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German Pages [356] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540237 — ISBN E-Book: 9783647540238
Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW)
Herausgegeben von Gregor Ahn, Oliver Freiberger, Jürgen Mohn, Michael Stausberg
Band 5
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Astrid Reuter
Religion in der verrechtlichten Gesellschaft Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-54023-7 ISBN 978-3-647-54023-8 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Säkularisierung und Mobilisierung von Religion . . . . . Was ist Religion? Arenen und Akteure der Begriffsarbeit Zur Zielsetzung und zum Aufbau der Arbeit . . . . . . .
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Teil 1 Religion in der ver(grund)rechtlichten Gesellschaft. Systematische Grundüberlegungen 1. Zur Logik des religiösen Feldes. Überlegungen im Anschluss an Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Im Dialog mit Max Weber : Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Grenzarbeiten: Die Transformation des religiösen Feldes . . . . .
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3. Das Problem der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Freiheit – Gleichheit – Säkularität. Zur historischen Genese des Prinzips der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Dilemma des Rechts auf Religionsfreiheit . . . . . . . . . . .
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2. Die Ver(grund)rechtlichung der Gesellschaft . . . 2.1 Die Verrechtlichung des Religiös-Politischen . 2.2 Das Recht als ›Imaginationsform‹ des Sozialen 2.3 Die Vergrundrechtlichung der Anerkennung .
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Inhalt
Teil 2 Religionsrechtskonflikte und -kontroversen als Grenzarbeiten am religiösen Feld. Fallbeispiele 4. »Herz des Christentums« oder »was heute die Kulturländer Europas und des Abendlandes einigt«? Der Streit um das Kreuz in der Schule 4.1 Zum Hergang und zur Grundkonstellation eines definitionspolitischen Grundsatzstreits . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Grenzarbeiten vor Gericht: Das Kreuz zwischen ›Zivilreligion‹ und ›Bekenntnis‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Auflösung des Religiösen? Das Bundesverfassungsgericht als Wächter an den Grenzen des religiösen Feldes . . . . . . . . . .
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5. »Der Kopf zählt, nicht das Tuch«? Der Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ein Grundsatzstreit mit einem Haupt- und vielen Nebenschauplätzen: Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Von Absicht, Bedeutung und Wirkung religiöser Zeichen: Das Kopftuch vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kultur oder Bekenntnis? Verwaltungsrichter als Zeichendeuter . . 6. Auf der Suche nach den regenerativen Ressourcen der Freiheitsordnung. Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 »Gott und die Welt« in der Schule. Der Streit um das Unterrichtsfach ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde)‹ in Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Religionsunterricht oder Religionskunde? Ein Grundlagenstreit mit regionalem Gepräge . . . . . . . . . . 6.1.2 »Niemandsland der Gleich-Gültigkeit« oder Wegweiser im Wertedschungel? LER auf dem Weg von Potsdam nach Karlsruhe und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 »Werteunterricht für alle!« oder »Villa Kunterbunt der Letztbegründungen«? Der Streit um den Ethik- und Religionsunterricht in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Auf dem Weg zum »Zoo« der Religionen? Die Neuauflage eines Grundlagenstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Der Zwang zur Wahl. Der Berliner Volksentscheid über den Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Religion und Ethik. Grenzarbeiten im öffentlichen Raum . . . .
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Inhalt
7. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schluss: Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das definitionspolitische Dilemma: Umgangsformen . . . Vom religiösen Feld zum religiösen Raum . . . . . . . . . . Das performative Potential des Rechts auf Religionsfreiheit
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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang: Auszüge einschlägiger Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im März 2012 als Habilitationsschrift im Fach Religionswissenschaft am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt eingereicht. Für die Veröffentlichung wurde sie nur leicht überarbeitet. Die Arbeit hat verschiedene interdisziplinär orientierte Entstehungskontexte: Die ersten Ideen und Vorarbeiten verdanken sich den außerordentlich anregenden Arbeitszusammenhängen am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt in den Jahren 2004 bis 2008. Insbesondere Hans Joas, dem ehemaligen Leiter des Max-Weber-Kollegs, danke ich für seine Unterstützung. Darüber hinaus bin ich vielen der damaligen Fellows, Habilitandinnen und Habilitanden sowie Doktorandinnen und Doktoranden des Max-Weber-Kollegs für ihre Kritik, ihre Kommentare und Anregungen sehr dankbar. Während eines Arbeitsjahres am Wissenschaftskolleg zu Berlin 2005/2006 erhielt meine Arbeit ihren religionsrechtlichen Fokus. Abgeschlossen habe ich die Arbeit in den Jahren 2009 bis 2012 im Kontext des Exzellenzclusters ›Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‹ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dem Münsteraner Exzellenzcluster verdanke ich neben einem intellektuell sehr produktiven Umfeld und ausgezeichneten Arbeitsbedingungen auch einen großzügigen Druckkostenzuschuss, der die Veröffentlichung der Arbeit möglich gemacht hat. Danken möchte ich besonders auch den Gutachtern meiner Arbeit, Hans G. Kippenberg (Bremen), Jörg Rüpke (Erfurt) und Heiner Bielefeldt (ErlangenNürnberg). Hans G. Kippenberg hat die Entstehung der Arbeit von Beginn an begleitet; als Gesprächspartner steht er mir seit vielen Jahren zuverlässig zur Seite. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ›Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft‹ danke ich deren Herausgebern, insbesondere Jürgen Mohn (Basel). Michael Stausberg (Bergen) und Felix Hafner (Basel) danke ich für ihre zustimmenden Gutachten zur Aufnahme in die Reihe und für ihre ausführlichen Kommentare.
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Vorwort
Intensiver als jeder andere hat Klaus Große Kracht Anteil am Entstehungsprozess der Arbeit genommen; von den ersten Ideen bis hin zum Abschluss war er mein wichtigster Gesprächspartner. Münster, im Mai 2014
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Astrid Reuter
Einleitung The concept of the secular cannot do without the idea of religion. (Talal Asad, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003, 200) Letztlich ist es immer die Gesellschaft, die sich selbst mit dem Falschgeld ihres Traums bezahlt. (Marcel Mauss/Henri Hubert, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt a.M. 1989 [1904/1905], 158)
Säkularisierung und Mobilisierung von Religion Der Ideenhaushalt der Theorien von Säkularisierung und Modernisierung ist in den letzten Jahren gründlich durchstöbert worden. Die weithin – nicht zuletzt von vielen Glaubenden selbst – geteilte Säkularisierungserwartung, nach der die Religion unausweichlich zu den Modernisierungsverlierern zählt, scheint heute enttäuscht; geradezu inflationär ist die Rede von der Wiederkehr der Religionen in die Öffentlichkeit moderner Gesellschaften im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert.1 Verfechter des säkularisierungstheoretischen Zentralparadigmas einer engen Kopplung von Modernisierungsprozessen mit einem Bedeutungsschwund des Religiösen sind darüber in die Defensive geraten; von hier aus fahren sie schweres empirisches Geschütz auf.2 Folgt man ihren Befunden, wird man Säkularisierung nicht als ›Mythos‹ bagatellisieren können, sondern als empirische Tatsache ernst nehmen müssen. Doch wie auch immer man die widerstreitenden Diagnosen und Behauptungen im Horizont der religionskulturellen Entwicklungen im Einzelnen bewertet – eines ist kaum zu bestreiten: Auf der Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit spielt Religion eine zunehmend wichtige Rolle. Religion ist eine Angelegenheit, über die – medial verstärkt – in aller Öffentlichkeit und vielfach vor Gerichten leidenschaftlich und kontrovers verhandelt wird. Die Streitanlässe sind vielfältig: Um die Zulässigkeit religiös motivierten betäubungslosen Schlachtens durch jüdische und muslimische Metzger wird ebenso gestritten wie um religiös konnotierte Bekleidungspraktiken, die staatliche Subventio1 Stellvertretend für viele: Casanova, Public Religions; Graf, Wiederkehr der Götter ; Habermas, Glauben und Wissen; ders., Zwischen Naturalismus und Religion; Riesebrodt, Rückkehr der Religionen. 2 Vgl. nur: Pollack, Säkularisierung; ders., Rückkehr des Religiösen?; Bruce, God is Dead.
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Einleitung
nierung von Konfessionsschulen, bekenntnisfreien Ethik- oder bekenntnisgebundenen Religionsunterricht, um Moscheebauten, das Recht zum Gebet in der Schule, den religiösen Symbolgehalt von Weihnachtsbäumen, die rechtlichen und sittlichen Grenzen satirischen und literarischen Umgangs mit religiösen Sinngehalten und Motiven, um die Rechtsgestalt religiöser Gruppen, Kreuze in öffentlichen Schulen, den Stellenwert des religionsgeschichtlichen Erbes in der Verfassungsstruktur einzelner Staaten oder von Staatenbünden und um vieles andere mehr. Nicht selten erscheinen die Konfliktanlässe geringfügig: In den USA musste eine Schule im Dezember 2005 Essenspäckchen zurückrufen, weil auf ihnen ›Merry Christmas!‹-Wünsche zu lesen waren; der Wal-Mart-Konzern hingegen sah sich im selben Jahr Diskriminierungsvorwürfen von christlicher Seite ausgesetzt, weil er seinen Kunden in der Vorweihnachtszeit lediglich ›Schöne Feiertage!‹ wünschte.3 Im Jahr darauf kam es in Großbritannien zu polemischen Debatten, weil Wirtschaftsunternehmen mehrheitlich weihnachtliche Dekoration am Arbeitsplatz mit der Begründung verboten, diese beleidige Nicht-Christen.4 In ihren Anfängen sind die Streitigkeiten um Religion zumeist lokal (wie bspw. Moscheebaukonflikte) oder situativ (wie u. a. der ›Kopftuchstreit‹) begrenzt. Die religionsgeschichtlichen, -politischen und -rechtlichen Verweisungszusammenhänge, in die sie eingebunden sind, verleihen ihnen jedoch ein Konfliktpotential, das den jeweiligen Entstehungskontext übersteigt und daher über die am Ausgangskonflikt beteiligten Streitparteien hinaus eine breite gesellschaftliche Öffentlichkeit zu mobilisieren vermag. So ist eine hohe Bereitschaft zu beobachten, um Religion öffentlich engagiert zu streiten und die Entscheidung auch über scheinbar geringfügige religionsrechtliche und -politische Details nicht Berufspolitikern und Juristen allein zu überlassen. Zu beobachten ist darüber hinaus, dass die jeweils strittigen religionsrechtlichen und -politischen Details in der öffentlichen Debatte konsequent auf übergreifende allgemeine Fragen der gesellschaftlichen Ordnung bezogen werden: So wird aus der Debatte um die Kopfbedeckung muslimischer Frauen und Mädchen ein Grundsatzstreit über die Integrationsfähigkeit und -willigkeit von Musliminnen und Muslimen oder gleich über das christliche ›Abendland‹ und die Kompatibilität von Islam und freiheitlicher Ordnung insgesamt. Auch im Streit um die Anbringung von Kruzifixen oder auch schlichten Kreuzen in schulischen Räumen wird, ebenso wie in der Debatte um konfessionellen Religions- und bekenntnisfreien Ethikunterricht, jenseits des Konkreten um Grundsätzliches gestritten: Im Hintergrund des oft kleinteiligen Ringens um Formulierungen in Gesetzesvorlagen, juristischen Gutachten oder politischen Stellungnahmen 3 Vgl. FAZ, 13. 12. 2005; Die Zeit, 21. 12. 2005. 4 Vgl. SZ, 9./10. 12. 2006.
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Säkularisierung und Mobilisierung von Religion
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steht die prinzipielle Frage, auf welchen Fundamenten die säkularisierte Freiheits- und Gleichheitsordnung eigentlich steht und aus welchen Quellen sie zehrt. Welche Rolle spielt hierbei Religion? War sie ein Schrittmacher auf dem Weg zum modernen Verfassungsstaat – oder war sie, ganz im Gegenteil, eher ein Hindernis? Und welche politisch-rechtlichen Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft sind aus den Einsichten hinsichtlich der historischen Rolle der Religion zu ziehen? In den einzelnen Streitfällen werden diese Fragen stets mitdiskutiert. Es scheint also die Auffassung verbreitet, dass in den Konflikten um Religion fundamentale gesellschaftliche Ordnungsentscheidungen auf dem Spiel stehen, namentlich die beiden Leitideen der ›modernen‹ Gesellschaft und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung: Freiheit und Gleichheit. Kann gewährleistet werden, dass Glaubende gleich welcher Religion im gleichen Maße frei sind, ihren Glauben zu bekennen und ihre Lebensführung nach ihrem eigenen freien Ermessen an ihrem Glauben auszurichten? Soll diese gleiche Freiheit in der Religion überhaupt gewährleistet werden? Und wie kann zugleich gewährleistet werden, dass jede und jeder gleichermaßen frei ist, nicht zu glauben oder sich von einem Glauben abzuwenden? Nicht zuletzt aufgrund vergangener Konfliktgeschichten wird die Frage nach dem Ort der Religion in der Gesellschaft daher stets mit der grundsätzlichen Frage verknüpft, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben und leben wollen. Und dies mag den polemischen Eifer erklären, der den Ton der Auseinandersetzungen immer wieder bestimmt. Dass die demonstrative Präsentation, aber auch die schlichte Präsenz religiöser Affiliationen im öffentlichen Raum ebenso Anlass zu Streit gibt wie ihre (gezielte) Verdrängung, wie sie etwa in Teilen des Berliner Streits um den Religionsunterricht zutage tritt, verweist auf die Ambivalenz, die sich historisch in das Verhältnis freiheitlich verfasster säkularisierter Gesellschaften ›westlicher‹ Provenienz zur Religion eingeschrieben hat: Zwar stützen diese ihr politisches Modell einerseits auf die zumeist mühsam und oft leidvoll errungene Befreiung staatlichen Handelns aus religiöser Umklammerung. Andererseits aber reklamieren sie nicht selten ein singuläres religiöses Erbe – das ›christliche‹ bzw. das ›jüdisch-christliche‹,5 meist in Verbindung mit dem antiken Hellenismus – als eines ihrer historischen Fundamente; ›klassisch‹ in dieser Hinsicht ist die Interpretation der Menschenrechte als aufklärerische Transformation des jüdischchristlichen Persönlichkeitskonzepts.6 5 Der Betonung der historischen Gemeinschaft zwischen Juden und Christen kommt in diesem Zusammenhang eine doppelte Funktion zu: Mit ihr ist den Anforderungen politischer Korrektheit in Anbetracht des Holocaust Genüge getan und doch zugleich eine Grenze zum ›Anderen‹ – dem Islam – markiert, dem damit im Dreierbund ›abrahamitischer‹ Religionen eine Sonderrolle zugewiesen wird. 6 Vgl. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Jellinek kommt zu dem Schluss,
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Einleitung
Dass dieses zu anderen Zeiten nicht selten verschmähte Erbteil inzwischen wieder in wachsendem Maße als historischer Bürge in Anspruch genommen und nicht selten als auch zukünftig unverzichtbares Ferment für eine freiheitliche gesellschaftliche Ordnung gewürdigt wird, steht maßgeblich im Zusammenhang mit der unerwarteten Präsenz islamischer Religiosität nicht nur auf der globalen Bühne, sondern gerade auch innerhalb ›westlicher‹ Gesellschaften. Gleichsam als Begleiterscheinung einer aufsteigenden Gereiztheit gegenüber vitalen islamischen Lebensformen, die das mitunter erstarrt wirkende religiöse Feld auch in Europa in Bewegung gebracht, es damit aber auch unübersichtlich gemacht haben, lässt sich mancherorts eine gewissermaßen ›nachholende‹ Identifikation mit dem christlichen bzw. dem ›jüdisch-christlichen‹ Erbe beobachten – nicht zuletzt bei Intellektuellen, die zuvor nicht unter Verdacht standen, den religiösen Wurzeln des säkularisierten freiheitlichen Verfassungsstaates über Gebühr Beachtung zu zollen.7 Dass nichtsdestotrotz auch das Christentum in der gegenwärtigen Konfliktkonstellation sein Irritationspotential bewahrt, hat mit der angesprochenen fundamentalen Ambivalenz zu tun, mit der freiheitlich verfasste säkularisierte okzidentale Gesellschaften ihrem religionsgeschichtlichen Erbe begegnen. Diese Ambivalenz tritt in einem beständigen Schwanken zwischen imaginierter Distanz und Nähe zutage: So wird die gesellschaftliche Ordnung der Gegenwart zwar einerseits über ihren Abstand zur vergangenen religiös-konfessionellen Konfliktgeschichte bestimmt; zugleich aber vergewissert man sich – vor allem, wenn es um die Abgrenzung nach ›außen‹ geht, etwa in der Frage des Verhältnisses zur ›islamischen Welt‹ – stets von Neuem der Nähe dieser Geschichte, der die Idee unveräußerlicher Rechte des Individuums sei nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs; ihre wichtigsten Trägergruppen seien die puritanischen Emigranten gewesen, die aus ihrer Erfahrung der Glaubensverfolgung die Forderung nach Religions- und Gewissensfreiheit abgeleitet hätten. Diese These ist vielfach in Frage gestellt worden; zur Debatte vgl. u. a.: Hafner, Religionsfreiheit, 123 f (mit Hinweisen zur Forschungslage); ferner : Stein, Genesis und Geltung; dies., Himmlische Quellen; ebenso die Kritik an Stein von Hans Joas in der FAZ vom 14. 12. 2007. 7 So lässt etwa der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler die Grenzen Europas unvermutet mit den Grenzen des okzidentalen Christentums zusammenfallen, wenn er seine dezidierte Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei mit der vermeintlichen Unversöhnlichkeit zweier maßgeblich religiös geprägter Kulturräume begründet (vgl. Die Zeit, 12. 9. 2002; FAZ, 5. 11. 2002 und 19. 12. 2003). Auf vergleichbare Argumentationsmuster stößt man gelegentlich auch in den dezidiert laizitär orientierten französischen Intellektuellenmilieus. So deutet Alain Finkielkraut die militanten Ausschreitungen in den Pariser Vororten im Herbst 2005, deren Hauptakteure Jugendliche mit Migrationshintergrund in der ›islamischen Welt‹ waren, als »antirepublikanischen Pogrom[]«; die Republik aber – die für Finkielkraut »die französische Version von Europa« ist – bindet er unvermutet an das christliche bzw. jüdisch-christliche Erbe Europas zurück: Die Krawalle, so erklärt er, richteten sich »gegen Frankreich als europäisches Land, gegen Frankreich und seine christliche oder judäochristliche Tradition« (vgl. die deutsche Übersetzung des Interviews in: Die Welt, 10. 12. 2005).
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Säkularisierung und Mobilisierung von Religion
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Verwurzelung der Gegenwart in ihr. Diese ambivalente Konstellation begünstigt eine grundlegende ›Hermeneutik des Verdachts‹ gegenüber gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen, die sich aus religiösen Wertbindungen speisen, zumal wenn sie nicht christlicher oder jüdischer Provenienz sind. In ihrem Kern läuft diese Hermeneutik auf die Unterstellung hinaus, Glaubende und Glaubensgemeinschaften seien von dem letztlich totalitären Anspruch angetrieben, das gesamte gesellschaftliche Leben religiös zu durchdringen; sie seien deshalb weder bereit noch imstande, ihre Vorstellungen vom guten und gottgefälligen Leben in Einklang zu bringen mit den Grundsätzen einer säkularisierten Freiheits- und Gleichheitsordnung. Öffentliche Manifestationen islamischen Bekenntnisses geraten unter diesen Bedingungen geradezu unter Generalverdacht, die verfassungsmäßigen Grundlagen des säkularisierten freiheitlichen Staates durch einen alternativen Gesellschaftsentwurf grundsätzlich zu unterminieren. Die vermehrt zu beobachtende, von mancher Seite unerwartete Berufung auf die christlichen bzw. jüdisch-christlichen Wurzeln Europas ist nicht zuletzt durch das Anliegen motiviert, die Grenzen europäischer Zivilisation sowohl nach außen (etwa gegen die Türkei und ihren Beitrittswunsch zur EU) als auch nach innen (gegen die Ansprüche europäischer Muslime auf öffentliche Entfaltungsräume) abzustecken. Mit ihr wird jedoch zunächst einmal nur die geschichtliche Relevanz des christlichen oder jüdisch-christlichen Erbes bekräftigt; damit ist noch nicht zwangsläufig die Folgerung verbunden, dass dieses auch ein für die europäischen Gegenwartsgesellschaften bedeutsames sozialmoralisches Integrationspotential birgt. Diese Sicht klingt allerdings in den aktuellen religionspolitischen Debatten immer wieder an, so etwa – auch dies eher unvermutet – in jüngeren Publikationen von Jürgen Habermas, beispielsweise in der Rede, die er unter dem Titel Glauben und Wissen anlässlich des Empfangs des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 in der Frankfurter Paulskirche hielt.8 Mit Blick auf den apostrophierten ›Kampf‹ oder gar ›Krieg der Kulturen‹ mahnt Habermas, noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse des 11. September stehend, hier an, »sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung [zu] rufen«.9 Um die freiheitliche Gesellschaftsordnung auch zukünftig »nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung ab[zu]schneiden«, müsse sich »auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahr[en]«.10 In dem Gespräch, das er im Januar 2004 in der Münchner Katholischen Akademie mit Joseph Kardinal Ratzinger führte, der im Jahr darauf zum Papst gewählt werden sollte, weist Habermas zwar die Ansicht zu8 Habermas, Glauben und Wissen. 9 Ebd., 11. 10 Ebd., 22.
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Einleitung
rück, der Verfassungsstaat bleibe auf eine Fundierung in den vorpolitisch-sittlichen Überzeugungen vor allem religiöser Gemeinschaften angewiesen;11 doch unterstreicht er, es liege »auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist.«12 Die Aufmerksamkeit, die Habermas’ Friedenspreisrede und seinen nachfolgenden Stellungnahmen zur »Dialektik« des Säkularisierungsprozesses sowie zur »postsäkularen« Gesellschaft zuteil wurde,13 mag maßgeblich durch die nach den Anschlägen vom 11. September veränderte religionspolitische Weltlage motiviert gewesen sein. Es ist jedoch nicht allein der vermeintlich so plötzlichen Emergenz des islamischen Fundamentalismus in den europäischen Gesellschaften und auf der Bühne der Weltpolitik geschuldet, dass vertraute Säkularisierungsgewissheiten erschüttert wurden. Vielmehr hat auch das christliche Erbe sein Irritationspotential bewahrt. Insbesondere in den Vereinigen Staaten gibt es hierfür eine ganze Reihe von Beispielen, sei es die einflussreiche ›christliche Rechte‹ in den USA mit ihren militanten Positionen etwa in Fragen des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, oder die sich zunehmend formierende Fraktion der Gegner der Evolutionstheorie, die mit ihrer Behauptung, die Welt verdanke sich dem ›intelligent design‹ eines mächtigen Schöpfergottes, in Amerikas Schulen an Boden gewinnen. In Deutschland machte der Fall einer evangelikal orientierten Familie aus Baden-Württemberg Schlagzeilen, die darauf bestand, ihre Kinder – entgegen der allgemeinen Schulpflicht – zuhause zu unterrichten und vor der Strafverfolgung durch die deutschen Behörden in den US-Bundesstaat Tennessee flüchtete, wo ihr im Januar 2010 politisches Asyl gewährt wurde.14 Die Beispiele illustrieren, dass auch das christliche Bekenntnis – nicht weniger als das Bekenntnis zum Islam – den »Liberalismus der Neutralität«15 durch Wertbindungen in Frage zu stellen vermag, aus denen sich gesellschaftliche Gestaltungsansprüche ergeben können, die den liberal-demokratischen Verfassungsstaat herausfordern. 11 Vgl. Habermas’ (unter dem Titel Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats? stehende) Einleitung zum Gespräch in: Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 15 – 37, hier 20. Insofern Habermas das demokratische Verfahren »als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität« begreift, sieht er kein solches Geltungsdefizit; vielmehr kann ihm zufolge die Verfassungsordnung des liberalen Staates ihren Legitimationsbedarf »selbstgenügsam, also aus den kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationshaushaltes bestreiten« (ebd., 20 f, 22). Die Einleitung zu der Diskussion mit Ratzinger ist wiederabgedruckt in: Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 106 – 118; vgl. im selben Band auch: ders., Religion in der Öffentlichkeit. 12 Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 32 f. 13 Kritisch zum Begriff »postsäkular« Hans Joas’ Beitrag in: Die Zeit, 7. 2. 2002. 14 Vgl. aus der Berichterstattung: FAZ, 28. 1. 2010 und 29. 1. 2010 sowie taz, 27. 1. 2010. 15 Taylor, Das Unbehagen, 25.
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Was ist Religion? Arenen und Akteure der Begriffsarbeit
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Religion, die öffentlichen Raum zu besetzen und zu gestalten beansprucht, ist also augenscheinlich in besonderer Weise geeignet, säkularisierte, freiheitliche Gesellschaften an ihre vermeintlich allgemein geteilten normativen Grundlagen zu erinnern: sei es, weil sie diese zu verbürgen, sei es, weil sie diese zu unterminieren scheint. Gesellschaften, die sich säkular verfasst und einer Ordnung der Freiheit und Gleichheit verpflichtet haben, bleiben daher in religiösen Angelegenheiten äußerst sensitiv und neigen dazu, Streitigkeiten um Religion im Modus der Selbstverständigung über die eigenen Fundamente auszutragen. Selten wird man auf eine Haltung völliger Gleichgültigkeit gegenüber Religion stoßen. Öffentliche Religion ist daher in hohem Maße konfliktbehaftet, und die Konflikte, die sich an sie knüpfen, stoßen in weiten Teilen der Gesellschaft auf kontroverse Resonanz. Doch wer kann für was das Recht auf Religionsfreiheit geltend machen? Was ist überhaupt Religion? Und was ist ihre Funktion für den Einzelnen, vor allem aber für das Gemeinwesen? In den Streitigkeiten, die hier zur Untersuchung stehen, werden sich diese Fragen – die auch die Wissenschaften, die mit Religion befasst sind, seit jeher beschäftigt haben – als elementar erweisen.
Was ist Religion? Arenen und Akteure der Begriffsarbeit Was ist Religion? An Antwortvorschlägen mangelt es nicht.16 Nur wenige haben sich Max Webers Haltung zu eigen gemacht, der gleich im ersten Satz seiner 1913 verfassten Abhandlung über die Typen religiöser Vergemeinschaftung in Wirtschaft und Gesellschaft17 klarstellt: »Eine Definition dessen, was Religion ›ist‹, 16 Vgl. stellvertretend für die unüberschaubare Vielzahl von Titeln: die voluminöse begriffsgeschichtliche Untersuchung von Feil, Religio; parallel dazu: Despland, La religion en occident; auch die von diesen Autoren herausgegebenen Sammelbände: Feil (Hg.), Streitfall ›Religion‹; Despland/Vall¦e (Hg.), Religion in History. Vgl. auch die mehrteilige begriffsgeschichtliche Untersuchung im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Ratschow u. a., Art. ›Religion‹). Bemerkenswerterweise findet sich kein Eintrag ›Religion‹ in den Geschichtlichen Grundbegriffen; ebenso wenig ist dort das Stichwort ›Religionsfreiheit‹ vertreten, während sich ein Eintrag ›Säkularisation, Säkularisierung‹ findet (Conze/Strätz/ Zabel, Säkularisation, Säkularisierung). Eingebettet in die Geschichte der Religionsforschung: Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte; schließlich das jüngere voluminöse Unterfangen von Hent de Vries (Hg.), Religion. Beyond a concept, darin neben der umfangreichen Einleitung des Herausgebers (Vries, Why Still »Religion«?) besonders auch den knappen Beitrag von Drees (Drees, Who Defines? For What Purposes?), der in Richtung der in der vorliegenden Arbeit verfolgten Fragestellung weist. 17 Der Text entstand 1913; veröffentlicht wurde er erst posthum 1921/22 unter dem Titel Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung) als Kapitel V des Abschnitts Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte in Wirtschaft und Gesellschaft. In der Max Weber-Gesamtausgabe erscheint er unter dem veränderten Titel Religiöse Gemeinschaften (MWS I/22 – 2); vgl. dazu Kippenberg, »Meine Religionssystematik«.
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kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen.«18 »[K]önnte allenfalls« – die Worte sind mit Bedacht gewählt: Denn eine »Definition dessen, was Religion ›ist‹«, wird man auch »am Schlusse« des Textes vergebens suchen.19 Nun wird Webers Rat, Erörterungen des Religiösen begrifflich enthaltsam anzugehen, eher selten befolgt. Zwar mangelt es nicht an Stimmen, die jedwedes Bemühen, Religion definitorisch einzuhegen, als bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt betrachten.20 Dennoch beschäftigen sich Sozial- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Philologen und Theologen, Philosophen und Ethnologen u. a.m. eingehend mit dem Phänomen ›Religion‹ und arbeiten dabei auch weiterhin tatkräftig an Bestimmungen des ›Religiösen‹ mit. Die zahlreichen verschiedenen Herangehensweisen, ›Religion‹ zu bestimmen, lassen sich auf zwei basale Ansätze – einen ›substantialistischen‹ und einen ›funktionalistischen‹ – zurückführen: So kann man einerseits versuchen, in den vielfältigen Erscheinungsformen des Religiösen einen allen gemeinsamen Bezugsgegenstand zu identifizieren, der die gemeinsame ›Substanz‹, das gemeinsame ›Wesen‹ aller Religionen ausmacht, etwa den Bezug auf das ›Heilige‹21 oder die Erfahrung der ›(Selbst-)Transzendenz‹.22 Andererseits kann man versuchen, das allen Religionen Gemeinsame in ihrer ›Leistung‹ für den Einzelnen, für eine Gemeinschaft oder die Gesellschaft als Ganze zu finden, also etwa in ihrer Fähigkeit zur Bewältigung von individuellen oder kollektiven Kontingenzerfahrungen, zur 18 Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWS I/22 – 2, 1. In Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus hatte Weber ähnlich argumentiert: »Die endgültige begriffliche Erfassung [des Begriffs ›Geist des Kapitalismus’, AR] kann […] nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen.« Weber begründet sein Vorgehen dort nicht mit prinzipieller Skepsis gegenüber Begriffsbildung, sondern mit dem »Wesen der ›historischen Begriffsbildung‹, welche für ihre methodischen Zwecke die Wirklichkeit nicht in abstrakte Gattungsbegriffe einzuschachteln, sondern in konkrete genetische Zusammenhänge von stets unvermeidlich spezifisch individueller Färbung einzugliedern strebt« (Weber, Religionssoziologie I, 30 f). 19 Wie bereits aus der vorangehenden Fußnote hervorgeht, bedeutet dies nicht, dass Weber ein prinzipieller Begriffsverweigerer in Sachen Religion sei. So gibt er im gleich anschließenden Satz seiner Untersuchung über die Religiösen Gemeinschaften die Richtung vor: »Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ›Wesen‹ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun […]. Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet. ›Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden‹ sollen die religiös oder magisch gebotenen Handlungen vollzogen werden« (Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWS I/22 – 2, 1 [Hervorhebung im Original]; die Formulierung ›Auf daß es dir wohl gehe…‹ ist gewählt im Anschluss an Eph 6,3). Religion ist demnach für Weber ein spezifischer Typ eines in Bezug auf bestimmte sozialkulturelle und historische Kontexte sinnhaften sozialen Handelns mit Diesseitsbezug. 20 Kippenberg, Diskursive Religionswissenschaft; Arnal, Definition. 21 Klassisch: Otto, Das Heilige [zuerst 1917]. 22 Hierzu: Joas, Braucht der Mensch Religion?.
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sozialen Integration kleinerer oder größerer Gruppen, ja ganzer Gesellschaften,23 aber auch in ihrem desintegrativen Potential.24 Diese beiden Wege werden nun aber nicht nur in der Religionsforschung beschritten, sondern lassen sich auch in den ›definitionspolitischen‹ Kämpfen um den Schutzbereich der Religionsfreiheit beobachten, die in den Rechtsstreitigkeiten um Religion und in den gesellschaftlichen Kontroversen, die diese begleiten, zum Austrag kommen. So geht es, wenn um Kreuze in bayerischen Schulen oder um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen, um konfessionellen Religions- und bekenntnisfreien Ethikunterricht gestritten wird, immer auch um die Frage, was denn Religion und entsprechend der Schutzbereich des Grundrechts auf Religionsfreiheit überhaupt ›ist‹ und welche spezifische ›Leistung‹ die Gesellschaft von der Religion erwartet oder, im Gegenteil, welche religionsspezifischen Effekte sie zu verhindern sucht. Der Streit um ›Religion‹ geht also weiter ; ein Konsens in der Definitionsfrage hat sich trotz aller Anstrengungen bisher nicht eingestellt und ist auch nicht zu erwarten. Die prinzipiellen Bedenkenträger, die jede Definitionsanstrengung für verlorene Mühe halten, haben zweifellos einige schlagkräftige Argumente auf ihrer Seite: So gibt die empirische Vielfalt des Religiösen in Geschichte und Gegenwart zu der berechtigten Frage Anlass, was denn das – gegenwärtig, und erst recht im Wandel der Zeiten – Gemeinsame der bereits intern so heterogenen religiösen Formationen wie Judentum, Christentum, Islam oder Bahai, Buddhismus und Hinduismus, Schamanismus und Scientology oder auch der zahlreichen Ausprägungen afrikanischer und afroamerikanischer Religionen sei. Lässt sich tatsächlich ein historisch und anthropologisch invariantes ›Wesen‹ oder ein ›Funktionskern‹ ausmachen, der allen diesen und den vielen anderen hier un-
23 Klassisch: Durkheim, Die elementaren Formen [zuerst 1912]. 24 Vgl. als konzise Übersicht der verschiedenen Definitionsmodi: Pollack, Rückkehr des Religiösen?, 60 – 67, der mit einer an Luhmann orientierten Verbindung substantialistischer und funktionalistischer Argumente auch eine eigene überzeugende Religionsdefinition vorträgt (ebd., 65 – 67). Danach sind Religionen stets auf ein Problem bezogen: die Erfahrung der Kontingenz des Daseins. Nun antwortet allerdings nicht allein Religion auf das Kontingenzproblem (das tun auch Kunst und Literatur, Philosophie etc.). Aber Religion allein bearbeitet das Kontingenzproblem mit der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Mit dieser Unterscheidung »schließt Religion die Horizonte der Welt« (ebd., 65): Die diesseitige Welt wird überschaubar, indem sie durch ein unverfügbares Jenseits begrenzt wird. Die verstörende Erfahrung der Kontingenz kann so dem unverfügbaren Transzendenten zugerechnet werden. Die spezifische Leistung der Religion besteht nun darin, die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz in die Immanenz selbst einzuführen: Religion gewährt mittels spezifischer Praktiken Zugang zum Transzendenten, macht es erfahrbar und kommunikabel, hält es aber zugleich unverfügbar. Denn nur das Transzendente, das zugleich zugänglich und unverfügbar ist, vermag die religionsspezifischen Sicherheiten zu gewähren.
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genannten Phänomenen gemeinsam ist und es rechtfertigt, sie unter dem allgemeinen Begriff ›Religion‹ zu subsumieren? Eine andere Argumentationsstrategie setzt begriffsgeschichtlich an. Der Begriff ›Religion‹, so wird nicht erst von postkolonialer Seite eingewandt, sei unstrittig »der ausschließliche Besitz der europäischen Zivilisation gewesen«,25 innerhalb derer er seine spezifische Bedeutung erst spät (nach 1700) und in enger Bindung an eine partikulare Religion (das Christentum) und deren Konfliktgeschichte (mit inneren Reformbestrebungen ebenso wie mit äußeren Mächten: der werdenden Staatsgewalt) erhalten habe.26 Kann ein Begriff Universalitätsstatus beanspruchen, dessen Genese in dieser Weise an spezifische historische und religionskulturelle Kontexte gebunden ist? Und ist seine Verwendung nicht auch deshalb zweifelhaft, weil sich der Begriff ›Religion‹ – selbst das Produkt einer spezifisch westlichen Rationalität und Deutungskultur – erst im Zuge (gewaltsamer) christlicher Missionsanstrengungen bzw. im Gefolge der Kolonialisierung von Europa aus über die Welt verbreitete, und mit ihm das Phänomen, das dieser Begriff benennt?27 Es deutet sich hier ein schwerwiegendes Problem an, das Friedrich Tenbruck bereits 1993 präzise formuliert hat: »Wo immer die Religionswissenschaft die moderne Religion untersucht, hat sie es in wachsendem Maße mit ihren eigenen Wirkungen auf ihr Objekt zu tun.«28 Die Religion, so Tenbruck, zumindest ihre »typisch moderne Lage«, sei auch »von den Religionswissenschaften mitgeschaffen worden […] und [findet] sich auch nur dort […], wo diese Wissenschaften voll zum Zuge kamen.« Damit sei »ein Problem entstanden, das an das Fundament der empirischen Religionswissenschaften rührt«. Denn die Religionsforschung habe, genau genommen, ihre Geschäftsgrundlage verloren, »weil sie die Lage und den Wandel der Religion nurmehr begreifen und erklären kann, wenn sie ihren eigenen Einfluss darauf einberechnet«.29 25 Tenbruck, Die Religion im Maelstrom, 37. 26 Vgl. Feil, Religio, der in seiner groß angelegten begriffsgeschichtlichen Studie ebenfalls die europäische Herkunft des Begriffs betont, den Schwerpunkt seiner Untersuchung aber auf den Nachweis legt, dass der antike Begriff ›Religion‹, so wie er im römischen Recht Verwendung fand, nach 1700 einen epochalen Wandel erfuhr. Religion in diesem neuzeitlichprotestantischen Sinn – als Phänomen der Innerlichkeit – habe es in vorangegangenen Zeiten und in anderen zivilisatorischen Kontexten nicht gegeben. Feil weist aber nicht nur die Anfänge dieser Begriffsverwendung nach, sondern behauptet darüber hinaus, dass Religion in diesem spezifischen Sinn Mitte des 20. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen sei. 27 Neben Tenbruck, Die Religion im Maelstrom, auch: Matthes, Auf der Suche, und v. a. Asad, Genealogies of Religion, sowie ders., Formations of the Secular ; dagegen: Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. 28 Tenbruck, Die Religion im Maelstrom, 35. 29 Ebd. Droogers, As Close as a Scholar Can Get, buchstabiert diese Verwicklung der Religionsforschung in das religiöse Feld mit Blick auf die anthropologische Feldforschungspraxis aus.
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Tenbruck wirft nun der Religionsforschung vor, sich dieser dringend gebotenen kritischen Selbstreflexion zu verweigern. Zwei Jahrzehnte später wird man dieser Fundamentalkritik nicht mehr ohne Weiteres zustimmen können. In der Zwischenzeit sind so viele kritische Studien zur Genealogie des Religionsbegriffs und seiner Rückkopplung an die religiöse Lage und die Lage der Religionsforschung entstanden,30 dass man die neuerliche Renaissance der Anstrengungen, klar anzugeben, was denn das Religiöse sei, durchaus als Reaktion auf die zwischenzeitlich in ›Mode‹ gekommene prinzipielle Begriffsskepsis begreifen kann.31 Auch wird man mit den Advokaten eines allgemeinen Begriffs von ›Religion‹ den Kritikern gleichsam die Gegenfrage stellen können: Wie soll Religionsforschung möglich sein, wenn sich die Religionsforscherinnen und -forscher weigern, ihren Gegenstandsbereich zu bestimmen? Wie soll es möglich sein, ohne einen allgemeinen Begriff von Religion die vielfältigen historischen und kulturellen Phänomene überhaupt zu klassifizieren, die ›religiösen‹ unter ihnen als solche zu identifizieren, von nicht-religiösen Erscheinungsformen (von Kunst und Literatur, Philosophie, Politik und anderen) zu unterscheiden und in ihrer jeweiligen Besonderheit, die sich doch erst in Bezug auf ein Allgemeines erschließt, zu untersuchen?32 Und wie ist mit dem Umstand umzugehen, dass der Begriff ›Religion‹ sowohl in der Alltagskommunikation als auch in der Forschung ohnehin verwendet wird, »ob man ihn nun für universell anwendbar hält oder nicht«?33 Schaut man auf die gesellschaftliche Ubiquität der Rede von Religion, so wird man sich allerdings fragen müssen, ob die wissenschaftliche Religionsforschung überhaupt in der Lage ist (und je in der Lage war), einen tragfähigen Begriff von Religion zu entwickeln und diskursiv durchzusetzen. Was Religion ›ist‹ und 30 Und zwar sowohl aus ›westlicher‹ Sicht als auch aus Sicht der begrifflich ›Kolonisierten‹; aus der breiten Forschungslage vgl. v. a. die beiden Studien von Talal Asad, Genealogies of Religion, sowie ders., Formations of the Secular, deren erste bereits zeitgleich mit Tenbrucks Abrechnung mit der Religionsforschung erschien. Schon vor Tenbruck: Matthes, Auf der Suche. 31 Offenkundig bei Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen (v. a. Kap. 1 – 4), der sich maßgeblich auch dagegen wehrt, »aus der Tatsache der Verstrickung des Religionsbegriffs in koloniale Projekte und Interessenlagen [zu] schließen […], daß deshalb auch jede wissenschaftliche Operationalisierung unmöglich ist oder nur politische Absichten verschleiern hilft« (32). 32 Vgl. etwa Graf, Wiederkehr der Götter, 237. 33 Pollack, Rückkehr des Religiösen?, 61. Es sei deshalb geboten, so wird den Definitionsverweigerern entgegengehalten, im Wissen um die Probleme, die eine Definition von Religion mit sich bringt, dennoch »so genau wie möglich anzugeben, in welchem Sinne man ihn [den Begriff ›Religion‹, AR] verwendet und wie man ihn von anderen Kategorien unterscheidet« (ebd.). Ähnlich auch Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen, sowie ders., Cultus und Heilsversprechen, Kap. 1 – 4.
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welche ›Funktion‹ sie erfüllt, erscheint vielmehr in hohem Maße deutungsoffen, widerspruchsvoll und gesellschaftlich strittig. Religion ist, wie man sagen könnte, ein »essentially contested concept«.34 Unter diesem 1956 von dem britischen Sozialphilosophen Walter B. Gallie in die Diskussion eingeführten Begriff werden positiv besetzte gesellschaftliche Schlüsselkonzepte (wie ›Kunst‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Demokratie‹, ›Wissenschaft‹, aber auch ›Religion‹ etc.) verstanden, um deren Bedeutung gesellschaftlich in prinzipiell unabgeschlossener Weise höchst kontrovers gerungen wird. Charakteristisch für diesen auf Dauer gestellten Begriffsstreit ist nach Gallie, dass er in einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit und nicht allein in spezialisierten Kreisen professioneller Begriffsarbeiter ausgetragen wird. Es gehört nach Gallie darüber hinaus zur Eigenart von ›essentially contested concepts‹, dass sie stets gegen andere Definitionen definiert und gegen andere Verwendungsweisen verwendet werden und dass dies den Beteiligten auch bewusst ist.35 »[T]o use an essentially contested concept«, auf diese bündige Formel bringt Gallie seine Überlegungen, »means to use it both aggressively and defensively.«36 Obwohl der Terminus ›essentially contested concept‹ und sein analytischer Nutzen selbst nicht unbestritten blieb,37 scheint er mir geeignet, die Beschaffenheit des unaufhörlichen Streits um die Frage, was denn eigentlich ›Religion‹ und auf welchem Wege diese sinnvoll zu bestimmen sei, zu benennen.38 ›Religion‹ als ein ›essentially contested concept‹ zu verstehen heißt, den Streit nicht als Zwischenstadium auf dem Weg zu einem noch herzustellenden wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Konsens zu begreifen, sondern als einen ›definitionspolitischen‹ Prozess, der die Schlüsselbedeutung des Umstrittenen für die gesellschaftliche Ordnung anzeigt und als solcher Gegenstand der Religionsforschung sein sollte. Es ist danach eine wichtige Aufgabe der Religionsforschung, die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse dessen, was Religion ist oder sein sollte, zu beobachten. Ist Religion ein ›essentially contested concept‹ 34 Gallie, Essentially Contested Concepts. 35 Gallie legt Wert darauf, dass sich dieser Streit trotz einiger Analogien von dem wissenschaftlichen Streit um Begriffe und Hypothesen doch deutlich unterscheidet, insofern im wissenschaftlichen Diskurs allgemein anerkannte Methoden der Wahrheitsfindung Entscheidungen zwischen konkurrierenden Hypothesen ermöglichen, so dass Begriffe und Hypothesen zumindest temporär – bis sie erneut widerlegt und durch leistungsfähigere ersetzt werden – allgemeine Geltung beanspruchen können; vgl. Gallie, Essentially Contested Concepts, 178 f. 36 Ebd., 172. 37 Vgl. aus der Diskussion: Mason, On Explaining Political Disagreement; Garver, Essentially Contested Concepts; außerdem Forst, Toleranz, 50 – 52. 38 In diese Richtung weisend, jedoch ohne Bezug auf Gallies Konzept: Beckford, The Politics of Defining Religion. Beckford bezieht sich hier ausdrücklich auf die im Kontext des Vorgangs der »juridification of everything« (29) zunehmend öffentlich debattierten Rechtskonflikte um Religion (in Großbritannien).
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im Sinne Gallies, so werden diese Prozesse zumindest so lange nicht zum Stillstand kommen, wie der Religion eine Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung zugemessen wird. An der Arbeit am Begriff ›Religion‹ sind viele beteiligt: Neben den professionellen Religionsdeutern in den verschiedenen mit Religion befassten Wissenschaften (Theologen, Religionssoziologen, -ethnologen, -historiker etc.) arbeiten auch Akteure aus Politik und Medien am semantischen Feld des Religiösen. Nicht zuletzt beteiligen sich an diesen Aushandlungsprozessen aber auch jene, die das religiöse Leben rechtlich regulieren bzw. für die Auslegung der (verfassungs)rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen das religiöse Leben sich entfalten kann, zuständig sind. Dieser zuletzt genannte Aspekt wird im Vordergrund der vorliegenden Studie stehen. Werfen wir dennoch zunächst einen Blick auf die anderen Arenen und Akteure der Arbeit am Begriff ›Religion‹. Eine privilegierte Arena für die öffentliche Aushandlung der Frage nach der Religion und ihrem Ort in der Gesellschaft ist seit jeher die Politik, und zwar die Politik im Doppelsinn: als (zivil)gesellschaftliches Ringen um konkurrierende Vorstellungen sozialer Ordnung ebenso wie als Organisation und Ausübung staatlicher Macht. Wie weit darf die Religion in die öffentliche Sphäre – in Staat und Gesellschaft – hineinragen? Welcher Status soll religiösen Gründen in politischen Entscheidungen zugestanden werden? Oder sind religiöse Wertbindungen im strengen Sinne privat zu halten und aus dem öffentlichen Streit um die richtige, gerechte und gute soziale Ordnung herauszuhalten? Wie ist mit der gezielten religiösen Einflussnahme auf umkämpfte Politikfelder wie die Sozial- und Familienpolitik, die Biopolitik oder auch die Bildungspolitik umzugehen? Soll und kann das religiöse Leben politisch-rechtlich reguliert werden und wie hat dies zu geschehen? Fragen wie diese werden von (zivil)gesellschaftlichen Akteuren und Interessengruppen, von Politikerinnen und Politikern, Parlamentariern, Regierungsmitgliedern, Ministerialbeamten und Angestellten in den öffentlichen Verwaltungen unterschiedlich beantwortet und immer wieder kontrovers debattiert, Entscheidungen werden getroffen und umgesetzt. So erarbeiten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, von staatlichen Organen eingesetzte Kommissionen Empfehlungen für den Umgang mit so genannten ›neuen Sekten und Psychogruppen‹39 oder mit muslimischen Mädchen und Frauen, die eine Kopfbedeckung tragen möchten bzw. ihren gesamten Körper verhüllen.40 Innenminister berufen Dialoginstanzen mit Vertreterinnen 39 Vgl. den Endbericht der vom Deutschen Bundestag im Mai 1996 eingesetzten EnqueteKommission ›Sogenannte Sekten und Psychogruppen‹ (Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10950 vom 9. 6. 1998). 40 Vgl. den Bericht der 2003 aus Anlass wiederholter Konflikte um die Kopfbedeckungen
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und Vertretern der Muslime in ihren Ländern ein;41 in Ethikkommissionen, die politische Entscheidungsträger beraten sollen, haben Theologinnen und Theologen eine gewichtige Stimme. Die Beispiele illustrieren: Politische Akteure haben mit Religion zu tun, sie kooperieren in vielfältiger Weise mit Repräsentanten der Religionsgemeinschaften, sie analysieren und vergleichen, formulieren politische Erwartungen an die Religionsgemeinschaften, nehmen Stellung und beziehen Partei, entscheiden, regulieren und verwalten religiöse Angelegenheiten. Unvermeidlich operieren sie dabei auch mit Begriffen und Vorstellungen von Religion. Sie nehmen Alltagsverständnisse von Religion auf, erzeugen aber auch neue Bilder des Religiösen, die in den politischen Religionsdiskurs sowie die allgemeinen gesellschaftlichen Deutungshorizonte und Praktiken zurückfließen und fortan mitbestimmen, wie sich Menschen ins Verhältnis zur Religion und zu den verschiedenen religiösen Formationen setzen, welche Handlungs- und Freiheitsräume sich ihnen öffnen. So gab beispielsweise Cem Özdemir, schwäbischer Grünen-Politiker mit türkischen Wurzeln, 1998 den Muslimen in Deutschland als politisches Ziel »die Herausbildung eines ›deutschen‹ Islam« vor und wusste auch zu präzisieren, welche muslimische Gruppierung diesem Ziel bereits am nächsten sei: »Unter den Aleviten«, so Özdemir, »gibt es sicherlich viele Leute, die für die gleichen Werte stehen wie die deutsche Mehrheit, für Demokratie und Toleranz.«42 Der vormalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy erklärte kurz vor Weihnachten 2007 in einer Rede im Lateran, warum das laizitäre Frankreich auf die Religion im Allgemeinen und auf die Geistlichen im Besonderen angewiesen bleibe und malte dabei zugleich ein Bild der Religion als sprudelnder Quelle menschlichen Edelmuts: »En donnant en France et dans le monde le t¦moignage d’une vie donn¦e aux autres et combl¦e par l’exp¦rience de Dieu, vous cr¦ez de l’esp¦rance et vous faites grandir des sentiments nobles.«43 Die katholische Theologin Annette Schavan, zum fraglichen Zeitpunkt Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg, erklärte 1998 der deutschen Öffentlichkeit die Bedeutung der Kopfbedeckung im Islam: Erstens gehört das Kopftuch nicht zu den religiösen Pflichten einer islamischen Frau, deshalb benutzen weltweit die allermeisten muslimischen Frauen kein Kopftuch. Zweitens ist das Kopftuch ¢ und dies sagen uns selbst viele Islamwissenschaftler ¢
muslimischer Schülerinnen vom damaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac einberufenen Kommission zur Frage der Laizität in Frankreich: Commission de r¦flexion sur l’application du principe de lacit¦ dans la R¦publique. Rapport au Pr¦sident de la R¦publique, Paris, 11. 12. 2003. 41 Vgl. dazu Fn. 51 unten. 42 Vgl. Die Zeit, 12. 11. 1998. 43 Pr¦sidence de la R¦publique, Allocution, Rome, 20 d¦cembre 2007.
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nicht allein ein religiöses Symbol, sondern auch ein Zeichen kultureller und zivilisatorischer Abgrenzung.44
Diese willkürlich ausgewählten Äußerungen seitens politischer Verantwortungsträger illustrieren: Auch die Politik hat, nicht anders als die Religionsforschung, in Sachen Religion eine Doppelrolle. Die religiöse Lage wird nicht nur politisch beobachtet, reguliert und verwaltet, sondern auch gedeutet und so mittelbar von der Politik mit erzeugt. Die Politik kann dabei auf einen machtvollen Verstärker setzen: die Medien. In den massenmedial vernetzten Gesellschaften der Gegenwart fallen die verschiedenen Modi politischer Religionsdiskurse und religionspolitischer Handlungen auf einen medial verstärkten Resonanzboden,45 der ihre Wirkung auf die religiöse Lage steigern kann. Die Rolle der Medien wäre jedoch nur unzureichend ins Auge gefasst, wenn man die Medien lediglich als Resonanzraum der vielfältigen Stimmen aus Politik und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft begreifen würde. Medienleute haben vielmehr auch einen aktiven Part inne: Fernseh- und Rundfunkjournalisten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Politik- und Feuilleton-Redaktionen der Printmedien, Drehbuchautoren der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, Regisseure aus Kino und Fernsehen u. a.m. operieren nach den Regeln ihres einer eigenen Logik folgenden ›Funktionssystems‹.46 Diese Funktionslogik der Massenmedien bestimmt auch ihren Umgang mit religiösen Phänomenen. Religion wird in verschiedenen medialen Formaten thematisiert: in diversen Nachrichtenformaten, in Talkshows, Kultursendungen, aber auch im Unterhaltungsbereich – man denke nur an die erfolgreichen Pfarrer- und Schwesternserien im Fernsehen (von ›Pfarrer Braun‹ über ›Oh Gott, Herr Pfarrer‹ bis hin zu ›Um Himmels Willen‹) oder an Kinofilme über Martin Luther, Hildegard von Bingen, Mahatma Gandhi u. a. Religion wird als politischer Faktor ebenso wie als kulturelles Event präsentiert, sympathisierend ins Bild gerückt oder misstrauisch in Szene gesetzt, karikiert und ironisiert.47 Dabei werden Vorstellungen von (›guter‹ und ›schlechter‹) Religion erzeugt, die gesellschaftlich wirksam werden und sich als hintergründige Selbstverständlich-
44 Vgl. Die Zeit, 16. 7. 1998. 45 Vgl. aus der umfangreichen Diskussion: Bailey/Redden (Hg.), Mediating faiths; am Beispiel des Islams: Hafez, Mediengesellschaft; ders./Richter, Islambild; am Beispiel des Weltjugendtages: Hepp/Krönert, Medien, Event und Religion. 46 Vgl. Luhmann, Massenmedien. 47 Dass dabei zuweilen die Rahmen des für Glaubende Erträglichen überschritten werden, hat besonders anschaulich der so genannte ›Karikaturenstreit‹ gezeigt; vgl. nur Klausen, The Cartoons; auch Langbein, Karikaturenstreit. Ob auch die Grenze des rechtlich Zulässigen überschritten oder lediglich das Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt wurde, ist strittig; vgl. aus der Debatte: Grimm, Nach dem Karikaturenstreit; Isensee (Hg.), Religionsbeschimpfung; von Ungern-Sternberg, Blasphemieverbot.
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Einleitung
keiten im Bewusstsein und in der Lebensführung der Menschen, Glaubender ebenso wie religiös Unbeteiligter, gleichsam ›einnisten‹. Es hieße jedoch, das Verhältnis von Religion und Medien zu verkürzen, stellte man die Religionen lediglich als medial Beobachtete dar. Die Religionsgemeinschaften selbst sind vielmehr auch aktive Nutzer der jeweils neuen Medientechnologien; sie haben sich im Umgang mit den Massenmedien professionalisiert und verstanden, diese in ihren Dienst zu stellen.48 So gestalten sie das Bild von (ihrer) Religion, das die öffentliche Wahrnehmung steuert, durchaus mit, allerdings um den Preis, sich den gängigen Medienformaten und Funktionslogiken anzupassen. So wie die Politik das religiöse Leben nicht lediglich reguliert und verwaltet, sondern, indem sie das tut, am gesellschaftlich wirksamen Begriff von Religion arbeitet und dadurch die religiöse Lage mit formt, so beschränkt sich folglich auch die Rolle der Medien nicht aufs Berichten und ›InSzene-Setzen‹ des religiösen Lebens. Auch die Medien lassen sich als eine Arena beschreiben, in der Bilder und Begriffe von Religion hervorgebracht werden, die gesellschaftlich wirksam werden und auf die religionskulturellen Befindlichkeiten Einfluss nehmen.49 Will man, wie es Tenbrucks Anliegen war, das Aufgabenfeld einer Religionsforschung abstecken, die sich den kritischen Status ihres Gegenstandbereichs bewusst hält, wird man deshalb nicht nur die formative Kraft der Religionsforschung selbst, sondern darüber hinaus auch die anderer gesellschaftlicher Instanzen, wie Politik und Medien, mit berücksichtigen müssen. In der vorliegenden Arbeit wird die Aufmerksamkeit nun auf eine weitere Arena gelenkt, in der ebenfalls mit erheblichem Einfluss auf die religiöse Lage am Begriff der ›Religion‹ gearbeitet wird: das Recht. Denn auch zwischen Recht und Religion gibt es ein enges Beziehungsgeflecht, das dem ähnelt, was Tenbruck für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion behauptet hat: Wo immer das Recht das religiöse Leben reguliert, da reguliert es eine Lage, die es selbst mit erzeugt hat.50 Rechtliche Bedingungen sind Teil der gesellschaftlichen Realität, doch bringen sie diese Realität – auch die religionskulturelle Realität – zugleich selbst mit hervor. Die Produktivität des Rechts auf dem Gebiet der Religionskultur wird in der 48 Vgl. Bösch/Hölscher (Hg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit; Clark, Kulturkampf und europäische Moderne (jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). 49 Diesem Zusammenhang nachzugehen, wäre auch im Hinblick auf den seit der Jahrtausendwende in intellektuelle Mode geratenen Topos von der ›Wiederkehr der Götter‹ (vgl. stellvertretend für eine ganze Reihe von Titeln das gleichnamige Buch von Graf, Wiederkehr der Götter), der sich erheblicher medialer Resonanz erfreut, allerdings in krassem Widerspruch zu den empirischen Befunden steht (vgl. nur Pollack, Rückkehr des Religiösen?), ein interessantes Unterfangen. Wird die mediale Inszenierung etwa zu einer ›self-fulfilling prophecy‹? 50 Vgl. Fn. 28 und Fn. 29 oben.
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jüngeren Forschung nicht zuletzt durch die Befunde vergleichender Studien über den Institutionalisierungsprozess des Islams in Westeuropa belegt. Danach wird der Modus der Inkorporation des Islams in die verschiedenartigen religionskulturellen Landschaften Westeuropas maßgeblich durch die je spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Staaten gesteuert. Im deutsch-französischen Vergleich lässt sich dies gut zeigen: Vor dem Hintergrund unterschiedlicher rechtlicher Konstellationen und einer historisch anders konfigurierten Rechtskultur erheben Musliminnen und Muslime in Frankreich ganz andere Anerkennungsforderungen als ihre Glaubensschwestern und -brüder in Deutschland und optieren für andere Formen ihrer symbolischen und organisatorischen Inkorporation. So ist ein Streit um die Frage, ob muslimische Lehrerinnen im Unterricht eine Kopfbedeckung tragen dürfen, im laizitären Frankreich ebenso undenkbar wie eine Auseinandersetzung um einen öffentlich-rechtlichen Status islamischer Organisationen. Umgekehrt wird in Deutschland anders als in Frankreich (bisher) nicht ernstlich erwogen, muslimischen Schülerinnen das Tragen einer Kopfbedeckung zu verwehren, während die Diskussion um die Anerkennung islamischer Organisationen als Körperschaften öffentlichen Rechts in vollem Gange ist. Auch seitens politisch Verantwortlicher wird ebenfalls sehr unterschiedlich agiert: Während das französische Innenministerium sich seit den 1980er Jahren aktiv im Organisationsprozess der französischen Muslime engagiert, verhält sich der deutsche Staat in dieser Hinsicht eher zurückhaltend, ist doch die Frage der Organisationsform nach deutschem Verfassungsrecht eine genuin religiöse und deshalb innere Angelegenheit der Religionsgemeinschaften selbst.51 In diesem Sinne gilt: »[E] very society gets the brand of Islam it deserves«.52 51 1988 berief der damalige Innenminister Pierre Joxe den so genannten Conseil de R¦flexion sur l’Islam en France (CORIF) ein, um Wege zur Schaffung einer landesweiten Repräsentationsinstanz der Muslime auszuloten. Die Initiative wurde von den nachfolgenden Innenministern trotz der Interessenkonflikte und Widerstände seitens verschiedener islamischer Organisationen fortgeführt. 2003 wurde unter dem massiven Druck des Innenministers Nicolas Sarkozy der Conseil FranÅais du Culte Musulman (CFCM) mit 25 regionalen Gliederungen (Conseils R¦gionaux du Culte Musulman: CRCM) gegründet, dessen Aufgabenbereich vom Moscheebau über die Ausbildung von Imamen und die Entsendung von Krankenhaus-, Gefängnis- und Schulseelsorgern, die Überwachung von Schächtungen und die Organisation religiöser Feste bis hin zur Verwaltung islamischer Friedhofsdistrikte reicht; zum CFCM vgl. aus der umfangreichen Literatur: die Sondernummer von French Politics, Culture & Society 23/1, 2005 sowie Amiraux, CFCM. In Deutschland rief Wolfgang Schäuble in seiner damaligen Funktion als Innenminister im September 2006 die Deutsche Islam Konferenz (DIK) ins Leben, die jedoch nicht als Plattform zur Organisation der Muslime angelegt ist, sondern als Dialoginstanz zwischen dem Staat und den Muslimen in Deutschland; zur DIK vgl. die Homepage http://www.deutsche-islam-konferenz.de [9. 1. 2012] mit zahlreichen Dokumenten. Zu den deutsch-französischen Unterschieden im Institutionalisierungsprozess vgl. auch Reuter, Religionskulturen ›mit Migrationshintergrund‹.
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Einleitung
Die religiöse Lage ist also immer schon rechtlich eingebettet. In Rechtsstreitigkeiten um Religion sind Richterinnen und Richter deshalb immer in der paradoxen Situation, Konflikte entscheiden zu müssen, die das geltende Recht und die vorgängige Rechtsprechung selbst mit hervorgebracht haben. Und was retrospektiv gilt, verliert in diesem Fall auch prospektiv nicht seine Geltung: Stets ebnen rechtliche Bestimmungen und Entscheidungen (im Verein mit denjenigen Bestimmungen, die sich in wissenschaftlichen, politischen, medialen Diskurszusammenhängen durchsetzen) auch die Pfade, auf denen das religiöse Leben fortschreitet und symbolische sowie organisatorische Gestalt annimmt. In Gesellschaften, die sich maßgeblich über das Recht regulieren und Freiheitsräume (verfassungs)rechtlich einhegen, nehmen die rechtlichen Bestimmungen geradezu eine Schlüsselstellung in der Regulierung der öffentlichen Präsenz von Religion ein.53 Einige wenige Rechtsstreitigkeiten mögen illustrieren, dass dabei immer auch verhandelt wird, was Religion denn überhaupt ›ist‹: So stellt sich nicht nur der Religionsforschung, sondern auch juristisch beispielsweise die Frage, ob die Scientology Church, wie sie bekanntlich selbst für sich in Anspruch nimmt und wie es etwa in den USA auch unstrittig ist, eine Religionsgemeinschaft ist oder nicht vielmehr ein Wirtschaftsunternehmen. Kann sie sich also etwa in arbeitsrechtlichen Konflikten auf ein vom allgemeinen Recht abweichendes, religiös begründetes Dienstrecht berufen, wie es den christlichen Kirchen im Rahmen ihres mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit zusammenhängenden Selbstbestimmungsrechts zugestanden wird?54 Ein zweites Beispiel: Ist das Schächten bzw. das Verbot, geschlachtetes Fleisch zu essen, wie es Muslime und Juden kennen, eine genuin religiöse Vorschrift? Kann also ein Dispens vom Tierschutzgesetz mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit begründet werden?55 Weiter : Was motiviert muslimische Mädchen und Frauen, ihren Kopf oder auch ihren gesamten Körper zu verhüllen? Ist die Bedeckung religiös motiviert oder identitätspolitischer Ausdruck kultureller Abschottung 52 Rath/Penninx/Groenendijk/Meier, Western Europe and its Islam, 287. Die Autoren hatten allerdings nicht in erster Linie die jeweiligen rechtlichen Konstellationen im Sinn, sondern in einem allgemeineren Sinne darauf aufmerksam gemacht, dass die im europäischen Vergleich festzustellenden Unterschiede im Institutionalisierungsprozess des Islams nicht in erster Linie auf die unterschiedliche Herkunft der Muslime oder verschiedene religiöse Vorstellungen zurückgehen, sondern in den Aufnahmeländern selbst bzw. in einem vielschichtigen konfliktiven Interaktionsprozess mit den Institutionen der jeweiligen Aufnahmegesellschaft zu suchen sind. Ähnlich auch Fetzer/Soper, Muslims and the State. 53 Vgl. dazu unten die Kapitel 2 und 3. 54 Siehe die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts: BAG 5 AZB 21/94, Beschluss vom 22. 3. 1995. Allgemein zur Scientology Church und mit Bezug auf deren unterschiedliche politischrechtliche und gesellschaftliche Akzeptanz in Deutschland und den USA vgl. Fifka/Sykora, Scientology, insbesondere 15 – 39 und 89 – 135. 55 Vgl. mit zahlreichen weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung: Lavi, Der Islam zwischen christlicher Tradition und jüdischer Geschichte; Schwarz, Spannungsverhältnis.
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von einer christlich-säkularisierten gesellschaftlichen Umwelt?56 Und schließlich: Wie steht es um die Bedeutung des Kreuzes bzw. Kruzifixes: Ist es ein genuin christliches und deshalb exklusives Bekenntnissymbol oder nicht vielmehr ein seiner christlichen Gehalte entleertes und deshalb allgemein zustimmungsfähiges Symbol der säkularisierten Freiheits- und Gleichheitsordnung, auf die sich das ›Abendland‹ im Laufe seiner religionskulturellen Konfliktgeschichte verpflichtet hat?57 Die Fallbeispiele deuten an, was in der vorliegenden Untersuchung anhand ausgewählter Rechtskonflikte um Religion in Deutschland expliziert werden soll: Die Rechtsprechung in Konflikten um Religion kann nicht umhin, mit einem Begriff von Religion zu operieren. Richterinnen und Richter haben im Einzelfall zu verfügen, was Religion ist – und ebenso, was nicht Religion ist. Wie auch immer sie Religion im jeweils gegebenen Konfliktfall definieren – ihre Entscheidung bestimmt den Ausgang des Verfahrens und wirkt auf die religionskulturelle Lage zurück. Die begriffliche Einhegung von Religion durch das Recht ist deshalb eine höchst politische Angelegenheit: ein Kampf um Deutungsmacht, aber nicht allein um die Macht, die soziale Wirklichkeit zu deuten, sondern darum, den sozialen Raum mittels dieser Deutung auch zu gestalten.58 Das Recht öffnet und begrenzt Freiheitsräume für religiöse Lebensführung, es nimmt Einfluss auf die Sichtbarkeit des Religiösen im öffentlichen Raum und auf die Möglichkeiten, religiöse Wertbindungen in den Auseinandersetzungen um die Gestaltung der sozialen Ordnung geltend zu machen. Dieser Prozess verdankt seine Dynamik nicht zuletzt dem Umstand, dass die rechtlichen Bestimmungen überwiegend deutungsoffen sind. Sie bedürfen folglich der Auslegung im Einzelfall. So wird man etwa im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eine Definition von Religion vergeblich suchen. Die verfassungsrechtlichen Garantien zeichnen sich in diesem Punkt, wie der Verfassungsrechtler Hasso Hofmann formuliert, durch »Aussparungen« aus.59 Diese »Aussparungen« delegieren die hermeneutische Herausforderung, Religion – und damit die Grenzen des Schutzbereichs der Religionsfreiheit – zu bestimmen, an die Rechtsprechung. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich dabei das Prinzip herauskristallisiert, sich am Selbstverständnis der Betroffenen zu orientieren. Maßgeblich hierfür war die Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht 1968 im Streit um die von der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) ins Leben gerufene bundesweite ›Aktion Rumpelkammer‹ traf, die an dieser Stelle kurz in Erinnerung gerufen 56 57 58 59
Vgl. dazu unten Kapitel 5. Vgl. dazu unten Kapitel 4. Dazu auch Beckford, The politics of defining Religion. Hofmann, Recht, Politik und Religion, 378. Damit öffnet die Verfassung Hofmann zufolge der Religion »einen weiten Bereich gesellschaftlich-politischer Wirksamkeit« (ebd., 379).
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Einleitung
werden soll: Die KLJB hatte Anfang 1965 bundesweit Altkleidersammlungen durchgeführt, mit deren Erlös katholische Jugendbewegungen in Ländern der ›Dritten Welt‹ unterstützt wurden. Gegen diese Aktion erhob ein gewerblicher Altkleidersammler Klage, dessen Betrieb durch die Aktion zeitweise zum Erliegen kam; seine Beschwerde bezog sich auf die Art der Werbung für die von ehrenamtlichen jugendlichen Helfern durchgeführte Aktion: Beworben wurde die Aktion nämlich nicht nur durch Pressemitteilungen; darüber hinaus wurde im gottesdienstlichen Rahmen zur Unterstützung der Altkleidersammlung aufgerufen. Hierin sah der Kläger eine unsittliche Verschaffung von Wettbewerbsvorteilen, die zu einer Verzerrung des freien Marktes geführt habe. Das mit der Angelegenheit befasste Landgericht Düsseldorf stimmte dieser Argumentation zu. Es befand, die KLJB habe »sittenwidrig« gehandelt, insofern sie sich die institutionelle Bindung an die Katholische Kirche für Werbezwecke zunutze gemacht habe. Die seelsorgliche Ausstrahlungskraft der Kanzelverkündigung sei missbraucht worden, um sich einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, der den Konkurrenten nicht zur Verfügung gestanden habe. Auch die Gemeinnützigkeit der Aktion rechtfertige dieses Vorgehen nicht.60 Erst das Bundesverfassungsgericht gab der KLJB Recht. In der Begründung ihres Beschlusses berufen sich die Karlsruher Richter auf den religiösen Charakter der strittigen Sammlung; denn dieser sei gegeben, weil die Aktion das hierfür »entscheidende Kriterium« – »die Hergabe eines für mildtätige Zwecke bestimmten Opfers« – erfülle.61 Die ›Aktion Rumpelkammer‹, so befand das Gericht, sei deshalb durch das in Art. 4 Abs. 2 GG garantierte Recht auf freie Ausübung der Religion geschützt. Die über den konkreten Rechtsstreit hinausgehende Bedeutung dieses Beschlusses liegt in den Beschlussgründen: Die Richter führen darin aus, wie im Einzelfall zu entscheiden sei, was als Ausübung von Religion zu gelten habe. Sie erläutern, bei der Klärung dieser Frage dürfe das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben. […] Wo […] in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetzt, würde der Staat die den Kirchen, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit und ihre Selbständigkeit in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde.62
60 Vgl. Landgericht Düsseldorf 11 b S 215/65, Urteil vom 16. 3. 1966. 61 BVerfG 1 BvR 241/66, Beschluss vom 16. 10. 1968, 28. 62 Ebd., 25.
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Drei Jahre später bestätigten die Karlsruher Richter diese Linie einer extensiven Auslegung des Grundrechts auf Religionsfreiheit in ihrer Entscheidung im so genannten ›Gesundbeter‹-Fall: Dieses umfasse »das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln.« Und die Richter ergänzten: Dabei sind nicht nur Überzeugungen, die auf imperativen Glaubenssätzen beruhen, durch die Glaubensfreiheit geschützt. Vielmehr umspannt sie auch religiöse Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine ausschließlich religiöse Reaktion zwar nicht zwingend fordern, diese Reaktion aber für das beste und adäquate Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen.63
Die verfassungsrechtliche Entscheidung, das religiöse Selbstverständnis bei der Auslegung des Grundrechts auf Religionsfreiheit maßgeblich mit zu berücksichtigen, löste nicht nur positive Resonanz aus, sondern provozierte auch Widerspruch. Kritiker fürchteten und fürchten bis heute, die Schutzbereichsdefinition werde damit der Beliebigkeit preisgegeben. Die kritischen Stimmen wurden über die Jahre in dem Maße lauter, in dem sich die religionskulturelle Landschaft wandelte. Denn die Konfrontation mit unbekannten religiösen Lebensformen – namentlich mit islamischen Praktiken – hat zu einer Verunsicherung hinsichtlich dessen geführt, was als ›Religion‹ und als ›religiös‹ motivierte Lebensführung im Sinne der grundrechtlichen Gewährleistung zu gelten habe, und das Misstrauen gegenüber einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Freiheitsschutzes wachsen lassen.64 Denn wenn schon strittig ist, was in den Bereich der (historisch immerhin mehr oder minder vertrauten) christlichen Lebensführung fällt – um wie viel problematischer erweist sich dies dann im Hinblick auf die religiöse Lebensführung von Musliminnen und Muslimen? Der bereits angesprochene Konflikt um das Schächten illustriert dies augenfällig. Nun haben die Karlsruher Richter ja allerdings nicht entschieden, dass das religiöse Selbstverständnis zum unhinterfragten Maßstab der richterlichen 63 BVerfG 1 BvR 387/65, Beschluß vom 19. 10. 1971, 21. In dem Fall ging es um die Klage eines Mannes gegen seine Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung an seine Frau, die nach der Geburt eines Kindes unter akutem Blutverlust litt, aber (bei vollem Bewusstsein) den ärztlichen Rat ablehnte, sich ins Krankenhaus zu begeben; der Ehemann unterließ es, seine Frau gegen ihren Willen in ärztliche Behandlung zu geben; die Ehefrau starb. Die Ehepartner gehörten beide dem Evangelischen Brüderverein an und machten für ihre Entscheidung religiöse Beweggründe geltend. Das Bundesverfassungsgericht hob die Verurteilung des Ehemannes wegen unterlassener Hilfeleistung unter Verweis auf die Religionsfreiheit auf. 64 Zur Diskussion vgl. Heinig/Morlok, Von Schafen und Kopftüchern; Walter, Religionsverfassungsrecht, 494 – 536. Für eine weite Auslegung des Schutzbereichs nach dem Selbstverständnis-Kriterium: Morlok, Selbstverständnis; für eine restriktivere Auslegung wirbt: Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?. Stellvertretend für die Kritiker, die für eine strengere Begrenzung des Schutzbereichs argumentieren: Janz/Rademacher, Islam und Religionsfreiheit.
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Einleitung
Entscheidung zu machen sei. Das Selbstverständnis der Glaubenden ist vielmehr einer, wie es in der rechtswissenschaftlichen Diskussion heißt, ›Plausibilitätsprüfung‹ zu unterziehen.65 Das heißt: Glaubende, die das Recht auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen und gegebenenfalls auch einklagen wollen, müssen plausibel machen, dass die Lebensführungen und Vorstellungen, für die sie Freiheitsräume beanspruchen, religiöse Lebensführungen und Vorstellungen sind – religiös im Sinne dessen, was im säkularen Rechtsstaat als Religion und deshalb als grundrechtlich geschützte Anschauung oder Praxis gilt. Die letzte Entscheidung hierüber obliegt also den Richterinnen und Richtern, die in religiös motivierten verfassungsrechtlichen, aber auch in verwaltungs- oder arbeitsrechtlichen Streitfällen zu entscheiden haben. Wie auch immer sie entscheiden: Indem sie es tun, stecken sie das semantische Feld des Religiösen ab. Und eben dies macht Rechtskonflikte um Religion zu einem eminent wichtigen Arbeitsfeld der Religionsforschung: Diese Konflikte sind Ereignisse, bei denen konkurrierende Bestimmungen dessen, was Religion ist und was sie sein soll, verhandelt und entschieden werden; in ihrem Verlauf greifen die Streitparteien ebenso wie die Richterinnen und Richter auf religiöse Selbstverständnisse sowie auf allgemeine gesellschaftlich gängige Vorstellungen von Religion zurück, stabilisieren diese oder tragen zu ihrem Wandel bei. So lagern sich Vorstellungen dessen, was Religion ist, als hintergründige Gewissheiten in der gesellschaftlichen Lebenswelt ab; von hier aus sickern sie auch in das Selbstverständnis und die Lebensführung religiöser Akteure ein. So wird in den Rechtskonflikten um Religion nicht allein das semantische Feld des Religiösen abgesteckt – abgesteckt wird vielmehr das Möglichkeitsfeld legitimer religiöser Lebensdeutung und Lebensführung insgesamt.66 Indem das Recht Begriffe von Religion prägt, die gesellschaftlich wirksam werden, bestimmt es mit, ob und in welcher Weise Menschen ihre Erfahrungen und Vorstellungen, ihr eigenes Handeln und das Handeln anderer als religiöse(s) deuten, kommunizieren und institutionalisieren (können). Das Recht nimmt also Einfluss auf die religiöse Lage, und so hat es, wenn es in Sachen Religion entscheidet, stets auch mit seinen eigenen Wirkungen auf diese Lage zu tun.67 65 Vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht, 508 f mit weiteren Nachweisen in Fn. 74 ebd. 66 Vgl. dazu unten Kapitel 3.2. 67 In der Religionsforschung sind die Beziehungen von Religion und Recht lange vernachlässigt oder lediglich einseitig die Einflüsse der Religion auf das Recht untersucht worden. Das Recht als Faktor im religiösen Feld geriet kaum ins Blickfeld; vgl. jedoch wegweisend: Sullivan, Paying the Words Extra; dies., Impossibility ; dies., Neutralizing Religion; Kippenberg/Schuppert (Hg.), Die verrechtlichte Religion; auch: Kippenberg/von Stuckrad, Religionswissenschaft, 103 – 114, die das Recht zu einem eigenständigen Themenfeld der Religionsforschung erklären. Vgl. auch die Beiträge in dem Band Klinkhammer/Frick (Hg.), Religionen und Recht, der jedoch (religionspolitisch motiviert) den Fokus auf die rechtlichen Bedingungen für die politische Integration (fremdkultureller) Religionen legt, wodurch
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Zur Zielsetzung und zum Aufbau der Arbeit
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Mit der vorliegenden Arbeit kann und soll deshalb nicht die Absicht verfolgt werden, den zahllosen Versuchen, Religion begrifflich adäquat zu erfassen, einen weiteren Definitionsvorschlag zur Seite zu stellen. Das Anliegen ist vielmehr, am Beispiel ausgewählter Rechtsstreitigkeiten um Religion in Deutschland ein spezifisches Genre der ›definitionspolitischen‹ Auseinandersetzungen um die Frage, was Religion ist oder sein sollte, in den Blick zu nehmen: Es geht darum, rechtliche Religionsdefinitionen in actu – im Entscheidungsprozess jüngerer religionsrechtlicher Konflikte in der Bundesrepublik Deutschland sowie ihrer öffentlichen Resonanz – zu beobachten und die religionspolitischen Dynamiken zu erörtern, die durch diese Arbeiten am Begriff Religion als einem »essentially contested concept« im Sinne Gallies in Gang gesetzt werden.
Zur Zielsetzung und zum Aufbau der Arbeit Die folgende Untersuchung konzentriert sich folglich auf die ›definitionspolitischen‹ Aspekte des rechtlichen Umgangs mit Religion in Deutschland, so wie sie sich in ausgewählten Rechtskonflikten beobachten lassen. Nun heißt ›Definition‹ bekanntlich ›Grenzziehung‹. Mit jeder Grenzziehung wird aber nicht nur etwas eingegrenzt, sondern zugleich anderes ausgegrenzt. Grenzziehungen bergen deshalb konfliktives Potential. Grenzen – auch begriffliche Grenzen – sind vielfach umkämpft. Dies gilt auch und in beachtlichem Maße für die Religion und die rechtlichen Bemühungen, Religion begrifflich einzuhegen. In der vorliegenden Untersuchung werden Rechtskonflikte um Religion deshalb als Grenzarbeiten, als Grenzkämpfe um das religiöse Feld untersucht. Konzeptuell schließe ich dabei an Pierre Bourdieus Theorie sozialer Felder an, im Besonderen an seine Studien zum religiösen Feld. Zu Beginn des ersten Teils der Arbeit, der systematischen Erwägungen zum Thema Recht und Religion gewidmet ist, werden deshalb zunächst deren Grundzüge rekonstruiert (1.). Der Zugang erfolgt in engem Bezug auf Bourdieus Relektüre der religionssoziologischen Erörterungen Max Webers, deren Studium Bourdieus feldtheoretische Überlegungen maßgeblich beeinflusst hat.68 Der Rückgriff auf Bourdieu erfolgt hier jedoch ausdrücklich nicht in der Absicht, durch eine Analyse der symbolischen Kämpfe der verschiedenen Akteure des religiösen Feldes in erster Linie die Binnenlogik des religiösen Feldes zu rekonstruieren, wie es für andere Felder der Blick auf die Frage, wie das Recht in die Binnenstruktur des religiösen Feldes eingreift und auf religiöse Selbstdeutungsprozesse sowie die Organisation des religiösen Lebens Einfluss nimmt, mitunter verstellt wird. 68 Dies gilt insbesondere für den religionssoziologischen Teil aus Wirtschaft und Gesellschaft, der in der kritischen Edition der Werke Webers als eigenständiger Band unter dem Titel Religiöse Gemeinschaften erschienen ist (Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWS I/22 – 2); vgl. dazu Fn. 17 oben.
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Einleitung
auf inzwischen gleichsam ›klassische‹ Weise vorexerziert wurde.69 Vielmehr wird der Fokus der vorliegenden Arbeit auf den Auseinandersetzungen um die Außengrenzen des religiösen Feldes liegen, das heißt auf der Frage, welches Verhältnis sich in den beobachteten Rechtsstreitigkeiten um Religion zwischen dem religiösen Feld und anderen Feldern einstellt. Damit wird eine Perspektive erweitert, die Bourdieu selbst zwar (namentlich in den werkgeschichtlich späteren Überlegungen zum Feld der Macht) angelegt, aber nur schwach entwickelt hat.70 Im Anschluss wird erörtert, wie das Recht im Zuge seines Aufstiegs zur leitenden Ordnungsinstanz der Gesellschaft auch zu einem bedeutenden Faktor im religiösen Feld wurde (2.). An diese historische Herleitung schließen sich Ausführungen zum heiklen Charakter des Rechts auf Religionsfreiheit im säkularisierten freiheitlichen Staat an; dieses Recht, so wird zu zeigen sein, mündet in ein Dilemma, das – insofern Religionsfreiheit nur gewährt werden kann, wenn man über einen Begriff dessen verfügt, was Religion denn eigentlich ist – unmittelbar mit der Definitionsproblematik von Religion zusammenhängt (3.). Im empirisch orientierten zweiten Teil der Arbeit werden drei ausgewählte deutsche Rechtsstreitigkeiten um Religion analysiert. Das Untersuchungsfeld wurde auf Deutschland begrenzt, weil Vergleiche von Religionsrechtskonflikten zwischen verschiedenen Verfassungsstaaten aufgrund der historisch gewachsenen heterogenen Rechtskulturen stets ›hinken‹. Symmetrische Vergleiche erscheinen aus diesem Grund kaum möglich; so mögen sich zwar die Konfliktgegenstände gleichen (man denke etwa an den ›Kopftuchstreit‹ in Deutschland und Frankreich,71 aber auch an die Debatten um den Status von Religion im schulischen Unterricht72), die Konfliktkonstellationen und -verläufe jedoch, ihre gesellschaftliche Wahrnehmung sowie ihre politische und rechtliche Bearbei69 Namentlich für das literarische Feld; dazu Bourdieu selbst: Die Regeln der Kunst; sowie aus der Vielzahl der Titel: Jurt, Das literarische Feld. 70 In seinen frühen Schriften entwickelt Bourdieu noch keinen Begriff vom Feld der Macht; der Begriff der Macht wird hier vielmehr mit der herrschenden Klasse assoziiert. In Der Staatsadel (frz. zuerst 1989) nimmt Bourdieu dann jedoch terminologische Weichenstellungen vor, die es ihm erlauben, die Außenbeziehungen der Felder analytisch in den Blick zu nehmen: Das Feld der Macht wird hier begrifflich als eine Sphäre konstruiert, in der die Relationen zwischen den verschiedenen sozialen Feldern ausgehandelt werden. Das Machtfeld steht folglich nicht neben den verschiedenen sozialen Feldern, sondern gleichsam über ihnen: Im Feld der Macht tragen Akteure aus den Feldern des Rechts und der Religion, der Politik, Kunst und Wirtschaft etc. Auseinandersetzungen über die Machtverhältnisse der Felder zueinander aus. Vgl. dazu neben Bourdieu, Staatsadel, auch ders./Wacquant, Reflexive Anthropologie, 140ff, 262 ff. 71 Vgl. zu den öffentlichen Debatten die zahlreichen Verweise unten in Kapitel 5. Ansätze für einen asymmetrischen Vergleich unter Einbeziehung der rechtlichen Auseinandersetzungen habe ich jedoch an anderer Stelle aufgezeigt; vgl. Reuter, Les deux Etats face leur diversit¦; dies., Kreuz und Kopftuch; dies., Religion in den europäischen Öffentlichkeiten. 72 Vgl. den ebf. ausdrücklich asymmetrischen deutsch-französischen Vergleich in: Reuter, Werte- und Ethikunterricht.
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tung unterscheiden sich in so erheblichem Umfang, dass allenfalls asymmetrische Vergleichlinien möglich erscheinen. Ansatzpunkte hierfür werden in den einzelnen Kapiteln erwähnt. Die fallbezogenen Analysen im zweiten Teil der Arbeit sollen exemplarisch die ›definitionspolitischen‹ Dynamiken um ›Wesen‹ und ›Funktion‹ des Religiösen aufzeigen, die im Ringen um das Recht auf Religionsfreiheit in Gang gesetzt werden. Zum Auftakt des zweiten Teils wird der Streit um das Schulkreuz behandelt, der die deutsche Öffentlichkeit im Spätsommer und Herbst 1995 beschäftigte (4.). Die öffentliche Kontroverse hatte einen mehrjährigen Vorlauf, der jedoch zunächst ohne nennenswerte Resonanz geblieben war. Erst als die im Mai 1995 gefällte Karlsruher Entscheidung, mit der die im bayerischen Schulgesetz vorgeschriebene Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in Unterrichtsräumen öffentlicher Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde, im August des Jahres durch eine schlichte Pressemitteilung publik wurde, schlugen die Wogen hoch. Empörung dominierte die Stimmung: Die gesellschaftlichpolitische Rolle des Bundesverfassungsgerichts wurde in Zweifel gezogen, ja es kam zu Aufrufen, u. a. seitens des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, Widerstand gegen die Entscheidung zu leisten. Aufgeregte, um den Fortbestand des ›christlichen Abendlandes‹ und die Pflege seines sozialmoralischen Erbes fürchtende bayerische Bürgerinnen und Bürger gingen zu Tausenden auf die Straße, immense Kruzifixe mit sich führend. In die allgemeine Empörung mischten sich gleichwohl auch, wenig vernehmbar, einige zustimmende Kommentare: Die Verfassungsrichter, so machten sie geltend, hätten dem Kreuz bzw. Kruzifix seine eigentliche Bedeutung zurückgegeben, die im Zuge der Auseinandersetzung selbst von den Bischöfen der beiden Kirchen verleugnet worden sei. In der Tat hatten die Karlsruher Richter argumentiert, die strittige gesetzliche Vorschrift sei deshalb verfassungswidrig, weil das Kreuz ein genuin christliches Bekenntnissymbol sei und nicht etwa ein jedweder konfessioneller Semantik entleertes Symbol des ›Abendlandes‹ und der historischen Genese des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates. Die knappen Ausführungen lassen erkennen: Im Zentrum der Kontroverse um das Schulkreuz stand die doppelte Frage, ob denn das Kreuz ein spezifisch religiöses Glaubenssymbol oder nicht vielmehr das ›Logo‹ einer allgemein konsensfähigen Zivilreligion sei und wie es der Staat als Schulträger mit der Religion halten solle. Wir haben es also mit einem ›definitionspolitischen‹ Streit um Religion par excellence zu tun. Dies gilt auch für den ›Kopftuchstreit‹, der anschließend erörtert wird (5.). Der rechtliche Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen begann 1998 und wurde von Beginn an von einer kritischen öffentlichen Kontroverse begleitet, die ihren Zenit aber erst fünf Jahre später, im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld und in spannungsvoller Erwartung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Herbst 2003 erreichte. Dass in diesem Streitfall die Debatte
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Einleitung
nicht erst in Reaktion auf die höchstrichterliche Beschlussfassung losbrach, dürfte auch mit einer in der Zwischenzeit erhöhten Sensibilisierung der bundesdeutschen Öffentlichkeit für Religionsfragen zusammenhängen. Im Fokus der Auseinandersetzungen um das Kopftuch stand auch hier die Frage, was denn das Kopftuch bedeute, ob es überhaupt ein religiöses Symbol und nicht vielmehr ein kultur-, ein identitätspolitisches Zeichen der Abgrenzung vom kulturchristlich imprägnierten Verfassungsstaat und seinem Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit (nicht zuletzt auch der Geschlechter) sei. Die Kontroversen um das Schulkreuz und das Kopftuch der Lehrerin gingen von Rechtskonflikten in westdeutschen Bundesländern aus und trugen auch deutlich das Signum der religionskulturellen Verhältnisse in der ›alten‹ Bundesrepublik. Die ganz andere religionskulturelle Lage im Osten Deutschlands scheint hingegen in zwei eng aufeinander bezogenen (und deshalb in einem zweigliedrigen Kapitel zusammenhängend untersuchten) Streitfällen aus Brandenburg und Berlin auf (6.1 und 6.2): In Brandenburg kam es 1995 zum Streit um die Einführung des Schulfaches ›Lebenskunde–Ethik–Religion(skunde)‹ (kurz: LER), das nach den Vorstellungen der Initiatoren vor allem der Reflexion von Wertbindungen und ethischen Haltungen dienen sollte. Die Evangelische Kirche, die sich zunächst an den konzeptionellen Planungen und auch an einem entsprechenden Schulversuch beteiligte, zog sich 1995 aus der Kooperation zurück und forderte fortan Seite an Seite mit der Katholischen Kirche die Einführung von konfessionell gebundenem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach neben LER; sie berief sich dabei auf die grundgesetzlichen Garantien, die nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Bundesgebiet auch in Brandenburg anzuwenden seien.73 Damit eskalierte der bis dahin weitgehend regional ausgetragene Streit; eine bundesweite Auseinandersetzung um den Sinn des Religionsunterrichts und seine grundrechtliche Absicherung entbrannte. Nach mehreren Jahren zähen Ringens ging der Streit vor das Bundesverfassungsgericht, das 2001 einen Schlichtungsvorschlag präsentierte, den die Konfliktparteien annahmen, so dass heute, ohne dass über die verfassungsrechtliche Lage abschließend entschieden worden wäre, Religionsunterricht faktisch als Wahlfach neben dem Fach LER
73 Es ging um die Frage der Geltung von Art. 7 Abs. 3 GG, nach dem Religionsunterricht in öffentlichen Schulen »ordentliches Lehrfach« ist und »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. Von dieser Regelung ausgenommen sind nach der so genannten ›Bremer Klausel‹ (Art. 141 GG) nur diejenigen Bundesländer, in denen am 1. 1. 1949 andere landesrechtliche Regelungen in Kraft waren. Dies galt in der ›alten‹ Bundesrepublik unstrittig für Bremen und Berlin. Nach der Vereinigung wurde diskutiert, ob es auch für die ›neuen‹ Bundesländer gelte; zur strittigen Sachlage vgl. unten Kapitel 6.1. Zum Wortlaut von Art. 7 Abs. 3 GG und Art. 141 GG siehe den Anhang dieser Arbeit.
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Zur Zielsetzung und zum Aufbau der Arbeit
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angeboten wird, ohne jedoch den Status eines ›ordentlichen Lehrfachs‹ erlangt zu haben. Die Gemüter beruhigten sich – bis kurze Zeit später in Berlin ein vergleichbarer Konflikt ausbrach: Ausgerechnet in der Stadt, die schon Ende des 19. Jahrhunderts als die unreligiöseste Stadt der Welt galt,74 setzte die 2006 beschlossene Einführung des Pflichtfachs ›Ethik‹ eine unerwartete Mobilisierung seitens der Befürworter eines konfessionsgebundenen Religionsunterrichts in Gang. Der von den Kirchen mitgetragene Widerstand mündete in einen Volksentscheid, in dem jedoch 2009 das neue Unterrichtsfach Ethik von einer großen Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner bestätigt wurde. Anders als in Brandenburg kam es im Berliner Streitfall angesichts der verfassungsrechtlichen Sonderlage der Hauptstadt in Fragen des Religionsunterrichts75 nicht zu einer verfassungsgerichtlichen Prüfung. Dennoch nahmen alle Streitparteien ständig Bezug auf die religions(verfassungs)rechtliche Lage. Insofern sie also selbst den Streit zwar nicht vor Gericht, aber doch in der Sprache des Rechts austrugen, kann auch in diesem Fall von einem Rechtskonflikt gesprochen werden. Im Streit um das Fach LER bzw. den Ethikunterricht und sein Verhältnis zum Religionsunterricht wurde scharf debattiert, mit welchem Recht die Religionen überhaupt Anspruch auf Präsenz in der Schule erheben. So wurde in der Brandenburger und Berliner Kontroverse die Frage debattiert, ob Religionen für die Gesellschaft überhaupt (noch) eine spezifische ›Leistung‹ erbringen (oder diese gerade nicht erbringen) und ob diese ›Leistung‹ auch von ›funktionalen Äquivalenten‹ erbracht werden darf und kann bzw. angesichts des Versagens der Religionen sogar erbracht werden muss. Warum ist die Wahl auf die vier genannten Konflikte gefallen? Die Leitfragen der vorliegenden Arbeit könnten auch an anderen Religionsstreitigkeiten exemplarisch erörtert werden, von denen es in den letzten Jahren einige gegeben hat: Man denke an den Streit um das Recht eines muslimischen Schülers in Berlin, außerhalb der Unterrichtszeiten, aber im Schulgebäude zu beten;76 auch
74 Vgl. McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, 26. 75 Vgl. die Erläuterungen in Fn. 73 oben; seit der Einigung 1990 gilt die ›Bremer Klausel‹ im gesamten Stadtgebiet Berlins (also auch im ehemaligen Ostteil); vgl. dazu Näheres unten in Kapitel 6.2. 76 Der Streit entfachte angeregte öffentliche Resonanz; vgl. nur die Kommentierungen in der FAZ vom 2. 10. 2009, 16. 8. 2010, im Tagesspiegel vom 4. 10. 2009 oder in der SZ vom 30. 9. 2009. Vgl. auch die gerichtlichen Entscheidungen in der Sache: VG Berlin VG 3 A 983.07, Beschluss vom 10. 3. 2008; VG Berlin VG 3 A 984.07, Urteil vom 29. 9. 2009 sowie die Revision durch das OVG Berlin-Brandenburg 3 B 29.09, Urteil vom 27. 5. 2010 und das Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das den Anspruch des Schülers im November 2011 zurückwies (vgl. BVerwG 6 C 20.10, Urteil vom 30. 11. 2011 sowie dazu BVerwG, Pressemitteilung Nr. 106/2011 vom 30. 11. 2011).
