer Betrachtung auflösen lassen.154 Zum anderen könnte man mit Hegel die systematische Frage aufwerfen, ob die These der epistemischen Gleichberechtigung überhaupt akzeptabel ist. Wie sich schon oben in der Diskussion um den Pluralismus gezeigt hat, ist die
151 Dies ist etwa die abschließende These von R. Leuze, die auch andere Autoren in anderer Form aufgegriffen haben. Vgl. L 1975, S. 243–246 und H 2013, S. 159 f. 152 Dies scheint mir auch die Kernintuition von P.C. Hodgson zu sein, auch wenn daraus nicht sein pluralistischer Interpretationsvorschlag folgt. Vgl. H 2005, S. 218. Mit Hodgson wäre ferner zu erwägen, wie ernst man eigentlich Hegels scheinbaren Anspruch nehmen sollte, innerhalb der Religionssystematik alleine das letzte Wort sprechen zu können bzw. zu wollen, wenn er in ständiger Lektüre der verfügbaren religionswissenschaftlichen Literatur offensichtlich dazu bereit war, teilweise innerhalb von wenigen Jahren seine früheren Systematisierungen vollständig zu revidieren. Vgl. ebd., S. 217 f. 153 Vgl. zu dieser gängigen Unterscheidung etwa P 1974a, S. 192. 154 In diesem Sinne hat etwa D.B. Hart umfänglich gezeigt, dass sich bestimmte Formen westlicher und nicht-westlicher Religionen nicht nur in ihren Aussagen über das Absolute wesentlich überschneiden, sondern sogar auf dieselben metaphysischen Intuitionen zurückführbar sind. Vgl. H 2013. Wie Hart an anderer Stelle ausführt, sind religiöse Traditionen keine bloß neutralen Überlieferungskanäle für Aussagensysteme, sondern auch menschliche kulturelle Artefakte, die sich in Auseinandersetzung mit anderen, nicht immer scharf abgrenzbaren Traditionen entwickeln. Unter diesen Voraussetzungen ist es daher möglich, dass christliche Traditionen Teile ihrer eigenen Überzeugungen durch die Beschäftigung mit anderen Religionen revidieren, präzisieren oder vertiefen sollten. Prägnante Beispiele bzgl. des Gott-Mensch-Verhältnisses oder der Frage des universellen Heilsangebots finden sich in H 2022, S. 110 f.
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4. Die Notwendigkeit religiöser Pluralität
These der vollständigen Parität einiger religiöser Überzeugungssysteme nicht weniger anspruchsvoll oder anmaßend als die starke hegelsche Pluralitätsthese.155 Von hier aus gesehen würden sich zwei verschieden starke Verteidigungsstrategien anbieten: Erstens könnte man nach einer vollständigen Revision von Hegels Ableitung der Religionsformen versuchen, deren korrekte Intuitionen zu extrahieren. Sollte dies möglich sein, dann könnte man dies zur Grundlage für eine prima facie-Rechtfertigung eines hegelianischen ,kritischen Inklusivismus‘ und darin für eine Beweislastumkehr plädieren. In diesem Sinne wäre er solange akzeptabel und vertretbar, bis er durch schlüssige Gegeneinwände widerlegt wäre. Vor diesem Hintergrund wäre zweitens darauf hinzuweisen, dass Hegels These der Notwendigkeit religiöser Erkenntnis nur die Annahme benötigt, dass es genau eine – in seinem Sinne – ,wahre‘ Religion geben muss. Und dass dies der Fall ist, begründet Hegel nicht zuletzt aus seiner These, dass die christlichen Überzeugungen den Ergebnissen eines unabhängig und vollständig ausgearbeiteten philosophischen Systems am besten entsprechen. Als Antwort auf das epistemologische Problem bräuchte ein hegelianischer Inklusivismus vielleicht gar keine umfassende Theorie nicht-christlicher Religionsformen, sondern lediglich gute Argumente für seine Aussagen über die ,vollendete Religion‘. Diese Überlegungen, in welche Richtung eine Verteidigung Hegels gehen könnte, schließen freilich keineswegs a priori aus, dass es weitere schlagende Einwände geben könnte; noch wird hier beansprucht, dass sich Hegels Pluralitätsthese tatsächlich vollständig aufrechterhalten lässt. Sie zeigen aber an, welche Prämissen eine erfolgreiche Kritik unter einer benevolenten, systematischen Hegellesart anfechten müsste.
155 Ein Hauptproblem solcher Thesen ist zudem, wie Plantinga zeigt, dass sie sich selbst an den Begründungsstandards messen lassen müssen, die sie alternativen Thesen zumuten. Vgl. u.a. WCB, S. 446 f.
5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘ 5.1 Hermeneutische Vorbemerkungen Im letzten Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass Hegels inklusivistische Religionstheorie an der zentralen Prämisse hängt, dass genau eine Religionsform diejenigen Wesenszüge besitzt und im Höchstmaß verwirklicht, die für religiöse Haltungen und Einstellungen konstitutiv sind. Grob gesprochen bedeutet dies laut Hegel, dass die ,vollendete Religion‘ alle Momente und Ebenen des Religionsbegriffs, die in den anderen Religionsformen schon antizipiert und exponiert werden, in ihrer Gänze und Vollständigkeit selbstbewusst artikuliert. Wenn also Hegel darin recht hat, dass dem christlichen Glauben der Status der Höchstform religiösen Erkennens zukommt, müsste dieser zumindest auf jeder der drei in Abschnitt III.4.1 genannten Ebenen des Religionsbegriff diejenigen Leistungen erbringen, die im Rahmen der religiösen Bezugnahme auf das Absolute erreicht werden können. Hegels allgemeine Antwort auf die Frage besteht vereinfacht gesprochen in der These, dass sich in der frühchristlichen Aneignung der theologischen Bedeutung der Geschichte von Jesus Christus ein neues Verständnis der Mensch-Gott-Beziehung entwickelt hat. Und dies soll – gewissermaßen retrospektiv – zugleich die Gott-Welt-Beziehung und den Begriff von Gott selbst erweitert, wenn nicht transformiert haben. Nach Hegel wurde zwar beides in mindestens ,abstrakter‘ Hinsicht schon in der ,jüdischen Religion‘ antizipiert, konnte dann aber erst unter den sozio-religiösen Bedingungen der ,römischen Religion‘ in der vollen Tragweite erkannt werden. Ironischerweise ist es aber genau diese zentrale Auszeichnung des Christentums, die schon in der frühesten Hegelrezeption zu dem dritten der Einwände führt, die in Kap. III.1 skizziert wurden. Denn die Schlussfolgerungen, zu denen Hegel in seiner Rekonstruktion kommt, scheinen für manche Interpreten so radikal zu sein, dass für sie schon von vornherein zweifelhaft ist, ob sich Hegel, wenn er von Gott spricht, tatsächlich auf dasselbe bezieht wie christliche Gemeinschaften. Die Konsequenzen dieses religionshermeneutischen Einwandes wären für Hegels Projekt verheerend. Denn nicht nur würden sie die Korrektheit von Hegels Deutungen christlicher Glaubensinhalte unterminieren. Sie würden darüber hinaus die Grundprämissen seiner Antwort auf die oben diskutierten Probleme religiöser Diversität und damit seine These der Notwendigkeit religiösen Bewusstseins gefährden.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Um die Tragweite dieses Einwands ermessen zu können, muss zunächst gefragt werden, worauf er genau abzielt. Das Problem, ob Hegel tatsächlich das Bezugsobjekt jüdisch-christlicher Gottesrede trifft, lässt nämlich schon vor vornherein schwache und starke Lesarten zu. Soll damit nur die Frage gemeint sein, ob sich rechtgläubige Christen in ihrer religiösen Praxis auf denselben Gegenstand beziehen (können), den Hegel in seinen religionsphilosophischen Aussagen vor Augen hat, dann könnte man das Problem relativ schnell lösen. Geht man nicht gerade von den stärksten deskriptivistischen Theorien sprachlicher Referenz aus, kommt man schnell zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Bezugnahme auch dann möglich ist, wenn Sprecher darin implizit oder explizit auf falsche (definite) Beschreibungen zurückgreifen.1 Der Hinweis auf inkorrekte bis revisionäre Behauptungen über Gott wäre daher noch kein guter Grund für die Annahme, Hegel würde über einen ganz anderen Gegenstand sprechen. Ein Hegelkritiker könnte dies freilich – wenn auch unter Vorbehalt2 – zugestehen, aber in seiner Reaktion auf eine wesentlich stärkere Lesart der Frage verweisen. Ob man Hegel eine gelingende Bezugnahme in drittpersonaler Perspektive unterstellen darf, ist nämlich nicht völlig unabhängig vom Gehalt der hegelschen Behauptungen. Wenn man einem Sprecher eine hinreichend große Zahl von inkorrekten Aussagen über einen bestimmten Gegenstand nachweisen kann, bildet dies für die Perspektive des benevolenten Interpreten einen Grund zum Zweifel, ob er tatsächlich noch den anvisierten Gegenstand meinen kann. Um nur ein Beispiel von P.T. Geach zu variieren:3 Stellt sich bei einem Gespräch heraus, dass eine Person von Angela Merkel behauptet, sie hätte während der Zeit des Mauerfalls Kants KrV gelesen, ihre Magisterarbeit über Marx’ Hegelkritik geschrieben und sei später prominentes Mitglied der Kommunistischen Plattform der PDS gewesen, würden die Mitanwesenden schnell zu dem Schluss kommen, die Person würde sich überhaupt nicht auf Angela Merkel, sondern wohl eher auf Sahra Wagenknecht beziehen. 1 Dies ist zumindest das Ergebnis von Kripkes Kritik an Theorien, die den Bezug mittels Eigennamen vollständig auf die mind. implizite Verwendung von Kennzeichnungen reduzieren wollen. Vgl. K 1980 und zur Relevanz direkter Theorien der Referenz in theologischen Aussagen S 1985, Chap. VII; M 1986 und A 1989a, S. 108–114. Zur Diskussion vgl. ferner etwa G 2019, S. 219 f. 2 Mit Blick auf Hegels komplexe Aussagen über die Bezugnahme via Demonstrativa und Eigennamen könnte man nämlich mit guten Gründen bezweifeln, dass Hegel eine Theorie direkter Referenz in Reinform wirklich für plausibel halten würde. Vgl. V 1988a. So vollziehen sich etwa nach Kripke Taufakte, in denen die Referenz von Eigennamen fixiert wird, entweder schon unter Rückgriff auf Kennzeichnungen oder mittels Ostensionen. Vgl. K 1980, S. 96 f. Mit der ersten Option würde sich aber kaum ein Fortschritt gegenüber schwachen deskriptivistischen Theorien ergeben; in der zweiten hingegen müssten man eben eine gute Antwort auf das von Hegel herausgearbeitete Problem geben können, dass Indexikalia in einem beschreibungs- bzw. begriffsfreien Kontext keine definite Bezugnahme ermöglichen. Vgl. dazu auch K 2014, S. 33–36. 3 Vgl. G 1969, S. 109 f. Geachs Beispiel ist allerdings noch radikaler, weil hier sein McMillan-Anhänger gar keinen anderen existierenden Politiker, sondern, ohne es zu bemerken, nur eine rein fiktive Person im Blick hat.
5.1 Hermeneutische Vorbemerkungen
501
Übertragen auf den vorliegenden Einwand bedeutet dies also, dass man den Nachweis führen müsste, dass sich in Hegels Christentumsinterpretation hinreichend viele revisionäre bis falsche Aussagen über Gott finden müssten.4 Dies wäre nicht nur sachlich gerechtfertigt, sondern würde zugleich Hegels ausdrückliches Selbstverständnis treffen. Denn er geht nicht nur davon aus, dass eine erfolgreiche Religionsphilosophie den Nachweis erbringen muss, dass religiöse Erkenntnis in der Höchstform (notwendigerweise) existiert. Nach Hegel trägt sie bei der Identifikation der entsprechenden Religionsgestalt zudem die Beweislast, mögliche Abweichungen vom Gottesbild und -begriff hinreichend zu begründen.5 So heißt es zu Beginn der Enzyklopädie: „[I]n Beziehung auf eine zum Vorschein kommende Verschiedenheit von religiösen Vorstellungen hätte sie [= die Philosophie, W.L.] ihre abweichenden Bestimmungen zu rechtfertigen.“ (Enz. § 4, GW 20, S. 43) In der konkreten Durchführung der religionshermeneutischen Kritik sind nun eine ganze Reihe verschiedener, teilweise miteinander inkompatibler Vorwürfe vorgebracht worden. Aus Gründen, die noch deutlicher werden, bietet sich als
4 Ich konzentriere mich im Folgenden auf Aussagen über Gottes Natur, nicht aber über seine Existenz. A. Kenny weist in K 2006, S. 21 darauf hin, dass Existenzbehauptungen und -verneinungen mit Definitionen des fraglichen Gegenstandes operieren. Entsprechend meinen Theismen, dass Gott oder das Göttliche mind. unter einer möglichen Beschreibung existiert, während der Atheismus die gegensätzliche Aussage vertritt, dass Gott unter keiner Beschreibung existiert. Kenny schließt daraus auf die größere Beweislast des Atheismus. Analog müsste eine atheistische Hegellesart zeigen, dass dieser Gottes Existenz unter allen relevanten Auffassungen begründetermaßen ablehnt, die dann in der Lesart einzeln genannt werden müssten. Oder man müsste zumindest zeigen, dass nach Hegel die Negation eines klassischen Attributs, wie Immaterialität, keine alternative Gotteskonzeption mehr zulässt. Wäre dies der Fall, könnte Hegel zudem kein Programm verfolgen, religiöse oder christliche Überzeugungen epistemisch zu rechtfertigen. Denn man kann nicht meinen, dass es überwiegend adäquate Gründe gibt, die für die Wahrheit einer Aussage sprechen, die man zugleich explizit für falsch hält. Hegels Rechtfertigung könnte dann höchstens instrumentell oder moralisch sein – eine These, die Hegel aber expressis verbis ablehnt. Vgl. oben Kap. I.4 und Abschn. II.3.2. Atheistische und auch ,post-kantianische‘ Lesarten haben daher – anders als Hegel – einen Hang zu funktionalistischen Religionsauffassungen. Ich halte sie daher für keine naheliegende oder durchführbare exegetische Option. 5 Wie sich in Abschn. III.3.2 gezeigt hat, haben ,metaphysische Begriffe‘ für Hegel bedeutungsnormierende Kraft für ,Vorstellungen‘, weil Gottesbilder ohne eine konzeptuelle Perspektive auf das Absolute gar nicht gebildet werden können. In sachlicher und religionsphilosophischer Hinsicht kann die Rechtfertigungslast daher auch in die andere Richtung gehen. So heißt es etwa im Kolleg von 1824: „Wenn wir so fragen, was ist Gott, was bedeutet der Ausdruck ,Gott‘, so wollen wir den Gedanken, der soll uns angegeben werden, die Vorstellung haben wir wohl. Sonach hat es die Bedeutung, daß der Begriff angegeben werden soll, und so ist allerdings das, was wir in der Philosophie das Absolute oder die Idee nennen, die Bedeutung; es ist das Absolute, die Idee, die begriffene Natur Gottes […] oder das logische Wesen desselben, was wir wissen wollen.“ (VPR 3, S. 34) Wie für P.T. Geach ist ,Gott‘ für Hegel ein nomen naturae (vgl. G 1969, S. 57 und 109), dessen Verwendung in einer adäquaten philosophischen Explikation entsprechend evaluiert werden kann.
502
5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Ausgangspunkt besonders ein Einwand an, den der späte Schelling im Anschluss an seine eigene philosophische Schöpfungslehre vorgebracht hat. In der 14. Vorlesung seiner Philosophie der Offenbarung schreibt er prägnant: Gott ist nicht Gott ohne die Welt, heißt in neuerer Zeit so viel: er ist nicht Gott, nicht absoluter Geist, wie man sagt, ohne durch die Natur, durch die Sphäre des endlichen Geistes hindurch gegangen zu seyn. […] Allerdings wie in den berühmten Newtonschen Scholium gesagt ist: Deus est vox relativa. Gott ist nur Gott als der Herr, und er ist nicht Herr ohne etwas, wovon er Herr ist. Aber Gott ist schon vor der Welt Herr der Welt, Herr nämlich sie zu setzen oder nicht zu setzen. Der also, welcher Schöpfer seyn kann, ist freilich erst der wirkliche Gott, aber diese Behauptung ist himmelweit entfernt von jener anderen wohlbekannten: daß Gott nicht Gott seyn würde ohne die Welt […]. Sätze, wie der: Gott komme erst im Menschen, oder auch in diesem nicht einmal, sondern erst in der Weltgeschichte zum Selbstbewußtseyn, hätte man sonst wohl als deductio ad absurdum zur Widerlegung, und zwar zur augenblicklichen und unbedingten Widerlegung, aber nie als zugestandene, ausgesprochene Sätze einer Philosophie zu vernehmen gehabt. (SW II/3, S. 291 f.)
Schellings Einwand zielt auf die Konsistenz von Hegels philosophischer Rechtfertigung der christlichen Gottesrede ab und setzt daher trivialerweise schon voraus, dass Hegel tatsächlich denselben Gegenstand im Blick hat.6 Setzt man hypothetisch die Relevanz der Einwandes voraus, stehen dem benevolenten Hegelinterpreten in der Wahrheits- und Rationalitätsunterstellung nur folgende Wege zur Verfügung: Entweder er beharrt auf der gemeinsamen Bezugnahme und greift stattdessen Schellings Prämissen an. Oder er nimmt Schellings Konklusion zum Anlass, um eben diese Annahme zu verwerfen. Wie die letztere Option konkret durchgeführt werden kann, werden wir in den nächsten Abschnitten sehen. Zuvor muss aber auf die allgemeinen Bedingungen wie auf die konkreten Kosten dieser exegetischen Strategie hingewiesen werden: Um bei Hegel radikale Revisionen der traditionellen Gottesrede feststellen zu können, muss man (i) sagen können, was hier nun genau radikal inhaltlich revidiert werden soll und wo Hegel von klassischen Auffassungen abweicht.7 Im 6 Dass Schelling nicht direkt von Hegel spricht, stellt kein größeres exegetisches Problem dar: Denn erstens bringt er diese Kritik an anderen Stellen direkt gegen Hegel vor. Vgl. etwa SW I/10, S. 154 f. und 160 f. Zweitens stammt der von ihm zitierte Satz nachweislich aus H.G. Hothos Nachschrift des Kollegs von 1824 und lautet dort: „Ohne Welt ist Gott nicht Gott.“ (VPR 3, S. 213 Fn.; vgl. TWA 16, S. 192) Diese Nachschrift, die in die Freundesvereinsausgabe eingearbeitet wurde, ist laut W. Jaeschke zwar „[e]ine vollständige, zumeist hervorragend formulierte, aber keine authentische Wiedergabe des Hegelschen Vortrags“ (Jaeschke 1993, S. XXXIX). Ob dies auch systematische Konsequenzen für Schellings Einwände hat, wird sich unten in Abschn. III.5.4 zeigen. Im Kolleg von 1827 heißt es etwa ähnlich wie bei Hotho: „Gott ist Schöpfer der Welt; es gehört zu seinem Sein, zu seinem Wesen, Schöpfer zu sein – insofern er nicht Schöpfer ist, wird er mangelhaft aufgefaßt.“ (VPR 5, S. 200) 7 Man kann stark bezweifeln, dass diese einleuchtende Bedingung in der Literatur immer konsequent durchgeführt wird. So bemerkt etwa W. Jaeschke an einer Stelle, die schon oben in der Einleitung angeführt wurde: „Der Streit um die Christlichkeit der Philosophie Hegels (wie auch anderer) wird nur selten am Maßstab eines theologisch reflektierten Begriffs der
5.1 Hermeneutische Vorbemerkungen
503
Falle der christlichen Gottesrede müsste man also mindestens auf kanonische Schriften, Glaubensbekenntnisse und eine theologische Interpretationstradition verweisen können, die im besten Falle einen überkonfessionellen Autoritätsstatus beanspruchen darf.8 Unterstellt man Hegels Ansatz Kohärenz oder zumindest Konsistenz, muss man (ii) erklären können, warum Hegel selbst glauben konnte, dass zumindest das christliche Überzeugungssystem dem Inhalt nach mit seinem eigenen System identisch ist.9 Dazu kann man die andere hegelsche Prämisse hinzunehmen, dass in der religiösen Erkenntnis und Rede die entsprechenden nicht-empirischen Sachverhalte zumeist ,metaphorisch‘ ausgedrückt werden. Setzt man nun zumindest Hegels Überlegungen zur ,Metapher‘ voraus, wirkt ein solcher Zug freilich aussichtsreich: Denn, wie M. Black ausführt, verdoppelt sich in der metaphorischen Rede das Satzsubjekt und mit ihm gewissermaßen die Referenz.10 Auf den zweiten Blick hingegen werden die interpretatorischen Beweislasten dadurch keineswegs verkleinert: Sollte Gott, wie er im klassischen Theismus beschrieben wird,11 als metaphorisches Modellsubjekt für einen ganz anderen Bezugsgegenstand X dienen,12 muss man erstens theologisch so versiert sein, um hinreichende Ähnlichkeiten zwischen beiden feststellen zu können, die Gott zu einem echten und authentischen Modell für X machen. Folgt man Hegels o.g. These der Inhaltsidentität, muss man zweitens erklären, wie Hegel eigentlich glauben kann, dass traditionelle Gläubige mit dem Ausdruck ,Gott‘ de facto auf X referieren, obwohl sie X völlig anders auffassen. Beide Bedingungen (i) und (ii) gelten dabei nur für solche Interpretationsansätze, die
christlichen Religion ausgefochten. Weit häufiger ist es ein vorwissenschaftliches, naives Verständnis des Christlichen, das gegen Hegels Versuch des Begreifens der Religion ausgespielt wird.“ (J 22010, S. 508) 8 Zu dieser Bedingung vgl. die Bemerkungen oben S. 22. Sie folgt aus dem selbstevidenten Prinzip, mit dem Hegel dem Pantheismus-Vorwurf begegnet: „Wenn factische Behauptungen aufgestellt werden, und die Facta Gedanken und Begriffe sind, so ist es unerläßlich dergleichen zu fassen.“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 568 f.) Anders formuliert: Wenn man behauptet, Hegel würde de facto einen Pantheismus und keinen christlichen Monotheismus vertreten, dann muss man beide zunächst als ,Facta‘ in ihrer historischen Gestalt nehmen und sie dann über einen gehaltvollen Begriff oder eine Beschreibung zu ,fassen‘ versuchen, bevor man Hegel diese Positionen zu- bzw. abspricht. Was einem Interpreten dabei konkret vor Augen stehen sollte, erklärt A. Peperzak: „Der Leitfanden für seine [=Hegels, W.L.] Interpretation des Christentums ist die klassische, nicht von der ,modernen‘ Theologie gefälschte Dogmatik der katholischen und protestantischen Scholastik.“ (P 1987, S. 98) 9 Ich gehe hier grundsätzlich von der Formulierung der Identitätsthese in WdL II, GW 12, S. 236 aus, die deutlich macht, dass der deskriptive Ausdruck ,absolute Idee‘ derjenige ist, mit dem Hegel auf Gott Bezug nimmt. Vgl. auch Enz. § 573A, GW 20, S. 555 f. 10 Vgl. B 1955, S. 286 f. und oben Abschn. III.3.2. 11 Zum Begriff des klassischen Theismus vgl. oben S. 18 Fn. 58. 12 In neueren Hegelinterpretationen wird X nicht als individuenähnliche Entität, sondern als eine soziale Praxis aufgefasst, in und mit der sich menschliche Subjekte darüber verständigen, wer sie sind und welches Leben sie führen (wollen). Vgl. u.a. M 2018, S. 31 f.; M/R/Q 2018 und B/W 2020.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
die Intentionen Hegels verstehen und ihm dabei maximale Rationalität unterstellen wollen. Für einen eigenen systematischen Ansatz im Anschluss an Hegel ist es aber keineswegs ausgeschlossen, Hegel selbst eine inkohärente Metaphysik zu unterstellen, um dann unter anderen metaphysischen Voraussetzungen die zweite Bedingung unabhängig von Hegel auszuarbeiten.13 Da schon die erste Bedingung für eine Hegelinterpretation enorm voraussetzungsreich ist und zudem die Grundlage für die Erfüllung der zweiten bildet, werde ich mich ausschließlich auf (i) konzentrieren. Dabei werde ich jeweils (a) auf die konkrete Fassung der verschiedenen Revisionsvorwürfe eingehen, sodann (b) Hegels (mögliche) Repliken vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussionsergebnisse rekonstruieren. Schließlich soll dann (c) zumindest stichwortartig auf diejenigen christlich-theologischen Quellen verwiesen werden, die Hegels These von der Inhaltsidentität eine gewisse Anfangsplausibilität verleihen.
5.2 Monismus und Transzendenz Eine erste mögliche Richtung, Schellings oben angeführte Kritik im Sinne des Revisionismus zu begegnen, besteht im schlichten Nachweis, dass Schellings Prämissen Hegels Ansatz schon zu viel zugestehen. Bei Lichte betrachtet, setzt seine Kritik erstens voraus, dass Hegel klar zwischen dem Absoluten und der kontingenten Wirklichkeit unterscheidet. Zweitens muss das Absolute dazu fähig sein, sich seiner selbst bewusst zu sein, und damit zumindest personenähnliche Züge besitzen. Bezeichnenderweise ist es gerade diese erste Annahme, die von Hegels Zeitgenossen zumeist mit der expliziten Unterstellung des ,Pantheismus‘ angezweifelt wurde.14 Eine Diskussion dieses Vorwurfs in hegelscher Perspektive wird zwar besonders dadurch erschwert, dass seine relevanten Bestandteile nicht immer klar definiert sind und nicht jede seiner möglichen Interpretationen tatsächlich mit Schellings erster Prämisse inkompatibel ist.15 Ein guter Einstieg besteht aber 13 In diesem Sinne verwerfen bekanntlich einige linkshegelianische Ansätze etwa Hegels theologische Prämissen und setzen dann – von einem atheistischen oder naturalistischen Ansatz ausgehend – für X etwa das ,Wesen des Menschen‘ (L. Feuerbach) oder ,sozioökonomische Verhältnisse‘ (K. Marx) ein. Ein solcher Zug ist prima facie immer legitim, sollte aber, wie Marx und Feuerbach selbst, deutlich machen, dass man nicht mehr Hegel interpretiert, sondern schon eine eigene Position entwickelt. Zu Feuerbachs Interpretationsstrategie vgl. u.a. J 22010, S. 522–524 und T 2013, S. 29–46 und zum linkshegelianischen Problemaufbau im Allgemeinen ferner M 2018, S. 11 f. Eine auch in sachlicher Hinsicht überzeugende, benevolente Hegellesart würde darüber hinaus nur dann folgen, wenn man darin die linkshegelianische Religionskritik gegen berechtigte Einwände verteidigt, die u.a. in K 1990, Kap. 4.3; WCB, Chap. 5 sowie T 2013, Kap. I detailliert entwickelt werden. 14 Zu den politischen und ideengeschichtlichen Hintergründen dieses Pantheismus- und Atheismusvorwurfs vgl. besonders J 22010, S. 505–509. 15 Wie Q. Lauer mit C. S. Peirce ausführt, wird die definitorische Unterbestimmtheit noch
5.2 Monismus und Transzendenz
505
m.E. in einer Rekonstruktion von Hegels Replik, wie er sie besonders in Enz. § 573A umfänglicher entwickelt. In ihrem ersten Schritt versucht sie nämlich einen möglichen Sinn des Pantheismus-Vorwurfs zu klären, der tatsächlich zu den genannten Schwierigkeiten führt. Nach Hegel lässt sich diese Variante des Vorwurfs durch ein doppeltes intellektuelles Manöver erklären: Zum einen setzt er eine bestimmte ontologische Auffassung derjenigen Entitäten voraus, deren Inbegriff durch den ersten Teil des Kompositums ,Pan-theismus‘ bezeichnet werden soll. Das ,Pan-‘ umfasst demnach konkrete Einzeldinge, die Teil der uns bekannten (empirischen) Wirklichkeit und die in einem starken Sinne selbstständig sind. Die „weltliche Existenz der Dinge“ besteht nach dieser These „in fester ungestörter Substantialität“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 558). Zum anderen unterstellt der Pantheismus Vorwurf die Identifikation aller selbständigen Individuen mit Gott. Ein solcher Zug kann allerdings nicht schon die zweite der genannten schellingschen Annahmen voraussetzen. Dies wird deutlich, wenn man eine Differenzierung einführt, die Hegel vermutlich akzeptieren würde. Die Wendung ,Alle konkreten Einzeldinge sind (identisch mit) Gott‘ erlaubt nämlich zwei bis drei unterschiedliche Lesarten:16 (1) Jedes einzelne konkrete Einzelding ist Gott. (2) Alle konkreten Einzeldinge zusammen sind Gott. (3) Die Ganze aller konkreten Einzeldinge ist Gott.
Lesart (1) spricht individuell von den Einzeldingen und meint in einer wohlwollenden Interpretation, dass jedes Einzelding in dem, was es als solches ausmacht, mit Gott identisch oder, schwächer ausgedrückt, göttlich ist. Lesart (2) meint, dass die Gesamtheit oder die Aggregation aller Individuen mit Gott zusammenfällt.17 Lesart (3) deutet schließlich darauf hin, dass alle Einzeldinge in ein durch bestimmte Prinzipien geordnetes und systematisches Ganzes eingebettet sind, von dem wiederum gefragt werden kann, ob es grundlegender als seine Teile und deshalb mit Gott identisch ist.18
dadurch verschärft, dass der Term ,Pantheismus‘ zumeist und in erster Linie als wertender Begriff fungiert. Vgl. L 1982, S. 244 f. 16 Ähnliche Interpretationen ergeben sich für den Allquantor in Panentheismus-Definitionen, die allerdings schwächer sind, weil sie keine Identitätsbeziehung implizieren. Vgl. die Analogien zu den Lesarten (1) und (2) bes. G 2015, S. 40–45. Hegel nimmt selbst eine solche Lesarten-Unterscheidung vor, wenn er etwa im Kolleg von 1827 im Rückgriff auf die Urteilslogik die „Reflexionsallgemeinheit“, die ungefähr Lesart (2) entspricht, von dem „All, das schlechthin eins bleibt“ (VPR 4, S. 469) unterscheidet, die man mit bestimmten Zusatzqualifikationen mit Lesart (3) engführen kann. Vgl. hierzu auch ebd., S. 175. 17 Dem entspricht ungefähr ein Pantheismusbegriff, demgemäß Gott und die Welt ,mathematisch‘ identisch sind. Vgl. B/J 2016, S. 222. 18 Mit J. Schaffer kann man ,grundlegender‘ hier durch die ,grounding‘-Beziehung näher erläutern, das heißt genauer durch nicht-epistemische, wohlfundierte, irreflexive, asymmetrische ontologische Ordnungsrelationen. Vgl. S 2010a, S. 37. Eine damit verwandte, aber nicht identische Auffassung des Weltganzen findet sich etwa in Kants Unterscheidung
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Es ist evident, dass in keiner der Lesarten ein zumindest ansatzweise personaler Gottesbegriff vorausgesetzt werden kann, den Schelling Hegel unterstellt. Um die Identifikation beibehalten zu können, müssen vielmehr die inhaltlichen Merkmale des Gottesbegriffs mit denen der empirischen Einzeldinge – individuell, kollektiv oder ihrer Gattung nach – zusammenfallen. Pantheismus besteht für Hegel also darin, „daß Alles, d.h. die empirischen Dinge ohne Unterschied, die höher geachteten wie die gemeinen, sey, Substantialität besitze, und diß Seyn der weltlichen Dinge sey Gott“ (Enz. 573A, GW 20, S. 559). Diese Definition des Pantheismus greift auf Lesart (1) zurück, indem sie das, was die empirischen Individuen ausmachen soll, nämlich ihre selbstständige Existenz, mit Gott selbst identifiziert.19 Um die irreführende Rede von Gott als dem „Abstracte[n] der Gattung“ (ebd., S. 558) aller endlichen Dinge selbst zu vermeiden, bezeichnet Hegel diese Variante des Pantheismus auch als „Allesgötterei“ (VPR 4, S. 469)20 und begegnet dem Pantheismus-Vorwurf mit folgendem Argument: Wäre dieser Vorwurf berechtigt, dann müsste sich die ,Allesgötterei‘ nach Hegel (a) mindestens in denjenigen Religionsformen und philosophischen Systemen wiederfinden, die gemeinhin als ,pantheistisch‘ eingestuft werden. Es müsste dann aber (b) möglich sein, die Grundprämissen von Hegels System mit diesen Religionsformen engzuführen oder zu identifizieren, damit der Vorwurf gegen Hegel vorgebracht werden kann.21 Hegels zentraler Einwand besteht darin, dass der vermeintliche Pantheismus in diesen Religionsformen und Philosophien Schritt (b) zwar tatsächlich zu ermöglichen scheint. Nach Hegel gelingt dies aber nur unter der Voraussetzung einer abweichenden Auffassung des Pantheismus, die die Unterstellung der ,Allesgötterei‘ von vornherein blockiert. Dieser argumentative Schritt lässt sich schnell im Rückgriff auf Hegels Überlegungen zur ersten Religionsform klären, auf die Hegel auch in Enz. § 573A zurückgreift und u.a. mit ausführlichen Zitaten aus der Bhagavad Gita und des persischen Mystikers Rumi belegt. Kennzeichnend für diese Religionsform ist eine doppelte Verhältnisbestimmung des Absoluten zu den kontingenten Indi-
zwischen ,Systemen‘ und ,Aggregaten‘. Vgl. KrV A 645 f./B 673 f. und A 832 f./B 860 f. Das System der Arten natürlicher Individuen ist für Kant dabei, wie in Abschn. II.3.1 dargelegt, nach drei Prinzipien organisiert, die eine Engführung mit dem scala naturae-Gedanken erlauben, dem wir in Abschn. II.3.3 auch bei Hegel begegnet sind. 19 Versteht man in diesem Sinne unter dem Göttlichen dasjenige, was allein im starken Sinn unabhängig oder selbstständig existieren kann, dann kann man diese Deutung auch auf Lesart (2) und (3) übertragen: Hegels Pantheismus-Definition würde demnach bedeuten, dass nur die Summe oder das Ganze all dessen, was konkret existiert, das selbständig Existierende ist, nicht aber dessen Teile. Dem entsprechen m.E. einige holistische Hegellesarten, auf die oben schon kurz hingewiesen wurde. Vgl. oben S. 308 Fn. 167 und ferner auch S 2010a, S. 67 f. 20 Dieselbe Bezeichnung findet man in Hegels Replik gegen F.A.G. Tholuck in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie. Vgl. Enz. GW 20, S. 11 Fn. Tholuck zählt zu den Hauptvertretern des Pantheismus-Vorwurfs gegen Hegel. Vgl. J 22010, S. 505. 21 Vgl. Enz. § 573A, GW 20, S. 559.