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Einleitung
auf den ›Karikaturenstreit‹,77 den Streit um den Bau von Minaretten bzw. Moscheen,78 die Auseinandersetzung um das Schächten79 oder den Kampf der Zeugen Jehovas um Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts im Land Berlin80 und auf andere Konflikte mehr könnte man verweisen. Doch die hier ausgewählten Religionskonflikte haben einige zentrale Gemeinsamkeiten, die die soeben genannten nicht aufweisen: Die drei bzw. vier Konflikte, die in dieser Arbeit untersucht werden, sind sämtlich in der öffentlichen Schule angesiedelt, die seit jeher ein besonders religionssensitiver Ort ist.81 Alle haben intensive öffentliche Kontroversen ausgelöst, die bis heute nachwirken und einen bleibenden Bezugspunkt in der religionspolitischen und -rechtlichen Auseinandersetzung bilden. Schließlich sind alle hier untersuchten Konflikte zu einem zumindest vorläufigen Abschluss gelangt, auch wenn die Konfliktanlässe selbst nicht aus der Welt geschafft wurden und mit Neuauflagen zu rechnen ist. Darüber hinaus war es ein Interesse, nicht ausschließlich Konflikte in den Blick zu nehmen, die durch die vergleichsweise junge Präsenz des Islams im öffentlichen Raum entstanden sind, sondern zu zeigen, dass auch der gesellschaftliche Ort des historisch vertrauten Christlichen strittig ist. Denn die zunächst nur widerwillig und zögerlich zur Kenntnis genommene Veränderung der religiösen Lage in Deutschland durch die Zuwanderung aus der islamisch geprägten Welt mag die Wahrnehmung des Problems, das dem Recht auf Religionsfreiheit innewohnt, beschleunigt haben – das Problem selbst ist jedoch ein grundsätzliches: Es ergibt sich nicht nur durch die Anwendung des geltenden (Verfassungs-)Rechts auf Religionen, die nicht im Horizont der hiesigen Rechtsentwicklung standen, sondern erweist sich auch im Umgang mit den religiösen Traditionen des eigenen historischen Erfahrungsraums. Der zweite Teil des Buches, dessen Herzstück die Fallanalysen bilden, schließt mit einem Zwischenfazit, in dem die Ergebnisse der Fallstudien mit Blick auf die allgemeinen religionskulturellen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen vergleichend bilanziert und schließlich auf die gemeinsame Leitfrage nach den verschiedenen ›Definitionspolitiken‹ von Religion zurückbezogen werden (7.). Wie bereits dargelegt, werden die Rechtsstreitigkeiten um Religion, deren Rekonstruktion im zweiten Teil erfolgt, in der vorliegenden Arbeit im konzeptuellen Anschluss an Pierre Bourdieu als definitionspolitische Auseinandersetzungen um die Grenzen des religiösen Feldes verstanden. Um bei der Rekon77 78 79 80 81
Vgl. Klausen, The Cartoons; Langbein, Karikaturenstreit; vgl. auch Fn. 47 oben. Vgl. Beinhauer-Köhler/Leggewie, Moscheen. Vgl. Lavi, Der Islam zwischen christlicher Tradition und jüdischer Geschichte. Vgl. Rink, Körperschaftsrechte der Zeugen Jehovas. Zur Schule als einem (konfliktbehafteten) »Erinnerungsort des Christentums« vgl.: Tenorth, Schule.
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Zur Zielsetzung und zum Aufbau der Arbeit
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struktion der einzelnen Streitfälle, ihrer jeweiligen Konfliktkonstellationen und -dynamiken den narrativen Fluss der Darstellung und Untersuchung zu erhalten, wird diese im ersten Teil der Arbeit entfaltete systematische Perspektive in den Fallanalysen des zweiten Teils jedoch nur zurückhaltend thematisiert. Sie wird allerdings im Schlusskapitel gezielt wieder aufgenommen und fortentwickelt. Hier werden die Ergebnisse der Fallstudien des zweiten Teils mit den im ersten Teil der Arbeit entworfenen allgemeinen Fragen des Verhältnisses von Recht und Religion verklammert. Dabei sollen zugleich auch Perspektiven entworfen werden, wie mit dem im ersten Teil skizzierten definitionspolitischen Dilemma umzugehen ist, dass der freiheitliche Verfassungsstaat Religionsfreiheit nur gewährleisten kann, wenn er mit bestimmten Vorstellungen von ›Wesen‹ und ›Funktion‹ der Religion operiert und also in das religiöse Selbstbestimmungsrecht eingreift. Dazu wird zunächst Bourdieus Konzept des religiösen Feldes wieder aufgenommen und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Fallstudien des zweiten Teils vorgeschlagen, das zweidimensionale Konzept des religiösen Feldes zu einem dreidimensionalen Konzept des religiösen Raumes fortzuentwickeln, in dem die Grenzen der Religion nicht wie auf einer Landkarte gleichsam plan abgesteckt sind, sondern das Religiöse auf verschiedenen Ebenen mit anderen sozialen Teilräumen verzahnt ist. Dieser Vorschlag kann insofern an Bourdieu anschließen, als dieser selbst bekanntlich angeregt hat, sich »die soziale Welt in Form eines – mehrdimensionalen – Raums« vorzustellen.82 Zugleich jedoch muss für das hier verfolgte Anliegen einer Erweiterung der Feldtheorie eine konzeptuelle Umstellung erfolgen. Denn Bourdieus Sozialraummodell ist im Wesentlichen als kritische (von Max Webers Konzept der ›Lebensführung‹ inspirierte) kultursoziologische Fortentwicklung marxistischer Klassentheorie angelegt.83 Eine Vermittlung mit seinem Konzept sozialer Felder bleibt aus. Für eine solche Vermittlung, die das Modell des sozialen Raums feldtheoretisch fruchtbar macht, wird im Schlussteil dieser Arbeit ein Vorschlag gemacht. Abschließend wird das weit bekannte und auch in den hier untersuchten Streitfällen stets kontrovers präsente sogenannte ›Diktum‹ Ernst-Wolfgang Böckenfördes, demzufolge der Verfassungsstaat von Voraussetzungen (auch religionskultureller Art) lebt, die er selbst nicht garantieren kann,84 einer Relektüre unterzogen und für eine gegenüber den herkömmlichen Ausdeutungen alternative Lesart dieses religionspolitisch fundamentalen Axioms plädiert. Der freiheitliche, säkularisierte Staat, so soll argumentiert werden, speist sich nicht 82 Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹, 9. 83 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Dazu instruktiv : Krais, Die moderne Gesellschaft, v. a. 90 ff. 84 Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112.
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Einleitung
aus einem im Vorpolitischen angesiedelten Reservoir gleichsam objektiv gegebener kultureller und nicht zuletzt auch religiöser Werte. Vielmehr zehrt er aus einer gleichsam ›regenerativen‹ Energiequelle: Der Staat lebt demnach aus Erfahrungen der Freiheit, die er selbst nicht garantieren, denen er aber, nicht zuletzt mit den Mitteln des Rechts, Räume öffnen kann. So soll in den Schlussüberlegungen auch der Blick für das performative Potential des Rechts, im vorliegenden Zusammenhang insbesondere des Rechts auf Religionsfreiheit, geschärft und damit eine Perspektive für den Umgang mit Rechtskonflikten um Religion erschlossen werden. Abschließend noch ein Wort zu den Quellen: Grundlage der Untersuchung bilden neben dem Wortlaut von Gesetzeswerken und Verfassungstexten vor allem jene Texte, die im Kontext von Rechtskonflikten um Religion entstehen. Dies sind vor allem (verfassungs)gerichtliche Entscheidungen und ihre zumeist ausführlichen Begründungen, aber auch Gesetzesinitiativen, Pressemitteilungen, ministerielle Stellungnahmen und Stellungnahmen von Schulverwaltungen. Darüber hinaus wird das öffentliche Echo, das diese Entscheidungen, Initiativen, Mitteilungen und Stellungnahmen auslösen, in der Untersuchung berücksichtigt; es werden also die kontroversen öffentlichen Erklärungen seitens der Konfliktparteien, Positionierungen vonseiten der politisch Verantwortlichen und seitens maßgeblicher zivilgesellschaftlicher Akteure, etwa seitens der Religionsgemeinschaften, aber auch Einschätzungen von wissenschaftlicher Seite sowie Reaktionen seitens der Medien (vor allem der Printmedien) in die Untersuchung einbezogen. Die Analyse dieser Texte soll aufzeigen, welche Akteure in welchen Momenten der jeweiligen Konfliktgeschichte die Arena betreten und wie sie sich positionieren: Wie wird Religion von wem definiert, welche Vorstellungen von Religion werden explizit oder implizit transportiert? Welche Konfliktlinien bilden sich dabei heraus und welche Bestimmungen von Religion setzen sich in den ›definitionspolitischen‹ Auseinandersetzungen – die hier als Grenzarbeiten, als Grenzkämpfe um das religiöse Feld konzipiert werden – als ›legitime‹ oder ›politisch korrekte‹ durch?
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Teil 1 Religion in der ver(grund)rechtlichten Gesellschaft. Systematische Grundüberlegungen
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1.
Zur Logik des religiösen Feldes. Überlegungen im Anschluss an Pierre Bourdieu
1.1
Im Dialog mit Max Weber: Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes
So unübersichtlich das Gesamtwerk Pierre Bourdieus angesichts seiner thematischen Breite und seines Umfangs ist,1 so überschaubar ist Bourdieus systematische Beschäftigung mit dem Thema Religion.2 Für den thematischen Zusammenhang der vorliegenden Arbeit sind insbesondere drei Texte von Belang. Die beiden ersten stammen aus dem Jahr 1971 und bilden gleichermaßen den Auftakt und das systematische ›Herzstück‹ der Religionssoziologie Bourdieus: Im Frühjahr 1971 publizierte der französische Soziologe unter dem Titel Une interpr¦tation de la th¦orie de la religion selon Max Weber eine kritische Relektüre der religionssoziologischen Schriften Max Webers, der er im Herbst desselben Jahres die Abhandlung GenÀse et structure du champ religieux folgen ließ, die auf die konzeptuellen Überlegungen der vorangehenden Studie aufbaut und diese fortführt.3 Der dritte Text geht auf einen Vortrag mit dem Titel Le champ religieux dans le champ de production symbolique zurück, den Bourdieu im Oktober 1982 in Straßburg hielt. Zunächst 1985 an wenig prominenter Stelle veröffentlicht, blieb der Straßburger Vortrag, in dem Bourdieu den schlei1 Vgl. nur die (auch Übersetzungen verzeichnende) online-Bibliographie: http://hyperbourdieu.jku.at [13. 2. 2014]. 2 Vgl. die Aufsatzsammlung Bourdieu, Religion, die 2009 erschien und alle wesentlichen Texte Bourdieus, die thematisch explizit auf Religion bezogen sind, in deutscher Sprache zugänglich macht; dazu die editorischen Anmerkungen von Stephan Egger und Franz Schultheis ebd., 252 – 256. ›Überschaubar‹ ist hier in quantitativer Hinsicht gemeint, nicht in werkbiographischer; die Schlüsselstellung der religionssoziologischen Arbeiten Bourdieus für die Entwicklung seines Gesamtwerks betont im genannten Band auch Egger, Pierre Bourdieus Religionssoziologie. 3 Vgl. Bourdieu, Une interpr¦tation; ders., GenÀse et structure. Beide Texte erschienen in deutscher Übersetzung zuerst im Jahr 2000 in dem Band Bourdieu, Das religiöse Feld; im Folgenden zitiere ich beide Texte nach dieser Edition: Bourdieu, Eine Interpretation der Religion; ders., Genese und Struktur.
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Zur Logik des religiösen Feldes
chenden, aber tiefen religiösen Wandel der 1960er bis 1980er Jahre als neuartige Auseinandersetzung um die Grenzen des Religiösen deutet, lange weitgehend unbeachtet.4 Ich werde mich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (1.2) näher mit den Fragen beschäftigen, die er aufwirft. Vorab sollen jedoch die Fundamente der Theorie des religiösen Feldes rekonstruiert werden, so wie Bourdieu sie in den beiden zuerst genannten Beiträgen aus dem Jahr 1971 in enger, doch stets kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber entwickelt hat.5 Bereits im ersten Satz seiner Studie Une interpr¦tation de la th¦orie de la religion selon Max Weber macht Bourdieu deutlich, warum er – übrigens entgegen der intellektuellen Mode der Zeit – Weber zum Ausgangspunkt seiner religionssoziologischen Konzeptualisierungen wählt:6 Weber, so Bourdieu, habe die Mittel bereit gestellt, die es erlaubten, der verbreiteten »simplizifizierenden 4 Vgl. Bourdieu, Le champ religieux; deutsch bisher nur in Auszügen unter dem Titel Die Auflösung des Religiösen (1992 in dem Sammelband Rede und Antwort sowie als Wiederaufnahme in Bourdieu, Religion, 243 – 249). 5 Thematisch ausdrücklich mit Religion beschäftigt sich Bourdieu außer in den genannten Texten auch noch in einigen anderen Beiträgen, die allerdings mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit weniger einschlägig sind: 1982 veröffentlichte Bourdieu in Ko-Autorschaft mit Monique de Saint Martin die Studie La sainte famille. L’¦piscopat franÅais dans le champ du pouvoir, eine Art empirische Bewährungsprobe der in den beiden frühen Texten aus dem Jahr 1971 erarbeiteten systematischen Ansätze am Beispiel der französischen Amtskirche (dt.: Bourdieu/Saint Martin, Die Heilige Familie; vgl. dazu auch die Erläuterungen bei Dianteill, Pierre Bourdieu et la religion, 12 f). Im Dezember 1982 sprach Bourdieu beim Kongress französischer Soziologen in Paris zum Thema Sociologues de la croyance et croyance des sociologues; in diesem Vortrag setzt er sich mit den seines Erachtens besonderen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten der Erforschung des Religiösen auseinander (dt. bisher nur in Auszügen: Bourdieu, Soziologie des Glaubens; der in deutscher Sprache zuerst 1992 in der Anthologie Rede und Antwort veröffentlichte Text fand Wiederaufnahme in: Bourdieu, Religion, 225 – 230). 1994 folgte mit Le rire des ¦vÞques (dt.: Das Lachen der Bischöfe; der Text wurde 2009 ebf. aufgenommen in: ders., Religion, 231 – 242) der letzte explizit religionssoziologische Text Bourdieus; in ideologiekritischem Gestus arbeitet Bourdieu hier heraus, in welcher Weise die Verschleierung der ökonomischen Logik des religiösen Geschehens zur Existenzbedingung des Religiösen gehört. Zur Beschäftigung Bourdieus mit Religion im weiteren Sinne vgl. Dianteill, Pierre Bourdieu et la religion, 7ff; auch Egger/ Schultheis, Editorische Anmerkungen; Verter, Spiritual Capital. 6 Max Weber wurde in Frankreich in den 1950er und 1960er Jahren v. a. von Raymond Aron rezipiert, dem Gegenspieler Jean-Paul Sartres auf der intellektuellen Bühne der Zeit, der sich allerdings überwiegend auf den neukantianischen Weber der Schriften zur Wissenschaftslehre bezog. Bourdieu, der in den 1960er Jahren Mitarbeiter von Aron war, stützte sich hingegen primär auf Webers Herrschaftssoziologie und auf dessen religionssoziologische Schriften. Neben der Protestantischen Ethik wurden für Bourdieu v. a. Webers Erörterungen über die Typen religiöser Vergemeinschaftung aus Wirtschaft und Gesellschaft (2005 ediert unter dem Titel Religiöse Gemeinschaften [MWS I/22 – 2]) relevant (vgl. Bourdieu, Mit Weber gegen Weber, 111ff). Zur zögerlichen Weber-Rezeption in Frankreich vgl.: Pollak, Max Weber en France; Hirschhorn, Max Weber et la sociologie franÅaise. Seinen eigenen Weg zu Weber, den er seit den späten 1950er Jahren zu lesen begann, schildert Bourdieu in dem Interview : Bourdieu, Mit Weber gegen Weber.
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Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes
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Alternative« zwischen »der Illusion absoluter Autonomie, welche die religiöse Botschaft als spontan hervorgebrachtes Produkt der Inspiration begreift«, und »der reduktionistischen Theorie, welche hier einfach den direkten Reflex ökonomischer Bedingungen sieht«, zu entgehen. Denn in seiner Religionssoziologie habe Weber gezeigt, was die beiden zueinander gegensätzlichen und dadurch komplementären Positionen gleichermaßen vergessen, nämlich die von spezialisierten Akteuren verrichtete religiöse Arbeit, die gegenüber externen, vor allem ökonomischen Zwängen relativ autonom und mit institutioneller oder nicht-institutioneller Macht versehen sind und mittels eines bestimmten Typus von Praktiken und Diskursen eine besondere Kategorie von Bedürfnissen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen befriedigen.7
Der Weber, den Bourdieu dabei vor Augen hat, ist nicht der vermeintlich ›spiritualistische‹ Weber der Protestantischen Ethik, die er Ende der 1950er Jahre in Algerien gelesen hatte.8 Es ist der Weber des Typen religiöser Vergemeinschaftung überschriebenen religionssoziologischen Abschnitts aus Wirtschaft und Gesellschaft.9 In Bourdieus Worten liefert Weber mit dieser Abhandlung »eine echte ›Politische Ökonomie der Religion‹, eine erstaunlich materialistische Sicht des Phänomens, ohne ihm seinen eigentümlich symbolischen Charakter zu nehmen.«10 Die Religionssoziologie Webers war deshalb für Bourdieu eine wichtige Quelle – und dies keineswegs nur für seine religionssoziologischen Sondierungen. Vielmehr hat die Lektüre Webers werkbiographisch entscheidend dazu beigetragen, Bourdieus Aufmerksamkeit auf die Ökonomie des Symbolischen auszurichten, die er so konsequent wie kaum ein anderer betrieben und von der Religion auf das gesamte sozialkulturelle Leben ausgedehnt hat.11 Weber, so wie Bourdieu ihn liest, hat das Religiöse als eine gesellschaftliche Wertsphäre ausgewiesen, die ihre Eigenart daraus bezieht, dass in ihr ein spezifischer Typ von ›Arbeit‹ verrichtet wird: »religiöse Arbeit«.12 Verrichtet wird diese religiöse Arbeit von Akteuren, die sich jeweils in einem Segment des religiösen Lebens spezialisiert haben. Weber unterscheidet bekanntlich idealtypisch Priester, Propheten und Zauberer.13 Auf je eigene Weise arbeiten diese 7 8 9 10 11
Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 11 [Hervorhebung im Original]. Zu diesem Leseerlebnis vgl. Bourdieu, Mit Weber gegen Weber, 111 f. 2005 neu ediert unter dem Titel Religiöse Gemeinschaften (MWS I/22 – 2). Bourdieu, Mit Weber gegen Weber, 115. Bourdieu stellt dies selbst in Rechnung; vgl. ebd., passim. Die Wirkweise der Ökonomie des Symbolischen entfaltet Bourdieu eindrücklich in seiner Studie der französischen Alltagskultur: ders., Die feinen Unterschiede. 12 Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 11. 13 Vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften (MWS/22 – 2), v. a. die jeweils einschlägigen Kapitel: 17 – 19, 27 – 35, 35 – 40.
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Zur Logik des religiösen Feldes
daran, ›Angebote‹ bereit zu stellen, die das religiöse Bedürfnis von Laien befriedigen, das Bourdieu ähnlich schlicht wie Weber als Bedürfnis nach ›Heil‹ bzw. ›Heilung‹ von Körper und Seele ausweist.14 Nun haben aber nicht alle Laien dieselbe Art von Heilsbedürfnis – die religiöse ›Nachfrage‹ ist vielmehr diversifiziert, und zwar ganz wesentlich in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Herkunft und Lage, von Einkommen, Bildung und Beruf der Betreffenden. Entsprechend bemühen sich die Heilsanbieter, Heilsangebote zu unterbreiten, die auf die verschiedenen Bedürfnisse abgestimmt sind. Priester, Propheten und Zauberer sind also Konkurrenten im religiösen Heilsbetrieb. Sie konkurrieren um die Nachfrage ihres Angebots seitens der Laien. Denn diese Nachfrage ist es, die ihnen Anerkennung und Legitimität im religiösen Feld verschafft. Ein probates Mittel in diesem Ringen um Legitimität ist Weber zufolge – und hierin folgt ihm Bourdieu – der Versuch, die anderen Heilsanbieter zu delegitimieren: So ist der Priester (der seine Legitimität anders als der Prophet und der Zauberer aus der Macht jener Institution bezieht, die ihn ins Amt gesetzt hat) bestrebt, seine Konkurrenten als außerhalb der religiösen Gemeinschaft stehend zu diskreditieren, sie also auszugrenzen, zu ›exkommunizieren‹. Demgegenüber wird der Prophet (der, wie Bourdieu schreibt, als »unabhängiger Heilsunternehmer«15 ausschließlich mit seiner Person für seine Heilsbotschaft bürgt) die priesterliche Macht, die sich aus dem Priesteramt speist (und nicht aus der Person des Amtsträgers), durch die Macht der Außeralltäglichkeit, durch das ihm eigene Charisma, zu unterminieren versuchen. Wie der Prophet, so ist schließlich auch der Zauberer ein »unabhängiger Unternehmer außerhalb jeder Institution«,16 und wie dieser stellt auch er den priesterlichen Monopolanspruch auf die Instrumente des Heils infrage. Allerdings antwortet der Zauberer auf eine ganz andere religiöse Nachfrage als der Prophet: Letzterer spricht Laien an, die daran interessiert sind, ihre Lebensführung methodisch an ethischen Prinzipien zu orientieren; er erhebt also – ähnlich wie der Priester, aber mit anderen Machtmitteln – den Anspruch, eine systematisierte, ethisch orientierte Heilsbotschaft zu verkünden,
14 Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 232. Auf die Frage nach seinem Begriff von Religion antwortet Bourdieu etwas unwillig: »Das ist natürlich nicht leicht, die Frage ist allerdings, ob eine Antwort darauf überhaupt von Bedeutung ist […]. Mir genügt jedenfalls die webersche Definition: Religion ist eine systematische Antwort auf die Frage nach Leben und Tod, das ist doch eine schöne Definition« (Mit Weber gegen Weber, 122 f). Vgl. zu Webers Religionsdefinition (bzw. zu seiner Zurückhaltung in definitorischen Fragen) auch Fn. 18 und Fn. 19 oben in der Einleitung. 15 Bourdieu, Genese und Struktur, 81. 16 Ebd., 84.
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Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes
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die dem Leben und der Welt einen einheitlichen Sinn verleihen kann und somit das Mittel zur Verwirklichung der systematischen Integration der alltäglichen Lebensführung um ethische, also praktische Prinzipien herum bietet.17
Demgegenüber sucht der Zauberer ein völlig anders gelagertes religiöses Laieninteresse zu befriedigen: Er hat sich auf Techniken der Körper- und Seelenheilung spezialisiert und bietet an, punktuell auf ebenso punktuelle religiöse Bedürfnislagen zu antworten; er ist eine Art Dienstleister, der zu den Laien in einem »Verkäufer-Kunden-Verhältnis« steht.18 Das unterscheidet ihn grundlegend vor allem vom Propheten, der seine spirituelle Autorität und religiöse Legitimität maßgeblich auch auf sein asketisches Verhältnis zum Besitz und jeglichen Verzicht auf Profit stützt. Fassen wir das Bisherige zusammen. Bourdieu findet bei Weber einen Weg, das religiöse Geschehen ökonomisch – genauer : heilsökonomisch – zu deuten: als ein Feld, in dem spezialisierte Akteure in wechselseitiger Konkurrenz Heilsbotschaften erzeugen, pflegen, reflektieren und tradieren, die auf die verschiedenartigen religiösen Bedürfnislagen einer sozialkulturell heterogenen Laienschaft zugeschnitten sind. Webers Pfaden folgend beschreibt Bourdieu das religiöse Geschehen als eine Dynamik von Angebot und Nachfrage,19 die ein verzweigtes Netz von Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren hervorbringt, die Bourdieu mit Weber als Priester, Propheten, Zauberer und Laien typologisiert. Bei aller Wertschätzung, die Bourdieu Weber entgegenbringt, ist sein Verhältnis zu dem deutschen Soziologen der Jahrhundertwende doch von einer elementaren Ambivalenz gekennzeichnet: Bourdieu schöpft aus Webers Werk, profiliert sich aber zugleich entschieden gegen Weber. Tiefgreifenden Korrekturbedarf meldet er 17 Ebd. 18 Ebd., 85. 19 Darin scheint Bourdieus Ansatz dem unter dem Label ›Religious Economy‹ figurierenden jüngeren Versuch verwandt, das religiöse Feld analog zum Feld der Wirtschaft als einen mehr oder minder freien Marktplatz zu begreifen, auf dem die Akteure nach letztlich rationalen Kriterien zwischen Heilsangeboten wählen (vgl. etwa Stark/Finke, Acts of Faith). Von diesen der Rational Choice Theory verpflichteten Ansätzen unterscheidet sich die Praxistheorie Bourdieus jedoch erheblich, insofern Bourdieu ja gerade die habitualen Dispositionen der Akteure und ihre Eingebundenheit in historisch gewachsene soziale Beziehungsstrukturen betont; in seinen Gesprächen mit Loc Wacquant geht Bourdieu sogar so weit zu behaupten, dass »die Hauptfunktion dieses Begriffs [des Habitus, AR] darin besteht, den Bruch mit jener intellektualistischen […] Philosophie des Handelns zu betonen, für die vor allem die Rational Action Theory, also die Theorie des homo oeconomicus als eines rational Handelnden steht« (Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 153 [Hervorhebungen im Original]; zum Zusammenhang insgesamt vgl. ebd., 147 – 175). Das Habituskonzept erlaubt es demgegenüber, soziales Handeln als ohne subjektive Absicht objektiv an die Chancenstruktur angepasstes Handeln zu verstehen. Zur ›Praxeologie‹ Bourdieus vgl. etwa Müller, Die Einbettung des Handelns; ders., Handeln und Struktur.
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Zur Logik des religiösen Feldes
hinsichtlich Webers Konzeption der Art der Beziehungen zwischen den konkurrierenden religiösen Akteuren an. Denn Webers netzwerkartigem Tableau der verschiedenen religiösen Akteure liegt, folgt man Bourdieu, eine allzu schlichte Vorstellung von der Art der Beziehungen zwischen Priestern, Propheten, Zauberern und Laien zugrunde. Weber, so Bourdieu, habe es unterlassen, zwischen direkten Interaktionen und der Struktur der sich objektiv, ohne jegliche Interaktion zwischen den religiösen Instanzen einstellenden Beziehungen zu unterscheiden, die ja ausschlaggebend sein können für die Form, die die Interaktionen annehmen können (und die Vorstellungen, welche die Akteure von ihnen haben).20
Beharrlich unterstreicht Bourdieu, dass es keine ›reinen‹ Interaktionen zwischen Priestern, Propheten, Zauberern und Laien gebe. Die konkreten Interaktionen seien vielmehr stets abhängig von den objektiven Positionen der beteiligten Akteure im Feld. So folgert er : Die Untersuchung der Logiken der Interaktionen muß der Konstruktion der objektiven Beziehungen zwischen Positionen untergeordnet werden, die von diesen Akteuren innerhalb des religiösen Feldes eingenommen werden.21
Denn die jeweilige ›Position‹ eines Akteurs im Netz seiner sozialen Beziehungen bestimmt Bourdieu zufolge seine ›Disposition‹ für diesen oder jenen religiösen Beruf bzw. Erlösungsbedarf. Anders formuliert: Seine ›Stellung‹ im sozialen und kulturellen Gefüge bestimmt seine ›Einstellung‹ zu den verschiedenen Heilsangeboten. Um diesen ›objektiven‹ Strukturen, die Bourdieu hinter den konkreten Interaktionen der Akteure im religiösen Feld am Werk sieht, auf die Spur zu kommen, seien noch kurz zwei weitere Konzepte in Erinnerung gerufen, die in Bourdieus Werk eine Schlüsselstellung haben und auch für seine Religionssoziologie fundamental sind: ›Habitus‹ und ›Kapital‹. Zwischen den ›Positionen‹ der Akteure und ihren ›Dispositionen‹ vermittelt 20 Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 23 f. Diese Kritik scheint dabei nicht immer Halt in Webers Werk selbst zu finden, da doch Weber selbst herausgearbeitet hat, wie eng die jeweiligen Heilsbedürfnisse mit der gesellschaftlichen Stellung der verschiedenen Gruppen verbunden sind. Man kann sich daher bei der Lektüre insbesondere der frühen religionssoziologischen Schriften Bourdieus aus dem Jahr 1971 des Eindrucks nicht völlig erwehren, dass die Beharrlichkeit, mit der Bourdieu seinen Zentralvorwurf wiederholt, zumindest teilweise dem Bemühen geschuldet ist, die Eigenständigkeit seiner Konzeptualisierung des religiösen Geschehens gegenüber Weber zu betonen. Dafür nimmt er eine deterministische Engführung in Kauf, die sachlich nicht erforderlich ist. Bourdieus Angriffe auf Weber wären dann, so ließe sich mit Bourdieu gegen Bourdieu argumentieren, letztlich aus der Struktur des intellektuellen Feldes in Frankreich in den 1960er und 1970er Jahren zu verstehen, in dem ein junger Intellektueller mit Weber im Gepäck kaum maßgebliche Positionsgewinne erzielen konnte. 21 Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 14 [Hervorhebungen im Original].
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Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes
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der ›Habitus‹: Der Habitus, so wie Bourdieu ihn versteht, bildet sich durch die dauerhafte Beziehung eines Akteurs zu einer bestimmten Position im Feld aus; er übersetzt die jeweilige soziale Lebenslage in entsprechende Verhaltensformen und Lebensstile und sorgt so dafür, dass die sozialen Akteure, ohne im eigentlichen Sinne rational zu sein, das heißt ohne ihr Verhalten im Hinblick auf die Maximierung der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu organisieren […], vernünftig sind.22
Mit anderen Worten: Die Akteure sind habitual so disponiert, dass sie sich an die immanenten ›Spielregeln‹, die in einem Feld gelten, halten und ihr Handeln an ihre jeweilige Chancenstruktur, so wie sie sich aus ihrer Positionierung im sozialen Beziehungsgefüge ergibt, anpassen. Das positionsbedingte strategische Kalkül hat sich ihrem Verhalten, ihren Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata also gleichsam eingelagert und muss deshalb nicht fortwährend individuell bewusst gehalten werden.23 Die Metapher des ›Spiels‹ hat Bourdieu selbst immer wieder bemüht, um die Logik der Felder zu veranschaulichen. Danach sind die Felder »autonome Sphären, in denen nach jeweils besonderen Regeln ›gespielt‹ wird«, wobei diese Regeln – anders als beim Gesellschaftsspiel – gewöhnlich unbewusst bleiben.24 Die sozialen Felder sind demnach ›Spielfeldern‹ vergleichbar, auf denen nach nicht kodifizierten Regeln mit bestimmten ›Einsätzen‹ und ›Trümpfen‹ um bestimmte ›Gewinne‹ gespielt wird. Und so wie jedes Gesellschaftsspiel unterschiedliche Einsätze und Trümpfe kennt, so wie die Wertigkeit von Spielkarten von Spiel zu Spiel variiert, so unterscheiden sich auch die verschiedenen sozialen Felder danach, was – welche Fähigkeiten, Objekte, Sozialkontakte usf. – ihren Inhabern jeweils Anerkennung verschafft. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von ›Kapital‹ und bezeichnet damit ganz allgemein »das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluss auszuüben«25. Der Kapitalbegriff ist mit 22 Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 163 [Hervorhebung im Original]. 23 Zum Habituskonzept vgl. auch Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen (darin der Aufsatz: Der Habitus als Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, 125 – 158); ders., Sozialer Sinn, v. a. 97 – 121. 24 Bourdieu, Delegation, 187. Ausführlicher zur Spielmetapher : Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 127 – 130. Zentral ist für Bourdieu die Grundhaltung, die alle Spieler vereint: Sie alle bringen das mit, was Bourdieu die ›illusio‹ nennt, das »heimliche Einverständnis«, sich auf das ›Spiel‹ und seine Regeln einzulassen. Ausdrücklich leitet Bourdieu seine Verwendung des Begriffs ›illusio‹ vom lateinischen ›ludus‹ (Spiel) ab (ebd., 128); es geht also um eine Art ›Spieltrieb‹. 25 Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 128. Dies gilt offenkundig nicht nur für ökonomisches Kapital im engeren Sinne; deshalb benennt Bourdieu mit sozialem und kulturellem Kapital weitere Kapitalsorten. Ist mit Sozialkapital das Set an sozialen Beziehungen gemeint, die ein Akteur unterhält und für sich nutzbar machen kann, so umfasst kulturelles Kapital neben Wertgegenständen des kulturellen Lebens wie Büchern, Kunst-
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Zur Logik des religiösen Feldes
dem Begriff des Feldes eng verwoben: »Ein Kapital oder eine Kapitalsorte ist das, was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist«.26 Dies ist von Feld zu Feld verschieden: Ein Feld lässt sich deshalb bestimmen durch die jeweilige Kapitalform, die in ihm mit der höchsten Anerkennung dotiert ist. Wer sich also im Konkurrenzkampf um die legitime Ausübung der Macht durchzusetzen vermag, ist letztlich abhängig »vom Stand der Machtverhältnisse zwischen den Spielern«,27 d. h. von ihrer Verfügungsgewalt über das Schlüsselkapital des jeweiligen Feldes. Bezogen auf das religiöse Feld heißt das: Religiöse Legitimität zu einem gegebenen Zeitpunkt ist nichts anderes als der Zustand der spezifisch religiösen Kräfteverhältnisse zu eben diesem Zeitpunkt, und damit das Resultat von vorangegangenen Kämpfen um das Monopol der legitimen Ausübung religiöser Gewalt.28
Bourdieus Weber-Lektüre kommt also, so lässt sich resümieren, für die konzeptuelle Reifung seiner Theorie des ›religiösen Feldes‹ maßgebliche Bedeutung zu. Bourdieu selbst erklärte Mitte der 1980er Jahre in einem Interview, er habe »den Begriff des ›Feldes‹ zugleich gegen und mit Weber entwickelt, in Reflexion auf seine Analyse des Verhältnisses von Priester, Prophet und Zauberer«.29 Mit Weber entdeckte Bourdieu, wie sich das religiöse Feld durch die Ausbildung eines Korps von religiösen Spezialisten konstituiert, die in wechselseitiger Konkurrenz um das Recht zur Verwaltung der Heilsgüter kämpfen und dabei die große Mehrheit (die dann als Laien identifizierbar werden) vom direkten Zugang zu diesen Heilsgütern ausschließen. Mit Weber entdeckte Bourdieu auch, dass das Heilsbedürfnis unterschiedlicher sozialer Gruppen ebenso wie das religiöse Interesse der konkurrierenden Spezialisten mit ihrer jeweiligen sozialkulturellen Lage korrespondiert. Gegen Weber – bzw. in einer »Art der
26 27 28 29
werken, Instrumenten etc. (objektiviertes kulturelles Kapital) auch schulische und akademische Titel und Positionen (institutionalisiertes kulturelles Kapital) sowie die nur durch Bildung zu erwerbenden kulturellen Kompetenzen (internalisiertes oder inkorporiertes kulturelles Kapital). Das Gesamtquantum an gesellschaftlicher Anerkennung, das ein Akteur durch die Akkumulation der genannten Kapitalien auf sich vereinigen kann, bezeichnet Bourdieu als symbolisches Kapital (vgl. Bourdieu, Kapital; ders., Sozialer Sinn, 205 – 221; auch ders., Praktische Vernunft, 173 – 176). Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 128. Ebd. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 25. Vgl. Bourdieu, Bezugspunkte, 67 [Hervorhebungen im Original]. Ähnlich äußert sich Bourdieu auch in dem schon mehrfach erwähnten späteren Interview : Mit Weber gegen Weber, 118 f; dort auch die Bemerkung, das religiöse Feld sei »eine Art realisierter ›Idealtyp‹ des Feldes« allgemein (122). Die ›Entdeckung‹ Webers war, wie Bourdieu hier erläutert, also nicht nur für seine Konzeptualisierungen des religiösen Feldes von großer Bedeutung, sondern für seinen feldtheoretischen Ansatz insgesamt, auch wenn er den Feldbegriff bereits früher (in einem literatursoziologischen Kontext) verwendet hatte (vgl. ebd., 118).
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Pierre Bourdieus Konzept des religiösen Feldes
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›Überbietung‹«30 – nimmt Bourdieu jedoch an, dass sich die Beziehungen, die sich positionsbedingt zwischen den verschiedenen Akteuren einstellen, gleichsam verselbständigen: Nicht mit Interaktionen haben wir es also Bourdieu zufolge im sozialen Leben zu tun, sondern mit »objektiven Relationen«.31 Eben dies bringt der Feldbegriff zum Ausdruck: »In Feldbegriffen denken heißt relational denken«.32 Die Aufgabe des soziologischen Beobachters besteht deshalb für Bourdieu auch nicht darin, Interaktionen zwischen religiösen Akteuren deutend zu verstehen. Die Soziologie hat vielmehr die »objektiven Relationen« zu rekonstruieren, die sich zwischen den verschiedenen Akteuren im religiösen Geschehen einstellen und ihre religiösen Präferenzen und Lebensführungen auf jeweils ›typische‹ Weise auch dann steuern, wenn es gar nicht zu wirklichen Interaktionen kommt,33 gleichsam wie in einem »magnetischen Feld«, das eigengesetzlich Anziehungs- und Abstoßungseffekte produziert.34 Bourdieu hat, wenn er das Denken in Relationen einfordert, in erster Linie die Binnenstruktur der Felder vor Augen. Das relationale Denken eröffnet jedoch neue Perspektiven auch auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Denn die Felder entstehen Bourdieu zufolge nicht aus sich selbst heraus, sondern bringen sich gegenseitig als autonome Handlungssphären mit je eigenen Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt hervor.35 In diesem Sinne ist auch ihre Autonomie stets eine relative: Was ein Feld ist, ergibt sich nicht aus einer wie auch immer gearteten Substanz, sondern aus seinem Verhältnis zu anderen Feldern, genauer : durch seine Unterscheidung von anderen Feldern.36 Diese Unterscheidungen zwischen den Feldern sind nun allerdings nicht starr : Es gibt, folgt man Bourdieu, »kein transhistorisches Gesetz der Verhältnisse zwischen den Feldern«.37 Die Außenverhältnisse der Felder zueinander sind vielmehr – wie die Verhältnisse der Akteure im Innern eines Feldes – stets umkämpft. Ausgetragen werden diese Kämpfe im Feld der Macht. Mit dem Feld 30 31 32 33 34 35 36
So Egger/Pfeuffer/Schultheis, Vom Habitus zum Feld, v. a. 159 – 172, hier 164. Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 126 f. Ebd., 126; siehe auch ebd., 262: »Man muss relational denken« [Hervorhebung im Original]. Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion, 14 f. Vgl. Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 138. Vgl. ebd., 130ff, 141. Bourdieu macht nach eigener Aussage »die Suche nach dem Unterschied zum Prinzip der kulturellen Praktiken« überhaupt, betont aber ausdrücklich, dass diese Suche nicht bewusst sein muss und in den meisten Fällen auch nicht bewusst ist, sondern Teil der immanenten Regeln, nach denen die Felder jeweils funktionieren: »Es gibt eine Produktion von Unterschieden, die in keinerlei Hinsicht das Produkt der Suche nach dem Unterschied ist« (Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 130). 37 Ebd., 141.
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Zur Logik des religiösen Feldes
der Macht führt Bourdieu ein Konzept ein, dass es ihm erlaubt, die Relationen zwischen den Feldern in den Blick zu nehmen: Das Feld der Macht ist weder mit dem Feld der Politik, des Rechts oder gar mit dem Staat zu verwechseln noch ist es ein Feld wie alle anderen. Vielmehr entsteht es erst im Zuge der Herausbildung der verschiedenen sozialen Felder : »Das Aufkommen eines Feldes der Macht«, so Bourdieu, »ist eng verbunden mit dem Aufkommen einer Vielzahl relativ autonomer Felder, also mit einer Differenzierung der sozialen Welt«.38 Das Feld der Macht setzt also die soziale Differenzierung schon voraus: Es ist jene Sphäre, in der einflussreiche Akteure aus Politik, Recht und Religion, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst etc. Kämpfe um das Verhältnis ihrer Felder zueinander austragen, d. h. um Zuständigkeiten für bestimmte gesellschaftliche Aufgaben ringen, um Prestige, Einfluss und Definitionshoheit nicht zuletzt auch über die Verfahren streiten, nach denen diese Auseinandersetzungen ausgetragen werden. So steht das Feld der Macht nicht neben, sondern gleichsam über den anderen sozialen Feldern. Auch in den Auseinandersetzungen, die im Innern der Felder ausgetragen werden, geht es stets um Distinktion nach innen und nach außen: So arbeiten die Akteure eines Feldes einerseits beständig daran, »sich von ihren nächsten Rivalen zu unterscheiden, um auf diese Weise die Konkurrenz auszuschalten und ein Monopol in einem bestimmten Sub-Sektor des Feldes aufzubauen.«39 Sie ringen aber darüber hinaus stets auch um die Kriterien, die über die Zugehörigkeit zum Feld entscheiden. Sie ringen also um die Kriterien von Inklusion und Exklusion: [S]ie arbeiten auch daran, einen Teil der aktuellen oder potentiellen Teilnehmer aus dem Feld auszuschließen, vor allem, indem sie die Eintrittsgebühr erhöhen oder eine bestimmte Definition für die Zugehörigkeit durchsetzen […]. Solche Bemühungen um die Durchsetzung und Anerkennung eines bestimmten Kompetenz- oder Zugehörigkeitskriteriums können je nach Konjunktur mehr oder weniger erfolgreich sein. […] Nur selten bekommen sie die Form rechtlicher Grenzen […], auch wenn es ›Zugangssperren‹ in allen Feldern gibt, unausdrückliche oder institutionalisierte.40 38 Bourdieu, Staatsadel, 319 (Fn. 2). Diesen Begriff vom Feld der Macht hat Bourdieu werkgeschichtlich erst vergleichweise spät entwickelt; entsprechende Erörterungen finden sich in seinem französisch zuerst 1989 erschienenen Buch La Noblesse d’Etat (dt.: Bourdieu, Staatsadel, insbesondere 319ff), dem das Zitat entnommen ist. Es handelt sich um eine Untersuchung der Bedeutung der elitären französischen Bildungseinrichtungen für die Reproduktion der sozialen Ordnung. 39 Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 130. 40 Ebd., 130 f. In seiner Betonung des Konfliktiven als eines Signums des sozialen Lebens sieht Bourdieu selbst den radikalen Unterschied zu systemtheoretischen Theorien sozialer Differenzierung. »Das Feld«, so Bourdieu mit Blick auf Luhmanns Systemtheorie, »ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur von Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels. Die Kohärenz, die in einem gegebenen Zustand des Feldes zu beobachten ist, seine scheinbare Ausrichtung auf
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Grenzarbeiten
Die Grenzen der Felder sind also nicht starr. Das heißt aber auch: Welches Feld mit welchen Kompetenzen ausgestattet ist, wird nicht ein für allemal entschieden; das Verhältnis zwischen den Feldern bleibt vielmehr stets in Bewegung. So sind die Felder in Bourdieus Perspektive potentiell offene Räume »mit dynamischen Grenzen, die ein im Feld selbst [und, wie vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zum Feld der Macht zu ergänzen ist: ein zwischen den Feldern, AR] umkämpftes Interessenobjekt darstellen.«41 Was das heißt, hat Bourdieu Anfang der 1980er Jahre am Beispiel des religiösen Feldes als Prozess der Auflösung des Religiösen exemplarisch skizziert.42
1.2
Grenzarbeiten: Die Transformation des religiösen Feldes
In einem knappen, wenig beachteten Vortrag, den Pierre Bourdieu im Oktober 1982 in Straßburg als Schlusswort zu einer Tagung hielt, die unter dem Thema Les nouveaux clercs (›Die neuen Geistlichen‹) stand, diagnostiziert er eine »Auflösung des Religiösen« und spricht von einem »Abbröckeln der klaren Grenzen des religiösen Feldes«.43 Seine Diagnose bezieht sich, anders als man es vor dem Hintergrund gegenwärtiger religionskultureller und -sozialer Konfliktkonstellationen wohl erwarten würde, nicht auf das Verhältnis von Religion und Politik, Religion und Recht oder auch Religion und Wissenschaft. Vielmehr hatte Bourdieu die zunehmend diffusen Grenzen zwischen Religion (im Sinne eines funktional auf das Heil der Seele bezogenen Feldes) und Medizin bzw. Psychologie (im Sinne eines funktional auf die Heilung des Körpers bzw. der Psyche bezogenen Feldes) im Blick. Denn diskutiert wurde in Straßburg über die Kompetenzkämpfe zwischen ›Geistlichen‹ alten und neuen Stils,44 über die Konkurrenz also zwischen Priestern im hergebrachten Sinn kirchlicher Amtsträger einerseits und den »unabhängigen Kleinunternehmern«45 im spirituellen
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eine einheitliche Funktion […], [ist] ein Produkt von Konflikt und Konkurrenz und kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung der Struktur« (ebd., 134 f). Ebd., 135. Die (von Bourdieu selbst wenig ausgearbeitete) Dynamik der Beziehungen zwischen den Feldern sowie ihre Überlagerungen betont: Verter, Theorizing Religion, v. a. 163 f und 170, der diesbezüglich von einem »complex interactive network involving the conjuncture of multiple fields« spricht (170). Dt. zuerst: Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen. In den beiden Aufsätzen des Jahres 1971 klingt die Beziehungsdynamik, die sich zwischen den Feldern einstellt, lediglich an; vgl. etwa: ders., Genese und Struktur, 101 – 105; anders in den Gesprächen mit Loc Wacquant: Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 133 ff. Vgl. Bourdieu, Le champ religieux; hier zitiert aus der (gekürzten) deutschen Übersetzung: ders., Die Auflösung des Religiösen, 234. Bourdieu spricht in der französischen Fassung von »cette sorte de dissolution du religieux« (257) sowie von einem »effritement de la frontiÀre du champ religieux« (258). Vgl. den Tagungsband: Centre de Sociologie du Protestantisme (Hg.), Les nouveaux clercs. Bourdieu, Das religiöse Feld, 36.
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Zur Logik des religiösen Feldes
Gewerbe, den freien Lebensberatern, Naturheilern, Psychotherapeuten, Yogaund Meditationslehrern usw., andererseits. Mit seiner Diagnose einer allmählichen »Auflösung des Religiösen«, die er angesichts der wachsenden Bedeutung dieser neuen außerkirchlichen Anbieter von Heil bzw. Heilung kommen sah, nahm Bourdieu in seinem eher knappen Schlusswort gleichwohl nicht weniger als eine Deutung der religiösen Gegenwartslage in Westeuropa um 1980 insgesamt vor. Nun behauptet Bourdieu allerdings nicht, dass sich das religiöse Feld als solches ›auflöst‹. Vielmehr spricht er von einer »Neudefinition« der Grenzen des religiösen Feldes, die sich »unter unseren Augen« in einem »neuen Konkurrenzkampf zwischen Akteuren eines neuen Typs« vollzieht.46 Es geht also nicht um die »Auflösung des Religiösen« im Sinne des Verschwindens von Religion, nicht um einen Vorgang der ›Entdifferenzierung‹ der Religion von anderen gesellschaftlichen Funktions- und Lebensbereichen. Vielmehr geht es um fortlaufende Auseinandersetzungen an den Grenzen um die Grenzen des religiösen Feldes, das heißt um einen prinzipiell unabgeschlossenen, einen permanenten Prozess der Differenzierung des Religiösen vom Nicht-Religiösen. Bourdieu schließt dabei erneut ausdrücklich an Max Weber an und entwickelt seine Überlegungen, wie schon in seinen frühen religionssoziologischen Arbeiten, wiederum zugleich mit ihm und gegen ihn. So bestimmt er an dieser Stelle das religiöse Feld erneut als einen Raum, »in dem – noch zu bestimmende – Akteure (Priester, Prophet, Zauberer usw.) Kämpfe um die Durchsetzung einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen, austragen.«47 Das religiöse Feld wird von Bourdieu also als »Austragungsort des Kampfes um die Definition, das heißt die Abgrenzung von Kompetenzen« des Religiösen begriffen.48 Im Hinblick auf die angesprochene Thematik der Straßburger Tagung, auf der er diese Überlegungen anstellt, heißt das: Die »Geistlichen alten Schlags«49 – idealtypisch verkörpert im katholischen Priester als dem »Mandatsträger einer geistlichen Körperschaft, die als solche das Monopol auf legitime Handhabung der Heilsgüter innehat«50 – sehen sich einer wachsenden Konkurrenz ›neuer Geistlicher‹ auf eben jenem Gebiet ausgesetzt, das herkömmlich ihrer Zuständigkeit anvertraut ist: der Heilung der Seelen.51 In dieser Konkurrenz geht es jedoch nicht nur darum, das priesterliche Monopol über die Verwaltung heilsrelevanter Güter zu brechen. Vielmehr wird auch um die Definition von Heil und Heilung überhaupt 46 47 48 49 50 51
Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 234. Ebd., 231 f. Ebd., 232. Ebd., 233. Ebd., 232. Vgl. ebd., 234.
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Grenzarbeiten
und damit um die Anerkennung alternativer Heilswege und Heilsgüter gerungen. Die religiöse Bedürfnislage und das komplexe Arrangement von Angebot und Nachfrage in der Heilsökonomie werden dadurch insgesamt verschoben. Denn neben Psychologen, Naturheilern und Schulmedizinern gehören nach Bourdieus Beschreibung der religiösen Lage der frühen 1980er Jahre auch Yogalehrer und Meister fernöstlicher Sportarten, Sozialarbeiter, Tanztherapeuten und Meditationsexperten zu den ›neuen Geistlichen‹: [S]ie alle treten mit dem Geistlichen alten Schlags auf dessen eigenem Terrain in Konkurrenz und tragen dazu bei, Heilung und Gesundheit neu zu definieren und die Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion (oder Magie), technischer und magischer Kur neu festzulegen.52
Die ›alten Geistlichen‹ werden in dieser Auseinandersetzung, wie Bourdieu schreibt, zum »Opfer der Logik des Trojanischen Pferdes«.53 Denn um auf die neuartige religiöse ›Nachfrage‹ zu reagieren, haben sie allzu leichtfertig die Waffen des Gegners übernommen: Sie psychoanalysieren, sie meditieren, sie therapieren. Mit anderen Worten: Sie rücken von ihrem Kerngeschäft, der Seelsorge, ab und werden im Kompetenzbereich ihrer Konkurrenten tätig, auf dem Feld der Heilung von Körper und Psyche. Dabei gerät nicht nur die herkömmliche Arbeitsteilung innerhalb des religiösen Feldes in Bewegung, nach der die Körperheilung ins Ressort des Zauberers fällt; es kommt auch zu einer Diffusion des Medizinisch-Psychologischen ins Religiöse – und umgekehrt des Religiösen ins Medizinisch-Psychologische. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Abbröckeln der klaren Grenzen des religiösen Feldes«.54 Denn das Kompetenzgerangel zwischen alten und neuen Geistlichen bringt nicht nur die eingespielten Positionen der verschiedenen Akteure innerhalb des religiösen Feldes durcheinander, sondern lässt auch die Grenzen zwischen dem religiösen Feld und anderen Feldern, etwa die Grenzen zum Feld von Medizin und Psychologie, diffus werden. So führt die Verschiebung des Heilsbedürfnisses von der Seele zur Psyche zu einer semantischen Verschiebung vom (Seelen-)Heil zu psycho-physischer Gesundheit und damit zu einer Verlagerung der Heilswege von der Seelsorge zur (Psycho- oder Physio-)Therapie. Nun haben sich die Auseinandersetzungen um die Grenzen des Religiösen seit Bourdieus Anmerkungen zur religiösen Lage Anfang der 1980er Jahre erheblich gewandelt. Verändert haben sich zum einen die Schauplätze, auf denen diese Grenzkämpfe ausgetragen werden; verändert hat sich aber auch der Kreis der Akteure, die diese Grenzstreitigkeiten austragen: So ruft das Zuständigkeitsgerangel zwischen Religion, Medizin und Psychologie heute kaum noch 52 Ebd., 235. 53 Ebd., 233. 54 Ebd., 234.
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Zur Logik des religiösen Feldes
nachhaltige Konflikte und öffentliche Debatten hervor. Stattdessen sind die Verschiebungen zwischen dem religiösen und dem politischen Feld sowie zwischen Religion und Recht in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. So sind zu den ›alten‹ und ›neuen‹ Geistlichen nunmehr auch Repräsentanten aus Politik und Recht als neue Akteure an den Grenzen des religiösen Feldes auf den Plan getreten.55 Auch drei Jahrzehnte nach Bourdieus Überlegungen zur »Auflösung des Religiösen« kommt es also weiterhin zu Überlappungen von Zuständigkeitsansprüchen zwischen dem religiösen Feld und anderen gesellschaftlichen Feldern; mehr noch als die Auseinandersetzungen zwischen dem Religiösen und dem Medizinisch-Psychologischen um 1980 werden die heute zu beobachtenden Streitigkeiten um die Kompetenzverteilung zwischen Religion und Politik oder auch Recht unter Beteiligung einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausgetragen. Zwischen welchen Feldern sich Grenzstreitigkeiten entzünden und ausgehandelt werden, ob zwischen Religion und Wissenschaft, Religion und Medizin oder Religion und Politik (oder zwischen welchen Feldern auch immer), ist historisch höchst wandelbar, und auch an einmal befriedeten Grenzen können immer wieder neue Konflikte ausbrechen. So schieben sich von Epoche zu Epoche jeweils unterschiedliche Felder und unterschiedliche Grenzziehungspraktiken in den Fokus der Aufmerksamkeit. In den 1970er und frühen 1980er Jahren, einer Blütezeit alternativer Heilsangebote, mag das Kompetenzgerangel zwischen religiösem und medizinisch-psychologischem Feld das maßgebliche Interesse der religionssoziologischen Beobachter auf sich gezogen haben, während seither ¢ den Auftakt bildete wohl die islamische Revolution im Iran 1979 ¢ das Verhältnis des Religiösen und des PolitischRechtlichen ins Rampenlicht gerückt ist. Wie und wo auch immer die Grenzen zwischen den Feldern und ihrer sozialen Logik gezogen werden, stets haben wir es mit einem fortlaufenden konfliktiven Prozess zu tun, in dem »Praktiken symbolischer und sozialer Grenzziehung die Eigenbereiche des Religiösen und des Politischen überhaupt erst konstituieren.«56 Bourdieus Rede von der »Auflösung des Religiösen« ist in diesem Sinne zu verstehen: Die Verhältnisse zwischen den Feldern, und so auch die Grenzen zwischen dem religiösen Feld und anderen gesellschaftlichen Feldern (zu Medizin und Psychologie, aber eben auch zu Politik und Recht, zu Wissenschaft und Kunst usf.), werden unablässig neu ausgehandelt und neu geordnet. Dabei gilt es, das Missverständnis zu vermeiden, bei diesen Grenzkonflikten handle es 55 Dass auch die Grenzen zwischen Religion und Wissenschaft wieder zunehmend umkämpft sind, zeigen etwa die jüngeren Streitigkeiten um die Evolutionsbiologie und ihr Verhältnis zur Schöpfungslehre, v. a. in den USA. 56 So Koenig, Pfadabhängigkeit, 93 [Hervorhebung im Original].
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Grenzarbeiten
sich um einen Prozess der ›Entdifferenzierung‹, in dessen Verlauf das Religiöse mit dem Politisch-Rechtlichen oder anderen gesellschaftlichen Lebens- und Funktionsbereichen gleichsam (erneut) ›verschmelze‹. Zu beobachten sind vielmehr unablässige Grenzverschiebungen, d. h. Arbeiten an den Grenzen keineswegs nur des Religiösen, sondern auch des Politischen und des Rechtlichen, Auseinandersetzungen um die Inklusion und Exklusion von Zuständigkeitsbereichen und die verschiedenen Arten, diese Zuständigkeiten auszuüben. Die Grenzen der Felder sind also dynamisch:57 Sie werden mal enger gezogen und schärfer konturiert, mal weicher und durchlässiger gestaltet. In diesem Sinne hat die Trennung zwischen Religion und Politik sowie Religion und Recht, die im demokratischen Verfassungsstaat institutionelle Gestalt gewonnen hat, den Kämpfen an ihren Grenzen kein Ende gesetzt, sondern diese allenfalls eingehegt. Der Prozess wechselseitiger Beobachtung, Bewertung und Abgrenzung geht unablässig weiter. So sehen sich neben dem herkömmlichen ›Personal‹ des religiösen Feldes zunehmend auch Angestellte der öffentlichen Verwaltungen, Politikerinnen und Politiker und nicht zuletzt Richterinnen und Richter veranlasst, sich an den Definitionskämpfen um Religion zu beteiligen. Anders als in den Auseinandersetzungen zwischen den Geistlichen alten und neuen Typs, die Bourdieu bei seinen Ausführungen zur »Auflösung des Religiösen« vor Augen standen, begegnen sich die Konkurrenten in den heutigen Deutungskämpfen allerdings nicht auf gleicher Augenhöhe. Die heutigen Deutungskämpfe um das Religiöse zeichnen sich vielmehr durch eine Asymmetrie aus. Denn die Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Recht stehen den Glaubenden nicht einfach nur als Deutungskonkurrenten im Kampf um die legitimen Grenzen des religiösen Feldes gegenüber. Als Repräsentanten des auf weltanschauliche Neutralität verpflichteten Staates sind sie diesen vielmehr zugleich übergeordnet; dies gilt insbesondere für die mit Entscheidungskompetenz ausgestatteten ›Hüter‹ eben dieses poltisch-rechtlichen Systems, für die Richterinnen und Richter. Denn das Recht gibt die Regeln vor, nach denen religiöse Anerkennungsansprüche überhaupt sinnvoll gestellt und gegebenenfalls auch erstritten werden können. Es verwaltet die Verfahren, nach denen gestritten wird, und die diskursiven ›Spielregeln‹, denen die Auseinandersetzungen zu folgen haben: Die Gesetzgeber (die demokratisch legitimierten Parlamente) sowie die Wächter über die Gesetze und die verfassungsrechtliche Ordnung (die Richterinnen und Richter) stellen also in den »Kämpfe[n] um die Durchsetzung einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen«,58 gleichsam die Weichen und behalten sich letzte Entscheidungskompetenz vor. Gesetzestexte und ver57 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 135. 58 Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 231 f (bereits zitiert, siehe Fn. 47 oben).
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Zur Logik des religiösen Feldes
fassungsrechtliche Vorgaben stecken das Möglichkeitsfeld ab, innerhalb dessen religiöse Freiheitsansprüche überhaupt erhoben und öffentlich geltend gemacht werden können. Kommt es zum Konflikt hierüber, so obliegt die letzte Entscheidungshoheit den Richterinnen und Richtern. So steuert das Recht gesellschaftliche Konflikte um Religion. In den Verfassungsstaaten westlicher Prägung hat es sich zu einer Potenz entwickelt, die als gesamtgesellschaftliche Steuerungsinstanz von nahezu allen Konfliktparteien anerkannt wird, und deshalb sowohl in den feldinternen Auseinandersetzungen als auch in den Grenzkonflikten zwischen den Feldern sozialkulturelle Anerkennung vermitteln und damit Legitimität verschaffen kann.59 Im Hintergrund dieser Entwicklung steht ein Prozess, der als ›Verrechtlichung‹ und ›Vergerechtlichung‹ der Gesellschaft beschrieben werden kann und maßgebliche Bedeutung auch für den Strukturwandel des religiösen Feldes hat.
59 Dass es dabei, wie ausgeführt, stets zugleich auch selbst ein Akteur in den Aushandlungsprozessen um die Grenzen des Religiösen ist, führt in ein Dilemma, das weiter unten erörtert wird (vgl. unten Kapitel 3.2).
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2.
Die Ver(grund)rechtlichung der Gesellschaft
2.1
Die Verrechtlichung des Religiös-Politischen
Das Recht spielt eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Staatsgewalt.1 Die Monopolisierung von Recht und Justiz seitens der werdenden Staatsmacht war gewissermaßen ihre conditio sine qua non. Die extrem variantenreichen, in der Regel lokal oder regional und ständisch gebundenen, mit Moral, Sitte und Religion verschmolzenen heterogenen Rechtsformen wurden im Prozess der modernen Staatsbildung sukzessiv vereinheitlicht und unter Kontrolle gebracht. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung in den Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und politischer Macht im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert. Unter dem Pontifikat Gregor VII. (1073 – 1085) begehrte die Kirche gegen den Vorranganspruch der weltlichen Herrschaft auf, wie sie insbesondere in der Laieninvestitur zum Ausdruck kam. Im Verlauf der Auseinandersetzungen, die der amerikanische Rechtshistoriker Harold Berman in seiner Geschichte der westlichen Rechtstradition als »päpstliche Revolution« bezeichnet,2 brach die hergebrachte religiös-politische Kultur auf, geistliche und weltliche Macht traten auseinander.3 Im Zuge dieses von Berman als 1 Zur Rolle des Rechts in der Geschichte der Staatsgewalt vgl. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, insbesondere 281 – 304; kurzgefasst in ders., Geschichte des modernen Staates, 60 – 70. 2 Vgl. Berman, Recht und Revolution; hierzu wie zum Folgenden auch: Prodi, Gerechtigkeit, 48 ff. Bermans Annahme einer »päpstlichen Revolution« ist unter Historikern nicht einhellig auf Zustimmung gestoßen; vgl. etwa die kritische Rezension von Schieffer, Rückfragen; außerdem Steckel, Säkularisierung. Bezweifelt werden weniger die beschriebenen Wandlungsprozesse als solche; doch basiere, so beklagt Steckel, ihre Charakterisierung als ›revolutionär‹ auf einer »problematische[n] Verdichtung chronologisch versetzter Abläufe zu einer zusammenhängenden und kausalen Entwicklung« (148). 3 Damit soll nicht das Fehlen jedweder Unterscheidung von Religion und Politik oder das Fehlen religiöser Pluralität im Mittelalter (und zuvor) unterstellt, aber doch daran festgehalten werden, dass die Bedingungen für religiöse Pluralität und die Bedingungen des Verhältnisses von Religion und Politik (sowie Recht) sich in der Neuzeit markant gewandelt haben, insofern erst in der Neuzeit ein von religiösen Bestimmungen unabhängiges Ver-
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»Totalumwälzung«4 charakterisierten Prozesses bildete die Kirche ein neues Selbstverständnis als souveräne öffentliche Gewalt aus. Dies schlug sich auch in einem Wandel ihrer institutionellen Gestalt nieder : Die Kirche bildete einen zentralistischen Herrschaftsapparat aus, der mit seiner bürokratischen Organisation und einer nicht mehr personen-, sondern funktionsbezogenen Ämterordnung basale Strukturen moderner Staatlichkeit vorwegnahm und maßgeblich dazu beitrug, den Prozess moderner Staatsbildung in Gang zu setzen.5 Dass es der Kirche gelang, sich ihrem neuen Selbstverständnis entsprechend als souveräne Macht zu etablieren, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass sie erfolgreich ein eigenständiges, vom weltlichen Recht geschiedenes Rechtssystem ausbildete: Durch eine umfassende päpstliche Rechtsetzungstätigkeit wurde im 11. und 12. Jahrhundert ein einheitlicher systematischer Rechtskomplex geschaffen.6 Dieser war für die weitere Rechtsentwicklung in Europa von konstitutiver Bedeutung: Das kanonische Recht der Römisch-Katholischen Kirche steht, folgt man Berman, am Ursprung des modernen westlichen Rechtsdenkens, ja es ist »das erste moderne westliche Rechtssystem«7 überhaupt. Denn gegenüber dem tief in Gewohnheit und Glauben verwurzelten weltlichen Recht der damaligen Zeit weist das kanonische Recht – das seinerseits zentrale Elemente der römischen Rechtskultur aufnahm und verbreitete, namentlich den von Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert in Auftrag gegebenen Corpus Iuris Civilis, eine um Urteile, rechtsgelehrte Kommentare und neue Erlasse ergänzte Kompilation älterer Kaisergesetze, die im Hochmittelalter eine Renaissance erlebte8 – einen bedeutenden Rationalitätsvorsprung auf: Die zur fraglichen Zeit durchaus nicht übliche Schriftlichkeit der Verfahren, ein vorgeschriebener Instanzenzug, die wachsende Professionalisierung der Justiz sowie eine konsequente Syste-
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ständnis des Politischen sowie eine grundsätzliche Ablehnung jedweder religiöser Option möglich wurden; vgl. dazu: Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Zur anhaltenden Debatte um die Bedeutung des Investiturstreits für die langfristige Differenzierung von Religion und Politik vgl. die Beiträge von Tyrell, Investiturstreit; Althoff, Libertas ecclesiae; Hartmann, Gregor VII.; Steckel, Säkularisierung; sämtlich in dem Band: Gabriel/Gärtner/Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Vgl. außerdem die Debatte zwischen Pollack, Genese der westlichen Moderne; Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne; Althoff, Differenzierung sowie Pollack, Replik, in: Frühmittelalterliche Studien 47, 2013. Berman, Recht und Revolution, 790. Ebd., passim, besonders die Einleitung sowie 190ff und 804 ff. »Daß die lateinische Kirche in erster Linie Rechtskirche und nicht etwa Geist- oder Liebeskirche wurde, dass sie sich zunächst einmal als hierarchisch organisierter Herrschaftsverband verwirklichte, unterscheidet sie von allen anderen Religionen einschließlich des orthodoxen Christentum« (Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 260). Berman, Recht und Revolution, 31. Vgl. neben Berman auch Prodi, Gerechtigkeit, demzufolge die Kirche die »Erbin des Imperium Romanum« ist und das römische Recht »das Hauptinstrument [war], um die neue päpstliche Macht zu begründen« (52).
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matisierung der Rechtsmaterie, die das kanonische Recht auszeichnen, wurden Modell bildend für das moderne weltliche Recht.9 Berman folgt in seiner Rekonstruktion der Genese der westlichen Rechtstradition einem Grundgedanken Max Webers, der in seinen rechtssoziologischen Erörterungen darlegt, »daß das kanonische Recht für das profane Recht geradezu einer der Führer auf dem Weg zur Rationalität« gewesen ist.10 Das vom kanonischen Recht vorweggenommene Spezifikum der modernen westlichen Rechtstradition ist für Weber – und diese Einsicht untermauert Berman mit weitreichenden Quellenerhebungen – seine Formalität: Kennzeichnend für die westliche Rechtsentwicklung ist danach die Ablösung einer materialen (d. h. inhaltlich-ethischen oder auch politischen) Orientierung der Rechtsordnung zugunsten einer Steigerung strikt formaler Normstrukturen, die durch eine innere Systematisierung der Rechtsnormen, durch deduktive Strenge, eine Technisierung der Verfahren und nicht zuletzt durch die konsequente Professionalisierung der Justiz erreicht wird.11 Das kanonische Recht setzte also, folgt man Berman, gewissermaßen die weltliche westliche Rechtsentwicklung aus sich heraus. Dem Vorbild der Papstkirche folgend suchte der werdende europäische Territorialstaat konkurrierende Rechtsgewohnheiten innerhalb seines Hoheitsgebietes zu vereinheitlichen und die Zuständigkeit für Rechtsetzung und Rechtsprechung in eigener Hand zu zentrieren.12 So lässt sich zu Beginn der Neuzeit erneut auf Seiten der 9 Vgl. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung, 2ff; ferner Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 260 f; auch Berman, Recht und Revolution, 190, 804. 10 So Weber in seinen rechtssoziologischen Erörterungen (früher unter dem Titel Rechtssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft; 2010 in der Max-Weber-Gesamtausgabe als eigenständiger Teilband (Recht) der zuvor in Wirtschaft und Gesellschaft vereinten Schriften neu ediert): MWG I/22 – 3, hier 547. 11 Vgl. ebd., 510 – 550. Weber sah aber bereits in seiner Zeit die Tendenz zu einer Re-Materialisierung des Rechts, d. h. zu einer neuerlichen Orientierung der Rechtskultur an ethischen Imperativen oder politischen Maximen, mit denen die politische Kultur auf materiale Forderungen (etwa nach sozialer Gerechtigkeit) reagiert, die aus der Gesellschaft heraus an das Recht gestellt werden. Das Recht wird damit zu einem politischen Steuerungsinstrument. Weber nahm damit eine Debatte voraus, die inzwischen intensiv geführt wird und auch mit Blick auf Erwartungen und Ansprüche aus dem religiösen Feld an Bedeutung gewinnt (etwa im Hinblick auf die Handhabung religionsverfassungsrechtlicher Bestimmungen mit Blick auf den Islam). 12 Dies war kein unilinearer Prozess. Die Abgrenzung der Kirche von den weltlichen Gemeinwesen hat vielmehr ein Nebeneinander von weltlichem und geistlichem Recht mit vielfach ungeklärten Zuständigkeiten entstehen lassen: Auf einigen Gebieten nahm die Kirche die ausschließliche, auf anderen die konkurrierende Rechtsprechung in Anspruch. So unterstanden die Laien zwar grundsätzlich dem weltlichen Recht, wurden aber (wie in Ehe-, Familien- und Erbangelegenheiten) auch dem kirchlichen Recht unterworfen. Umgekehrt unterstanden die Geistlichen zwar grundsätzlich dem kanonischen Recht, waren aber in bestimmten Rechtsmaterien (etwa in Eigentumskonflikten) dem weltlichen Recht unterstellt; vgl. Berman, Recht und Revolution, 29. Zugleich machte das Nebeneinander der
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weltlichen Herrschaft ein Aufschwung der Gesetzgebung beobachten, und zwar »mit ausgesprochen nationalem oder territorialem Charakter und der Tendenz, möglichst jede Konkurrenz für die werdende Staatsgewalt auszuschalten«.13 Dabei konnte auch der Buchdruck in den Dienst genommen werden, mit dem es möglich wurde, einheitliche Rechtstexte zu verbreiten. Die in so genannten ›Policeyordnungen‹ zusammengefassten Gesetze, die sich mit Sicherheit und Ordnung, mit Handel, Gewerbe und Landwirtschaft, Verkehr und Bauwesen, mit Fremden und Armen, Kultur und Wissenschaft, aber auch mit Religion und Sittlichkeit beschäftigten, bringen den umfassenden Ordnungsanspruch des werdenden Staates zum Ausdruck. So wuchs die moderne Staatsmacht in dem Maße, in dem sie Kontrolle über Lebensbereiche erlangte, die der vormodernen weltlichen Herrschaft entzogen waren.14 Impulse erhielt diese Entwicklung durch die reformatorische Akzentuierung der augustinischen Zwei-Reiche-Lehre. Danach gilt in der civitas Dei, in der nach Martin Luther alle leben, die zum Reich Gottes berufen sind, ein anderes Recht als in der civitas terrena, dem Reich der Gottfernen: Ist das Recht der civitas Dei das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, so kann die Ordnung in der civitas terrena nur durch obrigkeitlichen Zwang hergestellt und bewahrt werden. »Die ohnehin bestehenden Tendenzen zur Freisetzung der Politik«, so Michael Stolleis, »erhielten hierdurch, sowie durch die Aporien der Glaubensspaltung selbst, kräftigen Auftrieb.«15 Eine wichtige Etappe auf diesem Weg markiert der Westfälische Friede von 1648, der die Regelungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 in einem bedeutenden Punkt revidierte: Hatten die Landesherren in Augsburg das Recht erhalten, mit ihrem Bekenntnis auch das Bekenntnis der Bewohner ihres Territoriums zu bestimmen, so wurde diese Kopplung zwischen der Konfession des Landesherrn und der Bevölkerung des jeweiligen Territoriums in Münster und Osnabrück aufgehoben. Im Westfälischen Frieden wurde das Jahr 1624 zum ›Normaljahr‹ erklärt, das heißt fortan behielt jedes Territorium die Konfession, die es am 1. Januar 1624 hatte, und zwar ungeachtet dynastischer Wechsel.16 Damit stabilisierten sich nicht nur die Religionsverhältnisse; vielmehr war zugleich ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Unterordnung der Kirchen unter die Staatsräson getan, wie sie dann im landesherrlichen Kirchenregiment zum Ausdruck kam: Die Konfession war »zur Staatseinrichtung avanciert, die
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beiden Rechtsordnungen eine institutionelle Verbindung zwischen den beiden Mächten und rechtliche Regulierungen zwischen beiden, wie sie später in Gestalt von Staatskirchenverträgen und Konkordaten mit vielen Ländern abgeschlossen wurden, überhaupt erst möglich; vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht, 25. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 299. Vgl. ebd., 299 ff. Stolleis, Säkularisation und Staatsräson, 99. Vgl. dazu (unter dem Aspekt der Durchsetzung der Religionsfreiheit) auch unten Kapitel 3.1.
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unabhängig von den persönlichen Umständen des Souveräns bestehen bleiben muß.«17 Diese Entwicklung der zweckhaften Unterordnung der Kirche unter die Staaträson schritt in den Jahrhunderten, die dem Westfälischen Friedensschluss folgten, weiter voran und führte zur Suprematie des weltlichen Rechts über religiöse Prinzipien. Sie mündete in die Ausarbeitung systematischer Rechtsordnungen mit umfassendem Regelungsanspruch, wie sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden, vom Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) über die napoleonischen Codices, vor allem den weltweit einflussreichen Code civil (1804), bis hin zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1900). Der Monopolanspruch des Staates, lückenlos das gesamte gesellschaftliche Leben durch staatliches Recht zu regulieren und zu kontrollieren, wuchs also im Laufe der Jahrhunderte stetig. Auch die religiösen Lebenswelten wurden von dieser Entwicklung erfasst. Seitens der Kirchen (insbesondere seitens der Katholischen Kirche) wurde die zunehmende rechtliche Strukturierung des religiösen Lebens bzw. von Lebensbereichen, die – wie Ehe, Familie und Erziehung – traditionell religiös normiert waren, als Versuch einer ›feindlichen Übernahme‹ gedeutet. In den europäischen Kulturkämpfen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten die seit Jahrhunderten schwelenden Auseinandersetzungen ein neuartiges Konfliktniveau: Sie wurden zu gesamtgesellschaftlichen Konflikten, die große Teile der Bevölkerung mobilisierten und Prozesse sozialer Polarisierung in Gang setzten: »They embraced«, so die Historiker Christopher Clark und Wolfram Kaiser, »virtually every sphere of social life […]. In short, these conflicts were ›culture wars‹, in which the values and collective practices of modern life were at stake.«18 Im Deutschen Reich leitete der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck den (zuerst von Rudolf Virchow so bezeichneten) ›Kulturkampf‹ ein. Er reagierte damit innenpolitisch auf die neuartige parlamentarische Aktivität der katholischen Zentrumspartei, die angesichts der ultramontanen Prädominanzansprüche der Katholischen Kirche (wie sie im 1870 vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündeten Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes sowie im zugleich erhobenen Anspruch des päpstlichen Jurisdiktionsprimats in kirchlichen Angelegenheiten zum Ausdruck kamen) als bedrohliche Herausforderung wahrgenommen wurden. Mit einer Reihe von Gesetzen, die zwischen 1871 und 1876 erlassen wurden, sollte der öffentliche Einfluss der Katholischen Kirche zurückgedrängt werden: Waren der sogenannte ›Kanzelparagraph‹ (1871) gegen die Störung des öffentlichen Friedens durch politische 17 So schon vor gut vier Jahrzehnten: Mahrenholz, Die Kirchen, 16. 18 Clark/Kaiser, The European culture wars, 1. Clark und Kaiser betonen die gesamteuropäische Dimension dieser Auseinandersetzungen gegenüber den Spezifika der jeweiligen nationalen Konfliktkonstellationen; vgl. den Sammelband Clark/Kaiser (Hg.), Culture Wars, dem der zitierte Text entnommen ist; ferner Clark, Kulturkampf und europäische Moderne.
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Stellungnahmen Geistlicher während gottesdienstlicher Veranstaltungen ebenso wie das Verbot des Jesuitenordens (1872) noch eher defensiv ausgerichtet, so suchte Bismarck mit der Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht (1872) und der Einführung der obligatorischen Zivilehe und eines zivilen Personenstandsregisters (1874) den kirchlichen Einfluss zunehmend auch offensiv zu beschneiden. Auf dieser Linie liegen auch die so genannten preußischen ›Maigesetze‹ (1873), mit denen der Staat Kontrolle über die Qualifizierung, Anstellung und Disziplinierung des Klerus zu gewinnen suchte, ebenso wie die seit 1874 verschärfte strafrechtliche Verfolgung unnachgiebiger Geistlicher. Letztlich scheiterte der Staat jedoch mit dem Versuch, die katholische Bevölkerung von der kirchlichen Obrigkeit zu entfremden; die »passive[] Renitenz des Volkskatholizismus«19 erwies sich als stärker.20 Einige der Maßnahmen hatten gleichwohl auch nach der Beilegung des Konflikts Bestand. Dazu gehören die obligatorische Zivilehe, die gegen den massiven Widerstand der Kirche durchgesetzt wurde, sowie das Zivilstandsregister.21 Den Kirchen war damit ein Einflussgebiet abgerungen worden, dem religiös-theologisch hochrangige Bedeutung zugemessen wurde und wird: die rechtliche Normierung des ehelichen und familiären Lebens. Anders als die zugunsten des Staates entschiedenen Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit für das Ehe- und Familienrecht, die relativ bald zur Ruhe kamen, blieb der (mit ehe- und familienrechtlichen Fragen gleichwohl eng verknüpfte) Schulund Erziehungssektor auch weiterhin ein Konfliktfeld ersten Ranges. So konnte selbst bei den Verhandlungen zur Weimarer Reichsverfassung in zentralen religionsrechtlichen Fragen auf diesem Gebiet (wie etwa dem Religionsunterricht) zwischen den Verhandlungsführern lediglich ein, wie es Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre Ende der 1920er Jahre genannt hat, »dilatorische[r] Formelkompromiss« erzielt werden: Da in der Sache selbst im Sommer 1919 keine Einigung herbeigeführt werden konnte, verständigte man sich auf eine Formel, die eine Vielzahl von Deutungen und Regelungswegen offenhielt und die Sachentscheidung selbst vertagte.22 Noch dreißig Jahre später hatte sich die Lage 19 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 280. 20 Das Zentrum konnte seine Mandate im Reichstag sogar erhöhen, das katholische Vereinswesen und die katholische Presse blühten weiter auf. Das katholische Milieu konsolidierte sich im Zeichen des Ultramontanismus; die Minderheit der liberalen Katholiken wurde dabei weiter marginalisiert; vgl. hierzu sowie zum Vorangehenden insgesamt die konzise Zusammenfassung bei Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch, 112 ff. 21 Dieses Rechtsgebiet spiegelt wie kaum ein anderes den maßgeblichen Einfluss des kanonischen Rechts auf die staatliche Rechtsentwicklung; vgl. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung; mit Blick auf die Ehescheidung auch Dilcher, Ehescheidung und Säkularisation. Zu den staatlich-kirchlichen ›Kulturkämpfen‹ um das Eherecht im 19. Jahrhundert vgl. Coing, Die Auseinandersetzung. 22 So am Beispiel der religionsrechtlichen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung:
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wenig gewandelt: Da auch im Parlamentarischen Rat eine Übereinkunft in der Sache nicht erzielt werden konnte, wurden die Weimarer Kompromisse ins Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland übernommen. Mit dem religionsverfassungsrechtlichen System der Weimarer Republik und der Bundesrepublik kam der Prozess der Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, der bis in die geistlich-politischen Auseinandersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts zurückreicht, zu einem (vorläufigen) Ende. Die Konfliktlinien, die bei den Verhandlungen zur Weimarer Verfassung und zum Grundgesetz offen zutage getreten waren, haben gleichwohl bis heute Bestand, auch wenn sie nicht mehr so offen liegen mögen. So ist der Erziehungssektor, und wegen ihres Verpflichtungscharakters insbesondere die schulische Erziehung, bis in die Gegenwart hinein eine privilegierte Arena für die Konflikte zwischen religiösen Ansprüchen und staatlicher Ordnungsmacht geblieben: Ob es um Religions- oder Religionskundeunterricht,23 um das Recht zum gemeinschaftlichen oder individuellen Gebet in der Schule,24 um religiös konnotierte Bekleidung von Schülerinnen und Schülern oder Lehrkräften, um die Ausstattung der Räumlichkeiten mit religiösen Symbolen, um die Teilnahme am koedukativen Sportunterricht, um bestimmte Unterrichtsinhalte (sei es im Bereich der Sexualkunde, sei es in Fragen der Evolutionslehre) oder um die Schulpflicht überhaupt25 geht – die Konflikte um die Zuständigkeit für die Erziehung der Schmitt, Verfassungslehre, 31 – 34 (zuerst 1928). Zu Biographie und Werk des aufgrund seiner politischen Positionierungen in den Anfangsjahren des nationalsozialistischen Regimes zu Recht umstrittenen Staatsrechtlers vgl. Mehring, Carl Schmitt. 23 Siehe die Auseinandersetzung um die Einführung konfessionellen katholischen und evangelischen Religionsunterrichts in Berlin bzw. lebens- und religionskundlichen Unterrichts in Brandenburg (vgl. dazu unten Kapitel 6). Seit Jahren schwelend ist auch die Frage der Einrichtung islamischen Religionsunterrichts (siehe aus der Diskussion: Bock (Hg.), Islamischer Religionsunterricht?; Anger, Islam in der Schule, 299 – 350, 350 – 398) und die damit verknüpfte Einführung islamisch-theologischer Studiengänge an deutschen Hochschulen; vgl. dazu die Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Januar 2010 (Wissenschaftsrat, Empfehlungen); ferner : Kiefer, »Islamische Studien«; ders., Islamische Theologie. 24 Zur Frage der Zulässigkeit des gemeinschaftlichen christlichen Schulgebets vgl. die positive Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 10. 1979 (BVerfG 1 BvR 647/70 und 7/ 74). 2009 machte der oben in der Einleitung (siehe dort Fn. 76) schon knapp erwähnte Fall eines muslimischen Berliner Schülers Aufsehen, der beanspruchte, in der Schule, aber außerhalb der Unterrichtszeiten sein Gebet verrichten zu dürfen; vgl. die positiven Entscheidungen des VG Berlin VG 3 A 983.07, Beschluss vom 10. 3. 2008 sowie des VG Berlin VG 3 A 984.07, Urteil vom 29. 9. 2009, aber auch die Revision durch das OVG Berlin-Brandenburg 3 B 29.09, Urteil vom 27. 5. 2010, das die vorangehenden Entscheidungen zurücknahm. Im November 2011 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die abschlägige Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG 6 C 20.10, Urteil vom 30. 11. 2011 sowie die Pressemitteilung Nr. 106/2011 des BVerwG vom selben Tag). 25 Vgl. etwa den Aufsehen erregenden Fall einer baden-württembergischen Familie, die aus religiösen Gründen darauf bestand, ihre Kinder zuhause zu unterrichten und nach jahrelangem Streit mit den deutschen Behörden 2008 in den US-Bundesstaat Tennessee emigrierte, wo ihr ein Einwanderungsgericht im Januar 2010 politisches Asyl gewährte (vgl. taz,
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Kinder flammen immer wieder auf und erhalten durch die dauerhafte Immigration von Angehörigen anderer Glaubensrichtungen (vor allem des Islams), aber auch durch fundamental orientierte Christen neue Nahrung. Als Streitende stehen sich dabei zumeist Schülerinnen und Schüler bzw. ihre Eltern und staatliche Behörden gegenüber. Das Wort erheben aber auch immer wieder die christlichen Kirchen selbst, die sich – dies mag auf die Katholische Kirche mehr noch als auf die Evangelische zutreffen – weiterhin als rechtmäßiges Gegenüber des Staates verstehen. Die hier lediglich schemenhaft skizzierte Konfliktgeschichte zwischen Staat und Religion zeichnet sich durch die hervorgehobene Rolle aus, die das Recht als Konflikte regulierender ebenso wie als Konflikte provozierender Faktor in ihr spielte. Und diese Linie setzt sich über die Kulturkämpfe des späten 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein fort: In den Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Status von Religion greifen Glaubende und ihre Gemeinschaften (auch die Kirchen, aber mehr noch ›freie‹ Gruppierungen im christlichen Spektrum und andere religiöse Minoritäten, insbesondere auch Musliminnen und Muslime) in zunehmenden Maße zu demjenigen Instrument, mit dem der werdende Staat einst selbst diese Lebensbereiche seiner Gestaltungskompetenz unterworfen hatte: Sie bedienen sich des Rechts bzw. der Rechtsprechung, um ihre religiös motivierten Geltungsansprüche gegenüber dem Staat durchzusetzen.26 Diese Tendenz zur Verrechtlichung der Konflikte um Religion lässt sich in beinahe allen Verfassungsstaaten westlichen Zuschnitts beobachten. Sie ist Teil eines umfassenderen Vorgangs der Verrechtlichung der Gesellschaft insgesamt, der mit dem Aufstieg der modernen europäischen Staatsgewalt einherging und in dem Maße Gestalt gewann, in dem es dieser gelang, das gesamte soziale Leben innerhalb ihres Territoriums rechtlich zu ordnen und durch eine konsequente Verstaatlichung von Recht und Justiz effizient zu kontrollieren.27 Das Wirtschafts- und Arbeitsleben, der Wohlfahrtssektor, Wissenschaft und Forschung, aber auch das kulturelle und nicht zuletzt das religiöse Leben wurden mit 27. 1. 2010). 2006 nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsklage einer hessischen Familie nicht an, die in der strafrechtlichen Verfolgung aufgrund der Missachtung der Schulpflicht einen Verstoß gegen das elterliche Erziehungsrecht und die Religionsfreiheit sah. Die Eltern hatten (namentlich aufgrund ihrer religiösen Vorbehalte gegen die Evolutionstheorie sowie gegen den Sexualkundeunterricht) darauf beharrt, ihre Kinder nach den (staatlich nicht anerkannten) Lehrbüchern der freikirchlichen ›Philadelphia-Schule‹ zuhause zu unterrichten; vgl. BVerfG 2 BvR 1693/04, Beschluss vom 31. 5. 2006. 26 Koenig konstatiert einen deutlichen Anstieg der Rechtskonflikte um die Religion von Migranten seit den 1990er Jahren; vgl. Koenig, Gerichte, 152. 27 Zu diesem Prozess vgl. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 281 – 304. Auch und vor allem mit analytischem Blick auf transnationale Verrechtlichungsprozesse: Shapiro/Stone Sweet, Judicialization.
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Das Recht als ›Imaginationsform‹ des Sozialen
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rechtlichen Regulierungen überzogen und so für staatliche Eingriffe zugänglich gemacht.
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Das Recht als ›Imaginationsform‹ des Sozialen
Der Prozess der Verrechtlichung der Gesellschaft zeichnet sich aber nicht nur durch eine wachsende und zunehmend unübersichtliche Regelungsdichte und eine Expansion des Rechts in sämtliche Lebensbereiche sowie eine wachsende Beanspruchung der Justiz aus. Verrechtlichung bedeutet vielmehr auch und im vorliegenden Zusammenhang vor allem: Das Recht erfüllt nicht allein soziale Ordnungsfunktionen, es reguliert nicht nur Lebensführungen – es formt sie. In diesem Sinn bezeichnete Clifford Geertz das Recht als »part of a distinctive manner of imagining the real«.28 In seinen rechtsanthropologischen Studien über lokale Rechtskulturen in Südasien kam er damit zu ähnlichen Schlüssen wie etwa zur selben Zeit der amerikanische Rechtswissenschaftler Robert M. Cover, der mit Blick auf die westlichen Verfassungsstaaten feststellte, das Recht sei nicht einfach nur ein System verbindlicher Normen, sondern ›die Welt, in der wir leben‹. In seinem viel beachteten Text Nomos and Narrative schreibt er : No set of legal institutions or prescriptions exists apart from the narratives that locate it and give it meaning. […] Once understood in the context of the narratives that give it meaning, law becomes not merely a system of rules to be observed, but a world in which we live.29
Der Hannoveraner Staats- und Verwaltungsrechtler Ulrich Haltern hat diese Einsichten zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen für eine »Kulturtheorie des Rechts« genommen. Auch er bezeichnet darin das Recht als eine »Imaginationsform« des Sozialen.30 Damit ist gemeint: Das Recht strukturiert nicht nur und nicht in erster Linie die (politische, sozialkulturelle, religiöse etc.) Wirklichkeit. Vielmehr strukturiert es auch die Vorstellung, die wir uns von dieser Wirklichkeit machen. »Hierin«, so Haltern, »liegt die eigentliche Macht des Rechts.«31 ›Verrechtlichung‹ in diesem Sinne heißt deshalb auch: Das soziale Leben wird – und zwar von den Akteuren selbst – zunehmend in rechtlichen Kategorien 28 Geertz, Local Knowledge, 184. 29 Cover, Nomos and Narrative, 4 f. 30 Vgl. Haltern, Kulturtheorie des Rechts, 203 – 208. Der Anschluss an Robert M. Cover ist dabei ausdrücklich ausgewiesen (vgl. die Ausführungen zu Nomos und Narration ebd., 198 – 201). Clifford Geertz wird hingegen lediglich als einer von mehreren »intellektuelle[n] Paten« genannt (ebd., 207). 31 Ebd., 205.
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wahrgenommen und gedeutet. Für soziale Konflikte, seien sie politischer, wirtschaftlicher, religionskultureller oder anderer Art, heißt das: Sie werden in der Sprache des Rechts reformuliert und so geradezu zu rechtlichen Konflikten gemacht. So werden Streitigkeiten zwischen disparaten Lebensführungen und Werthaltungen und öffentlichen Gestaltungsansprüchen zunehmend im Licht kollidierender (grund)rechtlicher Ansprüche gedeutet – nicht nur von den unmittelbar Beteiligten, sondern ebenso von den politisch Verantwortlichen und nicht zuletzt von einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die die Auseinandersetzungen engagiert beobachtet und kontrovers debattiert. Es liegt in der Logik dieser Entwicklung, dass die Konfliktlösung immer öfter Gerichten überantwortet wird. Doch auch als präventive Konfliktvermeidungsstrategie wird das Recht mobilisiert. So ist, gerade wenn es um Religionskonflikte geht, der Ruf nach möglichst eindeutigen rechtlichen Einhegungen der religiösen Freiheitsräume immer deutlicher zu vernehmen. Und die Gesetzgeber reagieren durchaus auf diese öffentliche Erwartung. Man denke nur an den ›Dominoeffekt‹, den die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im baden-württembergischen ›Kopftuchstreit‹ im September 2003 ausgelöst hat, in deren Folge die Hälfte der deutschen Bundesländer die Frage der Zulässigkeit religiös konnotierter Bekleidung in der Schule bzw. im öffentlichen Dienst insgesamt gesetzlich zu regeln suchte.32 In kulturwissenschaftlicher Perspektive interessiert vor allem dieser zweite Aspekt des Vorgangs der Verrechtlichung im Sinne eines Prozesses, in dem das Recht zu einer »Imaginationsform« des Sozialen, des Kulturellen, des Religiösen wird. Das Augenmerk wird damit über die quantifizierende Betrachtung hinaus auf die qualitative Seite der durch die Verrechtlichung angestoßenen Dynamik des sozialen Lebens gelegt. In der verrechtlichten Gesellschaft speist sich die gesellschaftliche Steuerungsmacht des Rechts, folgt man dieser Sichtweise, nicht nur bzw. nicht in erster Linie aus der Verdichtung und Ausdehnung rechtlicher Regulierungen. Seine Macht speist sich vielmehr aus seiner Fähigkeit, den Modus zu bestimmen, in dem die sozialen Akteure sich und andere betrachten, ihr Leben gestalten und deuten und Erwartungen an die Zukunft ausbilden. So
32 Vgl. unten Kapitel 5. Die Tendenz, potentielle religionskulturelle Konfliktherde gleichsam vorauseilend rechtlich einzuhegen, zeigt sich auch an der französischen Diskussion um ein gesetzliches Verbot der Ganzkörperbedeckung muslimischer Frauen, die von Regierungsseite gegen den Rat des Conseil d’Etat durchgesetzt wurde; vgl. R¦publique FranÅaise, Code p¦nal, Art. 225 – 4 – 10, cr¦e par la loi no. 2010 – 1192 du 11 octobre 2010 sowie: Conseil d’Etat, Etude relative aux possibilit¦s juridiques d’interdiction du port du voile int¦gral, Rapport adopt¦ par l’assembl¦e g¦n¦rale pl¦niÀre du Conseil d’Etat le jeudi 25 mars 2010. Die Diskussion wird auch anderswo in Europa geführt; in Deutschland hat Hessen Anfang Februar 2011 als erstes Bundesland aus Anlass eines konkreten Konfliktfalls per Erlass das Tragen einer ›Burka‹ im öffentlichen Dienst verboten; vgl. FR, 2. 2. 2011.
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Das Recht als ›Imaginationsform‹ des Sozialen
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ist das Recht, wie Ulrich Haltern in seinem Entwurf einer Kulturtheorie des Rechts schreibt, keineswegs ein Normenkörper, der von außen auf den Gesellschaftskörper einwirkt. Recht ist vielmehr eine bestimmte Art, die Welt zu beobachten und zu verstehen. Recht ist kein Ding, sondern eine Perspektive. […] Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist das Recht integraler Bestandteil dessen, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen.33
Nun ist der Prozess der Verrechtlichung unterschiedlich bewertet worden, auch dann, ja gerade dann, wenn man ihn in diesem qualitativen Sinne einer Internalisierung rechtlicher Imaginationen des Sozialen, des Kulturellen und Religiösen, des Politischen und Ökonomischen usw. versteht. Insbesondere von sozialwissenschaftlicher Seite ist die zwischen Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug changierende Ambivalenz dieses historisch langwierigen Prozesses betont worden, der gewissermaßen im Vorgang der sozialstaatlichen Verrechtlichung kulminiert, die mit dem Auf- und Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaates einhergeht. Zwar ist unstrittig, dass die Entwicklung des modernen Sozial- und Arbeitsrechts, mit dem der Staat auf politisch-ethische (und also im Sinne Webers: materiale) Forderungen aus der Gesellschaft antwortete, ein Meilenstein auf dem Weg zur Freiheits- und Gleichheitsordnung war. Zugleich jedoch hat dieser Prozess zu einer juristischen Formalisierung von Lebensbereichen geführt, die zuvor nicht Gegenstand des Rechts, sondern der kulturellen Lebenswelten waren (wie etwa Krankheit, Alter und familiäre Verhältnisse) oder den wechselnden politischen Kräfteverhältnissen unterlagen (wie Arbeitsbeziehungen und -konflikte).34 33 Haltern, Kulturtheorie des Rechts, 207 f. Diese Auffassung korreliert durchaus mit der (von Niklas Luhmann inspirierten) Perspektive von Murphy, Law and Modernity. Zwar steht Murphy der Rede von der Verrechtlichung der Gesellschaft skeptisch gegenüber (»all-tooeasy talk of juridification«, 179), weil diese in seinen Augen auf einer hierarchischen Konzeptualisierung der Rolle und Funktion des Rechts in der Gesellschaft aufruht. Sein eigenes Konzept, in dem das Recht als eine von vielfältigen konkurrierenden Vorstellungen und Praktiken (neben Politik, Religion, Wirtschaft etc.) horizontal in gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge eingebunden ist, die sich fortwährend gegeneinander abgrenzen (vgl. etwa ebd., 172 f und passim), schließt jedoch keineswegs einen Bedeutungszuwachs des Rechtlichen in der sozialen Imagination aus, wie er in der vorliegenden Arbeit beobachtet wird. 34 Der Begriff ›Verrechtlichung‹ entstand nicht zufällig als Kampfbegriff in den arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik; die rechtliche Formalisierung von Arbeitsbeziehungen wurde damit als Enteignung politischer Konflikte durch das Recht
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Die Ver(grund)rechtlichung der Gesellschaft
Diese kritische Sicht auf den Vorgang der Verrechtlichung des Sozialen hat in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie in der politischen Debatte etliche Varianten gefunden, denen bei allen Differenzen eines gemeinsam ist: Sie alle begreifen Verrechtlichung als Deformation von Handlungs- oder Lebensbereichen, die zuvor nicht rechtlich strukturiert waren ¢ als Deformation des Politischen oder des Privaten, der Bildung, der Wissenschaft, der Kultur, der Wirtschaft oder eben der Religion.35 Nicht selten korreliert diese Sicht mit der situationsspezifischen Interessenlage und Deutung der jeweiligen Akteure, die aber bei aller Kritik an den Verrechtlichungsprozessen andererseits an das Recht auch Hoffnungen und positive Anerkennungserwartungen knüpfen. Diese Hoffnungen und Erwartungen gründen sich vor allem darauf, dass dem Recht zugetraut wird, die Entscheidung konkreter Konfliktlagen den bestehenden politischen, sozialen oder religionskulturellen Macht- bzw. Mehrheitsverhältnissen zu entziehen. In den Rechtskonflikten um Religion tritt dies deutlich zutage: Wenn eine muslimische Lehrerin in Baden-Württemberg, einem Bundesland, das sich in seiner Verfassung und in seinem Schulgesetz ausdrücklich auf christliche Traditionsbestände beruft,36 auf dem Rechtsweg darum ringt, auch im Unterricht an einer staatlichen Schule eine islamisch motivierte Kopfbedeckung tragen zu dürfen, dann tut sie dies im Vertrauen darauf, dass sich die Formalität des Rechts gegen materiale Verhaltenszumutungen durchsetzt. Ähnliches gilt auch unter anderen Vorzeichen, wenn etwa die Kirchen im kritisiert (vgl. Teubner, Verrechtlichung, 298 f). Diese kritische Interpretationslinie, nach der das Recht Konflikte nicht löst, sondern die Streitparteien ihrer Konflikte entfremdet und damit produktive soziale Dynamiken bremst, verdichtet sich in Jürgen Habermas’ Formel von sozialstaatlicher Verrechtlichung als einem Teilprozess der »Kolonialisierung der Lebenswelt« (vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, hier 522, zum Gesamtzusammenhang ebd., 522 – 547). Das Sozialrecht des Wohlfahrtsstaates ist danach letztlich janusköpfig: Zwar hat es, indem es Klassenkonflikte einhegt und ihre Negativeffekte abfedert, freiheitsverbürgenden Charakter. Da jedoch die rechtliche Strukturierung sozialer Problemlagen eine bürokratische Bearbeitung des jeweiligen Lebensproblems und seine Klassifizierung nach formalen Gesichtspunkten verlangt, unterwerfen sozialstaatliche Verrechtlichungsprozesse die soziale Lebenswelt s.E. zugleich einer »gewalttätigen Abstraktion« (ebd., 532) und gefährden so die Bedingungen, unter denen die soziale Lebenswelt sich selbst zu reproduzieren vermag. Habermas sprach deshalb 1981 von der »dilemmatische[n] Struktur dieses Verrechtlichungstyps« (ebd., 534), revidierte diese Einschätzung aber später selbst (vgl. ders., Faktizität und Geltung, 1998 [zuerst 1992], dort ausdrücklich 502; vgl. aber zum Problemzusammenhang insgesamt ebd., 468 – 537, sowie die erste seiner beiden Tanner Lectures von 1986 zum Verhältnis von Recht und Moral ebd., 541 – 570). Zu Webers Unterscheidung von formaler und materialer Rechtsrationalität vgl. oben Fn. 11 sowie (im Zusammenhang mit dem Vorgang der Verrechtlichung) Teubner, Verrechtlichung, 304ff; ferner : Gephart, Recht als Kultur, 52 – 64. 35 Vgl. dazu die grundlegenden Reflexionen aus der Perspektive der politischen Philosophie und Rechtsphilosophie: Cover, Narrative, Violence, and the Law (darin auch und besonders den Wiederabdruck des schon erwähnten Aufsatzes Nomos and Narrative aus dem Jahr 1983); auch: Menke, Spiegelungen. 36 Vgl. unten Kapitel 5.