5.2 Monismus und Transzendenz
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viduen, die aus einem spezifischen konzeptuellen Fokus folgt.22 Demnach soll das Absolute zum einen deren Existenz ermöglichen und erklären können, weil jene Individuen von ihm ontologisch abhängig sind. Zum anderen soll das Absolute in seiner Natur zum Ausdruck bringen, was kontingente Individuen – individuell oder kollektiv – in ihrem Wesen wirklich ausmacht und was sie in Wahrheit sind. Diesen alternativen Sinn des Pantheismus-Begriffs erläutert Hegel so: Diß Alles […], die unendlich-viele sinnliche Vielheit des Endlichen ist in allen diesen Vorstellungen, als das Accidentelle bestimmt, das nicht an und für sich ist, sondern seine Wahrheit an der Substanz, dem Einen hat, welches verschieden von jenem Accidentellen allein das Göttliche und Gott sey. (Enz. § 573A, GW 20, S. 561)
Trifft diese Einschätzung zu, dann verfehlt der Vorwurf der ,Allesgötterei‘ die sog. pantheistische Religionsform in ihrem Kern. Anders als angenommen wird dort den kontingenten Individuen gar nicht ,Substantialität‘ im starken Sinne zugeschrieben. Weder sind sie zu einer unabhängigen Existenz fähig noch lässt sich ihre konkrete essentielle Verfassung und damit ihre spezifische Identität aus ihnen selbst verstehen. Im Anschluss an J. Schaffer könnte man diese Position als eine Variante des sog. „Priority Monism“ verstehen, demzufolge genau eine ontologisch grundlegende oder basale konkrete Entität existiert, die einen entsprechenden Vorrang gegenüber allen anderen derivativen Entitäten hat – auch wenn man mit Hegel Schaffers Identifikation dieser Entität mit dem Weltganzen nicht teilen muss.23 Mit Schaffer kann man ferner die hier relevante Basierungsrelation durch ,grounding‘-Beziehungen analysieren, die im hegelschen Kontext durch den doppelten Begriff von ,Substantialität‘ anklingt. Wenn aber feststeht, dass sich die, aristotelisch gesprochen,24 ,erste‘ und ,zweite Substantialität‘ endlicher Dinge einer Entität verdanken, die nicht im selben Sinne derivativ ist,25 dann lässt
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Vgl. zu dieser Religionsform die Erläuterungen in III.4.2. S 2010a, S. 42 f. und 65. Schaffers These der ontologischen Priorität des Universums vor seinen Teilen will nur eine Aussage über die aktuale Welt treffen (vgl. ebd., S. 45), während die hegelsche Variante von einem metaphysisch notwendigen Absoluten ausgeht, das die Grundlage für die nur relativ basalen Universen in allen metaphysisch möglichen Welten bildet. Diese Auffassung unterscheidet sich darin zwar grundsätzlich von Schaffers Monismus, der sich in analoger Form in den Hegel-Lesarten u.a. in D V 1988b, S. 12 f. und B 2008, S. 5 f. findet. Sie ist aber kompatibel mit der Intuition eines relativen Vorrangs der Naturordnung vor seinen Elementen. Wer sich mit beiden Auffassungen nicht anfreunden möchte, kann auch mit der Monismus-Definition von Horstmann vorliebnehmen, der die Modalität und Identität der fraglichen unabhängigen Entität zunächst offenlässt. Vgl. H 1990, S. 17. 24 Vgl. A/G 1961, S. 7 f. und M 2017, S. 267–269. Auf diese Unterscheidung spielt Hegel selbst deutlich an. Vgl. etwa Enz. § 552A, GW 20, S. 538. 25 Dieser Token-Monismus lässt sich damit mit Schaffer auch scharf vom sog. „Existenzmonismus“ unterscheiden, der von der Existenz von einer und nur einer konkreten Entität ausgeht. Vgl. S 2010a, S. 65 f. Wenn im Folgenden daher von ,Monismus‘ gesprochen wird, dann nur im o.g. qualifizierten Sinne der ontologischen Unabhängigkeit des hegelschen Absoluten und seiner Priorität vor dem Weltganzen und seinen Teilen. 23
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
sich die Identifikation des Absoluten mit der Gattung, dem Aggregat oder dem Ganzen aller endlichen Individuen nicht mehr verständlich machen. Dass eine Form der Identifikation in der ersten Religionsform dennoch vollzogen wird, liegt für Hegel, wie wir in Abschnitt III.4.2 haben, an deren konzeptuellem Fokus, der dort auf der ,wahren Unendlichkeit‘, der ,Macht‘ und der ,absoluten Notwendigkeit‘ des Absoluten liegt. Eben weil diese Religionsform allein durch diesen ,metaphysischen Begriff‘ des Absoluten gekennzeichnet ist, gibt es nach Hegel für die symbolische Einbildungskraft dort keinerlei weitergehende Kriterien, ein adäquates Modell für das Absolute und die Abhängigkeitsbeziehungen zu bilden. Dies hat nach Hegel zur Folge, dass die Beziehungen der Abhängigkeit für das religiöse Bewusstsein entweder direkt in natürlichen Entitäten anschaulich werden, die etwa die Existenz und das Leben anderer Dinge ermöglichen und darin ihre ,Macht‘ beweisen. Oder die religiöse Phantasie zieht mehrere Entitäten und Gegenstandsbereiche heran, die gleichwertig nebeneinanderstehen. Entsprechend willkürlich soll für Hegel die Auswahl an Objekten sein, in denen das Absolute anschaulich wird.26 Der Kontext der o.g. Stellen macht nun deutlich, dass Hegel sein System selbst als eine Form des Monismus versteht,27 wenn es auch, wie sich zeigen wird, nicht vollständig mit der ersten Religionsform zusammenfallen kann. Die Unterstellung der ,Allesgöttererei‘ kann es also nicht treffen. Man könnte allerdings behaupten, der hegelsche Monismus sei mit dem klassischen Theismus inkompatibel, und den Pantheismus-Vorwurf so als einen religionshermeneutischen Einwand verstehen. Dieser würde aber nur dann sein gewünschtes Resultat erzielen können, wenn die These, es gäbe genau eine im starken Sinne unabhängige Entität, keinerlei Äquivalent im traditionellen christlichen Glauben hätte. Hegel äußert dagegen häufiger die Überzeugung, der Monismus folge aus dem Schöpfungsglauben. Entsprechend heißt es von den „Geschöpfe[n]“ an einer Stelle prägnant: „Damit ist ihnen der Stempel aufgedrückt, daß sie nicht wahrhaft selbstständig sind.“ (VPR 4, S. 326)28 Nach den oben entwickelten hermeneuti-
26 Demnach ist die „indische Religion“ nach ihrem ,metaphysischen Begriff‘ für Hegel zwar ein „Monotheismus“, nach ihrer ,Vorstellung‘ hingegen zugleich polytheistisch: „Aber diese Einheit Gottes und zwar geistigen Gottes ist so wenig concret in sich, so zu sagen kraftlos, daß die indische Religion die ungeheure Verwirrung ist, eben so sehr der tollste Polytheismus zu seyn.“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 561) Die Einheit und Einzigkeit Gottes, und mit ihr seine Unterschiedenheit von der Welt, wird nach Hegel bei den „Muhammedanern“ und insbesondere bei Rumi „in der schönsten Reinheit und Erhabenheit“ (ebd., S. 562) zum Ausdruck gebracht. 27 Vgl. Enz. § 573A, GW 20, S. 565 sowie ferner u.a. WdL I/1, GW 21, S. 142 f. und VPR 3, S. 268 f. Vom „absolute[n] Geist“ heißt es entsprechend, er sei „die Eine und allgemeine Substanz“ (Enz. § 554, GW 20, S. 542). Vgl. hierzu T 1970, S. 122 f. und zu Hegels Monismus im Allgemeinen vgl. K 2013, S. 308 f. 28 Vgl. VPR 4, S. 44, 564 f.; VPR 5, S. 27 und 217; zur Deutung vgl. ferner N 2009, S. 90 f. Auf die gleichlautenden Implikationen in Hegels Interpretation der christlichen Schöpfungslehre werde ich unten in Abschn. III.5.4. genauer eingehen. Die These von W.
5.2 Monismus und Transzendenz
509
schen Kriterien kann man einer solchen Aussage nur dann einen Sinn abgewinnen, wenn man – neben den Glaubensbekenntnissen – auf kanonische Schriften und eine theologische Auslegungstradition als Vergleichsgrundlage zurückgreift. Im Folgenden werde ich mich maßgeblich am Johannesprolog orientieren, wo es vom λο γος, der im Ursprung bei Gott und Gott selbst war, bekanntlich heißt: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ (Joh 1,3 EÜ)29 Deutet man diesen Satz von den Konzilsentscheidungen in Nizäa her, dann gilt, dass der λο γος (i) mit Gott, dem ,Vater‘ gleichwesentlich30 ist und die Domäne des Allquantors sich (ii) nicht nur auf alle ,sichtbaren‘ konkreten Individuen, sondern auch auf alle ,unsichtbaren‘ Abstrakta erstreckt.31 Das Entstehen konkreter Einzeldinge als auch ihre kontinuierliche Existenz wird damit ebenso vom λο γος ermöglicht und verwirklicht wie die Existenz aller Typen abstrakter Gegenstände – wenn es sie denn gibt. Folglich kann es nichts außer Gott geben, das im stärksten Sinne ontologisch unabhängig ist. Sollten daher endliche und kontingente Individuen dennoch unter die Kategorie der ,Substanz‘ fallen, dann muss das definiens der selbständigen Existenz in einem Maße abgeschwächt werden, damit die Kompatibilität mit Gottes Aseität gewährleistet ist.32 Nun haben wir oben in Abschnitt I.1.1 gesehen, dass Hegel in seiner Explikation der Substanzkategorie weitestgehend Spinoza folgt, der gerade Aseität zum definiens der Substanz macht. Folgt man diesem Sprachgebrauch, dann spricht wenig dagegen, dem christlichen Glauben eine Variante des Substanzmonismus zu unterstellen.33 Diese Redeweise wäre für Hegel nur dann ein religionshermeneutisches Problem, wenn sein Ansatz per se eine relativ selbstständige Existenz kontingenter Individuen vollständig ausschließen würde. Das
Desmond, Hegel verwerfe die unilaterale ontologische Abhängigkeitsbeziehung der kontingenten Individuen zu ihrem Ursprung, halte ich daher insgesamt für fraglich. Vgl. D 2003, S. 128 und zur Diskussion N 2005, S. 122–125. 29 πα ντα δι’ αυÆ τουÄ εÆ γε νετο, καιÁ χωριÁ ς αυÆ τουÄ εÆ γε νετο ουÆ δεÁ εÏ ν οÊ γε γονεν (Joh 1,3). 30 Zu den theologischen und ontologischen Folgen der Nicänischen Metaphysik, insbesondere der Transzendenzauffassung vgl. bes. H 2017, S. 147–154. Auf diese Spezifika der christlichen Konzeption der Selbstbeziehung Gottes macht Hegel etwa im Manuskript aufmerksam. Vgl. bes. VPR 5, S. 23 f. 31 Eine explizite Ausweitung der Domäne des Allquantors lässt sich spätestens bei den Kirchenvätern nachweisen, wenn nicht schon in Kol 1, 15 f. Vgl. hierzu die instruktive Übersicht über die wichtigsten biblischen und theologischen Quellen in C 2016, S. 13–40. In Abschn. II.2.4 wurde gezeigt, dass auch Hegel die ontologische Abhängigkeit der Abstrakta vom Absoluten annimmt. 32 Vgl. Mon., Kap. 28, S. 120–123 sowie P 2002, S. 69 und M 2017, S. 270 f. 33 Entsprechend schreibt etwa R. Pasnau über Thomas’ Beziehung zu Spinozas Substanzendefinition: „If Aquinas had accepted this definition of substance then he would have been forced into the same conclusion, because for Aquinas as much as for Spinoza nothing can exist independently of God.“ (P 2002, S. 69) Zu parallelen Aussagen kommt auch M. de Nys in seinem instruktiven Vergleich zwischen Hegel und Thomas. Vgl. N 2009, S. 93–95.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
obige Zitat spricht den „Geschöpfe[n]“ aber lediglich die „wahrhaft[e]“ (VPR 4, S. 326) Selbstständigkeit ab. Dies verhält sich geradezu komplementär zu Hegels Bestimmung der „G“ des Absoluten im Manuskript, die darin besteht, „Selbstständigkeit der S , die die Seite des Andersseins ist“ (VPR 5, S. 24).34 Diese Aussagen zeigen, dass für Hegel endliche Individuen zwar keine vom Absoluten unabhängige Existenz, wohl aber eine klar unterschiedene, numerische und essentielle Identität besitzen. Und dies lässt sich durchaus mit generell-metaphysischen Prämissen des klassischen Theismus in Verbindung bringen.35 Wie steht es aber mit der weiteren monistischen Annahme, dass das Absolute nicht nur ontologisch unabhängig, sondern auch ,wahrhaft unendlich‘ ist? Hegel äußert diesbezüglich die Überzeugung, dass dies direkt im klassischen Gedanken der „Allgegenwart Gottes“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 568)36 enthalten ist. Mit Blick auf den klassischen Theismus eines Thomas v. Aquin lässt sich eine solche Engführung plausibilisieren. Denn ,unendlich‘ ist Gott für Thomas deshalb, weil seine einfache Natur die Vollkommenheiten aller Gattungen dessen, was ist und was sein kann, zum Ausdruck bringt und in sich vereint. Demnach kann in Gott zum einen nichts, was seiner Natur nach möglich ist, unverwirklicht sein. Zum anderen lässt sich Gottes Natur nicht, wie ein konkretes Einzelding, seiner spezifischen Identität nach klassifizieren und ist deshalb nicht hinsichtlich seines Wesens definitorisch unterscheidbar.37 Er kann damit auch nicht unter eine Art von Entitäten des Universums unter anderen fallen.38 Unter Voraussetzung der Konsubstantialität des λο γος folgt, dass das, was Gott wesentlich ausmacht, auch dem λο γος zukommen muss.39 Übersteigt Gottes Natur alle natürlichen 34
Vgl. die analogen Schlussfolgerungen von M. de Nys ebd., S. 96. Nach dem aristotelischen Identitätsgedanken richtet sich etwa die numerische Identität einer Substanz u.a. nach ihrer Raumzeitstelle, die spezifische hingegen nach der substantiellen Form, die wiederum die Artzugehörigkeit ermöglicht. Vgl. O 2007, Chap. 5. Von Hegels ,absoluter Idee‘ soll gelten, dass sie weder eine bestimmte Raumzeitstelle einnimmt noch unter genau eine natürliche Art unter anderen fällt, was aber gerade endliche Individuen auszeichnen soll. Damit ergibt sich nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen beidem. Aus den genannten Annahmen folgt zudem eine relative Unabhängigkeit der Existenzform endlicher Substanzen. Denn Akzidenzen wie die körperlichen Teile wären etwa sowohl hinsichtlich ihrer Existenz als auch hinsichtlich ihrer Identität von Einzeldingen abhängig, deren Träger sie sind, obwohl sich die Existenz dieser Dinge selbst vom Absoluten her erklärt. 36 Vgl. zu dieser Engführung Hegels bes. T 1970, S. 123 und zum Begriff der ,wahren Unendlichkeit‘ oben Abschn. II.2.5. 37 N. Kretzmann nennt in seinen Erläuterungen zu SCG I, Kap. 28 diese beiden Hinsichten die ,intensive‘ und ,extensive‘ Vollkommenheit Gottes. Vgl. K 1997, S. 141 f. 38 Analog zu Hegel heißt schreibt J. Haldane über Gott: „He is not a something or other, a this or that; but nor of course is God nothing. Rather we might say, as does Meister Eckhart in a series of fascinating philosophical reflections, that God is no-thing.“ (S/H 2 2003, S. 132) Insofern Definierbarkeit für Thomas ein definiens für Substanzen im Normalsinn ist, kann Gott nach Thomas, wenn überhaupt, nur eine Substanz sui generis sein. Vgl. die Diskussion von STh I. qu.3 a.5 in M 2017, S. 277 f. 39 Im Sinne der extensiven Vollkommenheit heißt es daher vom λο γος in Thomas’ Kom35
5.2 Monismus und Transzendenz
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Arten, weil er sie in gewisser Weise in sich enthält, dann gilt das gleiche auch für den göttlichen „Begriff“40, mit dem Gott sich selbst und alles anderen erkennt und durch den er die Existenz des Endlichen begründet. Hieraus ergibt sich eine mögliche Lesart des zweiten Teils von Joh 1,3, die mit Hegels Rede von der ,wahren Unendlichkeit‘ übereinkommt und die ebenfalls von Thomas v. Aquin vertreten wurde. Demnach kann man die Präposition χωρι ς nicht nur mit ,ohne‘ (lat. sine), sondern auch im wörtlichen Sinne mit ,außerhalb‘ (lat. extra) übersetzen: Hoc est: nihil factum est extra ipsum [, d.h. extra Verbum, W.L.], quia ipse ambit omnia, conservans ea.41 Diese Bemerkung ist für den vorliegenden Kontext gleich doppelt aufschlussreich. Zum einen enthält sie nämlich eine These, die, wie sich unten zeigen wird, auch Hegel explizit äußert – nämlich, dass in Gott der Akt der Existenzerhaltung aller Dinge mit dem Akt des Erschaffens zusammenfällt.42 Zum anderen wird dies im Zitat direkt durch die Prämisse begründet, dass Gott – als das unendliche Sein selbst – alles umfassen und so Sinne in allen Dingen präsent sein muss.43 Trifft Thomas’ Deutung von Joh 1,3 zu, dann lässt sich abschließend noch ein anderes Hindernis ausräumen, dass Hegels religionshermeneutische Schlussfolgerungen zu blockieren scheint. Oft wird nämlich gegen Hegel vorgebracht, die von ihm behauptete ,Immanenz‘ des Absoluten sei mit der Transzendenzauffassung des klassischen Theismus unverträglich.44 Ein Grundproblem dieses beliebmentar zum Johannesprolog: [C]um enim intelligat, et seipsum etiam et quicquid intelligit per essentiam suam, uno acto, unicum Verbum divinum est expressivum totius quod in Deo est, non solum personarum, sed etiam creaturarum: alias esset imperfectum. (Thomas v. Aquin, Das Wort, S. 8) Vgl. zu dieser Stelle auch P 2002, S. 328. 40 So übersetzen K. Albert und L. Dümpelmann den Terminus intentio intellecta an folgender Stelle: „Daher kann von Gott durch ein einziges Erkenntnisbild [per unam speciem intelligibilem], das das Wesen Gottes ist, und durch einen einzigen im Erkennen hervorgebrachten Begriff [per unam intentionem intellectam], der das göttliche Wort ist, das Viele erkannt werden.“ (SCG I, Kap. 53, S. 201) 41 Thomas v. Aquin, Das Wort, S. 54. J. Pieper übersetzt: „,Und ohne es ist gemacht nichts‘, das heißt: nichts Geschaffenes ist außerhalb des WORTES, denn es umfängt alle Dinge, indem es sie im Sein bewahrt.“ (ebd., S. 55) 42 Vgl. u.a. STh I. qu.8 a.1co und unten Abschn. III.5.4. 43 „Solange also das Ding Dasein hat [habet esse], so lange muss Gott in ihm gegenwärtig sein, und zwar entsprechend der Daseins-Weise eines jeden Dinges [secundum modum quo esse habet]. Nun ist aber das (Da-)Sein das Innerste und Tiefste in allen Dingen, da ihm für alles, was sonst noch im Ding ist, die Aufgabe des Formgebenden zukommt. […] So muß also Gott allen Dingen, und zwar innerlichst [intime] gegenwärtig sein.“ (STh I. qu.8 a.1co) Zur Relevanz dieser Behauptung für die Hegeldeutung vgl. N 2009, S. 94 f. und ähnlich auch L 1982, S. 280 f. 44 Vgl. u.a. F 1958, S. 348 f.; H 1989, S. 61 f.; D 2003, S. 2–5; H 2005, S. 138–140; . 2006, S. 435; S 2009, S. 61; H 2013b, S. 202, R 2017, S. 360 f. und S 2018, S. 754. Neben der ,wahren Unendlichkeit‘ wird zumeist Hegels Verhältnisbestimmung des göttlichen und menschlichen Geistes als Prämisse angeführt, oder wie Houlgate erklärt: „Hegel denies the radical transcendence and otherness of God. Hegel does not deny the difference between God and humanity: his God is not simply humanity writ
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
ten Einwands liegt daran, dass er voraussetzt, dass das Gegensatzpaar ,transzendent-immanent‘ intuitiv einleuchtend und nahtlos auf den klassischen Gottesbegriff übertragbar wäre. Bei genaueren Blick ist dies aber keineswegs der Fall: Genauer betrachtet steht der Ausdruck ,transzendent‘ für eine zweistellige Relation der Form ,a ist transzendent gegenüber b‘, die man mit F. v. Kutschera in mindestens vier verschiedenen Hinsichten ausdifferenzieren kann, bezüglich derer eine Entität a (oder ein Bereich von Gegenständen) eine andersartige Entität b übersteigen soll.45 a ist nach Kutschera ,ontisch‘ transzendent, wenn sie einem ihrer Art nach radikal verschiedenen Gegenstandsbereich angehört. Im ,kausalen‘ Sinn hingegen kann a transzendent sein, wenn a und b nicht aufeinander einwirken können.46 ,Epistemisch‘ transzendent ist a, wenn sie prinzipiell oder zumindest für uns Menschen nicht erkennbar ist. In einer schwächeren Fassung kann Entität a schließlich epistemisch zugänglich sein, aber unsere Möglichkeiten einer adäquaten Beschreibung übersteigen. Die Entität a wäre in diesem Sinne ,konzeptuell‘ transzendent. Legt man Kutscheras Kriterien an, wird man zu dem Schluss kommen, dass der johanneische λο γος wohl ,ontisch‘, aber sicherlich weder kausal noch im starken Sinne epistemisch transzendent sein kann. Dies ist genau aufgrund derjenigen Bestimmungen der Fall, mit denen sich Joh 1,3 als Ausdruck eines Monismus deuten lässt. Denn zwar ist Gott als λο γος durch seine Wesenszüge von der Welt grundlegend unterschieden. Da er aber deren Existenz permanent ermöglicht und verwirklicht, kann er unter keinen Umständen kausal von der Welt abgetrennt sein. Die Tatsache, dass der Evangelist beide Sachverhalte in Worte fassen kann, spricht schließlich gegen die Annahme, er sei zugleich davon überzeugt gewesen, Gott sei unter keinen Umständen für uns erkennbar.47 Zwar gibt es auch starke Transzendenzauffassungen, die die Jenseitigkeit des Absoluten in large, but is absolute reason–the ,Idea‘–that comes to self-consciousness in humanity.“ (H 2005, S. 138 f.) Dieser Prämisse werde ich mich unten in Abschn. III.5.5 ausführlich widmen. 45 Vgl. im Folgenden K 2012, S. 27 f. Zur Begriffsgeschichte des Ausdrucks ,Transzendenz‘ vgl. bes. H 2015, S. 28–32. 46 Beispiele für ontisch und kausal transzendente Entitäten sind für Kutschera etwa abstrakte Gegenstände und Mentales in nicht-interaktionistischen Fassungen des Leib-SeeleDualismus. Vgl. K 2012, S. 27 f. 47 Gegen die letzte These scheint Joh 1,18 zu sprechen. Allerdings kann sich die Aussage, niemand habe Gott gesehen, erstens bestimmt nicht auf alle Personen beziehen, denn zumindest Gott kann sich selbst erkennen. Zweitens muss die Aussage mit dem christlichen Selbstverständnis kompatibel gemacht werden, dass Gott als fleischgewordenes Wort ,anschaulich‘ wurde. Eine thomanische Deutungsmöglichkeit besteht etwa darin, dass Christus in seiner göttlichen Natur nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Dem fügt Thomas noch den weiteren Gedanken hinzu, dass das Wesen Gottes nicht ,begreifbar‘ und daher zumindest in diesem Leben ,konzeptuell transzendent‘ ist. Vgl. Thomas v. Aquin, Das Wort, S. 154 f.; und zum Unterschied zwischen Erkennbarkeit und Begreiflichkeit vgl. auch D 2006, S. 79 Es ist allerdings fraglich, ob und in welcher Form Hegel eine konzeptuelle Transzendenz des Absoluten akzeptieren würde. Vgl. hierzu die interessanten Überlegungen in N 2005, S. 121.
5.3 Die Personalität des Absoluten
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allen Hinsichten fordern und die mit Hegels eigenem systematischen Anliegen inkompatibel sind.48 Ob aber dieser starke Begriff auf den christlichen Gottesgedanken anwendbar ist, bleibt im Rahmen der obigen Überlegungen zumindest fraglich.49 Als erste Zwischenkonklusion kann man damit festhalten, dass Hegels Zurückweisung des Pantheismus-Vorwurfs erstens nicht nur die monistischen Prämissen deutlich macht, die er seinem eigenen System unterlegt. Zudem lassen sich zweitens die notwendigen Grundbestimmungen eines Monismus durchaus in der klassischen Schöpfungslehre wiedererkennen. Dies lässt schließlich drittens einfache Gegenüberstellungen der hegelschen Immanenz mit der christlichen Transzendenz problematisch werden.
5.3 Die Personalität des Absoluten Die Überlegungen im letzten Abschnitt können nun zwar Schellings erste Annahme plausibilieren, der zufolge auch Hegel davon ausgeht, dass sich das Absolute von allen kontingenten Individuen unterscheidet. Davon bleibt aber die zweite Annahme unberührt, nach der das Absolute zumindest personenähnliche Züge besitzen muss. In diesem Sinne haben es sich Hegelinterpreten schon früh zunutze gemacht, dass es zumindest logisch möglich scheint, die erste Annahme für exegetisch plausibel zu halten, die zweite aber zu verwerfen.50 Auch größere Teile der neueren Hegelforschung kommen entsprechend zu dem Schluss, dass selbst unter Voraussetzung von Hegels eigenen Überlegungen zu diesem Problem das Absolute in keinem Falle im klassischen Sinne als ,Person‘ verstanden werden kann.51
48 So etwa die klassisch neuplatonische Lesart des locus classicus der Transzendenzbehauptung in Pol. 509b9 f. Vgl. hierzu H 2015, S. 29 f. Analog zur obigen Analyse unterscheidet Halfwassen mit der platonischen Tradition die starke von einer schwachen Auffassung der ,Transzendenz‘, die etwa dem Ideenkosmos gegenüber dem Ganzen der endlichen Wirklichkeit zukommen soll. Vgl. ebd., S. 29 f. und zu Hegels Beziehung zur neuplatonischen Transzendenzauffassung ebd., S. 331–349. 49 Die spezifisch christliche Auffassung der Gott-Mensch-Beziehung (vgl. unten III.5.5) bietet eine weitere Prämisse zu dieser Schlussfolgerung. Vgl. hierzu etwa P 1974, S. 179 f. und N 2009, S. 106. 50 In diese Richtung tendiert die Deutungsstrategie, die etwa von B. Bauer vertreten wurde, der den monistischen ,Pantheismus‘ Hegels als Verschleierungstaktik deutet und die zweite Annahme mit der Prämisse verwirft, es gebe nur menschliche Personen. Vgl. die Kritik und Darstellung in T 1970, S. 221–224 und J 22010, S. 521 f. 51 Vgl. etwa die Übersicht in S 2015, S. 24 f.; vgl. ferner . 2018, S. 765; M 2018, S. 217; und zur Diskussion bes. W 2017, Chap. 5; H 2017/18 und H 2017/18. Dies ist freilich nur die Spitze eines Eisberges an Literatur, die spätestens seit dem Tod Hegels zur Frage nach der Personalität Gottes produziert wurde. Vgl. hierzu bes. J 1981 und . 22010, S. 510–515.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Genau genommen scheinen solche Zweifel von Hegels eigenen Äußerungen her gerechtfertigt. Denn gerade seine Auseinandersetzung mit der ersten Religionsform zeigt, dass ein Monismus ohne die Angabe weiterer Bestimmungen des Absoluten in die Suche nach der anschaulichen Präsenz in natürlichen Dingen führen kann, mit denen das Absolute dann unter Umständen identifiziert wird. In Hegels Terminologie ist dies für Religionsformen und philosophische Systeme relevant, in der das Absolute „nur“ als spinozianische „Substanz“ oder als wahrhaft unendliche, „schlechthin allgemeine Gattung“ gedacht wird, „welche den Arten, den Existenzen, einwohnt, aber so daß diesen keine wirkliche Realität zukommt.“ Im nächsten Satz fügt Hegel aber hinzu: „Der Mangel dieser sämmtlichen Vorstellungsweisen und Systeme ist, nicht zur Bestimmung der Substanz als Subject und als Geist fortzugehen.“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 565) Liest man diese Passage von den Ergebnissen von Abschnitt II.4.2 her, lässt sich systematisch und exegetisch eine Brücke zur zweiten schellingschen Annahme bauen. Dort hatten wir gesehen, dass Hegel das ,Erkennen‘, dass die ,absolute Idee‘ kennzeichnen soll, als philosophisch gerechtfertigte Explikation für Anselms Gottesformel versteht.52 Die entscheidende Prämisse für Hegels Deutung bestand darin, dass diese Weise des Erkennens die Aussage rechtfertigt, dass das Absolute, mit Aristoteles gesprochen, ,in gewisser Weise alle Dinge ist‘53, ohne mit ihnen individuell oder kollektiv identisch zu sein – und zwar, weil alles was ist und sein kann, immer schon Inhalt seines Selbsterkennens ist, das das Absolute ausmacht. Um von hier aus zur obigen Aussage zu kommen, muss man lediglich Hegels Prämisse hinzufügen, dass das ,Erkennen‘ zugleich die „Idee des Geistes“ (WdL II, GW 12, S. 198) bildet.54 Nach dem hegelschen Begriff der ,Idee‘ bedeutet dies, dass das, was es wirklich heißt, Geist zu sein, in der Selbsterkenntnis des Absoluten vollständig verwirklicht oder ,objektiv‘ ist.55 Damit spezifizieren die 52 Auf die erstaunlichen Affinitäten zwischen Augustinus’, Anselms und Thomas’ Wahrheitsbegriff und Hegels Begriff der ,absoluten Idee‘ hat J. Schmidt als einer der wenigen aufmerksam gemacht. Vgl. S 2003, S. 84 f. 53 Vgl. die Erläuterung von Aristoteles’ Formel in De an. III, 431b21 in Abschn. II.4.2, bes. S. 364 f. 54 Diese Gedanken bilden die Grundlage für den Geistbegriff in Enz. §§ 438 f. Vgl. oben Abschn. I.2.1. 55 Dem entspricht Hegels Wiederaufnahme des Geistbegriffs in Enz. § 439 im Schlussparagraphen der Enzyklopädie. Vgl. Enz. § 577, GW 20, S. 570 f. Nimmt man diese Passagen ernst, wird W. Jaeschkes Behauptung fraglich, neben der Trinität sei auch die Rede von der Persönlichkeit Gottes „mit Argumenten der Hegelschen Logik […] nicht begründbar“ (J 1981, S. 413). M.E. ist diese These nur insofern korrekt, als die Rede vom ,absoluten Erkennen‘ im ,absoluten Geist‘ Aussagen über die Beziehung zwischen dem menschlichen Wissen vom Absoluten und dem Absoluten enthalten muss, die für Hegel erst dann geklärt werden können, wenn alle kognitiven und sozio-religiösen Voraussetzungen menschlicher Gotteserkenntnis systematisch entfaltet wurden. Aus der Tatsache, dass Hegel die menschliche Bezugnahme auf das Absolute am Ende der WdL nicht thematisiert, folgt daher nicht, dass das Absolute selbst erst mit dem Entstehen menschlicher Personengemeinschaften ein Selbstwissen gewinnen und nur so als Persönlichkeit existieren kann, wie etwa Houlgate
5.3 Die Personalität des Absoluten
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Aussagen der Logik die Formel, mit denen Hegel am Anfang der enzyklopädischen Psychologie ,Geist‘ definiert und wonach sich jede Form geistigen Lebens gerade dadurch auszeichnet, auf Erkenntnis ausgerichtet zu sein. Gemäß Enz. § 439 bedeutet dies genauer, dass ein vernünftiges Individuum selbstbewusste und fundierte mentale Akte der ,Vernunft‘ bilden kann und soll, in denen der Inhalt des Akts mit dem, was sein Bezugsobjekt ausmacht, strukturell identisch ist.56 Jedes ,geistige‘ Leben ist folglich für Hegel immer kognitives und vernünftiges Leben. In Hegels Selbstverständnis ist es von hier aus nur ein kleiner Schritt zur zweiten schellingschen Annahme, wie folgende Passage im Manuskript deutlich macht: „Gott ist Geist, die absolute Tätigkeit, actus purus, d.i. die Subjektivität, unendliche Persönlichkeit“ (VPR 5, S. 16).57 In dieser Passage folgt die Personalität des Absoluten aus dem Umstand, dass es als ,absolutes Erkennen‘ eben ,Geist‘ sein muss. Hegel benötigt hier also eine implizite Definition, die das Personsein an die Fähigkeit des Erkennens knüpft. Diese taucht wirklich im Schlusskapitel der WdL auf. Demnach besitzt der „Begriff“ in seiner vollständigen Verwirklichung als „Idee“ „die Persönlichkeit“ und zwar als der [i] praktische, an und für sich bestimmte, objective Begriff, der als Person [ii] undurchdringliche, atome Subjectivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschliessende Einzelnheit, sondern [iii] für sich Allgemeinheit und Erkennen ist, und in seinem Andern seine eigne Objectivität zum Gegenstand hat. (WdL II, GW 12, S. 236)
Die genaue Interpretation dieser stilistisch undurchsichtigen, keinesfalls selbsterklärenden Passage gehört sicherlich zu den großen Zankäpfeln der Hegelexegese.58 Der folgende Deutungsvorschlag kann daher kaum beanspruchen, alle Rätsel dieser Passage befriedigend zu lösen. Stattdessen sollen auf Basis der Diskussionsergebnisse die definientia der ,reinen Persönlichkeit‘ erläutert werden, um sie dann mit klassischen Personenauffassungen abschließend ins Verhältnis zu setzen. Am schnellsten klärt sich der Schlussteil der Passage, die auch die analytische Brücke zu Hegels Identifikation Gottes mit der ,unendlichen Persönlichkeit‘ im Manuskript bildet. Die These, dass der absolute „Begriff“ in seinem „Andern“ sich selbst und damit „seine eigne Objectivität zum Gegenstand hat“,59 refor-
behauptet. Vgl. H 2017/18, S. 44 und 48. Dagegen spricht schon Hegels Betonung der Selbsttransparenz der ,Idee‘. Vgl. WdL I/1, GW 21, S. 57 und WdL II, GW 12, S. 252 f. 56 Vgl. oben Abschn. I.2.1. 57 Vgl. die gleichlautenden Engführungen in VPR 4, S. 319 und 471. Aufgrund der hegelschen Rede vom Wahren als ,Substanz‘ und ,Subjektivität‘ ist es etwa für W. Pannenberg „schwer verständlich, wie man bei Hegel den Gedanken der Persönlichkeit Gottes vermissen konnte.“ (P 1974, S. 192) 58 Vgl. J 1981. Im Folgenden werde ich mich besonders an der umfassenden Interpretation von L. Siep orientieren, die alle wesentlichen Prämissen enthält, wenn sie auch am Ende zu anderen, m.E. anfechtbaren Schlüssen kommt. Vgl. S 2018, S. 754–766. 59 Dieses „Andere“ enthält nach Siep „nach der Idee des Erkennens alle Gegenständlich-
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
muliert Hegels Begriff der ,absoluten Idee‘ und stellt daher eine Erläuterung dessen dar, was es für den ,Begriff‘ heißt „für sich Allgemeinheit und Erkennen“ zu sein (= [iii]). Seine Natur besteht demnach in der Form des Selbstwissens, wie es oben in Abschnitt II.4.2 umfänglich beschrieben wurde.60 Dieses dritte definiens bildet für Hegel die Rechtfertigung für die vorhergehende Aussage, nach der der ,Begriff‘ auf eine nicht-exklusive Weise „Einzelnheit“ ist (= [ii]). Diese Qualifikation der Individualität legt sich vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen deshalb nahe, weil die absolute ,Idee‘ aufgrund ihrer „Allgemeinheit“ nicht innerhalb der Taxonomie natürlicher Arten spezifisch verortet werden kann, sondern diese vielmehr in ihrer Natur zur Darstellung bringt.61 Als allumfassende und im Wortsinne einzigartige Totalität kann sie dann aber nicht mehr als einmal vorkommen und muss daher singulär und individuell sein.62 Gleichzeitig zeigt der in [iii] angedeutete hegelsche Freiheitsbegriff und dessen Exemplifikation im Absoluten an,63 dass individualistische Personenauffassungen zu eng sind, um den hier gebrauchten Begriff der ,Einzelheit‘ einzufangen. Die intersubjektive Dimension des Personseins streicht Hegel daher klar heraus: Was aber die Persönlichkeit betrifft, so ist der Charakter der Person, des Subjekts, seine Isolierung und Abgesondertheit aufzugeben. […] In der Freundschaft, in der Liebe gebe ich meine abstrakte Persönlichkeit auf und gewinne sie dadurch als konkrete. Das Wahre der Persönlichkeit ist eben dies, sie durch das Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen. (VPR 5, S. 210 f.)64 keit des theoretischen Wissens, nach der Idee des Guten auch die andere Person, die Gruppe, die Institutionen, die Geschichte.“ (ebd., S. 755) 60 In diesem Sinne heißt es im Anschluss an das obige Zitat mit deutlich platonischen Untertönen: „[D]ie absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit.“ (WdL II, GW 12, S. 236) 61 Vgl. die Argumente für die Einzigkeit des Absoluten in VPR 4, S. 35–37 und 293–295. Damit besitzt man zusätzliche Gründe für L. Sieps Aussage, dass für Hegel die Persönlichkeit des ,Begriffs‘ weder mit einzelnen menschlichen Personen (vgl. S 2018, S. 772) noch mit der „menschlichen Gattungsvernunft“ (ebd., Fn. 126) identisch sein kann. 62 Dieser Argumentationslinie lässt sich analog zu Hegels Schluss von der „Allgemeinheit“ des Begriffs auf dessen „individuelle Persönlichkeit“ (WdL II, GW 12, S. 17) am Leitfaden der Idee der beschreibungsfreien Verwendung des Indexworts ,Ich‘ verstehen, den Hegel in der Einleitung in die Begriffslogik entwickelt. Vgl. K 2014, S. 154 f. und oben Abschn. I.2.2. Aus der hegelschen Gleichung ,das Allgemeine = das Einzelne‘ (vgl. Enz. § 63A, GW 20, S. 102 f.), kann man auch L. Sieps implizite Definition von rein ,geistiger Individualität‘ gewinnen, die m.E. auf Kants ,Prinzip durchgängiger Bestimmung‘ zurückgreift. Vgl. S 2018, S. 755. 63 Diese These kann man mit der dritten Nennung des Personalitätsbegriffs im Schlusskapitel der WdL in Verbindung bringen. Dort heißt es von der „reine[n] Persönlichkeit“, dass sie „Alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zu Freiesten macht.“ (WdL II, GW 12, S. 251) ,Frei‘ ist sie deshalb, weil sie nach Hegels Freiheitsformel im Selbsterkennen ,im Anderen bei sich selbst ist‘. Vgl. hierzu auch S 2018, S. 755. 64 Vgl. zu dieser Stelle H 2017, S. 392 f. Dass menschliche Liebe und Freundschaft hier metaphorische Modelle für das Absolute darstellen, erklärt sich dadurch, dass in der
5.3 Die Personalität des Absoluten
517
Als Person soll das Absolute schließlich nicht nur ein wesentlich erkennendes Individuum, sondern zugleich „praktisch“ (WdL II, GW 12, S. 236) sein. Da Hegel dies im direkten Anschluss an das vorhergehende Kapitel zur ,Idee des Guten‘ festhält, scheint dieses definiens in diesem Kontext für ihn unproblematisch zu sein. Mit den Ergebnissen von Abschnitt II.3.3 kann man definiens [i] aber zumindest dadurch plausibilisieren, dass das Absolute nicht nur die Existenz und das Wesen aller von ihm verschiedenen Entitäten, sondern auch deren teleologische Ordnung erklären soll. ,Praktisch‘ wäre das Absolute demnach deshalb, weil das, was in seiner Existenz vom ihm abhängt, auf einen Endzweck ausgerichtet ist, der sich selbst aus der Natur des Absoluten ergibt. Als Zwischenergebnis lässt sich damit zweierlei festhalten: Erstens redet Hegel an der oben zitierten Stelle nicht nur von dem, was es für ein beliebige Individuum allgemein heißen kann, eine Person zu sein. Vielmehr spricht er unzweideutig davon, dass der „Begriff“ „die Persönlichkeit hat“ und „als Person65 […] atome Subjectivität ist“ (WdL II, GW 12, S. 236). Personsein gehört damit für Hegel zu den Wesenszügen des ,Begriffs‘ bzw. der ,Idee‘ selbst.66 Zweitens entspricht jedem der definientia eine begriffs- und ideenlogische Bestimmung. Nach Hegels eigenen Kriterien einer religiösen ,Vorstellung‘ kann daher die Rede von der ,Persönlichkeit‘ auch kein bloß figurativer Ausdruck für das sein, was das Absolute ausmachen soll.67 Um zu entscheiden, ob Schelling mit seiner zweiten Annahme Recht hat, muss daher gefragt werden, ob Hegels Definition mit dem übereinkommen kann, was
Freiheit des Absoluten sein Fremdbezug immer schon Moment seiner Selbstbeziehung ist. Vgl. VPR 5, S. 20 f. In diesem Sinne lässt sich Hegels Personenbegriff auch mit Richard v. St. Viktor in Verbindung bringen. Vgl. P 1961, S. 231 f.; S 2003, S. 225–228 und 229 f. 65 Bei M. Quante heißt es hingegen mit Bezug auf dieselbe Stelle: „Hegel spricht […] im Zusammenhang mit der logischen Idee nur von der ,Persönlichkeit‘ […]. Die Person ist eine der geistigen Manifestationen der Idee und daher nicht Bestandteil der Logik.“ (Q 2011, S. 137 Fn. 24) Das „Missverständnis […], bei der ,logischen Idee‘ […] handele es sich bereits um ein Subjekt, eine konkrete Person“ (ebd., S. 137) scheint aber für Hegel an der oben zitierten Stelle keines zu sein. Vgl. ferner die Rede von „Subject“ und „Person“ in WdL II, GW 12, S. 246. 66 Dass das Ende der WdL tatsächlich die Existenz von Personen offenlässt, wie etwa L. Siep meint, ist daher nicht selbstevident. Vgl. S 2018, S. 765. 67 Zur Kritik an ,metaphorischen‘ Auffassungen der Persönlichkeit des Absoluten vgl. W 2017, S. 191; H 2017/18, S. 43 und S 2018, S. 775. Wenn dies zutrifft, dann bildet der Begriff der ,Persönlichkeit‘ auch kein „Interpretament […] einer nicht-sinnlichen göttlichen Person […], wie sie das religiöse Vorstellen in der innertrinitarischen Personalität (,vor der Erschaffung der Welt‘) enthält.“ (ebd., S. 765) Zwar ist es richtig, dass Hegel Elemente des trinititätstheologischen Vokabulars – wie den Zeugungsbegriff – als Paradigmenfälle der ,religiösen Vorstellung‘ einstuft. Vgl. oben III.3.2. Der Personalitätsbegriff gehört aber ebenso wenig zu einer bloß metaphorischen Rede, wie die strenge Unterscheidung zwischen immanenter und ökonomischer Trinität, die Hegel im Manuskript in aller Deutlichkeit unterstreicht. Vgl. VPR 5, S. 24 f.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
im theologischen Kontext mit dem Personengedanken gemeint ist. Nach der theologiegeschichtlich einflussreichen Definition von Boethius ist eine Person naturae rationabilis individua substantia.68 Interpretiert man diese Formel mit der oben entwickelten Deutung von Joh 1,3, wird klar, dass sie in der Übertragung auf Gott nicht denselben Sinn behalten kann, den sie in der Anwendung auf menschliche Personen besitzt.69 Weder ist Gott ein Individuum, weil sich seine numerische Identität von seiner jeweils eingenommenen Raumzeitstelle erklärt, noch übt er vernünftige Fähigkeiten in derselben Weise aus, wie dies Menschen tun, die – anders als Gott – bestimmte physiologischen Funktionen mit Pflanzen und Tieren teilen. Da nun Boethius’ Definition dies keineswegs zur notwendigen Bedingung des Personseins macht, muss lediglich gefragt werden, ob deren Elemente sich in analoger Erweiterung auf Gott übertragen lassen. Folgt man dabei den Überlegungen in III.5.2, dann ergibt sich ungefähr folgendes Bild:70 Als ontologisch unabhängige und einfache Entität, die aufgrund ihrer Unendlichkeit ebenfalls einzigartig sein muss, leuchtet es zunächst ein, dass Gott ein Individuum – wenn auch sui generis71 – sein muss. Dem entspricht definiens [ii] in Hegels Personalitätsbegriff. Da Gott in paradigmatischer Weise sich selbst und alle Dinge erkennt, folgt zweitens, dass er mindestens in kognitiver Hinsicht eine ,vernünftige Natur‘ besitzen muss.72 Dies hat ein Äquivalent in definiens [iii]. Für die volitive Seite der vernünftigen Natur, die definiens [i] entspricht, lässt sich schließlich drittens mit dem Gedanken der Schöpfung argumentieren: Wenn man
68 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, Kap. III, S. 74. Vom „Geist“ heißt es bei Hegel an anderer Stelle, er sei „die erste Substanz wesentlich als concrete Einzelnheit und Subjectivität“ (Enz. § 567, GW 20, S. 552). Versteht man den Begriff des ,Geistes‘ mit Enz. § 439 als ,Vernunft‘, hat man in dieser Passage alle Komponenten der boethianischen Personendefinition zusammen. Für Anregungen und Hinweise zum Verhältnis zwischen Hegel und Boethius habe ich an dieser Stelle J. Halfwassen herzlich zu danken, der mich in privater Korrespondenz darauf hinwies, dass Hegel vermutlich eine Variation von Boethius’ Personendefinition von seiner Lektüre von Johannes Eriugenas ΠεριÁ ϕυ σεων her kannte. 69 Eine instruktive Erläuterung von Boethius’ Definition für menschliche Personen entwickelt O 2007, S. 248 f. 70 Wie in III.5.2 werde ich mich auch in diesem Kontext an Thomas v. Aquin orientieren. Zu Thomas’ Aneignung von Boethius vgl. S 1996, S. 41 f. 71 Verkompliziert wird diese These freilich durch die klassische Prämisse, dass aufgrund von Gottes Einfachheit die normale Unterscheidung zwischen Attribut und Instantiierung und damit diejenige zwischen Substanz und Proprium in Gott kollabiert. Vgl. u.a. S 2016, S. 84–86. Fügt man hier hinzu, dass etwa kognitive Bestimmungen als intrinsisch relationale Gottes Natur ausmachen, dann folgt, dass für Gott auch die normale Opposition zwischen Substanzen und Relationen nicht gelten kann. Die realen Relationen in Gottes Natur sind daher ,subsistent‘ in Boethius’ Sinne. Vgl. hierzu S 1996, S. 37–39. Der relationale Charakter der Person ist gerade der Kern der trinitätstheologischen Rede von göttlichen Personen ein und derselben göttlichen Substanz. 72 Mit N. Kretzmann verstehe ich hier Intellekt und Wille als notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für die Zuschreibung einer ,rationalen‘ bzw. ,personalen‘ Natur. Vgl. K 1997, S. 197–199.