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Die Vergrundrechtlichung der Anerkennung
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weitgehend entchristlichten Brandenburg bis hin zum Bundesverfassungsgericht für die Einrichtung konfessionellen Religionsunterrichts auf grundrechtlicher Basis streiten.37 Und auch die konfessionslosen Eltern, die im katholischen Bayern gegen die Ausstattung der Unterrichtsräume ihrer Kinder mit einem Kruzifix klagten, taten dies im Vertrauen auf die Durchsetzungsfähigkeit formaler rechtlicher Verfahren.38 In diesen (und anderen) Fällen reformulieren die Streitparteien selbst die jeweilige Konfliktsituation und die ihr zugrunde liegenden religiösen oder weltanschaulichen Sachverhalte in der Sprache des Rechts und machen sie auf diese Weise selbst zu rechtlichen Tatbeständen und zu Rechtskonflikten. Und sie tun dies, weil sie an das Recht hohe Erwartungen knüpfen: Insbesondere Minderheiten erhoffen vom Recht Rückendeckung im gesellschaftlichen Kampf um Anerkennung. Ihre Erwartungen richten sich vor allem auf die verfassungsrechtlich verbürgten Grund- und Menschenrechte, namentlich auf die Garantie der Religionsfreiheit sowie auf den Gleichheitsgrundsatz. In der verrechtlichten Gesellschaft, das zeigt die Beobachtung jüngerer Konflikte und Kontroversen um Religion, ist das Recht – insbesondere in Gestalt der Grund- und Menschenrechte – zu einer Schlüsselressource im Kampf um Anerkennung geworden. Dies gilt auch für die religionskulturellen und religionspolitischen Anerkennungskämpfe. Indem aber diejenigen, die innerhalb des religiösen Feldes oder im Grenzgebiet des Religiösen operieren, ihre Ansprüche auf gesellschaftliche Teilhabe und Visibilität, auf eine von spezifischen Vorstellungen des Guten und Richtigen getragene Lebensführung als grundrechtlich fundierte Ansprüche formulieren, verändern sie sowohl ihre eigene Wahrnehmung ihrer religionskulturellen Lebenswelt als auch die Perspektive, in der andere sich dieser Welt zuwenden: Die Grund- und Menschenrechte werden zu einer ›Imaginationsform‹ des religiösen Lebens, seiner Möglichkeiten und Begrenzungen. Diese Entwicklung steht in einem umfassenderen rechtshistorischen bzw. rechtskulturellen Zusammenhang, der seinerseits eng mit dem Vorgang der Verrechtlichung des Sozialen verknüpft ist und sich als ›Vergerechtlichung‹ bzw. ›Vergrundrechtlichung‹ sozialer Anerkennung kennzeichnen lässt.
2.3
Die Vergrundrechtlichung der Anerkennung
Der Prozess der Verrechtlichung, der den Aufstieg des modernen Staates begleitete und ermöglichte, geht seit dem 20. Jahrhundert Hand in Hand mit einer Entwicklung, die als Vorgang der ›Vergerechtlichung‹ beschrieben worden ist. 37 Vgl. unten Kapitel 6.1. 38 Vgl. unten Kapitel 4.
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Die Ver(grund)rechtlichung der Gesellschaft
Der sperrige Terminus ›Vergerechtlichung‹ ist ein Neologismus des Berliner Rechtwissenschaftlers Bernhard Schlink, der den Begriff durch die Substantivierung des alten Wortes ›gerechtlich‹39 gebildet hat und damit einen tief greifenden Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins bezeichnet, der sich seines Ermessens im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzogen hat und seither fortschreitet. Denn, so diagnostiziert Schlink, als Antwort auf die katastrophalen Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts gebe es weltweit die Tendenz, sozialpolitische Gerechtigkeits- und sozialmoralische Anerkennungsforderungen nicht mehr nur und nicht in erster Linie auf den Foren des politischen, des sozialkulturellen oder des religiösen Lebens selbst auszutragen, sondern sie in rechtliche – und zwar vor allem in grund- bzw. menschenrechtliche – Ansprüche zu übersetzen.40 Schlink spricht in diesem Zusammenhang von einer »Stilisierung der politischen Kultur zur Grundrechtskultur«.41 Was er als Vorgang der Vergerechtlichung beschreibt, ließe sich entsprechend auch als Prozess der Vergrundrechtlichung kennzeichnen. Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass die Welt, wie Schlink schreibt, vor allem unter normativen Gesichtspunkten wahrgenommen wird: Die normative Wahrnehmung geht weit. […] Daß schwache Begabung gefördert, Behinderung erleichtert, Krankheit behandelt, Kinderlosigkeit behoben, in allen Gefahrund Notlagen Rettung organisiert und bei Hochwasser und Mißernte Entschädigung geleistet wird, ist nicht mehr nur eine Hoffnung […], sondern eine normative Erwartung.42
Und so werde, was früher als Schicksal hingenommen worden sei, nunmehr »als Unrecht angeklagt, das verhindert, sanktioniert und kompensiert werden soll.«43 Schlinks Diagnose einer weltweit gesteigerten Sensibilität für fundamentale menschliche Rechte und deren Verletzung und eine damit einhergehende wachsende Neigung, das soziale Leben insgesamt normativ wahrzunehmen und in Kategorien der Grund- und Menschenrechte zu deuten und zu bewerten, wurde von sozialwissenschaftlicher Seite bestätigt und in den Kontext der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung der Menschenrechte nach 1945 gestellt.44 Dabei wurde nachdrücklich auch auf den Bedeutungswandel hingewiesen, den die Menschenrechte, insbesondere auch die religionsbezogenen Rechte, im Zuge ihrer weltgesellschaftlichen Institutionalisierung erfahren haben. Nach Matthias Koenig hat sich dieser Wandel in drei Phasen vollzogen: Den Beginn 39 40 41 42 43 44
Vgl. Schlink, Preis der Gerechtigkeit, 10. Ebd., 24 f. Ebd., 25. Ebd., 15. Ebd. Vgl. Koenig, Weltgesellschaft; auch Menke/Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte.
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Die Vergrundrechtlichung der Anerkennung
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der ersten Phase markieren die Charta der Vereinten Nationen vom Juni 1945 und die sich anschließende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948, die gegenüber dem klassischen Völkerrecht, das mit dem Westfälischen Frieden (1648) entstanden war und lediglich souveräne Staaten (also nicht Individuen) als Rechtsträger anerkannte, die entscheidende Innovation vollzog, das Individuum in den Kreis der Völkerrechtssubjekte aufzunehmen.45 Das hier grundgelegte individualrechtliche Menschenrechtsverständnis wurde in der zweiten Phase, beginnend mit dem von den Vereinten Nationen erzielten Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom März 1966, durch die Einführung von (ethnischen und in der Folge auch sozialkulturellen und religiösen) Gruppenrechten erweitert und zu Teilen auch überlagert. Die jüngste Phase, deren Beginn mit der Zäsur des Jahres 1989 angesetzt werden kann, zeichnet sich Koenig zufolge schließlich durch eine Stärkung und Spezifizierung der Rechte von Minderheiten – auch von religiös bestimmten Minderheiten – aus, in deren Folge Religion zunehmend zu einer rechtlichen Ressource sub- und transnationaler kollektiver Akteure wurde. Der seit 1945 fortschreitende weltgesellschaftliche Vorgang der Vergerechtlichung bzw. der Vergrundrechtlichung hat damit nicht zuletzt auch einen folgenreichen Bedeutungswandel von Religion in Gang gesetzt: Mit der Umstellung des Völkerrechts von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Individuen wurden die Weichen zunächst in Richtung Individualisierung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit gestellt. Mit der anschließenden Stärkung der Rechte von sozialen, kulturellen und damit nicht zuletzt auch religiösen Minderheiten wurde die Religion hingegen wieder ein Rechtsgut, mit dem sich Interessen kollektiver Akteure durchsetzen ließen. Unter den Bedingungen weltweit zunehmender (Religions-)Migration kam es so statt zu einer Entpolitisierung des Religiösen zu einer Repolitisierung von Religion.46 Die vermehrt auftretenden Rechtskonflikte um Religion – die Anerkennungskämpfe von religiösen Minderheiten, das mit Verweis auf die Religionsfreiheit Erfolg versprechende Ringen um Sonderrechte oder Dispense vom allgemeinen Recht etc. – stehen auch in diesem historischen Zusammenhang.47 Bernhard Schlink beobachtet den Vorgang der Vergerechtlichung bzw. Vergrundrechtlichung mit Bedenken. Diese richten sich allerdings weniger auf das sozial- und religionskulturelle Konfliktpotential, das diese Entwicklung birgt; 45 Dazu auch Frowein, Die Wiederentdeckung des Menschen. 46 Diese Entwicklung zeichnet Koenig, Weltgesellschaft. 47 Vgl. aus der umfangreichen Literatur : Shapiro/Kymlicka (Hg.), Ethnicity and Group Rights; May/Modood/Squires (Hg.), Ethnicity, Nationalism and Minority Rights; Boshammer, Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit; ausdrücklich mit Fokus auf Religion: Grimm, Multikulturalität und Grundrechte.
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Die Ver(grund)rechtlichung der Gesellschaft
dieses lässt er weitgehend unbeachtet. Seine Vorbehalte gründen sich vielmehr auf die Einschätzung, dass mit der fortschreitenden Vergerechtlichung des sozialkulturellen Lebens eine Entpflichtung der Einzelnen und der Gesellschaft von ihrer Verantwortung für das eigene Leben und die Welt einhergeht: »Mit der Verrechtlichung des Moralischen«, so Schlink, »wird das moralisch engagierte Individuum entlastet; es kann die Verantwortung für die Welt an das Recht delegieren.«48 Wenn aber die Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit an das staatliche Recht delegiert werde, dann drohe die sittliche Substanz der Gesellschaft zu schwinden, aus der heraus der freiheitliche Staat lebe.49 Wie immer man den Vorgang der Vergerechtlichung bzw. Vergrundrechtlichung und seine Konsequenzen bewerten mag – Schlinks Diagnose, »[d]aß das Recht im System der Systeme die führende Rolle angetreten hat«,50 scheint sich in den aktuellen Entwicklungen zu bestätigen. Das Rechtssystem zeichnet ihm zufolge »den anderen Systemen« (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion etc.) »ihre Möglichkeiten vor«.51 An »seiner Rationalität, Logik und Sprache müssen sie ihre Rationalität, Logik und Sprache orientieren.«52 Mit anderen Worten: Das Recht ist zur herrschenden ›Imaginationsform‹ des sozialen Lebens geworden. Dies gilt insbesondere für die Grund- und Menschenrechte, die im Zuge ihrer globalen Institutionalisierung in wachsendem Maße die sozialen – und das heißt auch die religionskulturellen und religionspolitischen – Anerkennungskämpfe steuern. In der vergerechtlichten bzw. vergrundrechtlichten Gesellschaft wird gesellschaftliche Anerkennung auch von religiösen Ansprüchen maßgeblich über das Recht vermittelt. Diese Entwicklung findet in den jüngeren Konflikten um Religion und die Anerkennung partikularer religiös motivierter Praktiken der Lebensführung und in den Kontroversen, die diese auslösen, ihren Niederschlag. So werden Auseinandersetzungen innerhalb des religiösen Feldes sowie um seine Grenzen zunehmend als Konflikte um das Grundrecht auf Religionsfreiheit bzw. die grundrechtliche Gewährleistung der Gleichheit aller vor dem Gesetz gedeutet. Dieser Trend ist aufseiten der unmittelbar beteiligten Akteure ebenso zu beobachten wie in der engagiert debattierenden Öffentlichkeit, deren konkurrierende Voten in den jeweiligen Streitsachen medial verstärkt zirkulieren.53 Dabei 48 Schlink, Preis der Gerechtigkeit, 25 f. 49 Schlink gibt sich hier als Schüler Ernst-Wolfgang Böckenfördes zu erkennen, der in der Tat sein juristischer Lehrer in Freiburg war ; zum ›Böckenförde-Diktum‹, das in diesen Äußerungen Schlinks durchscheint, vgl. das Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit. 50 Schlink, Preis der Gerechtigkeit, 26 – 30, hier 29. 51 Ebd., 26. Schlinks Diktion ist hier eine im Anschluss an Niklas Luhmann gewählte systemtheoretische, die sich im vorliegenden Zusammenhang jedoch leicht auch in Bourdieus Terminologie sozialer Felder (dazu oben Kapitel 1) übersetzen ließe. 52 Schlink, Preis der Gerechtigkeit, 26. 53 Vgl. dazu auch Koenig, Gerichte.
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Die Vergrundrechtlichung der Anerkennung
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ist es zunächst von sekundärer Bedeutung, wie weit das religionspolitische und -kulturelle Steuerungs- und Konfliktlösungspotential des Rechtssystems tatsächlich reicht. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Wahrnehmung und die Deutung des religionskulturellen Lebens und seiner Konflikte so markant von der Sprache der Grund- und Menschenrechte imprägniert sind, dass die Anerkennung grundrechtlicher Ansprüche auf religiöse Freiheit und Gleichheit mit erheblichen symbolischen Gewinnen verbunden ist, die ihrerseits eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb des religiösen Feldes sowie zwischen dem religiösen Feld und seinen Nachbarfeldern in Gang setzen können. Das Recht und insbesondere die Grundrechte werden unter diesen Bedingungen zu wirksamen Instrumenten im Ringen Glaubender und ihrer religiösen Gemeinschaften um gesellschaftliche Anerkennung. Die religionskulturelle und -politische Steuerungskapazität des Rechts, insbesondere der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte auf Freiheit und Gleichheit in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten, ist also eine symbolische: Sie hat weniger mit der faktischen Sanktionsmacht des Rechtssystems im religiösen Feld zu tun als vielmehr mit der aus dem religiösen Feld selbst an das Recht herangetragenen Erwartung, aus der Anerkennung grundrechtlicher Ansprüche symbolischen Gewinn zu schöpfen, der in den feldinternen Auseinandersetzungen ebenso wie in den Grenzkonflikten mit benachbarten Feldern Positionsvorteile vermittelt. Dies ist der Kern der tiefgreifenden sozial- und religionskulturellen Wandlungsprozesse, die der doppelte Vorgang der Verrechtlichung und der Vergerechtlichung bzw. Vergrundrechtlichung in Gang setzt.
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3.
Das Problem der Religionsfreiheit
3.1
Freiheit – Gleichheit – Säkularität. Zur historischen Genese des Prinzips der Religionsfreiheit
Die Institutionalisierung des Rechts auf Religionsfreiheit in Europa und seine Verknüpfung mit dem Gleichheitsprinzip sowie mit der Idee staatlicher Säkularität war ein langwieriger Prozess, der sich in den verschiedenen europäischen Staaten weder gleichförmig noch zur gleichen Zeit vollzogen hat. Im historischen Rückblick lassen sich vereinfachend drei Phasen unterscheiden.1 Die erste Phase setzt ein, als im frühneuzeitlichen Europa die Religions- bzw. die Konfessionsfreiheit Gegenstand rechtsverbindlicher Konventionen wird, wie dies im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und im Westfälischen Frieden von 1648 geschah. Von heutigen individualrechtlichen Vorstellungen waren die frühneuzeitlichen Konzeptualisierungen der Religionsfreiheit allerdings noch weit entfernt. So gewährte der Augsburger Religionsfrieden keineswegs die Freiheit, sich zu gleich welcher Religion zu bekennen oder sich jedes religiösen Bekenntnisses zu enthalten. Er eröffnete lediglich die Möglichkeit, zwischen zwei christlichen Konfessionen, der lutherischen und der römisch-katholischen, zu wählen und hat insofern »wenig mit moderner Toleranz zu tun, sondern verdient eher die Bezeichnung ›Intoleranz zu zweit‹ auf Kosten aller anderen.«2 Knapp 100 Jahre später, im Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück, nahm man angesichts der weiter fortschreitenden Diversifizierung des christlichen Feldes eine dritte Konfession in die Liste der Wahlmöglichkeiten auf: Neben dem römisch-katholischen und dem lutherischen stand nun paritätisch auch das reformierte Bekenntnis zur Wahl. Andere Bekenntnisgemeinschaften 1 Angesichts des thematischen Zuschnitts der Arbeit, deren Fokus auf Rechtskonflikten um Religion in Deutschland liegt, wird im Folgenden schwerpunktmäßig die deutsche Rechtsgeschichte berücksichtigt. Eine stärkere Vergleichperspektive mit der französischen Entwicklung enthält meine Darstellung in Reuter, Kreuz und Kopftuch, 276 – 281. 2 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 275.
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Das Problem der Religionsfreiheit
blieben jedoch auch weiterhin aus dem Feld legitimer Konfessionen ausgeschlossen. Was in Augsburg und Münster bzw. Osnabrück rechtlich institutionalisiert wurde, war also keine Religionsfreiheit im heutigen Sinn, sondern eine ›Konfessionszwei‹- bzw., -›dreiheit‹. Die frühneuzeitlichen Regelungen unterscheiden sich jedoch nicht nur darin von heutigen Vorstellungen vom Wesen der Freiheitsrechte, dass sie die gewährte Freiheit auf eine Wahlfreiheit zwischen vorab ausgewählten christlichen Konfessionen beschränken. Von fundamentaler Bedeutung ist noch etwas anderes: Denn die im Augsburger und Westfälischen Frieden gewährte Freiheit, zwischen zwei bzw. drei Konfessionen zu wählen, wird hier nicht als individuelles Recht gestaltet. Träger dieses Wahlrechts waren vielmehr allein die Reichsstände, das heißt diejenigen, die persönlich (wie die weltlichen und geistlichen Fürsten) oder als Korporation (wie die freien Reichsstädte) Sitz und Stimme im Reichstag hatten.3 So hatte nach dem Augsburger Abkommen der jeweilige Reichsstand das Recht, mit seiner Wahl das Bekenntnis sämtlicher Bewohner seines gesamten Territoriums festzulegen. Für dieses umfassende ius reformandi wurde in der Folgezeit die (in den Vertragstexten selbst nicht enthaltene) eingängige Kurzformel cuius regio eius religio gefunden. Eingeschränkt wurde dieses ›Reformationsrecht‹ des Landesherrn nur durch das den Untertanen gewährte Recht zur Auswanderung, das sogenannte ius emigrandi. Mit diesem wurde der Gewissensfreiheit des Einzelnen zumindest im Ansatz Rechnung getragen. Die Bedeutung dieses Auswanderungsrechts ist oft betont worden: Nicht die Religionsfreiheit, sondern das ius emigrandi war »das erste individuelle Grundrecht der deutschen Rechtsgeschichte«.4 Im Westfälischen Frieden wurden diese Regelungen im Grundsatz bestätigt und vertieft. Allerdings wurde die Regel cuius regio eius religio durch die Einführung eines Stichtags eingeschränkt: So wurden die Landesherren 1648 verpflichtet, die konfessionellen Besitzstände zu achten, die am 1. Januar 1624 bestanden, und überdies auch jedem die freie Ausübung derjenigen Konfession zu garantieren, zu der er sich am 1. Januar 1624 bekannte.5 Die volle historische Bedeutung der Friedensschlüsse von Augsburg und 3 Zu den verschiedenen Sonderregelungen, etwa für die konfessionell gemischten freien Reichsstädte, die den Status quo von 1555 zu bewahren hatten, vgl. mit weiteren Nachweisen: Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 77 f. Die überragende Bedeutung der Vertragswerke von 1555 und 1648 für die religionsrechtliche sowie allgemein die verfassungsrechtliche Entwicklung bis in die Gegenwart betont Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung; in diesem Sinne auch Schilling, Der Westfälische Friede; ebenso Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, 86 f; vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1. 4 So Dorothea Wendebourg in der FAZ vom 24. 9. 2005. 5 Zum Westfälischen Frieden vgl. die knappe Darstellung bei Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 95 – 98; Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 25 – 27; ferner den Sammelband von Duchardt (Hg.), Der Westfälische Friede.
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Freiheit – Gleichheit – Säkularität
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Münster bzw. Osnabrück erschließt sich erst, wenn man sie in die politische Ordnung des 16. und 17. Jahrhunderts einrückt, das heißt in das System eines aus mehreren Territorialstaaten bestehenden Reichs. Erst dann tritt das zentrale Konstruktionsprinzip dieser Friedensschlüsse hervor: Denn mit dem Augsburger und dem Westfälischen Frieden wurde im 16. und 17. Jahrhundert eine, wie Hans Maier schreibt, »zweipolige[] Ordnung« begründet, die das Prinzip der konfessionellen Geschlossenheit der Einzelstaaten mit dem Prinzip der Parität auf der Reichsebene verband: »In den Territorialstaaten des Reichs herrscht konfessionelle ›Purität‹ […]; im Reich dagegen gilt als oberster Grundsatz das Nebeneinander, die ›Parität‹ der Konfessionen«.6 Die auf reichsrechtlicher Ebene verankerte Parität, die der bi- bzw. trikonfessionellen Konstellation Rechnung trägt, hat in der deutschen Rechtsgeschichte eine frühzeitige Verknüpfung des Freiheitsgedankens mit dem Gedanken der Gleichheit begünstigt. Allerdings hat sie letzterer auch eine Deutung unterlegt, die sich gegen die moderne Gleichheitsidee sperrt und dieser nur zögerlich Raum gab. Denn Gleichheit wurde im 16. und 17. Jahrhundert als Parität verstanden: als die rechtliche Gleichstellung ausgewählter korporativ verfasster christlicher Konfessionen. Erst allmählich wich der allein auf christliche Konfessionsgemeinschaften bezogene Paritätsgedanke dem Gedanken eines allgemeinen und individuellen Rechts auf Freiheit in Fragen der Religion und Weltanschauung. Das Recht auf freie Wahl zwischen ausgewählten christlichen Konfessionen wurde also erst nach und nach in ein umfassendes Freiheitsrecht transformiert, das sich auf sämtliche Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen bezieht und zudem nicht (in erster Linie) Korporationen, sondern Individuen zukommt. Auch die Vorstellung, dass Freiheit und Gleichheit überhaupt nur in einem säkularisierten Rechtsrahmen gewährleistet werden können, setzte sich erst im Laufe der Jahrhunderte durch. So hat die im modernen Verfassungsstaat festgefügte Trias ›Freiheit–Gleichheit–Säkularität‹ eine lange Vorgeschichte, in der die religionsrechtlichen Vertragswerke des 16. und 17. Jahrhunderts wichtige Weichenstellerdienste geleistet haben. Allerdings trägt die religionsgeschichtliche Dynamik, die sie in Gang setzten, zunächst ambivalente Züge. Denn die konfessionsrechtliche Zweipoligkeit – ›Purität‹ in den Territorien, ›Parität‹ im Reich – hat einerseits (mit dem Prinzip cuius regio eius religio) Konfessionalisierung begünstigt, andererseits aber auch Säkularisierung (der Rechtsformen ebenso wie der Gesellschaft) angestoßen.7 6 In der FAZ vom 17. 9. 2005. 7 Aus der anhaltenden Diskussion um die dialektische Verschränkung von Säkularisierung und Konfessionalisierung im Prozess der Staatswerdung vgl. nur : Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung; Stolleis, »Konfessionalisierung« oder »Säkularisierung«; angestoßen wurde die Debatte v. a. von: Schilling, Konfessionalisierung; Reinhard, Gegenreformation als Mo-
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Das Problem der Religionsfreiheit
Insbesondere der Westfälische Frieden erweist sich im Rückblick als ein Meilenstein hin zum modernen säkularisierten Staatsverständnis. Der Augsburger Friedensschluss war hingegen noch ganz von der Zielperspektive der konfessionellen Wiedervereinigung geprägt: So setzte er ausdrücklich nur vorläufiges Recht, das Gültigkeit nur bis »zu Christlicher [sic], freundlicher und endlicher Vergleichung der religion [sic]« beanspruchte, auf die hinzuarbeiten die Vertragsparteien sich verpflichteten.8 Die Anerkennung der Zweikonfessionalität sollte also nach den Augsburger Vorstellungen der Wiederherstellung der Glaubenseinheit dienen und wurde von diesem Ziel her gerechtfertigt. Entsprechend wurde die religiöse Wahrheitsfrage in Augsburg nicht suspendiert, sondern lediglich bis zur baldigen Glaubenseinigung in der Schwebe gehalten.9 Knapp 100 Jahre später, zum Zeitpunkt des Westfälischen Friedens, war diese Erwartung gewichen. Die historische Erfahrung hatte die Hoffnung auf die bevorstehende Überwindung der Konfessionsspaltung zerrüttet. Damit aber gewannen die Vereinbarungen einen neuen Charakter : Aus »Instrumenten einer vorläufigen Sicherheitsgewährung zum Zweck alsbaldiger Glaubenseinigung« wurden sie zu »institutionellen Garantien der dauernden Trennung und dogmatischen Selbstbehauptung beider Konfessionen«.10 So erwies sich das Prinzip cuius regio eius religio, das zunächst tiefgreifende Konfessionalisierungsprozesse in Gang setzte, in der longue dur¦e durchaus als Säkularisierungsimpuls, da es die Autorität des Souveräns über die Frage religiöser Wahrheit stellte. Damit war das Fundament gelegt, auf dem sich in den nachfolgenden Jahrhunderten das Staatskirchen- bzw. Religionsrecht zu einer zunehmend »säkularen Rahmenordnung« entwickeln konnte.11 Wie Martin Heckel resümiert, lag ein massiver Säkularisierungschub darin, daß der Religionsfrieden Vorrang vor dem Kirchenrecht beanspruchte und damit den Absolutheitsanspruch beider Konfessionen brach. […] Die massive Konfessionalisierung in den Territorien war somit einerseits das Gegenteil von Säkularisierung, andererseits aber die Folge der Säkularisierung im Reich.12
Maßgeblich vorangetrieben wurde diese Entwicklung hin zum modernen Verständnis von Religionsfreiheit als einem Grundrecht, das nur in einem säkularisierten Rechtsrahmen gewährleistet werden kann, unter dem Einfluss von Aufklärung und Revolution im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Dies ist die
8 9 10 11 12
dernisierung? Vgl. auch ders., Zwang zur Konfessionalisierung?; Reinhard/Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. So §§ 7, 9, 25 des Augsburgers Religionsfriedens, zitiert nach Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 18. Dazu ebd., 14 – 20. Ebd., 19. Ebd., 29. Ebd., 28.
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Freiheit – Gleichheit – Säkularität
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zweite der eingangs erwähnten drei Phasen, in denen sich die Verknüpfung der Idee der Religionsfreiheit mit dem Gleichheitsprinzip sowie mit der Idee staatlicher Säkularität in Europa vollzog. Konsequent verwirklicht wurde die Idee säkularer Staatlichkeit indes auch in dieser Zeit nicht. So waren Staat und Kirchen noch im gesamten 19. Jahrhundert, das auch in dieser Hinsicht als ›langes Jahrhundert‹13 erscheint, eng verflochten. In Deutschland wurden die institutionellen Bande verfassungsrechtlich erst in der Weimarer Reichsverfassung 1919 gelöst.14 Anders als in Frankreich, das 1905 den Weg in die Laizität besiegelte,15 konnten die deutschen Anhänger radikaler Trennungsmodelle in der verfassunggebenden Nationalversammlung keine Mehrheit finden und lediglich ein Modell »hinkender Trennung« durchsetzen,16 das sich bekanntlich bis in das Grundgesetz fortsetzt. Allerdings zog sich der Staat im Laufe dieser langwierigen Trennungsgeschichte immer mehr aus den so genannten ›inneren‹ oder ›eigenen‹ Angelegenheiten der Kirchen zurück und lockerte seine Gewalt über die Kirchen schrittweise zur bloßen Aufsichtsgewalt über deren ›äußere‹ Angelegenheiten bzw. die kooperative Gestaltung der ›gemeinsamen Angelegenheiten‹. Mit letzteren sind Bereiche gemeint, die grundsätzlich staatlich organisiert sind, in denen Glaubende bzw. Religionsgemeinschaften aber ihre religiösen Freiheitsrechte wahrnehmen (bspw. im Religionsunterricht und in der Hochschultheologie, in der Anstaltsseelsorge, im Bestattungswesen oder im Kirchensteuerrecht).17 Die Idee staatlicher Säkularität ist also unterschiedlich ausgestaltet worden und hat verschiedene Formen des Umgangs mit Religion hervorgebracht: Soll 13 Zum Topos vom ›langen 19. Jahrhundert‹ (1789 bis 1914) vgl. Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. 14 So heißt es beinahe lapidar im Art. 137 Abs. 1 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919 (der mit Art. 140 GG auch Eingang in das Grundgesetz gefunden hat): »Es besteht keine Staatskirche.« 15 1905 wurde im Geiste der ›lacit¦‹ die gesetzliche Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften verfügt; Verfassungsrang erhielt die ›lacit¦‹ allerdings erst 1946 in der Verfassung der Vierten Republik, die in ihrem 1. Artikel erklärt: »La France est une R¦publique indivisible, laque, d¦mocratique et sociale.« Die französischen Gesetzestexte ebenso wie die Verfassungsdokumente sind einzusehen unter http://www.legifrance.gouv.fr [6. 7. 2010]. 16 So die Formulierung des Staatsrechtlers Ulrich Stutz, Die päpstliche Diplomatie, 54, dort Fn. 2. Alternativ ließe sich auch mit Ernst-Wolfgang Böckenförde von einer »balancierten Trennung« sprechen (Böckenförde, Religion im säkularen Staat, 431). Gemeint ist: Anders als im laizitären Modell wird nicht alles, was mit Religion in Zusammenhang steht, aus dem Bereich staatlicher Zuständigkeit ausgegliedert. Vielmehr werden bestimmte Bereiche, die von ihrer Ziel- und Zweckausrichtung her sowohl religiös als auch politisch bestimmt sind (wie es etwa für das Erziehungswesen gilt), kooperativ ausgestaltet. 17 Wegweisend in dieser Hinsicht war im deutschen Fall die Paulskirchenverfassung von 1849; siehe etwa: Korioth, Rechtsformen von Religionsgemeinschaften, v. a. 116 – 119. Als Überblick zur Differenzierung der ›eigenen‹, ›äußeren‹ und ›gemeinsamen Angelegenheiten‹ vgl. etwa Campenhausen, Staatskirchenrecht, 106 – 114, 162 – 220, 220 – 287.
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Das Problem der Religionsfreiheit
Religion im laizitären Modell prinzipiell auf Distanz zum Staat gehalten werden, so bewahrt das kooperative Modell eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Religion, denn es lässt die Möglichkeit zu, dass die Inanspruchnahme religiöser Freiheitsrechte durch die Bürgerinnen und Bürger auch in Lebensbereiche ausstrahlt, die in staatliche Obhut genommen wurden. Der Offenheit gegenüber Religion sind allerdings auch im Kooperationssystem Grenzen gesetzt. Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde überzeugend herausgearbeitet hat, wiederholt sich die Unterscheidung zwischen einem distanzierenden und einem offenen Umgang mit Religion innerhalb dieses Systems. Das Prinzip staatlicher Säkularität im Sinne von Neutralität in religiösen und allgemeiner weltanschaulichen Angelegenheiten muss danach auch innerhalb des kooperativen Modells auf doppelte Weise entfaltet werden: einerseits als »distanzierende Neutralität i. S. der Nichtidentifikation«,18 andererseits als »offene«, »übergreifende Neutralität«.19 Die den Einzelfall entscheidende Frage ist, in welchen Bereichen staatlicher oder staatlich getragener Tätigkeit die eine oder andere Erscheinungsform zu gelten hat, damit der […] Grundsinn religiös-weltanschaulicher Neutralität sich verwirklicht,20
der in diesem Modell darin besteht, »die Möglichkeit offen zu halten, dass sich Religion oder Weltanschauung oder genauer : die Bürger in ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung (oder Nichtüberzeugung) frei entfalten können«.21 In distanzierender Weise religiös neutral zu halten ist nach Böckenförde etwa der Bereich staatlicher Rechtsprechung. In der Schule sowie im Erziehungswesen insgesamt hingegen sei, »weil der Staat hier bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in seine Obhut und Leitung nimmt«, die Form offener, »übergreifende[r], auf Verbürgung freier Entfaltung ausgerichtete[] Neutralität« zur Wirklichkeit zu bringen.22 Dass diese beiden Modelle der Umsetzung staatlicher Säkularität bzw. Neutralität bis in die Gegenwart strittig sind, zeigen die immer wieder, insbesondere im umkämpften Schul- und Erziehungssektor, aufbrechenden Rechtskonflikte um Religion. In der zweiten Phase der Institutionalisierung der Religionsfreiheit wurde jedoch nicht allein die Idee staatlicher Säkularität frei- und allmählich (auf verschiedene Weise) umgesetzt. Verankert wurde auch die Idee der Gleichheit 18 Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, 130 [Hervorhebung im Original]. Vgl. dazu die Erörterungen unten im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit. 19 Ebd., 131 [Hervorhebung im Original]. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., 134. Hintergrund der grundlegenden Erörterungen Böckenfördes zur Neutralität als einem »objektiven Verfassungsprinzip« (ebd., 129) war der 1973 durch das Bundesverfassungsgericht entschiedene Rechtsstreit um die Frage der Zulässigkeit der Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen bzw. Kruzifixen (BVerfG 1 BvR 308/69, Beschluß vom 17. 7. 1973).
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aller vor dem Gesetz, und zwar auch in religiösen Angelegenheiten. Das Gleichheitspathos – das, wie ausgeführt, zu unterscheiden ist vom Paritätsgedanken, wie er den frühneuzeitlichen Friedensschlüssen von Augsburg und Münster/Osnabrück zugrunde liegt – verdichtete sich zur Zeit der Französischen Revolution: Gleichheit war, untrennbar verbunden mit dem Ruf nach Freiheit, die Leitidee der Französischen Revolution und der mit ihr anbrechenden neuen gesellschaftlichen Ordnung. »Les hommes naissent et demeurent libres et ¦gaux en droits«, so heißt es gleich im ersten Artikel der D¦claration des droits de l’homme et du citoyen.23 Die normative Orientierung am Gleichheitsprinzip, an der Vorstellung gleicher Rechte aller, wurde in der Folgezeit zum Fundament des modernen Rechts, und dies nicht nur im schwachen formalen Sinn der Unterwerfung aller unter dieselben Regeln, sondern im starken inhaltlichen Sinn, nach dem nur solche Rechte und Pflichten Geltung beanspruchen können, die die Ansprüche aller im gleichen Maße berücksichtigen.24 Wie Christoph Menke resümiert, wurde die Geltung des Rechts (law) nunmehr an subjektiven Rechten (rights) festgemacht: »In modernen Verfassungen«, so Menke, »kommt diese Umstellung des Rechtssystems auf die Gleichheitsidee durch die Rolle der Grundrechte zum Ausdruck«.25 So dynamisierte die Idee der Gleichheit die Idee der Freiheit. Für das Verständnis der Freiheit in Fragen der Religion blieb dies nicht folgenlos: Denn durch die Kopplung an die Idee der Gleichheit aller im Recht erweiterte sich der potentielle Trägerkreis des Grundrechts auf Religionsfreiheit über die Angehörigen der christlichen Konfessionen hinaus ins Universelle: auf grundsätzlich alle Religionen und Weltanschauungen. Das allerdings setzte wiederum voraus, dass der Staat – als Garant des Freiheits- und Gleichheitsrechts – seinerseits gleichen Abstand zu allen partikularen (religiösen ebenso wie nicht-religiösen) Vorstellungen des Guten und des gelingenden Lebens hält. Die staatliche Selbstverpflichtung zu Säkularität im Sinne umfassender religiös-weltanschaulicher Neutralität ist insofern gewissermaßen der verfassungsrechtliche Niederschlag der Gleichheitsidee in Religionsangelegenheiten. Die Verknüpfung des Rechts auf Religionsfreiheit mit den Ideen von Säkularität und rechtlicher Gleichheit um und nach 1789 hat eine religionsgeschichtliche Dynamik in Gang gesetzt, die sich gleichwohl erst unter den Bedingungen der dritten Phase, im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, voll entfaltet. Zu den Kennzeichen dieser Phase gehört die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weltweit einsetzende Transformation des modernen 23 Vgl. den Wortlaut der Deklaration unter http://www.legifrance.gouv.fr/html/constitution/ const01.htm [6. 7. 2010]. 24 Dazu Menke, Spiegelungen, 22 ff. 25 Ebd., 24.
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Das Problem der Religionsfreiheit
Nationalstaats: Konnte dieser bislang die Bindungskräfte nationaler Identität als Legitimationsgrundlage für sich nutzen, so zeichnet sich inzwischen weltweit die Tendenz ab, sich kulturell nicht mehr primär über die Zugehörigkeit zu einer Nation und ihrem Staat zu identifizieren, sondern die Primäridentität auf suboder transnationalstaatliche Einheiten, vor allem auf religiöse und ethnische Gruppen umzustellen. Diese »partikularistische Dekonstruktion des modernen Staates«26 hat, zusammen mit der durch globale Migration wachsenden religiöskonfessionellen Pluralität und im Kontext einer zunehmend vernetzten Weltgesellschaft, entscheidende Rückwirkungen auf das Verhältnis von Religion, Staat und Gesellschaft. In der »postnationalen Konstellation«, wie Jürgen Habermas diese weltgesellschaftliche Transformation bezeichnet,27 werden das Recht auf Religionsfreiheit und der Anspruch auf Gleichheit gegenüber den staatlichen Gesetzgebern sogar noch gestärkt, geben doch internationale Menschenrechtskodifikationen (wie die UN-Menschenrechtscharta oder die Europäische Menschenrechtskonvention) entsprechenden Forderungen und Klagen aus dem religiösen Feld zusätzliches Gewicht.28 Diese Entwicklung, die durch den Aufbau einer unabhängigen europäischen und internationalen Gerichtsbarkeit (wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg) begleitet wird, setzt den Nationalstaat, der allen europäischen und weltgesellschaftlichen Steuerungsbemühungen zum Trotz die nach wie vor einzige handlungsfähige politische Instanz zur Durchsetzung der Menschenrechte ist, erheblich unter Druck und verunsichert die auf nationalstaatlicher Ebene eingespielten Beziehungsgefüge zwischen Rechtsträgern (d. h. mit Blick auf das Recht auf Religionsfreiheit: den Gläubigen und ihren Gemeinschaften), Rechtsadressaten (dem Staat) und sanktionsbefugten Autoritäten (den Gerichten). Diese dritte Phase der Institutionalisierung von Religionsfreiheit ist also eine Zeit, in der einerseits die Nationalstaaten zunehmend Steuerungsrechte an supranationale Instanzen abgeben, in der aber andererseits angesichts zunehmender religionskultureller Diversifizierung zugleich auch der religionspolitische und -rechtliche Steuerungsbedarf innerhalb der einzelnen Staaten wächst. Nationale religionsrechtliche Ordnungen und die in sie eingebetteten religionspolitischen Arrangements sind also von zwei Seiten unter Druck geraten: zum einen durch die Entwicklung internationaler Rechts- und Politiksysteme, zum anderen durch die fortschreitende innere Pluralisierung des religiösen Feldes bei gleichzeitig fortschreitender gesellschaftlicher Säkularisierung. Das 26 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 515 f. 27 Habermas, Die postnationale Konstellation. 28 Vgl. Koenig, Weltgesellschaft; ders., Institutional Change; von juristischer Seite: Frowein, Religionsfreiheit.
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fragile Arrangement, das sich im Laufe von Jahrhunderten in Europa durch die Verknüpfung von Religionsfreiheit, Gleichheit und Säkularität etabliert hat, wird dadurch erheblichen Belastungen ausgesetzt. Sichtbar wird dies insbesondere am Beispiel immigrierter Religionen, namentlich des Islams. Die relative Fremdheit islamischer Religion im hiesigen religiösen Feld lässt erkennen, wie tief die religionspolitischen und -rechtlichen Konstellationen, in denen wir leben, in der Geschichte – und das heißt auch und vor allem: in der Konfliktgeschichte mit den ›eigenen‹, seit Jahrhunderten etablierten Religions- bzw. Konfessionsgemeinschaften – verankert sind. Ob das historisch gewachsene Staatskirchenrecht imstande ist, unverändert auch unter den gewandelten sozial- und religionskulturellen Bedingungen die erforderlichen Steuerungsleistungen zu erbringen, oder ob es einer verfassungstheoretischen Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Religion bzw. Religionsgemeinschaften bedarf, wird (nicht nur) in den Rechtwissenschaften intensiv diskutiert. Im Kern geht es um die Frage: »Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?«29 Das Staatskirchenrecht ist historisch als Antwort auf das Auseinandertreten von geistlicher und weltlicher Macht und das damit geschaffene Zuordnungsproblem von Kirche und Staat zu verstehen. Es ist deshalb, wie einer seiner engagierten Verteidiger, der Staatsrechtler Josef Isensee, schreibt, ein »Recht von Institutionen«30 und nicht von Individuen. Diese institutionelle Konzeption des Staatskirchenrechts hat zwei grundlegende Varianten: In der ersten Variante wird eine strikte Trennung von Staat und Kirche durch Aufbau und Instandhaltung eines säkularen Rechtsrahmens angestrebt; sowohl Frankreich als auch die USA folgen dieser Variante, haben diese allerdings mit unterschiedlichen Zielsetzungen und entsprechend sehr verschieden umgesetzt.31 Die zweite Variante setzt auf eine kooperative Zuordnung von Staat und Kirche und sucht die Restbestände staatlich-kirchlicher Kooperation wenn nicht zu fördern, so doch 29 So der Titel des Sammelbandes von Heinig/Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?; außerdem: Walter, Religionsverfassungsrecht; ders., Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?; ferner die ältere begriffs- und problemgeschichtliche Rekonstruktion von Hollerbach, Staatskirchenrecht oder Religionsrecht?. 30 Isensee, Erwartungen, 117. Gemeint ist, dass hier die beiden Institutionen ›Kirche‹ und ›Staat‹ die grundlegenden Rechtsträger sind und nicht individuelle Freiheitsrechte im Zentrum stehen. 31 Auf die grundlegende Differenz der Trennungssysteme in Frankreich (wo eine antiklerikale Zielsetzung verfolgt wurde) und den USA (wo es vor dem Hintergrund der Erfahrung religiöser Dissidenten immer auch um die Freiheit der Religionen vom Staat ging) hat schon Ernst Troeltsch 1919 hingewiesen; seine Analyse, die ihren Ausgangspunkt in den auf der Schwelle zur Weimarer Republik drängenden Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirchen in Deutschland nimmt und am Beispiel des Status entfaltet wird, den der Religionsunterricht in den verschiedenen Ländern hat, behält bis heute ihre Prägnanz: Troeltsch, Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen.
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zu bewahren; dies ist die Grundlage des deutschen Staatskirchenrechts. So unterschiedlich die beiden Varianten in ihren Zielsetzungen auch sind – beiden liegt eine primär auf Institutionen bezogene Konzeption des Verhältnisses von Staat und Kirche zugrunde. Nun haben Rechtswissenschaftler in den letzten Jahren beobachtet, dass die Konfliktlinien zwischen diesen beiden Varianten der institutionellen Konzeption zunehmend verblassen und durch eine religionsverfassungsrechtliche Perspektive überlagert werden,32 die den Fokus »weg von institutionellen Problemen hin zum Grundrecht der Religionsfreiheit« lenkt.33 Die Gründe dafür liegen in den mit den Stichworten religionskulturelle Diversifizierung, Säkularisierung und Globalisierung umrissenen veränderten Rahmenbedingungen, in denen religionsrechtliche Konflikte seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ausgetragen werden. Wird nun das Rechtsgebiet Religion als »wesentlich grundrechtsgeprägt«34 verstanden, so tritt damit an die Stelle des herkömmlichen »Rechts von Institutionen« eine individualrechtliche Konzeption der Religionsfreiheit, innerhalb derer das Spannungsverhältnis, das sich zwischen dem Eigensinn und -interesse (individueller und kollektiver) religiöser Akteure, gesellschaftlichen Belangen und staatlichen Interessen und Aufgaben aufbaut, neu zu justieren ist.35 Mit der »Vergrundrechtlichung« des Staatskirchenrechts, wie sie im Religionsverfassungsrecht vollzogen wird,36 gewinnt das Recht auf Religionsfreiheit einen gegenüber staatlicher Macht hervorgehobenen Stellenwert. Denn das Recht auf Religionsfreiheit wird in der religionsverfassungsrechtlichen Perspektive nicht mehr (wie in Teilen des Staatskirchenrechts) von den Leistungen her begründet, die religiöse Bindungen und Institutionen für den Staat und das gesellschaftliche Wohl erbringen (können). Als fundamentales Menschenrecht wird das Recht auf Religionsfreiheit vielmehr als dem Staat und seinen Interessen vorgelagert gedacht. Es wird zum Abwehrrecht gegen den Staat und kann diesen in seine Schranken weisen. Die (zwischen den verschiedenen Interessenvertretern durchaus nicht unstrittige) religionsverfassungsrechtliche 32 33 34 35
Vgl. v. a. Walter, Religionsverfassungsrecht. Ebd., 2. Vgl. Walter, Einleitung, 3. Mit der individualrechtlichen Neuausrichtung ist die gemeinschaftliche Dimension des Religiösen und der Religionsfreiheit nicht preisgegeben, die Religionsfreiheit nicht auf den Raum des Privaten beschränkt. Allerdings wird das Gemeinschaftliche in dieser Perspektive als Dimension der individuellen Religionsfreiheit aufgefasst und von dieser her rechtlich begründet (und nicht etwa von bestehenden, dem Individuum vorgängigen Institutionen); vgl. dazu die knappen Bemerkungen in: Heinig, Kritik und Selbstkritik, 360 f). Damit weist diese vorwiegend rechtswissenschaftliche Debatte Parallelen zu der grundlegenden politisch-philosophischen Kontroverse zwischen Kommunitarismus und Liberalismus auf; vgl. als Überblick: Honneth (Hg.), Kommunitarismus. 36 Zur Missverständlichkeit und deshalb Problematik der Formel von der »Vergrundrechtlichung« in diesem Zusammenhang vgl. wiederum Heinig, Kritik und Selbstkritik, 360 – 362.
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Umgestaltung des klassischen Staatskirchenrechts37 liegt damit auf der historischen Linie der politischen Durchsetzung der Religionsfreiheit, so wie sie seit den revolutionären Umbrüchen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Gang gekommen ist.38 Die jeweiligen Vertreter staatskirchenrechtlicher und religionsverfassungsrechtlicher Konzeptionen schlagen angesichts der politischen, rechtlichen, religions- und sozialkulturellen Transformationen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts entgegengesetzte Pfade auf der Suche nach einem stabilen Verhältnis von Religionsfreiheit, Gleichheitsrecht und staatlicher Säkularität ein: Das herkömmliche Staatskirchenrecht bezieht den Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz primär auf das institutionelle Arrangement zwischen Staat und Kirchen; andere Religionsgemeinschaften (und Weltanschauungsgemeinschaften) werden in diese Regelungen lediglich sekundär einbezogen. Das Religionsverfassungsrecht verfährt gleichsam umgekehrt: Es sucht die Bedingungen für die Entfaltung der Religionsfreiheit in ihrer auf das Individuum zugeschnittenen grundrechtlichen Dimension; die Kirchen sind in diese Regelungen selbstverständlich eingeschlossen, nicht aber ihre ersten Adressaten. Während also das Staatskirchenrecht von den Kirchen ausgeht und damit der historischen Imprägnierung des Rechtsrahmens verhaftet bleibt, nimmt das Religionsverfassungsrecht seinen Ausgangspunkt bei der allgemeinen und mithin allen in gleichem Maße zukommenden Freiheit der Religion. Es löst sich damit von seinen religionshistorischen Entstehungsbedingungen und antwortet so angemessener auf die gewandelten gesellschaftlichen und religionskulturellen Rahmen, in die es steuernd hineinwirken soll.39 Mit der Verschiebung des Schwerpunkts von institutionellen auf grundrechtliche Fragen antwortet das Religionsverfassungsrecht auch auf die Verschärfung des konfliktiven Potentials, das sich in der dritten Phase der Institutionalisierung der Religionsfreiheit aufgebaut hat. Es sucht damit der doppelten Herausforderung zu begegnen, die sich in der gegenwärtigen Lage stellt, 37 Zu diesem Grundsatzstreit zwischen Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechtlern vgl. Heinig/Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?. 38 Die europäische und internationale Rechtsentwicklung bestätigt und verstärkt im Grundsatz diese »Tendenz zu einer grundrechtlichen Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche […], weil weder das europäische noch das internationale Recht institutionelle Regeln für das Verhältnis von Staat und Kirche kennen« (Walter, Religionsverfassungsrecht, 329). Zugleich jedoch enthalten die europäischen Regelungen Bestimmungen, die wesentliche Strukturprinzipien der vielfältigen historisch gewachsenen Beziehungen von Staat und Religion(sgemeinschaften) in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schützen und insofern den Einzelstaaten in konkreten Konfliktfällen einen Ermessensspielraum sowohl hinsichtlich der Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit als auch hinsichtlich der Regelung der Schranken der Religionsfreiheit zubilligen; vgl. dazu ausführlich ebd., 332 – 492. 39 Vgl. ebd.; auch ders., Einleitung.
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in der die einzelstaatlichen religionsrechtlichen Ordnungen und die eingespielten religionspolitischen Modelle angesichts des Bedeutungsgewinns internationaler Rechtssysteme und gleichzeitig fortschreitender religionskultureller Diversifizierung sowie gesellschaftlicher Säkularisierung ihre Selbstverständlichkeit verloren haben: Indem es in der Rechtsauslegung und -anwendung grundrechtliche Fragen der Freiheit und Gleichheit aller fokussiert, trägt es der gewandelten sozial- und religionskulturellen Lage Rechnung. Zugleich nimmt es den Impuls des europäischen und internationalen Menschenrechtsschutzes auf, in dem das Recht auf Religionsfreiheit und das (den Kerngehalt des Gleichheitsgebots übersetzende) Verbot der Diskriminierung, auch der Diskriminierung aus religiösen Gründen, hervorgehoben werden.40 Damit scheint es gut gewappnet, aufbrechende Konflikte um Religion zu entschärfen. Und dennoch: Auch eine dem religionsverfassungsrechtlichen Ansatz verpflichtete Rechtsauslegung kommt nicht umhin, in konkreten Rechtskonflikten um Religion zu bestimmen, welche Werthaltungen und Lebensformen vom Grundrecht auf Religionsfreiheit geschützt sind, was also Religion im Sinne dieses Grundrechts ist und was nicht. Ja, die Definitionsproblematik verschärft sich sogar noch einmal: Denn wenn die »Bedeutung der staatskirchenrechtlichen Systemfrage gesunken ist«,41 dann rücken Einzelfragen der Anwendung des Grundrechts auf Religionsfreiheit und seiner Schranken, die sich mit den zu Zeiten des staatskirchenrechtlichen Konsenses eingespielten Entscheidungsmustern nicht ohne Weiteres beantworten lassen, um so mehr in den Vordergrund. So gewinnen Fragen definitorischer Eingrenzung des religiösen Feldes an Gewicht, die in Zeiten der Dominanz institutioneller Konzeptionen von untergeordneter Bedeutung waren, weil die Grenzen des Schutzgutes Religion mit den Grenzen der Institutionen selbst zusammenfielen bzw. maßgeblich durch diese Institutionen bestimmt wurden, die nun aber ihre hervorgehobene Rechtsstellung und ihr Definitionsmonopol verloren haben. Die ›definitionspolitische‹ Problematik, in die das mündet, wird im Folgenden erörtert.
3.2
Das Dilemma des Rechts auf Religionsfreiheit
Das Recht auf Religionsfreiheit ist heute in den westlichen Verfassungsstaaten ein Grundrecht von besonderer Aktualität. In einem in religions- und sozialkulturell diversifizierten gesellschaftlichen Kontext, in dem die Konturen des religiösen Feldes unscharf geworden sind, werfen die Rechtskonflikte, die sich 40 Vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht, dort v. a. 329 – 492 sowie 609 f; auch Koenig, Institutional Change. 41 Walter, Religionsverfassungsrecht, 608.
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Das Dilemma des Rechts auf Religionsfreiheit
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am Recht auf Religionsfreiheit entzünden, Grundsatzfragen auf: Wird das Grundrecht auf Religionsfreiheit zurecht in Anspruch genommen, wenn eine muslimische Lehrerin darauf besteht, auch im Unterricht an einer staatlichen Schule eine Kopfbedeckung zu tragen? Ist der Konflikt tatsächlich religiös motiviert – oder dient das Religiöse hier nur als Gewand für einen letztlich identitätspolitisch bzw. kulturell motivierten Streit? Und wenn in einem mehrheitlich katholischen Umfeld einzelne Eltern Anstoß an der Ausstattung der Klassenräume ihrer Kinder mit Kruzifixen nehmen – können sie sich dabei auf ihre (negative) Religionsfreiheit berufen? Und wie ist diese gegenüber der (positiven) Freiheit der katholischen Mehrheit zu gewichten? Hat in Gesellschaften, die sich fortschreitend säkularisieren, die grundrechtliche Garantie bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts in der staatlichen Schule noch Raum? In Streitfällen wie diesen kommen Richterinnen und Richter nicht umhin, den Schutzbereich des Religionsfreiheitsrechts abzustecken. Richterinnen und Richter, die sich an einer religionsverfassungsrechtlichen Perspektive mehr als an den Rahmen des herkömmlichen Staatskirchenrechts orientieren, werden bei dieser Arbeit an den Grenzen des grundrechtlich geschützten religiösen Feldes die Religionsfreiheit im Sinne eines »Freiheitserhaltungsrechts« auslegen.42 Denn wenn grundrechtliche Erwägungen in den Vordergrund rücken, können Freiheit und Gleichheit in religiösen Angelegenheiten weder für religionskulturelle Assimilationsbestrebungen dienstbar gemacht noch im Sinne eines ›Artenschutzes‹ für religionskulturelle Minderheiten interpretiert werden; ebenso wenig lassen sie sich für Säkularisierungseifer instrumentalisieren. Vielmehr kann es nur darum gehen, »Freiräume für die Entfaltung religiösen Lebens in einer säkularen Rahmenordnung« zu schaffen, »diese Freiräume zu erhalten und zugleich den säkularen Charakter des Rahmens zu schützen.«43 Dass allein ein säkularisierter Staat eine Ordnung religiöser Gleichheit und Freiheit zu garantieren vermag, gilt in Verfassungsstaaten, die in der westlichen Rechtstradition stehen, als eine Art ›Binsenwahrheit‹. In diesem Sinne hatte bereits 1967 der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde gemeint, die Verwirklichung des Rechts auf Religionsfreiheit lasse Rückschlüsse auf die Säkularität des Staatswesens zu: »Das Maß der Verwirklichung der Religionsfreiheit«, so Böckenförde, bezeichne »das Maß der Weltlichkeit des Staates«.44 Böckenfördes prägnante Gleichung von Religionsfreiheit und staatlicher Säkularität ist zu einer Selbstverständlichkeit moderner rechtsstaatlich42 So Christian Walter im Anschluss an Ernst-Wolfgang Böckenförde: Walter, Religionsverfassungsrecht, 610; Böckenförde, Die Entstehung des Staates; mit Differenzierungen angesichts des religionskulturellen Wandels innerhalb von vier Jahrzehnten: ders., Der säkularisierte Staat. 43 So in der Schlussbetrachtung von: Walter, Religionsverfassungsrecht, 610. 44 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 108.
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demokratischer Identität geronnen und gehört, in etlichen Varianten ausformuliert, zum Grundbestand der akademischen, aber auch der populären Debatten um das Verhältnis von Religionen und Staat. So stellt knapp vierzig Jahre später Jürgen Habermas kategorisch fest: »Die Säkularisierung der Staatsgewalt und die positive wie negative Freiheit der Religionsausübung sind zwei Seiten derselben Medaille«.45 Die Formel also lautet: Je konsequenter die staatliche Säkularität verwirklicht ist, desto größer ist auch die Freiheit der Religion. Oder auch andersherum: Je umfassender die Religionsfreiheit, desto säkularisierter ist der Staat. Das erscheint durchaus plausibel und ist gestützt vor allem durch leidvolle historische Erfahrungen der Unterdrückung und Verfolgung Glaubender in Staaten, die sich mit einer spezifischen Religion oder Konfession identifizieren. Und doch bleiben Zweifel. Geht die Gleichung wirklich auf ? Wie passt es in dieses Bild, dass Glaubende auch in radikal säkularisierten Herrschaftsverhältnissen, etwa in den stalinistischen Regimen des 20. Jahrhunderts, unterdrückt und verfolgt wurden? Und wie lässt sich der Befund einordnen, dass andererseits Religionsfreiheit auch in Staaten gewährleistet werden kann, die keineswegs vollständig säkularisierte religionsrechtliche Verhältnisse aufweisen, sondern nationalreligiöse bzw. staatskirchliche Konstellationen bewahrt haben, wie es etwa in Großbritannien der Fall ist, aber auch in Dänemark, Norwegen, Griechenland oder auch in einzelnen Schweizer Kantonen? Und schließlich: Wie steht es in den so genannten ›hinkenden‹ Trennungssystemen, also in Staaten wie Deutschland und Österreich, um die Freiheit der Religion? Wird man sagen können, dass dem religiösen Leben hier weniger oder engere Freiheitsräume offen stehen als etwa in den USA oder in Frankreich, in Staatswesen also, die dem Anspruch nach konsequent säkularisiert sind? Diese Beobachtungen zeigen: Zweifel an der Gleichung von Religionsfreiheit und Säkularität sind durchaus begründet. Religionsfreiheit und staatliche Säkularität verhalten sich zumindest nicht ohne Weiteres wie »zwei Seiten derselben Medaille«. Man wird sich also von der Vorstellung trennen müssen, die Säkularität des Staates bringe aus sich heraus religionskulturellen und -politischen Frieden. Die jüngeren Rechtsstreitigkeiten um Religion und die kontroversen Reaktionen in der offenbar religionspolitisch weiterhin reizbaren Öffentlichkeit zeigen, dass
45 Habermas, Einleitung, 9. Ähnliche Bekundungen prominenter Autoren gibt es viele. Verwiesen sei auf den Kommentar zu Art. 4 GG in der jüngsten Auflage des einschlägigen von Horst Dreier herausgegebenen Grundgesetzkommentars, in dem Martin Morlok seine einleitenden Bemerkungen zu Herkunft, Entstehung und Entwicklung des Artikels mit der Feststellung schließt: »Wie aufgezeigt, bedingen sich religiöse Freiheit und Neutralität des Staates. […] So betrachtet ist die Glaubensfreiheit historisch wie systematisch notwendige Bedingung moderner Verfassungsstaatlichkeit« (Morlok, Art. 4, Rn. 12).
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das Konfliktpotential, das im Streben um religiöse Freiheit liegt, auch im säkularisierten Verfassungsstaat nicht vollständig entschärft werden konnte. Das Spezifikum der aktuell zu beobachtenden Religionsrechtskonflikte ist dabei, dass sich in ihnen nicht Glaubende verschiedener Religionen gegenüber stehen, deren Streitigkeiten der säkularisierte Staat als übergeordnete, als ›neutrale‹ Instanz zu schlichten hätte. Wir haben es also nicht, zumindest nicht in erster Linie, mit interreligiösen Auseinandersetzungen zu tun, wie sie vor allem für die vor- und frühneuzeitliche Konstellation kennzeichnend waren. In den Rechtskonflikten um Religion, die wir in der jüngeren Vergangenheit beobachten können, geht es um etwas anderes: Es klagen nicht Glaubende gegen anders Glaubende. Es klagen vielmehr Glaubende gegen den freiheitlichen, säkularisierten Staat, der damit selbst zur Konfliktpartei wird.46 Sie beklagen einen Mangel an Freiheit und Gleichheit und werfen dem Staat vor, seine eigenen Prinzipien – Freiheit und Gleichheit durch Säkularität – nicht einzulösen, wenn er etwa einer muslimischen Lehrerin verbietet, im Unterricht eine Kopfbedeckung zu tragen. Wie ist es zu dieser neuartigen Konfliktkonstellation gekommen? Zwei Vermutungen bieten sich an. Die eine Vermutung ist: Die Balance zwischen Religionsfreiheit und Weltlichkeit des Staates ist nur vorübergehend und bedingt durch exogene Faktoren ins Ungleichgewicht geraten, mithin durch gewandelte religionskulturelle Rahmenbedingungen, insbesondere die Zuwanderung einer beträchtlichen Zahl von Musliminnen und Muslimen. In der Tat: Die Unstimmigkeiten in der Gleichung von Religionsfreiheit und staatlicher Säkularität fallen auf einen besonders nachhaltigen Resonanzboden, wenn es um die Integration des Islams in die säkularisierte religionsrechtliche Ordnung geht.47 Sie klingen etwa an, wenn – um einige Beispiele aus Frankreich anzuführen – der Conseil d’Etat, das höchste Verwaltungsgericht Frankreichs und zugleich Konsultationsorgan der Regierung, auf Antrag des Premierministers über die Frage eines gesetzlichen Verbots der Ganzkörperverschleierung befindet;48 wenn das französische Parlament Schülerinnen und Schülern gesetzlich verbietet, in der staatlichen Schule offen sichtbar religiöse Zeichen wie das Kopftuch zu tragen,49 oder wenn der Innenminister darüber nachsinnt, wie der laizitäre Staat die Ausbildung fran46 Zur »Mehrfachrolle [des Staates, AR] als Hüter, Schiedsrichter und Kontrahent bzw. Konkurrent von Religionsgemeinschaften« auch bereits: Hafner, Religionsfreiheit, 125. 47 Vgl. zur Konfliktkonstellation neben der grundsätzlichen rechtspolitischen Auseinandersetzung von Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat, die Darstellung spezifischer rechtlicher Konfliktfelder von Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. 48 Vgl. Conseil d’Etat, Etude relative aux possibilit¦s juridiques d’interdiction du port du voile int¦gral, Rapport adopt¦ par l’assembl¦e g¦n¦rale pl¦niÀre du Conseil d’Etat le jeudi 25 mars 2010. 49 Vgl. R¦publique FranÅaise, Code de l’¦ducation, Art. L141 – 5 – 1, cr¦¦ par Loi no. 2004 – 228 du 15 mars 2004.
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Das Problem der Religionsfreiheit
zösischer Imame steuern oder islamische Gebetsstätten teilsubventionieren kann.50 Sie klingen allerdings auch dann an, wenn es nicht um den Islam, sondern um christliche Belange geht: Dass etwa mit Billigung der Assembl¦e Nationale unter bestimmten Bedingungen die mehrheitlich katholischen Privatschulen mit öffentlichen Mitteln subventioniert werden dürfen,51 oder dass die Unterhaltung kirchlicher Gebäude von den Kommunen teilfinanziert und mit öffentlichen Mitteln sogar die Errichtung neuer repräsentativer Kirchengebäude ermöglicht wird (wie im Fall der Kathedrale von Êvry im Departement Essonne im Großraum Paris),52 weist darauf hin, dass es nicht oder doch zumindest nicht allein externen Triebkräften wie dem Islam zugerechnet werden kann, wenn die Gleichung von Religionsfreiheit und staatlicher Säkularität nicht bruchlos aufgeht. Und auch deutsche Gerichte müssen nicht nur klären, ob eine muslimische Lehrerin im Unterricht in einer öffentlichen Schule ihren Kopf bedecken darf oder ob muslimische Schülerinnen vom Sportunterricht befreit werden können;53 sie haben nicht nur zu beurteilen, ob islamische Dachverbände als Religionsgemeinschaften anzusehen sind,54 und sie müssen nicht allein bestimmen, ob eine religiös begründete Ausnahme vom Tierschutzgesetz zu gewähren ist, um das Schächten nach islamischem Ritus zu ermöglichen.55 Vielmehr wird in Deutschland vor Gericht auch entschieden, ob Kreuze bzw. Kruzifixe in Gerichtssälen und Klassenräumen staatlicher Schulen angebracht werden dürfen,56 welchen Status der christliche Religionsunterricht im Verhältnis zum bekenntnisfreien Lebenskunde-, Ethik- oder Werteunterricht hat,57 ob so etwas wie Lumpensammeln als Aspekt christlich-karitativen Handelns gelten kann oder eine primär gewerbliche Aktivität ist,58 ob die Scientology Church die Qualität einer Religionsgemeinschaft hat,59 oder ob den Zeugen Jehovas Körperschaftsrechte zuzuerkennen sind.60 Die Liste weiterer möglicher Beispiele ist lang. Doch die genannten Fälle 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. Reuter, Religionskulturen ›mit Migrationshintergrund‹ und die Nachweise dort. Vgl. Messner/Pr¦lot/Woehrling (Hg.), Trait¦, 1187 – 1212. Vgl. ebd., 897 – 930. Zum ›Kopftuchstreit‹ vgl. unten Kapitel 5; zur Frage der Befreiung vom Sportunterricht etwa: Anger, Islam in der Schule, 205 – 229. Vgl. Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht; auch meine Darstellung: Reuter, Religionskulturen ›mit Migrationshintergrund‹. Vgl. Lavi, Der Islam zwischen christlicher Tradition und jüdischer Geschichte; Schwarz, Spannungsverhältnis. Dazu unten Kapitel 4. Dazu unten Kapitel 6. Vgl. dazu die Ausführungen zum Rechtsstreit in der Angelegenheit ›Aktion Rumpelkammer‹ in der Einleitung oben (Fn. 60 bis Fn. 62). Vgl. den (negativen) Beschluss des Bundesarbeitsgerichts: BAG, 5 AZB 21/94 vom 22. 3. 1995; auch Fn. 63 unten. Vgl. Rink, Körperschaftsrechte der Zeugen Jehovas.
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illustrieren bereits hinreichend, dass die beobachteten Dissonanzen in der Gleichung von Säkularität und Religionsfreiheit nicht einfach auf vorübergehende exogene Erschütterungen der religionsrechtlichen Ordnung, also vor allem die muslimische Immigration, zurückgeführt werden können. Worauf aber dann? Schauen wir uns die zweite Vermutung an. Die zweite Vermutung ist: Die Unstimmigkeiten in der Gleichung von Religionsfreiheit und staatlicher Säkularität sind darauf zurückzuführen, dass der Säkularisierungsprozess (noch) unabgeschlossen ist. Die Gründe für das von nicht wenigen Gläubigen empfundene unzureichende »Maß der Verwirklichung der Religionsfreiheit« wären demnach im bisher noch unzureichenden »Maß der Weltlichkeit des Staates« zu suchen. In der Tat ist es ja selbst in vermeintlich strengen Trennungssystemen, also etwa in Frankreich und in den USA, nicht gelungen, sämtliche Bande zwischen Staat und Religion zu lösen. Ist also das Säkularisierungsprojekt lediglich unvollendet? Müsste die Laisierung des Staates einfach konsequent fortgeschrieben werden, um die Religionsfreiheit umfassend zu realisieren? Diese Auffassung findet in den öffentlichen Debatten viel Zustimmung und erhält auch aus der akademischen Welt Unterstützung. Entsprechend häufen sich öffentliche Appelle an die politisch Verantwortlichen, verbliebene Bestände staatlicher Identifikation mit bestimmten religiösen Traditionen und Religionsgemeinschaften, namentlich den Kirchen, systematisch zu beseitigen. Doch selbst wenn es gelingen sollte, den Staat aus sämtlichen historischen Verflechtungen mit den Religionen herauszulösen und seine Kooperationsbeziehungen mit religiösen Gemeinschaften aufzukündigen, wenn es also etwa keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen mehr geben sollte, wenn die Militär- und Gefängnisseelsorge eingestellt und die Kirchensteuer abgeschafft würde, so bliebe der Staat – als Garant der verfassungsrechtlich abgestützten Freiheits- und Gleichheitsordnung – doch trotzdem stets ein Akteur in den Konflikten um Religion. Denn es sind staatliche Behörden, die das staatlich gesetzte Recht in den verschiedenen Lebensbereichen umzusetzen haben; und es ist die staatliche Gerichtsbarkeit, die in politisch unlösbaren religiösen Konflikten und Anerkennungskämpfen dem Recht Geltung zu verschaffen hat. Der Staat wird also auch dann ein zentraler Akteur auf dem religiösen Feld bzw. an seinen Grenzen bleiben, wenn er die im Säkularisierungsprozess verbliebenen Verbindungen zu religiösen Traditionsbeständen oder Institutionen gänzlich kappen sollte. Denn auch der »um der Freiheit willen« säkularisierte Staat61 – ja 61 So die Formulierung im (seltener zitierten) Nachsatz des so genannten ›Diktums‹ ErnstWolfgang Böckenfördes: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist« (Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112 [Hervorhebung im Original]).
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gerade er – muss entscheiden, wer ›zu Recht‹ den Anspruch auf Religionsfreiheit erhebt und wer nicht, mit anderen Worten, wen und was er eigentlich schützt, wenn er die Freiheit der Religion schützt, was also Religion im Sinne des Grundrechts auf Religionsfreiheit eigentlich ist und was nicht Religion ist. Damit aber greift er in die definitionspolitischen Auseinandersetzungen um die Grenzen des religiösen Feldes ein: Er stellt fest, ob das durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützte Rechtgut –Religion – überhaupt vorliegt oder nicht. In der Tat: Die Religionsrechtskonflikte, die sich gegenwärtig und in der jüngeren Vergangenheit beobachten lassen, zeigen, dass sich der säkularisierte Staat aktiv an der Definition der Grenzen des religiösen Feldes und damit an der Definition von Religion beteiligt. Er entscheidet über Inklusion in den Schutzbereich des Freiheitsrechts ›Religion‹ und über Exklusion aus dieser schützenden Zone. Widerspruchsfrei geht dies nicht vonstatten: Der Staat bekennt sich zur Freiheit der Religion, bestimmt aber die Grenzen des (im grundrechtlichen Sinne) legitimen religiösen Feldes. So gibt er den diskursiven Rahmen vor, in dem Lebensführungen und Wertbindungen überhaupt als religiöse identifizierbar und gesellschaftlich verhandelbar werden; damit greift er unmittelbar in die Dynamik des religiösen Feldes und also in das Selbstbestimmungsrecht der Religionen ein. Er bekennt sich zum Prinzip der Gleichheit, begrenzt aber den Kreis der Lebensformen und Werthaltungen, die durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt sind. Denn wie auch immer er das religiöse Feld definiert: Die Definition ist nicht nur inklusiv, sondern – als Grenzziehung – unvermeidlich auch exklusiv. Stets werden einige in den Schutzbereich ›Religion‹ einbezogen, andere ausgegrenzt, letztere in der Regel gegen ihr Selbstverständnis.62 Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: In Deutschland ist es unstrittig, dass etwa Christen, Juden, Muslime oder Zeugen Jehovas religiös sind. Ihre religiösen Anschauungen und Praktiken sind daher im Grundsatz alle gleichermaßen durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt. Anderen Gruppierungen, etwa den Scientologen, die diesen Anspruch ebenfalls erheben und u. a. verlangen, ihre organisationsinternen Arbeitsverhältnisse nach Maßgabe ihrer religiösen Überzeugungen selbstständig, d. h. im konkreten Fall unter Absehung allgemeiner arbeitsrechtlicher Vorgaben, ordnen und verwalten zu dürfen, wird diese Anerkennung jedoch verweigert. Gerichte haben entschieden, dass die Scientology-Organisation entgegen ihrer Selbstbeschreibung keine Religionsgemeinschaft ist und folglich nicht in den Genuss der Privilegien gelangen kann, die als Konsequenz aus der Religionsfreiheit u. a. den christlichen Kirchen etwa 62 Dass damit nicht nur das Prinzip der Religionsfreiheit tangiert ist, sondern auch die Selbstverpflichtung auf Säkularität, habe ich an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Reuter, Dilemma). Zu den Aporien, in die das führen kann, vgl. auch Sullivan, Impossibility.
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in der Frage des Arbeitsrechts zugestanden werden. So wird den Scientologen in diesem Fall die Anerkennung als ›Gleiche‹ verweigert.63 Doch auch wenn der religiöse Charakter einer Gemeinschaft, einer Überzeugung oder einer Lebensführung unstrittig ist, stehen, wie andere Konfliktfälle illustrieren, nicht ohne Weiteres sämtliche Aspekte, die von den Glaubenden damit verknüpft werden, unter grundrechtlichem Schutz. So wird bekanntlich darum gestritten, welche religiösen Zeichen, Symbole oder Praktiken in welchen Bereichen des öffentlichen Lebens durch das Recht auf Religionsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz geschützt sind. Schon innerhalb Deutschlands ergibt sich in dieser Hinsicht ein uneinheitliches Bild: Einige Bundesländer dulden zwar die christliche Ordenstracht, das Kreuz und die jüdische Kippa der Lehrerin oder des Lehrers, nicht aber die Kopfbedeckung einer muslimischen Lehrerin, obwohl der Islam unzweifelhaft als Religion angesehen wird.64 Auch diejenigen, deren Ansprüche auf Religionsfreiheit im Grundsatz anerkannt sind, wie es für muslimische Frauen gilt, müssen folglich mit Einschränkungen ihrer religiösen Freiheitsrechte und folglich ihres Gleichheitsanspruchs rechnen. Sie werden zwar nicht prinzipiell aus der Freiheits- und Gleichheitsordnung ausgegrenzt, aber innerhalb dieser Ordnung in ihren Freiheitsrechten begrenzt.65 Andere Bundesländer haben diese auf die Schule bezogene selektive Regelung auf den gesamten öffentlichen Dienst erweitert, und wieder andere haben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst das Tragen sämtlicher religiöser Zeichen untersagt.66 Der zuletzt genannte Weg mag als Königsweg erscheinen, wird hier doch, so scheint es, dem Freiheits- ebenso wie dem Gleichheitsprinzip und überdies auch dem Anspruch auf Säkularität Rechnung getragen. Eine sorgfältigere Betrachtung zeigt jedoch, dass der vermeintliche Königsweg das Grundproblem lediglich verschleiert: Denn auch eine vollständige Verbannung religiöser Zeichen (gleich welcher Provenienz) bewahrt nicht davor, Grenzen ziehen und also Unterscheidungen einführen zu müssen, bleibt doch auch bei diesem Lösungsversuch die Not63 Vgl. Fn. 59 oben. Es sei ausdrücklich angemerkt, dass es an dieser Stelle nicht um Kritik an dieser Entscheidung geht. Die Fragestellung hier ist eine systematische, keine normative: Es geht darum zu zeigen, dass der säkulare Staat solche Entscheidungen treffen muss, im Vollzug dieser Entscheidungen jedoch gegen seine eigenen fundamentalen Prinzipien (Freiheit, Gleichheit und entsprechend Säkularität im Sinne religiös-weltanschaulicher Neutralität) verstößt. 64 Vgl. dazu unten Kapitel 5. 65 Vgl. grundsätzlich zu diesem Problemzusammenhang: Menke, Spiegelungen, insbesondere 251 – 269. Diese Begrenzungen innerhalb der Freiheits- und Gleichheitsordnung stehen freilich selbst im Dienst der Freiheits- und Gleichheitsordnung: Sie versuchen Schutz zu bieten im Fall kollidierender Freiheitsrechte und einer Aushöhlung des Gleichheitsprinzips zuvorzukommen. 66 Vgl. dazu unten Kapitel 5.
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wendigkeit bestehen, zu klären, wo die Grenze zwischen religiösen und nichtreligiösen Zeichen, Symbolen, Lebensformen verläuft. Wir haben es folglich mit einem Dilemma zu tun.67 Der Religionsfreiheit gewährende und die Gleichheit aller Menschen grundrechtlich garantierende säkularisierte Staat klassifiziert – im Namen von Freiheit und Gleichheit – Personen, Lebensführungen, Weltanschauungen, Zeichen und Symbole: Er scheidet religiöse von nicht-religiösen Praktiken und Vorstellungen, die keine besonderen Freiheitsansprüche geltend machen können. Er arbeitet also mit den Mitteln des Rechts an der Begrenzung des religiösen Feldes: Er grenzt die einen ein und die anderen aus. Darüber hinaus behält er sich vor, die Religionsfreiheit auch derjenigen einzuschränken, die er prinzipiell als religiös und also schutzberechtigt anerkennt. Eben dies illustrieren die gesetzlichen Regelungen zur Kopfbedeckung muslimischer Frauen, die den öffentlichen Gebrauch bestimmter Kleidungsstücke oder Erkennungszeichen begrenzen, obwohl sie in der Sicht der Glaubenden religiös verpflichtend sein mögen. Einschränkungen dieser Art basieren folglich auf materialen Bewertungen der Lebensführung und der Werthaltungen von Personen, die in die säkulare Freiheits- und Gleichheitsordnung inkludiert sind und deren Religionsfreiheit grundsätzlich Anerkennung findet. Nun ist zu beobachten, dass sich die zuständigen staatlichen Stellen, die mit diesen Konflikten befasst sind (seien es die gesetzgebenden Parlamente, die mit der Rechtsauslegung betrauten Gerichte oder die mit der Anwendung des Rechts befassten Verwaltungen), immer weniger auf ihre Kompetenz allein verlassen, wenn es darum geht, entsprechende Differenzierungen zu treffen. Vielmehr werden im Vorfeld der Entscheidungen zunehmend wissenschaftlich ausgewiesene Experten und oft auch Autoritäten der jeweiligen Religionsgemeinschaften zu Rate gezogen und etwa um Stellungnahmen zur Frage der religiösen Verbindlichkeit des Tragens einer Kopfbedeckung oder des betäubungslosen Schlachtens gebeten. Diese Praxis erscheint nun durchaus sinnvoll und angemessen und der Freiheitserhaltung förderlich. Gleichwohl sollte deutlich werden, dass auch sie keinen Ausweg aus dem Dilemma bieten kann. Denn die zuständigen staatlichen Stellen sehen sich in die Notwendigkeit versetzt, unter den verschiedenen Autoritäten, die innerhalb der Religionsgemeinschaften ebenso wie in der Wissenschaft miteinander konkurrieren, diejenigen auszuwählen, auf die sie ihre Entscheidung stützen – eine Entscheidung, die sie im Namen des Neutralitätsprinzips treffen.68 67 So auch bereits Hafner, Religionsfreiheit, 128, der auch das »Definitionsmonopol« der Gerichte betont (ebd., 132). 68 Wenn sich Richterinnen und Richter in ihren Entscheidungen auf die Einschätzung von Repräsentanten der im konkreten Konfliktfall betroffenen religiösen Gemeinschaften stüt-
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Das sei an einem konkreten Rechtsstreit veranschaulicht: In einem Schlagzeilen machenden Fall hatte ein Berliner Gymnasiast im Jahr 2008 gegenüber der Leitung seiner Schule darauf bestanden, außerhalb der Unterrichtszeiten, jedoch im Schulgebäude eines seiner fünf täglichen Gebete sprechen zu dürfen. Das von ihm in der Angelegenheit angerufene Berliner Verwaltungsgericht entschied zunächst zu seinen Gunsten;69 die zuständige Senatsverwaltung legte jedoch Revision beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein, das im Mai 2010 dem Schüler den erhobenen Anspruch versagte und in seiner abschlägigen Entscheidung im November 2011 vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig bestätigt wurde.70 Den gegenläufigen Entscheidungen der Berliner Gerichte liegen unterschiedliche Einschätzungen islamwissenschaftlich ausgewiesener Experten hinsichtlich des religiösen Verpflichtungscharakters des fünfmaligen Gebets zugrunde. So stützte sich das Verwaltungsgericht auf ein Gutachten des Erlanger Islam- und Rechtswissenschaftlers Mathias Rohe, der die vom Schüler behauptete Gebetspflicht für hinreichend plausibel hielt. Die Oberverwaltungsrichter argumentierten hingegen auf der Grundlage der Einschätzung des Göttinger Islamwissenschaftlers Tilman Nagel, aus dessen Sicht eine Pflicht, sein Gebet zu bestimmten Tageszeiten zu verrichten, aus den koranischen Quellen nicht zwingend hergeleitet werden kann. Worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, ist: Wie auch immer die Richter entscheiden, sei es zugunsten des vom Schüler erhobenen Anspruchs, sei es gegen ihn – sie werden unweigerlich zu Akteuren im religiösen Feld. Mit ihrer Wahl für den einen und gegen den anderen Experten, sei er nun religiös oder wissenschaftlich ausgewiesen, beziehen sie Position in religiösen Auseinandersetzungen und verändern so die Kräfteverhältnisse im religiösen Feld. Aus dem skizzierten Dilemma gibt es also kein Entrinnen: Der säkularisierte Staat sucht mit den Mitteln des Rechts die Freiheit und Gleichheit der Religionen zen, betreten sie zudem ein weiteres religionsrechtliches Konfliktfeld: Insofern das Grundrecht auf Religionsfreiheit als Individualrecht konzipiert ist, wirft dieses Vorgehen die Frage auf, inwiefern kollektivreligiöse Verbindlichkeit oder Pflicht ein Kriterium für die Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit sein kann. Im jahrelangen Rechtsstreit um die Zulässigkeit von Ausnahmegenehmigungen für das Schächten durch muslimische Metzger hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage 2002 verneint (BVerfG 1 BvR 1783/99, Urteil vom 15. 1. 2002) und damit eine gegenläufige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1995 (BVerwG 3 C 31.93, Urteil vom 15. 6. 1995) gerügt, die allerdings zwischenzeitlich vom selben Gericht bereits modifiziert worden war (BVerwG 3 C 40.99, Urteil vom 23. 11. 2000). In seiner jüngsten Entscheidung in dieser Sache schließt sich das Bundesverwaltungsgericht der Sicht der Bundesverfassungsrichter an (BVerwG 3 C 30.05, Urteil vom 23. 11. 2006). 69 Zunächst per einstweiliger Anordnung (VG Berlin VG 3 A 983.07, Beschluss vom 10. 3. 2008), anschließend durch ein ordentliches Urteil (VG Berlin VG 3 A 984.07, Urteil vom 29. 9. 2009). 70 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg 3 B 29.09, Urteil vom 27. 5. 2010; BVerwG, Pressemitteilung Nr. 106/2011 vom 30. 11. 2011; zu dem Fall auch bereits kurz oben in der Einleitung (Fn. 76) sowie Kapitel 2, Fn. 24.
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zu garantieren und übt doch zugleich mit eben diesen Mitteln unweigerlich Macht über die Religionen aus. Das Recht auf Religionsfreiheit ist demnach eines der Instrumente, mit dem der moderne Verfassungsstaat auf dem Möglichkeitsfeld des religiösen Lebens operiert und so seinerseits das Spektrum möglicher religiöser Wahrnehmungsmuster, Identitäten und Sensibilitäten beeinflusst. Denn um Religionsfreiheit garantieren zu können, muss der Staat von Religion sprechen, er muss Religion identifizieren, definieren und mithin begrenzen. Damit aber gibt er das diskursive Spektrum vor, in dem Religion überhaupt erst auf legitime Weise gesellschaftlich verhandelbar wird, und bestimmt die Rahmen, in denen Glaubende und Glaubensgemeinschaften ihr Recht auf Religionsfreiheit geltend machen und gegebenenfalls gerichtlich einklagen können. So müssen Glaubende, die für ihre Lebensführung und ihre Werthaltungen den weitreichenden Schutz des Grundrechts auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen wollen, im Streitfall plausibel machen, dass die Praktiken und Vorstellungen, für die sie Schutz beanspruchen, tatsächlich religiöse Praktiken und Vorstellungen im Sinne des geltenden Religionsrechts sind. Glaubende müssen also ihre religiösen Selbstdeutungen gleichsam durch das geltende Religionsrecht diskursiv filtern und ihrer Lebensführung eine Gestalt geben, die in dieser Rechtsordnung als religiös identifizierbar ist.71 Mit anderen Worten: Sie müssen überzeugend darlegen, dass sie Religion ›haben‹.72 Die USamerikanische Rechts- und Religionswissenschaftlerin Winnifred Fallers Sullivan hat diesen Zusammenhang auf eine nur scheinbar triviale Formel gebracht, die auf den Kern des Problems verweist: »[I]n order to enforce laws guaranteeing
71 Das wirft die im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber nicht weiter zu verfolgende Frage auf, ob dieser Filterungsprozess den religiösen Mentalitäten, Sensibilitäten und Lebensführungen äußerlich bleibt. Oder aktiviert der säkulare Gestus, den Glaubende in der säkularisierten Freiheits- und Gleichheitsordnung annehmen müssen, wenn sie für ihr Recht auf Religionsfreiheit streiten, Techniken religiöser Selbst- und Lebensführung, die sich in diese säkularisierte Ordnung einpassen, so dass das säkulare Recht, mit dem der Staat Religionsfreiheit zu gewährleisten sucht, als eine Ordnungsmacht zu begreifen wäre, die auch in die religiöse Erfahrungswelt und ihre Artikulation eingreift? Die Frage wäre also, ob durch die Rechtskonflikte um Religion im säkularisierten Verfassungsstaat ein säkularer Gestus in den religiösen Habitus inkorporiert wird. Diese Tendenz zeichnet sich m. E. ab, könnte aber nur über längere Zeiträume und mit anderen als den hier verwendeten methodischen Instrumentarien erforscht werden. Siehe dazu aber die Arbeiten von Werner Schiffauer zum Postislamismus (zuletzt: ders., Nach dem Islamismus; ganz knapp finden sich die Thesen auch im Interview in der taz, 1. 2. 2002); vergleichbar argumentiert (mit Blick v. a. auf Frankreich): Roy, Vers un islam europ¦en; ders., L’islam mondialis¦. 72 Oder umgekehrt: Um bestimmte konkurrierende oder anderweitig unliebsame Religionsgemeinschaften bzw. ihre Lebensführungsmodelle aus dem legitimen religiösen Feld auszuschließen, müssen sie überzeugend darlegen, dass diese gar nicht religiös im Sinn des Rechts auf Religionsfreiheit sind.
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religious freedom«, so schreibt Sullivan, »you must first have religion«73 ¢ und zwar nicht irgendeine Religion, sondern Religion im Sinne des geltenden Rechts. Mit den Mitteln des Rechts strukturiert demnach auch der säkularisierte, freiheitliche Staat das Feld der Möglichkeiten, bestimmte Erfahrungen überhaupt als religiöse zu deuten und zu institutionalisieren. Er nimmt damit Einfluss sowohl auf die allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen von Religion als auch, im engeren Sinne, auf die individuellen wie kollektiven religiös-konfessionellen Selbstwahrnehmungen und -thematisierungen. So wirkt das Recht auf die jeweiligen Positionsbestimmungen religiöser ›Heilsanbieter‹ und ihrer Klientel auf dem religiösen Feld ein; es beeinflusst die Gestalt und den Wandel religionskultureller Lebenswelten und ist ein wichtiger Faktor in der longue dur¦e der europäischen Religionsgeschichte.
73 Sullivan, Impossibility, 1.
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Teil 2 Religionsrechtskonflikte und -kontroversen als Grenzarbeiten am religiösen Feld. Fallbeispiele
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4.
»Herz des Christentums« oder »was heute die Kulturländer Europas und des Abendlandes einigt«? Der Streit um das Kreuz in der Schule
4.1
Zum Hergang und zur Grundkonstellation eines definitionspolitischen Grundsatzstreits
Im Laufe des Jahres 1995 erwachte die Bundesrepublik, deren religionskulturelle Koordinaten sich seit den Umwälzungen des Herbstes 1989 nachhaltig verschoben hatten, aus ihrem religionspolitischen Halbschlaf. Der Anlass war ein doppelter : Im ›neuen‹ Bundesland Brandenburg legte die SPD nach mehrjähriger Erprobungsphase einen Gesetzentwurf für die Einführung des umstrittenen neuen Unterrichtsfachs ›Lebenskunde-Ethik-Religion(skunde)‹ (kurz: LER) vor, das den tiefgreifenden Säkularisierungseffekten in der Region Rechnung tragen sollte, die Bemühungen um die Etablierung eines ordentlichen Religionsunterrichts nach dem Modell der ›alten‹ Bundesländer jedoch ins Leere laufen ließ. Doch auch hier, in der ›alten‹ Bundesrepublik, machten sich allmählich Risse im lange so selbstverständlich scheinenden kulturchristlichen Konsens bemerkbar. In diese Richtung schien zumindest eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu weisen, das im Mai 1995 die im zutiefst katholisch geprägten Freistaat Bayern im Schulgesetz vorgeschriebene und zur Gewohnheit gewordene Ausstattung öffentlicher Grund- und Hauptschulen mit Kreuzen bzw. Kruzifixen für verfassungswidrig erklärte und damit eine »publizistische[] Explosion« auslöste, »die in einem Land mit einer Mehrheit von lauen ›Namenchristen‹ kaum zu erwarten war«.1 An der Karlsruher Entscheidung entzündete sich ein Grundsatzstreit, der im Folgenden nachgezeichnet und als definitionspolitische Auseinandersetzung um die Grenzen des religiösen Feldes ausgewiesen werden soll. Die Debatte um die Einführung des neuen Schulfaches LER in Brandenburg wird in einem eigenständigen Kapitel der Arbeit gesondert erörtert werden.2
1 So Stolleis, Überkreuz, 378. 2 Vgl. dazu unten Kapitel 6.1.
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Streit um das Kreuz in der Schule
Der Beginn der kollektiven öffentlichen Empörung um das Auf- und Abhängen von Kruzifixen in bayerischen Schulen kann auf den Tag genau bestimmt werden: Am 10. August 1995 gab das Bundesverfassungsgericht eine schlichte dreiseitige Mitteilung über die bereits Monate zuvor gefällte Entscheidung an die Presse. Darin heißt es: Das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat – hat entschieden, daß die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Religionsfreiheit verstößt. Gleichzeitig hat es eine Vorschrift des bayerischen Schulrechts (§ 13 Abs. 1 Satz 3 der Volksschulordnung), die anordnet, dass in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt.3
Es folgen ein knappes Resümee des Konflikthergangs sowie Zusammenfassungen der Beschlussgründe und der beigefügten abweichenden Meinungen. Die Gründe, die zu dem Beschluss führten, der ohne mündliche Verhandlung und mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf zu drei Stimmen zustande kam, werden im Laufe der folgenden Ausführungen noch zur Sprache kommen. In der gebotenen Kürze einer Pressemitteilung gaben die Verfassungsrichter diesbezüglich knapp zu Protokoll, das Kreuz sei »das spezifische Glaubenssymbol des Christentums« und keineswegs »ein bloßes Zeichen abendländischer Kulturtradition«. Angesichts der allgemeinen Schulpflicht seien die Schülerinnen und Schüler »von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit« mit einem Symbol konfrontiert, das »appellativen Charakter« habe und »die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig« ausweise. Der Staat aber sei aufgrund der Glaubensfreiheit zur »Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen« verpflichtet. Insofern »das Grundrecht auf Glaubensfreiheit in besonderem Maße dem Minderheitenschutz« diene, lasse sich die Anbringung von Kreuzen in Unterrichtsräumen auch nicht aus der Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens rechtfertigen. Grundrechtskonflikte seien nicht nach dem »Mehrheitsprinzip« zu lösen.4 Die erste amtliche Reaktion auf die Pressemitteilung, die in den Morgenstunden des 10. August verbreitet wurde, kam aus dem Bayerischen Kultusministerium, das kaum zwanzig Minuten nach der Presseveröffentlichung aus Karlsruhe seinerseits der Presse mitteilte, eine verfassungskonforme Änderung der Bayerischen Volksschulordnung werde auf den Weg gebracht und man werde die Schulen auf die Entscheidung hinweisen und auffordern, die Kruzifixe aus 3 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 32/1995 vom 10. 8. 1995. 4 Sämtliche Zitate ebd.
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Zum Hergang und zur Grundkonstellation eines Grundsatzstreits
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den Unterrichtsräumen zu entfernen.5 Doch die Folgsamkeit währte nicht lange. Noch im Laufe des Vormittags begann sich der Widerstand gegen die Karlsruher Entscheidung zu formieren: Der CSU-Vorsitzende Theo Waigel ließ wissen, die CSU werde sich »mit diesem ›Kruzifix-Verbot‹ nicht abfinden«.6 Der Mainzer Bischof Karl Lehmann sah sich in seiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz »genötigt, noch am Tag der Veröffentlichung eine Erklärung herauszugeben«.7 In seiner Stellungnahme brachte er das »Unverständnis« der deutschen Bischöfe für die Karlsruher Entscheidung zum Ausdruck, die »nach dem Urteil der Bischöfe im Kern ein grundlegendes Mißverständnis der Religionsfreiheit und eine Wertung des Kreuzes im Sinne eines intoleranten Symbols mit Zwangselementen« enthalte. Diese Wertung, so kritisierte Lehmann, sei »religiös-theologisch falsch«; darüber hinaus überschreite sie »die Kompetenz auch eines Verfassungsgerichtes weit«.8 Das ansonsten an Nachrichten arme notorische ›Sommerloch‹ bescherte der Angelegenheit in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten in den Feuilletons und auf den Politikseiten der großen Tages- und Wochenzeitungen hohe Aufmerksamkeitswerte. Die Pressemitteilung über den bereits im Mai des Jahres gefassten Karlsruher Beschluss löste umgehend empörte Reaktionen aus. Die beiden von Lehmann gleich am ersten Tag der Debatte ins Zentrum gerückten kritischen Punkte – die Deutung des Kreuzes und die damit eng verbundene Frage nach der Deutungskompetenz auf der einen sowie das Verständnis des Grundrechts auf (positive ebenso wie negative) Religionsfreiheit auf der anderen Seite – sollten die gesamte Kontroverse beherrschen. Sie hatten aber auch bereits den der Karlsruher Entscheidung vorangehenden jahrelangen Rechtsstreit bestimmt, der allerdings ohne größere öffentliche Medienresonanz geblieben war und auch in den hitzigen Wortgefechten im Nachgang der Karlsruher Entscheidung kaum mehr rekapituliert wurde. Dies soll im Folgenden geschehen. Zuvor aber sei noch knapp der Weg nachgezeichnet, auf dem der Streit aus der bayerischen Provinz nach Karlsruhe gelangte.9 5 Vgl. die Rekonstruktion bei Berschin, Das Volk sind wir, 43. 6 Vgl. ebd. 7 Lehmann, Das Kreuz als Herausforderung, 109; dort auch weitere Erläuterungen zum Zustandekommen dieser Erklärung (109 – 111) sowie der Wortlauf der Stellungnahme (111 f). 8 Alle Zitate ebd., 111. Die EKD äußerte sich behutsamer ; vgl. etwa die Erklärung der Pressestelle der EKD im Rheinischen Merkur vom 18. 8. 1995; ferner das Interview mit dem Bevollmächtigten des Rates der EKD in Bonn, Hartmut Löwe (Rheinischer Merkur, 1. 9. 1995). 9 Zum Folgenden vgl. aus der kaum zu überschauenden Fülle an juristischer und anderer Literatur zum Thema und jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen: Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge, 84 – 102; ausführlich und mit differenzierter Einordnung des Konflikts in die verfassungsrechtliche Problematik: Huster, Neutralität, Kap. 3 (127 – 249); Walter, Acceptance; Nolte, Kreuz mit dem Kreuz; Stolleis, Überkreuz; Brugger/Huster (Hg.), Der Streit um das Kreuz; Maier (Hg.), Das Kreuz im Widerspruch; Ladeur/Augsberg, Toleranz – Religion – Recht, 111 – 120.