5.3 Die Personalität des Absoluten
519
als Prämisse voraussetzen kann, dass die Existenz und fortwährende Erhaltung der kontingenten Wirklichkeit sich Gott als dessen explanans verdankt, der zugleich erkenntnisfähig sein muss, dann liegt der Schluss nahe, dass dieser Sachverhalt von Gott immer schon für gut gehalten und als aktualisierungswürdig beurteilt werden muss,73 was als Schöpfungsmotiv gelten kann. Die Frage, ob man tatsächlich auch im hegelschen Rahmen von dieser Prämisse Gebrauch machen kann, wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Schellings zweite Annahme, dass auch Hegels ,Gott‘ zumindest personenähnliche Züge besitzt, von der traditionellen Personendefinition her gesehen keineswegs unplausibel ist. Dies schließt freilich die Inkompatibilität mit andersgelagerten Personalitätsauffassungen nicht aus, die man bei einer Reihe einflussreicher zeitgenössischer Religionsphilosophen findet. Ihnen zufolge ist Gott eine unkörperliche, denkende Substanz im cartesischen Sinne, deren mentales Leben von unendlicher zeitlicher Dauer ist, in dem zu bestimmten Zeitpunkten in Reaktion auf innerweltliche Ereignisse jeweils entsprechende kognitive und volitive Einstellungen ausgebildet werden, die in Eingriffen und Handlungen umgesetzt werden.74 Da in dieser Auffassung aber eine ganze Reihe traditioneller negativer Gottesattribute, wie Einfachheit, Unveränderlichkeit, Zeitlosigkeit etc., geleugnet werden müssen, steht für deren Vertreter fest, dass ihr Gottesbegriff mit bestimmten Versionen des klassischen Theismus inkompatibel ist. So kommt A. Plantinga in seiner Diskussion der von Augustinus und Thomas vertretenen These der absoluten Einfachheit zu dem Schluss, dass sie notwendigerweise die Negation der Personalität Gottes impliziert.75 Versteht man mit Plantinga unter Theismus die Überzeugung, dass die Person Gott existiert, dann müsste er aber Augustinus und Thomas ebenso Atheismus unterstellen, wie er es explizit mit Hegel tut.76 Die konkreten Argumente können hier nicht abschließend diskutiert werden. Der Abgleich dieser Ansätze zeigt aber deutlich, dass die Behauptung, Hegel oder Thomas leugneten die Personalität Gottes, wenig Aussagekraft besitzt, wenn man nicht den technischen Details ihrer Personen- und Gottesbegriffe Rechnung trägt. Zumindest
73 So zumindest das fünfte Argument von Thomas für den Willen Gottes in SCG I, Kap. 72, S. 280. Vgl. hierzu K 1997, S. 207. Will man sich Rückfragen bzgl. spezifischer Voraussetzungen des Schöpfungslehre ersparen, kann man auch auf Thomas’ Argumente zurückgreifen, die direkt aus der Intellektnatur Gottes schließen. Vgl. die Rekonstruktion ebd., S. 203–207. 74 Vgl. etwa S 1993 und P/T 2008, S. 1–5. Einen guten Überblick über diese Position bietet B. Davies in D 32004, S. 9–14 und . 2006, bes., S. 59–61 und S. 75–77. 75 Vgl. P 1980, S. 47. Plantingas Hauptargument beruht auf der Prämisse, dass unter Annahme der absoluten Einfachheit Gott mit seinen Eigenschaften identisch und folglich ein a-personaler, kausal ineffektiver abstrakter Gegenstand sein müsste. Wäre dieses Argument korrekt, dann müssten Augustinus, Anselm oder Thomas – ohne es zu wissen – Atheisten im Sinne Plantingas sein. Vgl. allerdings die interessante Replik in L 2006. 76 Vgl. P/T 2008, S. 19.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
bei der Frage, wie sich Hegels Theorie des Absoluten zur theologischen Rede von der Person verhält, wird man um einen Abgleich mit Autoren wie Boethius, Thomas oder Richard von St. Viktor nicht herumkommen.77
5.4 Die Notwendigkeit der Schöpfung Mit der Plausibilisierung von Schellings Interpretationsprämissen haben wir das Niveau erreicht, mit dem seine kritische Schlussfolgerung nachvollziehbar wird. Genau genommen könnte man dem in Abschnitt III.5.1 zitierten Passus zwei Versuche einer reductio entnehmen, die sich jeweils auf das Gott-Welt-Verhältnis im Allgemeinen und auf die Gott-Mensch-Beziehung im Besonderen beziehen. Entsprechend behauptet Schelling zum einen, der Schöpfungsgedanke impliziere die Falschheit von Hegels Nezessitarismus.78 Zum anderen meint er, die Erschaffung einer Welt setze voraus, dass sich Gott (im logischen und zeitlichen Sinne) ,vor‘ der Ausführung seiner Handlung seiner selbst vollständig bewusst sein kann. Und diese These sei mit der hegelschen Annahme inkompatibel, dass sich Gott erst zu dem Zeitpunkt selbst erkennt, wo es einigen Personen unter bestimmten sittlichen und religiösen Umständen möglich wird, ein echtes Selbstverständnis ihres Wesens im Rahmen ihres Gottesbewusstseins zu entwickeln.79 Mit beiden Kritiklinien steht Schelling keineswegs allein da, sondern formuliert zwei wesentliche Einwände, die bis in die Gegenwart gegen Hegel vorgebracht werden. Im vorliegenden Kontext sind sie besonders deshalb relevant,
77 Dies gilt umso mehr, wenn P.T. Geach mit Folgendem Recht behält: „In the West, even infidel philosophers are not tempted to reject the concept of a person […]. Theologians will sometimes tell you that this use of the word ,person‘ is quite different from its use in Trinitarian theology. It is not true; our concept of a person was forged by the theological controversies about the Trinity; and this term, for which there is no equivalent in Plato and Aristotle, was defined in the context of those very controversies by Boethius, as an ,individual substance of rational nature‘.“ (G 1977, S. 41 f.) 78 Nochmals in Schellings Worten: „Der also, welcher Schöpfer seyn kann, ist freilich erst der wirkliche Gott, aber diese Behauptung ist himmelweit entfernt von jener anderen wohlbekannten: daß Gott nicht Gott seyn würde ohne die Welt; denn er ist schon wirklich Gott als Herr der bloßen Potenzen, und würde als der eine Welt setzen könnende Gott seyn, wenn auch nie eine Welt existirte“ (SW II/3, S. 291). Den Nezessitarismus-Vorwurf werde ich im Folgenden systematisch und unabhängig von Schellings theologischen und metaphysischen Prämissen entwickeln. 79 „Sätze, wie der: Gott komme erst im Menschen, oder auch in diesem nicht einmal, sondern erst in der Weltgeschichte zum Selbstbewußtseyn, hätte man sonst wohl als deductio ad absurdum zur Widerlegung, und zwar zur augenblicklichen und unbedingten Widerlegung, aber nie als zugestandene, ausgesprochene Sätze einer Philosophie zu vernehmen gehabt.“ (ebd., S. 291 f.) Die Tatsache, dass der zweite Einwand direkt die Leugnung von Gottes Freiheit impliziert, erklärt, warum beide Vorwürfe zumeist zusammen vorgebracht werden. Vgl. etwa die instruktive Zusammenfassung der ,katholischen‘ Hegelkritik in L 1982, S. 245–250.
5.4 Die Notwendigkeit der Schöpfung
521
weil ihre Schlüssigkeit Hegels religionshermeneutische Thesen hinfällig machen würde. Im Folgenden soll daher näher beleuchtet werden, wie man in hegelscher Perspektive mit ihnen umgehen könnte. In diesem Abschnitt werde ich den ersten Einwand diskutieren, bevor ich mich im folgenden Abschnitt dem zweiten zuwende. Eine Bewertung des Nezessitarismus-Vorwurfs setzt eine Vorverständigung darüber voraus, ob und wie man nach Maßgabe von Hegels Kriterien überhaupt in einer philosophisch unzweideutigen Weise von einer ,Schöpfung‘ reden kann. In den vorangehenden Abschnitten wurde (i) dargelegt, dass zumindest die Rede von der ontologischen Abhängigkeit kontingenter Individuen vom Absoluten für Hegel philosophisch unverfänglich ist. Darüber hinaus scheint bei Hegel (ii) die Minimalbedingung des Schöpfungsbegriffs erfüllt, der zufolge sowohl die Existenz als auch die Ordnung der endlichen Wirklichkeit eine Art personalen Ursprung besitzen muss. Man könnte nun im Anschluss an letztere Behauptung zu dem Schluss kommen, dass die Weise dieser Abhängigkeit als Handlungsvollzug oder dessen Resultat beschrieben werden sollte. Dies würde sich mit den Hegels Ausführungen zur Schöpfungsvorstellung decken, die als Modell für die Schöpfung die Herstellung eines Artefakts heranzuziehen scheint.80 In Hegels philosophischer Deutung erweist sich aber genau diese Redeweise gleich in mehrfacher Hinsicht als defektiv – zumindest dann, wenn sie im wörtlichen und nicht-metaphorischen Sinne gemeint ist.81 Zunächst setzt die Produktion eines Artefakts gewöhnlich voraus, dass schon vor dem Vollzug der Handlung ein Material existiert, aus dem es hergestellt wird. Wir hatten aber in II.3.2 gesehen, dass Hegel Kants DemiurgenEinwand gegen das teleologische Argument mit der Prämisse zurückweist, dass die vorgängige und selbstständige Existenz einer nicht-informierten Erstmaterie metaphysisch unmöglich ist und daher nur ein leeres ,Verstandesprodukt‘ darstellen kann.82 Die gegenteilige Annahme wäre aber laut Hegel erforderlich, wollte man das Verhältnis des Absoluten zur Welt anhand der Artefakt-Herstellung modellieren. Nach Hegels Prämissen wäre sie zudem schon deshalb ausgeschlossen, weil die Aseität und ,Macht‘ des Absoluten gerade impliziert, dass kontingente Individuen hinsichtlich ihrer Existenz vollständig vom Absoluten abhängig sind. Aus diesem Grund bricht das Modell des Herstellens auch in einer zweiten Hinsicht zusammen: Denn während etwa ein gelungenes Artefakt in der Regel nach dem Herstellungsprozess ohne den Einfluss seines Autors weiter existieren
80
Vgl. oben Abschn. III.3.2. Im Folgenden orientiere ich mich insbesondere an der Diskussion der christlichen Schöpfungslehre im Manuskript. Vgl. VPR 5, S. 24–28 und zu den philosophischen Prämissen in Hegels Interpretation oben Abschn. II.3.3. 82 Dieselbe Kritik wiederholt Hegel im Manuskript. Vgl. VPR 5, S. 26 f. Gleichermaßen scharf ist diese Abgrenzung in Hegels Diskussion der Schöpfungslehre der ,jüdischen Religion‘. Vgl. etwa VPR 4, S. 326–328. 81
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
kann, soll gerade die derivative Selbständigkeit endlicher Individuen laut Hegel zur Folge haben, dass die existenzielle Abhängigkeit permanent vorliegt.83 Daher ergibt sich aus dem Monismus die Identität von creatio originans und creatio continua in Gott. In diesem Sinne notiert Hegel im Manuskript über die „Welt“: „Mit Recht ist daher von jeher statuiert worden, daß – weil ihr das Sein, die für sich bestehende Selbstständigkeit nicht zukomme – (die Erhaltung und Schöpfung identisch) eine Schöpfung (sei.“ (VPR 5, S. 27)84 Dies hat schließlich für Hegel unmittelbare Konsequenzen für die ,Zeitlichkeit‘ des Schöpfungsakts. Bei einem gewöhnlichen Herstellungsvorgang würde man sagen, dass ein Akteur zuvor Pläne ausarbeitet, diese danach umsetzt, woraus zuletzt das fertige Produkt entsteht. Die o.g. Minimalbedingung des Monismus macht es hingegen erforderlich, dass ein und derselbe Existenz-ermöglichende und -verwirklichende Akt des Absoluten zu allen Zeiten vorliegen muss.85 Daraus folgt für Hegel, dass in einem echten Verständnis der Schöpfung „jede Zeitbestimmung überhaupt zu entfernen“ ist. Damit verlieren auch „Fragen wie diese, ob die Welt oder die Materie, υÏ λη, oder von Ewigkeit her ist oder in der Zeit angefangen hat“ (ebd., S. 26), ihre Brisanz für die Schöpfungslehre. Denn selbst wenn das Universum eine zeitlich unbegrenzte, aktual unendliche Vergangenheit hätte,86 blieben die ontologischen Abhängigkeitsbeziehungen erhalten, ohne die weder das Universum selbst noch seine Teile auch nur den Bruchteil einer Sekunde existieren könnten.87
83 Damit wird auch die „Reflexionsbestimmung der Causalität“ (Enz. § 567, GW 20, S. 551) problematisch – zumindest dann, wenn man hier den Alltagsbegriff diachroner effizienter Ursachen heranzieht. Da die ,Tätigkeit‘ des Absoluten die Existenz der kontingenten Wirklichkeit aber erklären kann, wäre eine analoge Erweiterung des Kausalitätsbegriffs erwägenswert, die auch Kant bisweilen ins Auge fasst. Vgl. u.a. KrV A 678 f./B 706 f. Traditionell verstanden sind Ursachen in erster Linie Antworten auf ,Warum‘-Fragen und dies wird durch den Umstand gestützt, dass verschiedene Kausalitätsbegriffe in eine Analogie-Beziehung gebracht werden können. Vgl. H 2015, S. 686–695. Fraglich ist allerdings, ob eine solche Prozedur mit Hegels Kategorienlehre kompatibel wäre. Mit L. Siep könnte man überlegen, ob Hegel nicht am Ende der WdL auf eine Modifikation der Kategorie der ,Teleologie‘ zurückgreift. Vgl. Sieps Abgleich des Vokabulars in WdL II, GW 12, S. 170 und 253 in S 2018, S. 766 f. 84 Mit dieser Aussage könnte sich Hegel u.a. auf die christlich-aristotelische Tradition berufen. Vgl. STh I. qu.8. a.1 und zur Begründung dieser klassischen These bei Thomas vgl. K 2012, S. 345 f. 85 Daher folgt aus der Identität des Schöpfungs- und Erhaltungsakts in Gott die klassische Konzeption der Ewigkeit. Vgl. unten Abschn. III.5.5. Zu dieser Konsequenz. bei Thomas v. Aquin vgl. K 2012, S. 346. 86 Ich bemerke hier nur am Rande, dass die zitierte hegelsche Disjunktion nicht eine dritte Möglichkeit ausschließt, nach der die Zeit selbst anfängt. Vgl. C/S 2009 und H 1987, Band 1, S. 275 Fn. 218. 87 Vgl. hierzu auch SCG I, Kap. 43, S. 169 f. und dazu K 1997, S. 165–168. Eine ausführliche systematische Begründung dieser klassischen These findet sich etwa in K 2012, bes. S. 341–347.
5.4 Die Notwendigkeit der Schöpfung
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Welche Konsequenzen Hegel daraus für die Frage nach der ,Zeitlichkeit‘ des Absoluten zieht, wird uns noch im nächsten Abschnitt beschäftigen. Als Zwischenkonklusion ergibt sich zunächst, dass für das, was mit dem personalen Ursprung der kontingenten Wirklichkeit eigentlich gemeint ist, nach Hegel kein authentisches Modell aus der uns bekannten Praxis menschlicher Akteure zur Verfügung steht und man hier nur schwerlich von einer herstellenden ,Handlung‘ im Normalsinn sprechen kann.88 Dies hat aber m.E. Konsequenzen, die Hegel nicht immer zu ziehen bereit ist: In III.3.2 hatten wir gesehen, dass Hegel etwa im Kolleg von 1827 die Rede von der Schöpfung als Beispiel für eine echte religiöse Vorstellung heranzieht. Wohl vor dem Hintergrund der genannten Restriktionen fügt er dort aber gleich hinzu, dass die Schöpfung eine Sonderklasse religiöser Vorstellungen bilden muss, da hier sowohl der Akteur als auch dessen Aktivität in keinem wahrnehmbaren Kontext stehen kann.89 Eine stärkere These hält Hegel im Manuskript fest: „Erschaffen ist nicht Grund, Ursache sein – ist ein Höheres als diese beschränkten Denkbestimmungen und enthält das spekulative Verhältnis, das Produzieren der Idee“ (VPR 3, S. 157). Damit kann der Schöpfungsgedanke aber nicht das Kriterium einer echten religiösen Vorstellung erfüllen, einen wesentlich nicht-empirischen Sachverhalt durch ein quasi-sinnliches Bild zu veranschaulichen, was oben ausführlich dargelegt wurde. Ferner kommt erschwerend hinzu, dass man nicht nur jede der von Hegel entwickelten philosophischen Unterscheidungskriterien der Schöpfung im klassischen Theismus wiederfinden kann.90 Hegel könnte sich zudem des Umstands bewusst gewesen 88 Soweit ich sehen kann, verwendet Hegel in seiner philosophischen Rekonstruktion der Schöpfungslehre nirgendwo Ausdrücke wie ,handeln‘ oder ,Handlung‘ und spricht vielmehr im aristotelischen neutralen Sinne von ,Tätigkeit‘ oder ,actus‘, was prinzipiell jede Art der Ausübung einer Kausalkraft bezeichnen kann. Dieser Ausdruck wäre der abstrakte Rest, der noch übrigbleibt, wenn man den Prozess durchlaufen hat, der nach H. McCabe dem Ausdruck ,Schöpfung‘ für uns erst seine Bedeutung verleiht: „You yourself have to go through the slow killing of the verb ,to make‘. There is no separable end product, no finally refined concept, which is the meaning of the verb ,to create‘. The death of the verb ,to make‘ is consummated in a resurrection as elusive as that of Christ. It does not simply come back to life. Just as the only way to get at the resurrection is to go through the crucifixion, so the only way to ,understand‘ creation is to attend to the whittling away and death of ,making‘.“ (MC 2013, S. 388) 89 „Nun sagen wir: ,Die Welt ist Erschaffen‘ und bezeichnen damit eine ganz andere Art der Tätigkeit als sonst eine empirische.“ (VPR 3, S. 296) Dieser Punkt wird noch durch Hegels These der Einfachheit von Gottes Tätigkeit unterstützt: „Gottes Tätigkeit ist überhaupt schlechthin nur Eine und dieselbe, nicht eine wahrhafte Mannigfaltigkeit von unterschiedenen Tätigkeiten jetzt und nachher, außereinander und dergleichen.“ (VPR 5, S. 25) 90 Vgl. oben die Fn. 84, 85 und 87. Vor dem Hintergrund der klassischen Theologie muss im Schöpfungsglauben daher auch nichts „therapiert“ (M 2018, S. 183) werden. ,Therapie‘ verdient wohl eher die gängige Fixierung auf das Künstler-Artefakt-Verhältnis bei der Deutung des Schöpfungsbegriffs. Im Selbstverständnis des klassischen Theismus muss diese durch das Modell vertieft werden, demzufolge die Zeugung des Sohnes als ein sprachanaloges Bilden des Wissens von sich und der Welt als Ganzer gedacht wird, das die Grundlage der Schöpfung als göttlicher, deklarativer Sprechakts darstellt. Vgl. etwa nur Mon., Kap. 9 f., wo
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
sein, dass der hebräische Ausdruck für ,Erschaffen‘ in Gen 1,1 spezifisch auf die Tätigkeit Gottes abzielt.91 Dies stützt gerade seine These, die Andersartigkeit der Weltschöpfung werde schon im religiösen Bewusstsein eingesehen.92 In den oben referierten Passagen des Manuskripts sind es daher bezeichnenderweise auch keine religiösen Bilder, die Hegel mit den drei Unterscheidungskriterien zurückweist, sondern nur die Reflexionsprodukte der „leeren Metaphysik des Verstandes“ (VPR 5, S. 26). Um dennoch seine Einordnung unter die Kategorie der religiösen ,Vorstellung‘ aufrechtzuerhalten, könnte Hegel die (mentalen) Bilder, die mit der Schöpfung assoziiert werden, stärker von ihrer (vor-)philosophischen Konzeptionalisierung abgrenzen. Während erstere das Verhältnis von Gott und Welt in eine quasi-raumzeitliche Ordnung bringen,93 macht die philosophische Reflexion mit der Sonderstellung des Schöpfungsgedankens ernst. Welche Unterscheidungskriterien für Hegel herangezogen werden müssen, hat die obige Analyse gezeigt. Vor diesem Hintergrund folgt zwar, dass Hegels merkwürdiger und umstrittener Rückgriff auf schöpfungstheologisches Vokabular am Ende der beiden Logiken prima facie gerechtfertigt sein kann. Haben diese Überlegungen aber auch Konsequenzen für den Nezessitarismus-Vorwurf? Um zu untersuchen, welche Form er unter Hegels Prämissen annehmen müsste, muss man ihn vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse deuten. Vertreter dieses Vorwurfs könnten sich hierbei insbesondere auf Hegels Überzeugung berufen, dass in der begrifflichen ,Aufhebung‘ einer Vorstellung scheinbar isolierte Elemente eines Sachver-
das Artefakt-Modell mit der Idee der göttlichen locutio rationis verbunden wird, sowie instruktiven Ausführungen zum Sprechakt-Modell in S 2018. 91 Vgl. W 1961, S. 1473 f. und L 1975, S. 175 f. Diesen Punkt betont auch N. Mooren mit Blumenberg (vgl. M 2018, S. 181 f. Fn. 288). Er stützt aber nicht ihre Schlussfolgerung, Hegel sei beim Schöpfungsgedankens nur „an einer begrifflichen Bestimmung des Zusammenhangs von Natur und Geist“ (ebd., S. 182) interessiert, was sich zudem nicht gut mit „Hegels monistische[m] Ontologiemodell“ (ebd., S. 67 Fn. 70) verträgt. Vgl. ebd., S. 203. Denn die metaphysische These der ontologischen Abhängigkeit der endlichen Wirklichkeit vom Absoluten bildet gerade den Hintergrund für Hegels Deutung des Schöpfungsbegriffs. 92 Diesen Punkt hebt R. Leuze hervor: „Gerade die mit diesem Verb ausgesagte Analogielosigkeit des göttlichen Schaffens hat Hegels begriffliche Bestimmung in hervorragender Weise erfasst.“ (L 1975, S. 175) 93 In diesem Sinne muss man m.E. folgende Äußerung im Kolleg von 1827 verstehen: „Wir haben da einerseits Gott und andererseits die Welt.“ (VPR 3, S. 295 f.) Dass Hegel hiermit lediglich die (quasi-)räumliche Trennung, nicht aber die Unterscheidung zwischen Gott und Welt meint (vgl. ebd., S. 316), macht die Bemerkung im Manuskript deutlich, die ewige Zeugung des ,Sohnes‘ und die Schöpfung seien „zu unterscheiden und auseinanderzuhalten“ (VPR 5, S. 24): „[U]nd wenn gesagt worden, sie sind an sich dasselbe, so ist genau zu bestimmen, wie dies zu verstehen ist, sonst kann der falsche Sinn […] entstehen, als ob der ewige Sohn des Vaters, der […] sich selbst gegenständlich seienden Göttlichkeit, dasselbe sei als die Welt, physisch und geistig, und unter jenem Sohne nur diese zu verstehen sei.“ (ebd., S. 24 f.) Vgl. zu dieser wichtigen Stelle H 2017, S. 398 f. und allgemein H 2005, S. 129–131.
5.4 Die Notwendigkeit der Schöpfung
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halts in eine logische Ordnung gebracht werden, in der ihre gegenseitige Implikation artikuliert wird.94 Im vorliegenden Falle würde dies bedeuten, dass die Existenz und das Fortbestehen des Universums so an den Begriff ihres Ursprungs gebunden werden, dass sie als eine logisch notwendige Konsequenz erscheinen. Zugunsten Hegels wäre gegen den Nezessitarismus-Vorwurf zunächst zu sagen, dass er keineswegs ein hegelspezifisches Problem darstellt, sondern sich auch auf traditionelle Schöpfungstheologien übertragen lässt, wie Vertreter des Einwands bisweilen selbst zugestehen.95 Bei Lichte besehen betrifft er sogar nicht einmal nur die jüdisch-christliche Fassung. Nach A. Lovejoy ist er vielmehr eine Konsequenz eines tieferliegenden Problems, das mit der spätantiken und mittelalterlichen Rezeption von Platons Timaios entstehen musste.96 Grob gesprochen besteht es darin, dass sich jede Schöpfungslehre im Gefolge Platons auf drei Annahmen verpflichtet, die scheinbar nicht zugleich behauptet werden können. Vergegenwärtigt man sich die bislang herausgearbeiteten Grundzüge von Hegels Monismus und seiner Deutung der Schöpfungserzählung, kann man diese folgendermaßen formulieren. Erstens scheint aus der Aseität in Kombination mit dem Gedanken der ,wahren Unendlichkeit‘ und der Personalität des Absoluten zu folgen, dass nichts von dem, was das Absolute seiner Natur nach sein kann, nicht aktualisiert ist. Es muss daher zu seiner eigenen Selbstverwirklichung keine weiteren Ziele verfolgen und durch die Umsetzung seiner Fähigkeiten erreichen. Daher scheint zu gelten: (1) Das Leben des Absoluten ist seiner Natur nach immer schon vollendet und damit autark.97
Die Aseität des Absoluten impliziert zweitens zumindest einen Begriff der negativen Freiheit, der seine Unabhängigkeit auf dessen Tätigkeit erweitert: (2) Das Absolute vollzieht seine charakteristische Tätigkeit frei.98 94 Vgl. oben III.3.1 und III.3.3. Die Aufhebung der quasi-räumlichen Nebenordnung von Begriffsmerkmalen oder Sachverhalten drückt deren notwendige Einheit, aber nicht Identität aus. Aus dem Umstand, dass die kontingente Wirklichkeit aus dem Begriff des Absoluten erklärt werden kann, folgt daher nur, dass sie sich beide nicht wie zwei räumliche Gegenstände gegenüberstehen, aber nicht, dass sie in Hegels Aufhebung schlicht dasselbe wären, wie bisweilen behauptet wird. Vgl. etwa die instruktive Diskussion dieses Vorwurfs in N 2005, S. 113–116. 95 Vgl. etwa P 1974, S. 199. 96 Vgl. im Folgenden L 1936, S. 48–50 und 54 f. Die Beziehungen zwischen Hegels Naturphilosophie und Platons Timaios waren schon Thema der abschließenden Überlegungen oben in Abschn. II.3.3. 97 Zur traditionellen Annahme der Autarkie des Absoluten vgl. L 1936, S. 42–45. Lovejoy führt diese Annahme u.a. auf Platons Philebos zurück. Zur Autarkie und Freiheit der ,absoluten Idee‘ bei Hegel ferner S 2018, S. 767 f. 98 Lovejoy verwendet die Begriffe ,Autarkie‘ und negative ,Freiheit‘ synonym. Vgl. L 1936, S. 42. Für sein Trilemma braucht Lovejoy allerdings, wie sich zeigen wird, einen stärkeren Freiheitsbegriff, der das sog. ,Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten‘ zur notwendigen Bedingung hat. Vgl. hierzu H 2011, S. 103–106.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Insofern der Monismus auch und v.a. eine Erklärung der Existenz und Struktur der kontingenten Wirklichkeit leistet, gilt schließlich drittens, dass das explanans nicht purer Zufall sein, d.h. nicht analog zu einem spontanen und ziellosen Ereignis verstanden werden kann: (3) Der Vollzug der Schöpfungstätigkeit ist nicht zufällig.99
Nach Lovejoy ergibt sich in der Reflexion auf diese Annahmen nun folgendes Problem: Die Akzeptanz von (3) erfordert die Angabe von Gründen, die im Absoluten selbst liegen müssen. Wenn diese aber mit (2) keine a-teleologischen Erklärungsgründe sein können, müsste man auf unverwirklichte Ziele des Absoluten rekurrieren können. Und dies wäre inkompatibel mit (1).100 Die klassische Antwort auf dieses erste Horn des Trilemmas besteht, wie auch Lovejoy bemerkt, in einem vertieften Verständnis der ersten Annahme.101 Sie lässt sich mit einem Gedankengang entwickeln, den Hegel etwa im Manuskript in komprimierter Form notiert. Dort beschreibt er die Schöpfung als das absolute Urteil, Selbstständigkeit der S , die die Seite des Andersseins ist – G, dieser [Seite] in dieser Entfremdung die ganze Idee, sofern sie und in der Weise als das Anderssein sie in sich aufnehmen und repräsentieren kann, zu verleihen. (VPR 5, S. 24, der Zusatz in der Klammer stammt vom Hrsg.)
Der Kerngedanke scheint hier darin zu bestehen, eine Dimension in der Transzendentalie der „G“ herauszustellen, die nicht direkt aus Annahme (1) ablesbar ist. Demnach kann nur diejenige wirkliche Entität ,gut‘ im echten und herausragenden Sinne sein, die nicht nur im Sinne von (1) ,vollendet‘ ist, sondern die das, was sie selbst gut macht, Anderem zuteilwerden lässt. Da aber nichts gut sein kann, was nicht zugleich existiert, ergibt sich, dass das Teilhaben-Lassen am Guten darin besteht, dass das Absolute dem von ihm unterschiedenen Sein „Selbständigkeit“ gewährt.102 In Konjunktion mit Hegels Prämisse, dass das Absolute
99 Vgl. L 1936, S. 47. Ähnlich heißt es bei Siep zu Hegel: „Die Idee wäre kaum absolut, wenn es sich dem Zufall verdankte, oder jedenfalls für das Denken grundlos wäre, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts.“ (S 2018, S. 768) 100 Diese Prämisse wird in Lovejoys Kritik der klassischen Lösung deutlich, wenn er schreibt, aus ihr folge „the conception of (at least) Two-Gods-in-One, of a divine completion which was yet not complete in itself“ (L 1936, S. 50). W. Desmond legt Hegel hingegen auf die Leugnung von (1) fest und folgert daraus, Schöpfung sei bei Hegel ein ,erotischer‘ Akt, den das Absolute quasi zu seiner eigenen Selbstvervollständigung vollziehen müsse. Zum „[e]rotic [s]elf-[d]oubling“ vgl. D 2003, S. 113–115. Diese Deutung verträgt sich aber nicht mit Hegels Autarkie-Formeln und auch nicht mit seiner Rede von göttlicher Liebe. Zur Kritik an Desmond vgl. auch H 2005, S. 255 f. und H 2005, S. 135–138. 101 Vgl. L 1936, S. 49 f. 102 Vgl. die ähnlich- bis gleichlautenden Bestimmungen göttlicher Güte in VPR 4, S. 41 f., 229 und 566 f. Analog heißt es bei G. Kerr zu Thomas: „Only God, who is being itself, exists essentially, all other things exist through dependence on an act of being granted to them by God.“ (K 2012, S. 345)
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– als ,Idee‘ – das Gute selbst ist, folgt aus diesem Prinzip dann, dass es die Idee selbst sein muss, die sich den anderen Dingen im wörtlichen Sinne mit-teilt. Daher benutzt Hegel am Ende der beiden Logiken reflexive Verben und zwar solche, bei denen nicht der Verdacht aufkommen kann, er greife in illegitimer Weise auf einen figurativen Vergleich mit menschlichen Entscheidungs- und Handlungssituationen zurück: Entsprechend soll die ,Idee‘ nach Hegel sich selbst ,ent-lassen‘, ,ent-schließen‘ und ,ent-äußern‘103 – ebenso wie nach dem platonischen Prinzip des bonum diffusivum sui das Gute sich selbst ,ausbreitet‘ und ,verströmt‘.104 Dieses Prinzip folgt nicht, wie etwa Lovejoy glaubt, aus einem Äquivokationsfehlschluss,105 sondern beruht auf folgendem indirekten Argument: Die Negation dieses Prinzips würde nämlich unter Annahme (1) zu dem Ergebnis führen, dass das Absolute zwar in seiner eigenen Existenz das höchste Gut besitzt, es aber allen von ihm verschiedenen Individuen gewissermaßen ,vorenthält‘. Je nach Motivlage müsste man ihm dann aber eine inadäquate Einstellung zum Guten unterstellen, die klassisch als das Laster des ,Neids‘ eingestuft wird und die folglich mit der Identifikation des Absoluten mit dem Guten selbst inkompatibel wäre.106 Diese Lösung wird durch Hegels zentrale Prämisse verstärkt, dass es gerade in der Natur der ,absoluten Idee‘ liegt, sich selbst als konkrete Totalität vollständig transparent zu sein.107 Die Ermöglichung und Verwirklichung der Existenz anderer Dinge vollzieht sich daher nicht als blinder Akt, sondern im vollständig artikulierten Wissen um das, was die ,absolute Idee‘ als solche ausmacht.108 103 Vgl. WdL II, GW 12, S. 253; Enz. § 244, GW 20, S. 231; ferner VPR 4 S. 566 f. und VPR 5, S. 217. Dass Hegels Engführung von Entschluss mit „Aufschluß“ (WdL II, GW 12, S. 61) nicht per se a-teleologisch zu verstehen ist, macht L. Siep im Anschluss an ebd., S. 170 deutlich. Vgl. S 2018, S. 766 f. 104 Vgl. zu dieser Engführung oben Abschn. II.3.3 und T 1970, S. 268 Fn. 106 und N 2009, S. 101. Dieser platonische Rahmen scheint daher komplementär mit der These, dass die creatio ex nihilo nur die andere Seite der creatio ex Deo ausdrückt. Vgl. H 2005, S. 257. Möchte man diese Prämisse zusammen mit der Annahme aufrechterhalten, der kontingenten Wirklichkeit käme durch die Güte relative Selbstständigkeit zu, dann scheint Hegels obige Rede von der ,Entfremdung‘ des Absoluten nicht unplausibel. Vgl. F 1970, S. 206. Desmonds Häresie-Vorwürfe sind daher revisionsbedürftig. Vgl. D 2003, S. 128–130 und zur Kritik H 2005, S. 256 f. 105 Vgl. L 1936, S. 49. 106 Vgl. u.a. Enz. § 564A, GW 20, S. 549 f. wo Hegel letztlich auf Tim. 29e1–4 und Met. I, 982b34–983a5 anspielt. 107 „[In] dieser Freyheit findet daher kein Uebergang Statt, das einfache Seyn, zu dem sich die Idee bestimmt, bleibt vollkommen durchsichtig, und ist der in seiner Bestimmung bey sich selbst bleibende Begriff. Das Uebergehen ist also hier […] so zu fassen, daß die Idee sich selbst frey entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend.“ (WdL II, GW 12, S. 253) Zur Selbsttransparenz der ,absoluten Idee‘ vgl. auch S 2018, S. 756 und 767. 108 Fügt man hier hinzu, dass im Selbstwissen des Absoluten das Prinzip der ,Dialektik‘ mitenthalten sein muss, durch das alle Kategorien, die das Wesen des Absoluten ausmachen, systematisch expliziert werden (vgl. WdL II, GW 12, S. 241–249), dann erhält man die Grundprämisse des Vorschlags, den V. Hösle und D. Wandschneider entwickeln. Ihnen zufolge ist
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Mithilfe dieser Argumentation kann man den Schluss auf die Negation von (1) durch folgende Differenzierung blockieren: Der Grund der Schöpfungstätigkeit liegt dann nicht in der Verwirklichung von Zielen, die das Absolute bloß um seiner eigenen Selbstverwirklichung willen vollzieht, sondern er besteht vielmehr in der Verwirklichung des Guten in anderen Dingen.109 Doch auch damit lässt sich Lovejoys Trilemma nicht erledigen. Besteht nämlich die Natur des Absoluten in seiner Güte, die wiederum den Schöpfungsgrund darstellt, dann scheint es für das Absolute eine notwendige und hinreichende Determinante zu geben, die den Vollzug der Schöpfung gewissermaßen unvermeidlich werden lässt. Geht man aber davon aus, dass es dem freien Absoluten möglich sein muss, seine Tätigkeit auch nicht zu vollziehen,110 dann folgt aus dem Lösungsvorschlag unmittelbar die Falschheit von Annahme (2). Dieses zweite Horn des Trilemmas bringt nun haargenau den o.g. Nezessitarismus-Vorwurf zum Ausdruck, den man als Leugnung des sog. ,Prinzips alternativer Handlungsmöglichkeiten‘ verstehen kann.111 Zwar mag es schwierig scheinen, den Vorwurf zurückzuweisen, der sich nach dem eben gesagten auf alle Varianten der Schöpfungslehre erstrecken müsste, die mit denselben Prinzipien operieren.112 Dies bedeutet allerdings nicht, dass er sich nicht erheblich entschärfen ließe. Zunächst zeigt sich bei genauerem Blick, dass der Vorwurf schlicht an dem vorbeigeht, was mit der klassischen Lösung eigentlich gemeint ist. Die Natur einer Sache ist ja gerade nicht ein von ihr intrinsisch verschiedener Faktor, der sie zum Handeln nötigt, wie dies bspw. Anfangsbedingungen und Naturgesetze in deduktiv-nomologischen Erklärungen von natürlichen Vorgängen tun. Sie bringt vielmehr ihre essentielle Identität zum Ausdruck und damit das, was die Sache selbst ist.113 Aussagen über die essentielle Identität eines Individuums der Form sind aber metaphysisch notwendig.114 Um dann aber behaupten zu können, dass es die ,Entäußerung‘ der ,absoluten Idee‘ das Resultat einer höherstufigen, nicht-logischen „Anwendung des dialektischen Prinzips auf sie selbst“ (W/H 1983, S. 176) 109 Im Anschluss an die Definition der Liebe als den Willen, das Gute bzw. das gute Leben in Anderem zu bewirken (vgl. u.a. STh I. qu. 20 a. 2co), könnte man Hegels Aussage im Manuskript verstehen, die Schöpfung sei ein Ausdruck „ewige[r] Liebe“ (VPR 5, S. 79). Vgl. zu dieser Interpretation auch H 1987, Band 1, S. 275 Fn. 218. Ich bemerke hier nur am Rande, dass auch der späte Schelling bisweilen auf diese Argumentation zurückgreift. Vgl. etwa SW II/3, S. 304. 110 Vgl. L 1936, S. 54. In den Worten von Schelling lässt sich dieses Prinzip auch so formulieren: „[W]ahre Freiheit erkenne ich erst da, wo es mir in Ansehung meiner selbst gleichgültig seyn kann, so oder so zu seyn, so oder so zu handeln.“ (SW II/3, S. 269) 111 Vgl. H 2011, S. 97 f. Mit F. Hermanni verstehe ich dies als den Minimalkonsens aller Formen des Nezessitarismus-Vorwurfs gegen Hegel. Vgl. H 2017, S. 402 f. 112 Nach N. Kretzmann ist eine Variante des Nezessitarismus bspw. auch für Thomas – trotz verbaler Abgrenzungen – aus den oben entwickelten Gründen unvermeidlich. Vgl. K 1997, S. 223–225. 113 Vgl. hierzu im Allgemeinen u.a. O 2007, S. 86–88.; L 2008, S. 34 f. und zu Hegel bes. S 1990, S. 64. Zu den Konsequenzen dieser Auffassung für das Freiheitsproblem vgl. bes. H 2011, S. 113 f. 114 Vgl. L 2008, S. 45 f. Auch Hegel vertritt die aristotelische Auffassung, nach der
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dem Absoluten möglich sein muss, auch nicht aus seinem Wesen heraus zu handeln,115 müsste man die stärkere Annahme akzeptieren, es stünde in der Macht des Absoluten oder Gottes, notwendige Aussagen in kontingente zu verwandeln – darunter dann auch diejenigen, die seine eigene Identität betreffen. Dies würde aber erstens zu der absurden Konsequenz führen, dass sich Gottes Vollkommenheit selbst zum Verschwinden bringen könnte: Er müsste dann etwa nicht nur einen Stein erschaffen können, den er selbst nicht hochheben kann; es müsste ihm auch möglich sein zu bewirken, dass nicht von allen Aussagen gilt – einschließlich derjenigen über ihn selbst –, dass sie genau dann wahr sind, wenn er sie weiß.116 Selbst wenn dies der Fall sein könnte, würde aus dem radikalen Libertarismus zweitens folgen, dass es dem Absoluten möglich sein müsste, nicht als es selbst zu agieren. Dies würde bedeuten, dass es entweder im Sinne wesentlicher Ziele tätig sein könnte, die unter keinen Umständen seine eigenen, von ihm selbst verfolgten Ziele sein können. Dann aber wäre aber seine Aktivität, gegen (2), im echten Sinne heteronom und der theologische Libertarismus würde kaum einen Fortschritt gegenüber der hegelschen Position darstellen.117 Oder aber das Absolute müsste um gar keiner Ziele willen tätig sein können, womit seine ,Freiheit‘ aber vom Zufall ununterscheidbar wäre. Die Konsequenz wäre das dritte, voluntaristische Horn des Trilemmas, dem zufolge die Aussagen (1) und (2) die Falschheit von (3) implizieren. Neben der Berechnung der Konsequenzen könnte ein Vertreter der klassischen Lösung schließlich darauf verweisen, dass die stärkste Fassung des Nezessitarismus-Vorwurfs auf einem Fehlschluss beruht. Er scheint nämlich zu meinen, dass aus der wahren Aussage, dass das Absolute aufgrund seiner Güte eine mögliche Welt aktualisieren muss, unmittelbar folgt, dass es diese, d.h. die aktuale Welt sein muss, die das Absolute mit logischer Notwendigkeit verwirklicht.118 Wesensaussagen – in seiner Terminologie ,kategorische Urteile‘ – eine Sonderklasse von informativen Identitätsaussagen darstellen. Vgl. u.a. Enz. § 177, GW 20, S. 189 und hierzu S 1990, S. 134 Fn. 34. Identitätsaussagen sind aber notwendige Wahrheiten. 115 In der Formulierung Schellings: „Gott ist an nichts, auch nicht an sein eignes Seyn gebunden.“ (SW II/3, S. 305) Der Grund, warum eine solche Aussagen wenig nachvollziehbar sind, liegt – wie F. Hermanni ausführt – in „der selbstwidersprüchlichen Vorstellung, ich könnte ein anderer sein und im Kern dennoch ich selbst bleiben.“ (H 2011, S. 114) Bezeichnenderweise schwächt Schellings eigene Erläuterung seine These erheblich ab, dass „[d]iese Freiheit Gottes“ darin bestehe, „äußerlich ein anderer zu scheinen, als er innerlich oder seiner wahren Absicht nach ist“ (SW II/3, S. 305). 116 Diese Kritiklinie am sog. ,universellen Possibilismus‘ entwickelt P 1980, S. 127 f. Ob diese praktische Möglichkeit der Selbstentmachtung und -verdummung ein Gütekriterium darstellen kann, lasse ich hier offen. 117 Vgl. hierzu allgemein bes. H 2011, S. 104 f. und zu weiteren Problemen vgl. auch ebd., S. 108–110. 118 So schlussfolgert etwa Lovejoy: „The perfection of the Absolute Being must be an intrinsic attribute, a property inherent in the Idea of it; and since the being and attributes of all other things are derivative from this perfection because they are logically implicit in it, there is no room for any contingency anywhere in the universe.“ (L 1936, S. 54) Zur obigen Kritik an einer solchen Schlussweise vgl. bes. K 1997, S. 225.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Diese Konklusion ist aber keineswegs zwingend. Im Anschluss an die Überlegungen in Abschnitt II.3.3 könnte Hegel etwa darauf beharren, dass gerade die ,Selbstentäußerung‘ der ,Idee‘ gerade die Notwendigkeit modaler Unbestimmtheit in der Natur erklärt.119 Mit Hegel gesprochen wäre eine Welt mit 68 oder 69 Papageienarten damit in rein logischer Hinsicht ebenso aktualisierungswürdig wie eine mit 67 oder weniger. Solange sich also logische und axiologische Modalitäten voneinander abkoppeln lassen, ist zumindest eine minimale Form von Kontingenz im Rahmen der hegelschen und der klassischen Lösung überhaupt nicht ausgeschlossen.120 Gegen den Nezessitarismus-Vorwurf könnte Hegel daher darauf beharren, dass der Schöpfungsakt zugleich frei und notwendig ist.121 ,Frei‘ ist er, weil er selbstbewusst und selbstbestimmt verläuft, und zwar auf eine Weise, die zugleich einen minimalen Sinn von Kontingenz enthalten muss. ,Notwendig‘ hingegen ist der Akt, da er sich aus der Identität des Absoluten ergibt und es daher nur dann den Vollzug seiner Tätigkeit auch hätte unterlassen können, wenn es – per impossibile – nicht es selbst, sondern etwas anderes gewesen wäre.122
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes Man könnte meinen, dass sich mit den von Hegel formulierten und von der ,absoluten Idee‘ eingelösten Freiheitskriterien auch Schellings zweite reductio erledigen würde. Denn wenn die vollständige Selbsttransparenz Gottes schon (im logischen Sinne) vor dem Schöpfungsakt besteht, dann beruht Schellings Unterstellung, nach Hegel würde Gott erst im Verlauf der Menschheitsgeschichte ein Selbstbewusstsein entwickeln können, auf einem groben Missverständnis. Allerdings zeigt schon ein kursorischer Blick auf den Eingangsparagraphen der Philosophie des absoluten Geistes, dass dieser Schein trügen könnte und sich diejenigen, die sich Schelling anschließen, keinesfalls auf wackliger Textbasis bewegen. So heißt es dort gleich zu Beginn, dass der ,absolute Geist‘ nur dann seinen Begriff angemessen realisiert haben kann, wenn „die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sey, um die dessen würdige Gestalt zu seyn.“ Direkt im Anschluss erläutert Hegel diesen komplexen Satz durch den Zusatz, dass „der subjective und der objective Geist […] als der Weg anzusehen“ sind, „auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.“ (Enz. § 553, GW 20, S. 542) Rekurriert man nun auf die interpretatorische Prämissen, dass man a) nach Hegel erst auf der Ebene des ,absoluten Geistes‘ eigent-
119
Vgl. hierzu auch H 2013, S. 71. Vgl. zu dieser leibnizianischen Hegelinterpretation besonders K 2014, S. 162 f. 121 Zur Einheit von Freiheit und Notwendigkeit W/H 1983, S. 179–181. 122 Vgl. H 2017, S. 401–403. 120
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
531
lich von ,Gott‘ sprechen kann,123 der ,absolute Geist‘ hingegen aber b) nichts anderes als die ,Idee‘ ist124, dann kommt man scheinbar schnell zu Schellings Ergebnis: Denn dann müsste man sagen, dass das Selbstwissen der ,absoluten Idee‘ dann und nur dann besteht sind, wenn sich im Laufe der Geschichte ein bestimmtes sittliches und religiöses Umfeld gebildet hat.125 In diesem geschichtlich-institutionellen Kontext muss es dann – so könnte man mit einigen Interpreten meinen – den zugehörigen Personen möglich sein, im Medium ihrer künstlerischen, religiösen und philosophischen Praxis ein echtes Verständnis ihrer jeweiligen Lebensform zu entwickeln oder zumindest kommunikativ auszuhandeln.126 Hält man mit Schelling die resultierende Abhängigkeitsthese für schwer nachvollziehbar, dann scheint eine Identifikation der Relata unter den genannten Prämissen naheliegend127 – etwa indem man die ,absolute Idee‘ zusammen mit dem ,objektiven‘ und ,absoluten Geist‘ als Momente und Aspekte ein und derselben sozialen Wirklichkeit versteht.128 Entsprechend müsste dann die vielzitierte Formel, nach der Gottes „Sich-Wissen […] sein Selbstbewußtseyn im Menschen [ist]“ (Enz. § 564A, GW 20, S. 550), in ihr zweites Glied umschlagen. Wenn Hegel also zumindest verbal die Selbsttransparenz der ,Idee‘ ,vor‘ der Schöpfung behauptet, dann verstrickt er sich entweder – wie Schelling glaubt – in einen glatten Selbstwiderspruch oder er spart sich seine atheistischen Pointen für das Ende der Enzyklopädie auf. Es gehört nun zu den Ironien der Hegelrezeption, dass Hegel die zuletzt zitierte Aussage, die scheinbar am deutlichsten für die entwickelte Interpretations-
123
Vgl. J 22010, S. 454 f. und S 2018, S. 775. Vgl. Enz. § 18, GW 20, S. 59f und Enz. § 381, GW 20, S. 381 f. 125 Vgl. H 2005, S. 138–140; . 2017/18, S. 44 und K 2013, S. 306 f. 126 Entsprechend heißt es in einem neueren Kommentar zu Enz. § 552: „Im absoluten Geist ginge es dann um solche Formen der Organisation menschlicher Gemeinschaften, die zur Stiftung und Bewahrung einer solchen Gemeinschaft beitragen, ohne dass ihr Gehalt sich spezifisch auf die politische Selbstorganisation richtete. […] Diese Praxen richten sich auf den Geist, d.h. das Verständnis der Sinnhaftigkeit von gemeinschaftsstiftenden Praxen selbst. Insofern lassen sie sich als Selbstverständigungspraxen auffassen.“ (M/R/Q 2018, S. 656) Zu analogen Deutungen von Hegels absoluter Idee vgl. oben S. 503 Fn. 12 und die Diskussion in S 2018, S. 772–775. 127 In diesem Sinne beschreibt etwa J.N. Findlay Hegels Variante der „Germanic theology“ (F 1967, S. 100): „The absolute being, that which cannot be removed from being, and which incarnates all excellence, and which lends necessity to the main lines of the world while justifying the contingency of its detail, is none other than our own rational, self-transcendent, thinking being, for the sake of whose emergence and development all things are as they are.“ (ebd., S. 101) Vgl. D 2003, S. 91–93. Zu neueren Deutungen, die in eine ähnliche Richtung gehen vgl. S 2015, S. 23 f. und oben Fn. 126. Diese Interpretationen verpflichten sich, soweit ich sehen kann, aber nicht unbedingt auf die starke teleologische Komponente bei Findlay. Vgl. schon F 1958, S. 46 f. 128 Dies tut etwa Th. Lewis, wenn er meint, Hegel verstehe unter Gott eine „socially constituted subjectivity“ (L 2011, S. 12). Ähnliche atheistische Schlussfolgerungen findet man etwa in S-W 1992, S. 421 f. und 427–429. 124
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
linie spricht,129 von C. F. Göschel übernommen hat, der gemeinhin als einer der paradigmatischen Vertreter des Rechtshegelianismus gilt und von Hegel für seine Verbindung authentischer Frömmigkeit und spekulativer Philosophie – privat und öffentlich – gelobt wurde.130 Dabei verweist Hegel nicht nur in Enz. § 564A explizit auf dessen Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christlichen Glaubenserkenntniß. In seiner Rezension hat er zudem Göschels Zurückweisung der „Anklage der Selbstvergötterung des Wissens“ (GW 16, S. 200) eingehend und zustimmend kommentiert. Daher lohnt es sich zunächst auf Hegels mit Göschel entwickelte Replik einzugehen, um den Rahmen einer alternativen Lesart der genannten Paragraphen zu entwickeln. Kurz zusammengefasst besteht nach Hegel bzw. Göschel die ,Selbstvergötterung‘ auf einem schlichten Fehlschluss der Äquivokation, dessen Aufklärung aber etwas Wesentliches über die von Hegel eigentlich gemeinte Gott-MenschBeziehung aussagen kann. Das zugrundeliegende ungültige Argument fasst Hegel dabei folgendermaßen zusammen: Von dem Urtheile: [1] Wissen Gottes = Seyn Gottes, geht dieser Verstand kurzweg zu dem Schlusse: [2] Gott wissen = Gott seyn; und von da zu dem Endresultate: [3] Wenn ich Gott zu wissen behaupte, muß ich Gott selbst zu seyn behaupten. (ebd., S. 202)
Nach Hegel kann die Umstellung in den komplexen Ausdrücken der Identitätsaussage [1] für die erste Konklusion [2] und mit ihr der Schluss auf [3] nur unter der Voraussetzung zweier, in seinen Augen falscher Zusatzannahmen gelingen.131 Erstens liest [2] nämlich den genitivus subiectivus in ,Wissen Gottes‘ zunächst als genitivus obiectivus und unterstellt dann, dass diejenigen, die ein Wissen von bzw. über Gott besitzen, mit Gott numerisch oder qualitativ identisch sein müssen, wenn die wahre Identitätsaussage [1] gilt. Aus der Aussage, dass ich eine kognitive Einstellung ausbilde, die Gott und sein Selbstwissen zum Inhalt hat, und ich
129 Vgl. u.a. F 1958, S. 342 oder . 1970, S. 145 f. Häufiger findet man bei Hegelinterpreten auch Paraphrasen der genannten Formel. Schon der späte Schelling gibt sie so wieder: „Denn das Wissen des Menschen, das Wissen, das der Mensch von Gott hat, ist das einzige, das Gott von sich selbst hat.“ (SW I/10, S. 160) Bei späteren Interpreten zeigt schon deren Wiedergabe die Unsicherheit der eigenen Exegese an. E. Bloch schreibt etwa: „[D]as Wissen Gottes von sich selbst ist einzig Wissen des Menschen von Gott, und dieses Wissen entwickelt sich […] in Vielheit und geschichtlicher Abfolge (wenn auch einer, die ebenso ,ewig‘, also gar nicht – geschieht).“ (B 1962, S. 339 f.) Die umgekehrte Schlussfolgerung findet man hingegen bei B. Lakebrink: „In dieser Identität mit Gott schmilzt der Mensch dahin, und das Endliche überhaupt wird im Tode selbst, d.h. in der Negation seiner Endlichkeit oder Negativität zur Bestimmung Gottes. Ein subsistentes endliches Individuum in Gestalt menschlicher Existenz wird so dem göttlichen Selbstbewußtsein aufgeopfert.“ (L 1985, Band 2, S. 335) Bloch und Lakebrink haben dabei dieselbe Bezugsstelle in den Gottesbeweisvorlesungen vor Augen (vgl. GVL, GW 18, S. 302), in der Hegel die Aussagen in Enz. § 564 reformuliert. Vgl. L 1985, Band 2, S. 335; B 1962, S. 322; sowie die Deutung in H 2017/18, S. 48. 130 Vgl. hierzu etwa J 1997, S. LIX–LXI. 131 Vgl. im Folgenden GW 16, S. 202 f.
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
533
daher Wissen von ihm ,habe‘, folgt aber unter keinen Umständen, dass ich mit Gott identisch bin. Oder wie Hegel erklärt: „Haben ist ein Seyn, das das nicht selbst ist, was es hat.“ (ebd.)132 Diese Differenzierung ist schon deshalb notwendig, weil der Zusammenfall von Gottes Selbstwissen und seiner Existenz, die in [1] ausgedrückt wird, für menschliche Personen und Personengemeinschaften ohnehin metaphysisch unmöglich ist.133 Zweitens nennt [3] ein Subjekt dieser kognitiven Einstellung, das aus der bloßen Angabe der Wissensrelation ,Gott wissen‘ gar nicht abzulesen ist – und zwar eine einzelne Person, oder wie Hegel sagt „dieser Ich“ (ebd.). Ein solcher Schluss verschweigt aber nicht nur die in Abschnitt I.2.2 genannte Universalisierbarkeit kognitiver Einstellungen, die der Verwendung von Indexikalia nach Hegel einbeschrieben ist. Sie unterschlägt zudem den Prozesstyp, der einer solchen Einstellung zugrunde liegen muss. Entsprechend „führt“ Göschel zu dieser gründlichen Erörterung noch die logische Bestimmung an, daß ich als dieser Ich […] Gott nicht wissen kann, mithin nur als aufgehobener dieser, d.h. negativ durch Selbstentäußerung, positiv durch Gott Gott weiß, also mit andern Worten Gott nur weiß, insofern ich in Gott, also nicht dieser Ich für mich bin. (ebd.)
Die gemeinsame Quelle dieser Fehlschlüsse besteht demnach in einer glatten Fehlinterpretation der Identitätsbeziehung „im speculativen Erkennen“, die Göschel zu folge „den Unterschied nicht ausschließe; vielmehr hat sie denselben wesentlich in ihrer Bestimmung.“ (ebd.)134 Göschel hingegen trägt nach Hegel diesem Sachverhalt durch eine geschickte und in diesem Kontext gerechtfertigte Verwendung der Präposition ,in‘ Rechnung. In diesem Sinne könne er nachweisen, daß darin, daß der Mensch Gott erkenne, nicht nur dieß liegt, daß Gott im Menschen ist, sondern auch dieß, daß der Mensch in Gott ist, aber nur dieß, daß der Mensch in Gott ist, nicht daß der Mensch Gott ist (ebd., S. 200 f.).
132
Vgl. zu dieser Unterscheidung u.a. Enz. § 125, GW 20, S. 154. Aus der Aussage, ,Person a oder eine Gruppe von Personen g weiß, dass p ist‘, folgt unter keiner Lesart, dass a=p bzw. g=p, wobei p hier das Selbstwissen Gottes darstellt, das nach [1] sein Sein ist. Auf Basis dieser übrigens traditionellen These (vgl. etwa SCG I, Kap. 47, S. 183–185) heißt es in Hegels Rezension: „Wenn Gott wirklich in und mit seinen Creaturen ist, welches die Schrift lehrt, so ist auch das Wissen Gottes in ihnen – weil er nur ist, indem er sich weiß – und dieses Wissen Gottes im Menschen ist eben die allgemeine Vernunft, die nicht meine Vernunft, auch nicht ein gemeinschaftliches oder allgemeines Vermögen, sondern das Seyn selbst ist, die Identität des Seyns und des Wissens.“ (GW 16, S. 200) Diese Aussage ist mit der Behauptung offensichtlich inkompatibel, der ,absolute Geist‘ sei für Hegels Theorieperspektive lediglich eine soziale ,Selbstverständigungspraxis‘. Vgl. oben Fn. 126. 134 Analog heißt es bei M. Theunissen zu: „Sofern das Sich-wissen in… das Ende der religiösen Bewegung ist, kommt der Mensch wohl über seine abstrakte Getrenntheit, aber nie über seine Verschiedenheit von Gott hinaus. Immer wird Gott […] nur für ihn sein können, ohne daß er je Gott selber sein könnte.“ (T 1970, S. 223) Theunissens Differenzierung zwischen ,Trennung‘ und ,Verschiedenheit‘ findet sich bekanntlich bei Hegel selbst, etwa in WdL I/1, GW 21, S. 44 f. und ähnlich auch Enz., GW 20, S. 8 f. 133
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Hegels eigene Deutung des Satzes über Gott: „[S]ein Sich-wissen ist ferner sein Selbstbewußtseyn im Menschen“ (Enz. § 564A, GW 20, S. 550)135 scheint also nicht für die oben entwickelte Lesart zu sprechen. Ein gutes exegetisches Argument wird allerdings erst dann daraus, wenn man in der Lage ist, die Prämissen zu bestreiten, auf der die exegetische Schlussfolgerung beruht. Andernfalls sind Hegels eigene Erklärungen nicht mehr als ein zum Scheitern verurteilter Versuch, seine Äußerungen mit „gewollter Ambiguität“136 zu versehen, um Häresie-Vorwürfe von sich abweisen zu können. Ein solcher Zweifel an den Prämissen ist nun berechtigt, da Schellings Lesart eine Annahme voraussetzt, die Hegel nicht zu teilen scheint und vielleicht nicht einmal teilen sollte.137 Sollte Schelling Recht haben, dann müsste nach Hegel gelten, dass „Gott“ für Hegel „erst im Menschen […] zum Selbstbewußtseyn“ (SW II/3, S. 291) kommen würde.138 Daraus würde trivialerweise folgen, dass Gott zu bestimmten Zeiten unbewusst nach Selbstbewusstsein und -wissen streben würde, das er dann erst zu einem späteren Zeitpunkt oder in der Zukunft 135 Bei genauerem Blick ist der Satz aufgrund des Erfolgssinns des Ausdrucks ,Wissen‘ ohnehin unproblematisch: Wenn ich, W.L., weiß, dass ich blonde Haare habe, dann ist dieses Wissen dem propositionalen Gehalt nach identisch mit dem Wissen von oder ,in‘ Gustav, dass W.L. weiß, dass er blonde Haare hat. Nimmt man die traditionelle spekulative Formel auf (vgl. Abschn. II.4.2), dass Gott identisch ist mit seinem Wissen von sich, und gibt es Menschen, die davon wissen, gelangt man zum selben Ergebnis. Denn dann folgt, dass das Wissen, dass Gott sein Selbstwissen ist, dem Gehalt nach identisch ist mit dem Wissen, das Menschen von Gott als ,Selbstwissen‘ haben. Gottes „Sich-Wissen“ ist in diesem Sinne identisch mit seinem „Selbstbewußtseyn im Menschen“ (Enz. § 564, GW 20, S. 550), der ein Wissen davon besitzt, dass Gott von sich selbst weiß. 136 S 2015, S. 25. Ein solcher exegetischer Verdacht wird etwa dann unvermeidlich, wenn man die „Objectivität“ des „absolute[n] Geist[es]“ (Enz. § 385, GW 20, S. 383) mit dessen „konkreten raumzeitlich-situierbaren Gestaltungen in Bauwerken und Praxen“ (M/ R/Q 2018, S. 648) gleichsetzt. Aber nicht nur ignoriert diese Interpretation, dass Hegel an dieser Stelle explizit von der „ewig sich hervorbringende[n] Einheit der Objectivität des Geistes und seiner Idealität“ (Enz. § 385, GW 20, S. 383) spricht, was sich nicht mit einer endlichen Raumzeitlichkeit verträgt. Diese Lesart kommt zudem mit der Tatsache in Konflikt, dass Hegel die Materialgebundenheit bestimmter Formen der künstlerischen Selbstverständigung – insbesondere der sog. griechischen ,Kunstreligion‘ – gerade als deren entscheidende Defizienz ansieht. Folgerichtig unterscheidet Hegel hiervon die „wahrhafte Objectivität“, „welche nur im Elemente des Gedankens ist, […] in welchem allein der reine Geist für den Geist“ (Enz. § 562A, GW 20, S. 548) ist. 137 Zur folgenden Kritik an dieser Prämisse vgl. bes. T 1970, S. 118 f. 138 Diese Redeweise findet man auch in heutigen Hegelinterpretationen. St. Houlgate schreibt etwa: „Diese Vernunft erlangt dann im Menschen das Selbstbewusstsein und wird dadurch Geist. Die Idee oder die absolute Vernunft ist auf diese Weise als Prozess des Zusichkommens aufzufassen, worin sie sich selber zum Geist entwickelt.“ (H 2015, S. 253; vgl. . 2017/18, S. 48) Analog meint L. Siep: „[D]enn das Absolute ist Geist, der im menschlichen Bewusstsein zu sich selbst kommt.“ (S 2018, S. 765). Bei N. Mooren heißt schließlich vom „Geist“, dass er „ein Selbstbewusstsein von sich gewinnt, indem er sich offenbart“ (M 2018, S. 73), wobei letzteres das „Bewusstsein von Gott durch ein religiöses Subjekt“ (ebd., S. 74) voraussetzen soll.
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
535
durch die Wissensbildung religiöser Personengemeinschaften gewinnen könnte. Dieser Schluss ist aber schlicht inkompatibel mit dem basalsten Attribut der ,wahren Unendlichkeit‘. Ihm gemäß muss das Absolute all das sein, was (es) wahrhaft ist und sein kann, und in diesem Sinne dem entsprechen, wodurch es durch seine Natur definiert ist.139 Deutet man das hier verwendete Präsens mit Schelling so, dass die Aussage nur zu bestimmten Zeitpunkten wahr ist, dann würde man eine zeitliche Begrenzung einführen, die nach Hegel durch die Unendlichkeit Gottes kategorisch ausgeschlossen ist. In diesem Sinne ist das Absolute gewissermaßen immer schon das, was (es) wirklich ist und sein kann,140 woraus für Hegel folgt, dass die Begriffe ,wahrhaft unendlich‘ und ,ewig‘ koextensiv sind: „Nur das Natürliche ist darum der Zeit unterthan, in sofern es endlich ist; das Wahre dagegen, die Idee, der Geist, ist ewig.“ (Enz. § 258A, GW 20, S. 248) Aus dieser Ko-Extension wird auch deutlich, dass das Absolute für Hegel nicht deshalb ,ewig‘ sein kann, weil es, das, was es sein kann, in einer aktual unendlichen Zeit verwirklicht. Andernfalls hätte man nämlich „die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht“ (ebd.).141 Was für die ,absolute Idee‘ gilt,142 muss nun auch für den ,absoluten Geist‘ gelten und daher ist es durchaus folgerichtig, wenn es im Anschluss an den eingangs zitierten Paragraphen heißt: „Der absolute Geist ist eben so ewig in sich seyende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität“ (Enz. § 554, GW 20, S. 542). Der Verweis auf die Ewigkeit scheint damit zwar tatsächlich Schellings interpretatorischen Schluss zu blockieren.143 Die Frage, die sich dann aber stellt, ist, wie man dies mit der Tatsache kompatibel machen kann, dass es eine Form der Verwirklichung des ,absoluten Geistes‘ in der Zeit gibt, durch die er „in sich zurückkehrende Identität“ (ebd.) ist. Hegel muss also, in den Worten von Enz. § 258A, verständlich machen können, warum die „Ewigkeit“ zwar 139
Vgl. oben Abschn. II.2.5, II.4.2 und III.5.2. Eine äquivalente Schlussfolgerung gewinnt man daher – gut aristotelisch – aus Hegels Rede vom „Gott“ als „absolute Tätigkeit, actus purus“ (VPR 5, S. 16). Vgl. Enz., GW 20, S. 572 und K 2006, S. 388–390. 141 Vgl. Hegels Kritik an der Auffassung von Ewigkeit als sempiternitas in VPR 5, S. 26. Eine solche Auffassung unterstellt Schelling Hegel in SW I/10, S. 160 und ähnlich auch S 2018, S. 770. 142 Zur Ewigkeit der Idee vgl. u.a. Enz. § 214A, GW 20, S. 217; Enz. § 235, GW 20, S. 228; ferner WdL II, GW 12, S. 177 und 195. 143 Theunissen bemerkt daher zu Recht: „Nichts straft die vulgäre Verketzerung der Hegelschen Theologie als Pantheismus so sehr Lügen wie dieses Prädikat. Denn das ewige Insichsein meint die absolute Souveränität Gottes gegenüber der Welt, die von seiner ursprünglichen Freiheit ermöglichte Distanz im Verhältnis zu seinem Geschöpf. Es meint, daß der Gott autark in sich selber ruht.“ (T 1970, S. 119) Die Berechtigung von Theunissens Konklusion zeigt sich schon an dem Umstand, dass Hegel das Adjektiv bzw. Adverb ,ewig‘ offensichtlich so wichtig ist, dass er es allein im Verlauf von Enz. §§ 553–577 nicht weniger als vierzehnmal verwendet. Und dies geschieht auch außerhalb seiner Christentumsinterpretation, etwa – außer der genannten Stelle in Enz. § 554 – im Schlusssatz der Enzyklopädie in Enz. § 577, wo der Ausdruck gleich zweimal verwendet wird. 140
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
„nicht zu einem Momente der Zeit gemacht“ werden kann, aber dennoch nicht so „gefaßt“ werden darf, „daß sie außerhalb derselben gleichsam existire“ (Enz. § 258A, GW 20, S. 248). Man könnte dabei zunächst rückfragen, wozu Hegel überhaupt eine Beziehung der Ewigkeit des ,absoluten Geistes‘ zur Sphäre des Zeitlichen annehmen muss, die er an den zitierten Stellen offenbar für real hält. Nimmt man Hegels Identifikation des ,absoluten Geistes‘ mit der ,absoluten Idee‘ ernst, dann ergibt sich schnell eine Antwort. Denn aus den in III.5.2 diskutierten Prämissen seines Monismus folgt, dass mindestens die Existenz jedes kontingenten Individuums zu jedem möglichen Zeitpunkt vom Absoluten ermöglicht und verwirklicht wird und es davon immer schon weiß. Wenn Hegel daher davon spricht, dass das Wesen des ,absoluten Geistes‘ darin besteht, dass das Absolute und dessen Selbstwissen im Wissen von Personen und Personengruppen präsent sein muss, ist dies eine Spezifikation eines Prinzips, dass letztlich für alle Individuen gelten muss. Entsprechend kann die Ewigkeit des Absoluten nicht im Sinne der Außerzeitlichkeit von kausal inerten, abstrakten Gegenständen gedacht werden, deren einzige (und mysteriöse) Beziehung zur kontingenten Wirklichkeit nur darin bestehen kann, dass sie Inhalt von kognitiven Einstellungen vernünftiger Lebewesen sein können. Aus dieser notwendigen kognitiven und – im weitesten Sinne – kausalen Beziehung des Absoluten zur kontingenten Welt, ergeben sich Affinitäten zu einer klassischen Ewigkeitskonzeption, die eine Möglichkeit bietet, Hegels paradoxe Formulierungen kohärent zu deuten.144 Um deren problemlösende Kraft zu verstehen, muss lediglich zu der genannten Annahme, dass das Absolute zwar nicht in der Zeit ist, aber eine dennoch eine Beziehung zur Zeit haben muss, eine zweite hinzugenommen werden. Ihr gemäß gilt für jedes Individuum, dass es genau dann existiert und als solches wirklich ist, wenn es (in einem genau zu qualifizierenden Sinn) eine ,Gegenwart‘ hat.145 Aus der Annahme der Ko-Extension der Begriffe ,Existenz‘ und ,Präsenz‘ folgt damit, dass auch das Absolute ,präsent‘ sein muss, und zwar in dem alles, was (es) wesentlich ist und sein kann, in ihm ,zugleich‘ verwirklicht ist. Da nach Hegel das Absolute davon immer schon weiß und ihm daher in analoger Erweiterung eine Form des kognitiven Lebens zugeschrieben werden kann,146 erhält man dabei nicht nur Boethius’ klassische Formel der Ewigkeit.147 Wenn die erste Annahme gilt, der zufolge es eine Beziehung dieses 144 Zur boethianischen Ewigkeitskonzeption vgl. im Folgenden den klassischen Aufsatz S/K 1981. 145 B. Leftow hat m.E. überzeugend gezeigt, wie man aus dieser Begriffserläuterung von A. Prior eine Konzeption ,ewiger Gegenwart‘ gewinnen kann. Vgl. L 2019, S. 29–31. 146 Vgl. auch WdL II, GW 12, S. 179 f. Analog argumentieren Stump und Kretzmann, dass etwa ,wissen‘ und ,wollen‘ nur eine extrinsische Beziehung zur Zeit besitzen und daher auf ewige Wesen übertragbar sind. Vgl. S/K 1981, S. 446 f. und ferner S/ H 22003, S. 136 f. 147 Aeternitas […] est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (Boethius, Consolatio Philosophiae V, S. 262).