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Streit um das Kreuz in der Schule
Den Stein ins Rollen gebracht hatten die Eheleute Seler aus der Oberpfalz, die seit Beginn des Schuljahres 1987/88 Anstoß an einem Kruzifix (einem Kreuz mit Korpus) nahmen, das im Klassenraum ihrer ältesten Tochter in der Grundschule der Ortschaft Fischbach direkt oberhalb der Tafel angebracht war und mit einer Höhe von 80 cm und einer Breite von 60 cm durchaus beachtliche Ausmaße hatte. Nach Gesprächen der Eltern, die sich nach eigenen Aussagen der Anthroposophie Rudolf Steiners verbunden fühlten, ohne gleichwohl Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft zu sein,10 mit der Schulleitung und dem zuständigen staatlichen Schulamt konnte der akute Konflikt zunächst beruhigt werden, indem die großen Kruzifixe durch kleinere Kreuze (ohne Korpus) ersetzt und statt vorn neben der Tafel seitlich im Klassenraum angebracht wurden. Die Einschulung weiterer Kinder und ein Schulwechsel auf die Hauptschule der Ortschaft Nittenau ließen den Streit jedoch immer wieder neu aufflammen, was die Eltern veranlasste, ihre Kinder zeitweise vom Unterricht fernzuhalten. Dem Wunsch nach vollständiger Entfernung der Kreuze bzw. Kruzifixe begegneten die zuständigen Schulbehörden mit dem Hinweis, mit der Anbringung von Kreuzen (mit oder ohne Korpus) werde einer Vorschrift der Bayerischen Volksschulordnung entsprochen. In der Tat sieht die Bayerische Volksschulordnung in der zum fraglichen Zeitpunkt gültigen Fassung aus dem Jahr 1983 eine entsprechende Ausstattung der Unterrichtsräume mit Kreuzen vor. Dort heißt es in § 13: Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.11
Gegen diese Anweisung – und also gegen den verantwortlichen Schulträger, den Freistaat Bayern – erhoben die Eltern der betroffenen Kinder, als ihre Bemü10 Vertreter der anthroposophischen Bewegung haben sich im Laufe der Auseinandersetzung gegen die Inanspruchnahme der Anthroposophie im Sinne der Kläger gewehrt; vgl. etwa das Interview mit dem juristischen Berater des Bundes der Freien Waldorfschulen im Rheinischen Merkur vom 18. 8. 1995. Darin heißt es u. a.: »Zentraler Inhalt anthroposophischer Geisteswissenschaft ist, das Verständnis des Christentums und insbesondere der Kreuzigung auf Golgotha als Mittelpunktsgeschehen der Weltgeschichte zu fördern. Die bildnerische und künstlerische Darstellung des Kreuzes spielt in ihr eine wichtige Rolle.« Dort auch der Hinweis, dass das klagende Ehepaar nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft sei. 11 § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern vom 21. 6. 1983. Es sei, weil dies in der Diskussion des Öfteren übersehen wird, darauf hingewiesen, dass diese Regelung nicht für sämtliche Schultypen galt. Als Ordnung für die ›Volksschulen‹ bezog sie sich lediglich auf Grund- und Hauptschulen, nicht also auf Realschulen, Gymnasien und Berufsschulen. Dies gilt auch für die Neuordnung, die die bayerische Staatsregierung in Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Ende 1995 auf den Weg brachte; zum Sachverhalt vgl. Nolte, Kreuz mit dem Kreuz, 96.
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hungen um Entfernung der Kreuze erfolglos blieben, Anfang 1991, im vierten Jahr seit Beginn der Auseinandersetzung, Klage beim zunächst zuständigen Verwaltungsgericht Regensburg. Die Klage wurde rasch bearbeitet und bereits im März 1991 abgewiesen.12 Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in München, bei dem die Kläger umgehend Berufung einlegten, vertagte die Entscheidung nicht lange und entschied noch im Juni des Jahres – ebenfalls negativ.13 Der Weg durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit des beklagten Freistaats war damit im Sommer 1991 erschöpft. Noch vor Jahresfrist strengten die Eltern deshalb eine Verfassungsklage beim Bundesverfassungsgericht an. Und in Karlsruhe fand ihr Anliegen knapp vier Jahre später Gehör : Im Mai 1995 gab der Erste Senat ihrer Klage statt und erklärte die zitierte Vorschrift aus der Bayerischen Volksschulordnung für verfassungswidrig und also nichtig.14 Die Öffentlichkeit wurde erst drei Monate später durch die eingangs zitierte Pressemitteilung vom 10. August des Jahres von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt. Trotz dieser offensichtlichen Kommunikationsdefizite seitens des Karlsruher Gerichts, das offenbar das Konfliktpotential des Anlasses weit unterschätzte, überraschen auch noch im Rückblick die Heftigkeit und Breitenwirkung des Streits, den diese Pressemitteilung entfachte. Bundesweit kam es nach dem 10. August 1995 zu einer Flut von überwiegend entrüsteten Stellungnahmen. Schelte musste das Karlsruher Gericht nicht nur von politischer Seite aus Bayern und auch keineswegs nur aus dem Lager von CDU und CSU ertragen; auch empörten sich nicht in erster Linie die Kirchen oder gar insbesondere die Katholische Kirche, wie man es vielleicht erwartet hätte. Vielmehr erfuhr die Entscheidung auch von fachwissenschaftlicher Seite harsche Kritik. So warf der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee dem Beschluss nicht nur völlige juristische Unzulänglichkeit vor, sondern sah in ihm einen Akt »kulturrevolutionärer Provokation«, ja einen Aufruf zum »Bildersturm«.15 Selbst Rechtswissenschaftler, die mit dem Beschluss im Ergebnis sympathisieren, wiesen auf erhebliche Mängel in der Argumentationsführung hin.16 Und auch Richterkollegen schreckten nicht davor zurück, den Beschluss scharf zu rügen. So ließ der damalige Bundesverwaltungsrichter Heinz Honnacker Anfang September 1995 in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung verlauten, das »Anti-Kruzifix-Urteil« sei, von handwerklichen Mängeln abgesehen, Vgl. VG Regensburg RO 1 E 91.01617, Beschluß vom 1. 3. 1991. Vgl. BayVGH 7 CE 91.1014, Beschluß vom 3. 6. 1991. Vgl. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995. Isensee, Bildersturm, 27. Moderater im Ton, aber ebenso dezidiert ablehnend in der Sache: Geis, Zulässigkeit des Kreuzes, sowie Brugger, Neutralitätsliberalismus, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 16 So etwa Czermak, Unzulässigkeit des Kreuzes, ebenfalls mit weiteren Nachweisen, v. a. auch hinsichtlich juristischer Befürworter der Entscheidung (ebd., 15, Fn. 7). 12 13 14 15
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»in seinen Kernaussagen ahistorisch, antiföderalistisch und antikirchlich« und »wohl auch ganz gezielt antibayerisch«.17 Auch der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda bezeichnete den Beschluss im Rheinischen Merkur als einen »schlimme[n] Mißgriff«, mahnte allerdings, in der Debatte »die Emotionen weg[zu]lassen und nüchtern, wenn auch nicht ohne Leidenschaft« über die Entscheidung zu diskutieren.18 Das Presseecho war enorm, und nicht zuletzt angesichts der medialen Verstärkung der Entrüstung zeigte sich auch eine breite gesellschaftliche Öffentlichkeit religionspolitisch außerordentlich sensitiv und empörungsbereit, wie unter anderem die Leserbriefrubriken der Tages- und Wochenzeitungen dokumentieren.19 Führende bayerische Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens riefen zum Widerstand gegen die Karlsruher Entscheidung auf. So ließ Ministerpräsident Edmund Stoiber noch am Tag der Veröffentlichung des Beschlusses wissen, es werde auch weiterhin die Möglichkeit geben, Kreuze in Klassenzimmern anzubringen.20 Der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier, zum Zeitpunkt des Konflikts Inhaber des Guardini-Lehrstuhls für Christliche Weltanschauung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, forderte wenige Tage später »die Schulen des Freistaats dazu auf, den Spruch zu ignorieren«.21 »Die Katholiken werden sich zu wehren wissen«, so kündigte drohend auch Bernhard Sutor, der Vorsitzende des Landeskomitees der Katholiken in Bayern an; in seinen Augen machten die Karlsruher Richter die »Verfassungsnormen […] zum Instrument […], um Tradition und Kultur plattzuwalzen« und nahmen damit einen neuen »Kulturkampf« hin.22 In der allgemeinen Aufregung wurde der Eindruck erweckt, das Bundesverfassungsgericht habe Kreuze bzw. Kruzifixe überhaupt zu verfassungsfeindlichen Symbolen erklärt. So erwartete der Kölner Kardinal Joachim Meisner im August in der Konsequenz des Beschlusses auch die Abschaffung des ›Roten Kreuzes‹, das Verbannen der Weg- und Bergkreuze aus unserer Landschaft, die Demontage der Kreuze auf den Türmen der Kirchen und Kapellen, das
17 FAZ, 1. 9. 1995 (Leserbrief Dr. Heinz Honnacker). 18 Rheinischer Merkur, 25. 8. 1995. In einer grundsätzlichen Erörterung des gesellschaftlichpolitischen Status des Bundesverfassungsgerichts spricht Benda von dem »nahezu unbegreiflichen ›Kruzifix-Beschluss[]‹« (Benda, Götterdämmerung, 2470). 19 Zur Dokumentation vgl. die Auswahl von Leserbriefen, die einen »Meinungsspiegel von Flensburg bis Konstanz« ergeben, bei: Pappert (Hg.), Nerv getroffen, 21 – 131. Dort (132 – 224) findet sich auch ein nützlicher Pressespiegel. Auch Streithofen, Kruzifixurteil, 303 – 349, gibt im Anhang zu seiner Streitschrift einen Einblick in das Presseecho. 20 Zit. nach Schaal, Crisis! What Crisis?, 175. 21 Ebd. 22 Zum Wortlaut der Erklärung: KNA, 17. 8. 1995.
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Säubern der staatlichen Museen von allen Kreuzesdarstellungen, das Verbot der Bajuwaren, in ihrem Wortschatz noch das Wort ›kreuzfidel‹ zu gebrauchen.23
Als die öffentliche Debatte mit Stellungnahmen wie diesen völlig aus dem Ruder zu laufen schien, sah sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, die angefochtene Entscheidung »gegenüber den Medien«, wie es hieß, durch eine zweite Pressemitteilung zu erläutern: »Der Vorsitzende des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Vizepräsident Prof. Dr. Johann Friedrich Henschel«, so der vollständige Wortlaut der am 22. August verbreiteten Mitteilung, hat zu dem Beschluß vom 16. Mai 1995 (Kruzifix) gegenüber den Medien den Leitsatz 1 sprachlich dahin präzisiert, dass die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstößt. Nur darüber ist mit dem Beschluß vom 16. Mai 1995 entschieden worden.24
Nicht die Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in öffentlichen Schulen als solche, sondern lediglich deren Verfügung von Staats wegen steht also, folgt man dieser Klarstellung, nach Auffassung der Senatsmehrheit im Widerspruch zum Grundrecht auf Religionsfreiheit. Keineswegs hatten die Verfassungsrichter folglich die Entfernung sämtlicher Schulkreuze angeordnet – und schon gar nicht die ›Verbannung‹ des Kreuzes aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Nun wird man auch bei grundsätzlicher Sympathie für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugestehen müssen, dass der erste der beiden Leitsätze des Kruzifixbeschlusses, ebenso wie die an ihn angelehnte eingangs zitierte Formulierung der ersten Pressemitteilung, diese Präzision in der Tat vermissen lässt. Denn dort liest man: »Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.«25 Und auch in den detaillierten Ausführungen zur Entscheidung heißt es, dass die »Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern« – und nicht, wie der Richter Henschel später präzisierte: »die staatlich angeordnete Anbringung« – die »Grenze religiös-weltanschaulicher
23 PEK/Nachrichten/Termine/August 1995, Nachrichten Nr. 1529: Meisner: Ein schwarzer Tag in der Geschichte unseres Volks. Stellungnahme des Kölner Erzbischofs zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 1995, »die Kreuze aus allen staatlichen Schulen Bayerns zu entfernen«. Alois Glück, damals Vorsitzender der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, wies zwar darauf hin, dass die Rechtslage bei Berg- und Wegkreuzen und auch in Amtsräumen etc. eine andere sei, befürchtete jedoch, die Entscheidung aus Karlsruhe werde zu weiteren Forderungen führen: »Wie lange ist das ›Ärgernis des Kreuzes‹ an Straßen und Plätzen […] dann noch ›zumutbar‹?« Vgl. die Berichterstattung der KNA, 17. 8. 1995 (Aktueller Dienst Inland). 24 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 35/1995 vom 22. 8. 1995. 25 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluss vom 16. 5. 1995.
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Ausrichtung der Schule« überschreite.26 Nun wird man nach einer sorgfältigen Lektüre des Beschlusses kaum dem Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, folgen wollen, der so weit ging zu behaupten, die Karlsruher Richter agierten »im Interesse dessen, der nichts glauben will« und verordneten »in letzter Konsequenz staatliche Religionslosigkeit und die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben«.27 Gleichwohl sind sprachliche Ungenauigkeiten im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht von der Hand zu weisen. Allerdings ließ auch die öffentliche Debatte um die knappe Entscheidung des Ersten Senats philologische Sensibilität wie überhaupt Orientierung an der Sachlage weitgehend vermissen; sie zeichnete sich ganz im Gegenteil durch aufgebrachte Polemik aus. Der bürgerliche Aufruhr kulminierte, als sich am 23. September 1995 – auf der Theresienwiese rauschte gerade das Oktoberfest – auf dem Münchner Odeonsplatz um die 25.000 bis 30.000 Demonstrantinnen und Demonstranten mit der gängigen Wallfahrtsausrüstung aus Kruzifixen, Standarten und Bannern, die durch kostenlos verteilte »recyclebare Schaumgummikreuze« komplettiert wurde,28 unter dem Motto »Das Kreuz bleibt – gestern heute morgen« zu einer Kundgebung zusammenfanden. Neben dem Münchner Kardinal Friedrich Wetter, der den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als »Intoleranzedikt« geißelte und damit gleichsam eine neue Christen- oder mehr noch Katholikenverfolgung in Bayern insinuierte,29 sprach der amtierende Ministerpräsident Edmund Stoiber, der den Anwesenden vor laufenden Fernsehkameras emphatisch versicherte: »Grundsätzlich gilt für mich und meine Regierung: Die Kreuze bleiben!«30 Zwar kühlte sich die Stimmung, die auf dem Odeonsplatz brodelte, in den folgenden Wochen ein wenig ab. Das Klima, in dem die Landesregierung eine Neufassung der durch den höchstrichterlichen Spruch »nichtig« gewordenen Passage ihrer Volksschulordnung erarbeitete, blieb allerdings hitzig. Noch vor der Weihnachtspause verabschiedete der Bayerische Landtag mit der Mehrheit der CSU und gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und der Grünen den 26 Ebd., 56, analog auch die Argumentation ebd., 57. Anders allerdings liest es sich in der Schlusspassage des Beschlusses. Dort heißt es (wie später in der zweiten Presserklärung Henschels), »die dem Streitfall zugrunde liegende Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO« sei verfassungswidrig (ebd., 58). 27 Vgl. die von der KNA am 15. 8. 1995 verbreitete Erklärung des Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Kreuze aus Bayerns Schulen zu entfernen (Wortlaut). 28 Vgl. FAZ, 25. 9. 1995. 29 Vgl. die Erklärung des Kardinals zum Karlsruher Urteil: KNA vom 15. 8. 1995. Diese Formulierung hatte Wetter auch schon zuvor gewählt; vgl. den Bericht in der FR vom 15. 8. 1995. 30 Vgl. die Berichterstattung in Der Spiegel 40/1995 und in der FAZ vom 25. 9. 1995 (mehrere Beiträge); vgl. ferner Timm, Symbolverschleiß, 181.
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von der Staatsregierung vorgelegten Vorschlag zur Änderung des Schulgesetzes.31 Danach blieb die Vorschrift zur Anbringung von Kreuzen in Klassenräumen grundsätzlich erhalten. Allerdings wurde sie um eine Widerspruchsregelung ergänzt, die im Einzelfall ermöglicht, das Kreuz abzunehmen. Zugleich wurde jedoch betont, dass im Konfliktfall auch die religiösen Freiheitsrechte der (katholischen) Mehrheit zu beachten seien. In dem die Grund- und Volksschulen betreffenden Art. 7 Abs. 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen heißt es seither : Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat sie bzw. er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen.32
Wie Edmund Stoiber auf dem Odeonsplatz vollmundig versprochen hatte, blieb die Praxis der Anbringung von Kreuzen (und Kruzifixen) mit dieser Neuregelung auch nach 1995 weitgehend unverändert. Nur in wenigen Fällen wurden auf der Basis der eingefügten Widerspruchsregelung Kruzifixe oder Kreuze abgehängt, weil Schüler bzw. Eltern und in Einzelfällen auch Lehrer auf Entfernung des Kreuzes drängten.33 Zwar entzündeten sich nach der Neuregelung immer 31 Zur Debatte sowie zum Abstimmungsverhalten vgl. Bayerischer Landtag, Plenarprotokoll 13/36 vom 13. 12. 1995 (dort in der Anlage die Dokumentation der namentlichen Abstimmung, die mit 97 zu 68 Stimmen erging, 2557 f). Die Neuregelung stützte sich auf das 55 Seiten lange Rechtsgutachten des Münchner Verfassungsrechtlers Peter Badura (vgl. Badura, Rechtsgutachten), den die bayerische Staatsregierung unmittelbar nach Bekanntwerden der Entscheidung beauftragt hatte, »die Spielräume auszuloten, die das Karlsruher Urteil dem Freistaat bei der Bewahrung bayerischer Kultur noch zubilligt« (vgl. den Bericht in der SZ vom 17. 8. 1995). 32 Art. 7 Abs. 3 des BayEUG in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000. 33 Zu einem Fall, in dem es nach vierjährigen Streitgesprächen zwischen Schulleitung und Eltern zur Entfernung des Kreuzes in einer Grundschule kam, vgl. die Berichterstattung in der taz vom 7. 1. 2010. Die Weigerung von Lehrern, in einem mit Kreuz oder Kruzifix ausgestatteten Unterrichtsraum zu unterrichten, ist aufgrund ihres Beamtenstatus rechtlich anders gelagert als das Anliegen von Schülern (bzw. deren Eltern), die sich gegen die Ausstattung der Schulräume mit einem Kreuz wenden. Im Dezember 2001 gab der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dennoch der entsprechenden Klage eines Lehrers statt und verpflichtete die Schulleitung zur Entfernung der Kreuze aus seinen Unterrichtsräumen; damit endete ein seit 1995 schwelender Streit. Die Richter betonten in ihrer Begründung allerdings
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wieder einmal vereinzelte Konflikte, doch blieb diesen die große bundesweite Resonanz, die der höchstrichterliche Beschluss 1995 ausgelöst hatte, verwehrt. Einige der Konflikte mündeten auch in erneute Rechtsstreitigkeiten. In deren Verlauf wurde die geänderte Vorschrift zunächst durch die bayerischen Instanzen (den Bayerischen Verfassungsgerichtshof34 sowie den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof35) geprüft und im Anschluss auch dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin vorgelegt.36 In den Mittelpunkt der rechtlichen Entscheidungsprozesse rückte dabei nun die Frage, welche Bedingungen die Schulämter an die Art und Qualität der Gründe stellen dürften, die für den Widerspruch gegen die Anbringung eines Kreuzes ins Feld geführt wurden. Die Bundesverwaltungsrichter billigten jedoch 1999 im Grundsatz die Neuregelung im bayerischen Schulgesetz; allerdings knüpften sie ihre Billigung an die, wenn auch vage, Bedingung, dass die im Gesetz eröffnete Möglichkeit zum Widerspruch nicht an allzu hohe Anforderungen geknüpft und »bundesverfassungskonform« ausgelegt werde.37 Die Rechtslage für Bayern war damit entschieden; der öffentliche Zorn hatte sich schon lange zuvor weitgehend gelegt. Die Sache selbst schwelte jedoch weiter und lodert bis heute immer wieder einmal auf, nicht nur im Freistaat Bayern. So erregte etwa im Spätherbst 2009 eine Entscheidung der Zweiten Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg in einem ähnlich gelagerten und mit vergleichbaren Argumenten geführten italienischen
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die »Atypik« des zu entscheidenden Falls; zum Sachverhalt vgl. BayVGH 3 B 98.563, Urteil vom 21. 12. 2001. Anders entschied das VG Augsburg, das 2008 eine entsprechende Klage eines Lehrers abwies; vgl. VG Augsburg Au 2 K 07.347, Urteil vom 14. 08. 2008. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof in München sah im August 1997 keinen Grund, die Neuregelung zu beanstanden, die nach seiner Auffassung der Bayerischen Verfassung nicht widerspricht und auch der Entscheidung der Karlsruher Richter vom Mai 1995 nicht entgegensteht (siehe mit ausführlicher Begründung: BayVerfGH Vf. 6–VII–96, Vf. 17–VII–96 u. Vf. 1–II–97, Entscheidung vom 1. 8. 1997). Gegen diese Entscheidung strengten verschiedene Kläger eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht an, die jedoch nicht zur Entscheidung angenommen wurde; vgl. BVerfG 1 BvR 1604/97, 1 BvR 1615/97, 1 BvR 1659/ 97, Beschluss vom 27. 10. 1997. Vgl. BayVGH 7 B 97.601, Urteil vom 22. 10. 1997. Vgl. BVerwG 6 C 18.98, Urteil vom 21. 4. 1999. Die Bundesverwaltungsrichter betonten in den Leitsätzen zu ihrer Entscheidung, dass zu dieser »bundesverfassungskonformen« Auslegung gehöre, dass sich diejenigen, die der Anbringung eines Kreuzes widersprächen, »letztlich durchsetzen müssen«, wenn keine Einigung dahingehend erzielt werden könne, die Kreuze in den Unterrichtsräumen zu belassen (BVerwG 6 C 18.98, Urteil vom 21. 4. 1999). Damit gewichteten sie die negative Seite der Religionsfreiheit (der Minderheit) stärker als die positiven Freiheitsrechte (der Mehrheit). Zur Berliner Entscheidung siehe auch: Nolte, Der richtige Weg, der hier zwar einen für die betroffenen Familien »viel zu spät unternommene[n] Rehabilitationsversuch«, aber doch für alle zukünftig Widersprechenden »eine gerechte Ermutigung, ihren ehrlichen Empfindungen gemäß zu handeln« (894) und deshalb insgesamt ein »salomonisches Urteil« (891) sieht.
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Streitfall einiges öffentliches Aufsehen.38 Die Straßburger Richter hatten in erster Instanz einstimmig der Klage einer aus Finnland stammenden Mutter stattgegeben, die die Ausstattung sämtlicher Unterrichtsräume ihrer beiden Kinder mit Kruzifixen als Verstoß gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit beanstandet hatte, damit aber vor sämtlichen italienischen Instanzen gescheitert war. Diese hatten die Anbringung von Kreuzen mit dem Argument gerechtfertigt, das Kreuz sei nicht in erster Linie ein religiöses Zeichen, sondern vielmehr ein volkstümlicher Ausdruck italienischer Kultur und Tradition sowie allgemein teilbarer humanistischer Werte; seine Anbringung verstoße daher nicht gegen das Prinzip staatlicher Unparteilichkeit und Neutralität. Die Straßburger Richter hielten dem – ganz ähnlich wie die Bundesverfassungsrichter knapp vierzehn Jahre zuvor – entgegen, das Kreuz könne keineswegs auf seinen kulturellen Sinngehalt reduziert werden; es habe eine Vielzahl von Bedeutungen, unter denen die religiöse Bedeutung dominant sei. Deshalb, so das einstimmige Votum der Richter der Zweiten Kammer, verstoße seine Anbringung in Schulräumen gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistete Recht der Eltern, ihre Kinder in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen zu erziehen, sowie gegen das dort ebenfalls garantierte Grundrecht auf Religionsfreiheit.39 Der verurteilte italienische Staat legte – unterstützt von orthodox geprägten Staaten wie Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Zypern und Russland – Revision bei der Großen Kammer des Straßburger Gerichts ein. Die Sache kam deshalb erneut und dieses Mal vor der Großen Kammer des Gerichts zur Verhandlung. Diese folgte in ihrer Entscheidung vom März 2011 der Vorinstanz zwar insoweit, als auch sie den primär religiösen Sinngehalt des Kruzifixes betonte und einräumte, dass Schulkruzifixe der katholischen Mehrheitsreligion zu dominanter Sichtbarkeit in der Schule verhälfen. Dennoch entschieden die 38 Zum Echo in der deutschen Presse vgl. u. a. die FAZ vom 19. 11. 2009 (Christian Walter) sowie vom 25. 2. 2010 (Martin Kriele); hier wurde die Straßburger Entscheidung stets auch auf die bayerische Konfliktkonstellation zurückbezogen. Auch die in der öffentlichen Auseinandersetzung thematisierte Frage, inwieweit die Entscheidung die Weichen in Richtung gesamteuropäischer Standardisierung nationaler religionsrechtlicher Arrangements stelle (so auch Walter in der FAZ, 19. 11. 2009), hat durchaus eine Analogie in der bayerischen Konfliktkonstellation. So beanstandeten auch die Gegner der Karlsruher Entscheidung des Jahres 1995, mit dieser werde durch ein Verfassungsorgan des Bundes in Hoheiten eines Landes eingegriffen und damit der (religions)kulturellen Einebnung regionaler Befindlichkeiten Vorschub geleistet (vgl. nur Geis, Zulässigkeit des Kreuzes, 53 – 55). 39 Verletzt wurden damit nach Auffassung der Straßburger Richter sowohl Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Bildung) als auch Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit); vgl. den Wortlaut dieser Artikel im Anhang. Die Entscheidung der Zweiten Kammer wurde Anfang November 2009 gefällt und zunächst nur in französischer Sprache zugänglich gemacht: CEDH, DeuxiÀme Section, Affaire Lautsi c. Iatlie, ArrÞt, 3 Novembre 2009; englische Fassung: ECHR, Second Section, Case of Lautsi vs. Italy, Judgment, 3 November 2009.
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Richter mit einer Mehrheit von fünfzehn zu zwei Stimmen, dass die von der Zweiten Kammer beanstandeten Grundrechtsverletzungen nicht hinreichend begründet seien, da nicht abschließend festgestellt werden könne, ob das Kruzifix tatsächlich religiös indoktrinierenden Einfluss auf die Schüler habe oder nicht.40 Aber auch in Deutschland erregt die strittige Frage, ob Schulkreuze zulässig sind oder nicht, immer wieder einmal die Gemüter, so etwa, als die angehende niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan, eine Christdemokratin mit türkischer Herkunft, sich im April 2010 in einem Interview mit dem Wochenmagazin Focus dafür aussprach, die öffentlichen Schulen von religiösen Zeichen – Kreuzen ebenso wie Kopfbedeckungen – frei zu halten.41 Umgehend fühlten sich viele berufen, die künftige Ministerin sowie die Öffentlichkeit allgemein über die ›wahre‹ Bedeutung des Kreuzes als eines kulturchristlichen Emblems ohne spezifisch religiös-konfessionellen Gehalt aufzuklären. Insbesondere CDU-Politiker brachten sich eilends gegen die junge Parteikollegin in Stellung und betonten, das Kreuz sei ein Symbol der Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und stehe für das aus christlichen und jüdischen Quellen schöpfende Werteverständnis des demokratischen Gemeinwesens.42 Zwar erreichte die Aufregung um das Schulkreuz in den letzten Jahren nicht mehr den Siedepunkt, der in den Debatten im Spätsommer und Herbst 1995 erreicht wurde. Dennoch ist das Kreuz ein riskantes Zeichen geblieben, an dem sich offenbar jederzeit wieder leidenschaftlicher Streit entzünden kann. In Zeiten zunehmend leerer Kirchen und sinkender Kirchenmitgliedschaftszahlen ist das durchaus nicht selbstverständlich. Das Zeichen des Kreuzes rührt offenbar an einen empfindsamen Nerv nicht nur der Kirchennahen, sondern der Gesellschaft insgesamt. Doch wo liegt dieser Nerv? Robert Leicht, der kurz vor Weihnachten 1995 in der Zeit auf den »Streit des Jahres« zurückblickte, verortete ihn im Grenzbereich von ›Zivilreligion‹ und ›Religion‹: 40 Vgl. die Pressemitteilung No. 234 des EGMR vom 18. 3. 2011 (in deutscher Sprache). Das Urteil selbst liegt wiederum zweisprachig vor: ECHR, Grand Chamber, Case of Lautsi and others vs. Italy, Judgment, 18 March 2011; CEDH, Grande Chambre, Affaire Lautsi et Autres c. Italie, ArrÞt, 18 mars 2011. 41 Vgl. das Interview mit Aygül Özkan im Focus 17/2010. 42 Vgl. aus der regen Berichterstattung: FAZ vom 26. 4. 2010, 27. 4. 2010, 28. 4. 2010; SZ vom 27. 4. 2010. Wenig überregionales Echo entfaltete hingegen ein Streit in Baden-Württemberg: In der Ortschaft Meßkirch im Kreis Sigmaringen hatte der Schulleiter des örtlichen Gymnasiums im Sommer 2009 im Rahmen von Renovierungsmaßnahmen sämtliche Kreuze aus den Unterrichtsräumen entfernen lassen; mehrere Monate war dies offenbar unbemerkt geblieben, denn erst gegen Jahresende regte sich unter Schülerinnen und Schülern, Eltern und in der Kollegenschaft Widerspruch gegen die Entscheidung des Schulleiters, der sich – nachdem die lokale Presse den Fall aufgegriffen hatte – daraufhin vor der Schulaufsicht verantworten musste; vgl. Stuttgarter Zeitung, 15. 12. 2009.
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Hätte im Mittelpunkt des Streits nur das Verhältnis von Staat und Kirche gestanden – die Sache wäre in Ruhe auszutragen gewesen […]. Doch dieses Mal rührten die Richter an das Unterfutter des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Religion.43
Denn im Zeichen des Kreuzes, so Leicht, verdichteten sich in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals die zivilreligiösen Sicherheiten einer auf einem christlichen Wertefundament aufruhenden politischen Kultur. Dieses »zivilreligiöse Sicherheitsbedürfnis« sei durch den Karlsruher Beschluss »empfindlich gestört« worden. Leicht schreibt: Zugleich aber haben die Richter, indem sie das Kreuz als höchst verbindliches Symbol eines konkreten Glaubens gegen seine Trivialisierung im Sinne einer diffusen Allerweltsgläubigkeit in Schutz nahmen, die große Differenz zwischen der bloßen Zivilreligion und einem tatsächlichen Bekenntnis markiert.44
In diesem Licht erscheint der Streit um das Schulkreuz letztlich als eine definitionspolitische Auseinandersetzung in einer religions- und sozialkulturell unsicheren Zeit. Was ist das Kreuz? Ist es das »Herz des Christentums«45 und also ein überaus spezifisches Glaubenssymbol? Oder ist es eine Art »Maskottchen« des ›Abendlandes‹,46 ein religiös-konfessionell unspezifisches Emblem des zivilreligiösen Bandes, das »heute die Kulturländer Europas und des Abendlandes einigt«?47 Die Frage ist von Bedeutung, wenn es darum geht zu 43 Die Zeit, 22. 12. 1995. 44 Ebd. 45 Das Kreuz als »Herz des Christentums« bezeichneten der Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann und der ehemalige Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Peter Steinacker im Verlauf des Konflikts um die Vergabe des Hessischen Kulturpreises an die Vertreter der vier großen Religionsgemeinschaften in Deutschland (vgl. Die Zeit, 20. 5. 2009). Neben den Genannten sollten der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Salomon Korn und der muslimische Schriftsteller Navid Kermani geehrt werden, dessen Betrachtung einer Kreuzigungsdarstellung von Guido Reni den Streit auslöste (vgl. NZZ, 14. 3. 2009). 46 So Robert Leicht in der Überschrift eines Debattenbeitrags ganz zu Beginn des öffentlichen Zornesausbruchs im Sommer 1995 (Die Zeit, 18. 8. 1995). 47 Die Charakterisierung des Kreuzes als das, »was heute die Kulturländer Europas und des Abendlandes einigt«, wurde von Vertretern der CDU bei den Beratungen zum Grundgesetz im Parlamentarischen Rat vorgebracht, die den (mit großer Mehrheit abgelehnten) Vorschlag vorbrachten, in die Bundesflagge das Zeichen des Kreuzes einzufügen (vgl. Feldkamp (Hg.), Der Parlamentarische Rat, 123). Der Begriff ›Zivilreligion‹ soll hier mit Hermann Lübbe folgendermaßen verstanden werden: »Zivilreligion – das sind die Bestände öffentlicher Kultur, in der das Gemeinwesen und in ihm das bürgerliche Leben seine Abhängigkeit von Lebensvoraussetzungen, die politisch nicht dispositiv sind und im Interesse gemeinsamen politischen Lebens Anerkennung ihrer Unverfügbarkeit verlangen, symbolisch bekundet« (so in Lübbes kritischer Auseinandersetzung mit der Zivilreligionsproblematik am Beispiel der Karlsruher Entscheidung im Streit um das Schulkreuz: Lübbe, Zivilreligion und der »Kruzifix-Beschluß«, 239; vgl. auch den zuerst 1981 erschienenen grundlegenden Aufsatz: Lübbe, Staat und Zivilreligion, in dem Lübbe sein Begriffsverständnis ausführlich
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entscheiden, ob die Anbringung von Kreuzen (oder Kruzifixen) in den Unterrichtsräumen staatlicher Schulen die Kompetenzgrenzen des zur Neutralität in religiös-weltanschaulichen Angelegenheiten verpflichteten Staates überschreitet und die Religionsfreiheit derer verletzt, die sich einem anderen als dem christlichen oder keinem religiösen Bekenntnis verpflichtet fühlen. Der wiederkehrende Streit um das Kreuz erweist sich folglich als ein Streit um Grenzen: In der Auseinandersetzung um die Frage, was das Kreuz bedeutet und wer die Hoheitsrechte an dem Zeichen und seiner Deutung hat, wird um die Grenzen zwischen einer lediglich diffus christlich fundierten und in diesem Sinne kulturchristlich-zivilreligiösen gesellschaftlichen ›Werteagentur‹ und dem Christentum als einer konkreten Religion, die ein Bekenntnis verlangt, das die Lebensführung durchdringt, gerungen. Wir haben es also mit definitionspolitischen Auseinandersetzungen um die Grenzen des religiösen Feldes an der Sollbruchstelle zwischen ›Zivilreligion‹ und ›Bekenntnis‹ zu tun. Unter diesem Gesichtspunkt werden im Folgenden der argumentative Gehalt des Rechtsstreits und der öffentlichen Kontroverse, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgte, genauer untersucht.
4.2
Grenzarbeiten vor Gericht: Das Kreuz zwischen ›Zivilreligion‹ und ›Bekenntnis‹
Es gehört zu den Eigenarten des Konflikts um das Schulkreuz, dass er nicht durch eine im hiesigen Kontext als ›fremd‹ erlebte Form öffentlicher Religion angestoßen wurde. Zum Stein des Anstoßes wurde vielmehr ein Zeichen (oder vielmehr die drohende Verdrängung dieses Zeichens aus spezifischen öffentlichen Räumen), das eng mit der im religionskulturellen und historischen Bewusstsein der Gesellschaft fest verankerten Mehrheitsreligion verbunden und als solches mehrheitlich vertraut ist. Die Kläger zogen also gegen eine zur Selbstverständlichkeit geronnene Praxis zu Felde und trafen damit den wunden Punkt einer Gesellschaft, die sich ihrer fortgeschrittenen religionskulturellen Verunsicherung erst im Zuge dieses Streits bewusst wurde. Die Antragsteller argumentierten, mit der Anbringung von Schulkreuzen, genauer : mit der entsprechenden gesetzlichen Anordnung, werde sowohl das Verfassungsprinzip staatlicher Neutralität in Fragen von Religion und Weltanschauung als auch ihr persönliches Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt. Zunächst fand ihr Widerspruch gegen das Schulkreuz kaum – und schon gar keine bundesweite – Resonanz, sondern verhallte in der regionalen Öffentlichaufschlüsselt, sowie zur Begriffsgeschichte insgesamt den Sammelband Kleger/Müller (Hg.), Religion des Bürgers).
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keit. Die Verhandlungen, die die Kläger zunächst mit den lokalen Schulbehörden und, als dies erfolglos blieb, mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus führten, blieben also ohne nennenswertes Medienecho. Und auch der Rechtsweg, den die Familie seit 1991 beschritt, und der sie vom Verwaltungsgericht Regensburg bis vor den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München führte, wurde in der überregionalen Berichterstattung kaum verfolgt. Selbst die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht fand zunächst kaum Beachtung. Im Rückblick mag man daran ablesen, dass das religionskulturelle und -politische Klima in den Jahren vor der Eskalation des Streits 1995 noch nicht so aufgeheizt war, wie man retrospektiv vielleicht vermutet hätte. Denn nur wenige Jahre später hatte sich dies erheblich verändert: Nun begleitete eine religionspolitisch inzwischen sensibilisierte breite Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit sämtliche Phasen der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung um die Frage, ob einer muslimischen Lehrerin der Zugang zum Schuldienst verwehrt werden darf, wenn sie darauf besteht, auch während des Unterrichts an einer öffentlichen Schule eine Kopfbedeckung zu tragen. Ihren Zenit erreichte die öffentliche Kontroverse um das Kopftuch im Vorfeld der Karlsruher Entscheidung im Herbst 2003; dem Tag der Entscheidung wurde geradezu kollektiv entgegengefiebert. Als die Entscheidung jedoch gefallen war, ebbte die Aufmerksamkeit für die Angelegenheit relativ rasch wieder ab.48 Ganz anders war der öffentliche Streit um das Schulkreuz verlaufen, denn kaum einer hatte im Vorlauf der Karlsruher Entscheidung von dem Konflikt Notiz genommen, und auch die Entscheidung selbst, die im Mai 1995 ohne mündliche Anhörung zustande kam und deren Termin der Öffentlichkeit völlig entging, fand zunächst keine Beachtung. Zum Paukenschlag wurde erst die entsprechende Pressemitteilung im August des Jahres: Die höchstrichterliche Anordnung, die gesetzlich untermauerte und zur Gewohnheit gewordene Praxis zu unterbinden, in den Unterrichtsräumen öffentlicher Schulen ein Kreuz oder Kruzifix anzubringen, wurde damit zum Auslöser eines, wie fünf führende katholische Pastoraltheologen in einer gemeinsamen Stellungnahme schrieben, »Symbol- und damit eigentlich ein[es] Identitätskampf[es]«,49 der weite Bevölkerungskreise erfasste und keineswegs nur von Kirchgängern oder gar ausschließlich von Katholiken getragen wurde. In dem, was folgte, standen – auch dies anders als im ›Kopftuchstreit‹ – nicht die Kläger und ihre Motive im Vordergrund, über die nur wenige und in Teilen widersprüchliche Informationen
48 Zum Streit vgl. ausführlich unten Kapitel 5. 49 So Ottmar Fuchs, Norbert Greinacher, Leo Karrer, Norbert Mette und Hermann Steinkamp in der SZ vom 22. 11. 1995.
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kursierten,50 sondern die Befindlichkeit der Mehrheitsbevölkerung, die in der Kontroverse ihre religionskulturellen Verlustängste artikulierte. Im Streit um das Schulkreuz ging es, wie es in dieser Stellungnahme hieß, nicht primär um ein binnenkirchliches Symbol, sondern um die befürchtete Demontage einer kulturellen Befindlichkeit, die bei vielen individuell tief verinnerlicht ist. […] Wenn man so will, ist dies eine weitgehend kirchenabgelöste Volksreligiosität, die hier nach Respekt ruft.51
Diese »kulturelle Befindlichkeit« einer letztlich »kirchenabgelösten Volksreligiosität« stand im Streit um das Schulkreuz zur Disposition und bildete den Hintergrund für die vielen empörten Zwischenrufe im Verlauf der Debatte.52 Zugleich stellte sie in den Auseinandersetzungen den argumentativen Ausgangspunkt für die Verteidigung der Schulkreuze, insbesondere aufseiten der zunächst mit der Sache befassten bayerischen Landesstellen. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus nahm erstmals im Juni 1988 zu der Angelegenheit Stellung, und zwar auf schriftliche Anfrage der späteren Kläger, in deren Augen alle lokalen Konfliktklärungsbemühungen gescheitert waren. In seinem Antwortschreiben wies der zuständige Ministerialdirigent darauf hin, dass die in der Bayerischen Volksschulordnung vorgesehene Ausstattung sämtlicher Klassenzimmer mit einem Kreuz auf dem in der 50 Die in Teilen befremdlich anmutende Selbstdarstellung der Kläger mag hierzu beigetragen haben; sie setzt sich bis in die Gegenwart fort und kommt auch noch in jüngeren Internetpublikationen Ernst Selers zur Streitsache zum Ausdruck; vgl. die Vorpublikation zweier Kapitel eines angekündigten Buches zum Streit auf der Seite des so genannten ›Instituts für soziale Dreigliederung‹ (http://www.dreigliederung.de/religionsfreiheit/kruzifixbuchauschnitt01.html; 16. 2. 2011) sowie die dort gesetzten Links; dort auch Briefe der Kläger u. a. an das Schulamt und das bayerische Kultusministerium. Im zeitlichen Umfeld des Streits war der Briefwechsel der Eheleute Seler mit den Behörden bereits in der vom ›Antiklerikalen Arbeitskreis der Bunten Liste Freiburg‹ herausgegebenen Zeitschrift ›Ketzerbriefe‹ (15/16, 1989, 54 – 65 sowie 21, 1990, 53 – 58) veröffentlicht worden. 51 SZ, 22. 11. 1995. 52 So bezeichnete der Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Werner Remmers den christlichen Glauben als das »Wertekonto«, von dem die Gesellschaft insgesamt lebe (zit. nach: Streithofen, Kruzifixurteil, 57 f). In einem Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung hieß es, die Karlsruher Entscheidung sei ein falsches Signal an die vielen »Menschen, die in einer Zeit des rapiden Werteverfalls nach Symbolen lechzen, die ihnen wenigstens noch ein bißchen Halt geben« (zit. nach ebd., 59). Zum Tenor der ungezählten Leserbriefe in der Tagespresse siehe die Nachweise oben in Fn. 19. Zu den unterschiedlichen Befunden, die Meinungsumfragen bezüglich der Einstellung der Deutschen zum Kruzifixbeschluss zutage brachten, vgl. Isensee, Bildersturm, 9, dort Fn. 1, sowie Czermak, Unzulässigkeit des Kreuzes, 23. Während Isensee sich auf eine Ende Oktober 1995 veröffentlichte Allensbach-Umfrage bezieht, nach der 61 % bzw. 30 % der West- bzw. Ostdeutschen den Karlsruher Beschluss ablehnten, weil sie das Kreuz als »Zeichen unserer Kultur und Wertvorstellungen« betrachteten, verweist Czermak auf eine Forsa-Umfrage vom August 1995, nach der in Ostdeutschland nur 7 % und in Westdeutschland nur 30 % religiöse Symbole in der Schule befürworteten.
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Bayerischen Verfassung verankerten Bildungsziel »Ehrfurcht vor Gott« beruhe.53 Weiterhin erläuterte er, diese Vorschrift sei »mit der dem Staat gebotenen Neutralität und der Gewährleistung eines weltanschaulichen Pluralismus durchaus vereinbar«, denn das Kreuz stehe »nicht für spezifische Bekenntnisse, sondern für ein Christentum, das von allen Konfessionen mitgetragen wird«.54 Der in diesem Sinne keineswegs einer christlichen Konfession allein verpflichtete, vielmehr »allgemein-christliche Aussagewert«55 des Schulkreuzes wird in dem gut vierseitigen Schreiben fortwährend betont. Dass das Kreuz ein »Symbol des Christentums« ist, wird demnach keineswegs bestritten; als »konfessionsunabhängiges Symbol des Christentums«56 stehe es aber gerade nicht in Widerstreit mit der staatlichen Neutralitätsverpflichtung in religiösen und weltanschaulichen Dingen. Dieser erscheint vielmehr bereits Genüge getan, wenn es zu einem Ausgleich zwischen den christlichen Konfessionen komme. Die Argumentation des zuständigen Ministerialdirigenten lässt das bekannte frühneuzeitliche Denkmuster konfessioneller Parität durchscheinen, nach dem zwar die verschiedenen christlichen Konfessionen (oder präziser : eine Auswahl von ihnen) rechtlich gleichgestellt sind, das aber nicht-christliche Religionen bzw. Weltanschauungen, seien sie religiöser und auch nicht-religiöser Provenienz, aus dem Kreis der rechtlich Gleichen ausschließt.57 So heißt es in dem Schreiben des Ministerialbeamten an die Eheleute Seler, es sei Anders- oder Nicht-Glaubenden durchaus zuzumuten, das Kreuz zu »dulden«, da dieses »keine spezifische konfessionsgebundene Lehre in den allgemeinen Unterricht« trage, sondern lediglich »allgemeines konfessionsunabhängiges christliches Gedankengut« sei.58 In diesem Zusammenhang verwies das Ministerium zugleich darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in anderen einschlägigen Streitfragen entschieden habe, dass der Staat durchaus das Recht habe, christliches Gedankengut zum 53 Vgl. das Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/16, 1989, 61 – 65, hier 63. Die Verfassung des Freistaates Bayern legt in Art. 131 Abs. 2 fest: »Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.« 54 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/ 16, 1989, 64. 55 Ebd., 65. 56 Ebd., 63. 57 Vgl. dazu oben Kapitel 3.1. 58 Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/16, 1989, 63 f.
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Streit um das Kreuz in der Schule
Unterrichtsgegenstand zu machen.59 Denn dass er die Freiheit der Religion und des Gewissens achte und schütze, bedeute nicht, dass er den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden sozial- und religionskulturellen Ordnungsvorstellungen gleichgültig gegenüber stehe. Um dies zu untermauern, rief der Kultusbeamte nachdrücklich die politische Katastrophe des Nationalsozialismus in Erinnerung und appellierte an das kollektive Gedächtnis der bayerischen Katholiken, die sich durchaus erfolgreich dem nationalsozialistischen Versuch widersetzt hatten, Kreuze und Kruzifixe aus den Schulen zu entfernen:60 »Gerade die Erfahrungen in der Zeit des Dritten Reichs haben die Notwendigkeit eines ethisch begründeten Fundaments, das auf der gemeinsamen Grundüberzeugung der Bürger beruht, allen vor Augen geführt«, so schrieb der Ministerialdirigent, und er fügte hinzu, das Kreuz sei »in dieser Weise besonders geeignet, die überpositivistische Dimension der staatlichen Bildungsziele in Erinnerung zu bringen«.61 Bayern habe deshalb in seiner Verfassung festgelegt, dass die Kinder in den öffentlichen Volksschulen »nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen« werden.62 Mit dieser Formulierung, die Art. 135 der Bayerischen Verfassung entnommen ist,63 wird das Schulkreuz in den Kontext der ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ gestellt, die in Bayern 1968 durch eine per Volksentscheid herbeigeführte Änderung eben dieses Artikels zur Regelschule für alle volksschulpflichtigen Schülerinnen und Schüler wurde und die bis dahin übliche Bekenntnisschule ablöste. Im Unterschied zur konfessionshomogenen katholischen oder evangelischen Bekenntnisschule, in der Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulkinder in der Regel derselben Konfessionsgemeinschaft angehören sollten, zeichnet sich die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ durch ihren konfessionsübergreifenden Charakter aus. Schülerinnen und Schüler sollten hier im Geist der allen Christen gemeinsamen Werte und Überzeugungen er59 Vgl. ebd., 64. Bezug genommen wird explizit auf die Entscheidung zum Schulgebet: BVerfG 1 BvR 647/70 und 7/74, Beschluß vom 16. 10. 1979. 60 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung: Ziegler, Der Kampf um die Schulkreuze; auch Schäffer, Ein Volk – ein Reich – eine Schule, 201 – 211. Auch in der öffentlichen Debatte hat dieser Vergleich wiederholt eine Rolle gespielt; vgl. etwa: Rheinischer Merkur, 1. 9. 1995 (Konrad Repgen); FAZ, 20. 9. 1995 (Hans Maier). Vehement dagegen hält Eberhard Jüngel, der in der FAZ vom 14. 9. 1995 diese Parallelisierung als »[g]anz und gar intolerant, ja bösartig und unwahrhaftig« bezeichnet. 61 Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/16, 1989, 63. 62 Ebd., 64. 63 Art. 135 Verfassung des Freistaates Bayern im Wortlaut: »Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle volksschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt das Volksschulgesetz.«
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zogen werden.64 Im Schreiben des Ministerialdirigenten an die Eheleute Seler firmiert das strittige Kreuz nun geradezu als ›Markenzeichen‹ der konfessionsübergreifenden ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹: Mit der Anbringung eines Schulkreuzes erzieht die Schule nach eben diesen gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse, ohne hierbei in theologische Fragen einzugreifen.65
Der argumentative Plot schließt sich, wenn man berücksichtigt, dass die Verfassungskonformität der ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ vom Bundesverfassungsgericht 1975 bestätigt wurde:66 Ist das Schulkreuz das ›Logo‹ dieses verfassungskonformen Schultyps, so kann seine Anbringung – diesen Beweis galt es zu führen – nicht verfassungswidrig sein.67 In der Tat verweist der Streit um das Schulkreuz, der 1995 die Gemüter bewegte, auf die vehementen Debatten um die Ablösung konfessionell gebundener Grundschulen durch die so genannte ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ (auch ›Simultanschule‹ genannt) zurück, die in den vierziger, fünfziger und noch sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts insbesondere in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen geführt wurden. Die beiden Konflikte weisen aber nicht nur hinsichtlich ihres Mobilisierungspotentials Ähnlichkeiten auf. Auch die zentralen Argumentationslinien, die in den Rechtsstreitigkeiten zum Tragen kamen, ähneln einander und sind in Teilen gar bis in den Wortlaut identisch: Darf der Staat, der zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist, Schulen unterhalten, denen das Prädikat 64 Unterbrochen wurde die Tradition der Bekenntnisschule zwischen 1938 und 1945 durch die dem nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsgedanken verpflichteten ›Deutschen Gemeinschaftsschulen‹; vgl. dazu Maier, Das katholische Schulwesen im Nationalsozialismus, 224 – 257, v. a. 238 – 249; ferner : Schäffer, Gleichschaltung der Volksschule. Zum Ringen um die Bekenntnisschule auch nach 1945, der nicht nur in Bayern, sondern auch in BadenWürttemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen geführt wurde, vgl. Kuropka, Das katholische Schulwesen im Wiederaufbau; sowie Dikow, Geschichte des katholischen Schulwesens seit den sechziger Jahren; außerdem in dezidiert kritischer Distanz: Czermak, Öffentliche Schule, Religion und Weltanschauung. 65 Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/16, 1989, 64. 66 Vgl. BVerfG 1 BvR 428/69, Beschluß vom 17. 12. 1975; ebenso die parallelen Entscheidungen für die ›Christliche Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung‹ (BVerfG 1 BvR 63/68, Beschluß vom 17. 12. 1975) sowie die ›Gemeinschaftsschule‹ in Nordrhein-Westfalen (BVerfG 1 BvR 548/68, Beschluß vom 17. 12. 1975). 67 So auch vorgebracht in der Abweichenden Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum ›Kruzifix-Beschluss‹ des Bundesverfassungsgerichts 1995: BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 74. Keinen Bruch mit der Rechtsprechung zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ sieht hingegen Christian Walter, der eher eine Akzentverschiebung angesichts gewandelter religionskultureller Bedingungen ausmacht: Walter, Acceptance.
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›christlich‹ zukommt, ja darf er solche ›christlichen‹ Schulen gar zur Regelschule unter staatlicher Aufsicht machen? Verstößt dieser Schultyp nicht gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG – und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits, weil er damit das Christentum verbindlich macht auch für jene, die sich nicht zum Christentum bekennen (Verstoß gegen die ›negative Religionsfreiheit‹); andererseits, weil er damit in das Selbstbestimmungsrecht der verschiedenen christlichen Konfessionen eingreift und sich anmaßt, das Gemeinsame aller christlichen Bekenntnisse zu bestimmen und konfessionsspezifische Glaubenswahrheiten zu verwässern (Verstoß gegen die ›positive Religionsfreiheit‹)?68 Die Antwort auf diese Fragen wird letztlich davon abhängen, wie man das ›Christliche‹ der ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ näher bestimmt. Auch dieser Streit erweist sich also, wie der Streit um das Schulkreuz Jahrzehnte später, als ein Streit um Bedeutungen und Deutungshoheiten, in denen auch die Grenzen des religiösen Feldes verhandelt werden. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1975 gebündelt die Verfassungsklagen, die aus Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gegen die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ erhoben worden waren.69 Es stellte fest, dass christlich orientierte Schulformen und Erziehungsziele grundsätzlich mit dem Neutralitätsgebot des Staates vereinbar seien, knüpfte diese Vereinbarkeit jedoch an bestimmte Bedingungen: So stützte es seine Entscheidung auf eine Grenzziehung zwischen den zu einem Bekenntnis auffordernden konfessionell gebundenen christlichen Glaubensgewissheiten und -hoffnungen auf der einen Seite und einem zur bloßen ›Zivilreligion‹ geronnenen Kulturchristentum auf der anderen Seite. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung banden die Karlsruher Richter die Verfassungskonformität der ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ als öffentliche Regelschule für alle grundschulpflichtigen Kinder, in der »die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen« werden sollten,70 an die Bedingung, dass das Christentum in diesen Gemeinschaftsschulen eben nicht im Sinne konfessionell bin68 Es ist hier nicht der Ort, die öffentliche und juristische Auseinandersetzung um die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ sowie die Kritik an dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1975 nachzuzeichnen und zu analysieren; dies ist an anderer Stelle geschehen; als knappen kritischen Überblick und mit Bezug auch zur Schulkreuzentscheidung 1995 sowie mit weiteren Nachweisen vgl. Huster, Neutralität, 182 – 189. 69 Es sei darauf hingewiesen, dass die drei Klagen unterschiedlich motiviert waren: So hatten sich in Bayern und Baden-Württemberg Eltern, die eine religiöse Erziehung ihrer Kinder in der Schule ablehnten, gegen die Orientierung der öffentlichen Gemeinschaftsschule an christlichen Grundsätzen gewandt; in Nordrhein-Westfalen hingegen hatten Eltern gegen die nur mehr an allgemeinen christlichen Grundsätzen orientierte, aber bekenntnisfreie Gemeinschaftsschule geklagt, weil sie im Gegenteil weiterhin eine konfessionell gebundene religiöse Erziehung ihrer Kinder wünschten und deshalb die katholischen bzw. evangelischen Bekenntnisschulen beizubehalten wünschten. 70 So Art. 135 der Verfassung des Freistaates Bayern (siehe Fn. 63 oben und Anhang).
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dender »Glaubenswahrheiten«, sondern lediglich (so die eigentümlich unscharfe Formulierung) »als »prägende[r] Kultur- und Bildungsfaktor« vermittelt werde. Im Wortlaut heißt es: Die gewählte Schulform darf jedoch, soweit sie auf die Glaubens- und Gewissensentscheidungen der Kinder Einfluß gewinnen kann, nur das Minimum an Zwangselementen enthalten. Sie darf daher keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen; sie muß auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. Das Erziehungsziel einer solchen Schule darf – außerhalb des Religionsunterrichts, zu dessen Besuch niemand gezwungen werden kann – nicht christlich-konfessionell fixiert sein. Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, jedoch nicht auf Glaubenswahrheiten.71
Zulässig ist demnach also die Beeinflussung der schulischen Unterrichts- und Erziehungsarbeit durch ein Christentum, das nicht glaubend bekannt, sondern, wie es an anderer Stelle der Entscheidung heißt, als »ein Stück abendländischer Tradition« anerkannt wird.72 Unter den »Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse«, nach denen die Schülerinnen und Schüler ausweislich des strittigen Art. 135 der Bayerischen Verfassung in den öffentlichen Volksschulen »unterrichtet und erzogen« werden,73 sind daher nach Auffassung der im Jahr 1975 verantwortlichen Karlsruher Richter »die Werte und Normen [zu] verstehen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind«,74 kurzum: der Kernbestand einer von konkreten Konfessionsbezügen abgelösten kulturchristlichen ›Zivilreligion‹. Nun ist jedoch die im Beschluss zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ 1975 errichtete Grenze zwischen (auf der einen Seite) Glaubenswahrheiten, die zu einem Bekenntnis auffordern, und (auf der anderen Seite) den Werten und Normen, die sich aus diesen zwar ableiten, aber doch eine von ihnen unabhängige Geltung und »eine gewisse verpflichtende Kraft«75 erlangen, keineswegs undurchlässig. In konkreten Konflikten lassen sich aus ihr deshalb keine eindeutigen Entscheidungskriterien ableiten, was verfassungsrechtlich zulässiges 71 BVerfG 1 BvR 428/69, Beschluß vom 17. 12. 1975, 72. 72 Ebd., 89. Dass diese Unterscheidung zwischen glaubendem Bekenntnis und Anerkennung der Tradition in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht so eindeutig ausfällt, wie es die zitierten Passagen aus dem Beschluss nahelegen, betont Huster. Er weist darauf hin, dass sich in dem Beschluss auch Formulierungen finden, »die indizieren, daß das Gericht wohl doch einen deutlicheren materiell-christlichen Gehalt der Gemeinschaftsschule für zulässig hält« (vgl. dazu Huster, Neutralität, 184 f). 73 Siehe Fn. 62 und Fn. 63 oben. 74 BVerfG 1 BvR 428/69, Beschluß vom 17. 12. 1975, 89. 75 Ebd.
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Bildungsgut ist und was nicht. Das führt der Streit um die Kreuze bzw. Kruzifixe in der ›christlich‹ verfassten Gemeinschaftsschule in Bayern, den das Bundesverfassungsgericht dann zwanzig Jahre später zu entscheiden hatte, deutlich vor Augen. Denn ob es verfassungsrechtlich unbedenklich ist, in den Unterrichtsräumen dieses Schultyps Kreuze oder Kruzifixe anzubringen bzw. ihre Anbringung gesetzlich vorzuschreiben, wird im Horizont der Karlsruher Entscheidung aus dem Jahr 1975 vom Sinngehalt des Kreuzes abhängen. Ist also das Kreuz, so lautete die entscheidende Frage, lediglich Ausdruck einer vom Christentum maßgeblich geprägten abendländischen Kultur und in diesem Sinne ein bloß ›zivilreligiöses‹ Zeichen, das letztlich nur auf allgemein konsensfähige Werte und Normen verweist? Oder ist das Kreuz (und mehr noch das Kruzifix) nicht doch ein Zeichen für eine durchaus nicht allgemein konsensfähige Glaubensgewissheit, die ein konkretes Bekenntnis, eine Entscheidung für oder wider, verlangt? Wie die erörterte briefliche Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus gezeigt hat, stand diese definitionspolitische Frage bereits im Mittelpunkt der vorgerichtlichen Auseinandersetzung um das Schulkreuz. Als der Streit die Gerichte erreichte, trat sie zwar zunächst wieder in den Hintergrund, stellte sich aber in der Endphase des Rechtsstreits und in der öffentlichen Debatte erneut und polemisch verschärft. Den Rechtsweg schlugen die Eheleute Seler Anfang Februar 1991 ein. Beim zunächst zuständigen Verwaltungsgericht Regensburg beklagten sie den Freistaat Bayern, mit der (gesetzlich angeordneten) Anbringung von Schulkreuzen (bzw. -kruzifixen) die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG zu verletzen und damit nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern darüber hinaus auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu verstoßen.76 Zugleich stellten die Eheleute einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Entfernung aller Kreuze und Kruzifixe aus sämtlichen Unterrichtsräumen bis zur rechtskräftigen Entscheidung, da andernfalls »nicht mehr korrigierbare Entwicklungsstörungen der Kinder« zu befürchten seien.77 Beide Anträge wurden ohne mündliche Anhörung durch einen Beschluss vom 1. März 1991 abgewiesen. Die einstweilige Anordnung verweigerten die angesichts der 76 Die EMRK gewährt in Art. 9 Abs. 1 und 2 »Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit«; vgl. den Wortlaut im Anhang; dort ebf. Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 2 GG. 77 Die Formulierung ist der Darstellung des Sachverhalts in der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg entnommen: VG Regensburg RO 1 E 91.01617, Beschluß vom 1. 3. 1991, 3 (da die amtliche Veröffentlichung des Beschlusses nur Auszüge aus deren Begründung zugänglich macht, wird hier und im Folgenden durchgängig zitiert nach dem vollständigen Faksimile in: Streithofen, Kruzifixurteil, 108 – 115; die Seitenzahlen bei der Zitation beziehen sich entsprechend auf die Seitenzahlen des Faksimiles).
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Behauptung einer drohenden schweren Störung der kindlichen Entwicklung durch das Schulkreuz offenkundig konsternierten Regensburger Richter mit der Begründung, [d]erartige Wirkungen des bloßen Anblicks bzw. des bloßen Vorhandenseins von Kreuzen seien bisher nicht beobachtet worden und in der ernsthaften wissenschaftlichen Literatur nicht dokumentiert. Sollten bei den Kindern Verhaltensstörungen zu beobachten sein, so dürften sie sicherlich andere Ursachen haben.78
Die Regensburger Richter konzentrierten sich bei ihrer Beschlussfassung also im Wesentlichen auf die Frage nach der Wirkung des Schulkreuzes. Nichtsdestotrotz erörterten auch sie zunächst recht ausführlich, welche Ziele der Staat mit der Anbringung von Schulkreuzen verknüpft. Ganz auf der vom Staatsministerium vertretenen Linie argumentierten sie, dass eine Orientierung staatlichen Handelns an allgemein christlichen Wertvorstellungen grundsätzlich durchaus zulässig sei, und zwar gerade in der Schule, einem »Bereich, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren«. Insofern könnten die Antragsteller keine strikte »Beachtung des Prinzips der ›Nichtidentifikation‹ des Staates verlangen«.79 Allerdings habe der Schulträger zu gewährleisten, daß weltanschaulich-religiöse Zwänge soweit irgend möglich ausgeschaltet werden und die Schule das Toleranzgebot befolgt und auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte offen ist. Aus der Neutralitätspflicht folgt nur, daß die Schule keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen darf,80
so betonten die Regensburger Richter in teilweise wörtlicher Übernahme von Passagen aus dem Karlsruher Beschluss zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹. Das Kreuz gerät nach ihrer Auffassung mit diesem Anforderungsprofil in keinerlei Widerspruch. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass die strittige Vorschrift der Bayerischen Volksschulordnung nicht vorsehe, »daß das in einem Klassenzimmer anzubringende Kreuz als Unterrichtsmittel einzusetzen und 78 Ebd., 4. 79 Ebd., 7; der schulische Raum wird dabei ausdrücklich vom »›rein weltlichen Lebensbereich‹ des Gerichtssaals« und damit von einem Streitfall abgegrenzt, den das Bundesverfassungsgericht 1973 zu entscheiden hatte. Damals ging es um die Verfassungsbeschwerde eines jüdischen Rechtsanwalts, der sich dagegen gewandt hatte, in einem mit einem Kruzifix ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen. Die Bundesverfassungsrichter entschieden damals, dass, wie es im ersten Leitsatz der Entscheidung heißt, »der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, […] das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzen [kann]« (BVerfG 1 BvR 308/69, Beschluß vom 17. 7. 1973). 80 VG Regensburg RO 1 E 91.01617, Beschluß vom 1. 3. 1991, 6.
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Gegenstand des allgemeinen Unterrichts sei«.81 Auch betonten sie, dass das bloße Vorhandensein eines Kreuzes im Klassenzimmer zu keinerlei Bekenntnisakt auffordere und »weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten« verlange.82 Die Präsenz des Kreuzes wird vielmehr in den Kontext der Praxis des freiwilligen und außerhalb des Unterrichts stattfindenden überkonfessionellen Schulgebets gestellt, die das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung für zulässig befunden hatte.83 So wie die Schule mit dem Schulgebet nicht selbst die religiöse Erziehung in die Hand nehme, sondern die Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder lediglich unterstütze, so übernehme sie auch durch die Anbringung eines Kreuzes eine bloß assistierende Rolle und verletze daher weder die Grundrechte der Kinder noch das elterliche Erziehungsrecht.84 Nun wirft die Formulierung, das Anbringen eines Schulkreuzes sei nichts weiter als eine »die religiöse Erziehung durch die Eltern unterstützende Tätigkeit der Schule« die Frage auf, welche Eltern und welche Schülerinnen und Schüler den Regensburger Richtern vor Augen gestanden haben mögen. Offenbar gingen die Richter vom Fortbestand einer Art christlicher Einheitskultur aus, in der mit hoher Selbstverständlichkeit nicht nur unterstellt werden kann, dass eine religiöse Erziehung stattfindet, sondern darüber hinaus, dass diese religiöse Erziehung eine christliche ist. In dieser Wahrnehmung ließen sie sich durch den Konflikt, in dem sie zu entscheiden hatten, nicht irritieren: Sie nahmen den Widerspruch gegen das Schulkreuz nicht als Indiz für eine bereits erfolgte oder aber doch im Gang befindliche Erosion der unterstellten religionskulturellen Einheit wahr, sondern als individuelle Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm. Deren Geltung aber muss nicht in Frage gestellt werden, handelt es sich doch, wie im Regensburger Beschluss nachzulesen ist, lediglich um »einzelne Schüler, die in einer anderen Weltanschauung erzogen werden«.85 Entsprechend erwogen die Regensburger Richter auch keine weiter reichenden Konsequenzen im Hinblick auf den Umgang des Staates mit Religion im Allgemeinen und mit dem Schulkreuz im Besonderen. Das Problem, vor das die vereinzelten ›Normabweichler‹ den zur Neutralität 81 Ebd. 82 Ebd., 7. 83 Vgl. BVerfG 1 BvR 647/70 und 7/74, Beschluß vom 16. 10. 1979. Allerdings hat das Schulgebet durchaus einen gewissen Aufforderungscharakter : Denn wer nicht am Schulgebet teilnehmen möchte, wird immerhin zu einem negativen Bekenntnisakt gedrängt, der durch die bloße Präsenz eines Kreuzes, sofern dieses nicht Bezugspunkt eines religiösen Aktes wird, nicht verlangt wird. 84 Vgl. VG Regensburg RO 1 E 91.01617, Beschluß vom 1. 3. 1991, 6. 85 Ebd., 7.
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in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten verpflichteten Staat stellen, lösten die Verwaltungsrichter gewissermaßen mit einem Kunstgriff: indem sie nicht auf die Erziehungsintentionen abstellten, die der Staat mit dem Schulkreuz verfolgt, sondern auf die Wirkung, die das Kreuz auf Kinder ausübt. Die Sicherung der Neutralität des Staates in Sachen Religion wird demnach von einer Ziel- und Begründungsneutralität auf eine Wirkungsneutralität umgestellt. Letztere aber sahen die Regensburger Richter gewährleistet. Denn das Kreuz, so stellten sie fest, habe auf die ohnehin nur vereinzelten nicht-christlichen Schülerinnen und Schüler »keine missionarische Einwirkung«.86 Aus dieser nicht weiter begründeten und auch nicht durch Erfahrungswerte belegten Feststellung zogen sie nun die Konsequenz, die Antragsteller könnten nicht beanspruchen, daß ihrer negativen Bekenntnisfreiheit zum Nachteil der Schüler, die in einem religiösen Bekenntnis erzogen werden und sich dazu bekennen wollen, der absolute Vorrang eingeräumt und deshalb kein Raum für die Ausübung der positiven Bekenntnisfreiheit gelassen wird. Vielmehr kann insoweit auch von ihnen Toleranz und Achtung der religiösen Überzeugungen anderer erwartet werden, wenn sie deren Religionsausübung in der Schule begegnen.87
Diese Passage des Regensburger Beschlusses zeigt, dass die dortigen Richter ihre abschlägige Entscheidung letztlich auf eine Abwägung zwischen positiven und negativen Freiheitsrechten zulaufen ließen: Das Schulkreuz wurde dabei als Instrument der positiven Religionsfreiheit der christlichen Mehrheit gedeutet und dieser Vorrang vor der negativen Religionsfreiheit der nicht-christlichen Minderheit eingeräumt. Letztere durfte zwar nach Auffassung der Regensburger Richter erwarten, »daß ihrer Weltanschauung in der Schule Toleranz im Sinne von Respekt und Anerkennung entgegengebracht wird«. Sie wurde jedoch auch ihrerseits zur Toleranz gegenüber den religiösen Überzeugungen der Mehrheit aufgefordert, deren Ansprüche im konkreten Konfliktfall stärker gewichtet wurden.88 Gegen den abschlägigen Beschluss aus Regensburg legten die Kläger umgehend Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof München ein. Ohne Erfolg: Das Münchner Gericht wies die Klage, wiederum ohne mündliche Verhandlung, bereits am 3. Juni 1991 ab. In seiner Argumentation folgte es dem 86 Ebd. 87 Ebd., 8. Damit wendeten die Regensburger Richter das Toleranzgebot in eine Aufforderung an die Kläger. Das Bundesverfassungsgericht sollte diese Ausdeutung des Toleranzgebotes zurückweisen und klarstellen, dass sich der Konflikt »nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen [läßt], denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten« (BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 57). Zur Geschichte der Toleranzidee: Forst, Toleranz, dort auch zu jüngeren Toleranzkonflikten, u. a. zum ›Kruzifixstreit‹ und zum ›Kopftuchstreit‹ (709 – 745). 88 VG Regensburg RO 1 E 91.01617, Beschluß vom 1. 3. 1991, 8.
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Regensburger Beschluss zum Teil wörtlich, nahm jedoch die dort vernachlässigte Auseinandersetzung um den Sinngehalt des Kreuzes wieder auf und verknüpfte sie mit den Begründungslinien, die von den Regensburger Richtern entwickelt wurden, insbesondere mit der Frage, wie positive und negative Religionsfreiheit im Konfliktfall ins Verhältnis zu setzen sind. Dabei setzten die bayerischen Verwaltungsrichter jedoch, wie zu zeigen sein wird, andere Akzente. Zunächst sahen allerdings auch die Münchner Richter den Staat weder verpflichtet, sich auf die Rolle eines wertblinden Wächters über die Einhaltung strikter Verfahrensneutralität zurückzuziehen, noch seine – im konkreten Fall: schul- bzw. bildungspolitischen – Ziele völlig neutral, das heißt ohne jeden Bezug auf religionshistorisch prägende Wertvorstellungen zu definieren.89 Vielmehr habe der Staat nach Art. 7 Abs. 1 GG90 einen »selbständigen Bildungsauftrag, der […] auch die Erziehungsziele umfaßt und damit«, so folgerten sie, »das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit begrenzen kann«.91 Christliche Bezüge seien dabei nicht ausgeschlossen, allerdings dürfe das »Erziehungsziel […] nicht christlich-konfessionell fixiert sein«.92 Der offenkundige Rückgriff auf die bereits erörterte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Christlichen Gemeinschaftsschule bringt einmal mehr die Restbestände des herkömmlichen paritätischen Denkens ans Licht: Demnach ist der Neutralitätsverpflichtung Genüge getan, wenn der Staat gleichen Abstand zu sämtlichen christlichen Konfessionen hält. Kreuzesdarstellungen in der Schule erfüllen nach Auffassung der Münchner Richter dieses Kriterium: Mit ihnen »wird weder ein Absolutheitsanspruch bezüglich bestimmter konfessioneller Glaubenswahrheiten erhoben […] noch kann hierin die Werbung für eine bestimmte christliche Konfession gesehen werden.«93 Gleichwohl schwenkten die Münchner Richter, und dies macht ihre Entscheidung so bemerkenswert, keineswegs auf die im vorangehenden Streitverlauf dominante Deutungslinie ein, die im Kreuz oder auch im Kruzifix nicht mehr sehen will als ein Zeichen konfessionsübergreifender kulturchristlicher Zivilreligion. Vielmehr charakterisierten sie das Kreuz ganz entschieden als christliches Bekenntniszeichen: Das Kreuz sei, so heißt es in ihrem Beschluss,
89 BayVGH 7 CE 91.1014, Beschluß vom 3. 6. 1991, 10ff (da die amtliche Veröffentlichung des Beschlusses nur Auszüge aus deren Begründung zugänglich macht, wird hier und im Folgenden durchgängig zitiert nach dem vollständigen Faksimile in: Streithofen, Kruzifixurteil, 116 – 134; die Seitenzahlen bei der Zitation beziehen sich entsprechend auf die Seitenzahlen des Faksimiles). 90 Art. 7 Abs. 1 GG wird in der Bayerischen Verfassung durch Art. 130 Abs. 1 ausdrücklich bestätigt (vgl. den jeweiligen Wortlaut im Anhang). 91 BayVGH 7 CE 91.1014, Beschluß vom 3. 6. 1991, 11. 92 Ebd., 12. 93 Ebd., 15.
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»Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi«;94 es bringe »den christlichen Glauben an Jesus Christus, seine Leidensgeschichte und Erlösungstat zum Ausdruck«95 und konfrontiere diejenigen, »die eine solche Darstellung ablehnen, […] mit einem religiösen Weltbild […], in dem die prägende Kraft christlicher Glaubensvorstellungen bejaht wird«.96 Und doch kamen die Münchner Richter zu dem Schluss, dass die strittige Vorschrift, in den Klassenräumen öffentlicher Schulen in Bayern Kreuze anzubringen, nicht zu beanstanden sei. Denn, so stellten sie fest, die damit verbundene Beeinträchtigung sei für die Kläger »verhältnismäßig geringfügig«.97 Diese würden jedenfalls »nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren religiös-weltanschaulichen Konflikt gebracht«; schließlich verlange das Kreuz »weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen oder Glaubensvorstellungen, noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten«.98 Außerdem erfolge die im Grundsatz zulässige »Prägung der Schule in weltanschaulich-religiöser Beziehung […] durch den Unterricht und nicht durch bildliche Darstellungen«.99 Und im Übrigen seien »Kreuzesdarstellungen der hier in Betracht kommenden Art – ebenso wie das überkonfessionelle Schulgebet – nicht Ausdruck des Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben.«100 Die Beschlussfassung der Münchner Richter ist also zutiefst ambivalent: Zwar deuteten sie das Kreuz nachdrücklich als Zeichen des christlichen Bekenntnisses und hoben damit seine religiöse Bedeutung hervor. Zugleich aber stellten sie fest, dass das Kreuz nicht die Glaubensgewissheiten und -hoffnungen nur einer christlichen Konfession allein zum Ausdruck bringe, sondern das allen Christen, gleich welcher Konfession, gemeinsame Bekenntniszeichen sei. Mit dieser Betonung des überkonfessionellen Sinngehalts des Kreuzes war nun der Weg geebnet, auf dem das Kreuz über seinen religiösen Bekenntnisgehalt hinaus als »wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut des christlich abendländischen Kulturkreises«101 verstanden und damit seine Anbringung in schulischen Räumen gerechtfertigt werden konnte. Die Münchner Richter stellten sich damit zwar grundsätzlich der Ambivalenz des strittigen Zeichens. Statt aber die Spannung, die aus dieser Ambivalenz resultiert, begrifflich zu entfalten, bezogen sie sie letztlich funktional 94 Ebd., 14, mit Verweis auf die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Streit um das Kreuz im Gerichtssaal (BVerfG 1 BvR 308/69, Beschluß vom 17. 7. 1973; vgl. Fn. 79 oben). 95 BayVGH 7 CE 91.1014, Beschluß vom 3. 6. 1991, 9. 96 Ebd., 14. 97 Ebd., 15. 98 Ebd., 14. 99 Ebd., 14 f. 100 Ebd., 14. 101 Ebd.
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auf die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit: So schlossen sie aus ihrer Deutung des Kreuzes als spezifisch religiöses Bekenntniszeichen, dass eine Entfernung der Schulkreuze die positive Religionsfreiheit der (mehrheitlich christlichen) Schülerinnen und Schüler sowie das elterliche Erziehungsrecht unzumutbar begrenzen würde. Aus der Deutung des Kreuzes als nur noch zivilreligiöses Zeichen hingegen zogen sie die Konsequenz, dass seine Anbringung die negative Religionsfreiheit der Kläger nicht bzw. nicht unzumutbar begrenze, da die bloße Präsenz des Kreuzes von den Betroffenen dann letztlich nicht mehr verlange, als passiv einen allgemeinen Wertekonsens hinzunehmen, der seine einst spezifisch christlichen Bezüge abgestreift habe. Das so verstandene Kreuz führt dann allenfalls noch ›zivilchristliche‹ Bezüge mit sich, in deren Rahmen das Christentum lediglich in seiner historisch-sozialen Prägekraft anerkannt werde: Insofern »Kreuzesdarstellungen der hier in Betracht kommenden Art […] wesentlicher Gegenstand der allgemein christlichabendländischen Tradition und Gemeingut des christlich-abendländischen Kulturkreises« seien, sei es, so ist im Münchner Beschluss nachzulesen, einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten […] unter dem Gebot der auch für ihn geltenden Toleranz zumutbar, sie unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen, auch wenn sie solche Darstellungen ablehnen.102
Auch wenn sie dem Regensburger Beschluss teilweise wörtlich folgten und ihn im Ergebnis bestätigten, setzten die Münchner Verwaltungsrichter also in ihrer Argumentation andere Akzente: Die Frage nach der Wirkung des Kreuzes auf die Schülerinnen und Schüler trat so hinter die Auseinandersetzung um die Bedeutung des Kreuzes zurück, die auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder eine maßgebliche Rolle spielen sollte. Doch bevor die Architektur der Karlsruher Entscheidung näher untersucht wird, sei noch kurz auf einen parallel angelegten Streit verwiesen, der – ohne größere öffentliche Resonanz auszulösen – 1993 vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entschieden wurde. In diesem Fall hatte die Mutter eines grundschulpflichtigen Kindes darauf gedrängt, aus den Unterrichtsräumen ihres Kindes »alle religiösen Symbole, insbesondere Kreuze« zu entfernen.103 Dieser Konflikt ist nicht zuletzt deshalb der bayerischen Auseinandersetzung vergleichbar, weil auch das Land Nordrhein-Westfalen seit 1968 die öffentlichen Grundschulen in der Regel als konfessionsübergreifende christliche ›Gemeinschaftsschulen‹ eingerichtet hat, in denen ausweislich der Landesverfassung die »Kinder auf Grundlage christlicher Bildungs- und Kul102 Ebd. 103 Zum Sachverhalt vgl. OVG Münster 19 B 1933, 19 B 1934/93, Beschluß vom 15. 9. 1993, 597.
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turwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen« werden.104 Wie die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ in Bayern, so wurde auch die nordrhein-westfälische ›Gemeinschaftsschule‹ vom Bundesverfassungsgericht 1975 für verfassungskonform erklärt.105 Die Frage der Zulässigkeit von Schulkreuzen stellte sich also in Nordrhein-Westfalen unter ganz ähnlichen Bedingungen wie in Bayern. Und so argumentierten die Münsteraner Oberverwaltungsrichter in der Sache auch ganz ähnlich wie zwei Jahre zuvor ihre bayerischen Kollegen. Allerdings hoben sie noch deutlicher als jene die Gestaltungsspielräume des Staates hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Prägung der schulischen Erziehung hervor: Der Staat, so begründeten sie ihre Abweisung der Klage, nehme auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 GG »in der Schulerziehung eigenständig und gleichgeordnet neben den Eltern einen eigenen Erziehungsauftrag wahr.«106 Entsprechend sei die nordrhein-westfälische Gemeinschaftsschule »keine wertneutrale Schule […], in der die christlichen Bildungs- und Kulturwerte nur im Sinne eines unverbindlichen Kulturchristentums Platz hätten«.107 Der genuin religiöse Charakter des Kreuzes wurde also in Münster keineswegs bestritten, sondern im Gegenteil offensiv verteidigt. Der Staat fördere damit den »Dialog[] der Bekenntnisse und Weltanschauungen«: »Der Staat ordnet hier nicht an, er regt allenfalls an und gibt ein Angebot«.108 Glaubens- und Gewissensentscheidungen der Schüler würden, »auch unter Berücksichtigung der darin möglicherweise liegenden Förderung eines religiösen Elementes in der Schule«, nicht beeinträchtigt; hingegen würde die »Ausschaltung aller weltanschaulich-religiösen Bezüge […] diejenigen Eltern in ihrer Glaubensfreiheit beeinträchtigen, die eine christliche Erziehung ihrer Kinder wünschen.«109 Der in Münster entschiedene Fall wurde dem Bundesverfassungsgericht nicht 104 Vgl. den durch Gesetz vom 5. 3. 1968 geänderten Art. 12 Abs. 6 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. 6. 1950; nach Änderung im Jahr 2011 jetzt Art. 12 Abs. 3. 105 Vgl. BVerfG 1 BvR 548/68, Beschluß vom 17. 12. 1975 (siehe auch Fn. 66 oben). 106 OVG Münster 19 B 1933, 19 B 1934/93, Beschluß vom 15. 9. 1993, 597. Die Münsteraner Richter konnten sich dabei auf gleich lautende Formulierungen der Karlsruher Richter stützen, die in ihrer Entscheidung zur ›Simultanschule‹ in Baden-Württemberg ausgeführt hatten, dass Art. 6 Abs. 2 GG zwar den Eltern »das Recht zur Erziehung ihrer Kinder in jeder, also auch in weltanschaulich-religiöser Hinsicht« gewähre. Allerdings hatten sie auch festgehalten, dass »diese Vorschrift keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch der Eltern [enthält]. Eigenständig und in seinem Bereich gleichgeordnet neben den Eltern übt der Staat, dem nach Art. 7 Abs. 1 GG die Aufsicht über das gesamte Schulwesen übertragen ist, in der Schulerziehung einen eigenen Erziehungsauftrag aus« (BVerfG 1 BvR 63/68, Beschluß vom 17. 12. 1975, 92). Zu Art. 7 Abs. 1 GG vgl. den Anhang. 107 OVG Münster 19 B 1933, 19 B 1934/93, Beschluß vom 15. 9. 1993, 597. 108 Ebd. 109 Ebd.
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zur Prüfung vorgelegt. Denn in Karlsruhe war bereits seit 1991 eine Verfassungsbeschwerde der Eheleute Seler anhängig. Diese hatten geklagt, die Entscheidungen der bayerischen Verwaltungsgerichte verletzten ihr Grundrecht auf Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und ihr elterliches Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie darüber hinaus ihr Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG).110 In seiner ausführlich begründeten Entscheidung vom Mai 1995 stellte das Bundesverfassungsgericht die Beweggründe der Kläger wie folgt dar :111 Insofern das Kreuz »das markante Symbol und Repräsentationsmerkmal der Religion des Christentums« sei, bekunde der Staat durch die Ausstattung von Schulräumen mit Kreuzen oder Kruzifixen »seine Verbundenheit mit dem christlichen Glauben« und verstoße so gegen das Neutralitätsgebot. Keineswegs sei die Anbringung von Kreuzen in schulischen Räumen, anders als die Regensburger und Münchner Verwaltungsrichter festgestellt hätten, vom allgemeinen Schulorganisationsrecht des Staates nach Art. 7 Abs. 1 GG112 gedeckt. Denn der Staat leiste mit dieser Maßnahme, so die Eheleute Seler, »einer subtilen Prägung der Schüler im Sinne eines christlichen Bekenntnisses Vorschub«, was umso schwerer wiege, als gerade Kinder und Jugendliche leicht zu beeinflussen seien. Aufgrund der eindrücklichen Wirkung, die der Anblick eines Kreuzes bzw. Kruzifixes auf das kindliche Gemüt ihres Erachtens habe, machten sie geltend, die Ablehnung ihres Antrags auf einstweilige Anordnung, die Schulkreuze bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung aus den Unterrichtsräumen ihrer Kinder zu entfernen, verletze auch ihr Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).113 Denn die andauernde Ausstattung der schulischen Räume mit Kreuzen bzw. Kruzifixen stelle eine tagtägliche, gravierende Grundrechtsverletzung dar, weil durch das Kreuzessymbol auf die geistige Entwicklung leicht beeinflussbarer schulpflichtiger Kinder eine tiefgreifende und nachhaltige Wirkung ausgeübt werde.114
110 Vgl. den Wortlaut im Anhang. Außerdem verwiesen sie auf die internationale Rechtslage, namentlich auf Art. 9 Abs. 1 der EMRK sowie auf Art. 2 Satz 2 des Zusatzprotokolls zur Konvention vom 20. 3. 1990 (vgl. den Wortlaut im Anhang). Bezug genommen wird auch, wie bereits in den vorherigen Entscheidungen, auf eine Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts vom 26. 9. 1990, das in einem parallel angelegten Fall in der Schweiz eine Grundrechtsverletzung bejaht hatte; vgl. dazu Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt, 147 f. 111 Die folgenden Zitate sind sämtlich entnommen: BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 12 – 18. 112 Vgl. den Wortlaut im Anhang. 113 Vgl. den Wortlaut im Anhang. 114 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 17.
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Bereits jetzt seien die »eingetretenen Folgen für die Entwicklung der Kinder schwer korrigierbar«.115 Nachdrücklich fochten die Kläger auch die von den Regensburger und Münchner Verwaltungsrichtern vorgenommene Abwägung von positiver Religionsfreiheit (der Mehrheit) und negativer Religionsfreiheit (der Minderheit) zugunsten ersterer an: Indem die bayerischen Verwaltungsgerichte aus Art. 4 GG einen Anspruch der Mehrheit gegen die Minderheit herleiteten, kraft dessen die Minderheit Amtshandlungen und religiöse Attribute in staatlichen Räumen im Sinne der Mehrheit als positive Religionsausübung der Mehrheit tolerieren und achten müsse, verkehrten sie den Schutz des Art. 4 GG in sein Gegenteil.116
Denn die Intention dieses Grundrechts sei es, dem Einzelnen ein Abwehrrecht gegen den Staat zu geben und damit »gerade dem Minderheitenschutz« zu dienen.117 Dieses Argument sollten die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung prominent aufgreifen. Das Bundesverfassungsgericht ließ sich mit seiner Entscheidungsfindung knapp vier Jahre Zeit. Es hörte als Vertreter der beklagten Bayerischen Staatsregierung den Bayerischen Ministerpräsidenten an und holte darüber hinaus Stellungnahmen von Vertretern verschiedener in der Streitsache engagierter Gruppierungen ein. So kamen neben den Kirchen auch die Humanistische Union, der Bund für Geistesfreiheit Augsburg sowie die Freireligiöse Landesgemeinschaft Hessen zu Wort; im Karlsruher Beschluss ausführlicher rekapituliert werden gleichwohl lediglich die Positionen des Ministerpräsidenten sowie diejenigen der Kirchen. Die Argumentation des Ministerpräsidenten folgte der von den bayerischen Gerichten vorgezeichneten Linie: Die strittige Vorschrift zur Anbringung von Schulkreuzen wurde von ihm in den verfassungsrechtlich vermeintlich sicheren Kontext der ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ eingebettet. Die Kreuze, so argumentierte er, dienten der Erziehung im Horizont jener christlich geprägten Werte und Normen, die zum »Gemeingut des abendländischen Kulturkreises« geworden seien.118 Dass sich Schüler durch die Schulkreuze »in ihrer positiven Religionsfreiheit angesprochen fühlen könnten«, bedeute nicht, dass die negative Religionsfreiheit anders glaubender oder denkender Schüler und ihrer Eltern beeinträchtigt sei. Der Ministerpräsident bestritt also keineswegs die oben bereits erörterte Bedeutungsambivalenz des Kreuzes als spezifisch religiöses Bekenntnissymbol einerseits und zugleich unspezifisch ›zivilreligiöses‹ Identi115 116 117 118
Ebd. Ebd., 13. Ebd. Sämtliche Zitate in diesem Absatz zur Position des Ministerpräsidenten ebd., 19.
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Streit um das Kreuz in der Schule
tätszeichen andererseits. Allerdings vertrat er die Auffassung, dass diese Uneindeutigkeit vonseiten der Betrachter nicht als Spannung empfunden werde, da diese abhängig vom jeweils gegebenen Kontext stets nur eine der möglichen Bedeutungen überhaupt aktualisierten. Welche Bedeutung das Kreuz annimmt, hängt demnach, folgt man der vom Ministerpräsidenten vorgetragenen Argumentation, von den äußeren Bedingungen ab: So habe das Kreuz im allgemeinen Unterricht lediglich »allgemeinen Symbolcharakter«; im (freiwilligen) Religionsunterricht oder auch während des (ebenfalls freiwilligen) Schulgebets aber wandle es sich in ein »spezifisches Glaubenssymbol«. Ob das Kreuz oder auch das Kruzifix also als spezifisch religiöses Bekenntnissymbol oder als ›Logo‹ lediglich ›zivilchristlicher‹ bzw. ›zivilreligiöser‹ abendländischer Befindlichkeiten wahrgenommen wird und wirkt, das erschließt sich nach Auffassung der Bayerischen Staatsregierung aus dem sozialen Zusammenhang, in den es eingebettet ist. Doch damit nicht genug: Ganz auf der Linie der Argumentation, mit der bereits die Münchner Verwaltungsrichter ihre Entscheidung in der Angelegenheit begründet hatten, wurde die Bedeutungsambivalenz des Kreuzes auch vom Ministerpräsidenten des beklagten Freistaates einseitig funktional auf die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit bezogen. Das Recht auf negative Religionsfreiheit, so behauptete der Regierungschef, finde seine »Grenze in der positiven Religionsfreiheit Dritter«, in diesem Fall also der christlichen Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern. Um diese Auffassung zu legitimieren, verwies der Ministerpräsident schließlich auch auf die Präambel des Grundgesetzes, in der von der »Verantwortung vor Gott« die Rede sei, wobei die Grundgesetzgeber »einen christlich-abendländischen Gottesbegriff vor Augen gehabt« hätten. Das Schulkreuz, so führte er aus, konkretisiere »gerade diese Verantwortung, die der Grundgesetzgeber seinerzeit selbst empfunden habe«. Auch die Kirchen folgten in ihren Stellungnahmen weitgehend der bekannten Argumentationslinie der Karlsruher Entscheidung zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ aus dem Jahr 1975, deren einschlägige Formulierungen sie in ihren Ausführungen wiederholt aufgriffen.119 Katholischerseits wurde betont, dass sich der »säkulare Staat des Grundgesetzes« zwar »dem Gebot der Nichtidentifikation« mit einem religiösen Bekenntnis unterworfen habe, sich aber durchaus »einer positiven und offenen Neutralität« gegenüber religiösen Wertbindungen befleißige.120 Allerdings sei es trotz dieser grundsätzlichen Of-
119 Für die Deutsche Bischofskonferenz legte das Bonner Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands eine Stellungnahme vor; der Landeskirchenrat der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern brachte ein Gutachten des Göttinger Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland bei. 120 Die Position der Katholischen Kirche wird referiert in: BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß
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fenheit für die religiösen Lebensentwürfe der Bürger, denen der ›positiv neutrale‹ Staat weitreichende Entfaltungsmöglichkeiten eröffne, »faktisch unmöglich, allen religiös-weltanschaulichen Vorstellungen und Erziehungswünschen in der Schule Rechnung zu tragen«.121 Nachdrücklich wurde des Weiteren der Vorrang der positiven Religionsfreiheit vor der negativen hervorgehoben und geltend gemacht, der Erziehungsauftrag der Schule erstrecke sich auch auf die »Vermittlung immaterieller Werte«, die durchaus »in appellativer Form und durch Rückgriff auf historisch greifbare und geläufige Symbole und Ausdruckformen« wie das Kreuz vermittelt werden dürften. In interkonfessioneller Eintracht mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurde das Kreuz in schon bekannter Weise als »Symbol des konfessionsübergreifenden christlichen Glaubens« oder als »Symbol für die gemeinsamen Grundsätze der christlichen Bekenntnisse« vorgestellt.122 Die zwanzig Jahre zuvor in Karlsruhe getroffene Entscheidung zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ bildete schließlich auch den Horizont, in dem die Bundesverfassungsrichter selbst 1995 ihre verfassungsrechtliche Abwägung im ›Kruzifixstreit‹ ansiedelten. Nun zeigte sich allerdings im Votum der Richtermehrheit des Jahres 1995 gerade, dass die 1975 getroffene Unterscheidung zwischen einem Christentum, das glaubend bekannt wird, und einem Christentum, dass als ›Kultur- und Bildungsfaktor‹ in seiner Prägekraft für die europäische Geschichte allgemein anerkannt wird, in konkreten Konflikten wie dem Streit um die Schulkreuze kaum substantielle Entscheidungshilfen zu geben vermag. So wurde vielfach der Vorwurf geäußert, dass die Entscheidung der Mehrheit des Ersten Senats im Konflikt um das Schulkreuz von der Linie der Entscheidungen im Konflikt um die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ abweiche. Prominent vertreten wurde diese Kritik insbesondere von den in der Abstimmung unterlegenen Richtern des Ersten Senats. In ihrem gemeinsamen Minderheitenvotum, das die drei in der Abstimmung unterlegenen Richter dem Mehrheitsbeschluss beifügten,123 heißt es im Anschluss an die Entscheidung zur vom 16. 5. 1995, 20. Die Position der Evangelischen Kirchen wird referiert ebd., 21. Sämtliche Zitate dieses Absatzes sind diesen Textpassagen entnommen. 121 Ebd. 122 Hinsichtlich der Gewichtung von positiver und negativer Religionsfreiheit formulierte die evangelische Seite allerdings deutlich zurückhaltender als die katholische: Statt offensiv von einem Vorrang der positiven Religionsfreiheit zu sprechen, wurde ausdrücklich klargestellt, dass »die negative Religionsfreiheit […] keinen Vorrang vor der positiven Seite dieses Grundrechts« besitze (ebd., 21). 123 Vgl. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, 59 – 91, hier 72 – 79; eine konsistente Fortentwicklung der Rechtsprechung sieht hingegen Walter, Acceptance (mit vielen weiteren Nachweisen). Neben der gemeinsamen Abweichenden Meinung hat die Richterin Evelyn Haas dem Beschluss eine weitere Abweichende Meinung beigefügt, die jedoch – insofern sie sich im Wesentlichen auf Verfahrensfragen bezieht – hier unberücksichtigt bleiben kann;
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Streit um das Kreuz in der Schule
›Christlichen Gemeinschaftsschule‹, die Vorschrift zur Anbringung von Schulkreuzen sei Teil der organisatorischen Ausgestaltung der christlichen Gemeinschaftsschule. Durch das Kreuz im Klassenzimmer werden die in dieser Schulform zu vermittelnden überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen den Lehrern und Schülern sinnbildlich vor Augen geführt.124
Das Kreuz, so heißt es weiter, ist als ein den christlichen Konfessionen gemeinsames Symbol in besonderer Weise geeignet, als Sinnbild für die verfassungsrechtlich zulässigen Bildungsinhalte dieser Schulform zu dienen.125
Hinsichtlich des Ausgleichs zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit erklärten die abweichenden Richter, die negative Religionsfreiheit sei kein Obergrundrecht, das die positiven Äußerungen der Religionsfreiheit im Falle des Zusammentreffens verdrängt. Das Recht der Religionsfreiheit ist kein Recht zur Verhinderung von Religion.126
Schließlich äußerten sich die ›Abweichler‹ im Ersten Senat auch zur Frage der Bedeutung der Kreuzes. Dabei schlossen sie an die oben diskutierte Argumentation des Regensburger Verwaltungsgerichts an, nach der das Kreuz auf christliche Schülerinnen und Schüler anders wirke als auf nicht-christliche. Der Bedeutungsgehalt des Kreuzes, so die Senatsminderheit, werde also von den verschiedenen Schülergruppen unterschiedlich erschlossen. Man könne folglich nicht, so stellten sie fest, generell die christlich-theologische Auffassung von Bedeutung und Sinngehalt des Kreuzessymbols zugrunde legen. Entscheidend ist vielmehr, welche Wirkung der Anblick des Kreuzes bei den einzelnen Schülern entfaltet […]. Es mag sein, daß in einem Schüler christlichen Glaubens beim Anblick des Kreuzes im Klassenzimmer teilweise diejenigen Vorstellungen geweckt werden, die von der Senatsmehrheit als Sinngehalt des Kreuzes […] geschildert werden.127 Für den nichtgläubigen Schüler
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126 127
vgl. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, Abweichende Meinung der Richterin Haas, 92 – 98. Vgl. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, 75. Ebd., 79. Die dissentierenden Richter betonten außerdem, das Schulrecht werde nach dem Grundgesetz ausschließlich dem Hoheitsbereich der Länder zugewiesen, so dass die verfassungsrechtliche Burteilung des Konflikts um das Schulkreuz von den Gegebenheiten im Freistaat Bayern auszugehen habe und nicht von den religionskulturellen Verhältnissen in anderen Ländern der Bundesrepublik; vgl. ebd., 62. Ebd., 85. Nach Auffassung der Senatsmehrheit symbolisiert das Kreuz »die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod« (BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 44).