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
537
,ewigen‘ Lebens zur zeitlichen Welt geben muss, dann folgt zudem, dass das Leben des Absoluten zu jedem möglichen Zeitpunkt, der gegenwärtig war, ist oder sein wird, gleichermaßen ,präsent‘ ist.148 Unter der Zusatzprämisse, dass zwei Gegenwarten – ob ewig oder zeitlich – ,gleichzeitig‘ wirklich sind, kann man diese paradoxe Beziehung mit N. Kretzmann und E. Stump ,E(ternity)/T(ime)-simultaneity‘ nennen.149 Sie bezeichnet damit zwar keine Gleichzeitigkeit in, wohl aber eine Simultaneität mit der Zeit. Wie diese nicht-zeitliche Präsenz des Absoluten im zeitlichen, menschlichen Wissen genauer aussehen kann, wird uns gleich noch beschäftigen. Die schwierige Passage in Enz. § 554 kann man aber vorläufig so verstehen, dass eine Personengemeinschaft nach Hegel zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte, d.h. nach der Kreuzigung von Jesus Christus, in der Reflexion auf die Bedeutung dieses Ereignisses, sich dessen bewusst werden konnte, dass ihr Wissen über Gott durch diesen selbst ermöglicht und verwirklicht wurde. Dieses menschliche Wissen zweiter Stufe fällt dann in die Zeit und ist damit genau von den sozialen und religiösen Voraussetzungen abhängig, die in Enz. § 553 angedeutet werden.150 Wenn dieses Wissen des Wissens aber das Absolute und damit dessen ewige Natur aufschließt, sehen die Menschen darin zugleich ein, dass ihr Wissen durch dessen Präsenz verwirklicht wird, die zu jedem Zeitpunkt ,simultan‘ immer schon vorlag, vorliegt und vorliegen wird. Versteht man daher die Präsenz oder das „Innwohnen“ (Enz. § 554A, GW 20, S. 542) des ,absoluten Geistes‘ als die Verwirklichung dessen oder ,Rückkehr‘ zu dem, was er in Wirklichkeit ist, dann scheint zu folgen, dass der absolute Geist in der geschichtlichen Perspektive genau dann zu sich selbst zurückkehrt, wenn wir einsehen, dass er eigentlich immer schon zu sich selbst zurückgekehrt ist.151 Diese Überlegungen können zwar die Kohärenz von Hegels paradoxen Formulierungen klären, die sich sowohl auf die Unterscheidung als auch die Beziehung des ewigen Absoluten zum Wissen des Menschen verpflichten. Sie sagen aber wenig darüber aus, wie Hegel überhaupt zu solchen Behauptungen kommt
148 „An eternal entity’s mode of existence is such that its whole life is ET-simultaneous with each and every temporal entity or event.“ (S/K 1992, S. 475) 149 Vgl. S/K 1981, S. 439 und die noch feinkörnigere Analyse in . 1992, S. 477 f. 150 In der Sprache der religiösen ,Vorstellung‘ könnte man sagen, dass der Hl. Geist seiner Gemeinde erst dann ,einwohnen‘ und damit von Menschen erkannt werden kann, nachdem die (christliche) Gemeinde entstanden ist. 151 In diesem Sinne heißt es bei B. Leftow: „Für uns ist die Zukunft noch nicht eingetreten. Deshalb kommt sie für uns, die wir in der Zeit sind, als etwas Neues an und erzeugt scheinbar, so denken wir zumindest, ein neues Verhältnis zu Gott. Doch Er ist überall gegenwärtig, auch da wo wir noch nicht angekommen sind. Dasjenige, was für uns als zukünftig gilt, ist etwas, demgegenüber Gott schon immer gegenwärtig war.“ (L 2019, S. 32) Nebenbei bemerkt sollte man sich bei den schwierigen Formulierungen in Enz. § 554, die letztlich den platonischen Gedanken des exitus et reditus wieder aufnehmen, immer vor Augen halten, dass jemand selbstverständlich nur dorthin ,zurückkehren‘ kann, wo er ,zuvor‘ schon war.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
und was sie genau mit dem christlichen Gottesgedanken zu tun haben sollen. Soweit ich sehen kann, lassen sich hinsichtlich des ersten Teils der Frage mit Hegel zwei Argumentationslinien aufbieten. Zum einen könnte man in einem ersten Schritt unter der Prämisse der ,wahren Unendlichkeit‘ dafür argumentieren, dass nichts (im nicht-räumlichen Sinne) außerhalb des Absoluten existieren. Mit Hegels Engführung der ,wahren Unendlichkeit‘ mit der Omnipräsenz des Absoluten könnte man dann zu dem Schluss kommen,152 dass das Absolute und sein Wissen dann auch im menschlichen Wissen von ihm präsent sein muss.153 So heißt es etwa im Kolleg 1824: [D]er Geist, insofern er göttlicher Geist genannt wird, ist nicht ein Geist jenseits der Sterne, jenseits der Welt, sondern Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig, und als Geist schlechthin ist Gott gegenwärtig im Geist. (VPR 3, S. 46)
Stellt man diesen Schluss aber nur als eine Spezifikation von Gottes Allgegenwart dar, wird man sicherlich einer entscheidenden Pointe nicht ganz gerecht, die sich im letzten Satz ausdrückt. Im Kontext der genannten Stelle meint der „Geist“ am Satzende, die „menschliche Vernunft“, die Hegel dort auch „das Göttliche im Menschen“ (ebd.)154 nennt. Dadurch deutet sich eine zweite, damit komplementäre Argumentationslinie an, die sich leicht mit Hegels Äußerungen in der Göschel-Rezension engführen lässt. Dort hatte er mit Göschel behauptet, dass das Selbstwissen des Absoluten nur unter zwei Voraussetzungen im menschlichen Wissen anwesend sein kann.155 Erstens muss ich mich als Mensch meiner selbst, d.h. meines empirischen Egos ,entäußert‘ haben. Dies ermöglicht mir zweitens, dass ich „durch Gott Gott weiß, also mit anderen Worten Gott nur weiß, insofern ich in Gott, also nicht dieser Ich für mich bin.“ (GW 16, S. 202)156 Diese zweite Voraussetzung bietet m.E. einen Interpretationsschlüssel, mit dessen Hilfe man Hegels Aussagen und Begründungen vor dem Hintergrund des klassischen Theismus deuten kann. Dazu muss man nur einen genaueren Blick 152
Zu dieser Engführung vgl. oben III.5.2 und ferner VPR 5, S. 215. Vgl. T 1970, S. 123 und H 1987, Band 2, S. 645 f. Auf die entscheidende argumentative Rolle der ,wahren Unendlichkeit‘ in Hegels Geistbegriff hat besonders F. Hermanni hingewiesen. Vgl. u.a. H 2011, S. 204–206 und . 2013, S. 142–144. 154 Übersieht man an beiden Stellen Hegels Rede von Gottes Allgegenwart und die Präposition ,im‘, kommt man unweigerlich zu der interpretativen Schlussfolgerung W. Jaeschkes, der zu folge es Hegel an diesen Stellen nur um das Selbstbewusstsein des menschlichen Geistes geht. Vgl. J 2009, S. 212 f. 155 Die beiden Voraussetzungen in GW 16, S. 202 finden sich darüber hinaus in Enz. § 570, GW 20, S. 553. 156 Ähnliches heißt es zuvor mit Göschel, „daß der Mensch nur durch Gott, als das allgemeine Wissen (das besondere Wissen ist das von Gott getrennte, eigene, zufällige Wissen des Menschen) zu Gott als der allgemeinen Wahrheit gelangen kann.“ (GW 16, S. 199) Diese Asymmetrie zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wissen wird in Hegels Gottesbeweisvorlesungen nochmals unterstrichen, wenn er bemerkt: „[D]er Mensch weiß nur von Gott, insofern Gott im Menschen von sich selbst weiß“ (GVL, GW 18, S. 302, meine Hervorhebung, W.L.) 153
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
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auf diejenigen Passagen werfen, in denen Hegel die religiösen, theologischen und philosophischen Komponenten zusammenstellt, die man seiner Meinung nach benötigt, um die Genese religiösen Wissens in uns erklären zu können. Genau genommen meint Hegel, dass die ,Vermittlung‘ religiösen oder theologischen Wissens zwar immer auch an anderen menschlichen Personen hängt, die etwa im Rahmen der religiösen Erziehung und Lehre das Wissen als Zeugniswahrheit weiterreichen.157 Im Kolleg von 1827 stellt Hegel aber klar, dass die Entstehung des Wissens durch Hörensagen nicht hinreichend ist und zudem unter keinen Umständen als ein rein effizienzkausaler Vorgang aufgefasst werden kann.158 Als mögliches Gegenmodell bietet er folgende Überlegungen an: Hierher gehört das Alte, was Plato sagt, der Mensch lerne nichts, er erinnere sich nur; es sei etwas, das der Mensch ursprünglich in sich trage. Äußerlicher, nichtphilosophischer Weise heißt es so, er erinnere sich an einen Inhalt, den er in einem vorhergehenden Zustand gewußt habe. So ist es mythisch dargestellt; aber es liegt darin, daß […] alles Geistige im Menschen nur erregt wird. Er ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muß es in ihm zum Bewußtsein gebracht werden. (VPR 3, S. 307)
Und mit einem fast wörtlichen Zitat von Röm 8,16 fügt er gleich hinzu: „Der Geist gibt Zeugnis dem Geist. Dies Zeugnis ist die eigene innere Natur des Geistes.“ (ebd.) Oberflächlich betrachtet scheint Hegel damit ein Mysterium – die Genese theologischen Wissens – durch zwei andere Mysterien erklären zu wollen, nämlich durch Platons Anamnesis-Lehre und durch die Lehre vom Testimonium Internum Spiritus Sancti, die er zudem offenbar ziemlich eigenwillig zu interpretieren scheint.159 Diese merkwürdigen Engführungen lassen sich aber aufklären, wenn man sich auf die Sachfrage konzentriert, die Platons philosophisches Narrativ der ,Wiedererinnerung‘ im Menon motiviert.160 Im Hintergrund steht bekanntlich das Problem, wie es eigentlich möglich ist, dass Personen kognitive Einstellungen bilden, deren propositionaler Gehalt nicht nur universell und überzeitlich, sondern auch notwendigerweise gültig ist. In der Szene mit dem Sklaven im Menon wird dies bekanntlich anhand mathematischen Wissens durchgeführt. Die Kernidee lässt sich aber leicht auch auf andere Aussagetypen übertragen, für die dieselben Modalitäten gelten. Betrachten wir bspw. das Prinzip vom NichtWiderspruch (im Folgenden = PNW).161 Von ihm wird ebenfalls gemeinhin an157
Vgl. im Folgenden auch GW 15, S. 140 und Enz. § 67, GW 20, S. 108 f. Vgl. zu dieser Stelle auch oben Kap. III.2. 159 Nach W. Jaeschke kommt Hegel dabei sogar zu Schlussfolgerungen, die konträr zum traditionellen Verständnis stehen, das allerdings in Jaeschkes Interpretation nirgendwo in irgendeinem Wortlaut zitiert wird. Vgl. J 2009, S. 212 f. Ob dies tatsächlich die einzig mögliche Lesart darstellt, wird sich im Folgenden zeigen. 160 Zur Rekonstruktion von Platons Anamnesislehre im Menon vgl. K 2002, Band I, S. 228–231. Aus Gründen, die noch deutlicher werden, konzentriere ich mich im Folgenden besonders auf Sokrates’ Darstellung im zweiten Unsterblichkeitsbeweis im Phaidon. Vgl. Phaid. 72e3–76d5. 161 Im Folgenden orientiere ich mich weitestgehend an der prädikatenlogischen Formulie158
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
genommen, dass es (im weiten Sinne)162 logisch notwendig ist und folglich selbst dann wahr wäre, wenn nichts Kontingentes existiert hätte. Hält man sich dies klar vor Augen, ergeben sich sofort einschränkende Bedingungen für die Genese des menschlichen Wissens, das PNW zum Gegenstand hat: Da PNW unter allen möglichen Umständen gilt, kann dessen Wahrheit nicht an den wesentlich kontingenten Eigenschaften empirischer Individuen ,abgelesen‘ werden.163 Entsprechend kann das Wissen um PNW auch nicht durch den kausalen Einfluss auf die Sinnesorgane erklärt werden, der (vielleicht) eine notwendige Bedingung für empirisches Wissen darstellt. Gleichzeitig scheinen, wenn Hegel recht hat, auch rein soziologische Erklärungen ausgeschlossen. Denn der Erfolg von Erziehung setzt immer schon besondere kognitive Fähigkeiten seitens des Lernenden voraus.164 Dies ist a fortiori für PNW der Fall: Denn unter der Voraussetzung von Aristoteles’ berühmten elenktischen Beweis gilt, dass nicht nur keine Prädikation, sondern auch keine Referenz gelingen kann,165 wenn die Person in ihrem Erkenntnisoder Sprechakt PNW nicht schon implizit folgt. Dieser transzendentale Status von PNW verschärft damit Platons Problemstellung: Denn wenn jeder kognitive Akt nur dann vollzogen werden kann, wenn PNW schon regelgeleitet angewendet wird, dann müssen kompetente Sprecher offensichtlich schon ein implizites Wissen von ihm besitzen, bevor sie anfangen, bspw. Met. III, 4 zu verstehen.166 Die epistemische Voraussetzung von PNW begleitet daher eine Person vom Beginn ihres kognitiven Lebens bis zu ihrem Ableben gewissermaßen auf Schritt und Tritt. Gleichzeitig scheint es aber ebenso evident, dass Personen und Sprecher – wenn überhaupt – erst recht spät, über-
rung von PNW in Met. III, 1005b19 f. In seiner Diskussion des rationalistischen Innatismus nennt Hegel PNW selbst als Beispiel. Vgl. Enz. § 67A, GW 20, S. 108. Analog verwendet Sokrates im Phaidon die Idee der ,Gleichheit‘ als Argumentationsgrundlage. Vgl. Phaid. 74a. 162 PNW kann nicht als analytisch notwendig aufgefasst werden, da die Definition von logischer Notwendigkeit im engeren Sinne schon die notwendige Gültigkeit von PNW voraussetzt. Vgl. u.a. A 1983, S. 742–744. 163 Vgl. S 2009, S. 401. Diese Prämisse verhält sich m.E. komplementär zu Hegels Kritik an empiristischen Abstraktionstheorien. Vgl. Enz. § 455, GW 20, S. 448 f. Nebenbei bemerkt lässt sich auf Basis der Modalität ewiger Wahrheiten auch erfolgreich gegen konventionalistische Theorien argumentieren. Vgl. u.a. A 1983, S. 749 und S 2009, S. 400 f. 164 F. v. Kutschera bemerkt daher zu Recht gegen Wittgenstein: „[U]m durch Erziehung und Überzeugung zu lernen, muß ich zumindest feststellen, d. h. erkennen können, was andere mir sagen und ob mein Verhalten von ihnen als korrekt anerkannt wird.“ (K 1981, S. 42) Vgl. auch R 1945/46, S. 15. 165 Vgl. die beiden komplementären Interpretationen in T/W 1983, S. 50–65 und R 1993. Analog argumentiert auch schon Sokrates für den ,transzendentalen‘ Status der Idee der Gleichheit. Vgl. Phaid. 74d2–75b7 und hierzu K 2002, Band II, S. 17 f. 166 Das lässt sich auch als Implikation von G. Ryles allgemeiner Schlussfolgerung verstehen: „In short the propositional acknowledgement of rules, reasons or principles is not the parent of the intelligent application of them ; it is a step-child of that application.“ (R 1945/46, S. 9)
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
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haupt dazu kommen, PNW zu verstehen, exakt zu formulieren oder zu begründen.167 Selbst wenn man daher PNW als eine transzendentale Bedingung interpretiert, hat man damit höchstens auf das implizite Anwendungswissen hingewiesen, aber unter keinen Umständen dessen Genese zusammen mit dem propositionalen Wissen erklärt, dass PNW wahr ist. Gibt es aber beide Formen des Wissens, dann ist es nicht vollständig absurd, es als eine Art von ,Wiedererinnerung‘ an das zu deuten, was man zuvor, bspw. in einer vorgeburtlichen Präexistenz, schon eingesehen, es dann aber im Rahmen der Verleiblichung wieder vergessen hat. Hegel bezeichnet nun die platonische Anamnesislehre als „mythisch“ (VPR 3, S. 307) und schlägt sie damit als philosophische Theorieoption aus. Nach seinen eigenen Kriterien eines ,Mythos‘ ist sie dann bestenfalls eine Form der allegorischen Darstellung für den tieferliegenden Sachverhalt, dass „alles Geistige im Menschen nur erregt wird“ (ebd.).168 Wenn dies aber der Fall ist, dann stellt sich erneut die Frage, wie dann das dispositionelle und okkurrente Wissen um PNW erklärt werden kann, wenn für ihn empiristische und soziale Theorien nicht hinreichend sind. Von hier aus gesehen liegt es nahe, Hegels zweiter Anspielung auf das ,Innere Zeugnis des Hl. Geistes‘ nachzugehen. Eine solche Engführung wäre mindestens aus zwei Gründen gerechtfertigt: Erstens nämlich besteht das Wissen, dass der Hl. Geist bewirken soll, auch und v.a. aus Aussagen über Gott und seine Natur.169 Wie in Teil II und besonders in Kap. III.2 deutlich wurde, sind solche Aussagen wie PNW nicht nur notwendigerweise wahr, sondern bilden für Hegel ein Konstituens des Gehalts unseres kategorialen Wissens. Und dies hat wiederum, wie wir gesehen haben, ebenso wie PNW transzendentalen Status. Zweitens wurden in den o.g. einschränkenden Bedingungen lediglich empirische Entitäten und menschliche Personengemeinschaften als hinreichende explanantia ausgeschlossen. Was spräche also dagegen, Hegels Äußerung in der Göschel-Rezension so zu generalisieren, dass nicht nur das Wissen von Gott, sondern jegliches Wissen um ,ewige Wahrheiten‘ durch Gott bewirkt wird? Eine solche Reformulierung von Hegels Aussagen wäre aber unter seinen Prämissen, wenn nicht falsch, so doch zumindest irreführend. Theorien, die die Genese rationalen oder apriorischen Wissens allein auf Gottes kausale Wirksam167 Daher folgt für Hegel aus den Prämissen des Innatismus nicht, dass angeborene Ideen explizit und als solche gewusst werden müssen: „Man kann diesem Einwurf einen Misverstand zuschreiben, in sofern die gemeynten Bestimmungen als angeborne darum nicht auch schon in der Form von Ideen, Vorstellungen von Gewußtem seyn sollen.“ (Enz. § 67A, GW 20, S. 109) Analog argumentiert auch Leibniz gegen Locke. Vgl. S 2009, S. 397 f. 168 „So gut ein Mythos eine Bedeutung, Allegorie in sich hat, ist überhaupt in jeder Geschichte dies Gedoppelte. Allerdings gibt es Mythen, in denen die äußerliche Erscheinung das Überwiegende ist; aber gewöhnlich enthält wie bei Plato solch ein Mythos eine Allegorie.“ (VPR 3, S. 294) 169 Vgl. hierzu etwa WCB, S. 243 f. Plantinga deutet darüber hinaus die Wirkung des Hl. Geistes auch als ,Regeneration‘ des sensus divinitatis, der für ihn die Quelle allgemeiner theologischer Überzeugungen darstellt. Vgl. ebd., S. 280–282.
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keit zurückführen,170 sind nämlich zum einen mit dem Problem konfrontiert, dass sich Hegels Vorbehalt gegenüber ,mechanischen‘ Erklärungen ohne weiteres generalisieren lässt.171 Welche Erklärungskraft sollte die These der göttlichen Verursachung abstrakten Wissens haben, wenn etwa schon die Referenz empirischen Wissens nicht durch die Angabe effizienter Ursachen zirkelfrei erklärt werden kann?172 Der Rückverweis auf ein göttliches Fiat ist zwar immer möglich,173 aber freilich nur um den Preis, dass die Erklärungskette einfach durch einen theologischen Machtspruch abgebrochen wird. Zum anderen wäre eine solche Theorie in ihrer Erklärungsreichweite notwendig beschränkt. Denn sie müsste auch dem phänomenalen Datum einen Sinn abgewinnen, dass Personen sich selbst unter die Autoren ihres Wissens rechnen und sich ihre Überzeugungsbildung selbst zuschreiben können.174 Wenn Hegel also dennoch der Meinung ist, die Rede vom Testimonium internum formuliere die richtigen Intuitionen, dann muss er eine Theorie formulieren können, die einen stabilen Ausgleich zwischen Theonomie und Autonomie in der Wissensgenese schafft. Um den Rahmen der hegelschen Lösung zu verstehen, die sich durchaus in traditionellen Bahnen bewegt, muss man zwei seiner Intuitionen in eine einheitliche Theorie zusammenführen. (i) folgt die Engführung des theologischen Wissens mit dem logischen Wissen von PNW aus der oben in Abschnitt II.2.4 ausführlich diskutierten Prämisse, dass Kategorien als Momente der Natur des Absoluten verstanden werden können. Im erweiterten Sinne kann das Absolute daher als singulärer Wahrmacher ewiger Wahrheiten fungieren: PNW wäre demnach genau dann wahr und erkennbar, insofern es Inhalt des Selbstdenkens Gottes und damit Moment dessen ist, was ihn als solchen ausmacht.175 (ii) gilt für Hegel allgemein, dass eine Sache nur dann erkannt werden kann, wenn dasjenige
170 Eine solche Theorie wird heute etwa von A. Plantinga vertreten. Vgl. im Folgenden WPF, S. 120 f. und WCRL, S. 290 f. sowie K 2018. Für eine systematische Wiederaufnahme der traditionellen Illuminationslehre argumentiert schon A 1983, S. 750 f. 171 Vgl. hierzu nochmals VPR 3, S. 307 und ferner ebd., S. 249. 172 Vgl. u.a. H. Putnams Kritik an kausalen Theorien der Referenz in P 1992, S. 47–55. 173 Plantingas Illuminationslehre setzt in diesem Sinne seine moderat-okkasionalistische Analyse sekundärer Kausalität voraus. Vgl. P 2016 und die Überlegungen oben Abschn. I.5.2. 174 Allgemein heißt es bei Hegel zur rationalen Urteilsbildung: „Das Denken als Subject vorgestellt ist Denkendes und der einfache Ausdruck des existirenden Subjects als Denkenden ist Ich.“ (Enz. § 20, GW 20, S. 62; vgl. hierzu auch de Vries 1988b, S. 104–107) Wie wir in I.5.2 gesehen haben, lässt sich dieser Sachverhalt nicht mit Plantingas metaphysischen Hintergrundannahmen einholen. 175 Daher bemerkt Hegel etwa im Hinrichs-Vorwort: „[D]enn Gott ist allein das Wahre; was sonst noch wahr ist und etwa kein göttlicher Inhalt zu seyn scheint, ist nur wahr, insofern es in ihm gegründet ist, und aus ihm erkannt wird, das übrige daran ist zeitliche Erscheinung.“ (GW 15, S. 141) Zum Verhältnis zwischen der Selbsterkenntnis des Absoluten und seiner Natur als ,der Wahrheit‘ vgl. oben Abschn. II.4.2 und zum traditionellen Hintergrund auch G 2005 und L 2005b.
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Prinzip, das sie zu dem macht, was sie ist, zugleich den Gedanken begrifflich strukturiert, der sie zum Inhalt hat.176 Sollte also der Ursprung unseres Wissens über ewige (theologische) Wahrheiten tatsächlich in Gott liegen, dann nur aufgrund der Tatsache, dass seine Natur und damit sein Selbstwissen unser Wissen im Wortsinne in-formiert und strukturgleich macht. Traditionell gesprochen wäre also Gott nicht in erster Linie die Wirk-, sondern vielmehr die Formalursache des mindestens impliziten Wissens um ewige, transzendentale Wahrheiten, die objektstufiges Wissen als solches ermöglichen.177 Geht man von diesen theoretischen Hintergrundannahmen aus, dann ergibt sich eine mögliche Interpretation von Hegels merkwürdiger Kombination von Platon und Paulus. Man könnte sie dann als eine Vertiefung, wenn nicht Radikalisierung von Überzeugungen verstehen, die sich u.a. bei Thomas v. Aquin finden und die Leibniz in anderer Form wieder aufgenommen hat.178 Auf Basis des letztlich augustinischen Gedankens, dass die Existenz und Natur platonischer Formen in Gottes ewigem Selbstwissen gründen,179 schließt Thomas nämlich erstens, dass letztlich alles nur ,in Gott‘ erkannt werden kann. Und zwar genauer, weil die rationes aeternae, die unser Erkennen ermöglichen, zur Natur Gottes selbst gehören.180 Eine solche vorsichtige Formulierung bietet sich deshalb an, weil aus der Tatsache, dass wir etwa nur unter der Anwendung von PNW wissen können, dass p, weder direkt folgt, dass wir de facto wissen, dass PNW wahr ist und jeden Erkenntnissakt konstituiert. Noch weniger impliziert dies, dass wir irgendein explizites propositionales Wissen darüber haben, dass PNW und mit ihm alle Erstprinzipien in Gottes Natur gründen.181 Mit Thomas’ platonischer Analogie ausgedrückt: Es ist zumindest metaphysisch möglich, dass eine Person niemals über die Sonne und ihre Wirkung auf unsere Sinneserkenntnis nachdenkt,
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Vgl. Enz. § 438 f., GW 20, S. 433 f. und die Erläuterungen oben in Abschn. I.2.1. Diese epistemologischen Konsequenzen werden übrigens noch durch die Tatsache unterstützt, dass PNW traditionell gesehen zusammen mit dem Erstbegriff ,Sein‘ erworben wird, mit dem das kognitive Leben beginnen soll. Vgl. hierzu P 2002, S. 325 f. Analog hat etwa T. Kesselring aus dem Anfang von Hegels Logik eine Form der genetischen Epistemologie herauszuarbeiten versucht. Vgl. K 1981. 178 Vgl. im Folgenden STh I. qu.84 a.5 und zur Interpretation bes. P 2002, S. 302–310. Auf die Relevanz dieses Artikels für Leibniz hat besonders A. Schmidt hingewiesen. Vgl. S 2009, S. 402–408 und zu Leibniz’ Illuminationslehre im Allgemeinen A 1994, S. 186–189. 179 „Deshalb setzte Augustinus an Stelle dieser Ideen, die Platon annahm, die Urbilder aller Geschöpfe [rationes omnium creaturarum], die im göttlichen Geist vorhanden seien, nach denen alles gestaltet werde, und durch die auch die menschliche Seele alles erkenne.“ (STh I. qu.84 a.5co) Vgl. STh I. qu.15 a.1 und zum augustinischen Hintergrund der mittelalterlichen Illuminationslehre etwa P 2020, Sec. 3. 180 Vgl. STh I. qu.15. aa.1–2. 181 Thomas begründet seine Formulierung in STh I. qu.84 a.5 nicht mit dem Problem opaker intensionaler Kontexte, sondern mit der Prämisse, dass ein unvermitteltes Wissen von Gottes ewiger Natur nur in der postmortalen visio beatifca möglich und wirklich ist. Vgl. P 2002, S. 304 f. 177
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obwohl kein einziger empirischer Gegenstand ohne sie erkennbar wäre.182 Ebenso wenig muss man demnach ein höherstufiges, theologisches Wissen darüber haben, dass Gott unser Wissen immer schon ermöglicht, um einen gelingenden, objektstufigen Erkenntnisakt zu vollziehen. Diese Form der intellektuellen ,Illumination‘ beschreibt Thomas zweitens als Teilhabe an den Formen, die unser Erkennen von allem möglich macht.183 Es fragt sich hierbei, welche Erklärungspotentiale dieser Rückgriff auf platonisches Vokabular haben kann.184 Mithilfe der genannten These von der kognitiven Identität, die auch Thomas in anderer Form teilt, lässt sich diesem aber ein Sinn abgewinnen, der zugleich eine Verständnishilfe für Hegels Behauptungen liefert. Klassisch gesprochen ist ein bestimmter mentaler Akt nur dann ein echter kognitiver Akt mit adäquatem repräsentationalem Gehalt, wenn der Gehalt mit dem extra-mentalen Gegenstand formal identisch ist, auf den der Akt Bezug nimmt.185 Sind nun Erstprinzipien und -begriffe Teilmomente der göttlichen Natur, dann gilt gleichermaßen, dass jeder echte Erkenntnisakt seiner Konstitution nach mit diesen Momenten formal identisch sein muss. Daraus ergibt sich zum einen, dass das implizite Anwendungswissen von Erstprinzipien dadurch ermöglicht wird, dass Personen zu jedem Zeitpunkt ihres kognitiven Lebens an Gottes intellektueller Natur teilhaben – und dies selbst dann, wenn sie niemals ein höherstufiges Wissen darüber ausbilden.186 Eine kognitive Einstellung der Form ,a weiß, dass p‘ ist aber nicht identisch mit ihrem Träger, zumal dann, wenn er – als einzelne menschliche Person – raumzeitlich verkörpert ist. Die Rede von der ,Teilhabe‘ an Gott im Wissen ermöglicht Thomas damit zum anderen, jede vollständige Identifikation von Gott und Mensch zu blockieren, und damit der Tat-
182 Mit diesem Bild erläutert Thomas den für ihn entscheidenden Sinn der Formel ,etwas in etwas anderem erkennen‘: „Sodann sagt man, etwas werde in einem andern als in seinem Erkenntnisgrund [in cognitionis principio] erkannt, wie wenn wir sagen, in der Sonne werde gesehen, was durch die Sonne gesehen wird.“ (STh I. qu.84 a.5co) 183 „Und so muß man sagen, erkennt die menschliche Seele alles in den ewigen Urbildern [in rationibus aeternis], weil wir alles durch Teilhabe an ihnen erkennen [per quarum participationem omnia cognoscimus]. Denn das Verstandeslicht [lumen intellectuale], das in uns ist, ist nichts anderes als eine gewisse uns zuteil gewordene Ähnlichkeit des ungeschaffenen Lichtes [quaedam participata similitudo luminis increati], in dem die ewigen Urbilder enthalten sind.“ (ebd.) Analog kommt W. de Vries in seiner Analyse des ,Ich denke‘ bei Hegel zu dem Schluss: „And in thought, at least, I participate in the Absolute.“ ( V 1988b, S. 107) 184 Vgl. P 2002, S. 304 f. Im Sinne der folgenden Überlegungen deutet etwa A. Schmidt Thomas’ Rede von der Partizipation als ,partielle Identität‘ mit Gott. Vgl. S 2009, S. 403–405. 185 Vgl. hierzu H 1993. Auf die engen Verwandtschaften zwischen Hegels kognitiver Identitätsthese und der thomistischen Tradition hat M. Baur als einer der wenigen hingewiesen. Vgl. B 2014. 186 Dies bildet nur die Kehrseite der Tatsache, dass aus Gottes ,ewiger Präsenz‘ ohnehin folgt, dass sich sein Leben ,gleichzeitig‘ mit jedem Moment des Zeitintervalls vollzieht, in dem sich das Leben einer Person erstreckt. Dies ließe sich auch gegen R. Pasnaus deistische Interpretation von Thomas’ Illuminationslehre vorbringen. Vgl. P 2002, S. 305.