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hingegen kann das nicht angenommen werden. Aus seiner Sicht kann das Kreuz im Klassenzimmer nicht die Bedeutung eines Symbols für christliche Glaubensinhalte haben, sondern nur eines Sinnbilds für die Zielsetzung der christlichen Gemeinschaftsschule.128
Die Mehrheit des Ersten Senats hatte hingegen eine andere Argumentationslinie entwickelt, die in der knappen Entscheidung schließlich tragend wurde. Fundamentaler Dissens zwischen der Senatsmehrheit aus fünf Richtern und der Koalition aus bayerischen Verwaltungsgerichten, bayerischer Staatsregierung, Kirchen und den drei Karlsruher Richtern mit abweichender Meinung bestand vor allem in der Frage der Bedeutung des Kreuzes. In der Sache konsistent mit der Entscheidung zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ aus dem Jahr 1975 (in der, wie bereits ausgeführt, unterschieden wird zwischen einem Christentum, das im Sinne verbindlicher »Glaubenswahrheiten« zu einem Bekenntnis für oder wider auffordert, und einem Christentum, das lediglich als historisch-kulturell prägende Kraft Anerkennung verlangt) ging die Richtermehrheit im Ersten Senat von einer grundsätzlichen Bedeutungsambivalenz des Kreuzes aus: Dieses sei sowohl das »Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung« als auch »Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur«.129 Die Spannung, die aus dieser Doppelcodierung des Kreuzes erwächst, lösten sie jedoch – anders als die Münchner Verwaltungsrichter oder auch der bayerische Ministerpräsident und anders auch als die Minderheit des Ersten Senats, die alle die Ambivalenz des Kreuzes ja nicht grundsätzlich bestritten hatten – nicht vorschnell auf. Jene hatten die Uneindeutigkeit umgehend wieder in Eindeutigkeit zu transformieren versucht, indem sie darauf verwiesen, dass abhängig vom Kontext bzw. abhängig von der religionskulturellen Vorprägung der Betrachter stets nur eine der möglichen Bedeutungen jeweils aktualisiert werde. Dem folgte die Mehrheit des Ersten Senats nicht.130 Die fünf Richter stellten vielmehr fest, dass das Kreuz zwar auch »Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur« sei, seinen spezifisch christlichen Sinngehalt aber auch dann nicht abstreife, wenn es in einem religiös unspezifischen Handlungszusammenhang stehe (etwa im allgemeinen Fachunterricht). Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Kreuz in den Augen nichtchristlicher Schüler seinen eigentlich christlichen Sinngehalt erst gar nicht entfalte. »Das Kreuz«, so erklärten sie dezidiert, »gehört nach wie vor zu den
128 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, 87. 129 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 42. 130 Vgl. ebd., 45 – 47.
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spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin.«131 Was dieser fundamentalen Aussage des Karlsruher Beschlusses folgt, ist ein Ausflug in die christliche Theologie, wie man ihn eher von den Vertretern der Kirchen erwartet hätte, die ihrerseits in ihren Stellungnahmen jedoch eher den ›zivilreligiösen‹ Symbolcharakter des Kreuzes betont hatten. Autorisiert wurde die knappe theologische Abhandlung durch Verweise auf die Einträge zum Stichwort ›Kreuz‹ im katholischen Lexikon für Theologie und Kirche sowie im Evangelischen Kirchenlexikon:132 Danach versinnbildlicht das Kreuz die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem. Für den gläubigen Christen ist es deshalb in vielfacher Weise Gegenstand der Verehrung und der Frömmigkeitsübung. […] Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz gerade wegen der Bedeutung, die ihm das Christentum beilegt […], zum sinnbildlichen Ausdruck bestimmter Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung.133
Die Senatsmehrheit schwang sich sodann entschieden zur Verteidigung der christlichen bzw. kirchlichen Deutungshoheit über das Kreuz auf, einer Deutungshoheit, die von den Kirchenvertretern überraschenderweise gar nicht beansprucht worden war : Es wäre eine dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es, wie in den angegriffenen Entscheidungen, als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition […] ansehen wollte.134
Dies hatten, wie die vorangehende Rekonstruktion der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen aus Regensburg und München gezeigt hat, die zuständigen bayerischen Richter freilich auch so nicht behauptet. Vielmehr hatten sie die Doppeldeutigkeit des Kreuzes durchaus erkannt, die daraus resultierende Spannung aber unter Verweis auf die kontext- bzw. betrachterabhängige Wirkung des Kreuzes sogleich wieder aufgelöst. Demgegenüber betonten die fünf meinungsführenden Richter des Ersten Senats, das Kreuz habe adressatenunabhängig »appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus«.135 Dies sei zwar, wie sie 131 Ebd., 44. 132 Vgl. Dinkler-von Schubert, Art. Kreuz (im Evangelischen Kirchenlexikon) sowie Hasenfuss u. a., Art. Kreuz (im Lexikon für Theologie und Kirche). Vgl. zum Kreuz als »Erinnerungsort des Christentums«: Markschies, Kreuz. 133 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 44. 134 Ebd. 135 Ebd., 46. Gegen diese Deutung erhob sich in der Kontroverse heftiger Widerstand; so
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weiter ausführten, grundsätzlich auch bei anderen Kreuzesdarstellungen der Fall, wie sie im Alltag begegneten (etwa Weg- und Gipfelkreuzen); doch sei diese Art der Konfrontation mit einem Glaubenssymbol eher flüchtig und, so die Richter, »selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang«.136 Kreuze in Unterrichtsräumen hingegen führten, so heißt es, dazu, daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, ›unter dem Kreuz‹ zu lernen.137
Für die Senatsmehrheit stellte sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Schulkreuzes hier also als Frage nach der Kompetenz (bzw. den Grenzen der Kompetenz) des zu Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten verpflichteten Staates. Nun plädierten die fünf Richter keineswegs für eine grundsätzliche Ausgrenzung religiöser und weltanschaulicher Bezüge aus dem schulischen Raum. Vielmehr betonten auch sie, dass der Staat den weltanschaulich-religiösen Bindungen seiner Bürgerinnen und Bürger offen gegenüber stehe und verpflichtet sei, »ihnen einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann«.138 Auch im Schulwesen, das nach Art. 7 Abs. 1 GG »unter der Aufsicht des Staates« steht, müsse der Staat danach auf religiös-weltanschauliche Belange keineswegs verzichten: Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein. Dies gilt in besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden.139
In diesem Punkt also gibt es zunächst keinen grundlegenden Dissens zwischen der Mehrheit der Karlsruher Verfassungsrichter und den bayerischen Verwaltungsrichtern. Allerdings zogen die Bundesverfassungsrichter die Grenzen der Bezugnahme auf das christliche Erbe deutlich enger als ihre Kollegen aus Bay-
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wehrte sich Hans Maier gegen die damit seines Erachtens insinuierte Auffassung, dass Kreuz sei ein gleichsam »magisch zwingendes Symbol« (FAZ, 20. 9. 1995). BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 39. Ebd. Ebd., 35. Ebd., 52.
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Streit um das Kreuz in der Schule
ern: Ganz auf der Linie der Entscheidung zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ argumentierten sie, dass sich die positive Bezugnahme auf das Christentum ausschließlich »auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht auf bestimmte Glaubenswahrheiten« beziehen dürfe.140 Das hatten auch die bayerischen Verwaltungsgerichte nicht grundsätzlich anders gesehen, doch während die Regensburger und Münchner Richter diese Bedingung bereits für erfüllt hielten, wenn nicht konfessionsspezifische Glaubenswahrheiten, sondern interkonfessionell geteilte Grundüberzeugungen vermittelt werden, wenn also der Staat gleichen Abstand zu allen christlichen Konfessionen hält, sahen die Karlsruher Richter hierin eine unzulässige substantielle Engführung auf das Christentum. Der ›Kruzifixbeschluss‹ markiert in dieser Hinsicht eine dezidierte Abkehr vom Gedanken konfessioneller Parität in den Grenzen des Christentums zugunsten einer konsequenten Orientierung am Prinzip der Gleichheit sämtlicher Religionen und Weltanschauungen: »Der Staat«, so ist in der Begründung des Beschlusses nachzulesen, »hat […] auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten«.141 Damit war der Weg zur Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts in der strittigen Frage der staatlich angeordneten Anbringung von Schulkreuzen gewiesen. In der Begründung heißt es entsprechend: Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die […] Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Wie bereits festgestellt, kann das Kreuz nicht seines spezifischen Bezugs auf die Glaubensinhalte des Christentums entkleidet und auf ein allgemeines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden. Es symbolisiert den wesentlichen Kern der christlichen Glaubensüberzeugung, die zwar insbesondere die westliche Welt in vielfacher Weise geformt hat, aber keineswegs von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt, sondern von vielen in Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG abgelehnt wird.142
Ist das Kreuz aber (und zwar nicht nur im Religions-, sondern auch im allgemeinen Fachunterricht und auch gegenüber nichtchristlichen Betrachtern) immer zumindest auch ein spezifisch religiöses Bekenntniszeichen, so ist seine Anbringung bzw. die staatliche Anordnung seiner Anbringung mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar. Sie kann auch, wie die Karlsruher Mehrheitsfraktion hervorhob, nicht mit der positiven Religionsfreiheit christlicher Schüler und Eltern gerechtfertigt werden, wie es die bayerischen Verwaltungsrichter und mit ihnen die Vertreter der Kirchen, der bayerischen Staatsregierung und der weit überwiegende Teil der öffentlichen Meinungsführer behauptet hatten. Denn der 140 Ebd., 55. 141 Ebd., 35. 142 Ebd., 56.
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Konflikt zwischen der positiven und der negativen Seite des religiösen Freiheitsrechts lasse sich, so stellten die fünf Richter ausdrücklich klar, »nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen«.143 Vielmehr bezwecke »das Grundrecht der Glaubensfreiheit«, so heißt es in der Schlusspassage ihres Beschlusses, »in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten.«144 Die Senatsmehrheit folgte damit dem Weg, das Grundrecht auf Religionsfreiheit konsequent im Sinne des Gleichheitsprinzips auszugestalten, das heißt »auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten«.145 Sie verlässt damit die herkömmliche staatskirchenrechtliche Auslegung der Religionsfreiheit und lässt sich auf eine religionsverfassungsrechtliche Ausgestaltung der grundrechtlichen Ordnung ein.146 Die in § 13 Abs. 1 Satz 3 der Bayerischen Volksschulordnung vorgeschriebene Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern erklärten die fünf Richter deshalb für verfassungswidrig und entsprechend für nichtig; die von den Klägern angegriffenen Entscheidungen aus Regensburg und München wurden folglich aufgehoben. Als der im Mai gefasste Beschluss drei Monate später durch eine schlichte Pressemitteilung der Öffentlichkeit bekannt wurde, löste das, wie oben nachgezeichnet, einen religionspolitischen Tumult aus. Von der Woge der Ablehnung der Karlsruher Mehrheitsentscheidung getragen, verabschiedete das Landesparlament des Freistaats Bayern noch im Dezember des Jahres 1995 eine Neuregelung der strittigen Vorschrift, die zwar weiterhin vorsieht, Schulkreuze anzubringen, jedoch auch eine Widerspruchsregelung enthält, die Ausnahmen von dieser Vorschrift möglich macht.147 Dass die Frage, was das Kreuz wem bedeutet, die bayerische Staatsregierung auch bei der Formulierung der Gesetzesnovelle noch beschäftigte, geht aus der Begründung hervor, die dem Gesetzentwurf beigefügt wurde. Dort wurde zunächst unumwunden festgestellt, das Kreuz sei »für Gläubige und Ungläubige, wenn auch mit unterschiedlicher Bedeutung, ein Symbol des Christentums.«148 Doch damit nicht genug. Folgt man der Begründungslinie der Staatsregierung, so erschöpft sich die symbolische Macht des Kreuzes nicht im Christlichen: Das Kreuz, so heißt es, ist mehr als das. Es ist ganz unabhängig von seiner christlichen Symbolkraft ein Sinnbild der Religion als wesensbestimmender Teil der menschlichen Existenz. Es 143 144 145 146
Ebd., 57. Ebd. Ebd., 35. Vgl. zum Religionsverfassungsrecht als Alternative zum Staatskirchenrecht oben Kapitel 3.1. 147 Siehe dazu Fn. 31 und Fn. 32 oben. 148 Zitiert nach Streithofen, Kruzifixurteil, 299; dort ist der Gesetzentwurf mitsamt der ausführlichen Begründung als Faksimile vollständig wiederabgedruckt (288 – 302).
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Streit um das Kreuz in der Schule
weist hin auf eine außerweltliche Sinngebung des Lebens und Bindung des Menschen. Es ist, wie kein anderes Zeichen, Symbol des Wissens um die menschliche Unvollkommenheit und wird deshalb zu Recht als eigentliche Quelle von Freiheit und Toleranz verstanden. In dieser Hinsicht überschreitet das Kreuz seine christliche Herkunft und Bedeutung und wird zum Symbol von Religion.149
Das Kreuz nicht oder doch jedenfalls nicht allein als christliches »Glaubenssymbol schlechthin«, wie es im Mehrheitsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts hieß,150 sondern als »Symbol von Religion« als der Wesensbestimmung des Menschen schlechthin – mit diesen weit- und voraussetzungsreichen Annahmen wurde die neue Schulkreuzregelung im bayerischen Schulgesetz gerechtfertigt. Eine nennenswerte neue öffentliche Kontroverse löste dies nicht aus. Und auch gerichtlichen Prüfungen hielt die Neuregelung bisher stand.151
4.3
Auflösung des Religiösen? Das Bundesverfassungsgericht als Wächter an den Grenzen des religiösen Feldes
»Es gab in diesem Streit nur zwei Gruppen, die das christliche Kreuz wirklich ernst nahmen – die Kläger und die Mehrheit der Richter«,152 so schrieb Robert Leicht nur eine Woche nach der Veröffentlichung des Kruzifix-Beschlusses in der Wochenzeitung Die Zeit. Leicht gehörte zu den wenigen, die sich dem Strudel der allgemeinen Empörung, der mit der Veröffentlichung des Beschlusses losbrach, entzogen und die Mehrheitsentscheidung des Ersten Senats entschieden verteidigten. In den fünf Richtern, die den Kruzifix-Beschluss zu verantworten hatten, sah er verdienstvolle Verteidiger der christlichen Sache »in einer glaubensarmen Zeit«. Sie, und zwar, so Leicht: sie allein, hätten gegen eine geschlossene Phalanx aus kirchlichen Amtsträgern, bayerischen Verwaltungsrichtern und öffentlichen Meinungsführern die genuin christliche Bedeutung des Kreuzes in Erinnerung gerufen und so das Kreuz in Schutz genommen gegen seine Vereinnahmung als »Maskottchen einer gottlosen Gesellschaft, die gleichwohl auf Sitte und Anstand Wert legt«. Entsprechend erleichtert stellte er fest: »Es gibt, Gott sei Dank, noch Richter in Karlsruhe. Aber«, so fragte er, »gibt es eigentlich noch Theologen in Deutschland?« Müssten nicht die Kirchen »die ersten sein, die gegen eine solche Enteignung ihres Eigentlichen Sturm laufen
149 150 151 152
Ebd. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 44 (siehe auch Fn. 131 oben). Vgl. Fn. 33 bis Fn. 37 oben. Die Zeit, 18. 8. 1995.
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Auflösung des Religiösen?
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und darauf bestehen, daß ihr prägnantestes Symbol tatsächlich nichts anderes ist und verlangt, als ein klares Bekenntnis«?153 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigte sich der Feuilletonredakteur Konrad Adam drei Wochen später ähnlich verwundert: Die Kirchen, so meinte er, hätten die Chance verpasst, die Bedeutung ihres zentralen Symbols öffentlich klarzumachen. Sie ließen den Augenblick, der ihrer Sache so günstig war, verstreichen. Keine andere höchstrichterliche Entscheidung ist in letzter Zeit mit so viel Leidenschaft erörtert worden wie das Urteil über die Zulässigkeit von Kruzifixen in öffentlichen Schulen. […] Ein paar Tage lang hatte es den Anschein, als seien die Deutschen ein Volk, das sein Christentum ernst nahm. Nur die Kirchen selbst, die eigentlichen Anwälte dessen, was da verhandelt wurde, schienen für das doppelte Wunder, das sich ereignet hatte, keinen Sinn mehr zu besitzen. Sie gaben sich mit einigen historischen Reminiszenzen zufrieden […]. Niemals früher gab es in den letzten Jahren eine ähnliche Gelegenheit, die Inhalte des Christentums öffentlichkeitswirksam zu erklären und über das zu reden, was die Kirche allen Sozialstationen, Verbänden und Parteien voraushat, einen Glauben nämlich, der auch und vor allem die Schattenseiten des Daseins ernst nimmt […]. Ein Kirchenfürst versicherte gutherzig, das Kreuz sei doch kein Ärgernis154 […]. Kein Zwiespalt, kein Widerspruch, kein Ärgernis und keine Qual: Die Kirche von heute will zeitgemäß sein […]. Es war das Bundesverfassungsgericht, das sich mit diesem Residuum nicht zufrieden geben wollte. Und es sind die Kirchen, welche die Unentschiedenheit als erste Tugend predigen.155
Mut zur Entschiedenheit hatten die Kirchen und ihre Vertreter in ihren Stellungnahmen vor Gericht, die oben knapp rekapituliert wurden, in der Tat ebenso vermissen lassen wie in der öffentlichen Kontroverse, die der Karlsruher Beschluss in Gang setzte. Zwar zog Walter Kasper, damals Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Anfang September 1995 im Rheinischen Merkur die Konsequenz, es werde »nicht reichen zu kritisieren und zu lamentieren. Wir müssen aufwachen und aufstehen und unsere christliche Verantwortung öffentlich wahrnehmen.« Doch blieb er die Erläuterung schuldig, was denn das Spezifische, das ganz Eigene dieser »christlichen Verantwortung« sei. Folgt man seinen Ausführungen, so ist diese kaum von einer allgemeinen sozialen und politischen Gemeinwohlorientierung zu unterscheiden, denn, so fügte er hinzu, es gehe nicht nur um
153 Sämtliche Zitate Leichts in diesem Absatz finden sich ebd. 154 In Anlehnung an den Ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther, in dem es heißt, der Gekreuzigte sei »für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit« (1 Kor 1,23). 155 FAZ, 8. 9. 1995.
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Streit um das Kreuz in der Schule
unsere christliche Überzeugung. Es geht um die freiheitliche Ordnung des Staates und der Gesellschaft für alle; es geht um die Grundlagen und um die Zukunft unserer europäischen Kultur und unseres Gemeinwesens.156
Das Kreuz als ›Logo‹ für die sozialmoralische und religionskulturelle Integration der freiheitlich verfassten europäischen Gesellschaft: Das war die Botschaft der Kirchen im ›Kruzifixstreit‹. Die von Robert Leicht indigniert aufgeworfene Frage, ob es eigentlich noch Theologen in Deutschland gebe, scheint vor dem Hintergrund einer Stellungnahme wie derjenigen Walter Kaspers, die den Tenor beider Großkirchen im Streit um das Schulkreuz durchaus repräsentiert,157 nur allzu berechtigt. Nun verhallte der Ruf nach den Theologen im Land aber schließlich doch nicht ganz ohne Echo: Mitte September 1995 meldete sich Eberhard Jüngel, Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort und ließ die »Wortblase«158 vom Kreuz als Symbol des christlichen ›Abendlandes‹ platzen: Man soll, bitte, die Kirche im Dorfe lassen. Daß diese Bitte zur Zeit ausgerechnet an die Adresse der Kirche selber zu richten Anlaß besteht, ist zwar einigermaßen paradox, aber leider wahr. Denn es ist nicht das Bundesverfassungsgericht, das […] die Kirche aus dem Dorf zu treiben begonnen hat. […] Ganz im Gegenteil, die Feststellung des Gerichts, das Kreuz gehöre ›zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums‹, es sei ›geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin‹ […] – das sind Aussagen, die man eigentlich aus dem Mund von Bischöfen und Kirchenpräsidenten erwartet hätte. […] Das Bundesverfassungsgericht hat die Kirche im Dorf gelassen. Aber die Kirche… […]. Kann die Kirche nur dann im Dorfe bleiben, wenn sie sich so tarnt, daß sie als Kirche unsichtbar wird, dann hat sie im Dorfe nichts mehr verloren.159
Mit ähnlicher Stoßrichtung meldete sich zwei Monate später in der Süddeutschen Zeitung ein Kreis namhafter katholischer Pastoraltheologen zu Wort.160 Wie Eberhard Jüngel, so warnten auch Ottmar Fuchs, Norbert Greinacher, Leo Karrer, Norbert Mette und Hermann Steinkamp vor der Enteignung des genuin Sämtliche Zitate des Absatzes in: Rheinischer Merkur, 1. 9. 1995. Vgl. oben Kapitel 4.1. So wiederum Leicht in: Die Zeit, 18. 8. 1995. FAZ, 14. 9. 1995. Jüngel bewahrte anders als Leicht gleichwohl deutlich kritische Distanz zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, da seines Erachtens die Senatsmehrheit die Mehrdeutigkeit des Kreuzes negierte. Jüngel selbst würde »in dieser Streitsache natürlich gern ›sowohl-als auch‹ sagen: das Kreuz sowohl als Summe des Evangeliums als auch als Inbegriff abendländischer Kultur. […] Wenn jedoch verfassungsrechtlich hier nur ein ›Entweder-Oder‹ möglich ist, dann sollte für die Kirche eigentlich klar sein, auf welcher Seite der Alternative sie ihren Ort hat.« 160 Ottmar Fuchs, Norbert Greinacher, Leo Karrer, Norbert Mette und Hermann Steinkamp in der SZ vom 22. 11. 1995; vgl. zu deren Stellungnahme auch bereits oben Fn. 49.
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Auflösung des Religiösen?
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christlichen Bedeutungsgehalts des Kreuzes durch eine allgemeine Abendlandrhetorik, der sich die Kirchen in angstvoller Sorge vor einem Verlust gesellschaftlicher Einflussmöglichkeiten »aus Naivität oder Berechnung« andienten: Wo man meint, das Kreuz von d[]er unzweideutigen Praxis Jesu ablösen zu können, und es zu einem allgemeinen, also nicht mehr konkreter bestimmten Symbol – sei es auch von Menschlichkeit, Versöhnung und Toleranz und anderem mehr – erklärt, wird es seines spezifischen christlichen Sinngehaltes beraubt.161
Doch es gab auch andere Stimmen von katholischer Seite. So replizierte nur wenige Tage nach Jüngels ›Weckruf‹ der einstige bayerische Kultusminister Hans Maier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ungern, so Maier, sehe er »einen so scharfsinnigen Kopf wie Eberhard Jüngel« der Logik des Bundesverfassungsgerichts folgen, die in Richtung eines laizistischen Staates weise und sich »fundamentalistischer« Argumentationsfiguren bediene. Den Karlsruher Richtern wirft Maier theologische Anmaßung vor: Das Kreuz als Glaubenssymbol wird in solche Höhen des Absoluten, Unvergleichbaren, Ganz-Anderen gehoben, daß die Folgerung naheliegt: zu heilig – daher weg! […] Nie wurde das in den Schulen sichtbare Kreuz mit frömmeren Worten weggeredet.162
In der Tat: Dass es im Streit um das Schulkreuz das Bundesverfassungsgericht war, das weit abseits des Mainstreams und im offenen Widerstreit mit den Kirchen den christlichen Kern des Kreuzzeichens als unveräußerlich bestätigte, das ist das eigentliche Kuriosum dieses Konflikts. Ob die Kritik an der Argumentationsführung des Mehrheitsvotums in der Streitsache Schulkreuz im Detail juristisch berechtigt ist oder nicht – festzuhalten bleibt: Das Bundesverfassungsgericht (bzw. die Mehrheit der Richterinnen und Richter des Ersten Senats) versuchte in diesem Grundsatzstreit, mit welchem Erfolg auch immer, der Auflösung des Religiösen (im Sinne eines verbindlichen Bekenntnisses) in eine diffuse kulturchristliche ›Zivilreligiosität‹ entgegenzuwirken. Damit schlüpfte es in die Rolle des Wächters an den Grenzen des religiösen Feldes. Dieses Wächteramt übte es weitgehend einsam aus. Die Kirchen hatten bereits im Vorfeld der Karlsruher Entscheidung Position auf der Gegenseite bezogen und behielten diese auch in der lautstarken Kontroverse, die der Bekanntgabe der Entscheidung folgte, weitgehend bei. Mit ihrer Deutung des Kreuzes bzw. Kruzifixes als eines Kürzels für die allgemein zustimmungsfähigen ›Werte‹ abendländischer Kultur redeten sie der Auflösung der Grenzen zwischen einer spezifisch christlichen Glaubens- und Bekenntniskultur auf der einen Seite und einer auf breiten Konsens ausgerichteten zivilreligiösen Wertewelt das Wort 161 SZ, 22. 11. 1995. 162 FAZ, 20. 9. 1995.
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Streit um das Kreuz in der Schule
und überließen es den Karlsruher Richtern, den christlichen Kern der Kreuzestheologie kenntlich zu machen. Bereitwillig boten sich die Kirchen, wie Robert Leicht in dem erwähnten Beitrag in der Zeit beklagte, als »Lückenbüßer eines angeblich grassierenden Werteverlustes oder einer fahrigen Orientierungslosigkeit« an, um ein gesellschaftlich verbreitetes unbestimmtes metaphysisches Bedürfnis ebenso unbestimmt [zu] bedienen. […] Das Kruzifix als deus ex machina des ›kulturellen Wertgefüges‹ – das ist der eigentliche Skandal. Die Theologen sollten den Richtern dankbar sein, die hier aus staatlichem Recht Grenzen gezogen haben.163
Die Grenzen des religiösen Feldes wurden im Konflikt um das Kreuz also letztlich von den Karlsruher Richtern gezogen. Die Verfassungsrichter haben sich dabei auf Argumente gestützt, die im religiösen Feld hervorgebracht, im Streitverlauf aber von den entsprechenden religiösen Autoritäten gerade nicht in Anschlag gebracht wurden: Ihre Deutung des Kreuzes als Sinnbild für die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem,164
kann sich zwar auf die entsprechenden Einträge in einschlägigen evangelischund katholisch-theologischen Lexika berufen. Sie steht aber im Widerspruch zu den Deutungsangeboten, die von den Repräsentanten der beiden christlichen Großkirchen im Laufe der Kontroverse um das Schulkreuz öffentlich unterbreitet wurden. Deren Strategie, das Kreuz bzw. Kruzifix als Zentralsymbol des Christentums zu verabschieden oder doch zumindest kleinzureden, um das Schulkreuz als religiös unspezifischen Identitätsmarker des ›Abendlandes‹, dessen Werte es in der Schule zu vermitteln gälte, zu retten, diskreditierte die Senatsmehrheit als »eine dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes«.165 Die Formulierung verdient Aufmerksamkeit, nimmt sie doch Bezug auf das Selbstverständnis der religiösen Akteure, ein Kriterium, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen festen Platz hat.166 Nun hatten ja autorisierte Repräsentanten der christlichen Kirchen in ihren Stellungnahmen zur Streitsache das kirchliche ›Selbstverständnis‹ des Kreuzes vor dem Bundesverfassungsgericht durchaus zur Anhörung gebracht. Die Mehrheit des Ersten Senats zog aber gerade dieses Selbstverständnis des Kreuzes mit Bezug 163 164 165 166
Die Zeit, 18. 8. 1995. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 44. Ebd. Und zwar seit dem Beschluss in der ›Aktion Rumpelkammer‹ aus dem Jahr 1968 (vgl. BVerfG 1 BvR 241/66, Beschluss vom 16. 10. 1968); siehe dazu die Erläuterungen in der Einleitung zu dieser Arbeit (Fn. 61 und Fn. 62).
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Auflösung des Religiösen?
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auf andere, kirchlich-theologisch nicht minder autorisierte Quellen in Frage. Mit anderen Worten: Das im konkreten Streitfall von den Kirchen vorgetragene christliche ›Selbstverständnis‹ des Kreuzes bestand die verfassungsgerichtliche Plausibilitätsprüfung nicht; es wurde von den Richtern im Namen eines alternativen Selbstverständnisses des Christentums verworfen. Damit bezogen die Karlsruher Richter Position in einem im religiösen Feld selbst schwelenden Deutungskonflikt. Indem sie sich weigerten, den spezifisch christlichen Sinngehalt des Kreuzes im allgemeinen abendländischen Wertehorizont aufgehen zu lassen, wurden sie zu Akteuren an den Grenzen des religiösen Feldes wie auch in diesem Feld selbst. Sie entschieden: Das Kreuz ist das »Herz des Christentums« und nicht (oder doch zumindest nicht in erster Linie) das, »was heute die Kulturländer Europas und des Abendlandes einigt«.167
167 Vgl. Fn. 45 und Fn. 47 oben mit den entsprechenden Nachweisen der beiden Zitate.
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5.
»Der Kopf zählt, nicht das Tuch«? Der Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
5.1
Ein Grundsatzstreit mit einem Haupt- und vielen Nebenschauplätzen: Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
»Für mich ist nicht die Kopfbedeckung entscheidend, sondern das, was unter dem Kopftuch gedacht wird.«1 Mit diesen ¢ später geflügelten ¢ Worten bezog der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel 1997 Position, als in seinem Bundesland anlässlich eines konkreten Streitfalls die Frage zur Entscheidung stand, ob eine Lehrerin islamischen Glaubens mit einer Kopfbedeckung an einer öffentlichen Schule des Landes unterrichten dürfe. Der Streit, der in der kleinen Gemeinde Plüderhausen im Remstal zum Ausbruch gelangt war, hatte zu diesem Zeitpunkt die breite Öffentlichkeit noch nicht erreicht. Teufels Worte stehen gleichsam auf der Schwelle der Verlagerung des Konflikts von der lokalen in die bundesweite Arena: auf der Schwelle zum ›Kopftuchstreit‹. Der öffentliche Streit um die Kopfbedeckung nahm Fahrt auf, als die Plüderhausener Lehrerin Fereshta Ludin ihr Anliegen, im Unterricht ihren Kopf zu bedecken, 1998 vor Gericht brachte;2 seinen Zenit erreichte er im zeitlichen Umfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Angelegenheit im September 2003.3 Einen Schlusspunkt markierte die Karlsruher Ent1 Vgl. Focus 32/1997. Analog betitelt Die Zeit im Juli 1998 einen Beitrag, dem auch die Überschrift dieses Kapitels entlehnt ist: »Der Kopf zählt, nicht das Tuch« (Die Zeit, 16. 7. 1998). 2 Inhaltlich und finanziell unterstützt wurde Fereshta Ludin in ihrem Rechtsstreit von zwei islamischen Dachverbänden, dem Zentralrat der Muslime in Deutschland und dem Islamrat, sowie von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di; siehe dazu Heinig, The Headscarf, 184; ferner die Presseberichte in: taz, 4. 7. 2002; Berliner Zeitung, 5. 7. 2002; Focus 14/2004. Insbesondere die Unterstützung durch den Islamrat, der wegen der Mitgliedschaft in der vom Verfassungsschutz beobachteten Organisation Mill Görüs¸ einen zweifelhaften öffentlichen Ruf genießt, wurde teilweise scharf kritisiert; vgl. etwa Alice Schwarzer in: Der Spiegel 26/ 2003; zu Mill Görü¸s : Schiffauer, Nach dem Islamismus. 3 Vgl. nur den von der Pressestelle des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg herausgegebenen umfangreichen ›Sonderpressespiegel »Kopftuch« nach dem
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
scheidung gleichwohl nicht; vielmehr setzte sie über die Grenzen BadenWürttembergs hinaus einen Gesetzgebungsprozess in Gang, der dem ›Kopftuchstreit‹ auch in den Folgejahren nachhaltige Resonanz sicherte. So haben seit 2004 acht der sechzehn deutschen Bundesländer den Umgang mit religiös motivierter Bekleidung im Schuldienst (oder allgemein im öffentlichen Dienst) gesetzlich geregelt.4 Einige dieser Gesetze sind inzwischen selbst wieder Gegenstand von Rechtskonflikten geworden, keines jedoch wurde zurückgenommen. Für die Kopftuchträgerinnen selbst, die ein Lehramtsstudium absolviert oder aufgenommen haben, sich mit dem Gedanken an ein Lehramtsstudium tragen oder als Sozialpädagoginnen in der Schule tätig sind oder werden wollen, ist die Situation hoch problematisch.5 In der öffentlichen Wahrnehmung schwelt die Problematik seit dem Abflauen des baden-württembergischen Auftaktkonflikts 2004 auf eher kleiner Flamme weiter, lodert allerdings stets heftig wieder auf, wenn es zu neuen Streitfällen kommt, zumal, wenn sie so schlagzeilentauglich sind wie die Entscheidung der Düsseldorfer Arbeitsrichter, die im Juni 2007 zu dem bemerkenswerten Schluss gelangten, auch eine muslimische Lehrerin, die eine Baskenmütze trage, lege ein Verhalten an den Tag, das geeignet sei, die staatliche Neutralität zu beeinträchtigen und den Schulfrieden zu gefährden.6 Worum aber geht es im Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen? Wie ist die religionspolitische Konstellation des Konflikts und was sind die Kernpunkte des Rechtsstreits und der in Teilen schroff geführten öffentlichen Kontroverse, die sich um die juristische Auseinandersetzung rankt?7
4
5 6 7
BVG-Urteil 24. September 2003‹, der allein für die Tage vom 20. bis 30. 9. 2003 178 Seiten umfasst. Für die Jahre 1998 bis 2003: ›Sonderpressespiegel »Kopftuch«, Juli 1998 – September 2003‹. Beide Pressespiegel hat mir freundlicherweise die Pressestelle des Ministeriums zur Verfügung gestellt. Vgl. als Überblick über die ›Kopftuchgesetzgebung‹ in den einzelnen Bundesländern die regelmäßig aktualisierten Internetseiten des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kirchenrecht, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte der Universität Trier : http://www.uni-trier.de/ index.php?id=24373& L=0#c48125; 10. 3. 2011 [23. 1. 2012]. Vgl. die Dokumentation der von muslimischen Lehrerinnen, Lehramtsanwärterinnen und Sozialpädagoginnen verantworteten Website der ›Initiative für Selbstbestimmung in Glaube und Gesellschaft‹: http://www.isgg.de [10. 4. 2011]; auch den Bericht in: Die Zeit, 12. 7. 2007. Siehe AG Düsseldorf 12 Ca 175/07, Urteil vom 29. 6. 2007; vgl. dazu auch unten Kapitel 5.3. Es sei an dieser Stelle nur knapp darauf verwiesen, dass hier lediglich der (rechtliche) Konflikt um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen zur Diskussion steht; die Literatur dazu ist kaum mehr zu überschauen; vgl. für die juristische Debatte stellvertretend: Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch; auch Anger, Islam in der Schule, 246 – 299. Nicht in die Diskussion einbezogen wird die Frage des Umgangs mit den Kopfbedeckungen muslimischer Schülerinnen, um die es etwa im (rechtlich völlig anders gelagerten) französischen Kopftuchstreit ging; vgl. unter Berücksichtigung der Unterschiede in der Verfassungslage deutsch-französisch vergleichend: Tietze, L’inscription du d¦bat franÅais en Allemagne; Sintomer, Kopftuch und ›foulard’; Leroux, La lacit¦ l’¦preuve du foulard islamique; Gusy, Kopftuch – Laizismus – Neutralität; Anger, Islam in der Schule, 150 – 163, 167 – 205. Ebenso wenig wird der Streit um die Frage, ob muslimischen Erzieherinnen rechtliche Vorgaben hinsichtlich ihrer Bekleidung
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Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
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Der Ausgangspunkt des Streits blieb weiten Teilen der Öffentlichkeit verborgen: 1997 hatte die Schulverwaltung einer muslimischen Lehramtsanwärterin in Baden-Württemberg die Zulassung zum Referendariat verweigert, weil diese es – »sanft, aber beharrlich«8 – ablehnte, ohne ihre Kopfbedeckung zu unterrichten. Die Betroffene – eine deutsche Staatsbürgerin afghanischer Herkunft, deren Name, Fereshta Ludin, im Laufe der Kontroverse bundesweit bekannt wurde – legte Widerspruch gegen die Entscheidung ein. Und sie war erfolgreich: Sie konnte ihr Referendariat in den Fächern Deutsch, Englisch und Gemeinschaftskunde an der Grund-, Haupt- und Werkrealschule im württembergischen Plüderhausen absolvieren.9 Der Kernkonflikt jedoch – die Frage nach der Zulässigkeit religiös motivierter Bekleidung von Lehrerinnen und Lehrern gemacht werden können, aufgegriffen. Unbeachtet bleiben auch andere Bereiche des öffentlichen Dienstes (Polizei, Justizwesen, Verwaltung), die rechtlich anders konstelliert sind; ebenso wenig wird hier der Umgang mit Kopftuchträgerinnen in privaten Arbeitsverhältnissen berücksichtigt; vgl. zu diesen Fragen etwa: Thüsing, Kleiderordnungen; Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, 143 – 165; auch die Ausführungen bei Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 293 – 319. Die Konflikte um das Kopftuch in Deutschland und anderen Ländern sind inzwischen Gegenstand einer Vielzahl sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien geworden und aus verschiedenen analytischen Blickwinkeln ausgeleuchtet worden (aus der Perspektive der Gender Studies, unter diskursanalytischen Gesichtspunkten, im Licht politisch-philosophischer Anerkennungstheorien, mit biographiegeschichtlicher Fragestellung, im Horizont politikwissenschaftlicher Fragen des Umgangs mit Religion, in zeichen- bzw. symboltheoretischer Absicht, mit Fokus auf Minderheiten- und Gruppen(sonder) rechten u.v.m.). Diese Studien berühren nur teilweise die hier verfolgte Fragestellung nach den ›Definitionspolitiken‹ von Religion, die im Zuge rechtlicher Auseinandersetzungen in Gang kommen. Im Rahmen dieser Arbeit kann deshalb nur ein kleiner Teil dieser beständig anwachsenden Forschungsliteratur Erwähnung finden; vgl. aber aus der deutschen wie internationalen Forschung: Amir-Moazami, Politisierte Religion; Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind; Bowen, Why the French don’t like headcarfs; Brion (Hg.), Feminit¦, minorit¦, islamit¦; Karakas¸og˘lu, Muslimische Religiosität; Klein-Hessling u. a. (Hg.), Der neue Islam; Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung; Lorcerie, La politisation du voile; McGoldrick, Human rights and religion (auch mit einer Analyse des deutschen Konfliktfalls um Fereshta Ludin, 107 – 119); Nökel, Die Töchter der Gastarbeiter ; Wohlrab-Sahr, Integrating Different Pasts. Avoiding Different Futures; Wiygul, The headscarf; speziell zur Türkei: Özdalga, The Veiling Issue; mit Blick auf Europa und den Europäisierungsprozess: Rosenberger/Sauer (Hg.), Politics, Religion and Gender ; mit Fokus auf die Entwicklung nach dem Verbot des Kopftuchs in französischen Schulen: Scott, The politics of the veil. 8 Die Zeit, 23. 7. 1998. 9 Hauptgrund für den Erfolg der Klage war die Tatsache, dass der Staat (im konkreten Fall: das Land Baden-Württemberg) für die Lehrerausbildung das Ausbildungsmonopol besitzt. Eine Verweigerung des Referendariats hätte folglich gegen das Grundrecht freier Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen. Biographische Daten Fereshta Ludins sind den späteren gerichtlichen Entscheidungen zu entnehmen (VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 959; VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2899): Fereshta Ludin wurde 1972 in Kabul geboren; 1995 erwarb sie die deutsche Staatsangehörigkeit; 1996 bestand sie die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen, 1998 das Zweite Staatsexamen mit der Note 1,8. Vgl. auch: SZ, 25. 9. 2003.
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
im schulischen Raum und ihrer grundrechtlichen Fundierung – war damit lediglich vertagt worden. Denn nachdem die Kandidatin im Jahr darauf ihr Referendariat erfolgreich abgeschlossen hatte, lehnte das Oberschulamt Stuttgart ihre Übernahme in den Schuldienst des Landes trotz unbestrittener fachlicher Eignung unter Verweis auf ihre kompromisslose persönliche Haltung in der Frage der Kopfbedeckung ab.10 Als die Abgewiesene erneut, dieses Mal jedoch ohne Erfolg, Widerspruch einlegte, kam es zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung, die nun auch politisch Kreise zog. Von einer Staatsbediensteten, so erläuterte die verantwortliche Kultusministerin Annette Schavan die abschlägige Entscheidung in der Zeit, könne angesichts der ambivalenten »Signalwirkung […], die das Tragen eines Kopftuches heute hat«, »ein Stück Diskretion« erwartet werden. Die Ministerin machte deutlich: Bei der Einstellung in den Schuldienst geht es nicht nur um die fachliche Leistung der Bewerberin, sondern auch um ihre Eignung. Eine Lehrerin muß Vorbild sein, sie repräsentiert mit ihrer Person auch die im Grundgesetz verankerte Werteordnung, in der gegenseitige Toleranz eine große Rolle spielt und in der jede Zweideutigkeit ¢ gerade wenn es um die Grundrechte anderer geht ¢ vermieden werden muss.11
Das Kopftuch aber sei ein Symbol, das »selbst innerhalb der eigenen [islamischen, AR] Religionsgemeinschaft« »umstritten und zweideutig« sei. Entschieden konstatierte Annette Schavan: Erstens gehört das Kopftuch nicht zu den religiösen Pflichten einer islamischen Frau, deshalb benutzen weltweit die allermeisten muslimischen Frauen kein Kopftuch. Zweitens ist das Kopftuch ¢ und dies sagen uns selbst viele Islamwissenschaftler ¢ nicht allein ein religiöses Symbol, sondern auch ein Zeichen kultureller und zivilisatorischer Abgrenzung.12
Bemerkenswert an dieser Stellungnahme ist nicht allein, dass Annette Schavan als zuständige Ministerin in einem innerislamischen religiös-theologischen Disput Partei ergriff; das hatten die Richter des Ersten Senats des Bundesver10 Vgl. Die Zeit, 23. 7. 1998. 11 Die Zeit, 16. 7. 1998. 12 Ebd. Auch andere (Unions-)Politiker/innen sahen sich berufen, zum Sinngehalt und Verpflichtungscharakter des Kopftuchs Stellung zu nehmen. So klärte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Inhaber einer Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität München, Rupert Scholz, die Leserschaft der Rheinischen Post darüber auf, dass Frauen »[n]ach islamischem Recht […] nicht verpflichtet sind, ein Kopftuch zu tragen. Das Kopftuch ist also kein originär religiöses Symbol wie etwa das Kreuz im Christentum, sondern Ausdruck einer kulturell-politischen Haltung, nach der Frauen sich zu verhüllen haben. Dies wird in der westlichen Kultur als Form der Diskriminierung und Verletzung der Menschenrechte von Frauen angesehen« (Rheinische Post, 16. 7. 1998). Ansonsten gehört es zu den Charakteristika des ›Kopftuchstreits‹, dass in ihm die gewohnten parteipolitischen und ideologischen Bündnisse aufgebrochen wurden und, wie die Frankfurter Rundschau im Sommer 2003 titelte, »Koalitionen über Kreuz« gingen (FR, 2. 6. 2003).
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Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
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fassungsgerichts wenige Jahre zuvor auch getan, als es um die Bedeutung des Kreuzes bzw. Kruzifixes ging.13 Zu beachten ist vielmehr auch, auf welche Autoritäten sich Annette Schavan berief, um ihrer Deutung der Kopfbedeckung als »Zeichen kultureller und zivilisatorischer Abgrenzung«, das »nicht zu den religiösen Pflichten einer islamischen Frau« gehöre, Nachdruck zu verleihen. Denn nicht islamische Theologen nannte die katholische Theologin Schavan als Referenzen, sondern »viele Islamwissenschaftler«. Nun war diese Berufung auf Islamwissenschaftler statt auf theologische Autoritäten gewiss nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass es im deutschsprachigen Raum allenfalls allererste Ansätze einer institutionell etablierten universitären islamischen Theologie gab (und gibt), während die historisch-philologisch oder politikwissenschaftlich orientierten Islamwissenschaften akademisch durchaus etabliert sind.14 So darf zumindest gemutmaßt werden, dass ein islamisch-theologisches Votum nicht so eindeutig zugunsten der ministeriellen Position ausgefallen wäre. Und Annette Schavan war dies ja offenbar auch bewusst, unterstrich doch auch sie die Ambivalenz des Kopftuchs »selbst innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft«. Diese Ambivalenz, die von jüngeren Studien über junge Musliminnen in Deutschland bzw. in Europa durchaus bestätigt wird,15 hat ihren Grund nicht 13 Im Streit um das Schulkreuz in Bayern hatten sich die Karlsruher Richter auf das katholische Lexikon für Theologie und Kirche sowie das Evangelische Kirchenlexikon berufen, um ihre Interpretation des Kreuzes als christliches »Glaubenssymbol schlechthin«, als Versinnbildlichung der »im Opfertod Christi vollzogene[n] Erlösung des Menschen von der Erbschuld« sowie des »Sieg[es] Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt« zu autorisieren und auf dieser Grundlage ihre Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Vorschrift zur Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in Klassenzimmern öffentlicher Schulen zu legitimieren; vgl. oben Kapitel 4, Fn. 131 und Fn. 133. 14 Die Lage ist seither erheblich in Bewegung geraten. Einen wichtigen Anstoß gab der Wissenschaftsrat im Januar 2010 mit seinen Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen. In Reaktion darauf wurden zunächst zwei Standorte (Münster/Osnabrück und Tübingen) für eine Etablierung entsprechender Professuren ausgelobt, weitere sollen folgen. Zum Stand der islamischen Theologie an deutschen Hochschulen allgemein vgl.: Scheliha, Religiöse Pluralität an der Universität; Kiefer, »Islamische Studien«; ders., Islamische Theologie. 15 Diese Studien, die seit den 1990er Jahren Konjunktur haben, weisen sämtlich in die Richtung einer selbstbewussten Aneignung der Kopfbedeckung durch junge, überwiegend gut ausgebildete Musliminnen mit ausgeprägten beruflichen Interessen; vgl. aus der Vielzahl der Studien v. a. die Pionierstudie von Nilüfer Göle, Republik und Schleier (die, obwohl sie ausschließlich die türkische Situation in den Blick nimmt, auch die Perspektive auf muslimische Frauen in anderen religions- und sozialkulturellen Kontexten, auch in Westeuropa, grundlegend veränderte und insbesondere die Bedeutungsvielfalt der Kopfbedeckung aufzeigte). Ferner : Amir-Moazami, Politisierte Religion (deutsch-französisch vergleichend); mit Blick nur auf Deutschland: Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung; Karakas¸og˘lu, Muslimische Religiosität; Nökel, Die Töchter der Gastarbeiter ; mit Fallstudien aus verschiedenen Kontinenten: Klein-Hessling u. a. (Hg.), Der neue Islam; zum französischen Streit u. a.: Weibel, Par-del le voile; Gaspard/Khosrokhavar, Le foulard. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich die florierende Forschung über die Religiosität muslimischer
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
zuletzt in der Deutungsoffenheit der für die strittige Frage einschlägigen Passagen des Korans.16 Als solche werden gewöhnlich Auszüge aus den Suren 24 und 33 genannt. In Sure 24 heißt es: [30] Sag den gläubigen Männern, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (w. sie sollen ihre Scham bewahren). So halten sie sich am ehesten sittlich (und rein) (w. das ist lauterer für sie). Gott ist wohl darüber unterrichtet, was sie tun. [31] Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (w. sie sollen ihre Scham bewahren), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal [arabisch »hima¯r«, AR17] sich über ˘ den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand (w. nicht) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen (d. h. den Frauen, mit denen sie Umgang pflegen?), ihren Sklavinnen (w. dem, was sie (an Sklavinnen) besitzen), den männlichen Bediensteten (w. Gefolgsleuten), die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen.
In Sure 33 ist zu lesen: [53] Ihr Gläubigen! […] Und wenn ihr die Gattinnen des Propheten (w. sie) um (irgend) etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang [arabisch »higˇa¯b«, AR18]! […] [59] Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen ˘ der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand [arabisch »gˇilba¯b«, AR19] (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, daß
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Frauen insofern durch eine Schieflage auszeichnet, als die Studien überwiegend Frauen fokussieren, die eine Kopfbedeckung tragen; muslimische Frauen, die dies nicht tun, drohen darüber aus dem Blick zu geraten, obwohl gerade die vergleichende Perspektive zur Erhellung der Bedeutung des Kopftuchs beitragen könnte. Hier wie im Folgenden wird die Koran-Übersetzung von Rudi Paret in der Ausgabe von 2004 (9. Aufl.) verwendet; die Abkürzung »w.«, die in den zitierten Passagen wiederholt vorkommt, steht in der Übersetzung Parets für »wörtlich«. Der in Sure 24 verwendete Begriff »hima¯r« bezeichnet nach dem Koran-Kommentar von ˘ 1900 – 1992) eine Kopfbedeckung, die von arabiMuhammad Asad (alias Leopold Weiss; schen Frauen bereits in vorislamischer Zeit als lose über den Nacken fallendes ›modisches‹ Accessoire getragen wurde; da nach den Gebräuchen der Zeit das Gewand (unverheirateter) Frauen nach vorn hin weit geöffnet war, war die Brust unbedeckt. Sure 24: 31 weist die Frauen nun an, auch die Brust mit dem »hima¯r« zu bedecken. Vgl. die Erläuterungen bei: Wielandt, ˘ 1 f; auch: Asad, Botschaft, 677, Fn. 38; Mohagheghi, Die Vorschrift des Kopftuchtragens, (Streit-)Stoff, 23 f. Der arabische Begriff ist hier »higˇa¯b«. Nach Auskunft Asads bezeichnet er »alles, was zwischen zwei Dinge kommt oder˘ eines vor dem anderen verbirgt, beschirmt oder schützt« (Asad, Botschaft, 809, Fn. 69). Anders als zur Zeit der Entstehung des Korans ist heute der Begriff »higˇa¯b« die arabische Standbezeichnung für den Kopfschleier ; vgl. Wielandt, Die Vorschrift˘ des Kopftuchtragens, 3 f. Der hier verwendete arabische Begriff »gˇilba¯b« bezeichnet das gewöhnliche, den gesamten
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Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
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sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden. Gott aber ist barmherzig und bereit zu vergeben.
Dass diese koranischen Vorgaben, aus denen sich ohne Weiteres kein explizites Gebot zur Verhüllung des Kopfes erschließen lässt, zumindest in der älteren islamischen Tradition dennoch überwiegend in dieser Weise interpretiert werden, hat damit zu tun, dass sie im Licht zusätzlicher Bestimmungen gedeutet werden, die sich im Hadith finden, d. h. in den zunächst von den Gefährten Mohammeds mündlich tradierten und später in verschiedenen Textsammlungen zusammengeführten Worten des Propheten und Berichten über seine vorbildliche Lebensführung, die neben dem Koran die wichtigste Quelle religiöser und rechtlicher Normbildung im Islam sind.20 Unter jüngeren Musliminnen und Muslimen selbst werden diese Regelungen, die nicht nur Verhaltensmaßregeln für Frauen, sondern auch für Männer enthalten (wenngleich letztere nicht direkt in Bekleidungsvorschriften münden), unter anderem dahingehend diskutiert, ob sie auch in Gesellschaften Geltung haben, in denen gänzlich andere Konventionen von Anstand und entsprechender Kleidung sowie andere Schamvorstellungen vorherrschen als zur Zeit des Propheten bzw. als in islamisch geprägten Gegenwartsgesellschaften.21 Kurzum: Hat das Kopftuch-Gebot auch in einem sozial- und religionskulturellen Kontext Geltung, in dem, wie es eine deutsche Muslimin beschrieb, »sich die Männer nicht umdrehen, weil ich keines trage«?22 Im Juli 1998 beschäftigte sich der baden-württembergische Landtag mit dem inzwischen bundesweit debattierten Konflikt.23 In der hitzigen parlamentarischen Debatte verlangten jedoch lediglich die Vertreter der Partei der Republikaner ein gesetzliches Verbot des Kopftuchs. Alle übrigen Parteien lehnten dies dezidiert ab. Mit unterschiedlichen Argumenten und Akzentsetzungen votierten sie geschlossen gegen eine ›Lex Kopftuch‹. Stattdessen sei, so das allgemeine Votum der Abgeordneten, auf der Grundlage der geltenden Gesetzes-
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Körper bedeckende Gewand, das in vorislamischer Zeit von verheirateten Frauen getragen wurde, um die Statusdifferenz zu Unverheirateten und Sklavinnen zu markieren; vgl. die Erläuterungen bei: Wielandt, Die Vorschrift des Kopftuchtragens, 4 f, sowie Mohagheghi, (Streit-)Stoff, 24 f. Im Hadith wird etwa näher bestimmt, welche Körperteile zu bedecken sind, und für welche Frauen das Gebot der Bedeckung gilt; vgl. dazu Wielandt, Die Vorschrift des Kopftuchtragens, 5 ff. Siehe zum Stand der innerislamischen Diskussion um die Vorschriften zum Kopftuchtragen: ebd., 7 – 11; außerdem: Mohagheghi, (Streit-)Stoff, sowie die knappen Verweise bei Wiesmann, Anmerkungen, 67 – 69. Zitiert nach: Focus 32/1997. Einen Eindruck von den Debatten und ihrer Reichweite vermittelt der Sonderpressespiegel des baden-württembergischen Kultusministeriums: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Pressestelle (Hg.), Sonderpressespiegel »Kopftuch«, Juli 1998 – September 2003.
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
lage jeder Einzelfall zu prüfen und situationsgebunden zu entscheiden.24 Auch die eingangs zitierte Äußerung Erwin Teufels aus den Anfängen des Konflikts ist ja, wie übrigens auch die Haltung, die Annette Schavan zunächst eingenommen hatte, in diesem Sinne zu verstehen: Zu prüfen ist danach neben der fachlichen auch die persönliche Eignung jeder Bewerberin, wie übrigens auch jedes Bewerbers. Es sollte also nicht um das Kopftuch als solches gehen – maßgeblich sollte vielmehr die innere Haltung der Bewerberin sein. »Baden-Württemberg wird kein kopftuchloses Land«, so versicherte deshalb die Kultusministerin in der Frühphase der Debatte.25 Es kam bekanntlich anders. Fereshta Ludin nahm die Ablehnung des Oberschulamtes nicht widerstandslos hin. Als ihre Verhandlungen mit den Behörden gescheitert waren, legte sie Rechtsmittel ein. Erfolglos klage sie sich seit 1998 durch alle Instanzen: 2000 scheiterte sie vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, im Jahr darauf wies der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof in Mannheim ihr Anliegen zurück. 2002 unterlag sie auch vor dem Bundesverwaltungsgericht. Daraufhin blieb nur noch der Weg der Verfassungsbeschwerde. Sie schlug ihn ein – und erhielt teilweise Recht. Denn die Richter des Zweiten Karlsruher Senats befanden im September 2003 mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen: 1. Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. 2. Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.26
Das Karlsruher Urteil wird weiter unten noch näher zu untersuchen sein;27 an dieser Stelle sei lediglich festgehalten: Der Sieg, den Fereshta Ludin auf den ersten Blick erzielte, sollte sich als Pyrrhussieg erweisen. Zwar gaben die Verfassungsrichter der Klägerin insoweit Recht, als sie feststellten, dass die damals geltende Gesetzeslage eine Ablehnung der Bewerberin allein aufgrund ihrer Haltung in der Frage der Kopfbedeckung nicht rechtfertige. Mit dem zweiten Leitsatz aber eröffneten sie dem Gesetzgeber die Möglichkeit, eine entspre24 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Plenarprotokoll 12/51 sowie aus der Presseberichterstattung zur Debatte: Stuttgarter Nachrichten, Stuttgarter Zeitung, FAZ und SZ, jeweils vom 16. 7. 1998. 25 FAZ, 16. 7. 1998. 26 So die Leitsätze des Urteils: BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003. Bereits im Vorfeld der Karlsruher Entscheidung wurde der Rechtskonflikt juristisch breit debattiert, und auch das Urteil selbst fand enorme Aufmerksamkeit in der Rechtswissenschaft; hier werden nur wenige Titel stellvertretend erwähnt: Heinig, The Headscarf; Huster, Warum die Lehrerin (k)ein Kopftuch tragen darf; Steiger, Der Streit um das Kopftuch; Walter, Religionsverfassungsrecht, 523 – 530; Traulsen, Distanzierende Neutralität, 2006; Ladeur/Augsberg, Toleranz – Religion – Recht, 120 – 126 (jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). 27 Vgl. unten Kapitel 5.2.
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Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
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chende gesetzliche Grundlage für ein Verbot (ebenso gut aber auch für eine Zulassung) von religiös konnotierten Bekleidungspraktiken zu schaffen.28 Entsprechend groß war die Verwirrung nach Bekanntwerden des Urteils: Die Karlsruher Richter mussten Kritik von allen Seiten, auch von Richterkollegen selbst, einstecken und sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, der Entscheidung ausgewichen zu sein.29 »Feige Richter«, so Die Zeit aus Hamburg, hätten »ein ängstliches, kleinmütiges – und unzeitgemäßes Urteil gefällt«, nach dem »jede Lösung möglich« sei: »Mal hü, mal hott, sagen sie.«30 Nur wenige wollten in der Karlsruher Entscheidung ein »mutiges« Urteil erkennen.31 28 Über die Hintergründe der Entscheidungsfindung ist viel spekuliert worden. Es erscheint plausibel anzunehmen, dass sich im Zweiten Senat zwei gleich große Lager gegenüber standen und dass die ›liberale‹ Fraktion, der daran lag, eine – hinsichtlich des integrationspolitischen Signals desaströse – Patt-Entscheidung von 4:4 abzuwenden, nur um den Preis, die letzte Entscheidung über »das zulässige[] Ausmaß[] religiöser Bezüge in der Schule« den einzelnen Bundesländern zu überlassen, ein Mitglied der ›konservativen‹ Fraktion davon überzeugen konnte, mit seiner Stimme die knappe Mehrheitsentscheidung von 5:3 herbeizuführen; so die Vermutung von Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang, 44. 29 Auf den Kommentator der FAZ vom 25. 9. 2003 (Reinhard Müller) wirkte die »Abwälzung der Problemlösung auf das Parlament […] in diesem Fall geradezu abenteuerlich. Denn der baden-württembergische Landtag […] war in einer Debatte zu dem Ergebnis gekommen, ein Gesetz sei nicht erforderlich, ja es erschwere geradezu eine angemessene und gerechte Beurteilung des Einzelfalls«. Vgl. auch die Berichterstattung andernorts: Der Tagesspiegel, 27. 9. 2003; Focus 40/2003; FR, 25. 9. 2003 (unter dem Titel »Karlsruhe kneift«); Rheinische Post, 25. 9. 2003 (»Das Kopftuch-Fehlurteil«); Financial Times, 25. 9. 2003 (»Karlsruher Drückeberger«); Der Tagesspiegel, 25. 9. 2003 (»Urteil zweiter Klasse«). Vgl. auch die heftige Kritik seitens der Senatsminderheit, die ihre Ablehnung des Urteils ausführlich begründete (BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 75 – 138) und vor allem den Vorrang der Grundrechtsposition der Schüler- und Elternschaft in Anschlag brachte sowie zudem die große Nähe der Lehrkraft zum Staat betonte (»Der Staat handelt durch ihn«; ebd., 87); dabei reduzierte sie, wie ihr von fachwissenschaftlicher Seite vorgeworfen wurde, »den Grundrechtsschutz von Beamten drastisch« (Morlok, Der Gesetzgeber ist am Zug, 386). 30 Die Zeit, 25. 9. 2003. »Feig« galten die Bundesverfassungsrichter auch dem Kommentator der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, der die Zeit für ein neues »Toleranzedikt« gekommen sah (SZ, 25. 9. 2003). Auch der sozialdemokratische Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bezeichnete die Entscheidung als »enttäuschend und merkwürdig feige« (vgl. den Bericht in der Berliner Zeitung, 25. 9. 2003). Alice Schwarzer witterte gar einen »halbe[n] Sieg der Fanatiker«, der dazu führen werde, den Druck auf die »(noch?) unverschleierten Mädchen und Frauen« zu erhöhen (Schwarzer, Ein halber Sieg, 32 f). Weniger siegesgewiss nannte für den Zentralrat der Muslime in Deutschland dessen Vorsitzender Nadeem Elyas das Urteil hingegen »unbefriedigend für alle Seiten« (FR, 25. 9. 2003; auch Stuttgarter Zeitung, 25. 9. 2003). 31 So aber Christian Rath in der taz vom 25. 9. 2003 sowie der Leitartikler der Badischen Zeitung, der das Urteil »das Gegenteil von feige: ein mutiges Urteil« nannte (Badische Zeitung, 25. 9. 2003). »Weise« nannte der FDP-Bundesvorsitzende Guido Westerwelle die Entscheidung, die Auseinandersetzung in die Parlamente zurückzuverweisen (Rheinische Post, 25. 9. 2003: Stimmen zum Urteil). Zustimmend äußerte sich auch die Bundesbeauftragte für Flüchtlinge und Migranten Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), die ein
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
Der Ball jedenfalls lag nach dem Urteilsspruch im September 2003 wieder im Feld der Politik. Denn entschieden hatten die Richter aus Karlsruhe vor allem dies: Dass der Gesetzgeber selbst zu entscheiden habe, in welchen Grenzen Lehrkräfte befugt sein sollten, ihre religiösen Wertbindungen äußerlich zu bekunden, und dass dafür Sorge zu tragen sei, dass »Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden«.32 Der baden-württembergische Landtag war also wieder am Zug. Nun hatte sich das Landesparlament ja bereits fünf Jahre zuvor geschlossen – gegen das Votum allein der Republikaner – gegen ein gesetzliches Kopftuchverbot ausgesprochen und für eine Einzelfallprüfung votiert. Eben dieser Weg aber war nach dem Urteilsspruch aus Karlsruhe ungangbar geworden: Ein Verbot konnte es fortan nur auf gesetzlicher Grundlage geben. Und diesen Weg schlug die schwarz-gelbe Landesregierung nach der höchstrichterlichen Entscheidung auch ein. Die Alternative wäre gewesen, Fereshta Ludin nun doch in den Schuldienst des Landes zu übernehmen. Doch dieser Weg schien nach dem jahrelangen Gezerre um ihre Person versperrt. Zwar gab die zuständige Kultusministerin Schavan am Tag der Urteilsverkündung noch eher zurückhaltend zu Protokoll, der »Respekt vor dem Gesetzgeber« verbiete es, »jetzt spontan Eindeutigkeiten zu formulieren«. Die Landesregierung werde die Karlsruher Entscheidung zunächst »gewissenhaft und eingehend analysieren. Danach wird der Landtag entscheiden, ob es in Baden-Württemberg zu einer solchen gesetzlichen Regelung kommen wird.«33 Zwei Tage später aber schienen die Weichen in Richtung eines gesetzlichen Kopftuchverbots bereits unwiderruflich gestellt: In einem Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung wiederholte Schavan zwar ihre grundsätzliche Skepsis hinsichtlich eines ›Kopftuchgesetzes‹ und rief die skizzierte einhellige Haltung des Landtags im Jahr 1998, in dem der Rechtsstreit begann, in Erinnerung. Auf die wichtiges »integrationspolitisches Signal« vernahm und die Überantwortung der Entscheidung in den politischen Raum begrüßte (FR, 25. 9. 2003); ähnlich die Stellungnahme der ehemaligen Ausländerbeauftragten des Landes Berlin Barbara John (Der Tagesspiegel, 26. 9. 2003). Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, der sich noch am Vorabend der Entscheidung zur Konfliktsache nicht äußern wollte, da ja die Kirche »selbst im Glashaus« sitze (FAZ, 25. 9. 2003: Kopfsache), sah in der Forderung nach einer gesetzlichen Regelung eine »Stärkung des Rechts auf Ausübung der religiösen Freiheit« (FR, 25. 9. 2003). Von evangelischer Seite wurde hingegen eher Kritik laut; so äußerten die Landesbischöfe Ulrich Fischer (Baden) und Gerhard Maier (Württemberg), das Urteil »erschwere die Integration der verschiedenen Kulturen« (Stuttgarter Nachrichten, 25. 9. 2003); insbesondere der Bischof für Berlin-Brandenburg und spätere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber forderte im Laufe der Auseinandersetzung ebenso wie die Hannoveraner Bischöfin Margot Käßmann vehement, das Kopftuch zu verbieten (vgl. taz, 8. 11. 2003; Der Tagesspiegel, 9. 10. 2003). 32 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 71. 33 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Pressemitteilung Nr. 121/ 2003, 24. 9. 2003.
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Hergang, Hintergründe und Konstellationen des Kopftuchstreits
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Frage jedoch, ob sie »für ein Gesetz« sei, antwortete sie: »Ich bin dafür, dass wir das regeln und den gesetzlichen Handlungsspielraum nutzen.«34 Zugleich machte sie in dem Interview deutlich, dass sie die von den Bundesverfassungsrichtern geforderte Gleichbehandlung aller Religionen nicht so verstanden wissen wollte, dass ein Kopftuchverbot zwingend auch ein Verbot christlicher Symbole nach sich ziehen müsse: Das Karlsruher Gericht, so erläuterte sie, habe ja »darauf hingewiesen, dass es besondere kulturelle Traditionen gibt, die auch zu dem Schluss führen können, dass christliche Symbole die Neutralität nicht beeinflussen«.35 Eine entsprechende Gesetzesvorlage war rasch erarbeitet und wurde bereits am 1. April 2004 mit den Stimmen der koalierenden CDU und FDP sowie großen Teilen der SPD-Fraktion verabschiedet;36 dass die Republikaner bei den Wahlen 2001 aus dem Landtag ausgeschieden waren, ersparte der Landtagsmehrheit ungebetene Unterstützung aus diesem politischen Lager. Die Fraktion der Grünen stimmte geschlossen gegen das Gesetz; sie hatte einen eigenen Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht, der vorsah, dass die Schulen selbst im Einzelfall über Verbot oder Zulassung des Kopftuchs entscheiden sollten.37 Schon am 9. April 2004, nur wenige Tage nach ihrer Verabschiedung durch das Parlament, trat die Neuregelung in Kraft.38 Auf ihrer Grundlage wurde nunmehr das Einstellungsgesuch Fereshta Ludins zurückgewiesen. Andere Bundesländer folgten dem Beispiel aus dem Südwesten. In einigen von ihnen waren inzwischen ähnliche Konflikte wie in Baden-Württemberg aufgebrochen, andere erließen in vorauseilender Manier gesetzliche Regelungen zum Verbot von religiös konnotierter Bekleidung, teils nicht nur im schulischen Raum, sondern im gesamten Bereich des öffentlichen Dienstes.39 Auf der Grundlage der 34 Stuttgarter Zeitung, 26. 9. 2003. 35 Ebd. Zur Ausnahmeregelung für die Darstellung christlicher Tradition bzw. »Bildungs- und Kulturwerte«, die dann ja auch tatsächlich Eingang in das Gesetz fand, vgl. unten Kapitel 5.2 und 5.3. 36 Vgl. SZ, 2. 4. 2004. 37 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Gesetzentwurf der Fraktion Grüne, Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes (Drucksache 13/2837). 38 Die Regelung findet sich in § 38 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg; vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 1. 4. 2004. Vgl. ausführlich dazu unten Kapitel 5.2. 39 Hessen (2004) und Berlin (2005) haben Regelungen für den gesamten öffentlichen Dienst erlassen; beschränkt auf den Schuldienst sind die Regelungen außer in Baden-Württemberg auch in Bayern (2004), im Saarland (2004), in Niedersachsen (2004), Bremen (2005) und Nordrhein-Westfalen (2006). Zu den Länderregelungen vgl.: Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 28 – 35; eine knappe Übersicht findet sich auch in dem Bericht der Organisation Human Rights Watch, Diskriminierung im Namen der Neutralität, mit Stand von Februar 2009. Siehe außerdem die regelmäßig aktualisierte Zusammenstellung von Rechtsquellen auf den Internetseiten des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kirchenrecht, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte der Universität Trier : http://www.uni-trier.de/index.php?id=
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
neu geschaffenen Gesetze sind seither in verschiedenen Bundesländern beamtete Lehrerinnen angewiesen worden, ihre Kopfbedeckung im Unterricht abzunehmen, Kopftuch tragende Lehrerinnen im Angestelltenverhältnis oder auch in der Schule tätige Sozialpädagoginnen erhielten Abmahnungen, und muslimische Bewerberinnen, die ihren Kopf bedecken, wurden im Vorfeld als ungeeignet abgelehnt.40 Einige dieser Streitigkeiten werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zur Sprache kommen.41 Doch soll im Folgenden zunächst derjenige Konflikt auf die in ihm wirksamen Politiken der Definition des legitimen religiösen Feldes untersucht werden, der die Angelegenheit ins Rollen brachte und von einer bemerkenswert engagierten öffentlichen Kontroverse begleitet wurde: der »Präzendenzfall mit Fernwirkung«42 um die Plüderhausener Lehrerin Fereshta Ludin.
5.2
Von Absicht, Bedeutung und Wirkung religiöser Zeichen: Das Kopftuch vor Gericht
Um die Dynamik zu verstehen, die der ›Kopftuchstreit‹ über die Jahre entfaltete, hat man sich nicht zuletzt auch den Kontext zu vergegenwärtigen, in dem er stand: Die späten 1990er Jahre waren eine Zeit, in der sich die deutsche Gesellschaft allmählich über die verdrängten Spätfolgen der Immigration seit den 1960er Jahren klar zu werden begann und in der, nach dem politischen Richtungswechsel im Bund 1998, auch die lange hinausgezögerten Konsequenzen aus dieser Entwicklung, die durch globale Wandlungsprozesse noch verstärkt wurde, in die Wege geleitet wurden. Das Anfang 2005 nach heftigen gesellschaftspolitischen Debatten in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, mit dem Deutschland sich de facto als Einwanderungsland definierte, markierte diesen Bewusstseinswandel der bundesdeutschen Gesellschaft. Dass dieser nicht zuletzt im Gefolge der Ereignisse des 11. September 2001 mit tiefen Verunsicherungen einherging, lässt sich auch im Streit um das Kopftuch beobachten.
24373& L=0#c 48125 [23. 1. 2012] mit einer sehr guten Übersicht auch über die Rechtslage im Kopftuchstreit in den verschiedenen Bundesländern sowie über Deutschland hinaus. Ferner aus politikwissenschaftlicher Sicht: Liedhegener, Religionsfreiheit und die neue Religionspolitik, dort v. a. 92 – 100; ders., Streit um das Kopftuch. 40 Sämtliche Konfliktkonstellationen haben zu Rechtsstreitigkeiten geführt, die in Teilen noch anhängig sind; vgl. dazu Walter/Ungern-Sternberg, Verfassungswidrigkeit, Fn. 8 – 10. Berghahn hat bis 2009 gut zwei Dutzend Rechtskonflikte um das Kopftuch gezählt; vgl. Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang, 38, Fn. 3. 41 Vgl. unten Kapitel 5.3. 42 So der damalige Vorsitzende der CDU-Fraktion im baden-württembergischen Landtag Günther Oettinger im Juli 1998 (vgl. den Bericht in: Mannheimer Morgen, 14. 7. 1998).
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Von Absicht, Bedeutung und Wirkung religiöser Zeichen
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Zum Kontext, in dem der ›Kopftuchstreit‹ ausgetragen wurde, gehört aber auch der nur wenige Jahre zuvor so polemisch ausgetragene Streit um das Kreuz bzw. Kruzifix in bayerischen Schulen, der in der Debatte um das Kopftuch einen stabilen Referenzpunkt bildete.43 Seit dem ›Kruzifixstreit‹ – der, was im Rückblick angesichts der geringen zeitlichen Distanz überraschen muss, noch ganz ohne Referenzen auf die durch die Präsenz des Islams gewandelte religionskulturelle Lage auskam – schien nicht wenigen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft der Boden für das Christentum und seine außerordentliche kulturelle Bedeutung in Europa gefährdet. So herrschte ein Klima religionskultureller Verunsicherung vor, zu dem nicht zuletzt auch der Verlust der Selbstverständlichkeit der religionspolitischen Koordinaten der ›alten‹ Bundesrepublik im Zuge des jähen Niedergangs der DDR und der raschen Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten beigetragen hatte. Die geradezu reflexartige Abwehr, mit der weite Teile der deutschen Öffentlichkeit dem Anspruch junger Musliminnen begegneten, ihre religiösen Bindungen auch in der öffentlichen Schule nicht zu verbergen, muss daher auch vor dem Hintergrund des Schwindens (kultur) christlicher Gewissheiten in der Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Das nicht selten geradezu trotzig vorgebrachte Argument, wenn schon das Kreuz verboten werde, so sei das Kopftuch erst recht nicht hinzunehmen, gehört in diesen Zusammenhang. So fragte etwa der politische Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Sommer vor der Karlsruher Entscheidung im ›Kopftuchstreit‹: Wenn ein Kreuz an der Wand eines Klassenzimmers einer staatlichen Schule die Schüler in ihrer Religionsfreiheit verletzen kann, muß das nicht erst recht für eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch gelten?44
Und der damalige baden-württembergische FDP-Chef Walter Döring sekundierte im Nachgang des Urteilsspruchs: »Kruzifix raus, Kopftuch rein, das kann nicht sein.«45 Kreuz und Kopftuch wurden in der öffentlichen Auseinandersetzung zu Inbildern des bedrohten Eigenen bzw. des bedrohlichen Fremden. Sollte sich die Religionsfreiheit, die über lange Jahre die beherrschende Stellung der demokratisch geläuterten christlichen Kirchen gestützt hatte, nun auf einmal gegen die christliche Religion oder gar gegen die Freiheits- und Gleichheitsordnung selbst wenden?46 Anders gefragt: »Wie viel fremde Religiosität verträgt unsere 43 44 45 46
Vgl. dazu oben Kapitel 4. FAZ, 4. 6. 2003. Zit. nach: Heilbronner Stimme, 25. 9. 2003. Dies ist, folgt man Ernst-Wolfgang Böckenförde, der Kern des allgemeinen Unbehagens im Umgang mit dem Kopftuch und anderen Ausdrucksformen islamischer Religiosität in Deutschland; vgl. Böckenförde, Bekenntnisfreiheit in einer pluralen Gesellschaft, 175.
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
Gesellschaft?« Folgt man dem damaligen Vorsitzenden des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer, so war dies die Frage, die das Karlsruher Gericht in der Streitsache Fereshta Ludin zu entscheiden hatte.47 Diese Äußerung von höchstrichterlicher Seite zeigt: Die Verunsicherung im Umgang mit den Ausdruckformen einer Religion, deren Präsenz über Jahrzehnte politisch und kulturell schlicht übersehen worden war und nun mit umso größerer Wucht ins Bewusstsein drängte, reichte tief. Das allgemeine Unbehagen trat deutlich in der Art und Weise zutage, in der Behörden, Ministerialbeamte, Politiker und nicht zuletzt auch Richterinnen und Richter die Auseinandersetzung im Laufe der Jahre führten. Gehen wir noch einmal zurück ins Jahr 1998: Nachdem Fereshta Ludin ihr Referendariat erfolgreich beendet hatte, bewarb sie sich um ihre Übernahme in den Schuldienst an Grund- und Hauptschulen des Landes Baden-Württemberg. Wie im vorangehenden Abschnitt bereits skizziert, wurde ihre Bewerbung unter Verweis auf ihre beim Einstellungsgespräch erklärte mangelnde Bereitschaft, während des Unterrichts ihre Kopfbedeckung abzulegen, im Juli 1998 von der Schulverwaltung abgelehnt. Gegen diese Entscheidung klagte Ludin umgehend beim Verwaltungsgericht Stuttgart – ohne Erfolg. In ihrer abschlägigen Entscheidung vom März 2000 referierten die Stuttgarter Verwaltungsrichter auch den Inhalt des negativen Bescheids der Schulbehörde. Dieser ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Denn er macht nicht nur die Position der Schulbehörden deutlich, sondern lässt auch Schlüsse auf die Haltung Fereshta Ludins zu. So wird berichtet, die Bewerberin habe während ihres Einstellungsgesprächs »ausgeführt, dass das Kopftuch nicht ein Zeichen ihres Glaubens, sondern Merkmal ihrer Persönlichkeit sei«.48 Ludin begründete also in dieser Frühphase des Streits ihre Haltung in der Frage der Kopfbedeckung nicht ausdrücklich religiös. Das Kopftuch zu tragen, so argumentierte sie, sei vielmehr ein unaufgebbarer Teil ihrer Persönlichkeit. Entsprechend berief sie sich zu diesem frühen Zeitpunkt der Auseinandersetzung nicht in erster Linie auf das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern maßgeblich auf das in 47 Vgl. die Berichterstattung in der SZ vom 24. 9. 2003, dem Tag der Karlsruher Entscheidung. Dass dies tatsächlich die verfassungsrechtlich zentrale Frage war, wurde allerdings nicht von allen so gesehen. So machte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde im Kontext des Kopftuchstreits wiederholt deutlich, dass die Frage, ob eine Religion als fremd oder vertraut empfunden wird, bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung, ob ein religiös motiviertes Verhalten durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit geschützt ist, keine Rolle spielen dürfe (vgl. Böckenförde, Bekenntnisfreiheit in einer pluralen Gesellschaft, 187). 48 Aus den Erläuterungen ›Zum Sachverhalt‹ der Entscheidung: VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 959; analog: VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2899. Auch in der Zeit vom 23. 7. 1998 wird Ludin mit den Worten zitiert: »[M]an kann ein Kopftuch nicht ablegen wie einen Mantel. Es ist Teil meiner Persönlichkeit«.
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Von Absicht, Bedeutung und Wirkung religiöser Zeichen
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Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit49 – eine Argumentationshaltung, die sie, wie wir noch sehen werden, bald ändern sollte. Festzuhalten ist zunächst: Die Frage nach dem Sinngehalt der Kopfbedeckung einer muslimischen Frau spielte zu Beginn des Streits eine hervorgehobene Rolle. Politiker, Behörden und Gerichte stritten über die Frage, ob das Kopftuch überhaupt ein genuin religiöses Zeichen sei oder nicht vielmehr ein persönliches Accessoire. Die Auseinandersetzung war also bereits in ihren Anfängen eine definitionspolitische. Allerdings wurde die Frage nach Sinn und Bedeutung des Kopftuchs durch eine zweite Frage flankiert: So griff das mit der Angelegenheit befasste Schulamt in seiner Reaktion auf die Erläuterungen Fereshta Ludins auf ein Argumentationsmuster zurück, das schon im ›Kruzifixstreit‹ zum Einsatz gekommen war und auch im weiteren Verlauf des Streits um das Kopftuch noch eine beachtliche Karriere vor sich haben sollte: Die Beamten unterschieden nämlich zwischen der subjektiven Absicht, die eine Lehrerin mit dem Tragen einer Kopfbedeckung verbinden mag, und der »objektive[n] Wirkung« ihrer Kopfbedeckung »auf Öffentlichkeit, Elternschaft und Schülerschaft«.50 Die von der Bewerberin vorgebrachte subjektive Absicht war rechtlich nicht zu beanstanden. Die objektive Wirkung des Kopftuchs aber, so meinten die Verantwortlichen in der Schulverwaltung, sei mit dem Neutralitätsgebot, dem die staatliche Schule verpflichtet sei, nicht zu vereinbaren. Nun ist den Erläuterungen zum Sachverhalt in der späteren Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts nicht zu entnehmen, was das Schulamt im einzelnen unter dieser das Neutralitätsgebot verletzenden objektiven Wirkung des Kopftuchs verstand. Deutlich wird aber, dass die Verwaltungsbeamten Zweifel hatten, dass eine Kopftuch tragende Lehrerin »das Gebot der Toleranz« angemessen beachte. Sie argumentierten: Die Wahrung der Religionsfreiheit setze voraus, dass die Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften mit dazu beitrügen, Religion vor politischer Vereinnahmung zu schützen, Prozesse einer kulturellen Integration gefördert, die religiöse Vielfalt gewahrt und zugleich gesellschaftliche Desintegration vermieden werde.51
Diese Argumentation enthält eine Reihe von Unterstellungen, die auch im weiteren Verlauf des Rechtsstreits und in der öffentlichen Kontroverse um das 49 Vgl. den Wortlaut der Bestimmungen im Anhang. 50 VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 959. Die Reihung an dieser Stelle ist bemerkenswert: Die »Schülerschaft« wird – obwohl doch die Schülerinnen und Schüler (zusammen mit den erziehungsberechtigten Eltern) in ihren Grundrechten betroffen sein könnten – zuletzt genannt, die (allenfalls vage zu konkretisierende) »Öffentlichkeit« zuerst, obwohl doch deren Rechte in diesem Fall kaum betroffen sein dürften. 51 VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 959.
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
Kopftuch immer wieder begegnen sollten. So wird, wenn davon die Rede ist, die Religion sei vor politischer Vereinnahmung zu schützen, wie selbstverständlich eine wesenhafte Differenz von ›Religion‹ und ›Politik‹ angenommen. Die definitionspolitische Agenda löst sich damit ein Stück weit vom konkreten Streitobjekt, dem Kopftuch, und erweitert sich ins Grundsätzliche: die Frage des Verhältnisses von Religion und Politik. Gibt es Verbindungslinien zwischen beiden oder klare und gut ›bewachte‹ Grenzen? Und so kreiste die definitionspolitische Auseinandersetzung um das Kopftuch schließlich maßgeblich um die Frage, ob das Tragen einer Kopfbedeckung tatsächlich, wie von der Trägerin im weiteren Streitverlauf behauptet, genuin religiös motiviert sei oder nicht vielmehr doch auf eine die Grenzen des Religiösen überschreitende (und damit aus dem Schutzbereich der Religionsfreiheit heraustretende) politische Motivation verweise, die nicht zuletzt auch eine unzulässige Signalwirkung in der Öffentlichkeit sowie in der Eltern- und Schülerschaft entfalte. Mit dem ablehnenden Bescheid des Schulamtes endete die außergerichtliche Auseinandersetzung. Fortan wurde der Streit auf der Bühne der Gerichte ausgetragen. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts, bei dem Fereshta Ludin im Sommer 1998 gegen den Ablehnungsbescheid Klage einlegte. Auch hier ging es zunächst wieder um die Frage, was das Kopftuch bedeute. Dem Stuttgarter Urteil vom März 2000 ist zu entnehmen, dass die abgewiesene Bewerberin vor Gericht ihre Einstellung zum Kopftuch auf andere Weise begründete als zuvor gegenüber dem Schulamt: Hatte sie in ihrer Auseinandersetzung mit der Schulverwaltung erläutert, »dass das Kopftuch nicht ein Zeichen ihres Glaubens, sondern Merkmal ihrer Persönlichkeit sei«,52 so erklärte sie nunmehr, dass das Tragen des Kopftuchs nicht lediglich Merkmal ihrer Persönlichkeit, sondern Ausdruck der inneren religiösen Überzeugung sei. Gemäß den Kleidungsvorschriften des Islam gehöre das Kopftuchtragen zu ihrer islamischen Identität. Es diene nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie dazu, den Glauben nach außen zu dokumentieren, sondern sei ein Schutzinstrument zur Einhaltung der religiösen Gebote des Islam. Die ablehnende Entscheidung negiere ihr Grundrecht der Religionsfreiheit.53
Diese der Rekonstruktion des Sachverhalts seitens des Stuttgarter Verwaltungsgerichts entnommene Formulierung legt durch die direkte sprachliche Gegenüberstellung (»nicht ein Zeichen ihres Glaubens, sondern Merkmal ihrer Persönlichkeit« / »nicht lediglich Merkmal ihrer Persönlichkeit, sondern Ausdruck der inneren religiösen Überzeugung«) einen Bruch in der Argumentationsführung Fereshta Ludins nahe. Doch handelt es sich wirklich um einen – gar 52 Ebd. 53 Ebd.
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strategischen Erwägungen geschuldeten – Bruch? Oder hat sich bei der Klägerin auf dem Weg vor Gericht nicht vielmehr schlicht die Einsicht durchgesetzt, dass die zunächst von ihr vorgenommene Differenzierung zwischen religiöser und persönlicher Überzeugung schwer durchzuhalten ist, da doch jeder »Ausdruck der inneren religiösen Überzeugung« als zutiefst persönlich zu qualifizieren sein dürfte? Dann hätten wir es statt mit einem verhandlungsstrategischen Bruch eher mit einer Akzentverschiebung zu tun. Abgezeichnet hatte sich diese bereits in einem Interview, dass Ludin unmittelbar nach Bekanntwerden ihrer Ablehnung durch die Schulbehörde im Juli 1998 dem Spiegel gegeben hatte: Auf die Feststellung des Journalisten, sie setze mit dem Kopftuch »doch ein religiös motiviertes Zeichen«, hatte sie defensiv geantwortet: »Ich beziehe das auf mich, und ich möchte andere weder davon überzeugen noch missionarisch vorgehen, sondern es geht um meine religiöse Einstellung, die ich für mich so entschieden habe.«54 In dieser Aussage erscheinen die persönliche und die religiöse Motivation untrennbar ineinander verflochten. Auf dem Weg vor die Gerichte gab Fereshta Ludin also die zunächst getroffene Unterscheidung zwischen dem Kopftuch als Persönlichkeitsmerkmal und dem Kopftuch als religiöses Bekenntniszeichen auf. Als zutiefst persönlicher Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses zum Islam wurde das Tragen des Kopftuchs zu einem Aspekt ihrer religiösen Lebensführung, für den sie den Schutz der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundrechtlich gewährleisteten Bekenntnisfreiheit beanspruchte.55 Nun reicht der Schutzschirm der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit bekanntlich weit: Sie gilt vorbehaltlos. Vorbehaltlos heißt allerdings nicht schrankenlos. So kann etwa der besondere Status von Beamtinnen und Beamten, die in Ausübung ihres Dienstes den zur Neutralität in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht verpflichteten Staat repräsentieren, gewisse Grundrechtseinschränkungen erfordern. Darüber hinaus können andere Verfassungsgüter bzw. kollidierende Grundrechte Dritter Einschränkungen in der Ausübung der Religionsfreiheit erfordern.56 Die ›Dritten‹ – das sind im Fall der Kopftuch tragenden Lehrerin die Schülerinnen und Schüler. Denn Art. 4 Abs. 1 und 2 GG 54 Der Spiegel 30/1998. 55 Sowie nach Art. 9 EMRK; vgl. den Wortlaut beider Regelungen im Anhang. 56 Zur Vielzahl der in diesem Fall zu berücksichtigenden Rechtspositionen vgl. etwa Morlok, Der Gesetzgeber ist am Zug, 382 f. Im Fall von Kollisionen gilt das (vom Verfassungsrechtler Konrad Hesse in den 1960er Jahren) so genannte Prinzip der »praktischen Konkordanz«, demzufolge »verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter […] in der Problemlösung einander so zugeordnet werden [müssen], daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Wo Kollisionen entstehen, darf nicht in vorschneller ›Güterabwägung‹ oder gar abstrakter ›Wertabwägung‹ eines auf Kosten des anderen realisiert werden. […] beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 28, Rn. 72 [Hervorhebung im Original]).
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schützt auch ihre Freiheit, religiöse Bindungen zu haben oder nicht, sich zu ihnen bekennen oder sie zu verbergen sowie ihr Bekenntnis auszuüben oder dies nicht zu tun.57 Die Stuttgarter Verwaltungsrichter machten nun in ihrer Entscheidung im Streitfall Ludin insbesondere die ›negative‹ Seite des Religionsfreiheitsrechts der Schülerinnen und Schüler geltend. Mit explizitem Bezug auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Streit um das Schulkreuz führten sie aus, das Recht auf Religionsfreiheit schließe die Freiheit ein, Glaubenshandlungen anderer fernzubleiben; und sie betonten: Diese Freiheit bezieht sich nach der Rspr. des BVerfG auch auf die Symbole, in denen sich ein Glaube oder eine Religion darstellt. Zwar hat grundsätzlich niemand ein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Hiervon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.58
Dass eine mit Kopfbedeckung unterrichtende muslimische Lehrerin in diese Kategorie fällt, stellten die Stuttgarter Richter nachdrücklich fest: »Beim Kopftuchtragen durch die Kl. [Klägerin, AR] handelt es sich um ein demonstratives religiöses Bekenntnis«.59 Und nach dem an dieser Stelle unvermuteten kulturgeschichtlichen Hinweis, der Kopf sei »seit jeher prominentester Körperteil zur Markierung von Gruppenzugehörigkeiten« gewesen,60 fuhren sie fort: »Ein Kopftuch, wie es die Kl. trägt, demonstriert auffallend und eindrucksvoll das religiöse islamische Bekenntnis«.61 Auch wenn Fereshta Ludin nicht die Absicht habe, mit ihrem Kopftuch für ihren Glauben zu werben, berge ihr Verhalten doch »die Gefahr einer, wenn auch ungewollten, Beeinflussung durch den als Respektsperson empfundenen Lehrer«, zumal insbesondere Grundschülerinnen und Grundschüler kaum in der Lage seien, »die religiöse Motivation für das Kopftuchtragen intellektuell zu verarbeiten und sich bewusst für Toleranz oder Kritik zu entscheiden«.62 Auch in der Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts lässt sich also eine Verlagerung des Schwerpunkts der Auseinandersetzung von der Frage nach 57 Darüber hinaus ist auch das Erziehungsrecht der Eltern betroffen, die nach Art. 6 Abs. 2 GG das Recht (und die Pflicht) haben, ihre Kinder zu erziehen, was auch die Freiheit einschließt, die Erziehung religiös auszurichten oder die Kinder ohne religiöse Wertbindungen aufzuziehen. 58 VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 960. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd.
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dem Sinngehalt des Kopftuchs auf seine potentielle Wirkung beobachten. Und wie zuvor die Verantwortlichen in der Schulbehörde, so entkoppelten auch die Stuttgarter Richter die Wirkung, die eine Lehrerin mit Kopfbedeckung auf Schüler- und Elternschaft haben kann, von der Bedeutung, die die Trägerin ihm zuschreibt, und von den Absichten, die sie mit ihrer Kopfbedeckung verfolgen (oder eben gerade nicht verfolgen) mag.63 Fereshta Ludin jedenfalls hatte im Laufe des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart schriftlich und mündlich erklärt, das Kopftuch sei »ein verpflichtendes Kleidungsstück, das ihr vom Glauben vorgegeben sei«. Zugleich aber hatte sie betont, die von ihr empfundene Verpflichtung, den Kopf zu bedecken, sei »kein Maßstab, der für andere zu gelten habe«.64 Die Stuttgarter Richter ließen sich von diesem Toleranzbekenntnis allerdings nicht überzeugen und erklärten: Die Religionsbezogenheit des Kopftuchs der Kl. kann auch nicht durch das weitere Vorbringen der Kl. in Abrede gestellt werden, sie wolle mit dem Kopftuch nicht für ihren Glauben werben, sie sei tolerant gegenüber anderen Angehörigen ihres Glaubens, die das Kopftuchtragen ablehnten, und ihre Verhaltensweise entspreche nur dem Bedürfnis, eine Blöße zu bedecken. Der erklärte Wille der Kl., insbesondere keine religiöse Werbung im Schulbereich vornehmen zu wollen, die ohnehin nicht dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterfallen würde, nimmt ihrem Kopftuchtragen nicht den Glaubensbezug.65
Letzteres hatte Fereshta Ludin allerdings auch nicht behauptet, sondern ganz im Gegenteil für das Tragen ihrer Kopfbedeckung ausdrücklich den Schutz des Grundrechts auf Religionsfreiheit in Anspruch genommen. Doch wie dem auch sei – mit der festgestellten »Religionsbezogenheit des Kopftuchs« war die Sache für die Stuttgarter Richter entschieden: Für »demonstrative religiöse Bekenntnisse« sei in der öffentlichen Schule, so ließen sie unter Hinweis auf die Karlsruher Entscheidung im ›Kruzifixstreit‹ wissen, nur in sehr engen Grenzen Raum. Zwar bestritten die Richter nicht, dass, wie Fereshta Ludin selbst ausgeführt hatte, die Neutralität des Staates im Sinne des Grundgesetzes für religiöse Lebensformen grundsätzlich offen sei. Doch mahnten sie, »in diesem Zusammenhang die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der Landesverfassung zu beachten«.66 Gegen eine allzu offene, unterschiedslos sämtliche Reli63 Wiederholt zogen sie dabei Vergleichslinien zum ›Kruzifixstreit‹. So argumentierten sie, einem an der Wand angebrachten Kreuz oder Kruzifix könne man unter Umständen »durch Nichtbeachtung aus[]weichen«, nicht aber dem Kopftuch der muslimischen Lehrerin, seien die Schülerinnen und Schüler doch »naturgemäß gezwungen […], während des Unterrichts den Lehrer ständig im Blick zu behalten« (ebd.). 64 Beide Zitate ebd. 65 Ebd. 66 Ebd.
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gionen und Weltanschauungen übergreifende Neutralität, so argumentierten sie, stünden sowohl die »christliche[n] Bezüge« des Grundgesetzes67 als auch die Verfassung des Landes Baden-Württemberg. Denn letztere gehe davon aus, so erläuterten die Verwaltungsrichter, dass »der Mensch dazu berufen [ist], in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes […] zu entfalten«. Sie sehe außerdem vor, dass die Erziehung »im Geist der christl. Nächstenliebe« zu gestalten sein; entsprechend seien die öffentlichen Grundschulen als christliche Gemeinschaftsschulen verfasst, in denen »die Kinder auf der Grundlage christl. und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen« würden.68 Entsprechend zogen die Stuttgarter Richter aus den »Wertentscheidungen« des Grundgesetzes und der Landesverfassung den bemerkenswerten Schluss, daß für Lehrer, die nichtchristlichen Religionen anhängen, ihre Religionsausübung im Dienst wohl nur unter engeren Voraussetzungen möglich ist, als dies bei Lehrern der Fall ist, die christlichen Religionen anhängen.69
Fereshta Ludin gab sich mit ihrer Niederlage nicht zufrieden. Das Stuttgarter Urteil wurde deshalb der nächst höheren Instanz, dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, zur Revision vorgelegt. In einem ausführlich begründeten Urteil bestätigte dieser jedoch im Juni 2001 die Entscheidung der Unterinstanz. Dabei erkannten auch die Mannheimer Richter zentrale Positionen Fereshta Ludins durchaus an. So erklärten sie, die Aussagen der Klägerin gäben »keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass sie das Kopftuch aus
67 Verwiesen wird u. a. auf die Präambel des Grundgesetzes, in der allerdings lediglich von einer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« die Rede ist (vgl. den Wortlaut im Anhang). 68 VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 961; vgl. dazu Art. 1, 12, 15 und 16 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953 (siehe Anhang). 69 VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 961. Die damit verbundene Kollision mit dem Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 3 GG (vgl. Wortlaut im Anhang) wird an dieser Stelle nicht erörtert. Auch gibt es an dieser Stelle keinen Hinweis auf die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur christlichen Gemeinschaftsschule getroffene Unterscheidung zwischen dem Christentum als »Kultur- und Bildungsfaktor« und dem geglaubten Christentum (vgl. oben Kapitel 4, Fn. 71). Bemerkenswert ist zudem die Rede von den »christlichen Religionen« (im Plural!) – gemeint sind wohl die christlichen Konfessionen. Mit den »nichtchristlichen Religionen« hingegen dürften über den Islam hinaus auch religiöse Bewegungen wie der in den 1980er Jahren erfolgreiche Bhagwanismus gemeint sein, dessen Anhänger nach dem Vorbild ihres spirituellen indischen Führers Bhagwan Shree Rajneesh (der sich später Osho nannte) spezifische rote Kleidung trugen. In der Frage, ob Lehrkräfte während des Unterrichts bhagwan-typische Kleidung tragen dürfen, war es bereits in den 1980er Jahren zu einer Reihe von Rechtskonflikten gekommen, die sämtlich auf Verbote hinausliefen; vgl. OVG Hamburg Bs I 171/84, Beschluss vom 26. 11. 1984; BayVGH 3 CS 85 A/1338, Beschluss vom 9. 9. 1985; bestätigt durch BVerwG 2 B 92.87, Beschluss vom 8. 3. 1988.
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religiösen Gründen trägt«.70 Auch bestätigten sie, dass das Tragen eines Kopftuchs als religiöse Praktik grundsätzlich durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit geschützt sei. Der Schutzschirm, den Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aufspanne, erstrecke sich nämlich, so betonten sie, »nicht nur [auf] die innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben«,71 sondern ebenso auf äußere Bekundungen. Folgerichtig stellte das Gericht fest, dass das Land Baden-Württemberg Fereshta Ludin in der Tat in der Ausübung ihrer religiösen Freiheitsrechte eingeschränkt habe, als es ihr die Einstellung in den Schuldienst verweigerte, weil sie darauf bestand, ihren Kopf auch während des Unterrichts zu bedecken.72 Die Mannheimer Richter machten in ihrer Entscheidung zudem unmissverständlich deutlich, dass es für die Frage, ob das »umstrittene Tragen eines Kopftuchs« in den Schutzbereich des Grundrechts auf Religionsfreiheit falle, unerheblich sei, ob das Kopftuchtragen in der islamischen Religionsgemeinschaft allgemein als verbindlich betrachtet werde oder nicht. Da das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, so ihre Argumentation, ein »Individualgrundrecht« sei, sei es »mit Blick auf Art. 4 GG ausreichend, wenn die Kl. [Klägerin, AR] das Kopftuch für sich aus individuellen religiösen Gründen als verbindlich ansieht«.73 Dennoch kamen auch die Mannheimer Richter zu der Überzeugung, dass die Weigerung des Schulamtes, Fereshta Ludin in den Schuldienst zu übernehmen, »verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden« sei.74 Zwar hoben sie ausdrücklich hervor, dass das Grundrecht auf Religionsfreiheit »die Entfaltung verschiedener Religionen und Bekenntnisse einschließlich des Islam« schütze,75 doch müsse in Betracht gezogen werden, dass die »Pflicht zur Neutralität des Staates in Fragen der Religion und des Glaubens keine distanzierende, abweisende Neutralität im Sinne der – laizistischen – Nichtidentifikation […], sondern eine respektierende, ›vorsorgende‹ Neutralität« sei.76 Der Staat, so die Mannheimer Richter, müsse daher, so heißt es in teilweise wörtlicher Übernahme von Formulierungen aus dem Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts,
VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2901. Ebd. Ebd. Alle Zitate ebd. Damit widersprachen die Richter des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs offen der Kultusministerin Annette Schavan, die ja gegenüber der Presse ihre ablehnende Haltung gegenüber der Einstellung einer Kopftuch tragenden Lehrerin unter anderem damit gerechtfertigt hatte, dass das Kopftuch auch unter Musliminnen und Muslimen »umstritten« sei und »nicht zu den religiösen Pflichten einer islamischen Frau« gehöre, weshalb eben »weltweit die allermeisten muslimischen Frauen kein Kopftuch« trügen; vgl. Die Zeit, 16. 7. 1998; auch Fn. 12 oben. 74 VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2901. 75 Ebd. 76 Ebd., 2902. 70 71 72 73
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die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen aufgreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und die für die Erfüllung seiner Aufgaben maßgebend sind. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei von überragender Prägekraft gewesen.77
Die Verantwortung für die Frage, wie diese allgemeine Vorgabe im Erziehungssektor im Konkreten umzusetzen sei, so erklärten die Richter des badenwürttembergischen Verwaltungsgerichtshofs, trage der zuständige Gesetzgeber. Ihm obliege es, so entschieden sie, »das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der christlichen Verwurzelung ausgleichend zu lösen.«78 Gegenüber ihren Richterkollegen aus der Landeshauptstadt stellten die Mannheimer Richter allerdings klar, dass die »zulässige Bejahung des Christentums« Grenzen habe und sich »nur auf dessen Anerkennung als prägender Kultur- und Bildungsfaktor, nicht aber auf bestimmte Glaubenswahrheiten« beziehen dürfe.79 Aus dieser Differenzierung zwischen der Anerkennung eines vom glaubenden Bekenntnis abgelösten ›Kulturchristentums‹ und dem innerlichen Bekenntnis zu Jesus Christus80 leiteten sie ab, dass Fereshta Ludin ihre Eignung für den Schuldienst nicht deshalb abgesprochen werden könnte, weil sie als Muslimin nicht in der Lage wäre, den staatlichen Erziehungsauftrag an den – im dargelegten kulturellen Sinne zu verstehenden – christlichen Gemeinschaftsschulen des bekl. [beklagten, AR] Landes bestmöglich zu erfüllen.81
Das Problem sahen sie vielmehr darin, dass die Bewerberin kompromisslos darauf bestehe, sich im Unterricht religiös zu bekennen. Der Eignungsmangel lag also nach Auffassung des Mannheimer Gerichts in »der von ihr praktizierten Wahrnehmung der Bekenntnisfreiheit«,82 die darauf schließen lasse, dass ihr die »Fähigkeit oder Bereitschaft« fehle, die Neutralität des Staates »nach Abwägung aller verfassungsrechtlich erheblichen Rechtsgüter hinreichend zu wahren«.83 Man wird die Mannheimer Entscheidung so lesen müssen, dass ein Eignungsmangel auch dann gegeben wäre, wenn eine christliche Lehrerin oder ein christlicher Lehrer darauf bestanden hätte, sich während des Unterrichts durch sichtbare Zeichen religiös zu bekennen, da auch in einem solchen Fall die Grenze zwischen der Bejahung des kulturprägenden Charakters des Christentums und einem Glaubensbekenntnis überschritten worden wäre; doch haben die Ebd., 2900. Vgl. auch BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 52. VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2900. Ebd. Die Unterscheidung verweist auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ aus dem Jahr 1975 zurück; dazu ausführlich oben Kapitel 4.2. 81 VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2901. 82 Ebd. 83 Ebd., 2902.
77 78 79 80
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Mannheimer Richter dies nicht erörtert. Die Frage allerdings sollte in der Kontroverse um das Kopftuch noch eine gewisse Rolle spielen.84 Interessant ist sie nicht zuletzt auch deshalb, weil sich damit die Entscheidung Fereshta Ludins, ihre Kopfbedeckung vor Gericht nicht lediglich als religiös unspezifische, vor allem persönlich bedeutsame Bekleidungsform, sondern entschieden als religiös motivierte Praktik auszuweisen und so unter den Schutz der grundrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit zu stellen, letztlich gegen sie wendete. Die Mannheimer Richter verfolgten diesen Argumentationsstrang aber nicht weiter, sondern konzentrierten sich in ihrer Urteilsbegründung vor allem darauf, die Neutralitätspflicht des Lehrpersonals als unabdingbare Voraussetzung für die Wahrung der religiösen Freiheitsrechte der Schülerinnen und Schüler bzw. ihrer Eltern zu begründen. Und an diesem Punkt kehrten sie schließlich auf den argumentativen Pfad der Stuttgarter Entscheidung zurück. So sprachen auch die Mannheimer Richter von der »Suggestivkraft« und von der »Signalwirkung« des Kopftuchs, die deshalb um so stärker sei, weil das Tragen eines Kopftuchs […] sich nicht in der Weise im Rahmen des sozial Üblichen [bewegt], dass es von den Schülern in erster Linie als Kleidungsstück ohne wesentlichen religiösen Bezug wahrgenommen würde.85
Die Frage, wie eine Lehrerin, die ihren Kopf bedeckt, auf Schülerinnen und Schüler wirkt, wurde so auch in der Mannheimer Entscheidung stärker gewichtet als die Frage, welche Bedeutung die Trägerin des Kopftuchs selbst ihrer Kopfbedeckung zuschreibt und welche Absichten sie mit dem Tragen eines Kopftuchs verfolgt. Maßgebend für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Kopftuchs wurde damit nicht sein subjektiver Sinngehalt, sondern seine soziale Wirkung. Um diesen Punkt zu plausibilisieren, verwiesen die Richter auch auf die »anhaltende kontroverse öffentliche Diskussion«86 um das Kopftuch. Unbeschadet der Tatsache, dass es sich bei Fereshta Ludin »um eine selbstständige und selbstbewusste Frau handelt, die sich auch im Berufsleben bewähren will«, könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin gegenüber Schülerinnen und Schülern den »Eindruck einer sich den Männern untergeordnet fühlenden, gesellschaftlich nicht emanzipierten Frau vermitteln würde« und folglich ein schlechtes Vorbild in Sachen Gleichberechtigung sei.87 Die Klage Fereshta Ludins wurde deshalb abgelehnt. Mit der Entscheidung des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs war der Rechtsweg auf Landesebene erschöpft. Fereshta Ludin steckte aber 84 85 86 87
Vgl. unten Kapitel 5.3. VGH Baden-Württemberg 4 S 1439/00, Urteil vom 26. 6. 2001, 2904. Ebd. Ebd., 2905. Zur Problematik der Bewertung des Kopftuchs unter dem Aspekt der Geschlechtergleichheit seitens der Gerichte vgl. etwa Britz, Das verfassungsrechtliche Dilemma.
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auch diese herbe Niederlage vor Gericht nicht einfach ein: Sie legte die Mannheimer Entscheidung dem Bundesverwaltungsgericht zur Revision vor – erneut ohne Erfolg. Die Bundesverwaltungsrichter bestätigten im Juli 2002 die Mannheimer Entscheidung, der sie auch argumentativ weitgehend folgten. So argumentierten sie, dass die Klägerin, da sie »das für sie als verpflichtend angesehene Bekleidungsgebot aus ihrem Glauben herleitet«,88 prinzipiell den Schutz des Grundrechts auf Religionsfreiheit genieße, machten aber zugleich deutlich, dass dieser Schutz nicht schrankenlos gewährleistet und im konkreten Fall durch »kollidierende Grundrechte Andersdenkender«89 (der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern) auf verfassungsrechtlich zulässige Weise begrenzt werde. Wie die Mannheimer Richter, so hoben auch die Bundesverwaltungsrichter hervor, dass die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nur gewährleistet werden könne, wenn »das Gebot staatlicher Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen« respektiert werde. Das gelte, so heißt es in der Entscheidung, »insbesondere im Bereich des staatlichen Schulwesens«.90 Anders als die Mannheimer Richter überließen es die Richter des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht den für die Schulpolitik zuständigen Landesparlamenten, diese Vorgabe schulpolitisch umzusetzen und die Grenzen der Religionsfreiheit in der öffentlichen Schule sowie die Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit konkurrierender Grundrechtsträger selbständig abzuwägen. Das bundesverwaltungsgerichtliche Urteil machte vielmehr sehr klare Vorgaben, die unmissverständlich in Richtung einer stärkeren Betonung der negativen Religionsfreiheit wiesen: In einer pluralen Gesellschaft, so heißt es in der Entscheidung, müsse der Staat auf die »sehr unterschiedlichen Elternauffassungen Rücksicht nehmen und jede religiöse Einflussnahme durch Lehrer unterbinden«. »Deshalb gewinnt das Neutralitätsgebot mit wachsender kultureller und religiöser Vielfalt – bei einem wachsenden Anteil bekenntnisloser Schüler – zunehmend an Bedeutung«.91 Keinesfalls, so machten die Bundesverwaltungsrichter klar, könne die wachsende religionskulturelle Vielfalt umgekehrt als Begründung für eine stärkere Berücksichtigung religiöser Bezüge in der Schule dienen.92 Damit gaben letztlich auch sie der Frage, wie das Kopftuch wirkt (bzw. wirken kann), stärkeres Gewicht als der Frage, was das Kopftuch bedeutet und 88 89 90 91 92
BVerwG 2 C 21.01, Urteil vom 4. 7. 2002, 12. Ebd., 13. Beide Zitate ebd. Beide Zitate ebd., 14. Ebd. Deutliche Kritik an dieser Entscheidung, die »Ausdruck eines nicht gelösten gesellschaftlichen Konflikts« sei, der »nur in einem Wechselspiel von sozial-kulturellen Normen und Rechtsnormen zufriedenstellend und befriedigend gelöst werden« könne, nicht aber auf dem Weg »›vorsorgender Konfliktlösung‹«, den das Bundesverwaltungsgericht mit seiner laizistischen Auslegung des Neutralitätsprinzips eingeschlagen habe, äußerten Morlok/ Krüper, Auf dem Weg zum »forum neutrum«?, 1021.
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was die Trägerin mit ihrer Kopfbedeckung beabsichtigt. Nachdrücklich hoben die Bundesverwaltungsrichter die wachsende Bedeutung der negativen gegenüber der positiven Religionsfreiheit hervor: Der Schutz vor möglicher religiöser Beeinflussung durch die letztlich nicht steuerbare Wirkung religiöser Zeichen obsiegte damit über das positive Recht, sich religiös zu bekennen. Maßgeblich für die Richter war dabei die bloße »Einwirkungsmöglichkeit« der Kopfbedeckung: Bereits die Eröffnung einer Einwirkungsmöglichkeit auf die Kinder verletzt Glaubensfreiheit und Elternrecht. […] Auf den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Beeinflussung der Schüler und des Eintritts konkreter Konflikte mit Eltern kommt es nicht an.93
Die überwiegend noch religionsunmündigen Kinder müssten vielmehr »von vornherein vor unzulässigen Einwirkungen geschützt werden.«94 Auch vonseiten des Bundesverwaltungsgerichts erhielt Fereshta Ludin also keinen Beistand. Verwaltungsgerichtlich war mit der Entscheidung der Bundesverwaltungsrichter das letzte Wort gesprochen. Es blieb der Weg in die Verfassungsbeschwerde. Unterstützt von zwei der großen islamischen Dachverbände in Deutschland, dem Zentralrat der Muslime in Deutschland und dem Islamrat, sowie außerdem von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di,95 schlug die Plüderhausener Lehrerin auch diesen letzten Abschnitt des Rechtsweges ein. Noch vor Ablauf des Jahres 2002 legte sie Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Fortan richteten sich die Augen der Öffentlichkeit auf die Karlsruher Richter. Doch der nach dem jahrelangen ergebnislosen Gezerre erwartete und erhoffte »Schlussstrich von höchster Stelle«96 blieb aus. Denn die Verfassungsrichter entschieden, nicht selbst zu entscheiden. Zwei Leitsätze stellten die Verfassungsrichter ihrem Urteil vom 24. September 2003 voran. Der erste klingt nach einem Sieg für Fereshta Ludin: 1. Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
Mit dem zweiten Leitsatz aber stellten sie die Weichen, die es möglich machten, diesen vermeintlichen Sieg in eine Niederlage zu verwandeln:
93 94 95 96
BVerwG 2 C 21.01, Urteil vom 4. 7. 2002, 17; vgl. auch ebd., 14. Ebd. Vgl. Fn. 2 oben. So titelte erwartungsfroh am Vortrag der Karlsruher Entscheidung die Heilbronner Stimme, 23. 9. 2003.
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2. Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.97
Anders als die zuvor mit der Sache befassten Verwaltungsgerichte waren also die Verfassungsrichter zu dem Schluss gekommen, dass das Land Baden-Württemberg Fereshta Ludin sehr wohl in verfassungswidriger Weise in ihren religiösen Grundrechten eingeschränkt hatte, als es ihr die Übernahme in den Schuldienst des Landes verweigerte, weil sie darauf beharrte, im Unterricht das Kopftuch zu tragen – soweit der erste Leitsatz. Doch es folgte der zweite: Und in diesem stellten die Richter klar, dass es nicht grundsätzlich verfassungswidrig sei, Lehrerinnen zu verbieten, im Unterricht eine Kopfbedeckung zu tragen. Gegen die Verfassung verstoßen hatten die Verantwortlichen in Baden-Württemberg vielmehr nur deshalb, weil das Verbot eine Entscheidung im Einzelfall darstellte und sich nicht auf eine gesetzliche Grundlage stützen konnte; diese aber, so machten die Richter klar, könne der Gesetzgeber durchaus schaffen. Was er dann ja bekanntlich mit dem rasch erarbeiteten und Anfang April 2004 zügig verabschiedeten Gesetz auch tat, so dass sich der halbe Sieg Fereshta Ludins schon bald in eine ganze Niederlage wandelte.98 Doch bleiben wir zunächst noch bei der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter beschäftigten sich keineswegs nur mit der Frage der Wirkung des Kopftuchs, sondern auch und durchaus ausführlich mit der Frage nach seiner Bedeutung und holten zu diesem Zweck auch Expertengutachten ein.99 Nach aufmerksamer Prüfung der Sachlage kamen sie zu dem Ergebnis, dass das »von Musliminnen getragene Kopftuch« ein »Kürzel für höchst unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen« sei:
97 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, Leitsätze. 98 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 1. 4. 2004; dazu ausführlicher weiter unten in Kapitel 5.2. 99 So eine Stellungnahme der Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakas¸og˘lu (damals Universität Duisburg/Essen), die in ihren Schlussfolgerungen dezidiert »für eine Betrachtung des konkreten Einzelfalls« plädierte: Maßstab der Zulassung oder Ablehnung einer Bewerberin, so die Autorin, dürfe »nicht eine Übereinstimmung mit einem nicht näher bestimmbaren Common Sense im äußeren Erscheinungsbild« sein (Karakas¸og˘lu, Stellungnahme, 9 f). Als weitere Sachverständige wurden ausweislich der Angaben des Bundesverfassungsgerichts »zu Fragen einer möglichen Beeinflussung von Kindern im Grundund Hauptschulalter durch religiöse Symbole in der Schule aus kinder- und entwicklungspsychologischer Sicht« (BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 28) – und also wiederum zu der Frage der Wirkung des Kopftuchs – der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Peter Riedesser (Hamburg), der Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Thomas Bliesener (Kiel) sowie die Psychologiedirektorin Ingeborg Leinenbach vom Oberschulamt Stuttgart gehört.
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Das Kopftuch ist – anders als das christliche Kreuz […] – nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol. Erst im Zusammenhang mit der Person, die es trägt, und mit deren sonstigem Verhalten kann es eine vergleichbare Wirkung entfalten.100
So könne es Ausdruck des Wunsches sein, »religiös fundierte Bekleidungsregeln einzuhalten«; ebenso gut könne es aber auch als »ein Zeichen für das Festhalten an Traditionen der Herkunftsgesellschaft« gedeutet werden; auch könne es als »politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen [werden], das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft, wie individuelle Selbstbestimmung und insbesondere Emanzipation der Frau« ausdrücke.101 Allerdings zeige die wissenschaftliche Forschung, dass »angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden« dürfe und das Kopftuch umgekehrt für junge Musliminnen auch ein Instrument der Selbstbestimmung sein könne.102 Das Kopftuch also ist, so die höchstrichterliche Einsicht, für eine Vielzahl von Deutungen offen. Aus dieser Einsicht zogen sie nun jedoch nicht etwa den – durchaus naheliegenden103 – Schluss, dass es deshalb für die Frage der Zulässigkeit des Kopftuchs darauf ankomme, im Einzelfall zu ermitteln, welche Bedeutung die jeweilige Trägerin ihrer Kopfbedeckung zuschreibt und ob sie verfassungswidrige Absichten mit ihrer Bekleidung verfolgt.104 Die Konsequenz der Karlsruher Richter war eine andere. Auch sie kapitulierten letztlich vor der Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten und schwenkten auf die Linie der vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen ein, die die Wirkung des Kopftuchs für maßgebend erklärt und sich damit der Frage nach seiner Bedeutung und den Absichten der jeweiligen Trägerin gleichsam zu entledigen versucht hatten: Für die Beurteilung der Frage, ob die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, einen Eignungsmangel begründet, kommt es darauf an, wie ein Kopftuch auf einen Betrachter wirken kann.105
100 101 102 103
BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 50. Ebd., 50 f. Ebd., 52. Vgl. nur die Positionierung der vom Gericht bestellten Expertin Karakas¸og˘lu (vgl. Fn. 99 oben). 104 Allerdings erkannten sie an, dass Fereshta Ludin selbst überzeugend dargelegt habe, dass sie die Kopfbedeckung aus religiösen Motiven trage (BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 40 und 53) und erklärten ausdrücklich, dass es keinen Hinweis darauf gebe, dass die Klägerin mit ihrer Kopfbedeckung politisch motivierte islamisch-fundamentalistische Ziele verfolge (ebd., 51). 105 Ebd., 53.
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Ausschlaggebend sei, wie die Kopfbedeckung im »objektive[n] Empfängerhorizont« verstanden werde.106 Damit schrieben die Bundesverfassungsrichter ihre Entscheidung in das Argumentationsmuster ein, das die vorangegangenen Instanzen vorgezeichnet hatten. Dass jedoch mit dieser Verlagerung der verfassungsrechtlichen Abwägung von der Bedeutung des strittigen Zeichens und den mit ihm verknüpften Absichten auf seine Wirkung keine Vereindeutigungsgewinne zu erzielen waren, da auch auf Rezipientenseite mit den vielfältigsten und frei flottierenden Sinnzuschreibungen auf das Kopftuch zu rechnen ist, mussten die Verfassungsrichter allerdings rasch eingestehen. So erklärte die Senatsmehrheit, es seien »alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Kopftuch verstanden werden kann, bei der Beurteilung zu berücksichtigen«.107 Auch in der Karlsruher Entscheidung blieben deshalb Bedeutung, Absicht und Wirkung des Kopftuchs eng aufeinander bezogen. Doch ist überhaupt mit einer Wirkung des Kopftuchs auf die (religionsunmündigen) Schulkinder zu rechnen? Die Richtermehrheit ließ sich von entwicklungspsychologisch ausgewiesenen Sachverständigen überzeugen, dass die Annahme, Schulkinder würden durch die tägliche Begegnung mit einer Kopftuch tragenden Lehrerin unzulässig beeinflusst, empirisch in keiner Weise gesättigt war, sondern dass Konflikte vor allem dann zu erwarten seien, wenn Spannungen zwischen Eltern und der Lehrkraft hinzuträten, wofür es jedoch im konkreten Streitfall keinerlei greifbare Anhaltspunkte gebe.108 Warum sie dennoch die möglichen Wirkungen, die eine Lehrerin mit Kopfbedeckung auf Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern ausüben kann, in den Mittelpunkt ihrer verfassungsrechtlichen Abwägung stellten, geht aus der Argumentation nicht schlüssig hervor. Vielmehr machten die Karlsruher Richter durchaus klar, dass es nach ihrer Betrachtung der Streitlage keine greifbaren Anhaltspunkte für die Befürchtung gebe, dass von Fereshta Ludin eine »konkrete Gefährdung« für den Schulfrieden ausgehe. Dass die Schulbehörde mit ihrer Ablehnung Ludins versucht hatte, »abstrakte[] Gefährdungen« abzuwehren, erachteten sie zwar für grundsätzlich legitim, wiesen jedoch mit Nachdruck darauf hin, dass Grundrechtseinschränkungen, die zur Abwehr solch ›abstrakter Gefahren‹ vorgenommen werden, an sehr enge Bedingungen geknüpft seien. So erklärten sie: Sollen bereits derartige bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts […] und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als […] die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts aus Art. 4 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd., 55 f u. 58. Zu den Sachverständigen vgl. die Angaben in Fn. 99 oben.
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Abs. 1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt. Daran fehlt es hier.109
Damit wiesen die Verfassungsrichter die Entscheidung wieder an die Politik zurück. Wie im zweiten Leitsatz ihres Urteils bündig formuliert, übertrugen sie die Verantwortung für die Frage, ob angesichts des religionskulturellen Wandels eine »Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule« vorzunehmen sei oder nicht, dem zuständigen Gesetzgeber.110 Die Angelegenheit lag damit wieder in den Händen des baden-württembergischen Landesparlaments, das nun, wenn es denn eine Einstellung Fereshta Ludins in den Schuldienst verhindern wollte, tun musste, was die parlamentarische Mehrheit 1998 gegen die Partei der Republikaner so vehement abgelehnt hatte: Es musste ein allgemeines Gesetz erlassen, das muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht untersagte. Das freilich, so machte die Senatsmehrheit klar, durfte so nicht in dem Gesetz stehen, da der Gesetzgeber, wie die Richtermehrheit unmissverständlich betonte, »das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen […] zu beachten«111 und »auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten« habe.112 Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht also letztlich einer Entscheidung im Konflikt enthielt und lediglich allgemeine Rahmenbedingungen für eine Konfliktregelung formulierte, gibt der Duktus der Karlsruher Urteilsbegründung zu der Einschätzung Anlass, dass die Senatsmehrheit mit einer gegenüber religiösen Bezügen eher offenen Ausgestaltung der Neutralitätsforderung im schulischen Raum sympathisierte. Allerdings gestanden die fünf Richter ausdrücklich zu, dass den verfassungsrechtlichen Vorgaben – insbesondere angesichts der »umfassende[n] Gestaltungsfreiheit« der Länder im Schulwesen113 – auf mehr als nur einem Weg entsprochen werden könne. Die einzelnen Länder, so erklärten sie, könnten also durchaus »zu verschiedenen Regelungen kommen« und »auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung« könnten dabei Berücksichtigung finden.114 Die »Kleinstaaterei bei der Kleider-
109 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 49. Die Richter betonten, dass »gerade dann«, wenn auf die wachsende religionskulturelle Vielfalt »mit einer strikteren Zurückdrängung jeglicher religiöser Bezüge geantwortet« werde, die Entscheidung nicht der Schulverwaltung überlassen werden könne (ebd., 69). 110 Vgl. Fn. 97 oben. 111 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 39. 112 Ebd. 113 Ebd., 47. 114 Ebd.
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ordnung«, wie es kurz darauf in der Berliner tageszeitung hieß, war damit verfassungsrechtlich ausdrücklich abgesegnet.115 In der Urteilsbegründung skizzierten die Verfassungsrichter des Weiteren zwei mögliche Pfade, die jene Bundesländer einschlagen konnten, die eine gesetzliche »Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule«116 anstrebten: Einerseits, so betonten die Karlsruher Verfassungshüter, sei es möglich, »die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag im Bemühen um Integration zu leisten«.117 Insofern die wachsende religiöse Pluralität allerdings »auch mit einem größeren Potential möglicher Konflikte in der Schule verbunden« sei, möge es aber andererseits auch, so konzedierten sie, gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte [….] von vornherein zu vermeiden.118
Mag man auch aus dem Duktus des Karlsruher Urteils eine gewisse Präferenz für den ersten der beiden aufgezeigten Pfade herauslesen – die Verantwortung für die Entscheidung zwischen den beiden Wegen delegierten die Bundesverfassungsrichter an die Landesparlamente. So hatte sich die baden-württembergische Hoffnung zerschlagen, Karlsruhe möge dem Land den schwierigen Entscheidungsprozess abnehmen oder doch zumindest klar die Richtung für eine Konfliktregelung weisen. Das Landesparlament musste die politische Verantwortung in dieser gesellschaftlich hoch bedeutsamen Streitsache selbst übernehmen. Den Bundesverfassungsrichtern sollte später vorgeworfen werden, den politisch Verantwortlichen keine deutlich erkennbaren Leitlinien für ihre Entscheidung in der Konfliktsache an die Hand gegeben zu haben.119 Doch so un115 116 117 118
taz, 25. 9. 2003. BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 64. Ebd., 65. Ebd. Diesen Weg hatte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung im Fall Ludin mit deutlichen Worten privilegiert; vgl. BVerwG 2 C 21.01, Urteil vom 4. 7. 2002, 14, sowie Fn. 91 bis Fn. 93 oben. 119 So auch in einer ersten Reaktion die Einschätzung der verantwortlichen Ministerin Annette Schavan, die »entscheidungsleitende Hinweise« in der Karlsruher Entscheidung vermisste (Südkurier, 25. 9. 2003). Aus fachwissenschaftlicher Sicht zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Heinig, The Headscarf; auch Sacksofsky, Die Kopftuch-Entscheidung, 2003, 3301, bemängelt die »Unentschlossenheit« des Urteils und fürchtet, dass durch die »Betonung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers […] die Unterschiede zwischen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten und Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt weit ein[geebnet]« würden (ebd.).
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scharf wie vielfach behauptet waren die Vorgaben aus Karlsruhe letztlich nicht: Denn die Senatsmehrheit wurde nicht müde zu unterstreichen, dass eine gesetzliche Regelung, welchem der beiden aufgezeigten Pfade auch immer sie folge, nur dann verfassungsmäßig sei, »wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden«.120 Gleich ob die religiösen Freiheitsräume also eher eng oder eher weit gefasst werden: Sie müssen, hinter diese Forderung wich die Mehrheit des Zweiten Karlsruher Senats nicht zurück, für Glaubende aller Religionen gleich – gleich eng oder gleich weit – sein. Diese Entschiedenheit, mit der die fünf Verfassungsrichter den Gleichheitsgrundsatz zum unumstößlichen Prinzip jeder gesetzlichen Regelung des Konflikts erklärten, fand in der kritischen Rezeption des Urteils zunächst wenig Beachtung. Doch die diesbezüglichen Ausführungen im Karlsruher Mehrheitsvotum verdienen Aufmerksamkeit. Denn die Gleichheitsidee, die das Gericht dabei zugrunde legte, ist anspruchsvoll: In der Schlusspassage ihres Urteil machten die Karlsruher Richter deutlich, dass dem Gleichheitsgrundsatz nicht Genüge getan sei, wenn ihm rein formalistisch, im Sinne einer Unterwerfung aller unter dieselbe Regel, entsprochen werde. Vielmehr verfolgten sie eine starke inhaltliche Idee der Gleichheit, nach der nur solche Regeln beschlossen werden dürfen, die alle – und zwar in ihrer Verschiedenheit – im gleichen Maße berücksichtigen.121 So heißt es gegen Ende der ausführlichen Urteilsbegründung, dass eine gesetzliche Regelung, die – wie das Verbot religiös motivierter Kleidung – in erheblichem Maße in die Glaubensfreiheit eingreife, Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit unterschiedlich intensiv [betrifft], je nachdem, ob sie die Befolgung bestimmter Bekleidungssitten als zur Ausübung ihrer Religion gehörig ansehen oder nicht.122
Und es klingt wie eine integrationspolitische Warnung, wenn die Richter hinzufügten: »Dementsprechend hat sie besondere Ausschlusswirkungen für bestimmte Gruppen.«123 Wie berechtigt diese Warnung war, sollte die nachfolgende Entwicklung zeigen. Denn es kam, wie bereits im vorangehenden Ab120 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 71. 121 Zur politisch-philosophischen Idee der Gleichheit vgl. Menke, Spiegelungen, besonders 22 – 24. Vor diesem Hintergrund, aber mit direktem Bezug auf die Karlsruher Entscheidung im Kopftuchstreit: Boshammer, Von gleichen Rechten in ungleicher Lage; sowie allgemein zur rechtsphilosophischen Problematik, mit Blick auf verschiedene Konfliktkonstellationen: dies., Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit. Für die »Würde der Differenz« plädierte auch der evangelische Theologe Jürgen Moltmann (Die Zeit, 26. 2. 2004), suchte damit aber vor allem der seines Erachtens freiheitsgefährdenden Gleichgültigkeit gegenüber religiöser Zeichenhaftigkeit zu begegnen und eine Privilegierung christlicher Bekenntniszeichen gegenüber dem Kopftuch zu legitimieren. Vergleichbar argumentierte auch Wolfgang Huber (vgl. etwa das Interview in der taz, 8. 11. 2003; auch Der Tagesspiegel, 9. 10. 2003). 122 BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 70. 123 Ebd.
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schnitt knapp skizziert wurde, zu einem »Vormarsch der Verbote«,124 und zwar, wie zu präzisieren ist, zu einem Vormarsch der Kopftuchverbote. BadenWürttemberg machte den Anfang: Ein gutes halbes Jahr nach der Karlsruher Entscheidung trat eine Neureglung des Schulgesetzes in Kraft, nach der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen […] in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben [dürfen], die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt.125
So weit, so gut. Kritisch ist vor allem das, was folgt: »Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg« (nach denen die öffentlichen Grundschulen als ›Christliche Gemeinschaftsschulen‹ verfasst sind und die Jugend »auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungsund Kulturwerte« »in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe« erzogen wird)126 »und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.«127 Diese Ausnahmeklausel für christlich-abendländische Traditionsbestände mit dem Gleichheitsgrundsatz in Einklang zu bringen, den das Bundesverfassungsgericht so entschieden eingefordert hatte, sollte den Gerichten noch einigen argumentativen Aufwand abverlangen. Doch zunächst einmal ist festzustellen: Das Kopftuch findet in dem badenwürttembergischen Gesetz keine Erwähnung. Und auch keines der Gesetze, die in der Folge in anderen Bundesländern erlassen wurden, verbietet explizit oder gar ausschließlich die Kopfbedeckung muslimischer Frauen; vielmehr sind sämtliche Gesetze so formuliert, dass auf ihrer Basis auch religiöse Bekleidungsformen anderer Religionen verboten werden könnten – wozu es allerdings bisher in keinem Bundesland kam.128 Vermieden wurde in den Gesetzen auch 124 Focus 14/2004. 125 Landtag von Baden-Württemberg, Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 1. 4. 2004. 126 Vgl. den Wortlaut der im Gesetz erwähnten Artikel aus der Verfassung des Landes BadenWürttemberg vom 11. 11. 1953 im Anhang. 127 Landtag von Baden-Württemberg, Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 1. 4. 2004. Im Schlusssatz wird noch hinzugefügt: »Das religiöse Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht nach Artikel 18 Satz 1 der Verfassung des Landes BadenWürttemberg« (vgl. den Wortlaut im Anhang). 128 Lediglich mittelbar wurde der Ordenshabit katholischer Nonnen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen strittig, als eine muslimische Lehrerin sowie eine Lehramtsan-
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jeder geschlechtsspezifische Bezug, der das Gleichheitsgebot ebenso verletzt hätte: So ist entweder neutral von »Lehrkräften« (wie in der baden-württembergischen Regelung) oder von »Lehrerinnen und Lehrern« (wie etwa in Nordrhein-Westfalen) die Rede. Betroffen von den Gesetzesänderungen sind nichtsdestotrotz bisher ausschließlich Frauen, genauer : muslimische Frauen, auf die die Verbote ja politisch auch zielten.129 Bemerkenswert ist zudem, dass keines der acht Bundesländer, die sich für eine gesetzliche Regelung entschieden, dem ersten der beiden von den Karlsruher Richtern aufgezeigten möglichen Pfade folgte, der in Richtung einer gegenüber religiösen Bezügen offenen Ausgestaltung des Neutralitätsgebots wies. Ohne Ausnahme folgten alle dem zweiten Pfad: Sie entschieden sich dafür, religiöse Bekundungen in der Schule (oder im öffentlichen Dienst insgesamt) auf Distanz zu halten. Allerdings haben die meisten Länder, dem Beispiel BadenWürttembergs folgend, in ihren Gesetzen Formulierungen gewählt, nach denen die, wie es etwa in der 2006 verabschiedeten nordrhein-westfälischen Regelung heißt, »Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen« seitens der Lehrkräfte diesem Verbot nicht zuwiderläuft.130 Allen Verdachtsmomenten hinsichtlich einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zum Trotz haben diese ›Kopftuchgesetze‹, die Ausnahmeklauseln wärterin auf den Fall von Ordensschwestern verwiesen hatten, die mit Billigung der jeweiligen Schulämter im Habit profane Fächer unterrichteten; sie sahen hierin einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG Art. 3. Beide unterlagen letztlich vor Gericht; vgl. VG Stuttgart 18 K 3562/05, Urteil vom 7. 7. 2006 und die Revision durch VGH BadenWürttemberg 4 S 516/07, Urteil vom 14. 3. 2008 sowie VG Düsseldorf 2 K 6225/06, Urteil vom 5. 6. 2007. Näheres dazu unten in Abschnitt 5.3. 129 Vgl. neben den Äußerungen in der medialen Öffentlichkeit auch die Aussprache zum Gesetzesvorschlag im Landtag von Baden-Württemberg (Plenarprotokoll 13/67, 1. 4. 2004, 4699 – 4724). 130 Landtag Nordrhein-Westfalen, Erstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. 6. 2006. Im hessischen Gesetz ist von der »christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition« die Rede (Hessischer Landtag, Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität vom 18. 10. 2004). Vergleichbare Ausnahmeklauseln wurden auch im Saarland und in Bayern gewählt (vgl. Landtag des Saarlandes, Gesetz Nr. 1555 zur Änderung des Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens im Saarland vom 23. 6. 2004; Landtag des Freistaates Bayern, Gesetz zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vom 23. 11. 2004). Auf entsprechende Klauseln verzichtet haben Niedersachen und Bremen (vgl. Niedersächsischer Landtag, Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes und des Niedersächsischen Besoldungsgesetzes vom 29. 4. 2004; Bremische Bürgerschaft, Gesetz zur Änderung des Bremischen Schulgesetzes und des Bremischen Schulverwaltungsgesetzes vom 28. 6. 2005). Allein das Berliner Gesetz untersagt ausdrücklich religiöse Bekenntniszeichen gleich welcher religionskultureller und weltanschaulicher Provenienz, und dies nicht nur in der Schule, sondern auch im Bereich der Rechtspflege, im Justizwesen sowie bei der Polizei; außerdem formuliert es eine entsprechende Soll-Vorschrift für Kindertagesstätten (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin, Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes vom 27. 1. 2005).
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für Darstellungen aus dem Zeichenreservoir des ›christlichen Abendlandes‹ enthalten, jedoch bisher sämtlichen verwaltungsgerichtlichen Prüfungen standgehalten.131 Die baden-württembergische Regelung lag auf Initiative Fereshta Ludins 2004 dem Bundesverwaltungsgericht vor. Dessen Richter sahen in der Ausnahme der »Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte« aus dem Verbot keinen Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip. Was so offenkundig im Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz zu stehen scheint, den die Karlsruher Richter in ihrer Kopftuchentscheidung so nachdrücklich betont hatten, wurde von den Bundesverwaltungsrichtern vielmehr unter Zuhilfenahme der Unterscheidung von allgemeiner religiöser ›Kultur‹ und spezifischem religiösem ›Bekenntnis‹ aufgelöst. Sie bedienten sich damit jenes Kunstgriffs, mit dem die Bundesverfassungsrichter knapp dreißig Jahre zuvor die ›Christliche Gemeinschaftsschule‹ für verfassungskonform erklärt hatten.132 Der in dem baden-württembergischen Schulgesetz »verwendete Begriff des ›Christlichen‹ ist«, so erklärten sie, im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1975 auszulegen. Er bezeichnet eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht.133
Dasselbe gelte hinsichtlich der im Gesetz hergestellten Bezugnahmen auf die in der Landesverfassung getroffenen Entscheidungen, die schulische Erziehung im Geist des Christentums auszugestalten.134 Auch hier seien, so die Richter, »christliche Tugenden und nicht […] spezielle Glaubensinhalte« angesprochen.135 131 Der fachwissenschaftlichen Prüfung auf Vereinbarkeit mit dem deutschen und europäischen Antidiskriminierungsrecht halten die landesrechtlichen Regelungen zum Kopftuch allerdings nicht stand; vgl. Walter/Ungern-Sternberg, Landesrechtliche Kopftuchverbote; zur Gleichheitswidrigkeit des nordrhein-westfälischen Gesetzes vgl. dies., Verfassungswidrigkeit. Zur Interpretation der christlich-abendländischen Ausnahmeklauseln in den gesetzlichen Verboten für Lehrkräfte, ihre religiösen Wertbindungen in der Schule äußerlich zu bekunden, vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang, 46 – 49. 132 Vgl. die drei zugleich gefällten Entscheidungen für Nordrhein-Westfalen: BVerfG 1 BvR 548/68, Beschluß vom 17. 12. 1975, für Baden-Württemberg: BVerfG 1 BvR 63/68, Beschluß vom 17. 12. 1975, und für Bayern: BVerfG 1 BvR 428/69, Beschluß vom 17. 12. 1975. Ausführlich dazu oben Kapitel 4.2. 133 BVerwG 2 C 45.03, Urteil vom 24. 6. 2004, 37. 134 Vgl. die Art. 12 Abs. 1, 15 Abs. 1 und 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg im Anhang. 135 BVerwG 2 C 45.03, Urteil vom 24. 6. 2004, 38; kritisch dazu: Böckenförde, Anmerkung, 1182. Das Bundesverwaltungsgericht griff damit auf Argumentationslinien zurück, die zum Teil bereits von den vorangegangenen Entscheidungen des baden-württembergischen Ver-
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Allerdings forderten die Bundesverwaltungsrichter ausdrücklich, dass die Ausnahmeklausel zugunsten der »Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte« in der Verwaltungspraxis auch tatsächlich dahingehend ausgelegt werde, dass Zeichen oder Symbole, die auf das Christentum verweisen, nur dann zugelassen werden, wenn sie nicht einen persönlichen Bekenntnischarakter haben, sondern allgemein anerkennungsfähige »Bildungsund Kulturwerte oder Traditionen«, wie es im strittigen § 38 des baden-württembergischen Schulgesetzes heißt, zum Ausdruck bringen.136 Mit dieser Forderung ließen die Richter die »Intention und Zielrichtung des Gesetzgebers« – der, wie neben öffentlichen Äußerungen vonseiten politisch Verantwortlicher auch die Parlamentsdebatten zeigen,137 erkennbar christliche und jüdische Symbole aus dem allgemeinen Verbot ausnehmen wollte – »ins Leere laufen«.138 Zulässig ist nach Auffassung der Bundesverwaltungsrichter lediglich die Vermittlung christlicher Bildungs- und Kulturwerte […], denen jeder auf dem Boden des Grundgesetzes stehende Beamte unabhängig von seiner religiösen Überzeugung vorbehaltlos zustimmen kann.139
Eine Privilegierung des Christentums im Sinne einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft haben die Bundesverwaltungsrichter hingegen ausdrücklich nicht
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waltungsgerichtshofs in Mannheim sowie des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet worden waren: So hatten sowohl die Mannheimer Richter 2001 auf das Karlsruher Urteil zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ aus dem Jahr 1975 verwiesen und entsprechend zwischen einem Christentum, das glaubend bekannt und einem Christentum, das ›nur‹ als bedeutender kultureller Faktor anerkannt wird, unterschieden. Ähnlich hatten die Karlsruher Richter 2003 festgestellt, dass das »Gebot strikter Gleichbehandlung« die Berücksichtigung religionskultureller (insbesondere kulturchristlicher) Bezüge in der öffentlichen Schule nicht ausschließen müsse. Die dem Staat gebotene weltanschauliche Neutralität sei daher »nicht als distanzierende […], sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen« (BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 43). Dies gelte »insbesondere auch für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Pflichtschule, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren.« Und mit explizitem Verweis auf die wegweisende Karlsruher Entscheidung des Jahres 1975 fuhren sie erläuternd fort: »Danach sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten« (ebd., 44). »Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte von neutraler Warte«, so heißt es in dem Urteil des Zweiten Senats, »ist etwas anderes als die Bekundung eines individuellen Bekenntnisses. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, weil es bei der Darstellung nicht um persönliche innere Verbindlichkeit geht« (BVerwG 2 C 45.03, Urteil vom 24. 6. 2004, 29). Vgl. Fn. 127 oben. So Böckenförde, Anmerkung, 1183. Ähnlich argumentiert Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang, 49. BVerwG 2 C 45.03, Urteil vom 24. 6. 2004, 37.
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gebilligt; eine solche wird vielmehr entschieden für »unzulässig[]« erklärt.140 Im Ergebnis läuft das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2004 insofern auf eine religiöse Bezüge in der Schule distanzierende Ausgestaltung des Neutralitätsgebots zu. Das 2002 von Berlin nach Leipzig umgezogene Gericht bestätigte damit die Haltung, die es bereits zwei Jahre zuvor in seiner ersten Entscheidung im ›Fall Ludin‹ eingenommen hatte, als die verantwortlichen Richter eine striktere Auslegung des Neutralitätsprinzips als ›Königsweg‹ in einer religionskulturell zunehmend pluralen Gesellschaft ausgewiesen hatten.141 Der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts haftet damit eine eigentümliche Ambivalenz an: Auf der einen Seite legten die Leipziger Richter die baden-württembergische Neuregelung mit ihrer Ausnahmeklausel für Traditionsbestände des ›christlichen Abendlandes‹ (durch den Rückgriff auf die Unterscheidung von religiöser ›Kultur‹ und religiösem ›Bekenntnis‹) zwar verfassungskonform aus, so dass die Landesregierung ihr Ziel erreichte, das Kopftuch der muslimischen Lehrerin zu verbieten. Andererseits aber verweigerten die Richter einer Privilegierung christlicher oder jüdischer Bekenntnisbekundungen ausdrücklich ihre Zustimmung – und dies sollte seine Wirkung auf den Fortgang der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in Sachen Kopftuch nicht verfehlen.142 Im Streitfall Fereshta Ludin markierte das Urteil aus Leipzig jedoch den Schlusspunkt: Die junge Lehrerin gab nach der erneuten Niederlage vor Gericht – der fünften in sechs Jahren – auf. Zermürbt nicht zuletzt von den teils verletzenden Angriffen auf ihre Person, die in der öffentlichen Kontroverse nicht ausgeblieben waren,143 zog sie sich aus der öffentlichen Arena zurück. In einer über ihren Anwalt verbreiteten Stellungnahme verteidigte sie noch einmal den individuellen religiösen Charakter ihrer Kopfbedeckung und verwahrte sich gegen die Politisierung des Konflikts: Das Kopftuch trage ich ausschließlich aus religiösen und keineswegs aus politischen oder anderen Gründen. Verschiedene Medien, [sic!] sowie manche politischen Kreise 140 Ebd. 141 Vgl. Fn. 91 bis Fn. 93 oben. 142 Vgl. dazu unten Kapitel 5.3; dort insbesondere die Ausführungen zum Rechtsstreit der Lehrerin Doris Graber. 143 Die Leserbriefe sind in dieser Hinsicht aufschlussreich: Im Vorfeld der Karlsruher Entscheidung wurden etwa in Leserbriefen an die Redaktion der Welt am Sonntag Parallelen zu Selbstmordattentätern suggeriert und Ludin wurde aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren; vgl. Welt am Sonntag, 13. 7. 2003 (Forum: Briefe an die Redaktion). Alice Schwarzer bemühte im unmittelbaren Vorfeld der Karlsruher Entscheidung eine ehemalige Kommilitonin Ludins, die zu berichten wusste, Fereshta Ludin habe behauptet, »deutsche Frauen seien unrein, nur muslimische Frauen seien rein«; auch habe sie sich seit 1995 geweigert, Männern die Hand zu geben (FR, 2. 6. 2003); ähnlich wenige Wochen später in: Der Spiegel 26/2003.
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haben meine Absicht, die meinem Beschreiten des Rechtswegs zugrunde liegt, politisiert. Die dabei formulierten Behauptungen und Unterstellungen hinsichtlich meiner Person sind falsch und verleumderisch.144
Für das Land Baden-Württemberg war die Sache trotzdem noch nicht ausgestanden; und auch in anderen Bundesländern setzten die neuen gesetzlichen Regelungen keinen Schlusspunkt unter jahrelang schwelende Konflikte, sondern bildeten ganz im Gegenteil den Auftakt für neue Streitigkeiten. Einige dieser Streitfälle werden abschließend diskutiert.
5.3
Kultur oder Bekenntnis? Verwaltungsrichter als Zeichendeuter
In Baden-Württemberg machte neben dem ›Fall Ludin‹ ein anderer Konfliktfall den Schulbehörden zu schaffen: Denn im Laufe des von Fereshta Ludin angestoßenen Rechtsstreits war ans Licht gekommen, dass in Bad Cannstatt bereits seit 1995 eine weitere muslimische Lehrerin mit Kopfbedeckung unterrichtete. Der Fall ist insofern etwas anders gelagert, als die deutschstämmige Konvertitin Doris Graber erst als bereits verbeamtete Lehrerin begonnen hatte, eine Kopfbedeckung zu tragen. Jahrelang hatte dies keinerlei Beachtung gefunden. Den zuständigen Ämtern wurde es erst im Zusammenhang mit dem Konfliktfall Ludin überhaupt bekannt,145 was zur Folge hatte, dass die Hauptschullehrerin seit März 2000 vom Oberschulamt wiederholt angewiesen wurde, ihren Schuldienst ohne Kopfbedeckung zu versehen. Gegen diese Anweisung legte die Betroffene stets von Neuem Widerspruch ein. Nach Inkrafttreten des badenwürttembergischen Kopftuchverbots im April 2004 erhöhten die politisch Verantwortlichen den Druck; es kam zum Rechtsstreit. Und dieser brachte den unsicheren Grund, auf dem die ›Kopftuchgesetze‹ auch nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 2004 weiterhin standen, deutlich zum Ausdruck. So erzielte Doris Graber vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart 2006 zunächst 144 Persönliche Stellungnahme von Fereshta Ludin, 8. 10. 2004 (http://muslimat-berlin.de/ Aktuelles/ludin/ ludin.html [21. 11. 2005]). Vgl. auch ihren Rückblick auf den Streit und die Konfliktsache insgesamt im Gespräch mit der Islamischen Zeitung, 25. 10. 2010. 145 Es war Fereshta Ludin selbst, die in der mündlichen Verhandlung zur Untermauerung ihrer Rechtsposition auf den Fall hingewiesen hatte; vgl. dazu die entsprechenden Passagen aus der Entscheidung des VG Stuttgart 15 K 532/99, Urteil vom 24. 3. 2000, 961; auch die daran anschließende Berichterstattung und Kommentierung: Stuttgarter Zeitung, 28. 3. 2000; Stuttgarter Nachrichten, 28. 3. 2000; SZ, 30. 3. 2000; vgl. außerdem die Ausführungen zum ›Tatbestand‹ aus dem im Fall Graber ergangenen Urteil des VG Stuttgart 18 K 3562/05 vom 7. 7. 2006, 1444 f.
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einen überraschenden Teilerfolg: Ohne das Gesetz als solches zu beanstanden,146 befanden die Stuttgarter Richter, die seitens der Schulverwaltung praktizierte Anwendung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG sowie gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention,147 da nämlich, wie die Klägerin vorgebracht hatte, an einer staatlichen Grundschule des Landes verbeamtete Ordenschwestern mit ausdrücklichem Einverständnis des staatlichen Schulträgers im Habit unterrichteten. Damit kam für die Frage der Verfassungskonformität der Vollzugspraxis alles darauf an, ob die Ordenskleidung ein persönliches Bekenntnis zum Ausdruck bringe oder lediglich eine traditionelle christliche Berufskleidung und also allenfalls ein Aspekt der Kultur sei, wie es das beklagte Land (ganz auf der Linie der oben skizzierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2004148) im Laufe des Prozesses vorbrachte.149 Die Stuttgarter Richter zeigten sich in dieser Frage sehr entschieden; so widersprachen sie der Landesregierung, wenn sie feststellten: Das Nonnenhabit ist – ebenso wie das islamische Kopftuch oder die jüdische Kippa – Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses. […] Unterrichtet eine Ordensschwester im Nonnenhabit, so liegt darin ebenso eine Bekundung persönlicher religiöser Überzeugung, wie dies beim Unterricht der Klägerin mit Kopftuch der Fall ist.150
In der Konsequenz dieser Deutung des Ordenshabits gelangten die Richter zu der Einschätzung, dass die Praxis der Anwendung des Gesetzes durch das Land Baden-Württemberg gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verstoße:
146 Dies wäre auch nicht ohne Weiteres möglich: Denn nach Art. 100 Abs. 1 GG müssen Gerichte, wenn sie ein Gesetz, auf das sie sich in ihrer Entscheidungsfindung stützen, für verfassungswidrig halten, das Verfahren aussetzen und die Frage dem jeweils nächstzuständigen Verfassungsgericht vorlegen (in landesverfassungsrechtlichen Fragen also dem zuständigen Gericht des jeweiligen Landes, in der Frage der Verletzung des Grundgesetzes dem Bundesverfassungsgericht). Allerdings ist es den Gerichten erlaubt, fragwürdige Gesetze verfassungskonform auszulegen und so die verfassungsrechtliche Prüfung zu umgehen. Diesen Auslegungsspielraum haben die Verwaltungsgerichte im Kopftuchstreit genutzt; dies ist insofern nicht unproblematisch, als sie damit die Verfassungskonformität fragwürdiger Gesetze letztlich unterstellt haben: So bewirkt, wie Sabine Berghahn kritisch anmerkt, »die interpretative Korrektur durch die Gerichte hier eine ›Rettung‹ des (verfassungswidrigen) gesetzgeberischen Anliegens, nämlich faktisch ausschließlich das ›islamische Kopftuch‹ zu verbieten« (Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang, 49). 147 Vgl. VG Stuttgart 18 K 3562/05, Urteil vom 7. 7. 2006, 1446 f. Zum Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 und 3 GG sowie des Art. 14 EMRK vgl. den Anhang. 148 Vgl. oben Abschnitt 5.2. 149 Vgl. VG Stuttgart 18 K 3562/05, Urteil vom 7. 7. 2006, 1446. 150 Ebd.
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Wird das Verbot nur beim islamischen Kopftuch durchgesetzt, beim Nonnenhabit […] aber darüber hinweggesehen, handelt es sich um eine gleichheitswidrige Diskriminierung.151
Die Stuttgarter Entscheidung fand in der Öffentlichkeit ein erhebliches und überwiegend erstauntes Echo152 und gab der Opposition im Stuttgarter Landtag Anlass, die zwei Jahre zuvor gefundene gesetzliche Regelung des Kopftuchkonflikts erneut auch im Parlament zu debattieren.153 Doch wie erwartet ging das Land Baden-Württemberg in Berufung. Die Streitsache wanderte vor den baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof in Mannheim. Dort wendete sich im März 2008 das Blatt erneut: Denn die Mannheimer Richter teilten zwar die Auffassung des Stuttgarter Gerichts, dass mit Inkrafttreten des § 38 des baden-württembergischen Schulgesetzes »auch Ordensgewänder christlicher Gemeinschaften oder etwa die jüdische Kippa von Lehrkräften an Schulen nicht (mehr) getragen werden dürfen«,154 da es sich auch bei diesen keineswegs nur um religiös unspezifische Traditionsbestände handle (wie es die Vertreter des Landes zumindest für das Nonnenhabit behauptet hatten), sondern um religiöse Bekundungen im Sinne des Gesetzes.155 Dennoch kamen sie zu einer anderen Entscheidung als ihre Stuttgarter Kollegen: Denn anders als jene sahen sie keinen Anlass, an der rechtskonformen Anwendung des Gesetzes durch die Schulbehörden zu zweifeln. Vielmehr, so meinten sie, habe das Land BadenWürttemberg im Laufe des gerichtlichen Verfahrens glaubhaft vorgetragen […], gegen alle Lehrkräfte, die eine gesetzwidrige religiöse äußere Bekundung abgeben, gleichermaßen vor [zugehen].156 151 Ebd. Ausdrücklich erklärten sie darüber hinaus, dass nach ihrer Bewertung der Sachlage diese »Privilegierung christlicher und jüdischer Bekenntnisbekundungen« vom Gesetzgeber »ersichtlich« intendiert war (ebd., 1447). Analog hatte Böckenförde in seiner Kritik der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Fall Fereshta Ludin argumentiert; s.E. war die Ausnahmeklausel für christlich-jüdische Traditionsbestände im baden-württembergischen Gesetz »erkennbar dazu gedacht, christliche und jüdische Symbole, wie Kreuz, Nonnenhabit und Kippa, bei Herabstufung zur Darstellung von Kulturwerten von dem Verbot auszunehmen« (vgl. Böckenförde, Anmerkung, 1182). 152 Siehe Berichte und Kommentare in: FAZ, 8. 7. 2006 und 11. 7. 2006; SZ, 8. 7. 2006 und 11. 7. 2006; FR, 8. 7. 2006; taz, 8. 7. 2006 und 10. 7. 2006; Die Welt, 8. 7. 2006; Der Tagesspiegel, 8. 7. 2006. 153 Siehe zur hitzigen Debatte, bei der die Fraktion der Grünen ihren Gesetzentwurf von 2004 (vgl. Fn. 37 oben) erneut einbrachte: Landtag von Baden-Württemberg, Plenarprotokoll 14/7, 26. 7. 2006, 194 – 204. 154 VGH Baden-Württemberg 4 S 516/07, Urteil vom 14. 3. 2008, 441. Explizit verwiesen die Mannheimer Richter darauf, dass dies auch bereits vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt worden sei (vgl. Fn. 139 und Fn. 140 oben). 155 VGH Baden-Württemberg 4 S 516/07, Urteil vom 14. 3. 2008, 441. 156 Ebd., 442.
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Den Umstand, dass in einer staatlichen Schule des Landes Nonnen im Habit allgemein bildende Fächer unterrichteten, billigten sie wegen der besonderen Geschichte der betreffenden Schule157 als »historisch bedingte[n] Ausnahmefall auf einmaliger (sonder-)vertraglicher Grundlage«. Es gebe, so meinten die Mannheimer Verwaltungsrichter, keinen Grund zu der Annahme, dass es sich um eine das Gleichheitsgebot verletzende »systematische Bevorzugung von Angehörigen christlichen Glaubens« handle.158 Allerdings kam der Frage, ob es in der Umsetzung des Verbotsgesetzes ein gleichheitswidriges Vollzugsdefizit gebe oder nicht, nach Auffassung der Mannheimer Richter in der zu entscheidenden Streitsache letztlich auch gar keine Bedeutung zu. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, so führten sie aus, könnte Doris Graber ihren Anspruch, mit Kopfbedeckung zu unterrichten, »nicht daraus herleiten, dass ein gesetzeswidriges Verhalten der drei Ordensschwestern nicht geahndet werde.«159 Eine Revision ließ das Mannheimer Gericht nicht zu; die daraufhin von der Klägerin beim Bundesverwaltungsgericht erhobene Nichtzulassungsklage wurde von den Leipziger Richtern abgewiesen.160 Doch nicht nur im Land Baden-Württemberg wurde um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen gestritten. Auch in anderen Bundesländern kam es zu Rechtskonflikten um das Kopftuch. Einige dieser Streitigkeiten erregten auch bundesweit öffentliche Aufmerksamkeit, so der Fall einer ebenfalls deutschstämmigen Konvertitin aus Niedersachsen. Die Konfliktkonstellation war analog zu derjenigen im Fall Ludin angelegt: Auch Iyman Alzayed161 war die Einstellung in den Schuldienst des Landes Niedersachsen aufgrund ihrer Kopfbedeckung verwehrt worden, obwohl es auch an ihrer Schule zu keinerlei Konflikten oder Beanstandungen seitens der Schüler- oder Elternschaft gekommen war. Im Gegenteil: Die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse waren zum Zeichen ihrer 157 Es handelt sich um eine Klosterschule, die Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in eine staatliche Mädchengrundschule und 1980 in eine koedukative staatliche Grundschule überführt und aufgrund spezieller vertraglicher Vereinbarungen in den Räumen einer Zisterzienserabtei untergebracht wurde (vgl. ebd.). 158 Ebd., 442 f. 159 Ebd., 443. Auf dieser Linie hatte im Jahr zuvor bereits das Verwaltungsgericht Düsseldorf die Klage einer muslimischen Lehrerin abgewiesen, der nach erfolgreichem Zweiten Staatsexamen die Einstellung in den Schuldienst des Landes verwehrt wurde, weil sie darauf bestand, im Unterricht eine Kopfbedeckung zu tragen, was das nordrhein-westfälische Schulgesetz seit 2006 verbietet; auch in diesem Fall hatte die Klägerin sich im gerichtlichen Verfahren auf das Argument gestützt, dass in Nordrhein-Westfalen auch Nonnen im Habit an staatlichen Schulen unterrichten; vgl. VG Düsseldorf 2 K 6225/06, Urteil vom 5. 6. 2007. 160 Vgl. BVerwG 2 B 46.08, Beschluss vom 16. 12. 2008. Doch Doris Graber ließ sich durch die Rückschläge nicht entmutigen und wandte sich Anfang 2009 mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht; der Ausgang der Streitsache war bei Abschluss des Manuskripts nicht bekannt. 161 Vor ihrer Konversion: Iris Pörtge (vgl. Die Welt, 22. 9. 2003).
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Solidarität mit ihrer Lehrerin sogar eines Tages sämtlich mit Kopftüchern zum Unterricht erschienen.162 Anders als Fereshta Ludin war Iyman Alzayed vor der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zunächst erfolgreich: Im Oktober 2000 befand das Verwaltungsgericht Lüneburg, es sei unzulässig, »ihren Eignungsmangel allein aus dem Tragen eines Kopftuchs herzuleiten«.163 Ausdrücklich und in offenem Widerspruch zu den oben erörterten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen im Fall Fereshta Ludin lehnten die Lüneburger Richter es ab, die möglichen Wirkungen des Kopftuchs auf die Schulkinder losgelöst von den Absichten und dem Selbstverständnis der Kopftuch tragenden Lehrerin zu bewerten. Es sei, so die niedersächsischen Verwaltungsrichter, »zu betonen, dass es auf das Selbstverständnis des betroffenen Grundrechtsträgers« ankomme.164 Das Kopftuch, so führten sie aus, kann nicht losgelöst von seiner Trägerin gesehen werden. Die Klägerin wirkt im Unterricht mit ihrer gesamten Persönlichkeit, ihre Wirkung ist gerade nicht allein auf das Tragen des Kopftuchs reduziert.165
Nach Auffassung Ernst-Wolfgang Böckenfördes haben die Lüneburger Richter mit ihrer Entscheidung »Marksteine« für den richtigen Weg im ›Kopftuchstreit‹ gesetzt.166 Bestand hatte die Lüneburger Entscheidung gleichwohl nicht. Auch Iyman Alzayed konnte keinen Durchbruch erzielen: Im Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg wurde das Urteil im Frühjahr 2002 revidiert und die von der Schulverwaltung ausgesprochene Ablehnung der Bewerberin für zulässig erachtet. Die Oberverwaltungsrichter vertraten die Auffassung, die von der Schulverwaltung vorzunehmende Beurteilung der Eignung einer Bewerberin oder eines Bewerbers sei »ein Akt wertender Erkenntnis«, der stets eine »Prognoseentscheidung« erfordere;167 die Annahme, die Bewerberin sei ungeeignet für den staatlichen Schuldienst, weil sie aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung tragen wolle, hielt sich nach Meinung der niedersächsi-
162 Vgl. den Bericht in: Mannheimer Morgen, 27. 6. 2001. 163 So der 2. Leitsatz der Entscheidung: VG Lüneburg 1 A 98/00, Urteil vom 16. 10. 2000, 767; auch ebd., 768. 164 Ebd., 770. 165 Ebd. 166 Böckenförde, »Kopftuchstreit« auf dem richtigen Weg?, 728. Böckenförde lobt das Urteil insgesamt als »sorgfältig begründet« und hebt u. a. hervor, dass das Lüneburger Verwaltungsgericht anders als das Stuttgarter Verwaltungsgericht im Fall Ludin bei der Zuordnung der vielfältigen betroffenen Rechtspositionen und dem Ausgleich des Spannungsverhältnisses, in dem diese zueinander stehen, »seine Zuflucht nicht zur abstrakten Ermittlung eines Vorrangs der einen oder anderen Position« (im Stuttgarter Fall: der Schulkinder und ihrer Eltern) genommen habe (ebd., 723). 167 OVG Lüneburg 2 LB 2171/01, Urteil vom 13. 3. 2002, 658.
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schen Oberverwaltungsrichter danach im Rahmen des zulässigen Beurteilungsspielraums.168 Bundesweit Schlagzeilen machte schließlich 2007 und 2008 auch ein bizarrer nordrhein-westfälischer Konfliktfall. Es ging um den Fall einer an einer Düsseldorfer Gesamtschule tätigen muslimischen Sozialpädagogin. Bis zum Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Kopftuchgesetzes im Sommer 2006 hatte sie ihren Dienst mit Kopfbedeckung versehen; nach Änderung der Gesetzeslage war sie dazu übergegangen, statt eines Kopftuchs eine Baskenmütze zu tragen, die Haar und Ohren vollständig bedeckte. Dem zuständigen Schulamt reichte dieses Zugeständnis gleichwohl nicht; die Sozialpädagogin erhielt eine Abmahnung. Es kam zum Rechtstreit vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf, das im Juni 2007 entschied: Das dauerhafte Tragen einer Baskenmütze, die das Haar, den Haaransatz und die Ohren komplett verdeckt, durch eine Sozialpädagogin anstelle des zuvor von ihr getragenen islamischen Kopftuchs verstößt gegen das staatliche Neutralitätsgebot.169
Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Berufung beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf ein – ohne Erfolg.170 Auch das schließlich angerufene Bundesarbeitsgericht in Erfurt bestätigte die Entscheidung der Düsseldorfer Arbeitsrichter : »Das dauernde Tragen einer Strickmütze«, so meinten auch die Erfurter Richter, »stellt im Streitfall eine religiöse Bekundung […] dar«. Der »religiöse Bedeutungsgehalt« der »handelsübliche[n] Mütze«, so erläuterten sie, ergebe sich daraus, dass die Mütze Haare, Haaransatz und Ohren der Klägerin komplett bedeckt und ein stets zugleich getragener gleichfarbiger Rollkragenpullover auch ihren Hals umschließt.171
Ähnlich wie der Düsseldorfer Sozialpädagogin erging es auch einer ebenfalls in Nordrhein-Westfalen tätigen Lehrerin im Beamtenstatus auf Probe. Auch sie wurde wegen des Tragens einer Baskenmütze im Unterricht abgemahnt. Dagegen erhob sie vor dem Verwaltungsgericht Köln Klage. Auch in ihrem Fall kamen 168 Vgl. ebd. Iyman Alzayed klagte daraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, einigte sich aber während des Verfahrens mit dem Land Niedersachsen, indem sie erklärte, während des Unterrichts die Kopfbedeckung abzunehmen; die ihr daraufhin vom Land angebotene Stelle als beamtete Lehrerin trat sie aber nicht an, sondern entschied sich, das Angebot einer Schule in Österreich anzunehmen, an der sie mit Kopfbedeckung unterrichten konnte (vgl. Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 39). 169 AG Düsseldorf 12 Ca 175/07, Urteil vom 29. 6. 2007, Leitsatz sowie sinngemäß 31, 33 und 37. 170 LAG Düsseldorf 5 Sa 1836/07, Urteil vom 10. 4. 2008. Vgl. auch den Kommentar mit dem Titel »Auch Baskenmütze ist ein Kopftuch« in: taz, 11. 4. 2008. 171 BAG 2 AZR 499/08, Urteil vom 20. 8. 2009, 13 und 16. Der Fall wurde im Anschluss dem Bundesverfassungsgericht zugetragen; der Ausgang war bei Abschluss des Manuskripts unbekannt.
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die Richter zu dem Schluss, die Baskenmütze – ein, wie die Klägerin im Prozessverlauf erklärte, »eindeutig dem christlich-abendländischen Kulturkreis zuzurechnen[des]« Kleidungsstück – sei »im Ergebnis nur als Surrogat für das nicht mehr benutzte Kopftuch anzusehen«. Entsprechend stelle es »ebenso wie dieses eine eindeutige religiöse äußere Bekundung dar«, die geeignet sei, »die Neutralität des Landes oder den religiösen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören«.172 Auch das dauerhafte Tragen einer Baskenmütze habe »appellativen Charakter und weist die von ihr symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus«.173 Die ausgewählten Beispiele zeigen: Die rechtlichen Abwägungsprozesse um die Frage, wie im freiheitlichen Verfassungsstaat mit offen sichtbaren religiösen Bekundungen von Lehrerinnen und Lehrern in der öffentlichen Schule umzugehen ist, setzen auf Seiten aller Beteiligten definitionspolitische Prozesse um die Grenzen des Religiösen in Gang. Sie verlangen Deutungsanstrengungen und Abwägungen, die – wie die Streitereien um die Baskenmütze zeigen – groteske Züge annehmen können. Welche Art von Kopfbedeckung ist eine islamische Kopfbedeckung? Was ist, was bedeutet und wie wirkt das Kopftuch? Haben wir es mit einem zutiefst persönlichen Ausdruck des religiösen Bekenntnisses zum Islam zu tun? Oder handelt es sich um ein Zeichen, das, ganz unabhängig davon, was seine Trägerin mit ihm verbinden mag, politisch-kulturelle Signale sendet, die im Widerspruch zu Verfassungsgrundsätzen wie der Gleichheit der Geschlechter stehen, religionsunmündige Schulkinder unzulässig beeinflussen und überdies das kulturchristliche Wertefundament bedrohen, auf dem der freiheitliche, säkularisierte Verfassungsstaat (vermeintlich) aufruht und aus dem er zehrt? Und wie steht es mit dem christlichen Ordenshabit? Ist es nur eine Art Berufskleidung, die zwar auf religionskulturelle Traditionsbestände verweist, aber keinen Bekenntnischarakter trägt? Wo, so die Grundfrage, wird die Grenze von religiöser Kultur zu religiösem Bekenntnis überschritten? Die Bundesverfassungsrichter haben versucht, sich einer Deutung und Bewertung des Kopftuchs zu enthalten und dem definitionspolitischen Dilemma auszuweichen, in das sie nicht zuletzt im ›Kruzifixstreit‹ geraten waren. Anders als 1995, als sie sich darauf eingelassen hatten, in den Deutungskämpfen um den Sinngehalt des Kreuzes Position zu beziehen und eine Lösung des Konflikts jurisdiktiv vorzugeben, verzichteten sie im Kopftuchstreit sowohl auf eine inhaltliche Positionierung als auch auf eine eindeutige Vorgabe zur Konfliktlösung, die sie vielmehr – versehen allein mit der nachdrücklichen Mahnung, das 172 VG Köln 3 K 2630/07, Urteil vom 22. 10. 2008, 4, 26 und 28. 173 Ebd., 40. Diese Formulierung ist (ohne dass dies ausgewiesen wurde) wörtlich der Kruzifixentscheidung des Bundesverfassungsgerichts entnommen; vgl. BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 46.
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Streit um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen
Gleichheitsgebot strikt zu beachten – in die politische Arena zurückverwiesen. Hier, im Raum des Politischen, wurde der Streit dann auch als Grundsatzdebatte um die Grundlagen der Freiheits- und Gleichheitsordnung geführt. Das Bedrohungsszenario war allerdings im Streit um die Kopfbedeckungen muslimischer Lehrerinnen ein anderes als im Streit um die Schulkreuze: Wurde im ›Kruzifixstreit‹ von der religionskulturellen Mehrheit das Drohbild einer gottlosen und damit dem moralischen Verderb ausgelieferten Gesellschaft gezeichnet, so wurde im ›Kopftuchstreit‹ das Gegenbild einer religiös bevormundeten Gesellschaft inszeniert, das umso dunkler ausfiel, als die Bevormundung vonseiten einer Religion zu drohen schien, die mehrheitlich als zutiefst fremd empfunden und in dieser Fremdheit als suspekt erlebt wurde. Das Kopftuch erwies sich dabei als »weltanschaulicher Magnet« mit besonderer Anziehungskraft. Und gerade als solches verrät es, das hat der ›Kopftuchstreit‹ gezeigt, vielleicht mehr über seine Umwelt als über seine Trägerinnen.174
174 So Andreas Rosenfelder in einem Beitrag in der FAZ vom 21. 10. 2003. In die gleiche Richtung zielt Mark Siemons, wenn er schreibt: »Es ist bemerkenswert, daß der gesamte Kopftuchstreit auf die urprüngliche Bedeutung der religiösen Zeichen kaum Bezug nimmt und sich statt dessen ganz auf kulturelle Zuschreibungen kapriziert, die je nach Meinung variieren« (FAZ, 7. 1. 2004).
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Auf der Suche nach den regenerativen Ressourcen der Freiheitsordnung. Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
6.1
»Gott und die Welt« in der Schule. Der Streit um das Unterrichtsfach ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde)‹ in Brandenburg
6.1.1 Religionsunterricht oder Religionskunde? Ein Grundlagenstreit mit regionalem Gepräge 1995 war in religionspolitischer Hinsicht ein denkwürdiges Jahr : Nicht nur der Streit um Schulkreuze in bayerischen Schulen erhitzte bundesweit die Gemüter. Auch das ausgeprägt säkularisierte ›neue‹ Bundesland Brandenburg wurde zur Bühne für eine Religionskontroverse, die im Osten ebenso wie im Westen der Republik, im Süden ebenso wie im Norden aufgeregte Resonanz fand. Der Anlass war auch dieses Mal ein schulischer : Es ging um die Einführung eines neuen Unterrichtsfachs, genannt ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde)‹,1 kurz: LER. 1995 sollte das Fach, das in den frühen 1990er Jahren als Form ausdrücklich bekenntnisfreier Werteerziehung zunächst versuchsweise eingeführt worden war, aus seiner mehrjährigen Erprobungsphase herausgeführt und durch eine Änderung des brandenburgischen Schulgesetzes auf Dauer gestellt werden. Bei diesem Übergang kamen die schon länger schwelenden Konkurrenzstreitigkeiten zwischen den Befürwortern des Fachs und seinen Kritikern, die überwiegend kirchlichen oder kirchennahen Kreisen zugerechnet werden können, offen zum Ausbruch.2 1 Zur changierenden Fachbezeichnung ›Lebenskunde-Ethik-Religion‹ bzw. ›LebenskundeEthik-Religionskunde‹ vgl. unten Abschnitt 6.1.2. 2 Zu dem Streit sind bisher v. a. von evangelisch-theologischer Seite zum Teil materialreiche Untersuchungen vorgelegt worden: Umfangreich ist die Arbeit von Diether Fauth (Religion als Bildungsgut), deren Fokus auf den in der Auseinandersetzung konkurrierenden pädagogischen Konzepten und strittigen Vorstellungen vom ›Bildungsgut‹ Religion liegt; hierfür hat Fauth umfangreiches Quellenmaterial in den Archiven des zuständigen Brandenburger Ministeriums sowie der evangelischen Landeskirche erhoben. Nils Ole Oermann und Jo-
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Auch im Brandenburger Streitfall ging es also um die Präsenz (bzw. die Grenzen der Präsenz) von Religion in der Schule. Gestritten wurde aber anders als in der bayerischen Angelegenheit nicht um den (religiösen) Sinngehalt eines bestimmten Zeichens und die Grenzen zwischen religiösem Bekenntnis und Religionskultur. Gestritten wurde um das Beziehungsgefüge von Religion und Ethik sowie um die Funktion von Religion für eine gelungene Lebensführung des Einzelnen und das gesellschaftliche Leben insgesamt. Die unterschiedlichen Auffassungen in diesen Fragen gingen mit konträren Positionierungen hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis und dem jeweiligen Nutzen von religiös gebundener und religiös ungebundener Werteerziehung in der Schule einher. Mit der Einführung des Unterrichtsfachs LER schlugen die politisch Verantwortlichen in Brandenburg neue Wege jenseits des konfessionellen Religionsunterrichts ein. Neu und, wie der Streit zeigen sollte: irritierend neu, waren diese Wege vor allem aus Sicht der ›alten‹ Bundesländer, in denen der konfessionelle Religionsunterricht fest im schulischen Fächerkanon verankert ist und ungeachtet der auch hier fortschreitenden Erosion volkskirchlicher Strukturen bis heute auf eine bemerkenswert stabile gesellschaftliche Akzeptanz stößt. Die Grundlage für dieses westdeutsche Modell liefert das Grundgesetz, das (in weitgehender Kontinuität mit der Weimarer Reichsverfassung) Religionsunterricht grundrechtlich garantiert. In Art. 7 Abs. 3 GG heißt es: Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.3 hannes Zachhuber (Oermann/Zachhuber, Einigkeit) dokumentieren den Streitverlauf und erörtern die verfassungsrechtliche Konfliktlage. Vor diesem Hintergrund beschäftigen sie sich aus theologischer Perspektive mit dem strittigen Konzept der ›Werte‹ und der schulischen ›Werteerziehung‹. Beide Arbeiten sind vor der Verhandlung des Konflikts vor dem Bundesverfassungsgericht im Sommer 2001 erschienen (vgl. dazu unten Abschnitt 6.1.2) und konnten entsprechend den Ausgang des Streits nicht in ihre Untersuchung einbeziehen. 3 In Art. 149 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (›Weimarer Reichsverfassung‹) hieß es: »Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. […] Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt.« Die Kontroverse um die rechtliche Gestaltung des Religionsunterrichts im Parlamentarischen Rat dokumentieren und kommentieren Schlink/ Poscher, Verfassungskompromiß, 17 ff. Zur Übernahme der Weimarer religionsrechtlichen Regelungen ins Grundgesetz vgl.: Wittreck, Bonn ist doch Weimar. Zu Art. 7 GG insgesamt Gröschner, Artikel 7 (zu Abs. 3 v. a. 854 f sowie 869 – 872). Als ›ordentliches Lehrfach‹ ist der Religionsunterricht ein Pflichtfach, jedoch mit besonderem Charakter. Denn aufgrund der Religionsfreiheit haben die Erziehungsberechtigten ausweislich Art. 7 Abs. 2 GG »das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen« (vgl. dazu, jeweils mit weiteren Nachweisen zur juristischen Fachdiskussion: Classen, Religionsrecht, 202 – 204; gegen den Pflichtcharakter des Religionsunterrichts argumentiert Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 157 f). Als seit den 1970er und 1980er Jahren zunehmend viele Eltern
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Nach den Bestimmungen des Grundgesetzes ist der Unterricht im Fach Religion demnach eine klassische res mixta: eine ›gemeinsame Angelegenheit‹ von Staat und Religionsgemeinschaften.4 Das heißt: Der Religionsunterricht ist, da das gesamte Schulwesen dem Staat unterstellt ist,5 zunächst einmal, wie der Unterricht in allen anderen ordentlichen Unterrichtsfächern auch, eine Aufgabe des Staates. Insofern der Staat aber die Freiheit der Religion garantiert und selbst dem Neutralitätsprinzip in Angelegenheiten der Religion und der Weltanschauung verpflichtet ist, kann er dieser Aufgabe jedoch nur in enger Kooperation mit den Religionsgemeinschaften nachkommen. Denn als Staat, der nicht um seiner selbst, sondern »um der Freiheit willen« säkularisiert ist,6 kann er keinerlei Definitionskompetenz hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung des Religionsunterrichts beanspruchen. Diese unterliegt vielmehr dem Selbstbestimmungsrecht der Religionen, das zu achten und zu schützen der Staat sich verpflichtet hat. Der Religionsunterricht in der Form, die Art. 7 Abs. 3 GG vorsieht, ist deshalb nur in einer »Verantwortungsgemeinschaft« des Staates und der Religionsgemeinschaften möglich.7 Die Verantwortlichkeiten des Staates in dieser Angelegenheit werden von den Bundesländern wahrgenommen, denen im System föderaler Zuständigkeiten die Aufsicht über das Schulwesen obliegt. Ihnen kommt es zu, die grundgesetzlichen Rahmen für den Religionsunterricht auszugestalten; sie haben dabei gewisse Freiheitsspielräume, so dass länderspezifische Unterschiede unvermeidbar sind.8 Die Länder entscheiden etwa, welche Religionsgemeinschaften Religi-
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von der Möglichkeit zur Abmeldung ihrer Kinder vom Religionsunterricht Gebrauch machten, wurden sukzessive in allen Bundesländern verpflichtende Ersatzfächer (›Ethik‹, ›Werte und Normen‹, ›Philosophie‹ etc.) eingerichtet (vgl. zum Stand 2008: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Situation des Ethikunterrichts); dass dies grundsätzlich zulässig ist, hat das Bundesverwaltungsgericht 1987 anlässlich einer Klage aus Baden-Württemberg entschieden (vgl. BVerwG 6 C 11.97, Urteil vom 17. 6. 1998; kritisch dazu: Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 159). Zum Religionsunterricht nach dem Grundgesetz vgl. grundlegend: Gröschner, Artikel 7; außerdem allgemein und knapp einführend: Classen, Religionsrecht, 191 – 206; sowie ausführlich auch: Link, Religionsunterricht. In kritischer Distanz: Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 154 – 158; ferner die den »subjektiven Rechtsgehalt« des Art. 7 Abs. 3 GG betonende Untersuchung von Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht; dort auch zum Charakter des Religionsunterrichts als res mixta, 78 – 82; zu Begriff und Sachgehalt der res mixtae vgl. Ehlers, Die gemeinsamen Angelegenheiten. Vgl. Art. 7 Abs. 1 GG (Wortlaut im Anhang). So die Formulierung von Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112. So Gröschner, Artikel 7, 854. Martin Heckel hat diese Konstruktion als »säkulare Rahmenform, aber für religiöse Inhalte« bezeichnet (Heckel, Religionsunterricht im Rahmen des Kulturverfassungsrechts, 61). Zu den diesbezüglichen länderspezifischen Differenzen vgl. Kuhn-Zuber, Werteerziehung, 130 – 170; vgl. auch die Berichte des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister
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onsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG anbieten dürfen; auch haben sie eine dem staatlichen Erziehungsauftrag angemessene Ausbildung und Prüfung der Lehrkräfte zu gewährleisten, die zudem aus den Landeshaushalten vergütet werden.9 Darüber hinaus kontrollieren die zuständigen Landesministerien die von den Religionsgemeinschaften erarbeiteten Rahmenlehrpläne, wobei sich ihre Kontrollbefugnis nicht auf die zu vermittelnden Bekenntnisinhalte bezieht, sondern lediglich der Überprüfung der fachlichen und pädagogischen Standards dienen soll.10 Dass in dieser Konstruktion ein gewisses Konfliktpotential schlummert, da die Grenzen zwischen den Kompetenzbereichen, die dem Staat und den Religionsgemeinschaften durch die verfassungsrechtlichen Bestimmungen jeweils zugewiesen werden, nicht immer unstrittig zu ziehen sind, liegt auf der Hand, hat aber im Fall katholischen und evangelischen Religionsunterrichts bisher überraschenderweise kaum zu offenem Streit geführt.11 Das Grundgesetz stellt den Religionsgemeinschaften mit seinen Bestimmungen zum Religionsunterricht also einen Freiheitsraum zur Verfügung, der aber innerhalb des staatlichen ›Hoheitsgebietes‹, dem öffentlichen Schulwesen, angesiedelt ist. Das bringt es mit sich, dass der Staat die Zugangswege zu diesem Freiheitsraum kontrolliert: Er bestimmt, mit welchen Religionsgemeinschaften er kooperiert, und wacht über die bestimmungsgemäße Nutzung des von ihm gewährten Freiheitsraums. Zu dieser bestimmungsgemäßen Nutzung des ›Freiheitsraums Religionsunterricht‹ gehört, dass der Unterricht konsequent in »konfessioneller Gebundenheit und Positivität« erteilt wird ¢ so die bis heute gängige Wendung des Weimarer Staatsrechtslehrers Gerhard Anschütz.12 Dies schließt die Thematisierung allgemeiner religionskultureller und religionsgeschichtlicher Aspekte sowie anderer Religionen und Konfessionen im Religionsunterricht nicht aus, fordert jedoch eine Behandlung solcher Themen vom jeweiligen religiös-kon-
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der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Situation des Evangelischen Religionsunterrichts; dass., Situation des Katholischen Religionsunterrichts. Einzelheiten regeln die Landesverfassungen sowie die Kirchenverträge und Konkordate; vgl. Link, Religionsunterricht, 440 – 447. Vgl. Classen, Religionsrecht, 201. Vielmehr wird diese Problematik vor allem mit Blick auf die seit den 1990er Jahren verstärkten Bemühungen um die Einführung islamischen Religionsunterrichts debattiert; siehe etwa im Hinblick auf die Thematisierung der gesellschaftlichen Rolle der Frau im islamischen Religionsunterricht: Oebbecke/Kalisch/Towfigh (Hg.), Stellung der Frau. Grundsätzlich: Bock, Islamischer Religionsunterricht?; Anger, Islam in der Schule, 299 – 398; Reichmuth u. a. (Hg.), Staatlicher Islamunterricht; Mohr/Kiefer (Hg.), Islamunterricht; Kiefer, Der lange Weg zum islamischen Religionsunterricht; Kiefer u. a. (Hg.), Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht. Anschütz, Verfassung, 691. Es handelt sich um einen Kommentar zu Art. 149 WRV, dem Pendant zu Art. 7 Abs. 3 GG; vgl. Fn. 3 oben.
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fessionellen Standpunkt aus.13 Diese Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht 1987 bestätigt, als es feststellte, der Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG sei keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- und Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheit zu vermitteln, ist seine Aufgabe.14
Der Religionsunterricht, den das Grundgesetz schützt, ist also nach Meinung der Karlsruher Richter kein religionskundlicher Unterricht. Damit ist keine Aussage über die Verfassungsmäßigkeit religionskundlichen Unterrichts allgemein gemacht; klar gestellt wird lediglich, dass »historisierende und relativierende Religionskunde« sich ebenso wenig wie »bloße Morallehre« oder »Sittenunterricht« auf die Verfassungsgarantien aus Art. 7 Abs. 3 GG berufen kann, und deutlich gemacht wird zudem, dass religionskundlicher Unterricht nicht auf Kosten des konfessionellen Religionsunterrichts eingerichtet werden darf. Nun wird allerdings, und dies sollte für den Brandenburger Streitfall eine entscheidende Rolle spielen, der Geltungsbereich des Art. 7 Abs. 3 GG durch die Bestimmungen eingeschränkt, die der Verfassungsgeber in Art. 141 GG vorgenommen hat. Danach findet die zitierte Regelung zum Religionsunterricht »keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.« Diese Ausnahmebestimmung fand auf Drängen der Interessenvertreter des Landes Bremen im Parlamentarischen Rat Eingang ins Grundgesetz und wird deshalb als ›Bremer Klausel‹ bezeichnet. Ziel dieser Ausnahmeregelung war es, den erst kurz zuvor in zähen Verhandlungen für die bremische Landesverfassung errungenen Kompromiss zum Religionsunterricht in der Hansestadt zu schützen.15 Allerdings wurde Art. 141 GG nicht 13 Damit ist auch das Recht verknüpft, die Lehrerinnen und Lehrer auszuwählen und ihnen bei Verstößen gegen die kirchliche Lehre ggf. die Lehrbefugnis zu entziehen. Aufgrund der allgemeinen Religionsfreiheit darf gleichwohl nach Art. 7 Abs. 3 GG kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. 14 BVerfG 1 BvR 47/84, Beschluss vom 25. 2. 1987, 252. In dem Konflikt stand die Frage zur Entscheidung, ob es ein Recht auf Teilnahme am Religionsunterricht einer fremden Konfession gibt; die Bundesverfassungsrichter verneinten dies. Sie vertraten die Auffassung, dass die konfessionelle Prägung des Unterrichts nicht zuletzt durch die konfessionelle Gebundenheit der Schülerschaft erzeugt werde und gaben deshalb den Religionsgemeinschaften selbst das Recht, über die Teilnahme Konfessionsfremder (oder -loser) zu entscheiden. 15 Vgl. Art. 32 Abs. 1 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. 10. 1947: »Die allgemein bildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage.« Die Tradition dieses Fachs, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde (vgl. BVerfG 1 BvR 671, 672/65, Beschluss vom
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nur auf Bremen, sondern in der Folge auch auf das Land Berlin bezogen, das damit einen weiten, aber (wie im zweiten Teil dieses Kapitels noch näher erörtert werden wird) keineswegs unstrittigen Gestaltungsspielraum für die Thematisierung von Religion im schulischen Unterricht erhielt.16 Ob auch die ›neuen‹ Bundesländer, die ja mit dem Einigungsvertrag dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten sind, sich auf Art. 141 GG berufen und also auf Einrichtung von Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG verzichten können, ist verfassungsrechtlich nicht abschließend geklärt.17 Zum Streit hierüber kam es nur in einem der fünf ›neuen‹ Länder : Denn mit Ausnahme des Landes Brandenburg haben alle ostdeutschen Bundesländer, ohne dass es hierüber zu größeren Auseinandersetzungen gekommen wäre, in den 1990er Jahren das westdeutsche Modell des Religionsunterrichts auf der Basis des Art. 7 Abs. 3 GG übernommen.18 Allein das Land Brandenburg schlug mit der Einführung von LER einen Sonderweg ein, der den besonderen Bedingungen in einer Region ohne vitale Religionskultur Rechnung tragen sollte. 13. 1. 1971), reicht bis zu den Unionsbemühungen zwischen Reformierten und Lutheranern im frühen 19. Jahrhundert zurück. Der ›Biblische Geschichtsunterricht‹ (BGU) richtet sich an alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von religiös-konfessioneller Bindung. Eine Abmeldung ist möglich; wer nicht am BGU teilnimmt, muss an einem geeigneten Ersatzunterricht teilnehmen. Zu den Bremer Regelungen vgl. Lott/Schröder-Klein, Religion unterrichten in Bremen. 16 Vgl. unten Kapitel 6.2. 17 Vgl. Gröschner, Artikel 141. Der Einigungsvertrag enthält keine Regelungen in dieser Sache (vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. 8. 1990). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem (unten noch weiter erörterten) Schlichtungsvorschlag zum Brandenburger Streitfall diese Frage nicht abschließend entschieden (vgl. BVerfG 1 BvF 1/96, Beschluss vom 11. 12. 2001). Entschieden wurde hingegen die Frage der Geltung des Art. 141 GG in den Ostberliner Stadtbezirken, die vormals Teil des Territoriums der DDR waren, seit dem 3. 10. 1990 jedoch zum Land Berlin gehören; diese Frage hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2000 bejaht und so unterschiedliche Rechtsbestimmungen im Land Berlin verhindert (vgl. BVerwG 6 C 5.99, Urteil vom 23. 2. 2000); vgl. auch die Anmerkungen zu diesem Urteil von Anger, Geltung. 18 Während jedoch in den ›alten‹ Bundesländern zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet ist, wer einer der beiden Kirchen angehört und sich nicht abgemeldet hat, ist in den ›neuen‹ Ländern für die Teilnahme am Religionsunterricht eine Anmeldung erforderlich; wer sich in den ›neuen‹ Ländern nicht zum Religionsunterricht anmeldet, ist zur Teilnahme am Fach ›Ethik‹ verpflichtet. Damit wurde dort faktisch ein Wahlpflichtbereich Religion/ Ethik eingeführt, wie ihn die Kirchen auch für Brandenburg und Berlin fordern; vgl. dazu: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Situation des Ethikunterrichts. Praktisch wird Religionsunterricht in den ›neuen‹ Ländern allerdings lediglich nach Maßgabe der schulorganisatorischen Möglichkeiten erteilt; angesichts des geringen Grads kirchlicher Bindung im Gebiet der ehemaligen DDR (vgl. etwa: Pollack, Rückkehr des Religiösen?, v. a. Kap. 4 und 11; ders., Säkularisierung, dort v. a. Kap. 4, 5, 6 und 8; außerdem die Angaben in Fn. 27 unten) kommt Religionsunterricht deshalb oftmals nur klassen- und schulübergreifend zustande.
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Brandenburg berief sich dabei auf die ›Bremer Klausel‹ aus Art. 141 GG und beanspruchte, ebenso wie Bremen und Berlin, aus dem Geltungsbereich von Art. 7 Abs. 3 GG ausgenommen zu sein. Die Vertreter des Landes begründeten ihren Anspruch mit dem Hinweis, dass am fraglichen Stichtag, dem 1. Januar 1949, im Gebiet des späteren Landes Brandenburg eine andere Regelung zum Religionsunterricht in Kraft gewesen sei.19 Verwiesen wurde auf die noch unter sowjetischem Besatzungsstatut erlassene Verfassung der Mark Brandenburg aus dem Jahr 1947, die kirchlichen Religionsunterricht in den Räumen der Schule zwar zuließ, dem Fach jedoch nicht den Status eines ordentlichen Lehrfachs gewährte.20 Die Landesregierung vertrat die Auffassung, das durch den Einigungsvertrag 1990 konstituierte Land Brandenburg habe die Rechtsnachfolge der einstigen Mark Brandenburg angetreten und könne folglich mit demselben Recht wie Berlin und Bremen Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen.21 Diese Position blieb nicht unwidersprochen. Gegner verwiesen nicht zuletzt auf die Absichten, die die Grundgesetzgeber 1949 veranlasst hatten, die ›Bremer Klausel‹ überhaupt ins Grundgesetz einzufügen: Keineswegs nämlich, so erklärte etwa der ehemalige Tübinger Professor für Praktische Theologie Karl Ernst Nipkow, sei die ›Bremer Klausel‹ erlassen worden, um eine Möglichkeit zu schaffen, Religionsunterricht zu verhindern, sondern ganz im Gegenteil, um eine Sonderform christlichen Religionsunterrichts, nämlichen einen ›Biblischen Unterricht auf allgemeinchristlicher Grundlage‹ [das Bremer Modell, AR] zu erhalten. Die Landesregierung in Brandenburg beruft sich auf diesen Artikel, um […] von jeder Form christlichen Religionsunterrichts loszukommen.22 19 Vgl. MBJS, Abschlußbericht, 9, Fn. 7. 20 Vgl. Art. 66 der Verfassung für die Mark Brandenburg vom 6. 2. 1947: »(1) Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule ist gewährleistet. Der Religionsunterricht wird von den durch die Kirchen ausgewählten Kräften erteilt. Niemand darf gezwungen oder gehindert werden, Religionsunterricht zu erteilen. (2) Über die Teilnahme am Religionsunterricht bestimmen die Erziehungsberechtigten.« Dieser Passus entspricht wörtlich der Regelung aus Art. 41 der späteren Verfassung der DDR vom 7. 10. 1949, mit dem Unterschied, dass dort statt von »Religionsgemeinschaften« von »der Kirche« die Rede ist. Die Verfassung für die Mark Brandenburg galt bis 1952. Mit dem Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. 7. 1952 wurden die fünf Länder der DDR faktisch aufgelöst und die Staatsgewalt wurde zentriert. 21 Eine konzise Darstellung der konkurrierenden Positionen findet sich bei Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge, 218 – 221 (die vorsichtig abwägend dazu neigen, eine Anwendung von Art. 141 GG auf Brandenburg abzulehnen); einen Überblick über die Streitsache verschafft auch Kuhn-Zuber, Werteerziehung, 94 – 104 (mit klarer Position zugunsten einer Anwendbarkeit des Art. 141 GG in Brandenburg). Dezidiert gegen eine Anwendung des Art. 141 GG auf Brandenburg u. a.: Gröschner, Artikel 141; ebenso Heckel, Religionsunterricht im Rahmen des Kulturverfassungsrechts, 56; ders., Verfassungsmäßigkeit, sowie Link, Religionsunterricht, 443 f; für eine Anwendung u. a.: Schlink/Poscher, Verfassungskompromiß. 22 FAZ, 24. 2. 1996.