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
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sache Rechnung zu tragen, dass Personen sich eben auch selbst als Autoren ihrer Einstellungen erleben.187 Um nun zu Hegels merkwürdiger Formel zu kommen, dass das „Zeugnis“ des Geistes „die eigene innere Natur des Geistes“ (VPR 3, S. 307) zum Inhalt hat, müssen von hier aus zwei wichtige Anschlussüberlegungen gemacht werden. Traditionell gesehen unterscheidet sich das ,Zeugnis des Hl. Geistes‘ von der allgemeinen göttlichen Illumination erstens im Gehalt: Es soll nicht in erster Linie ein implizites Wissen um Erstprinzipien ermöglichen, sondern vielmehr bestimmte christliche theologische Wahrheiten für alle Menschen transparent machen können.188 Und unter ihnen befinden sich aber nicht nur Aussagen über Gottes Natur, sondern v.a. heilsrelevante Wahrheiten über die Gott-Mensch-Beziehung, die durch die Präsenz Gottes ermöglicht und verwirklicht wird. Der Hl. Geist legt folglich – dem traditionellen Selbstverständnis nach – neben Aussagen über Gott auch darüber Zeugnis ab, dass er Wissen um Gott im Menschen hervorbringt.189 Paulus’ Aussage in Röm 8,16 über das Zeugnis des Hl. Geistes lässt sich damit in religiöser Hinsicht als Teil dieses Zeugnisses selbst auslegen. Diese komplexe reflexive Verschachtelung, durch die im religiösen Glauben zugleich sein Ursprung durchsichtig wird, beschreibt Hegel im Kolleg von 1824 wie folgt: Die Religion ist ein Erzeugnis des göttlichen Geistes, nicht Erfindung des Menschen, sondern des göttlichen Wirkens, Hervorbringens in ihm. Das, was als Religion hervorgekommen ist und welches ein Produkt des göttlichen Geistes ist, zeigt sich zunächst als Glaube. So müssen wir den Glauben haben, daß eben die Vernunft in der Welt hervorgekommen ist und Erzeugnis der Vernunft […] und ein Produkt des göttlichen Geistes selbst ist. (VPR 3, S. 46)190
Während also für alle Menschen zu allen Zeiten gelten soll, dass ihr kognitives Leben als Ganzes durch Gott ermöglicht wird, wird im ,Zeugnis des Geistes‘ gerade die opake Referentialität dieses lediglich impliziten Wissens durch die Bildung eines expliziten höherstufigen Wissens überwunden, in dem Menschen sich der ,ewigen Präsenz‘ des Absoluten bewusst werden. Dieses Wissen kann etwa die generische Form annehmen, dass Menschen erkennen, dass Gott sein
187 Daher kann man mit Thomas das ,innere Licht des Intellekts‘, das uns Sachverhalte epistemisch zugänglich macht, sowohl mit dem intellectus agens als auch mit Gott engführen. R. Pasnau bemerkt: „The light of agent intellect, a likeness of the divine ideas, is the essential starting-point for all knowledge. This is the epistemological context for Aquinas’s famous words, Non nisi te.“ (ebd., S. 309) 188 Eine gute Übersicht über die Phänomenologie des Testimonium internum gibt A 1990, bes. S. 440–442. 189 Analog kombiniert etwa V. Hösle 2. Kor 4,13 und Gal 3,14 und schließt: „The spirit is thus equally subject and object of faith.“ (H 2013, S. 194) 190 In Hegels weitem Begriff der „Religion“ heißt es daher, dass diese „eben so sehr als vom Subjecte ausgehend […] als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten […] ist.“ (Enz. § 554, GW 20, S. 542) Ähnlich heißt es bei Augustinus über den Hl. Geist: [S]piritus ergo et dei qui dedit et noster qui accepimus. (Augustinus, De trinitate V, 14.15)
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kognitives Leben für sie selbst epistemisch zugänglich macht.191 Es kann aber auch zum Anlass genommen werden, alle Konsequenzen auszubuchstabieren, die dieser Sachverhalt genau für das kognitive und volitive Mensch-Gott-Verhältnis besitzt.192 In diesem Rahmen kommt nun die zweite Anschlussüberlegung ins Spiel. Denn neben der Tatsache, dass sich etwa eine Theorie göttlicher Illumination an dieser Stelle selbst einholen müsste, hat die Einsicht in die Präsenz unmittelbare Folgen für das menschliche Selbstverständnis: Wenn eine Person weiß, dass sich Gott ihr zu erkennen gibt, dann stellt sich für sie generell die Frage, was dies für Wesen bedeutet, die – wie sie – in der Lage sind, dies wirklich einzusehen. Gibt es eine Antwort auf diese Frage, dann folgt geradezu, dass das „Zeugnis“ eben „die eigene innere Natur des Geistes“ (ebd., S. 307) zum Inhalt hat bzw. haben kann.193 Auch vor dem Hintergrund der christlich-aristotelischen Theoriebildung drängt sich eine solche Frage auf. Denn in ihr gilt allgemein, dass man aus dem Verhalten und den Propria von Individuen Aufschluss über deren Lebens- oder Existenzform gewinnen kann, von dem her sie ,fließen‘.194 Für erkenntnisfähige Lebewesen gilt dabei im Besonderen das Prinzip, dass alles, was rezipiert wird, immer dem Modus des ,Aufnehmenden‘ gemäß rezipiert wird.195 Die Fähigkeit, Gottes
191 Ähnlich hat etwa E. Stump die ,Einwohnung des Hl. Geistes‘ anhand des psychologischen Phänomens der „shared attention“ (S 2016, S. 71) zu modellieren versucht. Vgl. ebd., S. 71–73 und ähnlich A 1989a, S. 245–247. 192 Der Einfachheit halber konzentriere ich mich im Folgenden nur auf die kognitive Seite. Die Präsenz des Hl. Geistes hat im traditionellen christlichen Selbstverständnis auch und v.a. eminente Folgen für die Willensausrichtung und Lebensführung des Menschen. Vgl. ebd., S. 249–251. Hegel macht dies klar, wenn er schreibt, dass die höherstufige Erkenntnis der Präsenz des Geistes nicht nur durch eine epistemische Aneignung der theologischen Signifikanz des Kreuzestodes Christi ermöglicht wird, sondern v.a. die praktische Nachfolge des exemplarischen Lebens Christi voraussetzt. Vgl. Enz. § 570, GW 20, S. 553 und dazu P 1987, S. 106 f. Hegels Rede von der „Gemeinschaft Gottes und des Menschen mit einander“ (GVL, GW 18, S. 302) umfasst daher die theoretische und lebenspraktische Dimension gleichermaßen. 193 „Human knowledge of God includes an understanding of the essential connection that humans have with God, and thus human self-knowledge in God.“ ( N 2009, S. 105) Wenn Hegel schreibt: „Den wahrhaften Glauben können wir so bestimmen, daß er Zeugnis meines Geistes ist, das Zeugnis des Geistes vom Geist“ (VPR 3, S. 238), muss man ihm daher nicht gleich die häretischen Konsequenzen unterstellen, die man etwa in Jaeschkes Erläuterungen zu Hegels Aneignung des Testimonium internum findet. Vgl. J 2009, S. 212 f. 194 Vgl. O 2007, S. 156 f. und F 2017, S. 174–176. 195 Quod […] recipitur in aliquo, recipitur in eo secundum modum recipientis. (STh I. qu.79 a.6co) Die Implikationen dieses Prinzips für die Fähigkeit, das Absolute als den ,absoluten Geist‘ zu wissen, hat M. Theunissen prägnant ausgedrückt: „Der absolute Geist ist also eigentlich nur für ein solches Wissen, das der Begegnung mit ihm gewachsen ist, ihn in seiner absoluten Geistigkeit wahrnehmen kann. Wie aber das Auge nicht die Sonne sehen könnte, wäre es nicht selbst sonnenhaft, so kann – das war die Plotinisch-Goethische Überzeugung Hegels – das Wissen nur als absolutes dem Absoluten wahrhaft begegnen.“ (T 1970, S. 125)
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ewige Gegenwart und deren epistemische Konsequenzen einzusehen, muss demnach nicht nur Rückschlüsse über die Konstitution solcher Fähigkeiten, sondern auch über deren Träger erlauben.196 Eine Person, die erkennt, dass jeder ihrer kognitiven Akte ,gleichzeitig‘ und in Kontakt mit Gottes kognitivem Leben vorliegt, kann in diesem Sinne erstens erkennen, dass keiner dieser Akte wesentlich in bestimmten raumzeitlichen oder sozialen Kontexten verortet werden muss und zudem potentiell von jedem rationalen Akteur gebildet werden könnte.197 Nach dem genannten Prinzip agere sequitur esse folgt zweitens, dass dasselbe auch für das gelten muss, was den Träger dieser Akte eigentlich auszeichnet. Anders formuliert: In der expliziten Reflexion erkennt die Person, dass sie nur dann einsehen kann, dass ihr ganzes (kognitives) Leben durch das Absolute immer schon ermöglicht wird, wenn sie selbst mit einem Fuß die Schwelle zur ,Ewigkeit‘ immer schon überschritten hat.198 Man kann dies so lesen, dass rationale Lebewesen nicht nur im Rahmen ihrer Erkenntnisakte an Gottes ,Gedanken‘, sondern in ihrem Wesen an der Natur Gottes selbst teilhaben.199 Diese Konsequenz kommt insbesondere in Hegels etymologischem Spiel mit dem Begriff ,Zeugen‘ gut zum Ausdruck, etwa wenn er schreibt: „[D]er Glaube beruht auf dem Zeugniß des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist.“ (Enz. § 573A, GW 20, S. 556) An dieser Stelle scheint Hegel behaupten zu wollen, dass der Glaube an Gott nicht eigentlich darauf beruht, dass Gott dem Menschen Informationen und Zeugnisse von sich übermittelt. Vielmehr folgt für ihn aus der Tatsache, dass das Absolute als Geist sein
196 Die Konsequenzen formuliert der Aristoteliker Meister Eckhart in Predigt 12: „Daz ouge, daˆ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, daˆ inne mich got sihet; mıˆn ouge und gotes ouge daz ist e´in ouge und e´in gesiht und e´in bekennen und e´in minnen.“ (DW I, S. 201) Diese Passage zitiert Hegel selbst im Kolleg von 1824. Vgl. VPR 3, S. 248. 197 Gleiches gilt für epistemische Einstellungen, die propositionale oder konzeptuelle Abstrakta zum Inhalt haben oder zumindest eindeutig formale Regeln realisieren. Dies ist der Kerngedanke von neo-aristotelischen Argumenten für die Immaterialität rationaler Akte und Fähigkeiten. Vgl. u.a. R 1992 und O 2007, S. 252–255. 198 „[D]er Geist ist ewig, also deshalb schon gegenwärtig; der Geist in seiner Freiheit ist nicht im Kreise der Beschränktheit; für ihn als denkend, rein wissend ist das Allgemeine Gegenstand; dies ist die Ewigkeit. Ewigkeit ist nicht bloße Dauer, sondern Ewigkeit ist Wissen, und Wissen dessen, was ewig ist.“ (VPR 5, S. 140 f.; vgl. ferner ebd., S. 73 f., 169 und 227 f.) Dies hat Konsequenzen für Hegels Eschatologie und seine Auffassung der erlebten ,Zeit‘ im Vollzug der religiösen und kultischen Praxis. Vgl. hierzu bes. V 2015, S. 246–249. 199 In diesem Sinne heißt es bei W. Alston u.a. im Anschluss an 2. Petr. 1,4: „As an initial fix on this idea let’s think of our being ,drawn into‘ the divine life and living it, to the extent our limited nature permits. We realize in our life and, to some extent, in our consciousness, the very life of God Himself.“ (A 1989a, S. 243) Zu den Details seines Modells vgl. ebd., S. 245–252. Alston reformuliert hier Intuitionen, die in der traditionellen orthodoxen Idee der Θε ωσις kulminieren und die D.B. Hart neuerdings in einer theologiegeschichtlich informierten wie phänomenologisch detaillierten Analyse aus den transzendentalen Zielen vernünftigen Lebens heraus begründet hat. Vgl. H 2022, bes. Chap. 1.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
(kognitives) Leben allen Menschen zugänglich macht, dass der Geist sich selbst in allen erkennenden Menschen gewissermaßen ,multipliziert‘ oder ,reproduziert‘.200 Dieser Umstand lässt sich so verstehen, dass menschliche Personen in der epistemischen Berührung mit der Ewigkeit Gottes, nicht nur dessen Natur erkennen, sondern diese selbst zu teilen beginnen.201 Biblisch gesprochen könnte man daher sagen, dass Personen in der Ausbildung dieses hochstufigen theologischen Wissens, zu ,Kindern‘ Gottes werden: „So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm 8,16 EÜ) Hegels Aussage in Enz. § 573A erlaubt nun mehrere Lesarten. In der schwächeren, aber m.E. keineswegs einzig möglichen Deutung müsste man die Präposition ,im‘ erstnehmen und mit Hegels Prämissen in der Göschel-Rezension schließen, dass eine vollständige Identifikation von Mensch und Gott auch hier nicht möglich ist.202 In der stärkeren müsste man die ,Zeugung‘ als gleichbedeutend mit der ,Zeugung‘ der zweiten trinitarischen Person verstehen203 – was aber die unbequeme Folge hätte, dass Personen in ihrem Wesenskern eigentlich keine Menschen mehr wären. In beiden Lesarten ergibt sich mit Hegel die Konsequenz, dass das ,Zeugnis des Geistes‘ immer (auch) das „Zeugnis meines Geistes“ (VPR 3, S. 238) ist. Im Rahmen der zweiten Lesart wäre dies schlicht synonym mit dem Selbstwissen Gottes. Denn dann würde ,ich‘ – als Gott selbst – im Wissen von
200 In der Hotho-Nachschrift heißt es daher vom „Zeugnis“ des Geistes, es sei „zugleich das Erzeugnis des absoluten Geistes […], der ebenso darin erst als absoluter Geist sich erzeugt.“ (VPR 3, S. 243 Fn.; vgl. auch TWA 16, S. 213) Zu dieser Stelle schreibt M. Theunissen in seinem Kommentar zu Enz. § 555: „Das Bezeugen des Glaubens kann nur darum zugleich erzeugend sein, weil es die Stätte ist, an der das Absolute, sich für die Menschen als geistige Subjektivität bezeugend, in gewisser Weise sich selbst auch erst als solche erzeugt.“ (T 1970, S. 138) 201 Setzt man für ,Gott‘ hier ,der absolute Begriff‘ ein, dann kann man denselben Sachverhalt auch weniger biblisch mit W. de Vries formulieren: „Thought is the structure of our mental activity. In pure thinking that structure is also the object of our thinking. Thus thinking as a subject and thinking as an object coincide in pure thought, the self-conscious realization of the Concept.“ ( V 1988b, S. 107) 202 Traditionell gesprochen müsste man dann sagen, dass Gott Menschen nicht – wie seinen ,Sohn‘ – ,zeugt‘, sondern als Söhne ,adoptiert.‘ Vgl. STh III. qu.3 a.8co und dazu A 1989a, S. 243. 203 Diese Konsequenz findet man in einer radikalen Fassung etwa in Predigt 6 von Meister Eckhart: „Der vater gebirt sıˆnen sun in der eˆwicheit im selber glıˆch. ,Daz wort was bıˆ gote, und got was daz wort‘: ez was daz selbe in der selben natuˆre. Noch spriche ich meˆr: er haˆt in geborn in mıˆner seˆle. […] Der vater gebirt sıˆnen sun aˆne underlaˆz, und ich spriche meˆr: er gebirt mich sıˆnen sun und den selben sun. Ich spriche meˆr: er gebirt mich niht aleine sıˆnen sun, meˆr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sıˆn wesen und sıˆn nature. In dem innersten quelle daˆ quille ich uˆz in dem heiligen geiste, daˆ ist e´in leben und e´in wesen und e´in werk.“ (DW I, S. 109) Aufgrund der Gleichwesentlichkeit müsste ,ich‘ dann aber auch metaphysisch notwendig, absolut einfach, unveränderlich, ewig etc. sein. Die Brücke über Eckhart zu nutzen, um aus dieser Stelle feuerbachianische Konsequenzen für Hegels Inkarnationsverständnis zu ziehen, halte ich daher für fraglich. Vgl. die Deutung in M 2018, S. 190 f. Fn. 299 und ähnlich B 1962, S. 317 f. und 322.
5.5 Menschliches Gottesbewusstsein und das Selbstbewusstsein Gottes
549
Personen, die von ,mir‘ wissen, sub specie aeternitatis von ,mir selbst‘ wissen.204 Nach der ersten Lesart würde im menschlichen Erkennen dessen, was es heißt, dass das Absolute mein Erkennen immer schon ermöglicht, eine echte Selbsterkenntnis resultieren. Das heißt, ich würde einsehen, was es für mich bedeutet, ein rationales Lebewesen zu sein, dem eine solche Erkenntnis möglich ist und immer schon war. Mit Hegels Göschel-Reprise ausgedrückt, bedeutet das, dass „das Wissen des Menschen von Gott […] fortgeht zum Sich-Wissen des Menschen in Gott.“ (Enz. § 564A, GW 20, S. 550) Hegels Rede vom ,absoluten Geist‘ verschaltet in diesem Sinne eine Theorie des Selbstwissens des Absoluten mit dessen Konsequenzen für die menschliche Selbsterkenntnis, deren sozio-religiöse Bedingungen er in seiner Rechts-, Geschichts- und Religionsphilosophie detailreich analysiert.205 Die Komplexität seiner Thesen scheint mir besonders daher zu rühren, dass sie in dichtester Form ein meta-stufiges Wissen zu beschreiben versuchen, bei dem ständig über dessen Träger und Inhalt neu reflektiert werden muss. Fasst man die bisherigen Überlegungen knapp zusammen, ergeben sich mindestens drei Ebenen des Wissens: Auf der untersten Ebene muss die Präsenz des Absoluten, und zwar genauer des Wissens der ,absoluten Idee‘, stehen, die nach der obigen Lesart immer schon das implizite apriorische Wissen im Menschen mit-ermöglicht.206 Auf der zweiten Ebene wird dieses Wissen erster Stufe nun selbst zum Inhalt selbstbewussten religiösen Wissens im engeren Sinn, das durch die Erkenntnisform der ,Vorstellung‘ gekennzeichnet ist, wie sie oben in Abschnitt III.3.2 beschrieben wurde. Dieses Wissen kann zunächst nur den generischen Inhalt besitzen, dass alles immer schon in und durch Absolute erkannt wird und dieses sich selbst darin zu erkennen gibt. Unter bestimmten geschichtlichen und sozialen Umständen kann ein ganz spezifisch religiöses Selbstverständnis von Gläubigen entstehen, in dem sie das Absolute als ,absoluten Geist‘ auffassen. Darin erkennen sie sich selbst als Lebewesen, deren Wesen darin besteht, dass – religiös-figurativ gesprochen – der Hl. Geist in ihnen selbst ,Zeugnis ablegt‘ und ihnen ,einwohnt‘, wenn sie ihren Glauben an Gott ausbilden.207 Auf der dritten Ebene wird dieses metastufige religiöse Wissen philosophisch expliziert. Dies bedeutet für Hegel, dass nicht nur der metaphorische 204 In diesem Sinne wäre auch Hegels ,Zitat‘ von Meister Eckhart im Kolleg von 1824 weniger spektakulär: „Wenn Gott nicht wäre, wäre ich nicht; wenn ich nicht wäre, wäre er nicht.“ (VPR 3, S. 248) 205 Enz. § 553, GW 20, S. 542 kann man in dieser Hinsicht als Programmskizze lesen. 206 Insofern dies auch und vor allem das kategoriale Wissen von Gläubigen betrifft, das wiederum Gottesbeweise motivieren und ermöglichen soll (vgl. oben II.2.5), kann man auch sagen, dass das ,Zeugnis‘ des ,absoluten Geistes‘ die Institution der natürlichen Theologie in letzter Instanz hervorbringt. In den Gottesbeweisvorlesungen heißt es entsprechend: „Das metaphysische Beweisen, das wir hier betrachten, ist das Zeugniß des denkenden Geistes, insofern derselbe nicht nur an sich sondern für sich denkend ist.“ (GVL, GW 18, S. 258; vgl. auch ebd., S. 276) 207 Mit Hegel gesprochen würde dies Wissen genauer beinhalten, dass das Absolute sich den Gläubigen als Geist ,offenbart‘. Vgl. Enz. § 564, GW 20, S. 549 f.
550
5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Ausdruck der religiösen Erkenntnis in die nicht-figurative Rede von der ewigen Präsenz der ,absoluten Idee‘ als ,absolutem Geist‘ in allen Menschen‘ übersetzt wird.208 Diese Übersetzungsleistung muss zugleich im Rahmen einer umfassenden Theorie des menschlichen Geistes vollzogen werden, die zugleich die Notwendigkeit des religiösen Wissens (zweiter Stufe) und dessen spezifischer Erkenntnisform einsichtig macht.209 In dieser theoretischen Explikation und Rechtfertigung kommt man schließlich nach Hegel zum Ergebnis, dass das, was religiöse oder philosophische Personengemeinschaften im Laufe der Geschichte selbstbewusst einsehen, ebenfalls immer schon Inhalt und Moment des ,Wissens der absoluten Idee‘ sein muss – das wiederum schon auf der untersten Eben das ganze menschliche Wissen ermöglicht haben soll. Indem also, mit Hegel gesprochen, im Menschen erkannt wird, dass ihr Vollzug des Erkennens gewissermaßen „die Thätigkeit des Erkennens“ der absoluten „Idee“ ist, wird zugleich einsichtig, dass „die ewige an und für sich seyende Idee sich ewig als absoluter Geist bethätigt, erzeugt und genießt.“ (Enz. § 577, GW 20, S. 571) Wenn man also dazu bereit ist, trotz der Einheit des menschlichen und des ,absoluten Geistes‘ eine Unterscheidung zwischen beiden zu machen, und zudem den Begriff der ,Ewigkeit‘ hinreichend disambiguiert, kann Hegel gute Gründe gegen seine Kritiker anführen. Dass Hegel erst zum Schluss der Enzyklopädie über das Absolute als ,absoluter Geist‘ spricht, beruht dann schlicht auf der Tatsache, dass erst dort diejenigen psychologischen, sozialontologischen und religionsphilosophischen Kategorien bereit stehen, die man nach Hegel zu einer endgültigen Beschreibung des Absoluten und seiner Beziehung zur Welt und zum Menschen benötigt. Negiert man die oben entwickelten Bedingungen dieser Theorie, wird Schellings Kritik gewissermaßen unvermeidlich.210 Lässt man sie
208 In gewisser Weise gibt der zurückliegende Kapitelabschnitt ein Beispiel dafür, wie diese Übersetzung nach Hegel aussehen müsste. In Hegels Sinne wäre es zudem, dass diese Reflexion auf das religiös-figurative Wissen schon im Rahmen der christlichen Theologie – nämlich spätestens in der Ausbildung der Pneumatologie – beginnt. Dies erklärt nicht nur die besondere Bedeutung, die Hegel etwa dem Pfingstwunder zuschreibt. Vgl. H 1987, Band 2, S. 660–662 und ferner . 2013, S. 200. Es macht auch nachvollziehbar, warum Hegel in Joh 7,38 f. ein Beleg für die These sieht, dass Jesus die pneumatologische Interpretation seines Lebens schon vorformuliert: „In dieser Gegenwart hat Christus seinen Jüngern selbst mündlich seine ewige Natur, und Bestimmung zur Versöhnung Gottes mit sich selbst und der Menschen mit ihm, die Heilsordnung und die Sittenlehre geoffenbahrt, und der Glaube, den die Jünger an ihn hatten, begreifft diß Alles in sich.“ (Enz., GW 20, S. 29) 209 Vgl. Enz. § 573, GW 20, S. 555. In diesem Sinne expliziert die Philosophie den Glauben der Jünger Christi, wie Hegel ebenfalls im Vorwort der Enzyklopädie in der Letztfassung ausführt: „Dessenungeachtet wird dieser Glaube, dem an der stärksten Gewißheit nichts fehlte, nur für den Anfang und die bedingende Grundlage, für das noch Unvollendete erklärt; die so glaubeten, haben noch nicht den Geist, sollen ihn erst empfahen – ihn, die Wahrheit selbst, ihn, der erst später als jenes Glaubens ist, der in alle Wahrheit leitet.“ (Enz., GW., S. 29) 210 Damit wird m.E. auch deutlich, warum Schelling unter seinen Voraussetzungen (in SW I/10, S. 156 f. ) Passagen wie die folgende mit mehreren Fragezeichen versehen muss: „So wird noch mehr der absolute Geist, der als die concrete und letzte höchste Wahrheit alles Seyns sich
5.6 Christentum und spekulative Philosophie
551
hingegen bestehen, lassen sich durchaus Brücken zur klassischen Theologie bauen, die Hegels eigene Engführungen im Rahmen seiner These der Inhaltsidentität zumindest prima facie plausibel machen.
5.6 Christentum und spekulative Philosophie Mit dieser überaus komplexen Verschachtelung verschiedener Ebenen und Stufen menschlichen und göttlichen Wissens meint Hegel alle Prämissen für seine Konklusion beieinander zu haben, dass in der christlichen Religion spätestens in der Ausbildung der Pneumatologie die Höchstform des religiösen Wissens im engeren Sinne erreicht wird. Eine solche These scheint allerdings vor dem Hintergrund von Hegels ,kritischem Inklusivismus‘ zwiespältig. Gegen Erneuerungsversuche von Hegels Theorie religiöser Diversität wird nämlich bisweilen vorgebracht, dass sie sich nicht nur enorme religionshermeneutische Beweislasten aufladen. Sie würden sie vielmehr schon deshalb nicht tragen können, weil sie sich mit Hegel von vornherein darauf festlegen, in religiöse Überzeugungen Wissensgehalte hineinzuprojizieren, die dort schlicht nicht vorhanden sind.211 Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen kann man dieses Bedenken auch so ausdrücken, dass Hegels womöglich einseitige Orientierung an der christlichen Geistlehre permanent Gefahr läuft, andere Religionsformen mit einem Vokabular zu traktieren, das ihnen selbst fremd bleiben muss.212 Es kann hier nun nicht darum gehen, Hegel von allen möglichen Bedenken freizusprechen. Stattdessen soll kurz eine Antwort umrissen werden, die zum einen Hegels Prämissen verdeutlicht, welche Einwände dieser Art angreifen müssten. Dabei soll zum anderen Hegels Auszeichnung der christlichen Religion abschließend kritisch befragt werden. ergibt, erkannt, als am Ende der Entwickelung sich mit Freyheit entäussernd und sich zur Gestalt eines unmittelbaren Seyns entlassend, – zur Schöpfung einer Welt sich entschließend, welche alles das enthält, was in die Entwicklung, die jenem Resultate vorangegangen, fiel, und das durch diese umgekehrte Stellung, mit seinem Anfang in ein von dem Resultate als dem Principe abhängiges verwandelt wird.“ (WdL I/1, GW 21, S. 57) Umgekehrt glaubt M. Theunissen zu Recht, Hegel habe Schellings Kritik schon in den Abschlussparagraphen der Enzyklopädie antizipiert. Vgl. T 1970, S. 312 f. Analoge Thesen hat F. Hermanni anhand des Kollegs von 1827 umfassend ausgearbeitet. Vgl. H 2013, S. 144–150. 211 Gegen F. Hermanni wendet etwa M. Enders ein: „Dass genau jener Begriff von Religion allen Religionen konstitutiv zugrunde liegt, diese aus Hegels Geistmetaphysik abgeleitete Grundvoraussetzung der Hegelschen Religionstheorie kann von letzterer nicht empirisch ausgewiesen und belegt werden. Deshalb muss Hegels spekulative Religionstheorie das faktisch-empirische Selbstverständnis der konkreten Religionen auch weitgehend ignorieren und ist daher auch für eine religionswissenschaftliche Beschäftigung mit den Religionen […] weitgehend irrelevant.“ (E 2013, S. 444) 212 Dies gilt schon für das Vokabular in Hegels allgemeiner Explikation des Begriffs des ,absoluten Geistes‘ und der ,Religion‘ in Enz. § 554, das etwa M. Theunissen für eindeutig christlich hält. Vgl. T 1970, S. 130 f.
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5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
Blickt man auf die Ergebnisse der letzten zwei Kapitel zurück, wird man mit Hegel die genannte skeptische Anfrage paradoxerweise sowohl mit ,ja‘ als auch mit ,nein‘ beantworten müssen. Für Hegel kann eine individuelle Religionsgestalt dann und nur dann die Höchstform religiöser Erkenntnis darstellen, wenn sie das, was in jeder religiösen Haltung immer schon intendiert ist, selbstbewusst zum Ausdruck bringt.213 Und aus Hegels These der Notwendigkeit religiöser Vielfalt muss geradezu folgen, dass das, was schließlich im Christentum zur Vollendung kommt, eigentlich in allen Religion zumindest implizit schon gewusst oder antizipiert wird.214 Das heißt konkret, dass auch und v.a. die Präsenz des Absoluten im menschlichen Wissen in jeder Religion qua Religion vorkommen muss. Ganz in diesem Sinne heißt es an einer Stelle im Kolleg von 1824: Die Bestimmung, daß der Geist Gegenwart hat im Menschen und das menschliche Selbstbewußtsein wesentlich Gegenwart des Geistes ist, diese Verbindung werden wir durch verschiedene Religionen sehen; sie gehört notwendig zu den ersten und ältesten Bestimmungen, und wir werden sehen, daß sie in der christlichen Religion auch vorhanden ist, aber auf höhere Weise und verklärt. (VPR 4, S. 197)
Diese Stelle klärt nun darüber auf, wie man den o.g. Einwand im hegelschen Sinne zu interpretieren hat. Zum einen würde Hegel gegen den Einwand darauf beharren müssen, dass schon in der Perspektive einer jeder einzelnen Religionsform die Präsenz des Absoluten zumindest im Ansatz transparent wird. In diesem Sinne untersucht Hegel die Weise, in der Personen oder Personengruppen in allen Religionsformen aufgrund ihrer herausragenden Beziehung zu deren religiösem Bezugsobjekt ausgezeichnet und herausgestellt werden.215 Auf dieser Grundlage meint Hegel behaupten zu können, dass sein voll ausbuchstabierter Religionsbegriff für alle Religionen verbindlich ist, demzufolge Religionen immer schon Formen der Selbstbeziehung des Absoluten im Menschen zumindest in der Form der ,Vorstellung‘ darstellen. Zum anderen würde Hegel dem Einwand ohne weiteres zugestehen, dass in der Interpretation von religiösen Ausdrucksformen scharf zwischen der Beschreibung der religiösen Binnenperspektive und der religionsphilosophischen Theorieperspektive unterschieden werden muss. Dies folgt
213 Treffend schreibt daher R. Leuze: „Das Kriterium für die Wahrheit einer Religion bestünde […] darin, ob und inwieweit sie in der Lage ist, die Notwendigkeit und das Selbstverständnis anderer Religionen in ihr eigenes Verstehen zu integrieren.“ (L 2006, S. 34) Man müsste hier allerdings hinzufügen, dass die letzte Entscheidung darüber, ob dies tatsächlich der Fall ist, nach Hegel – und anders als Leuze glaubt – der Philosophie anheimgestellt ist. 214 Vgl. hierzu bes. H 2017, S. 383–387. 215 Im Kolleg von 1827 verdienen daher unterschiedliche Personen und Personengruppen in den Religionsgestalten besondere Aufmerksamkeit: So etwa in magischen Praktiken ,Zauberer‘ (vgl. VPR 4, S. 436 f.), in der ,chinesischen Religion‘ und der ,römischen Religion‘ die Gestalt des ,Kaisers‘ (vgl. ebd., S. 446 f. und 589 f.), in der ,Religion des Insichseins‘ ,Buddha‘ (vgl. ebd., S. 459–461), in der ,indischen Religion‘ die ,Yogi‘ (vgl. ebd., S. 490 f.) und in der ,jüdischen Religion‘ etwa die ,jüdische Nation‘ (vgl. ebd., S. 575–579), die ,Gerechten‘ (vgl. S. 571–573) und die ,Propheten‘ (vgl. ebd., S. 574).
5.6 Christentum und spekulative Philosophie
553
aus der spezifischen Ausgestaltung der verschiedenen Ebenen von Hegels Religionsbegriff: Wie nämlich die Gegenwart des Absoluten im Menschen genau konzeptualisiert und ,vorgestellt‘ wird, hängt besonders von dem ,metaphysischen Begriff‘ ab, der nach Hegel die jeweilige Perspektive auf die Beziehung zwischen Absolutem, Welt und Mensch von vornherein mitbestimmt.216 Ein erfolgreicher Einwand müsste also Hegels Explikation der jeweiligen Begriffe des Absoluten und seine konkreten interpretatorischen Schlüsse angreifen. Gegen eine solche kritische Würdigung217 könnte ein Erneuerungsversuch darauf beharren, dass dies lediglich die konkrete Gestalt von Hegels Auffassung der sog. ,bestimmten Religionen‘ trifft. Sie hebt aber nicht direkt Hegels allgemeinen Punkt auf, dass die Beziehung zwischen Absolutem und Mensch immer religiös thematisiert wird. Und selbst wenn Hegel in der Durchführung Fehler gemacht hat, könnte ein Verteidiger darauf aufmerksam machen, dass Hegels philosophische Auszeichnung des Christentums gerade nicht auf seiner ,protestantischen‘ Voreingenommenheit beruht. In seinem Selbstverständnis erfolgt sie in der allgemein ausweisbaren philosophischen Theorieperspektive, die er spätestens in seiner ,Philosophie des absoluten Geistes‘ einholt. Und paradoxerweise ruft gerade dieser Ansatz den in Abschnitt III.5.1 entwickelten religionshermeneutischen Verdacht hervor, dass Hegels eigene Deutungen den Gehalt und das Bezugsobjekt christlichen Glaubens verfehlen müssen. Mithilfe der bisherigen Überlegungen kann man aber die hegelsche Generalthese vielleicht so nachvollziehbar machen: Wenn dem Christentum diese besondere Stellung zukommt, dann muss in ihm die Vollbestimmung des Begriffs des Absoluten – als ,absoluter Geist‘ – mit allen Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis eingesehen und zumindest in figurativer Form zum Ausdruck gebracht werden.218 Wir haben nun schon oben gesehen, dass sich für Hegels Interpretation durchaus Anknüpfungspunkte in der klassischen christlichen Theologie finden lassen. Gleichzeitig scheint sich der ganze Aufbau der hegelschen Religionsphilosophie darauf zu verpflichten, in der christlichen Pneumatologie und deren philosophischer Explikation geradezu den Kulminationspunkt der ganzen Religionsgeschichte zu sehen. Dem Selbstbild des traditionellen Glaubens kann Hegel in diesem Sinne nur dann gerecht werden, wenn er seine stärkere These plausibel machen kann – nämlich die Überzeugung, dass ein echtes Verständnis der Präsenz des Absoluten nur unter ganz bestimmten geschichtlichen, religiösen und
216
Vgl. hierzu auch oben III.4.2. Vgl. u.a. S 1955; L 1975; L/S (Hg.) 2012 oder H 2015. 218 In Hegels Worten: „Es liegt wesentlich im Begriffe der wahrhaften Religion, d.i. derjenigen, deren Inhalt der absolute Geist ist, daß sie geoffenbart und zwar von Gott offenbart sey.“ (Enz. § 564, GW 20, S. 549) Im Sinne des in Kap. III.1 knapp skizzierten Arguments müsste man noch hinzufügen, dass in einer solchen Religion zugleich miteingesehen wird, dass durch diese Form des Gottesbewusstseins für Hegel zugleich der ,Endzweck‘ von Natur und Geschichte mitdefiniert ist. Vgl. hierzu u.a. VPR 4, S. 103 f. 217
554
5. ,Denken‘, ,Gott‘ und ,absoluter Geist‘
sozialen Bedingungen entwickelt werden konnte. Entsprechend meint er in der Religionsphilosophie zeigen zu können, dass diese nur in der theologischen Aneignung der Geschichte Christi transparent werden konnte, die wiederum nur im Kontext der ,jüdischen Religion‘ und der politischen Ideologie der ,römischen Religion‘ in dieser Form möglich gewesen ist.219 Nur auf dieser Basis meint er, die Zentralität der Christusgestalt mit seiner Überzeugung verträglich machen zu können, dass es der christliche Glaube letztlich darauf abgesehen hat, was nach dem Kreuzestod geschichtlich und theologisch vorgefallen ist. Ob Hegel dies tatsächlich gelungen ist, hängt von der Antwort auf D.F. Strauß’ Gretchenfrage ab, wie viele Stationen der Geschichte von Jesus Christus sich unter hegelschen Prämissen rechtfertigen lassen. Wir haben zwar in Abschnitt III.3.2 gesehen, dass Hegels Vorstellungskategorie allein keine Schlüsse zugunsten einer linkshegelianischen Interpretation erlaubt. Während sich in Hegels religionsphilosophischem ,Inkarnationsbeweis‘ einige der Elemente traditioneller Theologie einholen lassen,220 stößt man aber bei der Frage der leiblichen Auferstehung auf interpretatorische Grenzen.221 Und selbst wenn man hier zu einer positiven Entscheidung kommen sollte, wird man sich wohl spätestens an Hegels merkwürdiger Aneignung der traditionellen Eschatologie stoßen. Anstatt diesen schwierigen Fragen nachzugehen, möchte ich abschließend eine andersgelagerte Frage aufwerfen: Nimmt man Hegel beim Wort und deutet die Geschichte des Christentums insbesondere von ihrem Ende her, in dem diejenigen Elemente eingeholt werden sollen, die in philosophischer Hinsicht religiöse Haltungen wesentlich ausmachen, dann wäre durchaus zu fragen, ob Vertreter anderer Religionen diese Elemente nicht in ihrer eigenen Tradition wiederfinden können222 – freilich nur unter der Bedingung, dass sie gute Gründe haben, den
219
Vgl. u.a. ebd., S. 136f; VPR 5, S. 231 f. und hierzu H 2017, S. 407–409. Dass Gott wegen der menschlichen kognitiven und volitiven Verfassung in einem einzelnen Menschen zur Gotteserkenntnis und zum Heil anschaulich bzw. ,vorstellig‘ wird, wird auch bei Augustinus und Thomas als Grund für die Inkarnation angegeben. Vgl. De ver. rel. X.18–X.19 und Thomas v. Aquin, Das Wort, S. 96–99. 221 Vgl. oben S. 451, Fn. 112. Um trotz mangelnder Textbasis hier zu einem gut begründeten exegetischen Urteil zu kommen, müsste man zuvor nicht nur geklärt haben, ob Hegel präternaturale Ereignisse für metaphysisch möglich hält, sondern auch, ob seine Psychologie Rückschlüsse hinsichtlich der individuellen Unsterblichkeit erlaubt. In der Regel scheinen diese Fragen in der Hegelexegese schon vorentschieden, wenn selbst wohlwollende Interpreten wie P.C. Hodgson ohne tiefergehende Begründung behaupten: „No literal bodily resurrection occurs; Christ’s sensible, bodily presence is left behind in the transition to spiritual presence.“ (H 2005, S. 175) Solange man also keine gegenteilige Antwort auf die genannten Fragen parat hat, wird man sich – etwa auf Hodgsons Textbasis u.a. in VPR 5, S. 67–69 – mit diesem negativen Urteil begnügen oder Hegel zumindest Urteilsenthaltung unterstellen müssen. 222 P.C. Hodgson hat in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass sich in Hegels Umgang mit den sog. ,asiatischen‘ Religionen Intuitionen wiederfinden, die etwa in den sog. ,nicht-dualistischen‘ Systemen des Advaita Vedanta ausbuchstabiert werden. Vgl. H 2005, S. 219 f. und zu den möglichen Quellen Hegels L 1975, S. 94–96. In A. Rambachans 220
5.6 Christentum und spekulative Philosophie
555
normativen Anspruch von Hegels Religionsbegriff zu akzeptieren, und ihn nicht aus anderen Gründen verwerfen. Die Antwort auf eine solche Frage liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, zumal sie auch und v.a. von den Angehörigen der jeweiligen religiösen Tradition entwickelt und durchgeführt werden sollte. Sollte sich Hegels umfassende Explikation des Religionsbegriffs für solche Zwecke als tauglich erweisen, dann müsste eine Revision und Aneignung seiner Religionsphilosophie ein Gemeinschaftsprojekt darstellen, an dem sich potentiell alle Gläubigen anderer Religionen beteiligen müssten und sollten. Die im hegelschen Rahmen angestrebte religiöse Neutralität und sein Anspruch, sich an den generellen epistemischen Normen der Philosophie messen zu können, könnte hierfür vermutlich ein Einfallstor bieten.
Darstellung des Vedanta heißt es an einer Stelle prägnant: „The purpose of human life […] is to participate in the celebration of existence by knowing the nature of the one who has brought all things into being, whose nature infuses everything and whose fullness we share.“ (R 2006, S. 97) Ob sich der advaitische Vedanta in allen Details mit Hegels ,Philosophie des absoluten Geistes‘ verträglich machen lässt, würde eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des ,Atmans‘ erfordern. Vgl. die erhellenden Ausführungen ebd., Chap. 3 und ferner H 2013, S. 197–199.
Schluss und Ausblick Thema der vorstehenden Überlegungen und Ausführungen war Hegels Theorie religiösen Denkens, dessen vielfältige Facetten vor dem Hintergrund klassischer und zeitgenössischer Fragestellungen, Thesen und Argumente erschlossen und rekonstruiert wurden. Zum Abschluss bietet es sich an, den Ausgangspunkt zu wechseln und einige ausgewählte Diskussionsergebnisse im Licht philosophischer Gegenwartsdebatten nochmals Revue passieren zu lassen. Dabei werden auch und v.a. diejenigen Aspekte näher betrachtet, die nicht immer im Hauptfokus der Diskussion standen, aber interessante Anknüpfungspunkte für weitere systematische Untersuchungen darstellen. Zu Teil I: Hegels Idealtheorie des Erkennens und der Vorrang des Verstehens Die zentrale systematische Ausgangsfragestellung bildete das Problem, ob und unter welchen Bedingungen religiöse oder im engeren Sinne theistische Überzeugungen epistemisch berechtigt sind und daher von Gläubigen vertreten werden dürfen. Diese Fragestellung wurde in Teil I nach einer Detailanalyse von Hegels Begriffen der Religion und des Gottesglaubens (Kap. I.1) zusammen mit einer Rekonstruktion seiner allgemeinen Auffassung epistemischer Normen (Kap. I.2) genauer entwickelt. Hegels eigene Antwort auf das Rechtfertigungsproblem, die in seiner Theorie der religiösen Urteils- und Schlusspraxis besteht, wurde im Laufe von Teil I und Teil II auf indirektem Wege nachgezeichnet. Dazu wurden seine Thesen zunächst mit einer negativen Antwort auf die Ausgangsfrage und mit vier alternativen Theorieoptionen konfrontiert, um von dort aus Hegels Ansatz systematisch bewerten zu können. Die Verneinung der Frage wurde auf den sog. ,evidentialistischen Einwand‘ zugespitzt, der die epistemische Berechtigung des Gottesglaubens von dem Vorliegen allgemein überzeugender Belege abhängig macht, die in der Regel eine argumentative Form besitzen sollten (Kap. I.3). Damit etwa die Überzeugung von der Existenz Gottes gerechtfertigterweise vertreten werden darf, müssen Gläubige nach diesem Einwand in der Lage sein, ein Argument zu entwickeln und zu präsentieren, das auf theologisch neutralen, unproblematischen und rational akzeptablen Prämissen beruht. Da aber, so der Einwand weiter, solche Argumente vermutlich schon aus prinzipiellen Gründen nicht zur Verfügung stehen, scheint daraus zu folgen, dass jeder Gottesgläubige seinen Glauben zurückziehen und sich mindestens mit Agnostizismus begnügen sollte.
558
Schluss und Ausblick
Es lohnt sich nun, die Zielsetzungen und Voraussetzungen dieser Herausforderung, die auch heute noch große Teile der religionsepistemologischen Debatte zu dominieren scheint,1 nochmals ganz allgemein mit Hegels eigener Analyse epistemischer Ziele und Normen zu vergleichen. Denn dabei fallen Besonderheiten auf, mit denen man den Stellenwert der epistemischen Rechtfertigung selbst befragen kann und die sich daher als Leitmotiv der folgenden Anschlussüberlegungen gut eignen. Erstens enthält der Einwand ein klares Verständnis des relevanten Typus’ epistemischer Normen wie der Bedingungen seiner konkreten Einlösung, die in Hegels Erkenntnis- und Vernunftbegriff wesentlich weiter gefasst werden und daher vergleichsweise flexibler zu sein scheinen. Während der Einwand das Recht an Gott zu glauben von der Wahrnehmung epistemischer Pflichten abhängig macht, formuliert Hegel epistemische Normen zunächst generell von den Zielen her, die sich aus dem erklären, was geistige und erkenntnisfähige Individuen als solche auszeichnet.2 Das, worauf nun Erkenntnisbildung intrinsisch abzielt und was sie daher ihrem Wesen nach erreichen sollte, sind dabei, wie in Abschnitt I.2.1 gezeigt wurde, ,wahre‘, ,vernünftige‘ und urteilsförmige ,Gedanken‘ über das, was deren jeweilige Bezugsgegenstände wesentlich ausmacht. Dabei unterscheiden sich Hegels Ausführungen nicht nur von deontologischen Normauffassungen in ihrem klaren teleologischen Vokabular. Zudem werden in der hegelschen Psychologie die resultierenden epistemischen Ziele zunächst generisch formuliert, um dann für den jeweiligen Wissenstypus bereichs- und kontextspezifisch konkretisiert werden zu können. Wie insbesondere in Abschnitt I.2.2 dargelegt wurde, unterscheidet Hegel legitime Erkenntnisansprüche zwar scharf von illegitimen, die etwa in einer bloß emotionalen Bewertung der geglaubten Sachverhalte bestehen. Gleichzeitig gibt Hegels allgemeiner Begriff der Wissensbildung und der an ihr beteiligten Fähigkeiten nur den generellen Rahmen vor, in dem lokale Formen der epistemischen Praxis im Alltag oder in Wissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie expliziert und systematisiert werden können.3 Als allgemeines Ordnungskriterium spezifischer Erkenntnisformen dient dabei die typisch hegelsche inhaltliche Zuspitzung des eigentlichen Telos des Wissens. Das epistemische Ziel, darüber korrekt und begründet zu urteilen, was wesentlich und wirklich der Fall ist, bedeutet für Hegel nämlich im optimalen 1
Vgl. F 2017. Zum Deontologismus im evidentialistischen Einwand vgl. auch oben I.5.2. Für Hegel kann diese Normauffassung schon deshalb nicht in Frage kommen, weil die Verwirklichung von epistemischen Zielen unter seinen Prämissen nicht im strengen Sinne beabsichtigt wird. Vgl. oben Abschn. I.2.2. 3 Paradigmatisch steht hierfür etwa Hegels Kritik der Übertragung der axiomatischdeduktiven Methode auf die allgemeine und spezielle Metaphysik, die den Hintergrund seiner Re-interpretation der Gottesbeweise bildet (vgl. oben Abschn. II.2.4). Wo diese etwa ihren legitimen Ort in der Mathematik hat, wird sie im letzteren Fall dem eigentümlichen Gegenstand der Gottesrede nicht gerecht und kann daher auch nicht beanspruchen, echte religiöse und spekulative Begründungsformen adäquat auszudrücken, wie sie u.a. oben in Abschn. II.2.5 dargelegt wurden. 2
Schluss und Ausblick
559
Grenzfall die Erkenntnis dessen, was es mit dem Ganzen der natürlichen und geistigen Wirklichkeit wahrhaft auf sich hat. Damit folgt Hegel einer klassischen Intuition, die R. Pasnau unter dem Begriff der ,Idealtheorie des Wissens‘ wieder ins Gespräch gebracht und verteidigt hat.4 In Hegels Sinne formuliert und begründet sie zunächst eine Theorie darüber, was erkenntnisfähige Individuen in der Wissensbildung in letzter Instanz anstreben (sollten), um von dort aus ein System und eine Hierarchie verschiedener epistemischer Ziele zu entwickeln.5 Aus der genauen inhaltlichen Fortbestimmung des epistemischen Ideals ergibt sich nun das zweite, hier entscheidende Unterscheidungsmerkmal zum StandardEvidentialismus. Denn dem idealen Grenzfall kann man nach Hegel nur in solchen Erkenntnisakten hinreichend nahekommen, in denen das Absolute in den kognitiven Fokus der jeweiligen Person oder Personengemeinschaft gerückt wird. Hegel kann daher die Güte eines jeden Einzelgedankens am „höchsten Gedanke[n]“ messen, der „Gott“ (GVL, GW 18, S. 234) zum Inhalt haben muss,6 von dem her die wesentliche Struktur und Ordnung der Wirklichkeit erschlossen wird (Kap. II.5).7 Wie in Abschnitt I.1.1 deutlich wurde, ist die Bezugnahme auf das Absolute für Hegel genau dasjenige Kriterium, mit denen man religiöse Überzeugungen im weiten Sinne von anderen Wissensansprüchen unterscheiden kann. Religiöses Wissen in diesem weiten Sinne kann nach Hegel dabei auch ein Produkt der philosophischen Erkenntnis- und Begründungspraxis sein. Damit stellt seine Idealtheorie die evidentialistische Kritik aber geradezu auf den Kopf. Denn das Bewertungskriterium von Wissensansprüchen besteht dann in derjenigen Erkenntnisform, die evidentialistische Kritiker gerade für die problematischste und daher der epistemischen Rechtfertigung am meisten bedürftige halten.
4
Vgl. P 2013 und oben I.2.2, S. 65 Fn. 40. Es wäre daher vielversprechend, diesen Ansatz etwa mit W. Alstons späten Entwurf eines epistemischen Pluralismus genauer in Beziehung zu setzen. Zwar verwirft Alston die Idee einer einheitlichen und einzigen Norm der Rechtfertigung. Dennoch analysiert und ordnet er verschiedene epistemische Desiderata – wie die Basierung einer Überzeugung auf adäquaten Gründen, die Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisfähigkeiten oder die epistemische Tüchtigkeit von Personen – danach, welchen konkreten Beitrag sie zum wesentlichen Ziel des Erwerbs substantiell wahrer Aussagen leisten können. Vgl. A 2005a. 6 Wie ausführlich dargelegt wurde, muss diese epistemische Bezugnahme für Hegel nicht immer explizit monotheistische Beschreibungen des Absoluten enthalten (vgl. I.1.1). Für Hegel sind nicht-(mono-)theistische Auffassungen des Absoluten nicht nur möglich, sondern gewissermaßen sogar notwendig für die kohärente Beschreibung, die in der philosophischen Interpretation und Aneignung der ,vollendeten Religion‘ zum Ausdruck kommen soll. Vgl. III.4.2. 7 Dabei implizieren sich Hegels Idealtheorie des Erkennens und seine These von der Ausrichtung auf das Absolute schon deshalb gegenseitig, weil das Absolute in der Bestimmung der sog. ,absoluten Idee‘ paradigmatisch zum Ausdruck bringt, was es eigentlich heißt zu erkennen. Jede echte Erkenntnis des Absoluten enthält damit immer schon zugleich eine Einsicht in die Ziele und Normen der epistemischen Praxis selbst, wie sich besonders in Hegels komplexer Anselm-Interpretation zeigt (Abschn. II.4.2). 5
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Dieser Sachverhalt lässt sich mit einem erneuten Abgleich der konkreten erkenntnistheoretischen Absichten unterstreichen, der einen interessanten Aspekt von Hegels Erkenntnisbegriff zutage fördert. Der evidentialistische Einwand zielt bei der Bewertung des Gottesglaubens nur auf ein epistemologisches Kriterium ab, wann bestimmte Überzeugungen über das, was der Fall ist, begründetermaßen vertreten werden dürfen. Umgekehrt bemisst Hegel die Güte eines gelingenden Erkenntnisanspruchs in letzter Instanz daran, ob er einen wahren explanatorischen Aufschluss darüber geben kann, warum es sich mit einer Sache nun wesentlich so und nicht anders verhält.8 Hegels Theorie des Wissens und der Religion im weiten Sinne führt damit, modern gesprochen, zu einer besonderen Auszeichnung des Erklären-Könnens und Verstehens, warum etwas objektiv der Fall ist, vor der bloßen Sicherung von berechtigten Meinungen und Überzeugungen von Tatsachen.9 Auch mit dieser Fokusverschiebung rückt Hegel in die Nähe der zeitgenössischen Epistemologie, die gerade diesen Perspektivenwechsel vor allem in den letzten Jahren eingefordert hat.10 Hegel entwickelt dabei nicht nur eine komplexe Konzeption der reflexiven Rechtfertigung epistemischer Normen, die ebenfalls in Abschnitt I.2.1 dargelegt wurde. Eine Besonderheit seines Theorieansatzes besteht zudem vor allem darin, dass er die Bedingungen klären kann, unter denen alternative Bewertungsskalen plausibel erscheinen, die ihren exemplarischen Ausdruck im evidentialistischen Einwand und den gängigen Antworten finden. Zunächst scheint allgemein zu gelten, dass man nur dann eine zuverlässige Erklärung der wesentlichen Struktur und Ordnung der Wirklichkeit geben kann, wenn das explanans den Inhalt einer gut begründeten und korrekten Meinung bildet.11 Wenn also der Gottesglaube unter anderen Rationalitätskriterien selbst
8 Auf dieses Spezifikum des hegelschen Philosophierens hat besonders F. Knappik hingewiesen und im Rückgriff auf die zeitgenössische Debatte instruktiv analysiert. Vgl. K 2013, S. 376–379 und . 2016, S. 765 f. 9 Überschneidungen zwischen beiden Zielrichtungen sind dabei keineswegs ausgeschlossen, da Überzeugungen auch begründet werden können, indem man erklärt, warum sie vorliegen und unter welchen Bedingungen sie zustande gekommen sind: In der Äußerung: ,Ich glaube, dass p, weil ich wahrnehme, dass p‘ kann man in diesem Sinne das ,weil‘ zugleich epistemisch und kausal deuten – vorausgesetzt letzteres schließt eine teleologische Dimension, etwa in Form eines echten Wahrheitsinteresses, nicht aus. Vgl. zu diesem Komplex etwa K 2006, Kap I.2. Nimmt man diesen Gedanken auf, würde der Unterschied zu Hegel darin bestehen, dass die positive Bewertung des Gottesglaubens nur daran hängt, dass Gläubige über analoge Erklärung ihrer Überzeugung verfügen. Umgekehrt wird der Glaube nach Hegel nicht nur daran, sondern in letzter Instanz danach bemessen, ob er uns eine Antwort auf die Frage nach der Struktur der objektiven Wirklichkeit selbst geben kann, die dann auch direkt unsere Lebenspraxis bestimmen sollte. 10 Vgl. u.a. K 2003, Chap. 8 und für die neuere Religionsepistemologie etwa G 2017, S. 13 f. 11 Vgl. K 1981, S. 79 und 86 f. und ferner K 2013, S. 228 Fn. 62 und 377 f. Man kann freilich auch beide Zielsetzungen logisch voneinander trennen, etwa indem man die Idee des Absoluten in der Theorieperspektive als eine Art Fiktion behandelt, vor dessen
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fraglich wird, dann ist die Fokusverschiebung von der Erklärung aus dem Absoluten zur Rechtfertigung der Überzeugung von seiner Existenz eine ganz natürliche Folge. Die Lösung des Rechtfertigungsproblems ist deshalb eine notwendige Bedingung einer begründeten theoretischen Überordnung des Verstehen-Könnens und bildete daher den primären Fokus der vorliegenden Studie. Wie in Kap. I.3 gezeigt wurde, lässt sich dieser Vorgang der Fokusverschiebung zur Rechtfertigung genau anhand einer besonderen Wertschätzung der naturwissenschaftlichen Praxis beobachten, die sie nach Hegel besonders in der Frühen Neuzeit erfahren hat und gewissermaßen notwendig aus einer bestimmten Selbsteinschätzung menschlicher Fähigkeiten folgt. Sie besteht, grob gesprochen, in der Einsicht, dass die menschliche Fähigkeit zu erkennen, dass etwas in der empirischen Wirklichkeit der Fall ist, eng mit der eigenen, praktischen Fähigkeit zusammenhängt, dieselben Umstände bewirken und technisch reproduzieren zu können.12 Umgekehrt kann man die oben diskutierten Positionen des Non-Kognitivismus und der Basalitätsthese Jacobis in hegelscher Perspektive als berechtigte Kritik der Verengung des Wissensbegriffs auf das berühmte vicosche verum et factum convertuntur verstehen, obwohl die dort vorgeschlagenen Therapien dem Evidentialismus zu große Zugeständnisse machen. Wie in Kap I.4 gezeigt wurde, übernimmt die non-kognitivistische Reaktion auf den Einwand diese Einengung in einer sinnkritischen Variante und versteht alle religiösen Äußerungen allein von ihrer expressiven Seite her, um dann in der Leugnung ihres deskriptiven Gehalts das ganze Phänomen notgedrungen zu verfehlen. Jacobi identifiziert hingegen den frühneuzeitlichen Evidentialismus mit der diskursiven Erkenntnispraxis selbst, die er dann in Opposition zu einem ursprünglichen und unmittelbaren Handlungswissen versteht, aus dem diese allererst erwachsen soll. In der Konsequenz kollabiert er aber damit nach Hegel selbst in eine Form des Non-Kognitivismus (Abschnitt I.5.1). Wesentlich aussichtsreicher erschien hingegen der vieldiskutierte neuere Ansatz von A. Plantinga, der den Non-Kognitivismus ebenso scharf kritisiert wie die meta-epistemologischen Grundlagen des evidentialistischen Einwands selbst (Abschnitt I.5.2). Dieser destruktive Teil von Plantingas Theorie ist durchaus mit
Hintergrund die Gesamtordnung der Wirklichkeit nur gedeutet und in einem schwächeren Sinne teleologisch ,erklärt‘ wird. Vgl. etwa Q 2011, S. 152 f. Damit würde man aber die Aseität und ,Objektivität‘ des Absoluten verfehlen (vgl. Abschn. I.1.1 und II.4.2) und wäre zudem den Einwänden ausgesetzt, die Hegel gegen Kants Rede von ,Gott‘ als ,regulativem Prinzip‘ vorbringt (vgl. Abschn. II.2.6). 12 Nebenbei bemerkt ist dies für Hegel selbst ein Ausdruck des epistemischen Vorrangs des Erklären-Könnens, dessen Skopus sich dann aber nur auf diejenigen Sachverhalte und Vorgänge bezieht, die menschliche Forscher experimentell simulieren und dann technisch hervorbringen können, und das in seiner Alleinststellung daher keinen Raum mehr für die Erkenntnis des Absoluten bieten kann. Vgl. oben I.3. Auf die Dialektik dieser Hochschätzung dieses spezifischen, menschlichen Praxiswissens wurde oben in I.5.1 mit Jacobi hingewiesen, auf dessen kritisches Potential besonders B. Sandkaulen aufmerksam gemacht hat. Vgl. S 2009.
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Hegels Ansatz kompatibel und unterminiert damit die Zweifel an der Berechtigung theistischer Überzeugungen. Auch in der Diskussion des konstruktiven Teils ergaben sich interessante und systematisch tragfähige Affinitäten zu Hegels Theorie des religiösen Denkens, die insbesondere in Plantingas Betonung der teleologischen Dimension epistemischer Bewertung bestehen. Kritisch beurteilt wurden oben hingegen zum einen Plantingas Analyse zielgerichteter Prozesse, die mit der Selbstauffassung epistemischer Akteure inkompatibel ist, und zum anderen seine spezifische Theorie des sensus divinitatis, die die Fähigkeit der Gotteserkenntnis der Tendenz nach zu Unrecht von der menschlichen Urteils- und Schlusspraxis abschirmt. Zu Teil II: Begründung und Erklärung in Hegels Interpretation der Gottesbeweise Reformuliert man Plantingas Analyse der Teleologie unter hegelschen Prämissen und versteht die Rede vom sensus divinitatis als eine Metapher für die spezifisch religiöse Facette der Schlusspraxis, befindet man sich schon im Zentrum des hegelschen Theorierahmens. Wie in Teil II umfassend dargelegt wurde, arbeitet Hegel seinen eigenen Ansatz in einer kritischen Auseinandersetzung mit der natürlichen Theologie und dem Kantianismus aus, die die verbleibenden Antwortoptionen auf den evidentialistischen Einwand darstellten. Vom Ansatz der natürlichen Theologie übernimmt Hegel die fundamentale Annahme, dass jede Antwort auf den Evidentialismus im Verweis auf die inferentiellen Begründungen liegen muss, die seiner Meinung nach von Gläubigen selbst, wenn auch in der Regel nicht bewusst, geleistet werden. Mit Kant hingegen stützt er letztere Aussage durch die zentrale These, dass der Gottesgedanke ein notwendiges Produkt unserer Schlusspraxis ist, die die Natur vernünftiger Lebewesen kennzeichnet. Er verwirft aber Kants inhaltliche Kritik an den Gottesbeweisen ebenso wie die kantische Idee der moralischen Rechtfertigung des Gottesglaubens. In seinem eigenen Entwurf der epistemischen Rechtfertigung weist er schließlich auf die von Kant und der natürlichen Theologie geteilte, in seinen Augen aber inkorrekte Annahme hin, die inferentielle Begründung sei mit den herkömmlichen Formen der linearen und direkten Schlussfolgerung im Kern identisch. Dagegen vertritt Hegel die Überzeugung, dass man spätestens im Rahmen einer detaillierten kategorientheoretischen Interpretation der klassischen Gottesbeweise fundamentalere Formen der Begründung freilegen kann, die in den obigen Analysen des kosmologischen, teleologischen und ontologischen Arguments zusammen mit Hegels Antwort auf Kants Kritik umfassend dargestellt wurde (Kap. II.2, II.3 und II.4). Diese Begründungsform fällt nicht nur laut Hegel mit der normalen religiösen Überzeugungsgenese zusammen, sondern ist zugleich hinreichend, um das Problem der epistemischen Rechtfertigung zufriedenstellend zu lösen. Blickt man auf die obigen Diskussionsergebnisse zurück, zeigen sich wiederum entscheidende, bislang noch nicht betrachtete Affinitäten zu A. Plantinga, die sich hervorragend eignen, um Hegels Theorieansatz zu resümieren und dessen Aktualität systematisch nachvollziehbar zu machen. Dies gilt besonders für zwei
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Hinsichten: Erstens machen Plantingas Paritätsargumente gegen die universelle Forderung nach Belegen deutlich, dass bestimmte Meinungs- und Überzeugungstypen einen spezifischen Bewertungsmaßstab besitzen, der im Evidentialismus gerade verfehlt wird. Nicht nur Wahrnehmungs-, sondern auch Erinnerungsmeinungen, akzeptierte Zeugnisse oder Wissen aus rationalen Intuitionen werden in der Regel als völlig berechtigt angesehen, obwohl dies außerhalb von technischen philosophischen Debatten kaum explizit argumentativ begründet wird. Wie Plantinga überzeugend darlegt, ist es in letzter Instanz schlicht willkürlich, in der Perspektive einer Theorie einige dieser Meinungstypen vor anderen in ihrem epistemischen Status auszuzeichnen.13 Gerade in dieser Hinsicht ist es, wie W. Löffler zu Recht bemerkt hat, ein weitestgehend „unterschätztes Verdienst“14 von Plantinga, diese Einsicht auch auf diejenigen weltanschaulichen und allgemein-metaphysischen Rahmenüberzeugungen übertragen zu haben, die in diesen Meinungstypen selbst enthalten sind. Um von hier aus zu Hegels komplexer Interpretation der Gottesbeweise zu kommen, muss man diese Einsicht nur mit einer zweiten Überzeugung Plantingas kombinieren. Denn Plantinga meint, dass ein gutes Argument für Gottes Existenz insbesondere die inferentiellen Verknüpfungen des Gottesglaubens mit anderen fundamentalen, metaphysischen Intuitionen im Überzeugungssystem von Gläubigen transparent machen kann. Dies löst zwar für Plantinga selbst keinen echten Wissensanspruch ein, sondern dient vor allem der Artikulation von Folgerungsbeziehungen zwischen schon akzeptierten Aussagen.15 Mit Hegel könnte man aber darauf hinweisen, dass die erstgenannte Überzeugung in Konjunktion mit der zweiten eine wesentlich stärkere These zu implizieren scheint. Was damit gemeint ist, lässt sich im direkten Rekurs auf die Diskussionsergebnisse von Teil II zeigen. Wie wir gesehen haben, macht Hegel in seiner Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen darauf aufmerksam, dass (i) in jedem diskursiven Bezug auf Referenzgegenstände aller Art stets von Kategorien Gebrauch gemacht wird. Und diese können (ii) nur dann kohärent verstanden und in wahrheitsfähigen Äußerungen angewendet werden, wenn deren objektseitige
13 Zu Plantingas Paritätsargumenten vgl. Abschn. I.5.2. Einen analogen Punkt macht Alston hinsichtlich der doxastischen Praktiken, die den genannten Meinungstypen zugrunde liegen. Vgl. A 2005a, S. 222 f. 14 Vgl. L 2015. Auf die Diskussion zwischen Plantinga und Löffler bin ich ebenfalls oben in I.5.2 eingegangen. 15 In Plantingas Worten: „[T]hey reveal interesting and important connections between various elements of a theist’s set of beliefs. For example, a good theistic argument reveals connections between premises and conclusions, connections that in some cases can also contribute to the broader project of Christian philosophy by showing good ways to think about a certain topic or area from a theistic perspective.“ (P 2007, S. 209) Diese Bemerkung gehört damit zu Plantingas größerem Projekt einer ,augustinischen christlichen Philosophie‘ (vgl. . 1992), die bestimmte philosophische Überzeugungen nicht als Ausgangspunkt für den epistemischen Rechtfertigungsnachweis des Gottesglaubens versteht, sondern diese umgekehrt im Licht theologischer Wissensansprüche betrachtet.
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Korrelate intrinsisch auf die Bestimmungen des Absoluten selbst verweisen. Aus den Überlegungen in II.2.5 folgt etwa, dass jede beliebige Behauptung über ein wahrnehmbares Einzelding nur dann wohlgeformt und wahrheitsfähig sein kann, wenn zugleich die wahre Aussage präsupponiert wird, dass dieses im hegelschen Sinne ,endlich‘ und in seiner Existenz metaphysisch kontingent ist. Ähnlich wie für Plantinga sind solche allgemein-metaphysischen Überzeugungen und deren kategorialer Gehalt in einem starken Sinne fundamental, zumal sie in hegelscher Perspektive nicht ohne innere Selbstwidersprüche geleugnet werden können.16 Aus Aussage (ii) ergibt sich hingegen die dem religiösen Denken eigentümliche Begründungsform, die die Gottesbeweise, wenn auch defizient, in eine direkte Schlussform zu übersetzen versuchen. Hegel ist dabei der Überzeugung, dass solche kategorialen Bestimmungen endlicher Einzeldinge von sich aus auf die Existenz und die Natur des Absoluten verweisen. Diesen Verweisungsverhältnissen entsprechen dann auf der Subjektseite die inferentiellen Beziehungen zwischen beiden Kategorientypen wie den daraus resultierenden, wahren metaphysischen Aussagen. In der Umsetzung der Begründungsformen religiösen Denkens werden diese Beziehungen schließlich für Personen und Personengemeinschaften transparent, indem bspw. einsichtig wird, dass eine wahre Aussage der Form ,Endliches und Kontingentes existiert‘ immer schon die Wahrheit der Aussage ,Unendliches und absolut Notwendiges existiert‘ voraussetzt. Anders als in einem direkten Schluss wird dieser Übergang für Hegel, grob gesprochen, durch die Einsicht in die Selbstaufhebung der Annahme der alleinigen Existenz des Endlichen vollzogen (Abschnitt II.2.4). Analog zu Plantinga meint Hegel daher, in Gottesbeweisen würden bestimmte inferentielle Beziehungen zwischen theologischen und nicht-theologischen Aussagen in einer ausformulierten Schlussform nochmals auf höherer Stufe thematisch, wenn auch darin die eigentümliche indirekte Form der religiösen Begründung verdeckt wird. Neben den schon erwähnten Beziehungen zwischen dem Kontingenten und Notwendigen, die den Kern des sog. kosmologischen Arguments bilden, wurde dies in Teil II an zwei weiteren Beispielen illustriert, die ebenfalls eng miteinander zusammenhängen: Zum einen besteht nach Hegel ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Existenz und der hierarchischen Ordnung der Arten des zweckgeleiteten Verhaltens und der ,Weisheit‘ des Absoluten, die im teleologischen Argument eigens reflektiert wird (Abschnitte II.3.2 und II.3.3). Zum anderen setzt die prinzipielle Erkennbarkeit der systematischen Struktur der Wirklichkeit den Zugang zum Absoluten als dem paradigmatischen Akt des ,Erkennens‘ voraus, in dem die substantielle Einheit beider vollständig artikuliert ist. Dies ist für Hegel der tiefere Sinn von Anselms unum argumentum, der in Abschnitt II.4.2 ausführlich zur Sprache kam.
16 Vgl. oben Abschn. II.2.4 und II.2.5. Ebenso weist auch W. Löffler im genannten Aufsatz darauf hin, dass sich einige der allgemein-metaphysischen und weltanschaulichen Überzeugungen im klassischen Sinne retorsiv rechtfertigen lassen. Vgl. L 2015, S. 77 f.
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Diese hegelianische Interpretation und Fortentwicklung von Plantingas Thesen macht in diesem Kontext zweierlei deutlich: Erstens ist mit der konkreten religiösen und philosophischen Einsicht in diese Begründungszusammenhänge für Hegel ein viel größerer epistemischer Wert verbunden, als Plantinga zu akzeptieren bereit ist. Denn derjenige kategoriale Gehalt, der schon die Möglichkeit unserer diskursiven Erkenntnispraxis gewährleistet, hängt nach Hegel an der Wahrheit von Aussagen, die das Absolute oder in letzter Instanz Gott zum Inhalt haben. Einsichten in diese Begründungszusammenhänge stärken oder bestätigen daher nicht nur, wie Plantinga meint, den schon vorhandenen und anderweitig gerechtfertigten Gottesglauben. Sie explizieren vielmehr dessen Erkenntnisstatus, der durch diesen Verweisungszusammenhang garantiert wird.17 Obwohl Hegel die normative Forderung akzeptiert, dass für einen religiösen Erkenntnisanspruch inferentiell verfasste Gründe zur Verfügung stehen sollen, kann er deshalb die zentrale Prämisse der evidentialistischen Kritik verwerfen, dass für den Gottesglauben keine solchen Gründe existieren. Seine detaillierte Kritik an der parallelen Annahme von Kant (Abschnitte II.2.3, II.3.2, II.4.2) sowie an dessen Abstufung des Gottesglaubens zu einem ,regulativen Prinzip‘ der Theorie (Abschnitt II.2.6) und zu einem ,Postulat‘ unserer moralischen Handlungspraxis (Abschnitt II.3.2) gibt diesem Ergebnis ein zusätzliches und starkes Gewicht. Hegels komplexe Antwort auf das Rechtfertigungsproblem führt schließlich zweitens zur Idee des Vorrangs des Verstehens zurück. Denn im Nachweis der kategorialen Zusammenhänge leisten diese Begründungsformen diejenige Form der Erklärung, auf die es religiöse Erkenntnisbildung abgesehen hat. Verkürzt gesprochen geben sie nicht nur eine Antwort auf die Frage, wie und warum Endliches und Kontingentes eigentlich existieren kann, sondern klären auch die systematische Ordnung der Natur und der Geschichte zusammen mit der Stellung und Rolle, die erkennenden und handelnden Wesen darin zukommt. Blickt man auf Hegels Systematisierung der Gottesbeweise zurück (Abschnitt II.4.1), könnte man zugespitzt sagen, dass für Hegel jede vollständige Antwort auf diese Fragen nach der teleologischen Ordnung der Wirklichkeit die Selbstthematisierung der religiösen Bezugnahme auf das Absolute beinhalten muss. Denn es war ein wesentliches Ergebnis der hegelschen Analyse des ontologischen Arguments, dass dieses nicht nur in der Lage ist, die Auffassungen und konzeptuellen Perspektiven aller anderen Begründungsformen kohärent zu artikulieren (Abschnitte II.4.2 und II.4.3). Darüber hinaus drückt es die Selbstreflexion religiöser
17 Nebenbei bemerkt entwickelt Plantinga selbst einen komplexen retorsiven Nachweis, dass unsere Überzeugung von der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisvermögen in letzter Instanz an der Annahme von Gottes Existenz hängt. Unter der Annahme des Naturalismus wie des Agnostizismus hinsichtlich Ursprungs und Ziels unserer Erkenntnisfähigkeiten muss sich diese Überzeugung hingegen notwendigerweise selbst aufheben. Vgl. WCRL, Chap. 10 und WCB, Chap. 7. Es wäre m.E. lohnenswert, Plantingas Argument vor dem Hintergrund von Hegels kritischer Beurteilung der verschiedenen wahren und falschen epistemischen Selbstverständnisse systematisch genauer zu beleuchten. Vgl. dazu auch oben II.4.2.
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Erkenntnisbildung aus, in der sich Subjekte (i) dessen bewusst werden, dass sie selbst befähigt sind, das Ganze der endlichen und kontingenten Welt im Rekurs auf das Absolute zu verstehen. Insofern darin (ii) einsichtig wird, dass diese spezifische Bezugnahme durch die Präsenz des erkannten ,Wahren‘ und ,Vollkommenen‘ überhaupt erst ermöglicht wird, ergibt sich wiederum der hohe Wert religiöser Selbsterkenntnis. Dessen Verwirklichung ist damit gewissermaßen dasjenige Medium, mit dem Gesamtordnung und -struktur erkennbar und verständlich wird.18 Zu Teil III: Religion, symbolischer Ausdruck und die Rolle der Philosophie Religion oder religiöses Bewusstsein ist für Hegel damit, holzschnittartig gesprochen, ein komplexer Zusammenschluss von Selbst- und Gotteserkenntnis: Im Wissen um die Natur des Absoluten erkennt man zugleich, was es heißt, fähig zu sein, dieses als solches zu erkennen. Umgekehrt führt das höherstufige Wissen um die Erkenntnisfähigkeit zu der Einsicht, wie man das Absolute aufzufassen und korrekt zu beschreiben hat, das diese Form der Erkenntnis immer schon ermöglicht. Mit dem technischen Terminus des ,absoluten Geistes‘ versucht Hegel diese komplexe Struktur in eine philosophische Formel zu bringen, deren Spuren er in allen Religionsformen wiederentdeckt (Abschnitt III.5.6), die aber für ihn ihren exemplarischen Ausdruck in der christlichen Pneumatologie und deren philosophischer Interpretation findet (Abschnitt III.5.5). Diese Thesen bildeten den Fluchtpunkt der Überlegungen von Teil III der Studie, der zugleich zu einer Komplikation innerhalb von Hegels Theorie führt. Denn nicht nur bildet die Erklärung, die mit dem Verweis auf die Selbstthematisierung des religiösen Bewusstseins geleistet wird, zu Hegels zentraler Annahme, dass die Bezugnahme auf das Absolute in gewisser Hinsicht notwendigerweise existiert (Kap. III.1). Er bietet zugleich eine religionsepistemologische Theorie an, warum die Begründungsleistungen, die immer schon in der normalen Überzeugungsgenese erbracht werden, für die Gläubigen in der Regel nicht vollständig transparent sind (Kap. III.2 und III.3). Daraus ergibt sich, dass der immer schon vorliegende Rechtfertigungszustand des Gottesglaubens in einem philosophischen Nachweis offengelegt werden muss,19 der der normgerechten religiösen Meinungsbildung und ihrer Ausdrucksform Rechnung trägt (Abschnitt
18 Darin zeigt sich deutlich eine weitere Überschneidung mit dem oben diskutierten neueren Ansätzen der Erklärung der Struktur der Welt aus den in ihr verwirklichten höchsten Werten, die man mit Hegels Theorieansatz inhaltlich qualifizieren und ordnen kann (vgl. Abschn. II.3.3). V. Hösle hat für dieses Modell des teleologischen Verstehens der Natur und der Geschichte als Ganzer neuerdings den engeren Begriff der ,Deutung‘ eingeführt und verteidigt. Vgl. H 2018, S. 276–281. Einen analogen Gedanken hat W. de Vries für die Interpretation von Hegels Gesamtansatz ins Gespräch gebracht. Vgl. V 1988b, S. 16 f. 19 Zur wichtigen Unterscheidung zwischen Rechtfertigungszustand und Rechtfertigungsnachweis vgl. Abschn. I.2.2 und Kap. III.2.
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III.3.4). Im Rekurs auf seine These der Notwendigkeit des religiösen Bewusstseins meint Hegel schließlich zeigen zu können, warum der hohe Wert religiöser Diversität (Kap. III.4) mit der philosophischen Auszeichnung der christlichen Religion kompatibel ist (Kap. III.5). Im Zentrum dieser Thesen steht dabei Hegels Unterscheidungskriterium zwischen dem Begriff der Religion im engeren Sinne und seiner systematischen, philosophischen Aneignung, die als Teil der epistemischen Bezugnahme auf das Absolute selbst eine Art der Religion im weiten Sinne darstellt. Diese differentia specifica besteht in der Erkenntnis- und Ausdrucksform der sog. ,Vorstellung‘. Wie in Kap III.3 gezeigt wurde, führt dieses ausgeübte Vermögen die jeweiligen Leistungen der anderen „Thätigkeitsweise[n] des Geistes“ (Enz. § 440A, GW 20, S. 434) in einen einzigen Erkenntnisgehalt zusammen, in und mit dem das Wesen des Absoluten in seiner Beziehung zu sich wie zur Natur und zum menschlichen Geist jeweils erschlossen wird. Konkreter formuliert sucht man nach Hegel mittels der Vorstellungsfähigkeit für einen schon implizit gebildeten ,metaphysischen Begriff‘20 des Absoluten ein jeweiliges Analogat in den uns eher vertrauten, natürlichen und sozialen Vorgängen und Gegenstandsbereichen.21 Mithilfe des Gedankens der ,Zeugung‘ oder eines Narrativs einer Gebotsübertretung und seiner Folgen wird in der christlichen Religion so z.B. klarer, was man sich unter der Selbstbeziehung des Absoluten oder der verfehlten Beziehung des Menschen zu Gott genauer ,vorzustellen‘ hat (Abschnitt III.3.2). Da die instinktive Suche nach dem passenden figurativen Ausdruck davon abhängt, was vom Absoluten und seinen Beziehungen schon implizit begriffen wurde (Kap. III.2), liegt das immanente Maß der ,Vorstellung‘ in der Bestimmtheit und Konkretion des jeweiligen ,metaphysischen Begriffs‘ des Absoluten. Er bestimmt darüber hinaus zugleich die Dominanz der jeweiligen Erkenntnisform in der Bildung von ,Vorstellungen‘. Wie in den Abschnitten III.3.2 und III.4.2 dargelegt wurde, lässt dies für Hegel zwei Grenzfälle zu. Darin wird das Absolute entweder mit dem jeweiligen natürlichen oder geistigen Analogat schlicht identifiziert, in dem es in herausragender Weise und im Wortsinn ,anschaulich‘ sein soll. Oder der symbolische Ausdruck wird als solcher in der religiösen Perspektive durchschaut und durch einen alter20 Zu den ,metaphysischen Begriffen‘ des Absoluten und deren systematischer Ordnung vgl. oben II.2.3 und II.4.1. 21 Im Anschluss an W. Alston wurde in Abschn. III.3.4 die Bildung symbolischer Ausdrücke als transformative doxastische Praxis bezeichnet. Ergänzend könnte man mit Alston sagen, dass die konkrete religiöse Transformation die Leistungen der generativen Praxeis der ,Anschauung‘ und des ,Denkens‘ zum Ausgangspunkt nimmt. In diesem Sinne werden die Produkte der ersteren als metaphorische Modelle für die konzeptuellen Auffassungen des Absoluten herangezogen werden, die im impliziten Denken entstehen (Kap. III.2). Anschauungsgehalte müssen dabei selbst über bestimmte Situationen hinweg für den Geist verfügbar sein, was wiederum die erhaltende Praxis der ,Erinnerung‘ voraussetzt, die für Hegel eine Funktion der Vorstellungsfähigkeit ist (vgl. III.3.1). Vgl. zu diesen drei Begriffen A 1991, S. 157.