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Nipkows Vorwurf dürfte nun insofern nicht in Abrede zu stellen sein, als zumindest ein Teil derjenigen politischen Kräfte, in deren Verantwortung das Fach LER schließlich Eingang in den Fächerkanon an brandenburgischen Schulen fand, genau diese Absicht verfolgte. Sicher aber sind damit nicht alle Beweggründe erfasst, die die Initiatoren des Fachs anfänglich umtrieben und bereits in den späten 1980er Jahren veranlasst hatten, sich für eine Reform der schulischen Erziehung in der DDR einzusetzen. Dass die Idee zu dem neuen Schulfach nicht etwa dem Ideenhaushalt alter religions- und kirchenfeindlicher DDR-Eliten entsprungen war, sondern ihre Wurzeln in den bildungspolitischen Reforminitiativen hatte, die den Niedergang der DDR begleiteten, geriet allerdings in dem öffentlichen Streit, der das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung von LER begleitete, in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Für eine angemessene Rekonstruktion des Streitverlaufs ist diese ›Vorgeschichte‹ aber unentbehrlich. Sie sei deshalb hier kurz skizziert. In den letzten Jahren der DDR hatten sich bildungspolitisch engagierte Akteure aus dem kirchlichen Milieu sowie aus den weiteren Kreisen der basisdemokratisch orientierten Bürgerbewegung jenseits ihrer weltanschaulichen Differenzen dahingehend verständigt, dass es angesichts der doktrinären DDRPädagogik, die kaum imstande war, an die lebensweltlichen Erfahrungen und Wertorientierungen der Schülerinnen und Schüler anzuschließen und diese im schulischen Bildungsprozess produktiv aufzunehmen, erheblichen schulpolitischen Reformbedarf gab.23 Ihr gemeinsames Anliegen zielte also anfänglich auf eine Reform des ideologisch verkrusteten Schulsystems der DDR. Von der Einführung eines neuen Unterrichtsfachs, das der Reflexion über persönliche Wertbindungen und die ihnen entsprechenden Modelle selbst verantworteter Lebensgestaltung gewidmet sein sollte, versprachen sich die Reformer eine Öffnung der Schule für sämtliche »Gott und die Welt« ¢ wie der Arbeitstitel des Fachs zeitweise lautete24 ¢ betreffenden Fragen. Nicht zuletzt sollten in einer weitgehend religionslosen Gesellschaft auch religionsgeschichtliche Kenntnisse vermittelt und überdies der Verständnishorizont für religiös motivierte Wertbindungen und Lebensführungen erweitert werden. Von Verdrängungsabsichten gegen den Religionsunterricht konnte also in den Anfängen, die noch in der DDR liegen, nicht die Rede sein; und so beteiligten sich auch kirchliche Kreise zunächst an den konzeptuellen Überlegungen für das neue Unterrichtsfach.25 23 Vgl. zum Folgenden Hillerich, Bildungspolitik, 199 f; Birthler, Gott und die Welt; Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 25ff; Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 21ff, sowie Reiher, Zu den kirchlichen Wurzeln von L-E-R. Letzterer hebt die schon früh kritische Haltung der Evangelischen Kirche zu dem Unterrichtskonzept hervor. 24 Vgl. Birthler, Gott und die Welt, 578. 25 Im ›Wendeherbst‹ 1989 bot ein von der ›Volksinitiative Bildung‹ organisierter Berliner Kongress den verschiedenen Initiativen, die zunächst dezentral agiert hatten, ein gemein-
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Die anfängliche Bereitschaft der Evangelischen Kirche, sich an der Entwicklung des Fachs zu beteiligen, war insofern Ergebnis eines spezifisch ostdeutschen Erfahrungshintergrundes. Zu diesem gehörte auch, dass sich in der DDR seit den 1950er Jahren eine vom Staat unabhängige, allein den Gemeinden überantwortete religiöse Unterweisung, die so genannte ›Christenlehre‹, etabliert hatte. Die Kirchen hatten sich mit diesem Modell, das einen gewissen Schutz vor Einmischungen staatlicherseits gewährte, im Laufe der Jahre arrangiert. Wegen der Sorge vor allzu großer Staatsnähe war die Skepsis gegenüber schulischem Religionsunterricht, wie er in Westdeutschland üblich war, sehr verbreitet, und dieser Vorbehalt hat sich in weiten Kreisen bis heute erhalten.26 Auch deshalb – und nicht zuletzt angesichts des niedrigen kirchlichen Bindungsgrads in der späten DDR, in der 1990/1991 nach mittleren Schätzungen nur 24 % der Bevölkerung der Evangelischen und gerade einmal 4,6 % der Katholischen Kirche angehörten27 – wurde noch im Frühsommer 1990 zumindest von evangelischer Seite kein Bedarf für Religionsunterricht nach altbundesrepublikanischem Muster gesehen. Nach gemeinsamen Beratungen mit den zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengeschlossenen westdeutschen Landeskirchen ließ deshalb der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK)28 im Mai 1990 den damaligen DDR-Bildungsminister HansJoachim Meyer wissen, es sei deutlich geworden, daß der Religionsunterricht in der Bundesrepublik von einem volkskirchlichen Hintergrund ausgeht. Durch die über vierzigjährige DDR-Geschichte ist es bei uns zu einer mehrheitlich säkularen gesellschaftlichen Situation gekommen. Damit ist keine Vergleichbarkeit zur schulischen Situation in der Bundesrepublik gegeben, in die der Religionsunterricht eingebunden ist.29
Die Verantwortlichen des BEK erhoben deshalb ausdrücklich keinerlei Anspruch auf Einrichtung von Religionsunterricht nach dem westdeutschen Mo-
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sames Forum; aus diesem ging eine Arbeitsgruppe hervor, die sich mit der Konzeption eines neuen Schulfachs ›Lebensgestaltung‹ befasste. Die in diesem Rahmen entwickelten Ideen fanden im Laufe des Jahres 1990 auch in der Arbeitsgruppe ›Bildung, Erziehung und Jugend‹ des zentralen ›Runden Tisches‹ Gehör, an dem Einzelaspekte des Einigungsverfahrens beraten wurden. Vgl. Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 26. Gegenüber etwa 69,3 % Konfessionslosen und 2,2 % Angehörigen anderer christlicher Kirchen; bei den Angaben handelt es sich jeweils um mittlere Schätzungen aus Volkszählungen und repräsentativen Bevölkerungsumfragen; vgl. Pollack, Von der Volkskirche zur Minderheitskirche, 272. Zu neueren Zahlen bezüglich der Katholischen Kirche: Katholische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten, 2010/11, 9; dort ist der Anteil der katholischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung nach Bistümern ausgewiesen. Zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) hatten sich 1969 die acht evangelischen Landeskirchen in der DDR zusammengeschlossen; der BEK wurde nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1991 in die EKD integriert. Zit. nach: MBJS, Abschlußbericht, 8.
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dell, sondern erklärten entschieden: »Unter den derzeitigen Voraussetzungen sehen wir für die Einführung des Religionsunterrichts keinen Handlungsbedarf.«30 Die zahlenmäßig noch bedeutend kleinere Katholische Kirche hielt demgegenüber während der Vereinigungsdebatte stets an ihrer Auffassung fest, auch in den östlichen Bundesländern sei Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG einzurichten – »wenn es sein muß, auch ohne Schüler«, wie die Süddeutsche Zeitung im Februar 1996 nicht ganz grundlos spottete,31 konnte doch die Katholische Kirche angesichts ihrer geringen Mitgliederzahlen (die in Brandenburg mit etwa 3,4 % der Bevölkerung sogar noch unter dem Durchschnitt in Ostdeutschland lagen32) in der Auseinandersetzung insgesamt wenig Schlagkraft entwickeln. Der letzte Bildungsminister der DDR, Hans Joachim-Meyer, seinerseits ein engagierter Katholik,33 konnte vor diesem Hintergrund im Grundsatz mit Zustimmung seitens der Evangelischen Kirche rechnen und hatte keinen allzu zähen Widerstand seitens der Katholischen Kirche zu befürchten, als sein Ministerium sich am 2. Oktober 1990 in einer ›Empfehlung‹ für die »Einführung eines Unterrichtsfachs ›Lebensgestaltung/Ethik‹ in den Schulen ostdeutscher Länder« aussprach.34 Die Umsetzung dieser Empfehlung allerdings lag schon tags darauf nicht mehr in seiner Verantwortung, sondern war mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags am 3. Oktober 1990 an die neu gegründeten fünf ostdeutschen Bundesländer übergegangen.35 Kurz darauf wurden im Beitrittsgebiet die ersten Landtagswahlen seit der Auflösung der Länderparlamente 1952 abgehalten. In Brandenburg ging die SPD als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor und übernahm in einer ›Ampelkoali30 Ebd. 31 SZ, 27. 2. 1996. 32 Vgl. die Angaben des Bistums Berlin aus dem Jahr 1993, zitiert nach MBJS, Abschlussbericht, 11; zum Vergleich der Mitgliederzahlen in Brandenburg mit denen in der ehemaligen DDR insgesamt: Pollack, Von der Volkskirche zur Minderheitskirche, 272 bzw. Fn. 27 oben. 33 So war Meyer von 1997 bis 2009 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 34 MBJS, Abschlußbericht, 8. 35 Der Einigungsvertrag (vgl. Fn. 17 oben) enthält keine gesonderten Regelungen zum Religionsunterricht, was nach überwiegender Rechtsmeinung dahingehend interpretiert wird, dass er die Geltung des Art. 7 Abs. 3 GG in den nach dem damaligen Art. 23 GG beigetretenen Ländern stillschweigend unterstellt. Diese Auffassung wird damit begründet, dass die DDR dem Geltungsgebiet des Grundgesetzes nach den Regelungen des Art. 23 GG beigetreten ist, so dass dessen Regelungen, wenn nicht ausdrücklich andere Bestimmungen formuliert wurden, auf das ehemalige Staatsgebiet der DDR übertragen wurden. Der (mit dem Einigungsvertragsgesetz vom 23. 9. 1990 aufgehobene) Art. 23 GG lautete: »Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, WürttembergBaden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.«
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tion‹ mit der FDP und Bündnis 90 unter Ministerpräsident Manfred Stolpe die Regierungsgeschäfte. Zur ersten Bildungsministerin des Landes wurde Marianne Birthler (Bündnis 90) berufen, die als eine der Initiatorinnen der schulreformerischen Debatte in der späten DDR bereits in der Frühphase aktiv an dem Ideenaustausch über ein neues, auf Werteorientierung angelegtes Schulfach beteiligt gewesen war.36 Während Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in der Frage des Religionsunterrichts ohne Zögern den Weg der westlichen Bundesländer einschlugen, verfolgten die Brandenburger Koalitionäre den in der Wendezeit erwogenen Weg weiter und verständigten sich hinsichtlich des künftigen Status von Religion im schulischen Unterricht in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 19. November 1990 dahingehend, an den Schulen einen breit angelegten Unterricht in Religions- und Lebenskunde durchzuführen, die konfessionelle Unterweisung aber in Verantwortung der Kirchen zu belassen.37
Die Arbeit am Unterrichtskonzept schritt zügig voran, und schon Anfang 1991 konnte die Ministerin erste Vorschläge zur Einrichtung eines allgemein verpflichtenden Schulfachs ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion‹ – so die zunächst anvisierte Fachbezeichnung – vorlegen.38 Doch das Projekt geriet ins Stocken. Verantwortlich dafür war vor allem der Positionswandel der Evangelischen Kirche, der maßgeblich durch die grundlegenden Strukturreformen und personellen Veränderungen angestoßen wurde, die sich im Zuge des Einigungsprozesses kirchenintern vollzogen.39 Sie erfassten auch die zuständige Landeskirche, die seit 1972 in zwei selbständig verwaltete Teilkirchen (West-Berlin und Ost-Berlin/Brandenburg) mit je eigenem Bischof geteilt gewesen war. 1991 fusionierten die beiden Teilkirchen zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB)40 und wählten zunächst Martin Kruse, der seit 1976 Bischof des Westbereichs gewesen war, zum Landesbischof. Ihm folgte 1994 Wolfgang Huber, der die Landeskirche bis 2009 öffentlichkeitswirksam führte und zunehmend prononciert gegen die Potsdamer Pläne zur Einführung des neuen Schulfachs LER in Stellung brachte.41 Obwohl die Evan36 Vgl. Birthler, Gott und die Welt. 37 Zitiert nach MBJS, Abschlußbericht, 9. 38 Näheres zu dem Entwurf mit dem Titel ›Gemeinsam Leben Lernen‹ bei Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 24 f. 39 Mit der Entwicklung der kirchlichen Position in Bezug auf Religionsunterricht und LER befasst sich ausführlich und unter detailreicher Berücksichtigung von kirchlichem Archivmaterial: Fauth, Religion als Bildungsgut, Kap. 2, 3 und 4. 40 2004 fusionierte die EKiBB zudem mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). 41 Zur »Ära Huber« vgl. Fauth, Religion als Bildungsgut, 263 – 271. Ebenso dezidiert engagierte sich Huber, der zwischen 2003 und 2009 auch Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in
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gelische Kirche sich auch nach ihrem Positionswechsel, der innerkirchlich nicht unwidersprochen blieb,42 weiterhin kompromissbereit gab und nicht vollständig auf die intransigente Haltung ihrer ›kleinen‹ katholischen Schwesterkirche einschwenkte, die das neue Fach stets prinzipiell abgelehnt hatte,43 bestimmte fortan Misstrauen das Verhältnis zwischen der evangelischen Kirchenleitung und den politischen Entscheidungsträgern in der ›Causa LER‹. Die kirchlichen Vorbehalte richteten sich vor allem auf den Lernbereich ›R‹ des neuen Schulfachs ›LER‹. In der frühen Planungsphase stand das Kürzel ›R‹ noch für ›Religion‹ bzw. ›Religionen‹ (der Begriffswechsel zu ›Religionskunde‹ erfolgte erst im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens 1995/1996) und das Konzept der Landesregierung sah zwar vor, »authentische Vertreter« der Religionsgemeinschaften in den Unterricht einzuladen,44 doch sollte der Lernbereich ›R‹ ebenso wie die Lernbereiche ›L‹ und ›E‹ (›Lebensgestaltung‹ und ›Ethik‹) in staatlicher Alleinverantwortung gestaltet werden. Nun sahen die Kirchen aber eben hierin eine verfassungswidrige Selbstermächtigung des Staates in einer Angelegenheit, für die nach ihrer Überzeugung allein die Religionsgemeinschaften Kompetenz beanspruchen konnten: Unterricht in Sachen ›Religion‹, sei es als eigenständiges Fach oder als Lernbereich innerhalb eines Faches wie LER, konnte nach ihrer Auffassung inhaltlich nur von den Religionsgemeinschaften selbst verantwortet werden. Trotz aller Vorbehalte gegen die Konzeption des neuen Schulfachs und trotz der Sorge, dieses werde von der Landesregierung in einer Art Verdrängungswettbewerb als Konkurrenzfach zum Religionsunterricht aufgebaut, signalisierte die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg Ende 1991 ihre Bereitschaft, sich zeitlich befristet an einem Modellversuch zur Einführung von LER zu beteiligen.45 In der Folgezeit verhandelte sie diesbezüglich intensiv mit der Landesregierung. Die Verhandlungen mündeten in einen Kompromiss, der Anfang Juni 1992 in einem Kabinettsbeschluss von der Landesregierung bestätigt wurde. Geeinigt hatten sich die Streitparteien darauf, den als Pflichtfach angelegten LER-Unterricht probeweise in eine ›Integrations‹- und eine ›Differenzierungsphase‹ mit etwa gleichen Unterrichtsanteilen einzuteilen. In der bekenntnisfrei zu gestaltenden ›Integrationsphase‹ sollten alle Schülerinnen und
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43 44 45
Deutschland (EKD) war, gegen die Einführung des verpflichtenden Ethikunterrichts in Berlin; dazu unten Kapitel 6.2. Während der Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg im November 1995 kam es hierüber zum offenen Streit; vgl. den Bericht in der FR, 16. 11. 1995 sowie die Stellungnahme des Vizepräses der Synode Udo Semper in: Die Kirche 49/1995, 3. 12. 1995. Zu den prominenten Abweichlern gehörte auch der evangelische Theologe und einstige DDRRegimekritiker Friedrich Schorlemmer (vgl. Potsdamer Neueste Nachrichten, 20. 3. 1996). Vgl. Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 26. Vgl. Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 26. Vgl. dazu auch Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 26.
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Schüler gemeinsam Fragen ethischer Orientierung und Lebensgestaltung thematisieren. In der ›Differenzierungsphase‹ hingegen hatten die Schülerinnen und Schüler zwischen den Fächern Lebensgestaltung/Ethik und evangelischem Religionsunterricht zu wählen. Während der Bereich Lebensgestaltung/Ethik in alleiniger Verantwortung des Staates belassen und durch staatlich beauftragte Lehrkräfte erteilt werden sollte, sollte der Religionsunterricht, wie es im Kabinettsbeschluss in Anlehnung an Art. 7 Abs. 3 GG formuliert wurde, »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Kirchen« erteilt werden.46 Die Evangelische Kirche erhielt überdies das Recht, zusätzlich zu ihren Unterrichtsangeboten in der Differenzierungsphase des LER-Unterrichts eigenverantwortlich Religionsunterricht in den schulischen Räumen, aber außerhalb des Stundenplans anzubieten. Die Katholische Kirche, mit der die Landesregierung im Frühjahr 1992 ebenfalls Verhandlungen aufnahm, lehnte eine Beteiligung am Modellversuch im Sommer 1992 ab, weil ihre Bedingung, den Religionsunterricht in der Differenzierungsphase als ordentliches Unterrichtsfach auszugestalten, nicht erfüllt wurde.47 Der Modellversuch, der wissenschaftlich begleitet wurde,48 begann im 46 Der Kabinettsbeschluss vom 2. Juni 1992 findet sich abgedruckt in: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, Religionsunterricht und LER, 18 – 20; vgl. dazu auch: Oermann/ Zachhuber, Einigkeit, 25; Hillerich, Bildungspolitik; Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 27 f; MBJS, Abschlußbericht, 10 f. 47 Vgl. dazu die Erläuterungen des Erzbischofs von Berlin Kardinal Georg Sterzinsky in seiner mündlichen Stellungnahme vor dem Bundesverfassungsgericht im Juni 2001 (edp-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 15 – 17, hier 16). Allein die Jüdische Gemeinde in Brandenburg ließ sich ohne weitere Verhandlungen auf das Kooperationsangebot ein; vgl. mit knappen Erläuterungen zu den Hintergründen: Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 28; MBJS, Abschlußbericht, 11. 48 Vgl. den kritisch-wohlwollenden Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung: Leschinsky, Vorleben, sowie den Kommentar dazu in: Die Zeit, 10. 5. 1996 (Rückert/Gehrmann). Mit der konzeptuellen Entwicklung des Fachs sowie der Fortbildung der beteiligten Lehrkräfte wurde eine Projektgruppe am Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg (PLIB) betraut (vgl. Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 29). Zur Lehrer(fort)bildung im Fach LER vgl. ausführlich: Fauth, Religion als Bildungsgut, 123 – 222. Neben der berufsbegleitenden Qualifizierung in Verantwortung des PLIB wurden seit dem Wintersemester 1999/ 2000 an der Universität Potsdam Lehrkräfte für das Fach LER in einem interdisziplinär angelegten Aufbaustudiengang weitergebildet, bevor dort im Wintersemester 2003/2004 ein grundständiger Studiengang LER eingeführt wurde (zu Struktur und Inhalt der Fort- und Weiterbildung vgl. Leschinski, Vorleben, 113 – 127; außerdem Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 39). Ein halbes Jahr nach Beginn des Modellversuchs wurde zudem ein ›Gesellschaftlicher Beirat‹ zum Modellversuch einberufen, dessen Aufgabe es sein sollte, angesichts der kontroversen Diskussion um das Fach dessen gesellschaftliche Akzeptanz zu stärken. Dem Beirat gehörten Vertreter des Landeselternrates, des Landesrates der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte, Repräsentanten der Kirchen und des Humanistischen Verbandes (vgl. dazu Fn. 170 unten), Erziehungs- und Religionswissenschaftler und schließlich Vertreter der Schulaufsicht an (vgl. MBJS, Abschlußbericht, 12). Den Vorsitz hatte der Mainzer Religionspädagoge Gert Otto.
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Schuljahr 1992/1993 in den Klassen 7 bis 10 an 44 ausgewählten Schulen des Landes und wurde zunächst auf eine Laufzeit von einem Jahr befristet. 1993 wurde er mit einigen Änderungen verlängert und nach Ablauf von insgesamt drei Jahren im Sommer 1995 beendet.49 Anschließend wurde der Unterricht ein Jahr lang (allerdings, da die Evangelische Kirche ihre Beteiligung aufgekündigt hatte, ohne Differenzierungsphase) als Schulversuch weitergeführt, bevor LER mit Beginn des Schuljahres 1996/1997 als reguläres Unterrichtsfach eingerichtet wurde. Doch in der Zwischenzeit war, wie sich schon im Hinweis auf den Ausstieg der Evangelischen Kirche andeutet, einiges geschehen. Blenden wir also noch einmal kurz in die erste Hälfte der 1990er Jahre zurück. Gleich zu Beginn der Laufzeit des Modellversuchs war es zu politischen Veränderungen in Brandenburg gekommen, die auch einen Wechsel der Gesprächsund Verhandlungspartner im schwelenden Konflikt um das neue Schulfach nach sich gezogen hatten: So war im Oktober 1992 die Bildungsministerin Marianne Birthler (Bündnis 90), die an der Fachkonzeption maßgeblich mitgewirkt hatte und allen sachlichen Differenzen mit den Kirchen zum Trotz50 stets um deren Beteiligung an der Fachkonzeption gerungen hatte, wegen des anhaltenden Verdachts gegen den Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD), für die DDRStaatssicherheit gearbeitet zu haben, von ihrem Ministerposten zurückgetreten. Ihre Nachfolge trat ihr Fraktionskollege Roland Resch an, der deutlich weniger Interesse daran zeigte, die Kirchen einzubinden.51 Auch er jedoch verblieb nur kurze Zeit im Amt: Denn im März 1994 folgte die gesamte Fraktion Bündnis 90 Birthlers Schritt und trat aus der Potsdamer Ampelkoalition aus. In den wenigen Monaten bis zu den Landtagswahlen im Herbst 1994, die die SPD mit absoluter Mehrheit für sich entscheiden konnte, wurde Brandenburg von einer Minderheit aus SPD und FDP regiert, die von der PDS toleriert wurde. Bildungsministerin wurde die ehemalige Geschichts- und Sportlehrerin Angelika Peter (SPD), die den Vorstellungen der Kirchen wenig konziliant begegnete und von sich selbst affirmativ sagte, sie sei »ein typisches DDR-Gewächs, religionsfrei aufgewachsen«.52 So hatte sich das Gesprächsklima zwischen den Kirchen und der Lan49 Vgl. MBJS, Abschlußbericht, 13 – 14; Hillerich, Bildungspolitik, 203 – 205; Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 28 – 36. 50 So vertrat Birthler die Auffassung, die »Glaubenserziehung sollte Angelegenheit der Gemeinden bleiben« (Wochenpost 47/1995). Auch lehnte sie den von der Evangelischen Kirche favorisierten Vorschlag der Fächergruppe ab: »Kritiker von LER kritisieren den Charakter eines Pflichtfachs und plädieren für einen Wahlpflichtbereich Religion/Ethik, bei dem die Schüler sich für eines von beiden entscheiden müssen. Die Trennung in Religions- und Ethikschüler oder weitere Gruppen, also eine Wahlpflicht, wird aber oft von Gruppennormen bestimmt […] und ist der Sache wenig angemessen« (ebd. und ähnlich bereits im Sonntagsblatt, 21. 3. 1995). 51 Vgl. Fauth, Religion als Bildungsgut, 26. 52 Die Zeit, 10. 5. 1996 (Rückert).
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desregierung seit Beginn des Modellversuchs stetig verschlechtert und war insbesondere in der wichtigen Phase des Übergangs zum regulären Schulfach LER zunehmend rau geworden.53 Dies schlug sich auch in den Abschlussberichten nieder, die von sämtlichen Beteiligten des Modellversuchs vorgelegt wurden.54 In diesen kommen alle Seiten überein, dass sich das Konzept der Differenzierungsphase, das die Evangelische Kirche in ihren Verhandlungen mit der Landesregierung als Kompromiss durchgesetzt hatte, sowohl in didaktischer Hinsicht als auch und vor allem angesichts des sehr geringen Schülerinteresses an evangelischem Religionsunterricht nicht bewährt hatte. In der Tat konnte eine Differenzierungsphase in Ermangelung interessierter Schülerinnen und Schüler nur an wenigen Schulen überhaupt stattfinden. Vor diesem Hintergrund war die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg bereits während ihrer Synode im Herbst 1994 erneut auf Distanz zum Konzept des LER-Unterrichts gegangen und hatte den Vorschlag in die Debatte eingebracht, in Brandenburg einen Wahlpflichtbereich aus den Fächern ›Religion‹ und ›Lebensgestaltung/Ethik‹ einzurichten.55 Dass sie nach den ernüchternden Erfahrungen mit der Differenzierungsphase im Rahmen des LER-Unterrichts erwartete, mit dieser Konstellation – die anders als das LER-Konzept auf eine strikte Gleichrangigkeit der beteiligten Fächer baute und deshalb nach Auffassung Wolfgang Hubers eine »echte[] Chancengleichheit der Weltsichten« gewährleistet hätte56– ein größeres Schülerinteresse an evangelischem Religionsunterricht zu wecken, mag auf den ersten Blick erstaunen. Es erklärt sich aber, wenn man einen Blick auf die Entwicklung der Schülerzahlen des evangelischen Religionsunterrichts wirft, der während der Modellversuchsphase zusätzlich zu dem Unterrichtsangebot der Evangelischen Kirche im Rahmen der LER-Differenzierungsphase auf freiwil-
53 Fauth bewertet die Rolle der Bildungsminister/innen als maßgeblichen Akteuren im Streit sehr hoch und nimmt eine »personenbezogene Periodisierung« von der »Ära Birthler« über die »Ära Resch« zur »Ära Peter« vor (vgl. Fauth, Religion als Bildungsgut, 24 – 34). Insbesondere gegen Ende des Modellversuchs äußerten die Beteiligten zunehmend öffentlich Kritik am zugrundeliegenden Konzept; vgl. die Presseresonanz: Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg, L-E-R im Spiegel der Presse, Januar 1997, hier insbesondere das Presseecho in der ersten Jahreshälfte 1995. 54 Siehe die Berichte der wissenschaftlichen Begleitung (Leschinsky, Vorleben), der mit der Fortbildung der Lehrkräfte beauftragten Projektgruppe (Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung), der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Auszüge in: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, Religionsunterricht und LER, 47 – 52; Positionen, 54 – 56) sowie des zuständigen Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (MBJS, Abschlußbericht); vgl. dazu auch Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 28 – 36. 55 Vgl. Hillerich, Bildungspolitik, 204 f. 56 So Huber in einem Interview in: Die Zeit, 10. 5. 1996; ähnlich in einem Interview mit der Berliner Zeitung, 28. 8. 1995.
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liger Basis neben dem regulären Stundenplan angeboten wurde.57 Denn hier ergab sich ein überraschend anderes Bild: So stieg die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die freiwillig am evangelischen Religionsunterricht teilnahmen, zwischen 1992 und 1995 stetig an.58 Das Modell der Fächergruppe, das heißt eines Wahlpflichtbereichs aus kirchlich verantwortetem Religionsunterricht und staatlich getragenem Unterricht im Fach Lebensgestaltung/Ethik, das über Brandenburg hinaus von der EKD übernommen und als mögliches bundesweites Zukunftsmodell präsentiert wurde,59 fand zudem die Zustimmung der Katholischen Kirche,60 traf es sich doch mit deren Forderung nach einer Umsetzung der Bestimmungen aus Art. 7 Abs. 3 GG auch in Brandenburg. Dass die Evangelische Kirche im Mai 1995, kurz vor Beendigung des Modellversuchs, endgültig ihren Ausstieg aus der Unterrichtskooperation ankündigte,61 vermochte vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung kaum noch zu überraschen. Im Juni 1995 wandte sich der Landesbischof Wolfgang Huber in einem Brief an die Mitglieder des Landtages, um die Beweggründe der Kirche erneut zu erläutern und bei den Abgeordneten für den Vorschlag der Fächergruppe zu werben. Darin machte er auch noch einmal die aus Sicht der Kirche grundlegenden Unterschiede zwischen der in den Gemeinden verankerten und von Katecheten erteilten ›Christenlehre‹ auf der einen und schulischem Religionsunterricht durch theologisch geschulte Lehrerinnen und Lehrer auf der anderen Seite deutlich. Während die ›Christenlehre‹ »genuin und unaufgebbar zum Verkündigungsauftrag der Gemeinden« gehöre, leiste der Religionsunterricht einen unentbehrlichen »Beitrag zum Bildungsauftrag der 57 Die Möglichkeit hierzu war in der Vereinbarung zur Beteiligung am Modellversuch LER, die die EKiBB 1992 mit der Landesregierung ausgehandelt hatte, ausdrücklich eröffnet worden; vgl. dazu Fn. 46 oben. 58 Nahmen zu Beginn des Modellversuchs LER im ersten Schulhalbjahr 1992 zunächst nur 1.239 Kinder das Unterrichtsangebot wahr, so waren es an dessen Ende 6.657. Diese Zahlen sind allerdings insofern etwas irreführend, als sie sich auf sämtliche Schularten beziehen und ausweisen, dass der Großteil des Unterrichts an Grundschulen stattfand (in denen es in der Modellversuchphase keinen LER-Unterricht gab). Allerdings ist aus der Erhebung auch zu ersehen, dass die Zahl der weiterführenden Schulen, an denen Religionsunterricht zustande kam, im Untersuchungszeitraum ebenfalls erheblich anstieg; vgl. Evangelischer RU im Land Brandenburg – Statistische Übersicht, 1996, 60. Statistische Erhebungen zur weiteren Entwicklung (1992 bis 2000) finden sich in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 29 f; sie bestätigen den Aufwärtstrend und weisen für das Jahr 2000 19.416 Schülerinnen und Schüler im evangelischen Religionsunterricht aus. 59 Vgl. die Denkschrift der EKD zu »Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität« aus dem Sommer 1994: EKD, Identität und Verständigung; dazu: Jödicke, Verhältnis, 231 – 234. 60 Vgl. die Gemeinsame Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und des Erzbistums Berlin zum Entwurf des brandenburgischen Schulgesetzes im Oktober 1995. 61 Vgl. das Interview mit dem Öffentlichkeitsbeauftragten der EKiBB Reinhard Stawinski in: Die Welt, 22. 5. 1995.
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Schule«.62 Huber wiederholte in seinem Schreiben die kirchlichen Vorbehalte gegen ein verpflichtendes »wertorientierendes staatliches Pflichtfach« und bezweifelte zugleich, dass es sich beim Fach LER, wie von seinen Befürwortern behauptet werde, um »bekenntnisfreien Unterricht« handele.63 »Kann es das«, so fragte der Bischof, »– zumal bei Fragen der Lebensgestaltung-Ethik-Religion(en) – überhaupt geben?«64 Und solle es das geben? Sollten Lehrerinnen und Lehrer »um der Bekenntnisfreiheit willen versuchen, sich bis zur Unkenntlichkeit zurückzunehmen«? Huber war der Auffassung: Wenn der Unterricht wertorientierte und praktische Lebenshilfe geben soll, reicht es nicht aus, Positionen, Weltanschauungen und Religionen als bunte Vielfalt eines großen Angebots bekanntzumachen.65
Vielmehr entwickle sich eine Persönlichkeit doch gerade in der Auseinandersetzung mit klar erkennbaren Standpunkten. Der Brief des Bischofs macht deutlich: Der Streit um LER war mit dem Ausstieg der Evangelischen Kirche aus der Unterrichtskooperation nicht beendet. Im Gegenteil: Fortan stritten die Kirchen engagiert für ihr Modell der Fächergruppe, während die Landesregierung unbeirrt eine Änderung des Schulgesetzes vorbereitete, mit der LER auch ohne Beteiligung der Kirchen als reguläres und allgemein verpflichtendes Unterrichtsfach an den Schulen des Landes verankert werden sollte. Begleitet wurde dieser Streit, der schließlich seinen Weg vor das Bundesverfassungsgericht finden sollte, von einer breiten öffentlichen Debatte, die weit über die Grenzen Ostdeutschlands hinaus auch im Westen der Republik ausgetragen wurde.66 So wurde der Brandenburger Sonderweg in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit als Signal verstanden, dass religionspolitische und religionsrechtliche Selbstverständlichkeiten der ›alten‹ Bundesrepublik insgesamt ins Wanken geraten könnten. Zumindest wurden den Verantwortlichen in Brandenburg entsprechende Ambitionen unterstellt. So war im Oktober 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen: Von Anfang an war es der Ehrgeiz des Potsdamer Bildungsministeriums, mit einer neuen Lösung des Religionsunterrichts im Bund Vorreiter werden zu wollen in einer weitgehend entkirchlichten Gesellschaft. […] Sollte LER in Brandenburg tatsächlich staatliches Pflichtfach […] werden, dann könnte dies auch Konsequenzen für die 62 Vgl. den Brief des Bischofs Dr. Wolfgang Huber an die Mitglieder des Landtages Brandenburg vom 19. 6. 1995, wiederabgedruckt in: Positionen, 1996, hier 57. 63 Ebd., 56 f. 64 Ebd., 57. 65 Ebd. 66 Vgl. den knapp 700 Seiten umfassenden Pressespiegel der Jahre 1995 und 1996 (›L-E-R im Spiegel der Presse‹), den das Pädagogische Landesinstitut Brandenburg 1997 erstellt hat. Den Pressespiegel hat mir freundlicherweise das zuständige Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg zur Verfügung gestellt.
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Verdrängung des […] Religionsunterrichts in den übrigen Bundesländern haben. Und genau davon träumt die Potsdamer SPD.67
Von katholischer Seite wurde dieser Eindruck geteilt und ein »bundesweiter Dammbruch« befürchtet.68 Doch nicht nur die erklärten Gegner der brandenburgischen Schulpolitik nahmen die Einführung des neuen Unterrichtsfachs LER im religionsrechtlichen und -politischen Horizont der ehemaligen ›Bonner Republik‹ wahr. Auch etliche Befürworter hoben die potentiellen bundesweiten Folgen hervor. Ausdrücklich begrüßten sie den brandenburgischen Weg als Weichenstellung im Hinblick auf eine Neuregelung des Religionsunterrichts in ganz Deutschland. So gab der Bremer Religionspädagoge und evangelische Theologe Jürgen Lott, der von 1996 bis 2001 als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats die Einführung des neuen Schulfachs in Brandenburg begleiten sollte, im Juni 1995 in der Frankfurter Rundschau zu Protokoll, dass »mit einem anachronistischen Repräsentationsanspruch von Kirche in der Schule gebrochen werden« müsse. Lott führte aus: Die weitere Entwicklung in Brandenburg (und Berlin) ist auch für die übrigen Bundesländer und für europäische Nachbarn von Interesse. […] Die pädagogisch sinnvolle Alternative zu dem Modell des kirchen-konfessionell gebundenen Religionsunterrichts mit ›Ethik‹ als Ersatz ist die Einrichtung eines integrierenden Lernbereichs oder Schulfaches, in dem sich die Schülerinnen und Schüler mit der weltanschaulichen Vielfalt ihrer Alltagswelt vertraut machen können […]. Das für Brandenburgs Schulen geplante neue Fach ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde‹ stellt einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar.69
Von einer »Pilotfunktion für Deutschland« sprach im September 1995 auch der Mainzer Religionspädagoge Gert Otto, der Vorsitzende des noch in der Schulversuchsphase einberufenen ›Gesellschaftlichen Beirats‹ des neuen Fachs.70 Die bundesweite Unruhe, die Brandenburg mit der Einführung von LER auslöste, hielt Otto mit Blick auf den in seinen Augen auch im Westen anstehenden Umbau des Religionsunterrichts ausdrücklich für wünschenswert. Hierin war er sich einig mit der zuständigen Ministerin Angelika Peter, die im Juni 1995 in der Deutschen Lehrerzeitung das »große bundesweite Interesse an LER« begrüßte und dieses mit der »Krise« des »herkömmlichen Religionsunterrichts« in Zusammenhang brachte.71 Auch die Erziehungswissenschaftler, die den Schulversuch begleitet hatten, hoben in ihrem Abschlussbericht die »bundesweite Re67 FAZ, 11. 10. 1995. 68 So der Bundesvorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschlands und CSU-Bundestagsabgeordnete Walter Eykmann im August 1995 in: Katholische Kirchenzeitung Berlin, 6. 8. 1995. 69 FR, 8. 6. 1995. 70 Zit. nach: Märkische Oderzeitung, 22. 9. 1995. Zum Beirat vgl. Fn. 48 oben. 71 Deutsche Lehrerzeitung 25/95, 22. 6. 1995.
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levanz« der Initiative Brandenburgs hervor.72 Für die »Einrichtung eines Lernbereichs oder Fachs im moralisch-evaluativen Bereich«, wie sie es nannten, votierten sie nicht zuletzt angesichts »einer fortschreitenden Säkularisierung der modernen Gesellschaft, die keineswegs auf die besonderen Verhältnisse in der ehemaligen DDR beschränkt« sei.73 Mit der Einführung von LER an brandenburgischen Schulen schien also eine langfristige Entwicklung angestoßen. Dabei – so befürchteten die einen und hofften die anderen – »geht der Osten vorneweg, der Westen hinkt hinterher«.74
6.1.2 »Niemandsland der Gleich-Gültigkeit« oder Wegweiser im Wertedschungel? LER auf dem Weg von Potsdam nach Karlsruhe und zurück Im Herbst 1995 – die Republik stritt gerade noch heftig um Bedeutung und Wirkung bayerischer Schulkreuze – legte die SPD-geführte brandenburgische Landesregierung nach monatelangen Debatten75 einen ersten Gesetzentwurf zur Einführung von LER vor. Im Entwurf für § 11 des neuen Schulgesetzes hieß es: Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über die Grundsätze der philosophischen Ethik sowie über Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.76
Was bei der Lektüre des Entwurfs zunächst ins Auge fällt, ist die veränderte Fachbezeichnung des Lernbereichs ›R‹ von ›Religion‹ (oder ›Religionen‹) zu 72 73 74 75
Leschinsky, Vorleben, 188. Ebd. So Anja Dilk in: Die Zeit, 2. 6. 1995. Die Streitigkeiten (die sowohl parteiintern ausgetragen wurden als auch zwischen den politisch Verantwortlichen und den Kirchen) fanden ihr Echo in der Presse. Die unzähligen Leserzuschriften in dem vom Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg zusammengestellten Pressespiegel aus den Jahren 1995 und 1996 können als Beleg für das breite öffentliche Interesse gewertet werden, das der Streit um LER entfachte; insbesondere in der regionalen Presse (Märkische Allgemeine, Märkische Oderzeitung, Lausitzer Rundschau, Potsdamer Neueste Nachrichten, Oranienburger Generalanzeiger) boten die Leserbriefrubriken der Kontroverse ein entsprechendes Forum; vgl. Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg, L-E-R im Spiegel der Presse, Januar 1997. 76 Die LER betreffenden Regelungen waren Bestandteil des Gesamtentwurfs der Landesregierung für das brandenburgische Schulgesetz (vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 2/1675, 25. 10. 1995, darin § 11 und § 9, hier § 11). Ein übersichtlicher Wiederabdruck der Passagen, die das neue Schulfach (§ 11) sowie den Status des Religionsunterrichts (§ 9) betreffen, findet sich in dem vom zuständigen Ministerium herausgegebenen Abschlußbericht zum Schulversuch LER, aus dem im Folgenden zitiert wird: MBJS, Abschlußbericht, 49 – 52, hier 49 (aus § 11 Abs. 2).
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›Religionskunde‹. Zu der Änderung hatte sich die Landesregierung entschieden, nachdem die Evangelische Kirche ihre Mitarbeit am LER-Unterricht aufgekündigt hatte. Sie suchte damit, dem (schon in der frühen Planungsphase vorgebrachten) Argument zuvorzukommen, der Staat maße sich in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise an, Unterricht im Fach ›Religion‹ zu erteilen. Mit der Umbenennung des Lernbereichs ›R‹ in ›Religionskunde‹ schien diese Gefahr gebannt: Denn sollte es dem in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutralen Staat verwehrt sein, Wissen über Religionen – bzw., wie es im Gesetzentwurf hieß, »über Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften« – zu vermitteln? Die Kirchen aber blieben misstrauisch. Sie witterten einen Etikettenschwindel. Noch Jahre später, im Juni 2001, als die Angelegenheit vor dem Bundesverfassungsgericht mündlich verhandelt wurde, erklärte der Staatsund Kirchenrechtler Martin Heckel als Vertreter der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg: Die Wahrheitsfrage ist nicht durch Begriffsvertauschung zu umgehen, d. h. durch die nachträgliche Firmierung dieser Staatserziehung im Fach ›Religion‹ als ›neutrale‹ ›Religionskunde‹, wie dies Brandenburg […] tat, um die Kollision mit der Regelung des Religionsunterrichts in Art. 7 III GG zu verschleiern.77
Im dem Gesetzentwurf zur Einführung von LER, den die Landesregierung Brandenburgs im Oktober 1995 vorlegt hatte, war freilich von »Staatserziehung« nicht die Rede. Vielmehr wurde ausdrücklich hervorhoben, dass im Unterricht im Fach LER »den unterschiedlichen Wertvorstellungen und Bekenntnissen der Schülerinnen und Schüler mit Offenheit und Toleranz zu begegnen« sei.78 Und gleichsam als Garantie für diese »Offenheit und Toleranz« wurde im Anschluss daran bestimmt: »Das Fach wird bekenntnisfrei unterrichtet.«79 Zudem fand auch eine Befreiungsklausel Eingang in § 11 des ersten Gesetzentwurfs: Danach sollten Schülerinnen und Schüler »auf Wunsch« vom LER-Unterricht befreit werden, »wenn sie regelmäßig an einem von einer Kirche oder Religionsgemeinschaft angebotenen Religionsunterricht teilnehmen.«80 Dass die »Kirchen und Religionsgemeinschaften« die Möglichkeit erhalten sollten, ein solches eigenes Unterrichtsangebot zu unterbreiten und auf freiwilliger Basis diejenigen Schülerinnen und Schüler, die (bzw. deren Eltern) dies wünschten, in den
77 Heckel, Verfassungsmäßigkeit, 67 [Hervorhebungen im Original]. 78 Vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 2/1675, 25. 10. 1995, § 11 Abs. 2. 79 Ebd. Im nachfolgenden Absatz wurde vorgesehen, LER als ordentliches Unterrichtsfach in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 einzurichten sowie »entsprechende Lehrinhalte« in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 im Rahmen des »Sachunterrichts« zu thematisieren (ebd., § 11 Abs. 3). 80 Ebd., § 11 Abs. 4.
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Räumen der Schule von Lehrkräften, die sie selbst beauftragen, nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten, wurde in § 9 des Gesetzentwurfs geregelt.81 Mit der Möglichkeit, sich vom LER-Unterricht befreien zu lassen, suchte die Landesregierung den Konflikt mit den Kirchen und mit Teilen der Elternschaft zu entschärfen. Denn in der Schlussphase des Modellversuchs und während der sich anschließenden Beratungen der Landesregierung zum Gesetzentwurf im Sommer und Herbst 1995 hatte die Angelegenheit eine zunehmend breite Öffentlichkeit so sehr beschäftigt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des neuen Fachs bedroht schien. »Wir wollten«, so erklärte die Bildungsministerin Angelika Peter, »Streit mit den Eltern aus dem Wege gehen«.82 Mit der im Gesetz eröffneten Möglichkeit, LER zugunsten des Religionsunterrichts abzuwählen, werde der angedrohten Verfassungsklage der Boden entzogen: »Ein Klagegrund«, so die Ministerin, sei nunmehr » hinfällig, da ja die Abwahlmöglichkeit besteht.«83 In der Begründung zum Gesetzentwurf hieß es diesbezüglich, es werde mit der Abmeldemöglichkeit »die Empfindung derer respektiert, die eine religiös geprägte Wertorientierung wünschen.«84 Allerdings wurde zugleich nachdrücklich hervorgehoben, dass es sich hierbei lediglich um ein politisches Zugeständnis handele. Wegen der bekenntnisneutralen Ausrichtung des Fachs sei nämlich eine Befreiungsmöglichkeit aus rechtlicher Sicht keineswegs zwingend:85 Wenngleich die bekenntnisneutrale Ausrichtung des Faches Lebensgestaltung-EthikReligionskunde nur den Verzicht auf Glaubenserziehung, nicht aber etwa eine Erziehung zum Nichtglauben bedeutet, muß doch in Rechnung gestellt werden, daß sich die Anhänger eines Glaubens durch die Teilnahme an einem Unterricht über ihre Religion, der nicht auf Glaubenserziehung ausgerichtet ist, beschwert fühlen könnten.86
Doch auch dieses Zugeständnis vermochte den kirchlichen Widerstand gegen die Einführung von LER nicht zu brechen. In den hitzigen Diskussionen, die der 81 Vgl. ebd., § 9 Abs. 2; dort (Abs. 2 und 3) auch weitere Erläuterungen zur Eingliederung des Religionsunterrichts in die Unterrichtszeit, zur Anrechnung des Religionsunterrichts auf das Unterrichtsdeputat der Lehrkräfte, finanzielle Zuschüsse etc. In der Begründung zum Gesetzentwurf berief sich die Landesregierung explizit auf Art. 141 GG, der nach ihrer Auffassung »dem Land Entscheidungsfreiheit über die Ausgestaltung des Religionsunterrichts an Schulen gibt« und entsprechend von der Pflicht zur Einrichtung von Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG dispensiert (vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 2/1675, 25. 10. 1995, 123). 82 Zit. nach: Der Tagesspiegel, 12. 1. 1996. 83 Zit. nach: Potsdamer Neueste Nachrichten, 26. 10. 1995. 84 Vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 2/1675, 25. 10. 1995, dort aus der Begründung, 127. 85 Ganz im Gegenteil, so meinten manche, sei es rechtlich geradezu bedenklich, die Möglichkeit zu schaffen, sich von einem allgemeinbildenden verpflichtenden Unterricht durch Teilnahme an einem freiwilligen, von Staat nicht verantworteten Unterrichtsangebot befreien zu lassen; vgl. den Bericht in: Der Tagesspiegel, 12. 1. 1996. 86 Landtag Brandenburg, Drucksache 2/1675, 25. 10. 1995, 127.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Vorstellung des ersten Gesetzentwurfs folgten, bestanden die Kirchen weiterhin darauf, nicht nur die Möglichkeit zur Unterrichtsbefreiung zugunsten eines freiwilligen Religionsunterrichts im Gesetz zu verankern, sondern eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei konsequent gleichberechtigten ordentlichen Lehrfächern ›Lebensgestaltung/Ethik‹ und ›Religion‹ zu schaffen. Sie werteten die Befreiungsklausel als Beleg für die innere Widersprüchlichkeit des Gesetzentwurfs: Die Bereitschaft des Gesetzgebers, eine Befreiung vom LER-Unterricht zu ermöglichen, kam ihres Erachtens dem Eingeständnis gleich, die behauptete weltanschauliche Neutralität des Fachs doch nicht garantieren zu können.87 Gegenwind kam aber nicht nur von kirchlicher Seite. Auch das eigene politische Lager hatte die Landesregierung mit ihrem Kompromissangebot nicht zufrieden gestellt. Denn auch innerhalb der SPD-Landtagsfraktion war die Befreiungsklausel sehr umstritten. Bereits im Vorfeld der Vorstellung des ersten Entwurfs hatte sich beträchtlicher Widerspruch geregt. Die Fraktionsmehrheit argumentierte, mit der Befreiungsklausel werde die zentrale Idee des Fachs unterlaufen, einen integrierten Lernbereich für alle Schülerinnen und Schüler zu schaffen.88 So folgte auf die Vorlage des Gesetzentwurfs ein monatelanges parteiinternes Gezerre. Erst im Frühjahr 1996 und nach einer grundlegenden Überarbeitung des ersten Entwurfs konnte Ministerpräsident Manfred Stolpe, der sich für einen Kompromiss mit den Kirchen aussprach, den Streit beenden und die Landtagsfraktion dazu bewegen, ihre Bereitschaft zur Zustimmung für einen inzwischen veränderten Gesetzentwurf zu signalisieren.89 Kurz bevor den Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages die überarbeitete Fassung des Gesetzentwurfs zur Entscheidung vorgelegt wurde, befasste sich schließlich auch der Deutsche Bundestag, der sich nie zuvor in das Gesetzgebungsverfahren eines Bundeslandes eingeschaltet hatte, mit dem
87 Vgl. die Berichterstattung in: FAZ, 11. 10. 1995 sowie Potsdamer Neueste Nachrichten, 2. 10. 1995. 88 Vgl. etwa: Der Tagesspiegel, 19. 9. 1995 und 29. 9. 1995; Märkische Oderzeitung, 22. 9. 1995; Die Welt, 22. 9. 1995; Potsdamer Neueste Nachrichten, 29. 9. 1995. Eine Expertenkommission aus Religions- und Erziehungswissenschaftlern aus Ost- und Westdeutschland sprang in dem Streit der SPD-Fraktion mit einer Argumentationshilfe zugunsten eines allgemeinbildenden Schulfachs LER ohne Abwahlmöglichkeit zugunsten von Religionsunterricht zur Seite (vgl. die beiden Berichte in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 26. 9. 1995). In der Süddeutschen Zeitung wurde die Position vertreten, es handle sich nur vordergründig um einen Konflikt zwischen der SPD-geführten Landesregierung und der SPD-Landtagsfraktion; vielmehr habe man es mit einer Neuauflage des alten Konflikts zwischen einer laizistischen und einer der Religion einen öffentlichen Raum zumessenden Gesellschaftsvorstellung zu tun; vgl. SZ, 5. 10. 1995. 89 Vgl. etwa: Der Tagesspiegel, 9. 11. 1995, 12. 11. 1995, 12. 1. 1996, 16. 3. 1996 (Schlicht), 17. 3. 1996; Berliner Zeitung, 26. 10. 1995, 21. 2. 1996; Potsdamer Neueste Nachrichten, 26. 10. 1995, 15. 3. 1996; Berliner Morgenpost, 8. 11. 1995, 15. 3. 1996; auch Hillerich, Bildungspolitik, 205.
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Konflikt.90 Auf der Plenarsitzung vom 15. März 1996 votierten die Abgeordneten mehrheitlich für einen Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP, in dem der Brandenburgische Landtag aufgefordert wurde, das Schulgesetz in der geplanten Fassung abzulehnen, da es gegen das Grundgesetz verstoße.91 In der Bundestagsdebatte wurde deutlich, wie sehr im brandenburgischen Konflikt Grundsatzfragen zur Sprache kamen, denen Relevanz weit über die Grenzen Brandenburgs und auch Ostdeutschlands hinaus zugemessen wurde.92 So wurde nicht nur die zentrale verfassungsrechtliche Streitfrage, ob Brandenburg Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen kann und damit von der Einführung ordentlichen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG dispensiert ist, erneut diskutiert. Kontrovers wurde vor allem um die Frage nach der Bedeutung der (christlichen) Religion und damit des Religionsunterrichts für die bundesrepublikanische Gesellschaft gestritten. Einig waren sich alle Seiten in der Diagnose: Übereinstimmend beklagten die Rednerinnen und Redner die allgemeine und »tiefempfundene Wertekrise«,93 die beunruhigende »zunehmende[] Orientierungslosigkeit«94 sowie die in West wie Ost »zunehmende[ ] Werteerosion«.95 Im Hinblick auf die in dieser Lage geeignete Therapie gingen die Meinungen freilich weit auseinander. Für die CDU/CSU hielt der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble eine engagierte Rede. Es gehe, so konstatierte er eingangs, nicht schlicht um die Schulgesetzgebung eines Bundeslandes, sondern um Grundvoraussetzungen staatlich geregelten Zusammenlebens in unserer freiheitlich-pluralistischen Demokratie. Es geht um die Menschen, um ihre Orientierungsfähigkeit gerade in Existenzfragen. […] Das Thema zwingt uns, uns über Grundwerte und über ihre Vermittlung im freiheitlichen Verfassungsstaat zu vergewissern.96
Den Kirchen schrieb er hierbei eine »herausgehobene Position« zu, »denn sie leisten, was niemand sonst zu leisten vermag«.97 Schäuble berief sich auf pro90 Vgl. Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 30. 91 Vgl. den Antrag: »Verfassungsgebotene Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg« vom 12. 3. 1996 (Deutscher Bundestag, Drucksache 13/4073). Das namentliche Abstimmungsergebnis (320 Ja-Stimmen, 274 Nein-Stimmen, 14 Enthaltungen) findet sich in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996, 8569 – 8571. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Bundestag möge dazu auffordern, die Hoheit des Landes Brandenburg zu achten und seiner Wertschätzung des Fachs LER Ausdruck zu geben, wurde in nicht-namentlicher Abstimmung abgelehnt (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 13/4090). Siehe auch die Berichterstattung in: Der Tagesspiegel, 16. 3. 1996 (SPD sieht Attacke). 92 Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996, 8539 – 8566 und 8569 – 8571. 93 So Wolfgang Schäuble (CDU): ebd., 8542. 94 So der parteilose Minister für Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg Hans Otto Bräutigam: ebd., 8548 f. 95 So Christa Nickels (Bündnis 90/Die Grünen): ebd., 8553. 96 So Wolfgang Schäuble: ebd., 8541 f. 97 Ebd., 8542.
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minente Gewährsmänner, um seine Auffassung zu autorisieren, dem Religionsunterricht komme eine unersetzliche Rolle für die stetige moralische Regeneration der ethischen Grundlagen des Gemeinwesens zu. Neben dem Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee bemühte er unter anderem auch den Münchner Philosophen Robert Spaemann sowie den in diesem Kontext immer wieder in Anspruch genommenen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde.98 »Die freiheitlich-pluralistische Gesellschaft«, so suchte Schäuble seine Überzeugung von der geradezu existentiellen Abhängigkeit des freiheitlichen Staates von der Religion zu untermauern, bleibt auf die Bindekraft, auf den inneren Zusammenhalt, den der Wertekonsens und den eine stabile Wertgrundlage liefert, geradezu existentiell angewiesen. Ich frage, ob nicht die Religion […] die wichtigste Quelle von Wertorientierungen und Grundüberzeugungen gewesen ist und ob nicht die Gefahr besteht, daß gemeinsame Wertegrundlagen schwächer werden, ja, verdorren, wenn die religiösen Quellen zu versiegen drohen. […] Ein Unterricht nach Art von ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde‹ ist nicht geeignet, jungen Menschen moralische Urteilskraft, die Fähigkeit zu eigenständiger Orientierung in der Welt zu vermitteln. Dazu reicht eine unverbindliche Weltanschauungs- und Religionskunde nicht aus.99
Religionen »lediglich als buntes Kaleidoskop von Angeboten« zu präsentieren, fördere allenfalls die Konsumerwartung, diene aber nicht der Werteerziehung. Ein solches Fach, so Schäuble, »verwirrt und entmutigt«.100 Statt dessen plädierte er für einen Unterricht, der nicht davor zurückschrecke, Standortgebundenheit zu vermitteln, denn »[z]wischen eigener religiös-weltanschaulicher Identität und Überzeugung und Toleranz gegenüber anderen besteht kein Widerspruch, ganz im Gegenteil.«101 Für die brandenburgische Landesregierung erhob der Justizminister des Landes Hans Otto Bräutigam vor den Abgeordneten des Bundestages das Wort. Freimütig sprach er davon, es gebe »eine ›Allergie‹ gegen staatlichen Religionsunterricht in den neuen Ländern«,102 hob aber hervor, das Land wünsche und finanziere den freiwilligen Religionsunterricht in kirchlicher Alleinverantwortung. Mit der Einführung von LER bemühe sich Brandenburg mit großem Ernst darum, in einer Zeit fortschreitender Säkularisierung und zunehmender Orientierungslosigkeit, die mich so beunruhigt, wie sie viele von Ihnen be98 Böckenförde gehörte dem Bundesverfassungsgericht als Mitglied des Zweiten Senats von Dezember 1983 bis Mai 1996 an. 99 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996, 8542 f. Zum ›Böckenförde-Diktum‹, an das sich diese Ausführungen Schäubles anlehnen, vgl. die Erörterungen im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit. 100 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996, 8543. 101 Ebd. 102 Ebd., 8547.
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unruhigt, ein auf Wissen und Gewissen gegründetes Wertebewusstsein zu vermitteln.103
Der Abgeordnete Rainer Eppelmann (CDU) hingegen warf die grundsätzliche Frage auf, ob staatliche Religionskunde nicht darauf hinauslaufe, daß aus dem religiösen Bereich lediglich noch unverbindlich die Ethikanteile abgeschöpft werden, die gerade als staatsbürgerlich wünschenswert betrachtet werden. Wird damit die Religion nicht zu einem Steinbruch ethischer Lehrsätze verengt, deren Begründungszusammenhang und innovative Kraft nicht mehr erkennbar gemacht werden können?104
Doch weder die engagierte Debatte im Deutschen Bundestag noch die Drohung der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, eine Normenkontrollklage105 beim Bundesverfassungsgericht anzustrengen, falls Brandenburg nicht »eine der bundesstaatlichen Ordnung entsprechende verfassungsmäßige Regelung […], wie sie auch die Kirchen in Brandenburg vorgeschlagen haben«, finde,106 vermochten die Mehrheitsverhältnisse im Brandenburgischen Landtag noch zu wenden. So verabschiedete der Landtag nach hitziger Diskussion107 mit der Mehrheit der Stimmen der SPD-Abgeordneten in seiner Sitzung am 28. März 1996 die neue Beschlussvorlage der Landesregierung.108 Darin ist die Möglichkeit der Befreiung vom LER-Unterricht weiter vorgesehen, allerdings im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf erheblich erschwert und von der Teilnahme am Religionsunterricht gänzlich entkoppelt worden. Auch die Bestimmungen zur inhaltlichen Orientierung des Fachs LER waren im Vergleich mit der Erstfassung teilweise erheblich abgeändert worden. So wurde hin103 Ebd., 8548 f. 104 Ebd., 8559. 105 Das Normenkontrollverfahren ist eine spezifische Verfahrensart des Bundesverfassungsgerichts. Es dient der Überprüfung der Vereinbarkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes mit dem Grundgesetz. Zu unterscheiden sind abstrakte und konkrete Normenkontrolle. Eine abstrakte Normenkontrolle kann von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder (wie im vorliegenden Streitfall) von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages in Gang gesetzt werden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 13 Nr. 6 im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht). Eine konkrete Normenkontrolle kann von einem anderen Gericht beantragt werden, wenn dieses ein Gesetz für verfassungswidrig hält (Art. 100 Abs. 1 GG und § 13 Nr. 11 im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht). 106 So in der Begründung des von der Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages verabschiedeten Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP; vgl. Fn. 91 oben. 107 Vgl. die Plenarprotokolle vom 27. und 28. 3. 1996: Landtag Brandenburg, Plenarprotokoll 2/ 32, 2937 – 2968; Plenarprotokoll 2/33, 3047 – 3054. 108 Vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 2/2349, 19. 3. 1996, sowie Drucksache 2/2350, 27. 3. 1996. Siehe auch die Berichterstattung in: Der Tagesspiegel, 29. 3. 1996; Potsdamer Neueste Nachrichten, 29. 3. 1996. Die veränderte Gesetzesvorlage wurde mit 44 Ja-Stimmen, 32 Nein-Stimmen sowie 4 Enthaltungen verabschiedet (vgl. das namentliche Abstimmungsergebnis in: Landtag Brandenburg, Plenarprotokoll 2/32, 27. 3. 1996, 3119).
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
sichtlich der Zielorientierung des neuen Unterrichtfachs, an dessen veränderter Fachbezeichnung im Lernbereich ›R‹ festgehalten wurde, festgelegt: Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren.109
Hinzugefügt wurde eine punktuell allerdings ebenfalls veränderte Passage aus dem ersten Entwurf des Gesetzes,110 derzufolge das Fach der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen111
(statt, wie im ersten Entwurf, »über Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften«112) dienen solle. Im darauf folgenden Absatz wurde festgelegt, dass das Fach »bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet« werde.113 Anders als im Erstentwurf wurde darüber hinaus bestimmt, dass die Eltern »über Ziele, Inhalte und Formen des Unterrichts […] rechtzeitig und umfassend« zu informieren seien und »[g]egenüber der religiösen oder weltanschaulichen Gebundenheit von Schülerinnen und Schülern […] Offenheit und Toleranz zu wahren« sei.114 Die strittige Befreiungsklausel, die sich im ersten Entwurf direkt an die Ausführungen zur Zielorientierung des neuen Schulfachs in § 11 anschloss, wurde aus dem Zusammenhang dieses Paragraphen gänzlich herausgenommen und in den neu geschaffenen § 141 ausgelagert, der die verwaltungstechnischen Bestimmungen über die Einführungsmodalitäten des neuen Fachs behandelte. Dort hieß es nun: Die staatlichen Schulämter können eine Schülerin oder einen Schüler auf Antrag der Eltern vom Unterricht im Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde befreien, wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt.115
Mit dieser Formulierung waren die parteiinternen Befürworter der Befreiungsklausel deren Gegnern deutlich entgegengekommen: Hatte es im ersten 109 110 111 112 113 114 115
§ 11 Abs. 2 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Vgl. Fn. 76 oben. § 11 Abs. 2 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Vgl. Fn. 76 oben. § 11 Abs. 3 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Ebd. § 141 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Dieses Recht sollte, so wurde im Anschluss festgesetzt, mit Vollendung des 14. Lebensjahres von den Schülern und Schülerinnen selbst wahrgenommen werden (vgl. ebd.).
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Gesetzentwurf noch geheißen, die Befreiung solle »auf Wunsch« ermöglicht werden,116 so wurde nunmehr verlangt, für diesen Wunsch einen »wichtige[n] Grund » anzugeben. Die Unterschiede zwischen dem ersten Entwurf vom Oktober 1995 und der schließlich im März 1996 verabschiedeten Fassung des Gesetzes reichten aber noch weiter : Denn in der überarbeiteten Fassung wurde der kirchlich verantwortete Religionsunterricht nicht mehr, zumindest nicht mehr ausdrücklich, als Ersatzfach für LER genannt. Stattdessen wurde sehr viel allgemeiner festgesetzt, für die von LER befreiten Schülerinnen und Schüler solle »hinreichender Unterricht oder eine angemessene Förderung gewährleistet sein«.117 Zwar fanden die bereits im ersten Entwurf vom Oktober 1995 vorgesehenen Regelungen zum freiwilligen Religionsunterricht in Verantwortung der Kirchen unverändert Eingang in das neue Gesetz,118 von dem kirchlicherseits geforderten Modell eines Lernbereichs aus den gleichberechtigten Wahlpflichtfächern ›Lebensgestaltung/ Ethik‹ und ›Religion‹ hatten sich die Verantwortlichen allerdings weit entfernt. Mit der Verabschiedung dieser neuen Bestimmungen wurde der Wahlpflichtkonstellation eine deutliche Absage erteilt: Der konfessionell gebundene Religionsunterricht, diese Absicht ist unverkennbar, sollte den Unterricht im allgemeinbildenden Fach LER nicht ersetzen können. Mit anderen Worten: Religion und Ethik sind nicht äquivalent, und folglich kann Religion nicht für Ethik ›einspringen‹. Offenbar konnte nur so die Zustimmung der SPD-Landtagsfraktion sichergestellt werden. Dass das neue Gesetz nicht auf einen politischen Konsens bauen konnte, war den Verantwortlichen bewusst; nicht zuletzt deshalb wurde in den § 141 ein Befristungsvermerk eingefügt, nach dem die Regelungen zur Einführung des Fachs LER nach Ablauf von fünf Jahren erneut überprüft werden sollten.119 Der öffentliche Streit allerdings ließ sich durch die Fünfjahresfrist nicht eindämmen. Die Debatte um das Fach ging auch nach der Verabschiedung des Gesetzes unvermindert weiter. Wie erwartet machten die Kirchen und christlich engagierte Eltern, die ihre Interessen und Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren nicht hinreichend berücksichtigt sahen, weiterhin öffentlich ihre Argumente gegen das neue Unterrichtsfach geltend. So erneuerte der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, im April 1996 in unmittelbarer Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetzes in einem Osterbrief an die Leiter der Gemeinden, die Synodalen sowie alle Mitarbeiterinnen und
116 117 118 119
Vgl. Fn. 80 oben. § 141 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Vgl. ebd., § 9. Vgl. ebd., § 141.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Mitarbeiter seiner Landeskirche die kirchliche Forderung, auch in der Schule die Möglichkeit zu schaffen, Religion als eigenständigen Lebensbereich nicht nur von außen ¢ durch eine ›bekenntnisfrei‹ unterrichtete ›Religionskunde‹ ¢, sondern auch in ihrem Selbstverständnis kennenzulernen. […] Was Schülerinnen und Schüler wirklich brauchen, ist nicht ein religiöser Sachkundeunterricht, sondern ein sachkundiger Religionsunterricht.120
Und der Landesbischof wiederholte die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das LER-Konzept: Wir wehren uns […] dagegen, daß ein staatlich angeordnetes und verantwortetes Fach zu Fragen von Ethik und Religion für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend gemacht wird. Wir sehen darin eine staatliche Anmaßung, die das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Zurückhaltung des Staates verletzt.121
Die im Gesetz eingeräumte Befreiungsmöglichkeit durch einen entsprechenden Antrag beim Schulamt unter Angabe eines »wichtige[n] Grund[es]« mildere diese Anmaßung keineswegs. Vielmehr enthalte sie unzweifelhaft, so Huber, »einen Rechtfertigungszwang, der einer Diskriminierung gleichkommt«.122 Im Sommer des Streitjahres 1996 wandten sich auch die katholischen Bischöfe der betroffenen Bistümer Berlin, Görlitz und Magdeburg mit einem Brief an Eltern und Schüler im Land Brandenburg. Mit dem Fach LER, so erklärten sie, monopolisiere der Staat die Werteerziehung. Er beanspruche »für sich die alleinige Kompetenz im Bereich der werteorientierten Erziehung in der Schule. Er negiert damit zugleich das Primärerziehungsrecht der Eltern.«123 Weiter argumentierten die Bischöfe: Nur ein standortgebundener Religionsunterricht gewährleistet authentische Werteerziehung und Wertebildung, die den Grundsätzen der christlichen Kirchen entsprechen und von den Kirchen mitverantwortet werden können. […] Eine nur glaubenslose, das heißt weltanschaulich neutrale Werteerziehung, kann nicht genügen.124
Bemerkenswert ist die eigentümliche Interpretation, mit der die katholischen Bischöfe die im Gesetz festgeschriebene Bekenntnisfreiheit des LER-Unterrichts als Argument für seine Unzulässigkeit argumentativ zu wenden versuchten: So dürften nach ihrer Auffassung Schülerinnen und Schüler »nicht in ein Unterrichtsfach gezwungen werden, das diese weltanschaulich orientierte Erziehung 120 121 122 123
Der Brief ist abgedruckt in: Die Kirche 16/1996, 21. 4. 1996. Ebd. Ebd. Vgl. den Abdruck des Briefes in der in Würzburg erscheinenden katholischen Zeitung: Deutsche Tagespost, 10. 8. 1996; siehe auch den Bericht in: Katholische Kirchenzeitung Berlin, 18. 8. 1996. 124 Zit. nach: Deutsche Tagespost, 10. 8. 1996.
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nicht leisten kann.«125 Dass sie überdies an der behaupteten Bekenntnisfreiheit des Unterrichts im Fach LER erhebliche Zweifel hatten, machten sie im Schlussteil ihres Rundbriefes deutlich, in dem die Bischöfe aus dem Hirtenwort zur religiösen Kindererziehung des einstigen Berliner Bischofs Konrad Graf von Preysing zitierten, der im Oktober 1945 die Berliner Katholiken gemahnt hatte: ›Es ist nicht so, als ob die schulische Erziehung eines katholischen Kindes ohne Glauben eine neutrale Erziehung wäre, sie wird notwendig zu einer glaubensfeindlichen Erziehung, sollte auch der Glaube nicht unmittelbar angegriffen werden […]‹.126
Zwar versicherten die Bischöfe im gleichen Atemzug, dass sie der Landesregierung »nicht die Absicht zur glaubensfeindlichen Erziehung unterstellen« wollten.127 Ihr Hauptargument gegen den LER-Unterricht aber hielten sie dennoch aufrecht. Dieses stützte sich auf die Annahme, Neutralität in Erziehungsfragen münde unausweichlich in Glaubensfeindlichkeit, die dem säkularisierten Verfassungsstaat nicht gestattet sei. Die katholischen Bischöfe vertraten also die paradox anmutende Auffassung, das Fach LER sei gerade deshalb verfassungswidrig, weil es den Anspruch erhebe, bekenntnisfrei zu sein. Nun scheint diese Argumentation der katholischen Bischöfe im überschaubaren innerkirchlichen Raum verhallt zu sein; in der weiteren öffentlichen Diskussion jedenfalls fand sie kein Echo. Doch so abwegig die Argumentation auch anmuten mag, sie verweist doch auf eine Grundfrage im definitionspolitischen Streit um Religion: Wer hat überhaupt das Recht, Wissen über Religion im schulischen Raum zu vermitteln? Nun war zwischen den Konfliktparteien unstrittig, dass der religiös und weltanschaulich neutrale Staat nicht das Recht besitzt, Religionsunterricht im Sinne eines Bekenntnisfaches zu unterrichten. Doch sollte es dem Staat tatsächlich auch verwehrt sein, an seinen Schulen bekenntnisfrei Religionskunde zu erteilen und also, wie es in den gesetzlichen Bestimmungen zum LER-Unterricht heißt, »Wissen […] über Religionen und Weltanschauungen«128 zu vermitteln? Kann über Religion überhaupt bekenntnisfrei gesprochen werden oder wird der Anspruch der Bekenntnisfreiheit nicht selbst zu einer Ideologie? Die Kirchen hegten diesen Verdacht. So erläuterte Wolfgang Huber : Man muß sich klarmachen, was bekenntnisfrei oder weltanschaulich neutral de facto bedeutet. Es bedeutet, daß ein positives Verhältnis zu den Inhalten der Religion nicht erkennbar gemacht werden soll. Also ist dieser Unterricht im Ansatz agnostisch oder atheistisch.129 125 126 127 128 129
Ebd. Zit. nach ebd. Ebd. § 11 Abs. 2 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. Die Zeit, 10. 5. 1996.
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Ein solcher Unterricht dürfe deshalb, so meinten die Kirchen, nicht verpflichtend sein. Darüber hinaus bezweifelten sie, dass ein religionskundlicher Unterricht die Erwartungen, die an ihn geknüpft wurden, erfüllen könne und tatsächlich imstande sei, wie es das brandenburgische Schulgesetz vorsieht, Schülerinnen und Schülern zu helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstelllungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren.130
Demgegenüber heißt es in der 1994 von der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebenen Denkschrift zu Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität: Eigene Überzeugungen bilden sich nicht im Niemandsland der Gleich-Gültigkeit, sondern dadurch, daß junge Menschen bestimmten Glaubensüberzeugungen und -vorstellungen anderer begegnen.131
Da die Kirchen sich mit ihren theologischen und bildungspolitischen, nicht zuletzt aber auch verfassungsrechtlichen Vorbehalten gegen die Einführung von LER ins reguläre Curriculum politisch nicht durchsetzen und ihre Vorstellungen von einem Wahlpflichtbereich aus den gleichberechtigten Fächern ›Lebensgestaltung/Ethik‹ und ›Religion‹ nicht verwirklichen konnten, begannen sie unmittelbar nach Verabschiedung des Schulgesetzes im Frühling 1996 mit der Vorbereitung der bereits im Vorfeld angedrohten Verfassungsbeschwerde.132 Diese ging Anfang Juli 1996 beim Bundesverfassungsgericht ein; sie wurde flankiert von Beschwerden seitens einer Gruppe evangelischer sowie katholischer Eltern und Schüler. Unterstützung erhielten die Kläger von der Bundestagsfraktion der CDU/ CSU, die ihre Drohung aus der ungewöhnlichen Bundestagsdebatte vom März des Jahres wahr machte und in Karlsruhe ein Normenkontrollverfahren zum brandenburgischen Schulgesetz beantragte. Sämtliche Kläger stellten in Abrede, dass sich das Land Brandenburg in verfassungsrechtlich zulässiger Weise auf die so genannte ›Bremer Klausel‹ aus Art. 141 GG berufen könne. Entsprechend sahen sie das Grundrecht auf Einrichtung von Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach nach Art. 7 Abs. 3 GG verletzt. Insbesondere die Evangelische Kirche suchte jedoch den Eindruck zu vermeiden, einen Feldzug gegen LER anzustrengen und hob ihren positiven Gegenvorschlag zur Einführung einer 130 § 11 Abs. 2 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996. 131 EKD, Identität und Verständigung, 85. Dieser Passage ist auch das Zitat in der Überschrift des Abschnitts 6.1.2 entnommen. 132 Wolfgang Huber warb in seinem oben zitierten Osterbrief 1996 dafür, die Beschwerde, die innerhalb seiner Landeskirche nicht unumstritten war, zu unterstützen; vgl. Die Kirche 16/ 1996, 21. 4. 1996 sowie zur innerkirchlichen Kritik Fn. 42 oben.
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Fächergruppe ›Lebensgestaltung/Ethik‹ und ›Religion‹ als Kern ihres Anliegens hervor.133 Angesichts der Reichweite der strittigen Fragen war eine rasche Entscheidung aus Karlsruhe kaum zu erwarten. Dass es aber schließlich fünf Jahre dauern sollte, bis sich die Verfassungsrichter äußerten, hatte wohl dennoch kaum jemand erwartet. In der Zwischenzeit schritt die Entwicklung und Konsolidierung des umstrittenen Schulfachs an den Brandenburger Schulen voran.134 Politisch jedoch drehte sich der Wind: Denn bei den Landtagswahlen im September 1999 gelang es der SPD nicht, ihre absolute Mehrheit zu verteidigen. Zwar konnte sie als stärkste Fraktion zum dritten Mal den Ministerpräsidenten stellen, zu dem erneut Manfred Stolpe gewählt wurde,135 doch musste sie fortan in einer Großen Koalition mit der CDU regieren, die die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorgaben für das Fach LER stets beharrlich bestritten und im Wahlkampf versprochen hatte, im Falle einer Regierungsbeteiligung das von den Kirchen favorisierte Modell der Fächergruppe durchzusetzen. Die Verantwortung für das Bildungsressort übernahm mit dem evangelischen Theologen Steffen Reiche jedoch erneut ein Sozialdemokrat, während das im Konflikt um LER ebenfalls 133 Vgl. das Interview mit Wolfgang Huber in: Die Zeit, 10. 5. 1996; auch den Bericht in: FAZ, 28. 9. 1996; außerdem die schriftlichen Gutachten, die 1996 und 1997 dem Karlsruher Gericht von den verschiedenen Prozessbeteiligten vorgelegt wurden. Als Gutachter waren tätig: Martin Heckel und Christoph Link (für die klagenden evangelischen Schüler/innen und die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg), Josef Isensee und Fritz Ossenbühl (für den Normenkontrollantrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion), Bodo Pieroth und Ulrich K. Preuß (für den Brandenburgischen Landtag), Bernhard Schlink (für die Landesregierung), Peter Badura und Christian Starck (für die Bistümer Berlin, Görlitz und Magdeburg). In ihren Grundzügen werden die Gutachten referiert von: Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 86 – 105. 134 Mit Beginn des Schuljahres 1996/1997 wurde LER schrittweise zunächst in der Sekundarstufe I eingeführt. Zugleich nahm ein wissenschaftlicher Beirat seine Arbeit auf. Dem Beirat gehörten neben Achim Leschinsky, der bereits die wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs geleitet hatte, auch der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin Wolfgang Edelstein, die Religionswissenschaftler Karl E. Grözinger und Jürgen Lott, die Psychologin Bärbel Kirsch sowie die Erziehungswissenschaftler Fritz Oser und Sabine Gruehn und schließlich die für LER zuständige Referentin im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Imma Hillerich, an. Trotz aller Schwierigkeiten (unabgeschlossene Fachkonzeption, keine Überarbeitung der vom wissenschaftlichen Beirat zum Abschluss der Modellversuchsphase nachdrücklich kritisierten curricularen Vorgaben [vgl. dazu Leschinsky, Vorleben, 188 – 196], zu wenige und nicht hinreichend qualifizierte Lehrkräfte, keine konkreten Pläne und Finanzmittel für Lehrerfortbildung bzw. Einrichtung eines grundständigen Studienganges LER) gelangte der Beirat in seinem Abschlussbericht 2001 (vgl. Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung) zu einer insgesamt positiven Einschätzung und empfahl dem zuständigen Minister eine Ausweitung des Fachs auf die Klassen 5 und 6 (vgl. ebd., 229ff); zwei Jahre später startete ein Schulversuch an ausgewählten Grund- und Förderschulen; seit dem Schuljahr 2008/2009 wird LER flächendeckend in den Klassenstufen 5 bis 10 angeboten. 135 Nach dem Rücktritt Stolpes im Juni 2002 trat Matthias Platzeck seine Nachfolge an.
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wichtige Justizressort mit dem Christdemokraten Kurt Schelter besetzt wurde, so dass im anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht fortan zwischenparteiliche Feinabstimmungen erforderlich wurden. In den Koalitionsverhandlungen konnte keine der beiden Seiten mit Blick auf LER Maximalforderungen durchsetzen, und angesichts des schwebenden Verfahrens in Karlsruhe kamen die beiden Parteien überein, den konfliktträchtigen Status quo bis zu einer Entscheidung der Bundesverfassungsrichter auf Eis zu legen. Ihre unversöhnlichen politischen Auffassungen hielten sie gleichwohl in der Koalitionsvereinbarung, die sie im Oktober 1999 unterzeichneten, ausdrücklich fest. Auf Bestreben der Union wurden außerdem die positive Haltung der Landesregierung zum Religionsunterricht in kirchlicher Verantwortung und die Zuverlässigkeit der entsprechenden finanziellen Subventionszusagen an die Kirchen deutlich akzentuiert. So hieß es im Koalitionsvertrag: Zum Rechtsstatus des Religionsunterrichts hinsichtlich der Anwendbarkeit des Artikels 141 Grundgesetz haben die Koalitionspartner unterschiedliche Positionen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleibt abzuwarten. Nach dieser Entscheidung werden die Koalitionspartner eine einvernehmliche Lösung suchen. Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde bleibt Pflichtfach. Die Koalitionspartner stimmen darin überein, dass in den Schulen Religionsunterricht unter Einbeziehung in den Stundenplan stattfinden soll, sofern die Kirchen dieses Angebot machen. Die Unterrichtsräume werden weiterhin kostenlos bereitgestellt und die vereinbarten finanziellen Zuschüsse geleistet. Die Kirchen werden in ihrem Bemühen aktiv unterstützt, das Angebot des Religionsunterrichts in den Schulen vorzustellen.136
Es dauerte knapp zwei Jahre, bis endlich wieder Bewegung in die Sache kam: Im Juni 2001, beinahe fünf Jahre nach Eingang der Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht, wurden die Verfahrensbevollmächtigten sämtlicher Konfliktbeteiligten zu einer mündlichen Verhandlung nach Karlsruhe geladen.137 Die Streitparteien wiederholten bei dieser Gelegenheit im Wesentlichen ihre inzwischen einer breiten Öffentlichkeit weitgehend bekannten Positionen. Als Vertreter des Landes nutzte der Bildungsminister Steffen Reiche das Forum, um die »soziale Integrationsfunktion von LER« zu unterstreichen und auf die hohe Akzeptanz des Fachs hinzuweisen. In seiner Stellungnahme ist das Bemühen erkennbar, sich von der Unterstellung kirchen- und religionsfeindlicher Absichten zu distanzieren und die fördernde Wertschätzung zum Ausdruck zu 136 Zit. nach: Hillerich, Bildungspolitik, 208. 137 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 62/2001 vom 11. 6. 2001. Vgl. auch die umfangreiche Dokumentation zur Anhörung in Karlsruhe: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001; darin finden sich auch die mündlichen Stellungnahmen der verschiedenen Prozessbeteiligten (die in Teilen unten noch referiert werden) sowie die schriftlichen Antworten auf den Fragenkatalog, den das Bundesverfassungsgericht zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung an die Beteiligten gerichtet hatte.
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bringen, mit der die Landesregierung dem (freiwilligen) Religionsunterricht der Kirchen begegne. Auch selbstkritische Anmerkungen fehlten nicht. Das kirchliche Ansinnen einer Fächergruppe wies er gleichwohl dezidiert zurück, da mit diesem Modell des »Entweder/Oder« das mit LER verfolgte Ziel »gemeinsame[n] Lernen[s] von Kindern und Jugendlichen aus religiös gebundenen Elternhäusern und solchen ohne diese Tradition« verfehlt werde.138 Als Vertreter der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gab der Tübinger Kirchen- und Staatsrechtslehrer Martin Heckel eine ausführliche Stellungnahme ab, deren Grundzüge hier knapp referiert werden sollen. Denn Heckel nahm nicht nur zu den einschlägigen verfassungsrechtlichen Streitfragen Stellung, die mit der Einführung von LER aufgeworfen worden waren. Weit intensiver erörterte er die religionspolitisch weiter reichenden Fragen nach den Zielen und gesellschaftlichen Funktionen des Religionsunterrichts. So stellte er den Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG in einen »fundamentale[n] Zusammenhang« mit der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Religionsfreiheit; der Religionsunterricht stehe im Dienst der Entfaltung der religiösen Freiheit innerhalb der staatlichen Schule und beuge einer »laizistische[n] Ausgrenzung des Religiösen in den Bereich der Gesellschaft« vor.139 Zielbestimmung des Religionsunterrichts in der im Grundgesetz vorgesehenen Form sei also, so erläuterte Heckel den Karlsruher Richtern, die »Grundrechtsverwirklichung des Art. 4 GG«.140 Nun schließe aber das Grundrecht auf Religionsfreiheit unstrittig das Recht auf Selbstbestimmung in der Religion ein. Heckel führte aus: Das eigentlich Skandalöse des LER-Unterrichts für viele christliche Schüler und Eltern liegt darin, daß hier das religiöse Selbstverständnis ihres Glaubens nach der Selbstdarstellung ihrer Kirche prinzipiell durch dessen Fremddarstellung seitens konfessionsfremder, weithin religionsloser, z. T. religionsfeindlicher Lehrer überlagert und verdrängt wird.141
138 Die Stellungnahme ist abgedruckt in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 20 f, hier 20. Zum Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sowie zur mündlichen Anhörung vgl. außerdem die knappe (mit der Position der Landesregierung sympathisierende) Darstellung der Referentin für LER im Bildungsministerium in Potsdam: Hillerich, Bildungspolitik, 208 – 219; außerdem die (mit der kirchlichen Position sympathisierende und entsprechend gegenteilig akzentuierte) Darstellung von Oermann/Zachhuber, Einigkeit, 53 – 110, die allerdings den Ausgang des Verfahrens, der sich seit der mündlichen Verhandlung Ende Juni 2001 abzeichnete, nicht mehr berücksichtigt. 139 Heckel, Verfassungsmäßigkeit, 64 und 65. 140 Ebd., 65 [Hervorhebung im Original]. 141 Ebd. [Hervorhebungen im Original]. Entschieden betonte Heckel die alleinige Definitionskompetenz der Religionsgemeinschaften in allen die eigene Religion betreffenden Fragen: »Der spezifisch religiöse Inhalt und Sinn des ›Religions‹-Begriffs in Art. 4 und 7 III GG ist von den Bürgern und Religionsgemeinschaften jeweils nach ihrem religiösen
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Damit zog Heckel zwar nicht grundsätzlich das Recht des Staates, religionskundlichen Unterricht einzuführen, in Zweifel. Allerdings machte er deutlich, dass ein solcher Unterricht, in dem Glaubensfremde Glaubenden eine Außensicht auf die eigene Religion vermitteln, nicht verpflichtend sein dürfe. Das »Kardinalproblem von LER«, das seines Erachtens durch die Verengung der Debatte auf die Frage nach der Geltung des Art. 141 GG in Brandenburg »verdunkelt« wurde, war also nach Heckels Auffassung der verpflichtende Charakter des Fachs. Religionskunde, so Heckel in Karlsruhe, könne »nicht allgemein als Pflichtfach, sondern nur subsidiär für diejenigen Schüler vorgesehen werden, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen.«142 Auch mit dem Neutralitätsanspruch des religionskundlichen Teils des LERUnterrichts setzte sich Heckel in Karlsruhe auseinander. Was von den Vertretern der Landesregierung durch »Begriffsvertauschung«143 – gemeint ist der oben angesprochene Wechsel der Bezeichnung des Lernbereichs ›R‹ von ›Religion‹ zu ›Religionskunde‹144 – als bekenntnisneutrale Religionskunde präsentiert werde, stelle sich für Glaubende keineswegs neutral dar. Vielmehr laufe die dem religionskundlichen Unterricht eigene theoretische und praktische Ignorierung oder Leugnung des göttlichen Wahrheitsanspruchs der Offenbarungsreligionen […] auf seine agnostizistische Bestreitung hinaus – jedenfalls im Selbstverständnis vieler Betroffener.145
Heckel erläuterte vor dem Bundesverfassungsgericht: Der R-Teil von LER ist eben ein echter staatlicher Unterricht über Religion. Er enthält nach seiner Zielsetzung sowohl die Information über religiöse Gegenstände wie die daraus zu ziehende personale Orientierung für die ›Lebensgestaltung‹.146
Folglich sei er verfassungswidrig. Mit seiner Weigerung, Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach im Sinne des Grundgesetzes einzuführen, schränke das Land Brandenburg, so argumentierte Heckel weiter, nicht nur in unzulässiger Weise die Schülerinnen und Schüler in der Verwirklichung ihres Grundrechts auf Religionsfreiheit ein. Vielmehr, so versuchte er darzulegen, werde das Land auch seiner staatlichen Kulturverantwortung nicht gerecht, denn der Religionsunterricht, so führte er aus, diene auch »der weltlichen Kulturstaatsaufgabe durch die Tradition der religiös qualifizierten Wertgrundlagen im Sinn der
142 143 144 145 146
Selbstverständnis in freier Selbstbestimmung und gemäß der Selbstdarstellung ihrer Bekenntnislehren zu bestimmen« (ebd., 66 [Hervorhebungen im Original]). Ebd., 69 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., 67. Vgl. Fn. 77 oben. Heckel, Verfassungsmäßigkeit, 67. Ebd., 70 [Hervorhebungen im Original].
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Grundgesetzpräambel«.147 Religionsunterricht könne nicht allein deshalb als »kulturpolitisch überholt« gelten, »weil er in den neuen Bundesländern nur von einer Minderheit in Anspruch genommen wird«;148 andernfalls, so fügte Heckel provozierend hinzu, müsse man schließlich auch alle Theater schließen. Mit der Ermöglichung von Religionsunterricht werde der Staat vielmehr seiner Verantwortung für die »Kulturpflege« gerecht. Die »Form von Unterricht in Religion« dagegen, die mit der Einführung von LER an die Stelle des konfessionellen Religionsunterrichts trete, wirke, »nicht nur antireligiös, sondern auch kulturell kontraproduktiv«. In der Schlusspassage seiner Stellungnahme fragte Heckel: Wird durch die Auflösung religiöser Verbindlichkeiten in dieser Art von Erziehungskultur etwa die ›Verantwortung vor Gott‹ nach der Präambel der Verfassung gestärkt? Da doch – nach Ernst-Wolfgang Böckenförde – der freiheitliche Staat auf Werte und Kräfte angewiesen ist, die er in seiner pluralistischen Offenheit nicht selbst zu schaffen vermag. Nach der Entscheidung des Grundgesetzes für Art. 7 III GG als Regelform des Unterrichts in Religion sollen diese Kräfte gerade auch aus der religiösen Überzeugung des kirchlich gebundenen Teils des Volkes […] gewonnen werden.149
Für die Evangelische Kirche in Deutschland sprach ihr Ratsvorsitzender Manfred Kock, der auf den über die rein ethische Orientierung hinausweisenden ›Überschuss‹ des Religiösen hinwies und deshalb davor warnte, den Religionsunterricht als »Dublette des Ethikunterrichts«150 zu behandeln. Zwar seien beide aufeinander bezogen, doch werde die Religion »verkürzt […], wenn nur dasjenige von den Religionen gleichsam ethisch abgeschöpft wird, was für die allgemeine staatliche Werteerziehung für sinnvoll gehalten wird«.151 In dieselbe Richtung argumentierte auch der Bischof der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg, Wolfgang Huber : Auch er vertrat die Auffassung, dass der Religionsunterricht, auch wenn er unzweifelhaft »einen unverwechselbaren Beitrag zur Werteerziehung« leiste, in seiner Bedeutung doch weit über diese Rolle hinausreiche. Der Religionsunterricht, so Huber, mache »deutlich, dass Religion ein eigenständiger Beitrag unseres Lebens und unserer Kultur ist«.152 Für die Katholische Kirche sprachen in Karlsruhe der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, sowie der 147 Ebd., 65 [Hervorhebung im Original]. In der Präambel zum Grundgesetz heißt es, »das Deutsche Volk« habe sich »[i]m Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen« das Grundgesetz gegeben (vgl. den Wortlaut im Anhang). 148 Heckel, Verfassungsmäßigkeit, 71. 149 Ebd., 77. Vgl. zum ›Böckenförde-Diktum‹ die Erörterungen im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit. 150 Vgl. die Stellungnahme in: edp-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 7 f, hier 8. 151 Ebd., 7. 152 Siehe den Abdruck der Stellungnahme in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 9 – 11, hier 9.
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Berliner Erzbischof Kardinal Georg Sterzinsky. Beide äußerten Bedenken hinsichtlich des Unterrichtskonzepts für das Fach LER, das, so Lehmann, in direkter Kontinuitätslinie mit den sozialistischen Erziehungsansprüchen der DDR-Vergangenheit stehe und noch immer von der Vorstellung »einer umfassenden Zuständigkeit des Staates auch für die inneren Überzeugungen seiner Bürger« geprägt sei.153 Auch Sterzinsky wandte sich »entschieden gegen eine uniforme ethische und religiöse Erziehung in einem einzigen Fach« und wies zudem wie Huber und Kock auf die Gefahr hin, dass in dem strittigen Unterrichtskonzept »Religion allzu leicht auf Moral und Ethik reduziert« werde.154 Dieser die Argumente der Kläger fokussierende Abriss zeigt: Die Last der Grundsatzfragen, die den Bundesverfassungsrichtern aufgebürdet wurde, wog schwer. Denn »[h]inter dem juristischen Scharmützel« ging es »um eine verfassungsrechtliche und philosophische Grundsatzfrage für die ganze Bundesrepublik.«155 Und so taten die Richter vielleicht gut daran, Entscheidungen aus dem Wege zu gehen bzw. diese in den politischen Prozess zurückzugeben: Wenige Wochen nach der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe wandten sich die Verfassungsrichter mit der Anfrage an die Streitparteien, ob sie bereit seien, sich auf einen Schlichtungsversuch einzulassen.156 Über die Hintergründe dieses ungewöhnlichen Vorgehens157 wurde viel spekuliert. Womöglich hatte sich bei den Beratungen innerhalb des mit der Sache betrauten Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Pattsituation von vier zu vier Stimmen abgezeichnet, was letztendlich zu einer Ablehnung der Verfassungsbeschwerden sowie des Normenkontrollantrags und in der Konsequenz zu einem Sieg der LER-Befürworter in Brandenburg geführt hätte.158 Dies jedenfalls würde die recht rasch bekundete grundsätzliche Verständigungsbereitschaft der Kirchen und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklären.159 Die SPD-Landtagsfraktion hingegen wehrte sich zunächst gegen einen Kompromiss, während die Große Koalition erwartungsgemäß geteilter Meinung war, sich unter dem Einfluss des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe aber schließlich bereit erklärte, auf einen 153 So Lehmann: ebd., 12 – 14, hier 13. 154 Sterzinskys Stellungnahme finden sich: ebd., 15 – 17, hier 16. 155 So bereits im Mai 1996, als die Kirchen und die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ihre Klagen gerade auf den Weg brachten, in: Die Zeit, 10. 5. 1996 (Rückert, Gehrmann). 156 Vgl. die Pressemitteilung Nr. 78/2001 des Bundesverfassungsgerichts vom 20. 7. 2001. 157 Tatsächlich griff das Bundesverfassungsgericht im Streitfall LER erst zum zweiten Mal in seiner Geschichte auf das Rechtsinstitut des Vergleichs hin (im ersten Fall 1992 ging es um die Stromversorgung in den neuen Bundesländern); zum Vergleich als einem Instrument des Bundesverfassungsgerichts vgl. Schmidt, LER. 158 Vgl. FAZ, 12. 12. 2001; zu den Spekulationen über den politischen Motivationshintergrund dieser Entscheidung vgl. Hillerich, Bildungspolitik, 216. 159 Vgl. die epd-Dokumentation 52/2001, 17. 12. 2001 zum Karlsruher Vergleichsvorschlag; dort auch Auszüge aus dem Presseecho, 11 – 14.
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Schlichtungsvorschlag seitens des Bundesverfassungsgerichts einzugehen und das verfassungsrechtliche Verfahren durch einvernehmliche Verständigung zu beenden. Diese Bereitschaftserklärung, der auch der Landtag zustimmte, wurde allerdings an die Bedingung geknüpft, in der Kompromissregelung dürfe das Schulfach LER nicht zu einem Wahlpflichtfach im Rahmen einer Gruppe aus zwei gleichgestellten ordentlichen Unterrichtsfächern ›Lebensgestaltung/Ethik‹ und ›Religion‹ degradiert werden, weil dies einer Aushöhlung seiner zentralen Zielsetzung gleichkomme, das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern jedweder Herkunft und religiöser oder weltanschaulicher Vorprägung zu ermöglichen.160 In dem Schlichtungsvorschlag, den der mit der Sache befasste Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts daraufhin erarbeitete und den Streitparteien im Dezember 2001 unterbreitete, fand diese Bedingung Berücksichtigung. Bereits in § 1 des Vorschlags heißt es in aller Klarheit: Die Regelungen über das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde in § 11 Abs. 2 bis 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes bleiben unberührt. Außer dem Unterricht in diesem Fach kann Religionsunterricht gemäß § 9 Abs. 2 dieses Gesetzes in allen Schulformen und Schulstufen erteilt werden.161
Damit hatten die Kirchen ihr Hauptziel – die Einführung einer gleichberechtigten Fächergruppe aus ›Lebensgestaltung/Ethik‹ auf der einen Seite und ›Religion‹ auf der anderen Seite – zwar verfehlt. Um den Schlichtungsvorschlag dennoch für sie akzeptabel zu machen, schlugen die Verfassungsrichter in § 2 verschiedene Maßnahmen vor, um die Rahmenbedingungen für die Durchführung des (freiwilligen) Religionsunterrichts in Brandenburg zu verbessern, etwa den Religionsunterricht in die regelmäßige Unterrichtszeit zu integrieren, eine Benotung zu ermöglichen, Religionslehrern den Zugang zu den schulischen Mitwirkungsgremien zu erleichtern, staatlichen Lehrkräften, die Religionsunterricht erteilen, eine gewisse Stundenzahl auf ihr Unterrichtsdeputat anzurechnen sowie die finanziellen Zuschüsse für den Religionsunterricht durch gesetzliche Regelungen sicherzustellen. Der für die Kirchen wohl wichtigste Änderungsvorschlag aber findet sich im letzten Absatz des § 2, in dem die Karlsruher Richter einen Vorschlag zur Neuregelung der Befreiungsmöglichkeit vom LER-Unterricht machten. In diesem Absatz empfahlen sie folgende Regelung: Schülerinnen und Schüler, deren Eltern gegenüber der Schule erklären, dass ihr Kind wertorientierten Unterricht zu den Gegenstandsbereichen des Faches Lebensgestal160 Vgl. Landtag Brandenburg, Plenarprotokoll 3/43, 2843 – 2847; siehe dazu auch: Hillerich, Bildungspolitik, 217. 161 BVerfG 1 BvF 1/96, Beschluss vom 11. 12. 2001.