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nativen Begriff ersetzt, wie dies teilweise im jüdisch-christlichen Monotheismus der Fall ist. Darin wird bspw. schon die Übertragung des alltäglichen Handlungsbegriffs auf die Beziehung von Gott und Welt als inadäquat eingesehen und daher durch den alternativen Gedanken der ,Schöpfung‘ ausgedrückt und ersetzt (Abschnitt III.5.4). Wie in III.3.3 gezeigt wurde, zeigt sich in diesem zweiten Grenzfall einer ,Vorstellung‘ der kontinuierliche Übergang zu bestimmten Formen der Philosophie, in denen Vorstellungen die Basis der Definitionspraxis bilden, in welcher der Vorstellungsgehalt möglichst ohne figurative Restbestände in Satzform artikuliert werden soll. Hegels Überlegungen zur symbolischen Einbildungskraft bieten so eine Theorie der epistemischen Funktion der metaphorischen Gottesrede, deren systematische Beziehungen zu neueren Debatten m.E. bislang noch nicht hinreichend ausgelotet und erschlossen wurden.22 Zusammenfassend kann man sagen, dass Hegels Religionsphilosophie Aussagen zu religiösen Begründungs- und Erklärungsformen mit einer Epistemologie des symbolischen Ausdrucks und deren meta-philosophischer Selbstreflexion in einem einzigen komplexen Theoriezusammenhang zusammenführt. Dies erklärt nun m.E. die Verständnishürden seines Ansatzes ebenso wie dessen bleibende Attraktivität für die Lösung systematischer Fragen und Problemkomplexe. Was den ersten Punkt anbelangt, so führt Hegels selbst auferlegte Forderung, als Philosoph ,vorstellungsfrei‘ zu denken, zu Grenzziehungen, die, wenn sie exegetisch ernstgenommen werden, von der Tatsache ablenken, dass sie in der Durchführung seiner Theorie immer wieder überschritten werden. Im Selbstverständnis von Hegels Methode philosophischer Begriffsbildung soll die Einführung und Verwendung philosophischer Kunstbegriffe wie ,absoluter Begriff‘, ,absolute Idee‘ oder ,absoluter Geist‘ die analoge Erweiterung unserer vertrauten Alltagskategorien überflüssig machen. Nun scheint die Unterscheidung und Abgrenzung beider Ausdruckstypen an sich berechtigt. In der radikalen Zuspitzung erweckt dies allerdings unweigerlich den Eindruck, Hegels Terminologie stehe in einem vollständig diskontinuierlichen Verhältnis zu dem, was sonst alltäglich, religiös, wissenschaftlich oder philosophisch gedacht und gesagt wird. Dieser Eindruck ist aber nicht nur deshalb irreführend, wenn nicht falsch, weil Hegel selbst im Haupttext der WdL oder der Enzyklopädie ständig auf Ausdrücke zurückgreift, die man mit guten Gründen als figurative oder analog verwendete Begriffe einordnen kann.23 Er täuscht m.E. auch darüber hinweg, dass die Durchführung seiner Religionsphilosophie bisweilen Schlussfolgerungen erlaubt, die konträr zur theoretischen Alleinstellung und Isolierung der Vorstellungskate-
22 Vgl. u.a. S 1985; A 1989a, Chap. 1 und 2 und ferner die Übersicht in G 2019, S. 216–218. 23 Vgl. oben III.3.2. Dies bestätigt m.E. auch S. Gäbs kritisch an Alston anschließende These, dass metaphorische oder analog verwendete Ausdrücke höchstens im Prinzip, aber nicht in der konkreten Praxis vollständig durch nicht-figurative, univoke Ausdrücke ersetzt werden können. Vgl. G 2019, S. 216 f. Letzten Endes wird man dabei vermutlich an der semantischen Offenheit von Metaphern scheitern (vgl. G 2014, bes. S. 84).
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gorie in der Analyse der religiösen Rede stehen. Dies betrifft nun nicht nur den genannten Fall des Gedankens der Schöpfung, bei dem schon im religiösen Bewusstsein selbst deutlich und einsichtig werden soll, dass er gerade in keinem Ähnlichkeitsverhältnis zu den uns bekannten Typen intentionaler Aktivität steht.24 Verwandte Schlüsse lassen sich zudem hinsichtlich anderer Religionsgestalten ziehen, wie dies etwa in Kap. III.4.2 anhand der sog. ,indischen Religion‘ und der sog. ,Religion des In-sich-seins‘ dargelegt wurde. Detailanalysen der konkreten Anwendung von Hegels epistemologischen Kategorien in seiner Deutung der Religionen können damit die Flexibilität und Erklärungskraft seiner Theorie besser verdeutlichen als die pauschale Rede von ,der Vorstellung‘ im religiösen Bewusstsein, die man bisweilen in den einleitenden Passagen von Hegels religionsphilosophischen Kollegien findet. Hält man sich für solche möglicherweise unerwarteten systematischen Schlussfolgerungen offen, kann man darin eine, wenn nicht die systematische Anziehungskraft von Hegels Religionsphilosophie sehen. Denn letztlich zielt sie über die Interpretation und Rechtfertigung des Christentums hinaus auf die (meta-)philosophisch eingeordnete Typologie von Religionsformen in ihrer spezifischen Entwicklung. Zwar ist es richtig, dass Hegel den Nachweis führen will, dass die Religionsgeschichte ihren Kulminationspunkt in der Selbst- und Gottesauffassung des Christentums erreicht. Das Kriterium dieser Bewertung liegt aber unter Hegels Prämissen gerade nicht in der dogmatischen Voraussetzung christlicher Wahrheiten. Es besteht vielmehr in der grundlegenden These, das religiöse Bewusstsein könne sich nur in einer Religionsform ,vollenden‘, die alle vorliegenden wahren Intuitionen und Überzeugungen kohärent zur Darstellung bringt. Beansprucht man also in seinem jeweiligen Glaubenssystem das Wesen des Absoluten in all seinen Konsequenzen korrekt erfasst zu haben, legt man sich unter der hegelschen Vorgabe darauf fest, die alternativen und scheinbar konträren religiösen Wahrheits- und Wissensansprüche mindestens genauso gut verstehen zu müssen, wie diese sich selbst verstehen. Die Kritik, die man zu Recht an Hegels Umgang mit nicht-christlichen Religionen üben kann (Abschnitt III.4.3), speist sich daher gerade aus den normativen Intuitionen von Hegels ,kritischen Inklusivismus‘ selbst (Abschnitt III.4.1). Schließlich zielt Hegels Ansatz nicht nur darauf ab, eine Philosophie der Religion als ein religions- und traditionsübergreifendes Projekt zu verfolgen. Seine systematische Verortung der Philosophie der Religion zeigt zugleich, dass ein solches Projekt kaum einer einzelnen, klar abgrenzbaren philosophischen Subdisziplin allein zugewiesen werden kann, die sich lediglich mit der Analyse und argumentativen Verteidigung der christlichen Gottesrede beschäftigt, wie dies heute häufig der Fall zu sein scheint. Für Hegel ist sie vielmehr integraler Be24 Ähnliches lässt sich vom vieldiskutierten Begriff der ,Persönlichkeit‘ das ,absoluten Idee‘ sagen, der nicht nur mit Schöpfungsgedanken zusammenhängt, sondern an prominenter Stelle im ebenfalls vorgeblichen ,vorstellungsfreien‘ Kontext des Schlusskapitels der WdL eingeführt und expliziert wird (Abschn. III.5.2).
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standteil einer umfassenderen Theorie des Geistes, deren konkrete Durchführung die wesentlichen Elemente einer allgemein-metaphysischen Kategorienlehre, der speziell-metaphysischen Theologie, der Philosophy of Mind, der Epistemologie, der Ethik, Sozialontologie und Geschichtsphilosophie wie der philosophischen Hermeneutik zu einem einzigartigen Systemgebilde zusammenführt. Wie die Gegenwartsdebatten zeigen, wird man zwar sicherlich keine zufriedenstellenden Antworten auf bleibende religionsepistemologische und metaphysische Fragen erhalten, wenn man sie nicht zuvor spezifischer eingrenzt und alternative Theorieoptionen präziser formuliert und abwägt, als dies bei Hegel bisweilen der Fall ist. Von ihm ließe sich aber vielleicht lernen, dass man sich nicht der Illusion hingeben sollte, theoretisch über sog. ,religiöse Fragen‘ sprechen zu können, ohne sich zuvor über die Kategorien zu verständigen, die man benötigt, um die Probleme korrekt fassen und formulieren zu können, und die über die Grenzen einzelner philosophischer Expertisen hinausgehen – wenn diese denn überhaupt immer scharf gezogen werden können. Hält man sich diese Beziehungen zwischen den philosophischen Disziplinen vor Augen, die nach Hegel gerade die systematische Konstitution einer Religionstheorie bilden, hat man zwar Anlass zur Vermutung, dass man in der konkreten systematischen Aneignung nicht jede einzelne der Behauptungen Hegels übernehmen kann. Die Tatsache, dass Hegel offenbar selbst dazu bereit war, sowohl den Aufbau seiner Religionsphilosophie als auch seine konkreten interpretativen Schlüsse teilweise sogar in nur wenigen Jahren radikal zu revidieren, scheint aber eine eigenständige kritische Diskussion, systematische Würdigung oder Fortentwicklung seines Ansatzes eher zu provozieren als abzustoßen.25 Wie im Verlauf dieser Studie hoffentlich deutlich geworden ist, bietet Hegels Theorieansatz daher reiche und längst noch nicht erschöpfte metaphysische, theologische und religionsepistemologische Ressourcen für fallspezifische und systematische Rekonstruktionen. Oder um es abschließend mit den Worten J. N. Findlays über Hegel auszudrücken: „He has certainly set before us the richest intellectual feast in the world if it is perhaps also the most difficult of all to digest.“26
25 Mit der Akzeptanz einiger Behauptungen Hegels legt man sich daher auch nicht notwendig auf alle Details seines Ansatzes fest. Die Aussage, die positive Bewertung besonderer hegelscher Theoriestücke führe unweigerlich zur Affirmation von ,Hegels ganzem System‘, ist m.E. ohnehin fragwürdig. Vgl. dazu auch die Ausführungen oben in der Einleitung. 26 F 1970, S. 147.
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Personenregister Abraham, William 545 Adams, Robert 84, 217 f., 220, 227, 380, 382, 540, 542 f. Alston, William 15, 31 f., 61, 63, 66, 69, 72, 100, 115, 116, 120 f., 131 f., 156 f., 400, 411, 417, 418, 437 f., 452, 457, 461, 463, 471, 546 f., 559, 563, 567 f. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2, 359 Anselm von Canterbury 19, 341, 347, 357 f., 359, 370–374, 377 f., 380, 385 f., 389, 509, 523 f., 514 Aristoteles 59, 66, 76, 113, 128 f., 167, 169, 261, 270, 294, 319, 350, 364, 374, 396, 437 f., 441, 507, 514, 523, 528 f., 535, 540 Armstrong, David 327 Audi, Robert 44, 408, 411, 412 Augustinus 36, 215, 217 f., 349, 365 f., 398, 452, 514, 519, 543, 545, 554 Ball, Stephen 212, 216, 227, 264 Bardon, Adrian 230 f. Bauer, Bruno 513 Baur, Michael 544 Bealer, George 49, 160, 162 Beilby, James 127 Beiser, Frederick 11, 507 Bennett, Jonathan 206 f. Bertram, Georg 465, 495 f., 503, 533 Black, Max 437 f., 503 Bloch, Ernst 24, 34, 456, 490–492, 532, 548 Boethius 176, 518, 520, 536 Boyle, Matthew 409 Braithwaite, Richard 88–94 Brandom, Robert 10, 232, 252, 269, 353, 468
Braßel, Bernd 333 f. Brogaard, Berit 159 Chignell, Andrew 12, 136, 142, 158, 178 f., 184, 192 f., 259–261, 286, 380 Collins, Robin 264, 282 Craig, William Lane 42, 100, 161, 167, 175, 228, 241, 348, 509, 522 Davidson, Donald 18, 441 Davies, Brian 18, 176, 512, 519 De Anna, Gabriele 136, 276, 317, 341 De Nys, Martin 241, 508 f., 511, 512 f., 546 De Vries, Willem 14, 45, 62, 68, 70 f., 85 f., 236 f., 273, 301 f., 303 f., 308 f., 411, 417, 427 f., 450, 500, 507, 544, 548, 566 Descartes, René 8, 23, 76, 114 f., 187, 206 f., 348, 386, 398, 409 Desmond, William 508 f., 511, 526 f., 531 Dierken, Jörg 9 f., 194, 209, 264 Dougherty, Trent 6, 76 f., 400 Duns Scotus 200, 349 Enders, Markus 551 Feser, Edward 301, 326 f., 334, 348, 546 Findlay, John Niemeyer 10, 14, 21, 35– 40, 60, 64, 70 f., 87, 107, 146, 149, 158, 180, 188, 224, 227, 233, 249, 251, 257, 275, 276, 290, 313, 321, 336, 365, 368, 381, 394, 417, 479, 527, 531 f., 570 Forgie, J. William 186, 205, 206 f., 208 Freddoso, Alfred 128 Frege, Gottlob 58, 93, 330, 431
598
Personenregister
Gäb, Sebastian 82, 87, 93, 96, 100, 438 f., 441 f., 500, 568 Gabriel, Markus 433, 459 Gale, Richard 349 Geach, Peter 2, 14, 55, 93, 176, 213, 220, 328, 387, 416, 426, 428, 500, 501, 520, 542 Gettier, Edmund L. 77 Goebel, Bernd 8, 370, 373, 380, 382 Grau, Alexander 438, 441 Guyer, Paul 234 f., 237 Halbig, Christoph 10, 13, 48, 56 f., 59, 68 f., 96, 106 f., 112, 148, 153, 154, 218, 238, 358, 376, 410 f., 416, 420, 425, 427, 434, 449 Haldane, John 3, 68, 208, 213, 230, 241, 254, 352, 510, 522, 544 Halfwassen, Jens 218, 241, 342, 512 f., 518 Harrelson, Kevin J. 377 Harris, Errol 375, 377 Hart, David Bentley 241, 254, 297, 376 f., 470, 497, 509, 547, 555 Hartmann, Klaus 10, 144, 150 f. Henle, Paul 436–439 Henrich, Dieter 8 f., 202 f., 209, 384 Hermanni, Friedrich 12 f., 21, 26 f., 34, 44, 128, 180, 184, 186, 230, 264, 280, 340, 349, 373, 448, 450, 469, 470, 473, 475–477, 482 f., 486, 490, 492 f., 495, 528 f., 538, 551 Hindrichs, Gunnar 39, 211, 246, 274, 388 Hodgson, Peter 26, 84, 355, 452, 470, 489, 493–495, 496 f., 527, 554 Höffe, Otfried 386 f. Horstmann, Rolf-Peter 20 f., 149, 507 Hösle, Vittorio 7, 12, 18, 93, 159, 212, 223, 231, 283, 302, 307, 330–334, 341, 360, 373, 375, 424, 430, 440, 450, 469, 491 f., 527 f., 545, 550, 566 Houlgate, Stephen 77, 511 f., 514 f., 534 Hume, David 126, 165, 175 f., 191 f., 257, 280, 296, 326 Illies, Christian 119, 136, 230 f., 320 f., 329 Irlenborn, Bernd 462 f., 468 f.
Jacobi, Friedrich Heinrich 43, 102–113, 118, 130, 210–212, 225, 561 Jaeschke, Walter 7–9, 21–23, 25 f., 33, 194, 473–475, 494, 502 f., 514, 539, 546 Jäger, Christoph 82 James, William 50 f., 142, 314 Jaspers, Karl 496 Kenny, Anthony 86, 294, 303, 409, 412, 442, 501 Kern, Andrea 69, 72, 301, 560 Kerr, Gaven 522, 526 Kesselring, Thomas 543 Knappik, Franz 10, 24, 55, 68, 156, 322, 409, 426, 428, 434, 436, 560 Koch, Anton Friedrich 104, 154, 170, 270, 283 f., 500, 516, 530, 535 Koons, Robert 59, 68, 161, 175 Kreiner, Armin 190 Kretzmann, Norman 153, 176, 364, 391, 510, 518, 528 f., 536 f. Kripke, Saul 208, 385, 500 Kutschera, Franz von 41, 45 f., 48, 50, 75, 84, 86, 127, 142, 279, 283, 305, 325, 329, 336, 342, 436, 442, 479 f., 496, 512, 540, 560 Labuschagne, Bart 492 Lakebrink, Bernhard 532 Lauer, Quentin 504 f., 511, 520 Leftow, Brian 42, 73, 189, 217, 219, 221, 254, 357 f., 365, 379 f., 382, 519, 536 f. Lehrer, Keith 135 Leibniz, Gottfried Wilhelm 108, 166 f., 175, 178, 180, 200, 215, 216 f., 220 f., 227, 228, 234–236, 246, 250, 259 f., 340 f., 349, 357, 378, 541, 543 Le Poidevin, Robin 441 f. Leslie, John 136, 285, 315, 335–341, 566 Leuze, Reinhard 464, 470, 481 f., 485 f., 491 f., 494, 497, 524, 552 Lewis, Thomas 11, 23, 27, 97, 408, 441, 459, 464, 472 f., 484, 496, 531 Locke, John 76 f., 114 f., 541 Löffler, Winfried 45, 133, 135, 475, 563 f.
Personenregister Logan, Ian 260 Lovejoy, Arthur 270, 276, 334, 341, 525–530 Löw, Reinhard 305, 322 f., 348 Lowe, E. J. 218, 234, 245, 309, 385, 387, 417, 528 McCabe, Herbert 452, 523 McDowell, John 69, 130, 411 McLaughlin, Peter 267, 298–300, 324 McTaggart, John 88, 234, 246–249 Meister Eckhart 240 f., 547–549 Meixner, Uwe 31, 146 f., 166, 177, 337, 339 f., 509 Melichar, Hannes Gustav 9, 12, 38, 155, 162, 165, 184, 187, 188, 192, 202, 205, 208 f., 212, 217, 219, 223, 228, 231 f., 243, 247, 249, 260, 323, 349, 354 f., 360, 375, 379, 382 f., 387 f. Mooren, Nadine 7, 11, 13, 25, 45, 47 f., 84 f., 95, 97 f., 240, 251, 408 f., 411, 414, 416, 418, 433, 438, 449, 457, 503 f., 513, 523 f., 531, 533 f., 548 Moyar, Dean 324 Nagel, Thomas 136, 285, 315, 318, 330, 335–341, 417, 566 Nonnenmacher, Burkhard 13, 216, 236, 239 f., 467 O’Neill, Onara 283 Oderberg, David 56, 104, 112, 207, 235, 254, 304, 308, 328, 334, 362 f., 409, 430, 510, 518, 528, 546 f. Oosterling, Henk 481 Oppy, Graham 11, 357, 382, 386 Osler, Margaret 125, 322, 325 Pannenberg, Wolfhart 14, 16, 205, 475, 513, 515, 517, 525 Pasnau, Robert 65, 76, 213, 297, 509, 511, 543–545, 559 Peirce, Charles Sanders 5, 252, 436 Peperzak, Aadrian 423, 440, 447, 454, 503, 546 Pippin, Robert 10, 145, 151 f., 156–158, 160 Plantinga, Alvin 18, 24, 57, 64, 76–78, 113–137, 142, 159, 161, 165, 189,
599
217 f., 234, 252, 300, 326, 329, 380 f., 383 f., 405, 443, 461–463, 487, 498, 519 f., 529, 541 f., 561–565 Platon 14, 167, 297, 307, 330, 334, 341– 343, 362, 387, 513, 527, 543 f. Plevrakis, Ermylos 351 Pruss, Alexander 11, 40, 108, 161, 175, 186, 189, 206 f., 208, 217 f., 257, 280, 349 Puntel, Lorenz 155 Putnam, Hilary 1–6, 37, 51, 142, 156, 301, 410, 496, 542 Quante, Michael 20 f., 46, 50 f., 65, 93, 97 f., 112, 127, 302, 328, 417, 419, 503, 517, 531, 533 f., 561 Quinn, Philipp 115, 117 f., 129 Rambachan, Anantanand 485, 555 Rasmussen, Joshua 11, 40, 108, 175, 186, 189, 206 f., 208, 218, 257 Redding, Paul 145, 158 Rescher, Nicholas 20, 136, 176, 285, 315, 335–341, 566 Richard von St. Viktor 517, 520 Ritter, Joachim 75, 294 Rohls, Jan 355 Rohs, Peter 11, 142, 177, 185, 272, 281 f., 285 f. Rojek, Tim 97 f., 503, 531, 533 f. Rosen, Michael 151 Ross, James 398, 547 Rowe, William 167, 175, 189, 240 f. Ruse, Michael 329 f., 335 Ryle, Gilbert 375, 417, 540 Salerno, Joe 159 Sandkaulen, Birgit 103 f., 106 f., 110 f., 561 Sans, Georg 222, 275, 429 Schaffer, Jonathan 20, 146 f., 235, 246, 505 f., 507 Schellenberg, John 31 f., 40 f., 50, 461 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 502, 506, 517, 520, 528, 530– 532, 534 f., 550 Schick, Friedrike 12 f., 26, 38, 67, 243, 246, 252, 293, 319, 362, 464, 467, 473, 476 f., 480, 484, 486, 493, 495
600
Personenregister
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 15 f., 43, 84 Schleiff, Matthias 264 Schmidt, Andreas 23, 104, 215, 218, 540 f., 543 f. Schmidt, Josef 514, 517 Schmidt-Leukel, Perry 470, 494 f. Schoeps, Hans Joachim 464, 490 f. Schönecker, Dieter 121 Schwöbel, Christoph 450 f., 524 Sellars, Wilfrid 5, 68, 232, 353 Siep, Ludwig 65, 98, 156, 218, 240, 242, 261, 312, 315, 333, 338, 359, 361, 365 f., 391, 432, 448, 515–517, 522, 525–527, 531, 534 Smart, John 3, 183, 206, 227, 337 Smith, Norman Kemp 254 f. Smith, Quentin 2, 218 Soskice, Janet 442, 500, 568 Spaemann, Robert 75, 98 f., 305, 322 f., 348, 446, 518 Spinoza, Baruch de 39, 228, 252, 357, 367, 385, 509 Spitzer, Robert 238, 376 Stekeler-Weithofer, Pirmin 531 Stern, Robert 11, 55, 63, 93, 153 f., 156 f., 218, 308, 359, 529 Strauß, David Friedrich 23, 449, 450, 554 Strawson, Peter 82, 143, 158, 170, 184, 190, 202 Stump, Eleonore 24, 176, 391, 518, 536 f., 546 Swinburne, Richard 2, 18, 44, 47 f., 51, 63, 96, 130, 181, 189, 420, 519 Tahko, Tuomas 245 Tegtmeyer, Henning 11, 23, 31 f., 56, 160 f., 181, 205–207, 281 f., 288 f., 306, 348, 352, 363, 386, 443, 485, 504 Tetens, Holm 11, 142, 286 Theunissen, Michael 213, 367, 432 f., 444, 446 f., 449–452, 458, 533, 535, 546, 548, 551
Tholuck, Friedrich August Gottreu 506 Thomas von Aquin 2 f., 153, 167, 169, 191, 200, 217, 219 f., 228, 230, 241, 280, 294, 306, 348, 364, 350, 452, 509, 510–512, 514, 518 f., 522, 533, 528, 543–547, 548, 554 Tugendhat, Ernst 496 Tweedt, Chris 6, 76 f., 219, 221, 400 Vallicella, William 142, 164, 208, 235, 257, 315, 341, 387, 485 Vinco, Roberto 547 Wagner, Falk 9, 194 f., 209, 227, 370 Wainwright, William 475 Wandschneider, Dieter 232, 234, 299 f., 302 f., 308 f., 328, 330–335, 527 f. Wartenberg, Thomas 268, 270–272 Watkins, Eric 170, 172, 192 f., 260, 274, 278, 286 Weidemann, Christian 6, 82, 90, 93 f., 96 f., 122, 129, 135, 159, 405, 461 f., 470 Welty, Greg 218 Westphal, Kenneth 103, 109, 237 Westphal, Merold 7, 34, 82, 197, 251, 398 Wieland, Tobias 465, 495 f., 503, 533 Wiertz, Oliver 117, 121, 224 Willaschek, Marcus 12, 82, 142 f., 148, 155, 158, 161, 169–172, 182, 192, 197, 269 f., 272 f., 284, 286–288, 296, 313, 314 f., 316, 318 f., 330 Williams, Robert 7, 11, 145, 190, 195, 225, 227, 255, 295, 311, 372 Winfield, Richard Dien 10, 21, 156, 417, 424, 430 Wolterstorff, Nicholas 2, 6, 13, 113 Wood, Allen 12, 158, 160, 165 f., 171 f., 177, 179, 185, 207, 260, 274, 276, 281, 387 Zagzebski, Linda 57, 66, 76, 114, 128
Sachregister Abhängigkeit, ontologische 110, 214, 218 f., 220, 224, 236 f., 245, 251 f., 333, 353, 480, 486, 509, 521, 524 absolute Idee 65, 240, 243, 261, 275, 297, 328, 331–335, 341 f., 356–368, 370, 385, 391–394, 396, 432, 445, 448, 451 f., 469, 501, 503, 510, 514– 517, 525–528, 530 f., 535 f., 549 f. Absolute, das 13, 37–39, 45, 53, 147, 216, 226, 249, 354 Advaita Vedanta 485, 554 f. Allegorie 97, 436 f., 451, 451, 488 Analogie 279 Anti-Realismus 82, 100, 152–157, 159, 301, 417 Argument 1, 85, 164, 227, 377, 563 – Argument aus den ewigen Wahrheiten 217 f., 259 f., 349 – Argumentation 5, 252 – indirekte Argumente 109, 223, 227 f., 249, 306 f., 527 – kosmologisches Argument 2, 9, 11, 110, 159, 166–168, 175, 181 f., 200 f., 222–224, 250–253, 347–349, 350, 408, 416, 564 – moralisches Argument 283–289, 310–315, 328, 386 – ontologisches Argument 9, 11, 12, 40, 108, 347, 350, 356 f., 370 f., 378 f., 564 – retorsive Argumente 230 f., 250 f., 301 f., 331 f., 375, 564 f. – teleologisches Argument 9 f., 124, 266, 276–282, 305 f., 350, 352, 488, 564 Aseität 38, 39, 44, 189, 190, 212, 216 f., 218, 509
Atheismus 14, 35, 40, 53, 77, 121, 136, 152, 168, 188, 225, 286, 406, 441, 501, 504, 519, 531 Bedeutungsprinzip 81 f., 143, 158, 184, 198 f., 259 Beglaubigung 47, 49, 101, 419 Begriff 24, 33 f., 59, 60, 67, 68, 102, 232, 267, 323, 328, 331, 383, 416, 428, 429 f., 440, 454 f., 464, 524 f. – absoluter Begriff 156, 211, 220, 242, 274, 275, 354, 362, 365, 367, 371, 419, 511, 548, 568 – metaphysische Begriffe 196, 232, 242, 351, 353, 392 f., 412, 439, 441, 443 f., 445, 455, 470, 472–475, 476 f., 489, 501, 567 Begründung, epistemische 5f., 55, 65, 67–69, 71, 76 f., 196, 211, 223–226, 244, 252 f., 269, 272, 301, 340, 417 f., 458 f., 462, 562, 564 Begründung, ontologische 245 f., 247 f., 505, 507 Beweis 1, 64, 164, 211, 215, 351, 377, 462 f. Dank 75, 87 f. „Deity theory“ 219 f., 254, 542 Dialektik 21, 231, 232, 527 f. Einfachheit – Einfachheit Gottes 18, 39, 178, 217, 219, 297, 358, 367, 446, 518, 519, 523 – Einfachheit von Begriffen 250, 369, 428 Ens necessarium 173, 175, 197, 209, 257, 275 f.
602
Sachregister
Ens realissimum 177 f., 217, 243, 274, 275, 378 Entität 31, 146 Erhabenheit, siehe Transzendenz Erhebung des Denkens zu Gott 4, 6, 8, 194 f., 223 f., 225, 229, 233, 251 f., 295, 351, 395–399, 409 Erkennen 43, 48, 56–69, 74 f., 81, 109, 213, 310, 215, 363 f., 300, 310, 315, 301 f., 375–377, 390–394, 418, 487, 534, 547, 561, 565 – diskursives Erkennen 103, 111, 169, 211, 255, 269, 299, 320, 561, 563, 565 – etwas in Gott erkennen, siehe Illumination – Idealtheorie der Erkenntnis 65, 558 f. – kognitive Identität mit dem Gegenstand 59 f., 68, 153, 132, 213, 309 f., 364 f., 424 f., 446, 544 – Selbsterkenntnis des Menschen 64, 310, 370, 373 f., 391–393, 396 f., 467, 471, 546, 549 f., 565 f. – Selbsterkenntnis Gottes 65, 219, 243, 310, 333, 342, 365–367, 370, 372, 376, 396 f., 445 f., 467, 510 f., 514– 516, 542 Erklärung 34, 39, 45 f., 66, 74 f., 94, 104, 125, 175, 182, 185, 188, 193, 207, 212, 226, 232, 254, 270, 276, 299, 301, 323, 336, 363, 464, 526, 560, 565 Essenz 125, 128, 153, 234 f., 241, 245, 309, 322, 327, 385, 478, 484, 510, 528 f. – Essentialismus natürlicher Arten 55 f., 56, 153, 235, 241, 246, 322 f. Evidentialismus 6, 75–77, 114 f., 286 f., 314, 557–560, 565 – moderater Evidentialismus 399 f. Evidenz 48 f., 142 Ewigkeit 18, 176, 275, 365, 522, 535– 537, 547, 550 Existenz 50 f., 155, 164, 171, 173, 187, 189, 222, 245, 297, 382 f., 387, 501, 507, 509, 527 Exklusivismus 462, 470
Fiktionalismus 96, 97, 300, 441 f., 449, 451, 560 f. Fitch-Paradox 159, 375 Freiheit 75, 93, 176, 249, 292–294, 414, 488 f., 516 f., 525, 528, 535 Furcht 36, 87 Gefühl 36, 43, 66, 71, 84–86, 92, 410 – „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ 37, 84, 488 f. – praktische Gefühle 85, 92 f. – religiöse Gefühle 50 f., 86–88 Geist 32 f., 39, 60, 70, 107, 306, 310, 338, 361, 363 f., 366, 370, 387, 393, 395 f., 399, 403, 468, 514 f., 518, 530 f., 535–539, 546 f., 565 f.; siehe auch Trinität Glaube 42–51, 53 f., 78, 96, 101, 106, 121, 142, 147, 259, 411 f., 545, 547 f., 550 – dispositioneller Glaube 45, 46, 57 f., 69, 408, 412, 415, 417 f., 423, 439, 458, 466 – fiduzieller Glaube 46 f., 62, 64 f., 147, 487, 490 f. – Glaubensdisposition 408, 412, 413, 468 Gott 4, 13 f., 38–40, 42, 44, 54 f., 89, 131, 147, 177, 241, 275 f., 285, 358, 365 f., 367, 387, 445–448, 450, 453, 486, 508–513, 515–521, 530–551; siehe auch Trinität Gotteskindschaft 547–549 Grammatik, logische 415 f., 417, 457 Hochmut 373, 389 Illumination 215, 542, 543–545 Inferenz, materiale 232, 353, 412 f., 483 Inklusivismus 44, 444, 462, 468–470, 493, 495–498, 551–555, 569 Intuition, rationale 49, 115, 160 f., 311, 429, 439 Ironie 373 Jesus Christus 91, 449–451, 491 f., 499, 512, 537, 550, 553 f.
Sachregister Kategorie 81, 130, 146 f., 153, 156 f., 196, 231, 251, 331 f., 340, 366, 415– 417, 563 f. Kritik, immanente 20 f., 64, 126, 484 Kunst 7, 423 f., 431, 433, 436, 439, 440 f., 442 f., 444, 534 Leben 304, 327, 342, 362 f., 447, 451 f. Liebe 89 f., 446 f., 516, 528 Macht 4, 197, 251 f., 292, 306, 312 f., 350, 404, 442, 483 f., 486, 491, 508, 521 Maxime, logische 169 f., 268 f. Metapher 434–439, 503 f. Monismus 20, 334, 480, 507 f., 522, 536 Natur 266 f., 270–273, 328, 330–335, 338, 342, 361–363 Naturgesetzlichkeit 47, 126, 246, 190, 303, 325–328, 487 natürliche Art 55 f.; siehe auch Essenz Notwendigkeit – logische Notwendigkeit im engen Sinne 186 f., 189, 208, 379 – logische Notwendigkeit im weiten Sinne 39, 189, 208, 259 f., 379 f., 528, 540 – metaphysische Notwendigkeit, siehe logische Notwendigkeit im weiten Sinne – moralische Notwendigkeit 315, 336, 530 – nomologische Notwendigkeit 189 f., siehe auch Naturgesetzlichkeit – notwendige Existenz 2, 39, 94, 175, 187, 217, 248–250, 254, 257, 260, 340 f., 379–384, 403 f., 461 Objektivität 53 f., 148, 261, 310, 323, 359, 392 f., 534, 561 Okkasionalismus 126 f., 128, 326 Omnipräsenz 242, 510 f., 538 Person 306, 514–520, 569 Pluralismus 462, 465, 493–496 Prinzip der durchgängigen Bestimmung 177, 274, 383, 516
603
Prinzip vom zureichenden Grund 161, 175, 200 f., 245 f. Prinzipien, regulative 168, 171, 192 f., 254, 257–259, 272 f., 277, 299, 321, 561 Realismus 68, 82, 148, 151, 155, 157, 218, 322, 337 Rechtfertigung, epistemische 15, 21, 64 f., 67–69, 77, 100, 114, 120, 301, 419, 501, 558, 559 – internalistisch vs. externalistisch 57, 61, 114, 124, 128 – prima facie-Rechtfertigung 197, 253, 418, 498 – Rechtfertigungszustand vs. Rechtfertigungsnachweis 15, 64, 72, 400, 418, 458 f., 566 Rechtfertigung, moralische 17, 82, 142, 345, 501 – siehe auch moralisches Argument Reinkarnation 482 Relation, interne 235, 246, 325 Religion 4, 31–41, 96 f., 98, 131, 403, 410, 423, 464–467, 467 f., 545, 552, 566 – „griechische Religion“ 38, 291, 451, 485 f., 489 – „indische Religion“ 414, 432, 480– 483, 485, 489, 494, 508, 552, 569 – „jüdische Religion“ 47, 203, 432, 436, 485, 486–492, 494, 499, 521, 522 f., 552, 554 – „Naturreligion“ 32, 41, 242, 444, 478–480 – „Religion der Zweckmäßigkeit“ 37, 38, 41, 90–92, 97 f., 291, 487 f., 499, 552, 554 – „Religion des In-sich-seins“ 32, 414, 432, 480–483, 485, 552, 569 – Religion im engeren Sinne 7, 32, 423 f., 439–444, 466 f., 567 – Religionsform und Religionsgestalt 13, 464 – Religiöses Bewusstsein 71, 73, 242, 355, 403 f. 410, 425, 472, 493, 566 – Weltreligionen 23, 464 Reue 87
604
Sachregister
Schönheit 442 f.; siehe auch Kunst Schöpfung 44 f., 275 f., 341–343, 360, 447 f., 486 f., 509–511, 521–530, 568 Selbstentäußerung 249, 251, 526 f., 530 Selbstexplikation Gottes 39, 180, 216 f., 220, 226, 227, 294, 309, 354, 393, 467, 471; siehe auch Selbstoffenbarung Gottes Selbstoffenbarung Gottes 35, 123, 136, 373, 414, 450, 461, 467, 546, 549, 553 Substanz 4, 38 f., 190, 201 f., 235 f., 237, 385, 480, 482, 507, 509 f., 514, 518 Sünde 372 f., 448 f., 567 Symbol 435–437, 478 System 269–272, 275 f., 307, 334, 365, 391, 453, 505 f. Testimonium internum Spiritus Sancti 47, 121, 134, 419, 539, 545– 549 Theodizee 472, 497 Theosis 547 Transzendenz 31 f., 41, 151, 486, 512 f. Trinität 251, 365 f., 372, 445–447, 483, 487, 514, 517 – Hl. Geist 121, 127, 129, 133, 134, 313, 366, 373 f., 414, 419, 530–552; siehe auch Liebe – Logos, siehe Sohn – Sohn 365 f., 372, 373, 443, 445–447, 509–513, 524, 548 – Zeugung 446 f., 451 f., 483, 517, 547 f., 550, 567 Unendlichkeit 4, 81, 102, 105, 109, 131, 167 f., 177, 197, 200 f., 210, 220, 223, 226, 228, 232, 234, 237–245, 351, 354, 369, 376, 389, 403, 428, 507, 522, 564 – wahre Unendlichkeit 197, 238–243, 249, 251 f., 255 f., 261, 292 f., 333, 350, 353, 378, 381, 396, 404, 407 f., 412, 414, 417, 455, 468, 477 f., 480, 481, 484, 508, 510 f., 514, 518, 525, 535, 538
Verpflichtung, begriffliche 251 f., 292, 468; siehe auch materiale Inferenz Verstehen 45, 104, 107, 254, 560 f., 566; siehe auch Erklärung Vertrauen, siehe fiduzieller Glaube Vollkommenheit 35, 178, 217, 219, 286, 310, 358 f., 364 f., 367 f., 510, 566; siehe auch ontologische Wahrheit Wahrheit – ontologische Wahrheit 37, 54, 59 f., 64, 118, 147, 151, 233, 238, 241, 315, 335, 352, 358, 359, 372, 442, 507 – propositionale Wahrheit 5, 48, 58– 60, 68, 77, 100, 118, 159, 217, 221, 222, 231, 301, 322, 376, 389; siehe auch Erkennen – Wahrheit Gottes 38, 102, 219 f., 242, 254, 354, 358, 365–367, 373, 376, 446, 456, 514, 516, 542, 550, 566 Wahrscheinlichkeit 47 f., 69, 76, 135, 277, 300, 313 f., 329 Weisheit 293–295, 334, 350 f., 353, 453, 483 f., 486, 491, 564 Weltseele 307 f., 316, 342, 362 f., 489 Werturteile 54–56, 58–60, 67 f., 93, 318, 328, 338, 358, 393, 464 f., 494 Wesen, siehe Essenz Wissen 48, 58 f., 60 f., 64 f., 66, 75, 120, 414, 445, 534 – siehe auch Erkennen – Gewissheit 14, 47–51, 58, 61 f., 76, 101, 106, 110 f., 313 – implizites Wissen 45, 251, 351, 399, 415–417, 540, 543 – kategoriales Wissen 232 f., 251 f., 254, 415–419, 458, 466, 563 f.; siehe auch Kategorie Zufall – Kontingenz 2, 39, 46, 86, 95 f., 99, 166 f., 172 f., 175, 181–183, 185 f., 189, 191, 201, 202, 210, 212, 216 f., 222 f., 226, 228, 230–232, 245, 247– 249, 293 f., 331, 334 f., 393, 416 f., 466, 526, 529 f., 564 f. – Zufallshypothese 264, 287, 316, 319– 321, 329 f.
Sachregister Zweckmäßigkeit 4, 55–57, 95, 97 f., 120, 191, 226, 273, 278–281, 289 f., 292–296, 310, 320, 327 f., 347, 360 f., 484, 489 – Endzweck 37, 40, 57, 64, 98, 123, 126, 282–285, 309–313, 317 f., 321,
605
329 f., 334–338, 404, 484–488, 517, 553 – innere vs. äußere Zweckmäßigkeit 55, 57, 90, 125, 273, 297–305, 352, 451