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tung-Ethik-Religionskunde allein in Form des Religionsunterrichts erhalten soll, und den Besuch eines solchen Unterrichts nachweisen, sind von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht in dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde befreit. Bei Schülerinnen und Schülern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, tritt die eigene Erklärung an die Stelle der Erklärung der Eltern.162
Mit diesem Vorschlag, der in seinen Grundzügen an den ersten (später überarbeiteten) Gesetzentwurf der Landesregierung vom Oktober 1995 anschloss,163 sollte die Abmeldung vom LER-Unterricht gegenüber der Gesetzesfassung vom Frühjahr 1996 erheblich erleichtert werden. So schlugen die Karlsruher Richter vor, die Möglichkeit der Befreiung vom LER-Unterricht erneut an die Teilnahme am Religionsunterricht zu koppeln und von der im brandenburgischen Schulgesetz verlangten Rechtfertigung durch Angabe eines »wichtige[n] Grund [es]«164 abzusehen. Der Schlichtungsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts enthielt damit für beide Seiten sowohl Zumutungen als auch Zugeständnisse und erwies sich gerade so als gangbarer Kompromiss.165 Die Landesregierung konnte verhindern, Religionsunterricht im Rahmen einer Fächergruppe als ordentliches Lehrfach gleichberechtigt neben LER einrichten zu müssen, hatte aber erleichterte Befreiungsmöglichkeiten vom Unterricht im Fach LER zu akzeptieren. Die Kirchen ihrerseits mussten hinnehmen, ihr wichtigstes Ziel, die Einrichtung von Religionsunterricht im Rahmen der Fächergruppe, verfehlt zu haben, konnten aber andererseits ihre Rechtsposition im Vergleich zur geltenden Rechtslage dennoch deutlich verbessern. Beide Seiten stimmten dem Schlichtungsvorschlag zu. Auf seiner Basis wurde ein neuer Schulgesetzesentwurf erarbeitet, den der Brandenburgische Landtag nach mehreren Lesungen am 26. Juni 2002 verabschiedete.166 Darin wurden die Vorschläge der Karlsruher Richter zur gesetzlichen Ausgestaltung des Religionsunterrichts überwiegend wörtlich in § 9 des Gesetzes eingefügt.167 Die Regelungen zum Unterricht im Fach LER in § 11, für die im Karlsruher Schlich162 Ebd. 163 Vgl. Fn. 76 bis Fn. 81 oben. 164 Nach § 141 im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996 sollte die Abmeldung bekanntlich nur dann möglich sein, »wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt« (vgl. Fn. 115 oben). 165 In diesem Sinne wurde der Schlichtungsvorschlag im Berliner Tagesspiegel begrüßt: Karlsruhe habe, so hieß es dort, »eine Brücke gebaut. Sie ist klug konstruiert« (Der Tagesspiegel, 12. 12. 2001). Der Berichterstatter der Frankfurter Rundschau sah das ganz anders; er unterstrich, dass »sich die Richter in ihrem Spruch vom Grundgesetz entfernt [haben]. Ohne das allerdings einzugestehen« (FR, 12. 12. 2001). 166 Vgl. Landtag Brandenburg, Drucksache 3/4498 vom 24. 6. 2002, sowie das Plenarprotokoll 3/58 vom 26. 6. 2002, 3874 – 3879. 167 Vgl. Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. 8. 2002, § 9 Abs. 2 bis Abs. 7.
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tungsvorschlag kein Änderungsbedarf gesehen wurde, blieben weitgehend in der zuvor geltenden Form erhalten, wurden allerdings um die von den Bundesverfassungsrichtern vorgeschlagenen Regelungen zur Befreiung vom Unterricht im Fach LER ergänzt.168 Das neue Schulgesetz trat zum Schuljahr 2002/2003 in Kraft. Die Kirchen zogen ihre Verfassungsbeschwerden und die Bundestagsfraktion der CDU/CSU zog ihre Normenkontrollklage zurück. Allerdings nahm eine Gruppe von sechzig evangelischen Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern einen erneuten Anlauf, um den Gesetzeskompromiss vor dem Bundesverfassungsgericht zu kippen; ihre Beschwerde war jedoch erfolglos.169 Der verfassungsrechtliche Streit um LER war damit beendet. Mit der Verabschiedung des nach den Vorschlägen des Bundesverfassungsgerichts überarbeiteten neuen Schulgesetzes flaute das bundesweite öffentliche Interesse an dem Fach und seiner weiteren Entwicklung ab. Einige Beachtung fand gleichwohl das Bemühen des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD),170 an den Schulen im Land Brandenburg gleichberechtigt neben dem kirchlichen Religionsunterricht weltanschaulichen Unterricht im Fach ›Lebenskunde‹ (wohlgemerkt nicht ›Lebensgestaltung‹) anzubieten.171 Der HVD hatte nach der Einführung des LER-Unterrichts zunächst kein eigenes Unterrichtsangebot unterbreiten wollen, sondern den integrativen Ansatz des LERKonzepts unterstützt.172 Nach der gesetzlichen Verankerung einer regulären 168 Vgl. ebd., § 11 Abs. 2 bis 4. Damit wurde § 141 der Gesetzesfassung vom 12. 4. 1996 (vgl. Fn. 115 oben) hinfällig und entsprechend ersatzlos gestrichen. 169 Vgl. die Pressemitteilung Nr. 12/2002 des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 2. 2002 sowie die ablehnenden Beschlüsse: BVerfG 1 BvQ 25/02, Beschluss vom 28. 7. 2002 und BVerfG 1 BvR 1406/02, Beschluss vom 8. 1. 2004. 170 Der HVD wurde 1993 als bundesweiter Dachverband freidenkerischer Gruppierungen gegründet und ist ausweislich seiner Homepage (http://www.humanismus.de [1. 7. 2011]) eine »Vereinigung von religionsfreien Personen und Interessenverbänden sowie eine Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes unserer Republik«. Nicht zu verwechseln ist der HVD mit der freundschaftlich-konkurrierenden Humanistischen Union (HU), die nach eigenen Angaben weltanschaulich nicht gebunden ist. Dem HVD gehören zahlreiche Persönlichkeiten aus der (Berliner) SPD sowie der PDS an; auch die HU hat prominente Mitglieder aus der SPD. Unter Berufung auf Art. 137 Abs. 7 WRV i. V. m. Art. 140 GG (vgl. den jeweiligen Wortlaut im Anhang) fordert der HVD konsequente rechtliche Gleichstellung mit den Religionsgemeinschaften. Zum HVD vgl. die Darstellung von Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften, 345 – 356. 171 Der Anspruch stützte sich außer auf § 9 des Brandenburgischen Schulgesetzes (vgl. Fn. 167 oben) auf die allgemeinen Gleichheitsverbürgungen aus Art. 3 Abs. 3 GG, das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, die Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 137 Abs. 7 WRV i. V. m. Art. 140 GG (vgl. Anhang) sowie auf Art. 36 Abs. 5 der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. 8. 1992, nach dem »Vereinigungen zur gemeinschaftlichen Pflege einer Weltanschauung« den Religionsgemeinschaften gleichgestellt werden. 172 Vgl. Der Tagesspiegel, 26. 7. 1995.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Befreiungsmöglichkeit vom Unterricht im Fach LER zugunsten des Religionsunterrichts infolge des Karlsruher Schlichtungsvorschlags entschied sich der HVD jedoch, in ausdrücklicher Konkurrenz zum Religionsunterricht der Kirchen ›Lebenskundeunterricht‹ anzubieten.173 Die Absichten des HVD scheiterten zunächst an politischen Widerständen, konnten jedoch im Dezember 2005 in einem Rechtsstreit vor dem Verfassungsgericht des Landes Brandenburg durchgesetzt werden.174 Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatte sich der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bereits von Brandenburg nach Berlin verschoben. Denn nachdem sich die in Berlin regierende SPD auf ihrem Landesparteitag im April 2005 dafür ausgesprochen hatte, in der Bundeshauptstadt einen verpflichtenden ›Werte‹bzw. ›Ethikunterricht‹ ohne Abmeldemöglichkeit einzuführen, erlebte die Brandenburger Kontroverse gleichsam eine Neuauflage in Berlin. Unter den besonderen verfassungsrechtlichen, politischen, sozialen und religionskulturellen Bedingungen der Hauptstadt nahm die Berliner Debatte, die im Folgenden in Grundzügen rekonstruiert und analysiert werden soll, freilich durchaus eigene Züge an.
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»Werteunterricht für alle!« oder »Villa Kunterbunt der Letztbegründungen«? Der Streit um den Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
6.2.1 Auf dem Weg zum »Zoo« der Religionen? Die Neuauflage eines Grundlagenstreits Der sich über ein Jahrzehnt erstreckende Brandenburger Streit um die Einführung des Fachs ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde‹ wurde in Berlin mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Dies hatte unter anderem damit zu tun, dass der Konflikt in Brandenburg seinen Zenit zu einer Zeit erreichte, als die Regierungschefs beider Länder intensiv um Zustimmung für eine Fusion des Flächenlandes mit dem in seiner Mitte gelegenen Stadtstaat warben. Die Fusionsperspektive hatte auf Berliner Seite die Frage aufgeworfen, welche Konse173 Entsprechend wurde der Lebenskundeunterricht (zunächst) ausschließlich für die Klassenstufen 1 bis 4 ins Auge gefasst, in denen der Schwerpunkt des kirchlichen Religionsunterrichts liegt, während LER zunächst nur in den Jahrgängen 7 bis 10 unterrichtet und erst allmählich auf den frühen Grundschulbereich ausgeweitet wurde. 174 Vgl. VerfGBbg 287/03, Urteil vom 15. 12. 2005. So konnte der HVD mit Beginn des Schuljahres 2007/2008 in einem Teil der märkischen Grundschulen Lebenskundeunterricht anbieten; eine entsprechende Vereinbarung mit dem Potsdamer Bildungsministerium wurde im Oktober 2007 unterzeichnet (vgl. Märkische Oderzeitung, 8. 10. 2007).
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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quenzen die Einführung des Fachs LER in Brandenburg im Fusionsfall auf die Berliner Regelungen zum Religionsunterricht haben würde. Mochten die einen erhoffen, Brandenburg werde in dieser Angelegenheit eine Vorreiterrolle für die Hauptstadt übernehmen, so suchten andere dem Eindruck entgegenzuwirken, dass mit der Brandenburger Entscheidung bereits die religions- und bildungspolitischen Weichen auch für Berlin gestellt würden.175 Im Mai 1995 – als in Brandenburg mit dem sich abzeichnenden Ausstieg der Evangelischen Kirche aus dem auslaufenden Modellversuch LER und den Vorbereitungen für die Schulgesetzänderung gerade die ›heiße Phase‹ des Streits begann – hatten die Berliner und Brandenburger Wahlberechtigten Gelegenheit, in einer Volksabstimmung über die Fusion zu entscheiden. Das Ergebnis war ernüchternd: Die Fusion wurde abgelehnt.176 Kurzfristig war das Thema damit vom Tisch. Perspektivisch blieb die Fusion aber am politischen Horizont erhalten. Und so begrüßte der Kommentator des Berliner Tagesspiegel im Dezember 2001 den Schlichtungsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts im Brandenburger Konflikt um LER nicht zuletzt auch deshalb so freudig, weil die Karlsruher Richter damit eine »Brücke« gebaut hätten, die »klug konstruiert und tragfähig auch für den möglichen Fusionspartner Berlin« sei.177 Ausschlaggebend für das besondere Berliner Interesse an dem Streit um LER in Brandenburg dürften aber letztlich weniger diese Fusionspläne gewesen sein als vielmehr der Umstand, dass die im Zentrum des Brandenburger Streits stehende Frage, ob und wie in der Schule Wertbindungen religiöser und nicht religiöser Provenienz zur Sprache gebracht werden können und sollen, in Berlin bereits seit Jahrzehnten virulent war. Die Debatte um LER rührte also gleichsam an den religionssensitiven Nerv der Berlinerinnen und Berliner. Und angesichts des auch in Berlin extrem niedrigen Grads kirchlicher Bindung rückte dabei die Frage in den Vordergrund, welche Rolle den christlichen Kirchen bei der Wertevermittlung zugewiesen werden sollte. In der Tat weisen die Religionsstatistiken für Berlin ein vergleichbares Ausmaß der Entkirchlichung aus wie für Brandenburg.178 Allerdings – und dieser 175 Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen (CDU) sprach sich im Frühjahr 1996 vehement gegen das Brandenburger Modell aus und schloss eine Übernahme für Berlin aus (vgl. etwa: Der Tagesspiegel, 28. 3. 1996; FR, 2. 4. 1996; taz, 2. 4. 1996 und 3. 5. 1996). Zu Diepgens Regierungszeit vgl. auch Fn. 193 unten. 176 Die Fusion scheiterte an der Zustimmung der Brandenburger Bevölkerung, die sich mit deutlicher Mehrheit (62,72 %) gegen den Zusammenschluss aussprach. In Berlin fanden die Fusionspläne eine knappe Mehrheit (53,6 %); vgl. http://www.wahlen.brandenburg.de/ sixcms/detail.php/lbm1.c.312938.de sowie die Angaben des Statistischen Landesamtes Berlin 1996: http://www.wahlen-berlin.de/ [beide zuletzt 5. 7. 2011]. 177 Der Tagesspiegel, 12. 12. 2001. 178 Vgl. die jährlichen, regional spezifizierten Mitgliedschaftserhebungen der EKD, zuletzt mit Stand vom 31. 12. 2010: http://www.ekd.de/download/Ber_Kirchenmitglieder_2010.pdf
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Unterschied sollte in der Berliner Debatte um die schulische Wertevermittlung durchaus von Bedeutung sein – wird der Entkirchlichungstrend in Berlin flankiert von der augenfälligen Präsenz eines vitalen islamischen Milieus.179 Berlin befindet sich danach in der eigentümlichen Lage, einerseits sozialkulturell tiefgreifend säkularisiert, andererseits religionskulturell durchaus plural und vital zu sein. Die religionspolitische Herausforderung, vor der die Hauptstadt stand und steht, ist daher anders gelagert als diejenige Brandenburgs, das sehr viel einheitlichere Strukturen tief greifender Entkirchlichung und Säkularisierung aufweist. Doch die Unterschiede zwischen Brandenburg und Berlin erschöpfen sich nicht in diesen religionskulturellen Differenzen. Dass die Berliner Debatte um den verpflichtenden ›Werte‹- bzw. ›Ethikunterricht‹ allen Parallelen zum Brandenburger Streit um die Einführung von LER zum Trotz schließlich einen anderen Verlauf nahm, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie unter anderen rechtlichen Voraussetzungen geführt wurde als die Kontroverse in Brandenburg.180 So öffnete die rechtliche Ausgangslage den Berliner Verantwortlichen von Anfang an einen deutlich größeren Gestaltungsspielraum, als er in Brandenburg zur Verfügung stand. Denn anders als Brandenburg konnte Berlin stets unstrittig die so genannte ›Bremer Klausel‹ aus Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen. Danach ist ein Bundesland, in dem am 1. Januar 1949 landesrechtliche Regelungen in Kraft waren, die von den Bestimmungen des Art. 7 Abs. 3 GG abweichen, von der Verpflichtung dispensiert, Religionsunterricht »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« als »ordent-
[9. 1. 2012]; auch die Erhebungen der DBK, zuletzt mit Datenstand von September 2011: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen%20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Allgemein_-_Zahlen_und_Fakten/Zahlen-Fakten10 – 11-de.pdf [9. 1. 2012]. 179 Vgl. die detaillierten Angaben in der im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (DIK) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erarbeiteten Studie ›Muslimisches Leben in Deutschland‹ (Juni 2009): http: //www.deutsche-islamkonferenz.de/cln_101/SharedDocs/ Anlagen/DE/DIK/Downloads/WissenschaftPublikationen/MLD-Vollversion,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/MLD-Vollversion.pdf [9. 1. 2012]. Über die Vielzahl der in Berlin aktiven größeren und kleineren Religionsgemeinschaften gibt einen knappen Überblick: Grübel/Rademacher (Hg.), Religion in Berlin. 180 Zu der Berliner Kontroverse sind inzwischen verschiedene Studien vorgelegt worden: In dezidierter Gegnerschaft zum Modell des Ethikunterrichts haben sich ausführlich und unter Berücksichtigung der breiten medienöffentlichen Auseinandersetzung Wilhelm Gräb und Thomas Thieme mit dem Konflikt beschäftigt (Gräb/Thieme, Religion oder Ethik?). Rolf Schieder (Kontroversen um das religiöse Gedächtnis) sieht im Berliner Streit um den Ethikunterricht erneuerte Kulturkampfkonstellationen am Werk. Verwiesen sei schließlich auf meinen eigenen Beitrag (Reuter, Werte- und Ethikunterricht), in dem ich (ausdrücklich asymmetrische) Vergleichslinien von der Berliner Auseinandersetzung um schulische Wertevermittlung zu den Auseinandersetzungen um die Laizität der Schule in Frankreich in der Dritten Republik ziehe.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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liches Lehrfach« einzuführen.181 Nun war in Berlin am fraglichen Stichtag mit dem Schulgesetz für Groß-Berlin vom 26. Juni 1948 in der Tat bereits eine andere landesrechtliche Regelung in Kraft. Diese sah Religionsunterricht nicht als ordentliches Lehrfach vor, sondern als freiwilliges Angebot der Kirchen (bzw. anderer Religions- oder auch Weltanschauungsgemeinschaften) außerhalb des allgemeinen Lehrplans, allerdings in den Schulräumen.182 Diese in die unmittelbare Nachkriegszeit und auf den politischen Sonderstatus von Berlin zurückverweisende Regelung blieb, von kleineren Änderungen abgesehen,183 die Rechtsgrundlage, auf der die Kirchen bis 1990 im Westen der geteilten Stadt und seither in ganz Berlin Religionsunterricht anboten und anbieten.184 Von dieser Rechtsgrundlage machen aber in Berlin nicht nur die beiden christlichen ›Großkirchen‹ Gebrauch: So wird an Berliner Schulen nicht nur evangelischer und katholischer Religionsunterricht angeboten, sondern an einigen Schulen auch orthodoxer, jüdischer oder buddhistischer Religionsunterricht erteilt. Daneben bietet, wie in Brandenburg, der Humanistische Verband Deutschlands das Weltanschauungsfach ›Lebenskunde‹ an, das sich ausdrücklich gegen den kirchlich verantworteten Religionsunterricht richtet und seit seiner Einführung Mitte der 1980er Jahre stetig steigende Schülerzahlen verzeichnen kann.185 Nicht zuletzt gibt es an manchen Berliner Schulen auch islamischen Religionsunterricht: Nach jahrzehntelangem Rechtsstreit erhielt die Islamische Föderation Berlin (IFB), die seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren zielstrebig daran gearbeitet hat, islamischen Religionsunterricht anbieten zu können, im 181 Vgl. zu Art. 7 Abs. 3 GG die Erläuterungen oben in Kapitel 6.1.1; der Wortlaut von Art. 141 GG sowie Art. 7 Abs. 3 GG findet sich im Anhang. 182 Vgl. § 13 Schulgesetz für Groß-Berlin vom 26. 6. 1948. Zu den historischen Hintergründen des Berliner Streits und der Rechtsentwicklung in West- und Ost-Berlin vgl. auch: Gräb/ Thieme, Religion oder Ethik?, 29 – 40; Kraft, Religionsunterricht in Berlin, 161 – 163. 183 Änderungen betrafen etwa die Besoldung der Lehrkräfte: Nach dem Schulgesetz von 1948 ist diese von den Kirchen selbst zu leisten; inzwischen wird sie allerdings vom Land zu etwa 80 % refinanziert; vgl. Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 383. 184 Nach 1990 war die Frage, ob die Westberliner Regelung auch für die östlichen Stadtbezirke gelte, zunächst strittig, doch wurde die Geltung des Art. 141 GG in ganz Berlin im Jahr 2000 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt (vgl. BVerwG 6 C 5.99, Urteil vom 23. 2. 2000). Zum Religionsunterricht in Berlin seit 1950 bis in die Gegenwart vgl. etwa: Häusler, Religion unterrichten in Berlin. 185 Vgl. die Ausführungen oben in Kapitel 6.1.2; dort in Fn. 170 auch Näheres zum HVD. Ausweislich der auf eigenen statistischen Erhebungen sowie Angaben der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung basierenden Übersicht des HVD startete das Fach ›Lebenskunde‹ 1984/1985 mit 178 Schüler/innen, während im Schuljahr 2010/2011 49.205 Schüler/innen angemeldet waren. Damit erreicht der HVD knapp 17 % der Berliner Schülerschaft (zum Vergleich: die Evangelische Kirche erreicht gut 24 %, die Katholische Kirche knapp 6 %); vgl.: SenBildWiss I C 2.3 vom 6. 12. 2010 sowie http:// www.lebenskunde.de/sites/lebenskunde.de/files/Uebersicht2010.pdf [5. 7. 2011].
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Jahr 2000 das Recht, an ausgewählten Grundschulen der Hauptstadt eigenverantwortlich islamische Schülerinnen und Schüler religiös zu unterweisen.186 Islamischer Religionsunterricht wird außerdem auch von der Berliner Gemeinde der Aleviten angeboten, die allerdings anders als die IFB, die vor allem aufgrund personeller Verflechtungen mit der vom Verfassungsschutz beobachteten Islamischen Gemeinschaft Milli Görü¸s (IGMG)187 misstrauisch beäugt wird, das Vertrauen des Senats genießt.188 Der Religionsunterricht, den die IFB anbietet, war dem Berliner Senat hingegen von Beginn an ein Dorn im Auge. Und so dürfte die Eile, mit der seit dem für die IFB erfolgreichen Rechtsstreit die Einführung verpflichtenden ›Werte‹- bzw. ›Ethikunterrichts‹ (und zwar, wie wir noch sehen werden, ohne die Möglichkeit einer Unterrichtsbefreiung) auf den Weg gebracht wurde, nicht zuletzt auch dem Anliegen geschuldet gewesen sein, dem gefürchteten Einfluss der Islamischen Föderation an den Berliner Schulen entgegenzuwirken.189 Das breite Spektrum an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die in den Berliner Schulen Unterrichtsangebote in eigener Regie machen, spiegelt die besondere religionskulturelle Lage der Hauptstadt, in der Prozesse tiefgreifender Säkularisierung mit religiös-weltanschaulicher Pluralisierung Hand in Hand gehen. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass die seit 1948 geltende Regelung fakultativen Religions- bzw. Weltanschauungsunterrichts in alleiniger Verantwortung der Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften sich in Berlin über mehrere Jahrzehnte stabiler Akzeptanz erfreute. Doch im Laufe des 186 Vgl. OVG Berlin 7 B 4.98, Urteil vom 4. 11. 1998; BVerwG 6 C 5.99, Urteil vom 23. 2. 2000. In dem Rechtsstreit stand vor allem die Frage zur Entscheidung, ob es sich bei der IFB um eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Berliner Schulgesetzes handele. Dieses hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2000 unter Berücksichtigung der damals geltenden Rechtslage in Berlin bejaht (vgl. BVerwG 6 C 5.99, Urteil vom 23. 2. 2000). In Reaktion auf diese politisch unerwünschte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wurde am 26. 1. 2004 die Definition von Religionsgemeinschaften, die als Träger für fakultativen Religionsunterricht in Frage kommen, im Berliner Schulgesetz geändert und dahingehend präzisiert, dass nur solche Vereinigungen in Betracht kommen, »die die Gewähr der Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Bestrebungen und Tätigkeiten auf die umfassende Pflege eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder auf dieses Bekenntnis verpflichtet und durch es verbunden sind« (vgl. § 13 Abs. 1 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004). Dieser neu eingefügte Passus gilt ausdrücklich nicht für Weltanschauungsgemeinschaften und folglich auch nicht für den HVD (vgl. dazu § 13 Abs. 7 ebd.; vgl. auch Fn. 242 unten); die Gesetzänderung zielte damit ersichtlich auf die IFB, blieb allerdings bislang ohne Konsequenzen. 187 Zur IGMG vgl. Schiffauer, Nach dem Islamismus. 188 Zu den Aleviten allgemein vgl. Dressler, Die alevitische Religion; zu den Aleviten in Deutschland: Sökefeld (Hg.), Aleviten. 189 Eine direkte Konkurrenz ergab sich allerdings zunächst nicht, da die IFB ihr Unterrichtsangebot beim Einstieg auf Grundschulen beschränkte; die Ausweitung in den Sekundarstufenbereich verlief schleppend. Das Fach Ethik wurde demgegenüber lediglich in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 eingeführt.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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ersten Jahrzehnts nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten schwand die allgemeine Akzeptanz des Berliner Modells zusehends dahin. Paradigmatisch hierfür war der Positionswandel der Evangelischen Kirche. Hatten die Kirchenverantwortlichen die Berliner Sonderform des Religionsunterrichts zuvor vor allem deshalb mitgetragen, weil sie mit ihrem Verlangen nach Selbständigkeit und Freiheit vom Staat korrespondierte, so forderten sie seit den 1990er Jahren – den Wendepunkt markiert auch hier (wie schon im Brandenburger Streit um die Einführung von LER) der Amtsantritt von Wolfgang Huber als Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg 1994190 – mit wachsendem Nachdruck, die Rechtsstellung des Religionsunterrichts in Berlin derjenigen im Rest der Republik anzugleichen und folglich nach den Bestimmungen aus Art. 7 Abs. 3 GG auszugestalten. Um der besonderen religionskulturellen Lage Berlins Rechnung zu tragen, wurde von der Kirchenleitung der schon aus dem Brandenburger Konflikt bekannte Vorschlag vorgebracht, Religionsunterricht im Rahmen eines Wahlpflichtbereichs als ordentliches Lehrfach gleichberechtigt neben dem Fach Ethik anzubieten.191 Doch auch auf der Gegenseite kam zunehmend Skepsis an der Zukunftsfähigkeit des bisherigen Modells auf. Ausschlaggebend hierfür war die Tatsache, dass ausweislich der statistischen Erhebungen nicht einmal die Hälfte der Berliner Schülerinnen und Schüler an einem religions- oder weltanschaulichen Unterricht teilnahm.192 Anders als in den Bundesländern mit regulärem Religionsunterricht, die bereits in den 1980er Jahren mit der Einführung von Unterrichtsfächern wie ›Ethik‹, ›Werte und Normen‹ oder dergleichen als Ersatzfächern für den Religionsunterricht begonnen hatten, gab es in Berlin keine weltanschaulich bzw. religiös ›neutrale‹ Alternative zu den Unterrichtsangeboten der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Diese Leerstelle zu 190 Vgl. oben in Kapitel 6.1, Fn. 41. 191 Zur Entwicklung des Konzepts der Fächergruppe und den Berliner Streit darum vgl. Kraft, Religionsunterricht in Berlin. Die Idee, einen Wahlpflichtbereich einzurichten, wurde seitens der Evangelischen Kirche zwar bereits 1988 vorgetragen (vgl. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz/Erzbistum Berlin, Einfach ein Fach?, 10 f) und 1998 gemeinsam mit der Katholischen Kirche als Zukunftsmodell für Berlin präsentiert (vgl. ebd. sowie Häusler, Religion unterrichten in Berlin, 29); erst nach dem Amtsantritt Wolfgang Hubers wurde diese Idee aber konsequent als Zukunftsmodell präsentiert und öffentlichkeitswirksam beworben. Zur Haltung der Evangelischen Kirche zur Sonderform des Religionsunterrichts in Berlin seit 1948 sowie zu ihrem Positionswandel in den 1990er Jahren vgl. neben den genannten Arbeiten von Kraft (159 – 163) und Häusler (27 f) auch: Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 284 – 287; sowie Beschorner, Berliner Schulversuch Ethik/Philosophie, 42 – 44. 192 Die Evangelische Kirche erreichte 28,41 % der Schüler/innen, die Katholische Kirche 7,07 %, die IFB 1,18 %, der HVD immerhin 10,77 %; alle anderen blieben unter 1 %; vgl. den auf Erhebungen des Berliner Senats basierenden Überblick bei Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 386 f, der allerdings nicht nach Schulformen differenziert.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
schließen und möglichst alle Schülerinnen und Schüler mit einem ›werteorientierenden‹ Unterrichtsangebot zu erreichen, erschien politisch geboten; und die Entwicklungen in Brandenburg, in dem die Einführung eines solchen Fachs engagiert vorangetrieben wurde, verstärkten auch in Berlin die Bestrebungen, schulpolitisch neue Akzente zu setzen. Vor diesem Hintergrund begann im Schuljahr 1993/1994, noch unter der von Eberhard Diepgen (CDU) geführten ›Großen Koalition‹ zwischen CDU und SPD,193 ein Schulversuch zur Einführung des Fachs ›Ethik/Philosophie‹ in der Sekundarstufe I.194 Die Pläne zur Einführung des neuen Unterrichtsfachs, das Werteorientierung bieten, aber bekenntnisneutral konzipiert sein sollte, wurden weiter konkretisiert, als die ›Große Koalition‹ nach zehn Jahren im Juni 2001 zerbrach und mit Klaus Wowereit wieder ein Sozialdemokrat die Regierungsgeschäfte in der Hauptstadt übernahm. Der bereits in der ›Großen Koalition‹ als Schulsenator tätige Klaus Böger (SPD) kündigte daraufhin an, umgehend Bewegung in die Diskussion zu bringen und äußerte, gegenläufig zum allgemeinen Trend in der Berliner SPD,195 Sympathien für die Einführung verbindlichen Religionsunterrichts in Verantwortung der Kirchen nach dem Modell des Art. 7 Abs. 3 GG.196 Im November 2004 wiederholte Böger seine Vorstellungen, die in Richtung des von den Kirchen ebenso wie von der Berliner CDU und FDP favorisierten Modells der ›Fächergruppe‹ wiesen. Danach sollte an Berliner Schulen (wie in Brandenburg) verbindlicher Unterricht im Fach ›Lebenskunde-Ethik-Religionskunde‹ eingeführt werden; Schülerinnen und Schüler sollten aber auf Wunsch von diesem Unterricht befreit werden, wenn sie am Unterricht einer Religionsgemeinschaft teilnehmen, der nach Bögers Vorstellungen in diesem Rahmen ebenfalls (anders als in Brandenburg) verbindlichen Charakter erhalten sollte. Böger begründete seinen Vorstoß allerdings weniger mit der Absicht, den Kirchen nunmehr auch in Berlin einen festen Ort in der schulischen Wertevermittelung sichern zu wollen, als vielmehr mit dem schlichten Wunsch, den gefürchteten Einfluss des Religionsunterrichts der Islamischen Föderation zu193 Eberhard Diepgen war zunächst von 1984 bis 1989 Regierender Bürgermeister ; in dieser Zeit regierte er mit einer Koalition aus CDU und FDP. 1991 bis 2001 regierte er Berlin mit einer ›Großen Koalition‹ aus CDU und SPD. 194 Der Schulversuch wurde (an insgesamt 37 Schulen) bis zur Einführung des Fachs Ethik im Schuljahr 2006/2007 fortgeführt; vgl. Beschorner, Berliner Schulversuch Ethik/Philosophie, 2006. 195 Zur markant kirchenfernen und in Teilen antiklerikalen Mentalität der Berliner SPD, die sich deutlich von der Haltung der Bundespartei in religionspolitischen Fragen unterscheidet, vgl. Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 376 – 381. 196 Vgl. Berliner Zeitung, 25. 9. 2001. Bereits kurz nach seiner Ernennung zum Schulsenator im Dezember 1999 hatte er sich in der Öffentlichkeit ähnlich geäußert und damit heftigen Widerstand in seiner Partei hervorgerufen; als Reaktion auf seinen damaligen Vorstoß hatte sich sogar im Mai 2000 ein ›Aktionsbündnis gegen ein Wahlpflichtfach Religion in Berlin‹ gebildet; vgl. Gräb/Thieme, Religion oder Ethik?, 45 – 48.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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rückzudrängen. Denn im Rahmen des Modells der ›Fächergruppe‹ hätte der Staat seines Erachtens weit mehr Möglichkeiten in der Hand, die von den Religionsgemeinschaften erarbeiteten Curricula auf verfassungswidrige Inhalte zu prüfen und nicht zuletzt auch auf die Ausbildung und Auswahl der Lehrkräfte Einfluss zu nehmen, als es das herkömmliche Berliner Modell religiöser Unterweisung vorsieht, das nur eine sehr schwache Kontrolle der Rahmenlehrpläne für den Religionsunterricht gestattet.197 Mit seinen Vorschlägen stieß er jedoch auf heftigen Widerstand in seiner eigenen Partei.198 Bei den Vorbereitungen zum Landesparteitag der Berliner SPD im April 2005 kristallisierte sich jedenfalls eine ganz andere Position heraus, die schlussendlich breite Zustimmung unter den Delegierten finden sollte. Begleitet von einer heftigen öffentlichen Kontroverse, die nicht zuletzt unter dem Eindruck des ›Ehrenmordes‹ an einer jungen Deutschtürkin im Februar 2005 auf offener Berliner Straße und der schockierenden Billigung dieser Tat durch Schülerinnen und Schüler der Stadt stand,199 wies der Parteitag Anfang April den Vorschlag Bögers zurück und sprach sich für die Einführung eines verpflichtenden ›Werteunterrichts‹ ohne Befreiungsmöglichkeit aus. In der Beschlussfassung des Parteitages, der nur wenige Tage nach dem ›öffentlichen Sterben‹ Papst Johannes Pauls II. und insofern in einem für religiöse Befindlichkeiten ungewöhnlich sensibilisierten gesellschaftlichen Klima stattfand, liest sich das so: Die SPD tritt für eine verstärkte Werteerziehung in der Jugendarbeit, in der Kindertagesstätte, im Schulleben und in allen Unterrichtsfächern der Schule ein. […] Das Wissen über die Wertmaßstäbe einer Gesellschaft und die Erfahrung gelebter freiheitlich demokratischer Werte sind Voraussetzungen für die Entwicklung der Heranwachsenden zu selbstbewussten Persönlichkeiten und ihre Befähigung zum engagierten und verantwortlichen Handeln in einer Gemeinschaft. […] Eine zeitgemäße, wertebezogene Bildung erfordert gerade in der pluralen Metropole Berlin integrative Unterrichtsformen, bei denen Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher politischer und religiöser bzw. weltanschaulicher Auffassungen sich GEMEINSAM mit Fragen der Werteorientierung, mit unterschiedlichen Weltreligionen, Weltanschauungen und Lebensauffassungen beschäftigen und im Dialog lernen, eigene Vorstellungen weiterzuentwickeln, fremde Auffassungen zu respektieren und zu verstehen. Die SPD setzt sich deshalb für die Einführung des Faches LER als Pflichtfach ohne Abmeldeklausel ein. […] Die schulische Aufgabe einer Wertevermittlung darf nicht an Weltanschau197 Vgl. die Berichterstattung in: Der Tagesspiegel, 22. 11. 2004 (Bericht und Interview mit Böger), 23. 11. 2004, 28. 11. 2004. 198 Vgl. FAZ, 23. 11. 2004 sowie (aus der Rückschau): Berliner Morgenpost, 15. 4. 2005; auch Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 379 – 381, dort auch der Wortlaut des Gesetzesvorschlags. 199 Zum konkreten Fall und zur Zweifelhaftigkeit des Begriffs ›Ehrenmord‹ vgl. den Beitrag von Werner Schiffauer in: SZ, 25. 2. 2005; instruktiv zur Thematik von ›Ehre‹ und ›Gewalt‹ grundsätzlich: ders., Ehre.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
ungs- und Religionsgemeinschaften delegiert werden. Ein bekenntnisgebundener Religions- oder Weltanschauungsunterricht kann ein allgemein bildendes Schulfach nicht ersetzen. Deshalb lehnt die SPD Berlin die Einführung eines Wahlpflichtbereiches LER / Religionsunterricht ab.200
»Werteunterricht für alle!« – so lautete die auf einem doppelseitigen Flyer verbreitete Botschaft, die vom Parteitag ausging.201 Doch nicht alle wollten sie hören. Die Stimmung war aufgeheizt und die Reaktionen auf den Parteitagsbeschluss waren scharf. In der Zeit sprach Robert Leicht von einem »zähen Kulturkampf« der Berliner Sozialdemokraten nicht gegen den Religionsunterricht allein, sondern gegen die Religion überhaupt. Bei den schulpolitischen Plänen der Berliner Sozialdemokraten gehe es, so Leicht, nicht um eine pädagogische […] Reaktion auf einen ›Ehrenmord‹ und nicht um einen ehrlichen Versuch, das Multikultithema […] schulisch zu behandeln. Die Sache hat auch nichts zu tun mit der seit dem 11. September 2001 veränderten Welt, denn dieser Kampf der Berliner SPD reicht weit, weit zurück […]. Es geht wirklich nur um die Religion – und gegen den Religionsunterricht.202
Die strikte Ablehnung des Wahlpflichtmodells geißelte Leicht gar als »Todsünde wider den Geist der Freiheit« und verspottete den sowohl autoritären als auch ideologischen und obendrein provinziellen »Eifer, mit dem die Berliner Parteifunktionäre […] amtliche Wertvorgaben machen«.203 Auch der Kommentator der Süddeutschen Zeitung sah im Berliner Streit religionspolitische Grundsatzfragen aufgeworfen: Keineswegs, so Matthias Drobinski, gehe es nur »um regionale Schulpolitik. Es geht grundsätzlich um das Verhältnis von Staat und Kirche.«204 Mit dem ›Werteunterricht für alle!‹, so sein Verdacht, solle »die Vermittlung von Religion, Glaubens- und Lebenshaltungen verstaatlicht« werden. Damit aber stehe der Staat vor der Alternative, Religion entweder »museal« als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsformation zu präsentieren, oder aber 200 Vgl. SPD Berlin, Beschlussfassung des Landesparteitags der Berliner SPD vom 9. 4. 2005, 3 [Hervorhebung im Original]. Ihren Koalitionspartner im Berliner Abgeordnetenhaus, die PDS, wussten die Berliner Sozialdemokraten dabei auf ihrer Seite, hatte die PDS-Fraktion doch bereits im März 2005 einen Entwurf für die Einführung von ›Werteunterricht‹ an Berliner Schulen vorgelegt, der sich an dem Brandenburger Modell orientierte, allerdings unter der Fachbezeichnung ›Interkulturelle Bildung‹ figurierte; vgl. Berliner Zeitung, 9. 3. 2005. 201 Der Flyer datiert vom April 2005; sein Untertitel lautete: »Für Toleranz, Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung und Demokratie« (http://hpd.de/files/Flyer_Wertefach_SPDLa – Verband_4 – 05.pdf [1. 7. 2011]). Der Titel des vorliegenden Kapitels 6.2 nimmt auf diesen Slogan Bezug. 202 Die Zeit, 14. 4. 2005. 203 Ebd. 204 SZ, 14. 4. 2005.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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sich in verfassungswidriger Weise zum »Religionswächter« zu erheben.205 Bernd Ulrich warf dem Berliner Senat im Tagesspiegel »mutwillige Verbreitung religiöser Legasthenie im Zeitalter globalen Wiedererstarkens des Religiösen« vor,206 und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde der geplante »Werteunterricht für alle!« als »Villa Kunterbunt der Letztbegründungen« verlacht207 und scharf kritisiert: Der Parteitagsbeschluss, so empörte sich Johann Schloemann, offenbare eine »grundsätzliche Anmaßung«; das geplante Fach sei ein staatliches Missionsprogramm, mit dem »eben jene weltanschauliche Neutralität, mit der man diese Zurückdrängung des konfessionellen Unterrichts begründet, […] mit Füßen getreten« werde.208 Wie nicht anders zu erwarten liefen auch die Kirchen und kirchennahe Kreise umgehend Sturm gegen die Pläne. Der EKD-Vorsitzende und Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz209 Wolfgang Huber hatte die Pläne bereits im Vorfeld des Parteitages als Ausdruck eines »weltanschaulichen Herrschaftsanspruchs« gebrandmarkt.210 So sah er in Berlin »glaubens- und kirchenfeindliche Motive« am Werk.211 Der Erzbischof von Berlin Georg Kardinal Sterzinsky beklagte gar »Zustände wie in der Nazizeit und in der DDR«.212 In einem gemeinsamen öffentlichen Aufruf warnten die Evangelische Kirche in Berlin, das Erzbistum Berlin und die Jüdische Gemeinde zu Berlin vereint vor der »ideologische[n] Engführung«, in die ein vom Staat allein verantworteter Werteunterricht zwingend hineinführe.213 Zu historischen Vergleichen mit den 1930er Jahren verstieg sich Reymar von Wedel, der Begründer des ›Notbunds für den evangelischen Religionsunterricht e.V.‹, der sich in Reaktion auf die Kürzung der Senatszuschüsse für den Religionsunterricht und die daran anknüpfenden innerkirchlichen Pläne zum ›Abschmelzen‹ eines erheblichen Teils der Stellen für Religionslehrer bereits im Januar 2005 formiert hatte.214 Schon der Vereinsname ›Notbund‹ sollte ausdrücklich Assoziationen mit dem ›Pfarrernotbund‹ wecken, der im Herbst 1933 von Martin Niemöller ins 205 Ebd. 206 Der Tagesspiegel, 9. 4. 2005. 207 So Mark Siemons in: FAZ, 6. 4. 2005; der Titel des vorliegenden Kapitels 6.2 nimmt auf diese Wendung Bezug. 208 FAZ, 11. 4. 2005. Der Beitrag nimmt Bezug auf eine Äußerung Wowereits, der Werteunterricht sei eine »zeitgemäße Antwort auf die Vielfalt unserer Gesellschaft« (vgl. Der Tagesspiegel, 8. 4. 2005). 209 Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB) hatte sich 2004 mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) zusammengeschlossen. 210 Zit. nach: FAZ, 19. 3. 2005. 211 Zit. nach: Welt am Sonntag, 17. 4. 2005. 212 Zit. nach einem Bericht in: FAZ, 15. 3. 2005; vgl. auch: SZ, 6. 4. 2005. 213 Vgl. den Wiederabdruck des Aufrufs in: Notbund, Dokumentation, 25 f. 214 Zur Gründung des ›Notbunds‹ vgl. den Bericht in: Der Tagesspiegel, 31. 1. 2005.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Leben gerufen worden war, um der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik zu begegnen und diejenigen Pfarrer zu unterstützen, die von der Kirche in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Nationalsozialisten aus ihren Ämtern entlassen worden waren.215 Zwar seien die Verhältnisse noch nicht so schlimm wie in jener Zeit, ließ von Wedel im Frühjahr 2005 wissen, »aber es kann so werden und manches ist schon heute vergleichbar«.216 Vertreter der FDP zogen historische Verbindungslinien in die jüngere deutsche Vergangenheit; so witterten sie in den Plänen für einen staatlich verantworteten ›Werteunterricht‹ »eine Art DDR light«.217 Moderater im Ton, in der Sache jedoch scharf rügte schließlich auch der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU den geplanten ›Werteunterricht‹ als Ausdruck eines unzulässigen staatlichen »Monopolanspruch[s] in weltanschaulichen Fragen«.218 Um diesen Vorstellungen entgegenzutreten, gaben sich die Initiatoren in der Öffentlichkeit alle Mühe, den Eindruck zu zerstreuen, mit dem neuen Unterrichtsfach solle ein Verdrängungswettbewerb gegen den von den Kirchen verantworteten Religionsunterricht initiiert werden. Stattdessen suchten sie, die Kirchen und kirchennahe Milieus zum Schulterschluss gegen das Unterrichtsangebot der des Fundamentalismus verdächtigten Islamischen Föderation Berlin zu bewegen.219 So ließ der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit am Vortag des SPD-Landesparteitages, auf dem sich die Partei für die Einführung des ›Werteunterrichts für alle‹ aussprechen sollte, die Berliner Öffentlichkeit im Tagesspiegel wissen: Wir wollen, dass die Kirchen Zugang zu unseren Schulen haben. Selbstverständlich – und dies sei in Richtung islamischer Fundamentalisten gesagt – muss sich der eigenverantwortete Religionsunterricht auf dem Boden unserer Verfassung bewegen. […] Werteunterricht als verbindliches Fach für alle Schüler richtet sich nicht gegen den freiwilligen Religionsunterricht, sondern kann einen Beitrag zur Beseitigung eines von vielen beklagten Wertezerfalls in unserer Gesellschaft leisten.220
215 Zum ›Pfarrernotbund‹, der eine Wurzel der ›Bekennenden Kirche‹ war, vgl. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland, 256 ff; Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 612 ff. 216 Zit. nach: Berliner Morgenpost, 5. 4. 2005; vgl. auch die Berichterstattung in: Der Tagesspiegel, 5. 4. 2005. 217 So der FDP-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus Martin Lindner während einer kurz nach dem Parteitag anberaumten Aktuellen Stunde zum Thema »Kein Religionsunterricht aber Einheitsschule – Rot-Rot versündigt sich an unseren Kindern und schreckt Unternehmen und junge Familien ab«: Abgeordnetenhaus Berlin, Plenarprotokoll 15/66, 14. 4. 2005, 5546 – 5562, hier 5555 f; vgl. auch: Der Tagesspiegel, 15. 4. 2005. 218 Zit. nach: Notbund, Dokumentation, 11 f. 219 Zur IFB vgl. Fn. 186 oben. 220 Der Tagesspiegel, 8. 4. 2005; entsprechende Kautelen finden sich auch auf dem erwähnten Flyer »Werteunterricht für alle!« (vgl. Fn. 201 oben).
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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Der Schulsenator Klaus Böger (SPD), der das von den Kirchen favorisierte Wahlpflichtmodell stets unterstützt und sich innerparteilich vehement gegen den ›Werteunterricht für alle‹ ausgesprochen hatte,221 legte Wert auf die Feststellung, es gebe in Berlin »keinen Kulturkampf und Raustreiben der Religion aus den Schulen«.222 Auch der Landesvorsitzende der SPD, Michael Müller, anders als Böger einer der unnachgiebigen Befürworter des Modells, versuchte den Eindruck der Kirchenfeindlichkeit zu zerstreuen. So betonte er, die Weigerung der SPD, jenen Schülerrinnen und Schülern, die den Religionsunterricht besuchten, eine Abmeldung vom ›Werteunterricht‹ zu ermöglichen, sei ausschließlich eine »bildungspolitische Entscheidung«, nicht der Auftakt zu einem »Kirchenkampf«.223 Denn, so behauptete Müller, allein ein Fach, in dem alle Schülerinnen und Schüler, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und ungeachtet ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindungen, gemeinsam zur Reflexion über Werteorientierungen angehalten würden, könne dem bildungspolitischen Ziel der Erziehung zu Dialogbereitschaft und Toleranz gerecht werden.224 Nun ließen sich die Kirchen von den wiederholten Abwiegelungsversuchen der Berliner Sozialdemokraten allerdings nicht ruhig stellen. Ihre Alarmbereitschaft wurde genährt durch Äußerungen wie die der Berliner SPD-Abgeordneten Monika Buttgereit, die gönnerhaft verlauten ließ, sie »möchte den Katholiken nicht absprechen, dass sie auch Werte haben«, allerdings gleich hinzufügte: »Aber das sind nicht die Werte, die ich mit Schülern diskutiert haben will.«225 Und Michael Müller hatte noch im März 2005 öffentlich vorgeschlagen, die Finanzmittel, die durch das mit der Einführung des verbindlichen ›Werteunterrichts‹ erwartungsgemäß schwindende Interesse am Religionsunterricht frei würden, zu nutzen, um den ›Werteunterricht‹ (der zunächst nur in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 eingeführt werden sollte) »[m]öglichst schnell« auch in die Grundschulen hinein auszuweiten, da in diesen das Angebot der Religionsgemeinschaften durchgängig von deutlich mehr Schülerinnen und Schülern wahrgenommen wird als in den weiterführenden Schulen.226 Mit einem 221 Vgl. Die Welt, 5. 4. 2005; Der Tagesspiegel, 6. 3. 2005; auch: Beschorner, Berliner Schulversuch Ethik/Philosophie, 69 f. 222 So in: Der Tagesspiegel, 15. 4. 2005. 223 Vgl. die Rede Müllers im Berliner Abgeordnetenhaus während der erwähnten Aktuellen Stunde zu den SPD-Plänen: Abgeordnetenhaus Berlin, Plenarprotokoll 15/66, 14. 4. 2005, 5551. 224 Vgl. ebd., 5550 f. 225 Zitiert nach: SpiegelOnline, 8. 4. 2005. 226 Zit. nach: Der Tagesspiegel, 16. 3. 2005; auch: FAZ, 19. 3. 2005. Obwohl diese Auffassung auch in der Berliner SPD nicht mehrheitsfähig war, wurde sie im Eifer des leidenschaftlichen symbolischen Gefechts gelegentlich wiederholt; so etwa im Mai 2008 vom Fraktionsgeschäftsführer der SPD Christian Gaebler, der die Überlegung äußerte, »Ethik schon ab der ersten Klasse als Pflichtfach einzuführen«, sich aber angesichts heftiger Kritik aus den
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
staatlichen ›Werteunterricht‹ erst ab Jahrgangsstufe 7 »können wir uns«, so erklärte Müller, »nicht beruhigen«.227 Zwar bemühte sich auch Müller, der kirchlichen Sorge vor einer Aushöhlung des christlichen Religionsunterrichts vorzubeugen,228 doch die Vertrauensbasis zwischen den Berliner Sozialdemokraten und den Kirchen war nachhaltig erschüttert, zumal der Koalitionspartner der SPD stets bereit war, Öl ins Feuer des religionspolitischen Grundsatzstreits zu gießen. So trug die damalige Fraktionsvorsitzende der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus, Carola Freundl, zur Verschärfung der Konfrontation bei, als sie im März 2005 erklärte, Ziel des ›Werteunterrichts‹ müsse nicht zuletzt sein, »die Herkunftsreligionen zu relativieren«.229 Angesichts der Grundsatzfragen nach dem Verhältnis von Religion und Ethik sowie der Rolle der Religion für das sozialkulturelle Gefüge insgesamt, die in der Berliner Konfliktkonstellation aufgeworfen wurden und gleichsam als Echo des gerade erst abflauenden Brandenburger Streits nachhallten, fand auch die Berliner Kontroverse umgehend bundesweit Resonanz. Erneut befasste sich auch der Deutsche Bundestag mit dem Thema: Nur wenige Tage nachdem die Berliner SPD auf ihrem Parteitag die Weichen in Richtung »Werteunterricht für alle« gestellt hatte, debattierten die Bundestagsabgeordneten auf Antrag der CDU/ CSU-Fraktion in einer Aktuellen Stunde über das Thema »Religionspolitik des Berliner Senats und Grundgesetz«. Der CDU-Abgeordnete Hermann Kues wertete bei diesem Anlass die Berliner Pläne als »Anschlag auf die Bekenntnisund Gewissensfreiheit in unserem Lande« und als »Kampfansage an den Grundkonsens unserer pluralen Gesellschaft«. Der Staat, so Kues, müsse »Freiheiten garantieren und nicht Werte normieren«.230 Was sich in Berlin abspiele, meinte Kues, »riecht verdammt nach DDR«; und er erinnerte daran, »dass unser Staat und unsere Verfassung ohne die religiösen Traditionen, die wir in unserem Lande haben, nicht denkbar wären.«231 Widerspruch gegen die Berliner Pläne kam jedoch keineswegs nur von Unionsseite, sondern auch von der FDP. Der liberale Abgeordnete Markus Löning ließ die Anwesenden wissen, er sei »sicherlich kein Freund der Kirchen«,232 aber : Wenn ich mir vorstelle, dass meine Kinder in einer Berliner Schule Unterricht erhalten, in dem Werte vermittelt werden, die per Parlamentsmehrheit festgelegt worden sind, dann wird mir schlecht.233
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eigenen Reihen umgehend von seiner Äußerung distanzierte (zit. nach: Der Tagesspiegel, 9. 5. 2008). Zit. nach: Der Tagesspiegel, 16. 3. 2005; auch: FAZ, 19. 3. 2005. Vgl. ebd. Zit. nach: Berliner Zeitung, 9. 3. 2005. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 15/168, 13. 4. 2005, 15740. Ebd., 15741, 15740. Ebd., 15743. Ebd., 15744.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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Und auch unter den Berliner Sozialdemokraten gab es prominente Gegner des ›Werteunterrichts für alle!‹. So nannte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse den von seiner Partei eingeschlagenen Weg »hochproblematisch« und beklagte, »dass sich der Staat eine Wertebevormundung anmaßt«.234 Gegenwind kam nicht zuletzt aus der Bundespartei. Bundeskanzler Gerhard Schröder, der an der Aktuellen Stunde nicht teilnehmen konnte, gab am selben Tag seine Option für einen Wahlpflichtbereich Religion/Ethik zu Protokoll. Kinder sollten, so der Kanzler, in der Schule die Gelegenheit haben, ihre Religion »bekenntnisgestützt« kennen zu lernen oder aber einen bekenntnisneutralen Ethikunterricht zu wählen.235 Ähnlich ließ sich auch der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering vernehmen, der gar einen Rückfall hinter das Godesberger Programm der SPD von 1959 witterte,236 in dem die Partei ihre Bereitschaft »[z]ur Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinne einer freien Partnerschaft« erklärt und damit eine religionspolitische Wende vollzogen hatte.237 Doch die Berliner SPD ließ sich auch von dem Widerstand aus den eigenen Reihen nicht beeindrucken. Ein knappes Jahr später legte sie dem Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Parteitagsbeschlüsse zum ›Werteunterricht für alle!‹ umgesetzt werden sollten. Zwar wurde, wohl um der in der öffentlichen Auseinandersetzung beständig wiederholten Kritik zu entkommen, es sei nicht Sache des Staates, ›Werte‹ anzubieten, für das neue Pflichtfach schließlich die Bezeichnung ›Ethik‹ gewählt, am Grundkonzept des Fachs und seinem Verhältnis zum (weiterhin fakultativen) Religionsunterricht änderte sich aber nichts. Am 30. März 2006 beschloss das Abgeordnetenhaus von Berlin mit den Stimmen der SPD und der PDS sowie Teilen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Berliner Schulgesetz zu ändern und in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 verpflichtenden Ethikunterricht einzuführen. Das geänderte Schulgesetz trat pünktlich zum Schuljahresbeginn am 1. August 2006 in Kraft. Nach § 12 Abs. 6 des Berliner Schulgesetzes ist damit das Fach Ethik […] in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 der öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach für alle Schülerinnen und Schüler. Ziel des Ethikunterrichts ist es, die Bereitschaft und Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Herkunft zu fördern, sich ge234 Zit. nach: Das Parlament, 18. 4. 2005; ebenso Der Tagesspiegel, 11. 4. 2005. 235 Zit. nach: Das Parlament, 18. 4. 2005; ebenso belegt in: FAZ, 14. 4. 2005; SZ, 14. 4. 2005 (Grassmann). 236 Vgl. Der Tagesspiegel, 8. 4. 2005. 237 Vgl. den Abschnitt »Religion und Kirche« im Godesberger Programm von 1959. Die Äußerung Münteferings wird berichtet von Leicht in: Die Zeit, 14. 4. 2005. Weitere Stimmen aus der SPD und aus den anderen Parteien sowie aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich in der Angelegenheit zu Wort meldeten, sind zusammengetragen in: Notbund, Dokumentation, 3 – 24.
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meinsam mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wertund Sinnangeboten konstruktiv auseinander zu setzen. […] Zu diesem Zweck werden Kenntnisse der Philosophie sowie weltanschaulicher und religiöser Ethik sowie über verschiedene Kulturen, Lebensweisen, die großen Weltreligionen und zu Fragen der Lebensgestaltung vermittelt. Das Fach Ethik orientiert sich an den allgemeinen ethischen Grundsätzen, wie sie im Grundgesetz, in der Verfassung von Berlin und im Bildungs- und Erziehungsauftrag der §§ 1 und 3 niedergelegt sind. Es wird weltanschaulich und religiös neutral unterrichtet. Im Ethikunterricht sollen von den Schulen einzelne Themenbereiche in Kooperation mit Trägern des Religions- und Weltanschauungsunterrichts gestaltet werden. Die Entscheidung, in welcher Form Kooperationen durchgeführt werden, obliegt der einzelnen Schule. Die Schule hat die Erziehungsberechtigten rechtzeitig und in geeigneter Weise über Ziel, Inhalt und Form des Ethikunterrichts zu informieren.238
Anders als in Brandenburg wurde eine Möglichkeit zur generellen Befreiung vom Ethikunterricht zugunsten des Religions- oder auch des Weltanschauungsunterrichts, wie ihn die christlichen Kirchen, die Jüdische Gemeinde, die Buddhisten, die Islamische Föderation, die Gemeinschaft der Aleviten und auch der Humanistische Verband anbieten, nicht im Gesetz verankert. Allerdings blieb ein ›Hintertörchen‹ offen: Denn nach § 46 Abs. 5 des Berliner Schulgesetzes, der auf sämtliche Fächer bezogen ist und nicht im Zusammenhang mit der Einführung des Ethikunterrichts steht, können Schülerinnen und Schüler im Einzelfall »aus wichtigem Grund auf Antrag vom Unterricht beurlaubt oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreit werden.«239 Der bisherige Rechtsstatus des Religions- und Weltanschauungsunterrichts wurde mit der Gesetzänderung formal nicht angetastet. Das Berliner Schulgesetz sieht vielmehr auch weiterhin vor, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein entsprechendes Angebot machen können, das für die Schülerinnen und Schüler freiwillig ist. Die Bedingungen dafür legt § 13 des geltenden Schulgesetzes fest. In Abs. 1 heißt es: Der Religions- und Weltanschauungsunterricht ist Sache der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Als Träger von Religionsunterricht kommen nur solche Vereinigungen in Betracht, die die Gewähr der Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Bestrebungen und Tätigkeiten auf die umfassende Pflege eines reli238 Abgeordnetenhaus Berlin, Erstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 30. 3. 2006, 299. 239 Siehe § 46 Abs. 5 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004. Diese Regelung wird als Rechtsgrundlage für Anträge auf partielle Unterrichtsbefreiung aus den verschiedensten Motiven (religiösen Motiven ebenso wie aus gesundheitlichen Gründen oder solchen, die in der besonderen Förderung eines Kindes auf außerschulischen Gebieten liegen) herangezogen.
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giösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder auf dieses Bekenntnis verpflichtet und durch es verbunden sind.240
Es folgen Bestimmungen hinsichtlich der Ausbildung der von den Religionsgemeinschaften selbst beauftragten Lehrkräfte und Regelungen, die der für das Schulwesen zuständigen Senatsverwaltung eine Kontrolle der pädagogischen und fachlichen Qualität der Rahmenlehrpläne ermöglichen. Festgelegt wird auch, dass es zur Teilnahme am Religionsunterricht der schriftlichen Anmeldung bedarf.241 Und schließlich wird geregelt, dass sämtliche Bestimmungen »[für] Weltanschauungsgemeinschaften […] sinngemäß« gelten.242 Vergleicht man nun die allgemeinen Konditionen und die praktische Gestaltung des Religionsunterrichts in Berlin mit den Bedingungen in anderen Bundesländern, so mag der Eindruck entstehen, dass die Differenzen zum Geltungsbereich von Art. 7 Abs. 3 GG im Praktischen gar nicht so beachtlich sind, wie es die Streitparteien, insbesondere die Kirchen, immer wieder behaupten. Blickt man jedoch auf die Rechtslage, so sind die Unterschiede durchaus erheblich. Denn in Berlin war und ist der Religionsunterricht eben kein Grundrecht, sondern eine politische Konzession. Sein Bestand und sein Status sind deshalb grundsätzlich dem Wechsel der politischen, sozial- und religionskulturellen Gezeiten unterworfen. Entsprechend reagierten die Kirchen mit heftiger Ablehnung auf die Schulgesetzänderung. Neben fundamentaler Kritik an der unausgereiften Fachkonzeption und der überstürzt anmutenden Einführung des Ethikunterrichts bereits mit Beginn des Schuljahres 2006/2007243 wurden, ähnlich wie in der 240 Siehe § 13 Abs. 1 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. 12. 2010. 241 Vgl. § 13 Abs. 4 ebd. Im Geltungsbereich des Art. 7 Abs. 3 GG ist in der Regel zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet, wer einer der Religionsgemeinschaften angehört, die Religionsunterricht anbieten, und sich nicht abgemeldet hat. Einige Bundesländer (darunter alle ›neuen‹ Bundesländer) haben die herkömmliche Abmeldepflicht vom Religionsunterricht allerdings durch eine Anmeldepflicht zum Religionsunterricht ersetzt; vgl. dazu oben Kapitel 6.1, Fn. 18. 242 § 13 Abs. 7 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. 12. 2010. Ausdrücklich nicht für die Weltanschauungsgemeinschaften gilt allerdings Satz 2 aus Abs. 1 (soeben zitiert: vgl. Fn. 240 oben), in dem die Qualität der Religionsgemeinschaften, die für den Religionsunterricht in Betracht kommen, näher spezifiziert wird; vgl. dazu Fn. 186 oben. 243 So blieb etwa ungeklärt, welche akademischen Disziplinen die Bezugsdisziplinen des neuen Fachs sein sollten: Allein die Philosophie oder eine Vielzahl von Disziplinen, die Religionswissenschaft ebenso wie die Geschichtswissenschaft, die Soziologie, die Psychologie etc.? Die Differenzen in dieser Frage fanden Niederschlag in den unterschiedlich konzipierten Studiengängen, die an der FU und an der HU im WS 2007/2008 eingerichtet wurden: Während an der HU die Philosophie die einzige Bezugsdisziplin ist, ist der Studiengang Ethik an der FU transdisziplinär angelegt und wird vom ›Institut für vergleichende Ethik‹ koordiniert.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Brandenburger Kontroverse, Bedenken hinsichtlich der Behandlung des Themas Religion im Ethikunterricht geäußert. Zwar sah das Gesetz vor, »einzelne Themenbereiche in Kooperation mit Trägern des Religions- und Weltanschauungsunterrichts« zu gestalten244 – doch wie sollte diese »Kooperation« aussehen? Militante Befürworter des neuen Fachs hatten hierzu bereits im Vorfeld ihre Vorstellungen zu Protokoll gegeben. Schon erwähnt wurde die Äußerung der PDS-Fraktionsvorsitzenden Carola Freundl, es gehöre zu den Zielen des Fachs, die »Herkunftsreligionen zu relativieren«.245 Ihr Kollege Stefan Liebich hatte hingegen vorgeschlagen, dass »authentische Vertreter [der Religionsgemeinschaften, AR] die Gelegenheit erhalten sollen, zu allen Schülerinnen und Schülern zu sprechen«,246 und damit den Trend zur Exotisierung des Religiösen bestätigt. Der Präsident des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz Ulrich Seelemann ließ hierzu 2006 bei einer Anhörung im zuständigen Ausschuss des Abgeordnetenhauses wissen: »Wir sind nicht bereit, so eine Art ›Zoomodell‹ mitzumachen, wo es dann im Ethikunterricht heißt: So Kinder, und nächste Woche zeigen wir Euch mal, wie ein Christ aussieht«.247 Die Kirchen hatten also durchaus Grund zur Skepsis und entsprechend vertagten sie ihre Entscheidung über die im Gesetz eröffnete Möglichkeit zur Kooperation. Auch behielten sich der Erzbischof von Berlin Georg Kardinal Sterzinsky und der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Wolfgang Huber ausdrücklich rechtliche Schritte gegen die Änderung des Schulgesetzes vor.248 Doch das Berliner Landesinstitut für Schule und Medien, das im Auftrag der zuständigen Senatsverwaltung einen Rahmenlehrplan für das Unterrichtsfach ›Ethik‹ erarbeitete, formulierte seine Bestimmungen behutsam. Verfassungsrechtlich eindeutig bedenkliche Vorstellungen des Religiösen im Allgemeinen und der christlichen Kirchen im Besonderen fanden jedenfalls keinen Eingang in die Unterrichtspläne,249 zumal Religion hier insgesamt eher am Rande thematisiert wird. So findet sich im Rahmenlehrplan von 2006 lediglich im letzten von sechs im Unterricht zu erschließenden Themenbereichen eine direkte Bezug244 Vgl. Fn. 238 oben. 245 Vgl. Fn. 229 oben. 246 So seine Äußerung während der parlamentarischen Aussprache über den Parteitagsbeschluss der SPD im April 2005; siehe: Abgeordnetenhaus Berlin, Plenarprotokoll 15/66, 14. 4. 2005, 5554. 247 Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll JugFamSchulSport 15/72 vom 2. 3. 2006, 26. Der Titel des Abschnitts 6.2.1 nimmt auf diese Rede vom »Zoomodell« der Religionen Bezug. 248 Vgl. FAZ, 4. 4. 2006; Das Parlament, 20. 2. 2006. 249 Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (Hg.), Rahmenlehrplan, 2006. Kritisch dazu: Jödicke, Verhältnis, 225 – 228; sowie Gräb/Thieme, Religion oder Ethik?, 143 – 164.
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nahme auf Religion. Hier, im Themenbereich ›Wissen, Hoffen und Glauben‹, wird aus der Feststellung, dass »sich religiöse Überzeugungen einer für jeden gültigen Bewertung entziehen«, der Schluss gezogen, dass von ihnen »die Gefahr des Dogmatismus und der Intoleranz« ausgehen könne.250 Im Anschluss wird empfohlen, dieser Gefahr »mit Aufklärung, vertieftem Verständnis und Entschiedenheit im Geist der Toleranz« zu begegnen, wofür »die angemessene Kenntnis der Weltreligionen und der religionskritischen humanistischen Weltanschauungen« Voraussetzung sei.251 In diesen eher vagen Formulierungen sahen die Kirchen offenbar keine Erfolg versprechende Grundlage, um ihre Drohung, gerichtlich gegen den Pflichtcharakter des Ethikunterrichts vorzugehen, in die Tat umzusetzen. Dies umso weniger, als das Bundesverwaltungsgericht bereits 1998 in einem baden-württembergischen Streitfall entschieden hatte, dass sich die Gestaltungsfreiheit des Staates im Schulwesen grundsätzlich auch auf »›wertgebundene‹ Erziehung« erstrecke; dazu gehöre auch, so hatten die Bundesverwaltungsrichter damals ausdrücklich festgestellt, »der schulische Ethikunterricht«, dessen Einrichtung also nicht zu beanstanden sei.252 Zwar lege das Grundgesetz, so urteilten sie, »keinen bestimmten ›ethischen Standard‹ im Sinne eines Bestandes von bestimmten weltanschaulichen Prinzipien fest«; es erlaube aber »einen Unterricht mit verbindlichen Aussagen« über »die nach dem Grundgesetz und seinem Menschenbild für das Zusammenleben essentiellen und unerlässlichen Grundwerte« – »wenn es ihn«, so schrieben die Bundesverwaltungsrichter im Nachsatz, »im Sinne des Erhalts der eigenen Geltungsbedingungen nicht sogar nahelegt«.253 Die Kirchen nahmen daher von ihrer Drohung, verfassungsrechtlich gegen die Berliner Schulgesetzänderung vorzugehen, Abstand. Den Weg vor Gericht beschritten hingegen eine evangelische Schülerin und ihre Eltern. Im April 2006, unmittelbar nach der Änderung des Berliner Schulgesetzes, erhoben sie beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des verpflichtenden Ethikunterrichts ohne die Möglichkeit genereller Befreiung. Die Karlsruher Richter wiesen die Beschwerde jedoch umgehend mit der Begründung ab, es sei den Beschwerdeführern zuzumuten, im Rahmen der im Berliner 250 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (Hg.), Rahmenlehrplan, 24. 251 Ebd. In einem anderen Abschnitt des Rahmenlehrplans wird ohne direkten Bezug auf religiöse Bindungen die Erwartung geäußert, dass sich die Schülerinnen und Schüler durch derartige Kenntnisse »der Relativität ihrer eigenen Sichtweisen bewusst« würden (ebd., 16). 252 BVerwG 6 C 11.97, Urteil vom 17. 6. 1998, 79. 253 Ebd., 81. Das Bundesverwaltungsgericht berief sich dabei ausdrücklich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im ›Kruzifixstreit‹, in der es heißt, dass der Staat »die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen […], auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht«, nicht abstreifen könne (ebd., 79; vgl. auch oben Kapitel 4, Fn. 139).
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Schulgesetz eröffneten Möglichkeit zur Unterrichtsbefreiung im begründeten Einzelfall zunächst bei der Schulverwaltung einen Antrag auf Befreiung vom Ethikunterricht zu stellen sowie im Falle einer Ablehnung ihres Begehrens im Anschluss zunächst verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.254 Entsprechend beantragten die Beschwerdeführer unmittelbar nach Inkrafttreten der Schulgesetzänderung im Juli 2006 bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport die Befreiung der Schülerin vom Ethikunterricht. Darüber hinaus beantragten sie beim Verwaltungsgericht Berlin, das Land mittels einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die Schülerin bis zur endgültigen Entscheidung vom Unterrichtsbesuch freizustellen. Ihr Gesuch blieb erfolglos.255 Auch das daraufhin angerufene Oberverwaltungsgericht BerlinBrandenburg lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Unterrichtsbefreiung ab.256 Deshalb wandten sich die Beschwerdeführer erneut an das Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe wurde nun, da der Rechtsweg über die Fachgerichte inzwischen erschöpft war, die Beschwerde bei diesem zweiten Anlauf zwar zugelassen, allerdings maßen die Verfassungsrichter den durch die Klage aufgeworfenen Fragen insofern keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, als sie durch die einschlägige fach- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bereits geklärt seien.257 In ihrem Beschluss vom 15. März 2007 erklärten sie (ganz auf der Linie der erwähnten bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidung aus dem Jahr 1998258), dem Landesgesetzgeber sei es unbenommen, religiös gebundenen ¢ auch unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehörenden ¢ und religiös nicht gebundenen Schülern eine gemeinsame Wertebasis in einem gemeinsamen Unterricht zu vermitteln und dort auch die Lehren jeweils anderer Religionen und Philosophien darzustellen.259
Weder der Wortlaut des Berliner Schulgesetzes noch der Rahmenlehrplan, so begründeten die Richter ihre Entscheidung, böten Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Unterrichtskonzeption »nicht religiös oder weltanschaulich 254 Vgl. BVerfG 1 BvR 1017/06, Beschluss vom 14. 7. 2006. Anwaltlich vertreten wurden die Beschwerdeführer u. a. von dem bereits erwähnten Gründer des ›Notbunds für den evangelischen Religionsunterricht‹ Reymar von Wedel (vgl. Fn. 214 oben). 255 Vgl. VG Berlin 3 A 391.06, Beschluss vom 21. 8. 2006. 256 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg 8 S 78.06, Beschluss vom 23. 11. 2006. 257 Verwiesen wurde etwa auf die in dieser Sache einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur ›Christlichen Gemeinschaftsschule‹ (vgl. dazu ausführlich die Diskussion in Kapitel 4.2 oben). Ferner wurde auf die Entscheidungen im ›Kruzifixstreit‹ (vgl. ebf. oben Kapitel 4) sowie zur Zulässigkeit des Sexualkundeunterrichts (BVerfG, 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, Beschluss vom 21. 12. 1977) verwiesen. 258 Vgl. BVerwG 6 C 11.97, Urteil vom 17. 6. 1998 sowie Fn. 252 und Fn. 253 oben. 259 BVerfG 1 BvR 2780/06, Beschluss vom 15. 3. 2007, 41.
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neutral wäre«.260 Die Verpflichtung zum Unterrichtsbesuch verstoße daher weder gegen die grundrechtlich geschützte Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit noch gegen das elterliche Erziehungsrecht und wirke auch nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise auf Schüler oder deren Eltern in dem Sinne ein, dass ihnen subjektiv oder objektiv nahe gelegt würde, vom Besuch des Religionsunterrichts Abstand zu nehmen.261
Die Möglichkeit, das Berliner Modell auf dem Weg über die Gerichte auszuhebeln, schien damit bis auf Weiteres verbaut. Doch die Vorkämpfer für die Aufwertung des Religionsunterrichts in der Hauptstadt gaben nicht auf. Fortan suchten sie, auf dem Weg über ein Volksbegehen bzw. einen Volksentscheid eine Änderung der Gesetzesgrundlage zum Religionsunterricht zu erreichen. Das Ziel stand ihnen klar vor Augen: »Freie Wahl!«262
6.2.2 Der Zwang zur Wahl. Der Berliner Volksentscheid über den Religionsunterricht In Reaktion auf die Schulgesetzänderung formierte sich im März 2007 die Bürgerinitiative ›Pro Reli e.V.‹.263 Unterstützung erhielt sie nicht nur von der Katholischen und Evangelischen Kirche und verschiedenen Mitgliedsverbänden der Kirchen, sondern unter anderem auch von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DI˙TI˙B),264 den Berliner Landesverbänden der CDU und der FDP und von zahlreichen Persönlichkeiten des Berliner öffentlichen Lebens.265 Mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben, mittels eines Volksentscheids die Einführung eines Wahlpflichtbereichs aus den Fächern Religion, Weltanschauung und 260 Ebd., 44. 261 Ebd., 31. 262 So der Slogan der Kampagne der Initiative ›Pro Reli‹ zum Volksbegehren/Volksentscheid; vgl. dazu Fn. 288 unten. 263 Federführend war der katholische Berliner Rechtsanwalt und Christdemokrat Christoph Lehmann (siehe etwa den Bericht in: taz, 26. 9. 2008); vgl. mit zahlreichen weiteren Informationen, auch auf die zurückliegende Kontroverse: http://www.pro-reli.de/volksentscheid/ [11. 7. 2011]. 264 Die DI˙TI˙B (Diyanet I˙¸sleri Türk I˙slam Birlig˘i) ist der für die Betreuung der im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger zuständige Ableger des DI˙B (Diyanet I˙¸sleri Bas¸kanlig˘i), des Staatlichen Amtes für Religionsangelegenheiten in der Türkei. Organisatorisch ist die DI˙TI˙B bei den türkischen Konsulaten angesiedelt und agiert ihrem Selbstverständnis nach als offizielle Repräsentanz der türkischen Muslime im Ausland; vgl. Seufert, TürkischIslamische Union. 265 Vgl. die Liste der Unterstützer/innen auf: http://www.pro-reli.de/volksentscheid/ ?page_id=91 [11. 7. 2011].
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Ethik zu erzwingen, versuchte die Initiative, den rot-roten Senat gewissermaßen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Denn es war die Koalition aus SPD und PDS, die in Berlin die rechtlichen Voraussetzungen für Volksbegehren bzw. Volksentscheide deutlich erleichtert und damit dem Ansinnen von ›Pro Reli‹ erst die basisdemokratischen Instrumente an die Hand gegeben hatte. Das vom rotroten Senat vereinfachte Verfahren ist dreistufig: Dem erfolgreichen Antrag auf ein Volksbegehren (Stufe 1) folgt die Durchführung desselben mit dem Ziel, mindestens 7 % der Wahlberechtigten für einen Volksentscheid über einen alternativen Gesetzentwurf zu gewinnen (Stufe 2), der dann in einer Frist von vier Monaten durchzuführen ist (Stufe 3).266 Die erste verfahrenstechnische Hürde konnte leicht überwunden werden: Bis Ende 2007 sammelte die Initiative ›Pro Reli‹ knapp 35.000 Unterschriften zugunsten eines Volksbegehrens und erhielt damit deutlich mehr Unterstützung, als rechtlich erforderlich gewesen wäre.267 Der Innensenator genehmigte daher Anfang 2008 die Durchführung eines Volksbegehrens, das im September 2008 mit einer großen Auftaktveranstaltung auf dem Westberliner Breitscheidplatz begann. Der alternative Gesetzentwurf, den die Initiatoren erarbeitet hatten, sah zunächst vor, die im März 2006 vom Abgeordnetenhaus durch die Änderung von § 12 Abs. 6 des Schulgesetzes beschlossene Einführung des verpflichtenden Ethikunterrichts rückgängig zu machen.268 Für § 13 des Schulgesetzes, der den Status des Religions- und Weltanschauungsunterrichts regelt,269 wurde folgende Neufassung vorgeschlagen: § 13 Religions- und Ethikunterricht (1) Religions- und Ethikunterricht sind an allen öffentlichen Schulen ordentliche Lehrfächer. Alle Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen nehmen entweder am Religions- oder am Ethikunterricht teil. Dabei soll zwischen den Fächern kooperiert werden. Einzelne Unterrichtseinheiten können gemeinsam durchgeführt werden. Religions- und Ethikunterricht werden in jeder Jahrgangsstufe der allgemeinbildenden Schulen mit zwei Wochenstunden erteilt. (2) Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Hierbei kommen nur solche Vereinigungen in Betracht, welche die Gewähr der Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Be266 Zu den Bedingungen eines Volksbegehrens/Volksentscheids vgl. Art. 62 und 63 der Verfassung von Berlin vom 23. 11. 1995, zuletzt geändert am 6. 7. 2006. Laut Art. 63 Abs. 4 wird das »Nähere zum Volksbegehren und zum Volksentscheid […] durch Gesetz geregelt«. Vgl. deshalb auch: Abgeordnetenhaus Berlin, Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Abstimmungsgesetz) vom 11. 6. 1997, zuletzt geändert am 20. 2. 2008, in dem das dreistufige Verfahren erläutert wird. 267 Erforderlich waren 20.000 Unterschriften; vgl. Berliner Zeitung, 9. 1. 2008. 268 Entsprechend heißt es in dem Gesetzentwurf: »1. § 12 Abs. 6 Satz 1, 7, 8 und 9 werden aufgehoben« (zit. nach: Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz/ Erzbistum Berlin, Einfach ein Fach?, 2008, 36); vgl. zum Inhalt von § 12 Abs. 6 die Ausführungen oben in Kapitel 6.2.1 sowie Fn. 238 dort. 269 Zur geltenden Fassung von § 13 vgl. ebf. oben Kapitel 6.2.1 sowie Fn. 240 dort.
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strebungen und Tätigkeiten auf die umfassende Pflege eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder durch dieses Bekenntnis verbunden sind. Lehrkräfte bedürfen zur Erteilung von Religionsunterricht der Bevollmächtigung der betreffenden Religionsgemeinschaften.270
Es folgten in Abs. 3 Bestimmungen hinsichtlich des Rechts der Erziehungsberechtigten, darüber zu entscheiden, an welchem Unterricht ihre Kinder teilnehmen, sowie die Festlegung, dass dieses Recht nach Vollendung des 14. Lebensjahres auf die Schülerinnen und Schüler selbst übergehe. Für den Fall, dass keine Entscheidung getroffen oder kein Religionsunterricht angeboten werde, sollte die betroffene Schülerin oder der betroffene Schüler am Ethikunterricht teilnehmen. In Abs. 4 wurde schließlich festgelegt: »Für Weltanschauungsgemeinschaften gelten Absatz 1 bis 3 entsprechend.«271 Ethik-, Religions- und Weltanschauungsunterricht sollten also nach den Vorstellungen der Aktivisten von ›Pro Reli‹ als gleichberechtigte ordentliche Fächer im Rahmen eines Wahlpflichtbereichs ins schulische Curriculum Einzug halten, und dies nicht nur in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 (auf die sich die geltende Regelung zum Ethikunterricht beschränkte), sondern in sämtlichen Klassenstufen, also bereits in der Grundschule und auch in der gymnasialen Oberstufe. Die Art. 7 Abs. 3 GG entnommene Formulierung im ersten Satz des zweiten Absatzes des alternativen Gesetzentwurfs (»in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften«) lässt erkennen, dass es den Initiatoren ein Anliegen war, den Rechtsstatus des Religionsunterrichts in Berlin demjenigen anzugleichen, den er (sieht man einmal von Bremen und dem strittigen Fall Brandenburg ab) im Rest der Bundesrepublik hat.272 Die im Anschluss genannten Kriterien für die Vereinigungen, die als Träger für den Religionsunterricht in Frage kommen, sind an die Formulierungen im geltenden Berliner Schulgesetz angelehnt.273 Auch das im dritten Absatz festgelegte Recht der Eltern, über die Teilnahme ihrer Kinder am Ethik- oder Religionsunterricht
270 Zit. nach: Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz/Erzbistum Berlin, Einfach ein Fach?, 36. 271 Ebd. 272 Vgl. Art. 7 Abs. 3 GG (Wortlaut im Anhang). Scharfe Kritik daran übte Bernhard Schlink in: FAZ, 16. 1. 2009. 273 Vgl. § 13 Abs. 1 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004; dazu Fn. 186 oben. Das Kriterium »Dauerhaftigkeit« entspricht zudem Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG (»Gewähr der Dauer«; vgl. Wortlaut im Anhang). Das Kriterium »Gewähr der Rechtstreue« verweist auf das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Antrag der Zeugen Jehovas auf Körperschaftsrechte im Land Berlin, nach dem »eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will« zwar »rechtstreu« zu sein hat, eine »darüber hinausgehende Loyalität zum Staat« vom Grundgesetz aber nicht verlangt werden darf (vgl. BVerfG 2 BvR 1500/97, Urteil vom 19. 12. 2000).
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zu bestimmen, das mit der Religionsmündigkeit auf die Schülerinnen und Schüler selbst übergeht, entspricht den geltenden Berliner Bestimmungen.274 Die Initiative ›Pro Reli‹ verstand es so gut, ihr Anliegen öffentlichkeitswirksam zu vertreten, dass ihre Aktivitäten von den Befürwortern des verpflichtenden Ethikunterrichts zunehmend alarmiert beobachtet wurden. Im Frühjahr 2008 sahen die Verteidiger der geltenden Berliner Rechtslage den Moment gekommen, eine Gegeninitiative – das ›Bündnis Pro Ethik‹ – ins Leben zu rufen, das mit öffentlichen Aufrufen und Argumentationshilfen für den gesetzlichen Status quo warb und dabei auch von innerkirchlichen Kritikern der Initiative ›Pro Reli‹ unterstützt wurde.275 Auch das Berliner Abgeordnetenhaus beschäftigte sich mit der Angelegenheit: Im Mai 2008 wurden zunächst im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie verschiedene Konfliktbeteiligte gehört, darunter auch Bruno Osuch als Berliner Vertreter des Humanistisches Verbandes, der die Warnung ausgab: Die Einführung von bekenntnisorientiertem Religionsunterricht als Wahlpflicht käme einer Förderung von Parallelgesellschaften gerade in den öffentlichen Schulen gleich. Wir brauchen stattdessen für den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft […] als Klammer die positiven Erfahrungen gemeinsamer Wertebildung, und das geht natürlich nur in einem obligatorischen Ethikunterricht für alle.276
Zwischen Verwunderung und Entrüstung schwankend klärte Osuch die Ausschussmitglieder darüber auf, dass die Schülerinnen und Schüler ausweislich des Rahmenlehrplans für den evangelischen Religionsunterricht in BerlinBrandenburg im Religionsunterricht unter anderem lernen sollten, »die Frage 274 Vgl. § 13 Abs. 4 im Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. 1. 2004. 275 Siehe die Homepage des Bündnisses: http://www.proethik.info/ [11. 7. 2011], dort auch die Liste der Unterstützer/innen, darunter die Berliner Alevitische Gemeinde, die Berliner Landesverbände der Grünen und der Partei Die Linke, die Landesverbände der Humanistischen Union und des HVD (vgl. dazu oben Kapitel 6.1, Fn. 170), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, aber auch die ›Initiative Christen Pro Ethik‹ u. a. (http:// www.proethik.info/start/über-uns/ [11. 7. 2011]). Vgl. auch den Bericht über die Gründung des Bündnisses in: Der Tagesspiegel, 21. 5. 2008, sowie kritisch zu den christlichen Unterstützern den Kommentar von Robert Leicht in: Der Tagesspiegel, 8. 12. 2008. Das ›Bündnis Pro Ethik‹ hatte einen Vorläufer : das ›FORUM Gemeinsames Wertefach für Berlin‹, das sich im Herbst 2005 zur Unterstützung der Senatspläne für die Einführung des verpflichtenden ›Werteunterrichts‹ gegründet hatte. Dem FORUM gehörten Politiker/innen von SPD, PDS/ Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen sowie Vertreter verschiedener Verbände unter der Schirmherrschaft des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Walter Momper an; vgl. Berliner Zeitung, 22. 10. 2005. 276 Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll BildJugFam 16/24 vom 22. 5. 2008, 9. Des Weiteren wurden von dem Ausschuss gehört: der Initiator von ›Pro Reli‹ Christoph Lehmann, Steffen-R. Schultz für die EKiBB, Gerhard Weil von der GEW Berlin und der Direktor des ›Instituts für vergleiche Ethik‹ der FU Berlin Michael Bongardt. Vgl. zu dieser Anhörung auch Kapitel 6.3 unten.
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nach Gott zu stellen«.277 Angesichts dieses ihm offenbar abwegig, ja geradezu grotesk erscheinenden Lernziels augenscheinlich konsterniert fuhr er fort: Es mag in Regionen, z. B. im Süden Deutschlands, noch üblich sein, dass man ein solches Lernziel in der öffentlichen Schule nicht besonders infrage stellt. Aber in einer aufgeklärten, liberalen und mehrheitlich säkular orientierten Stadt wie Berlin kann ein solches Lernziel doch nicht ernsthaft Teil des staatlichen Curriculums sein.278
Nur eine Woche später befasste sich in einer Aktuellen Stunde auch das Plenum des Abgeordnetenhauses mit dem schwelenden Konflikt. Unter dem Titel »Gemeinsames Lernen auch bei Grundwerten – erfolgreiches Berliner Modell fortführen« präsentierten Abgeordnete aller Fraktionen noch einmal ihre Argumente. Die bildungspolitische Sprecherin der SPD Felicitas Tesch wiederholte »gebetsmühlenartig«, wie sie selbst sagte, die rot-rote Koalition wolle »den Religionsunterricht nicht abschaffen. Wir wollen keinen Kulturkampf in der Stadt.«279 Die von ›Pro Reli‹ geforderte Wahlfreiheit zwischen Ethik- und Religionsunterricht bezeichnete sie als »Mogelpackung«,280 denn das Argument der Wahlfreiheit sei, so trug sie in Richtung der das Anliegen von ›Pro Reli‹ unterstützenden Fraktionen von FDP und CDU vor, ein Scheinargument, da hierbei der Ethikunterricht abgewählt werden kann. Das Verbindende des Fachs Ethik würde damit aufgegeben, indem Schülerinnen und Schüler entweder am Ethikunterricht oder an einem bekenntnisgebundenen Religionsoder Weltanschauungsunterricht teilnehmen müssen. Ich verstehe nicht, dass Sie da nicht offen sind und einsehen, dass das ein Ausgrenzen von Schülerinnen und Schülern ist.281
Unterstützung fand sie bei Steffen Zillich von der Linkspartei, der zwischen dem Religions- und dem Ethikunterricht folgenden grundlegenden Unterschied sah: »Es ist etwas grundsätzlich anderes, ob man gegenseitiges Verständnis einüben möchte oder ob man sich des eigenen Bekenntnisses vergewissern will.«282 Für die Fraktion der CDU sprach der Abgeordnete Sascha Steuer, der einen »massive[n] Rückgang von Erziehungskompetenz und positiver Wertevermittlung« beklagte und letztlich funktional argumentierte: »So ist das, was wir unseren Kindern vermitteln müssen: vorstaatlich. Werte, Verhalten, Tugenden – jenseits der staatlichen Möglichkeiten. Dafür brauchen wir die Religionen«.283 277 Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll BildJugFam 16/24 vom 22. 5. 2008, 8. 278 Ebd. Vgl. dazu den kritischen Kommentar von Klaus Mertes in: Der Tagesspiegel, 22. 6. 2008. 279 Vgl. Abgeordnetenhaus Berlin, Plenarprotokoll 16/30 vom 29. 5. 2008, 2703. 280 Ebd., 2714. 281 Ebd., 2703. 282 Ebd., 2708. Für den Ethikunterricht als allein verpflichtendes Fach sprach sich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch der Abgeordnete Özcan Mutlu aus (ebd., 2708 f). 283 Ebd., 2705.
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Dass gleichwohl nicht alle Religionen gleichermaßen qualifiziert seien, zur dringend benötigten ›vorstaatlichen‹ Wertevermittlung beizutragen, machte allerdings auch Steuer klar, der zu Bedenken gab, dass die Islamische Föderation »in der Berliner Schule ungestört und unkontrolliert ihren Islamunterricht unterrichten kann«, und auf die »eindeutige[n] Segregationstendenzen« verwies, die dieser Unterricht seines Erachtens befördere.284 Wie die Anhörungen im zuständigen Ausschuss des Abgeordnetenhauses und im Plenum zeigen, wurde der Ton, der den Initiatoren von ›Pro Reli‹ entgegenschlug, im Laufe des Jahres 2008 schärfer. Das tat dem Erfolg der Initiative jedoch zunächst keinen Abbruch. Vielmehr konnte ›Pro Reli‹ auch die zweite Hürde auf dem Weg zum Volksentscheid überwinden: Zwischen September 2008 und Januar 2009 unterzeichneten mehr als 265.000 Berlinerinnen und Berliner (10,9 % der Stimmberechtigten) das Volksbegehren für die Durchführung eines Volksentscheids über den alternativen Gesetzesvorschlag.285 Damit war es am Berliner Senat, einen Termin für den Volksentscheid festzulegen. Auch hierüber kam es zum Streit: Denn während die Initiatoren im Verein mit den Oppositionsparteien im Berliner Abgeordnetenhaus wegen der zu erwartenden höheren Wahlbeteiligung eine Abstimmung zusammen mit der anstehenden Europawahl im Juni 2009 favorisierten, entschied der rot-rote Senat, die Berlinerinnen und Berliner bereits am 26. April 2009 abstimmen zu lassen.286 Trotz dieser Widrigkeiten gelang den Aktivisten von ›Pro Reli‹ erneut eine beachtliche Mobilisierung. Nicht nur säumte im Frühjahr 2009 eine Serie von Plakaten der Initiative die Berliner Straßen,287 auch wurden alle Mitglieder der Evangelischen und Katholischen Kirche persönlich angeschrieben und um ihre Stimmabgabe zugunsten des alternativen Gesetzesvorschlags gebeten. Mit Günther Jauch, Tita von Hardenberg oder dem Fußballnationalspieler Arne Friedrich u. a. konnte die Initiative prominente Gesichter für ihr Anliegen präsentieren. Werbestrategisch klug wurde der bisherige Slogan »Pro Reli!« zugunsten des konsensfähigeren Slogans »Freie Wahl!« zurückgestellt und damit 284 Ebd., 2706. Dass der islamische Religionsunterricht effektiver kontrolliert werden könne, wenn Religion im Rahmen eines Wahlpflichtbereichs ein ›ordentliches Unterrichtsfach‹ werde, behauptete Mieke Senfleben von der FDP (ebd., 2710). 285 Zum amtlichen Endergebnis vgl.: Der Landesabstimmungsleiter Berlin, Pressemitteilung vom 4. 2. 2009. Damit konnte die erforderliche Zahl von knapp 171.000 Unterschriften (was 7 % der Berliner Stimmberechtigten entspricht) deutlich überschritten werden. 286 Begründet wurde diese Terminwahl, die wegen der erheblichen Zusatzkosten u. a. vom Bund der Steuerzahler umgehend heftig kritisiert wurde (vgl. Berliner Morgenpost, 18. 2. 2009), mit der im Gesetz vorgesehenen Frist von vier Monaten zwischen Volksbegehren und Volksentscheid; auf die ebenfalls gesetzlich eröffnete Möglichkeit der Fristverlängerung im Fall anstehender anderer Abstimmungen ließ sich der Senat nicht ein (vgl. Art. 62 Abs. 4 der Verfassung von Berlin vom 23. 11. 1995, zuletzt geändert am 6. 7. 2006). 287 Vgl. die verschiedenen Flyer und Plakate auf: http://www.pro-reli.de/volksentscheid/?page_id=299 [11. 7. 2011].
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ein Prinzip vereinnahmt, das im gesellschaftlichen Bewusstsein zuvor kaum mit religiösen – und noch weniger mit kirchlichen – Interessen in Verbindung gebracht worden war.288 »Es geht um die Freiheit«, so hieß es in großen Lettern auf einem Plakat der Initiative. Und um keine Unklarheit aufkommen zu lassen, wem gegenüber diese Freiheit zu verteidigen sei, war darunter zu lesen: »Keine Bevormundung durch den Staat«.289 Die Antwort der Gegenseite fiel zunächst etwas hilflos aus: Das ›Bündnis Pro Ethik‹ ließ Plakate und Flyer mit dem unbeholfenen und missverständlichen Slogan »Am 26.4. NEIN zum Wahlzwang!« drucken.290 Diese Formulierung musste, wie die Süddeutsche Zeitung am Wochenende der Abstimmung anmerkte, in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck erwecken, »hier habe jemand überhaupt etwas gegen Wahl und Freiheit, die ja begriffsnotwendig mit dem Zwang zur Entscheidung verbunden sind.«291 In den Wochen vor der Abstimmung entwickelte sich in Berlin ein regelrechter Wahlkampf, bei dem keine der Seiten vor Polemik zurückschreckte. So ließ das ›Bündnis Pro Ethik‹ einen kolorierten Cartoon plakatieren, auf dem die Initiative »Pro Kreat!« mit einer Schar missmutiger Gestalten für »Freie Wahl! … zwischen Biologie und Kreationismus!« wirbt.292 Zur werbestrategischen Zauberformel der Verteidiger des Status quo aber wurde die Wendung »Gemeinsam ist besser!«293 Wieder und wieder wurde die geltende Regelung verpflichtenden Ethikunterrichts und freiwilligen Religionsunterrichts als alternativloses bildungspolitisches Instrument zur Überwindung sozial- und religionskultureller Gräben präsentiert. Dabei kristallisierte sich ein wiederkehrendes, auch in der vorangegangenen Kontroverse schon präsentes Grundmotiv heraus, nach dem ›Religion‹ das sozial und kulturell ›Trennende‹ ist, ›Ethik‹ hingegen das ›Verbindende‹. Jürgen Zöllner, der im November 2006 von Klaus Böger den Posten des 288 Der Manager der ›Pro Reli‹-Kampagne Matthias Wambach erläuterte dazu, man habe »geprüft, welche Argumente am ehesten mehrheitsfähig seien. ›Kommt es zum Volksentscheid, brauchen wir auch die Stimmen von Leuten, die nichts mit Religion am Hut haben.‹ Das Thema Wahlfreiheit würde auch diese Menschen ansprechen, deshalb setzte die Kampagne darauf« (taz, 26. 9. 2008). Scharfe Kritik an der Kampagne äußerte der Berliner Staatsrechtler Bernhard Schlink; die Kampagne sei gekennzeichnet durch »Propaganda mit allen Verzerrungen, Entstellungen und Lügen« (FAZ, 16. 1. 2009). 289 Vgl. http://www.pro-reli.de/volksbegehren/wp-content/uploads/2009/01/proreli_plakate_ a4_freiheit. pdf [12. 7. 2011]. 290 Vgl. die verschiedenen Flyer und Plakate auf: http://www.proethik.info/archiv-volksentscheid/material-und-downloads/; hier : Pro-Ethik_Plakat2.jpg [11. 7. 2011]. 291 So Stephan Speicher in: SZ, 25. 4. 2009. 292 Vgl. http://www.proethik.info/archiv-volksentscheid/material-und-downloads/; hier : LF _2009_02_Plakat_Kreat.pdfLF_2009_02_Plakat_Kreat.pdf [11. 7. 2011]. 293 Zwischenzeitlich war das ›Bündnis Pro Ethik‹ sogar über die (inzwischen nicht mehr zugängliche) Homepage gemeinsam-ist-besser.de erreichbar.
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Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung übernommen hatte, verstieg sich sogar zu der Äußerung: Jeder, der dann [im Fall der Einführung einer Wahlpflicht zwischen Ethik und Religion durch einen erfolgreichen Volksentscheid, AR] nicht in den Ethikunterricht geht, ist aus meiner Sicht ein Verlorener für die staatliche Aufgabe der Integration.294
Nun hatte Zöllner bei dieser wenig zuversichtlichen Einschätzung vor allem muslimische Schülerinnen und Schüler vor Augen. An die Adresse der Kirchen ließ er zwar wissen, er sei sich sehr wohl bewusst, »dass unser Wertesystem von der christlichen Religion geprägt ist. Ich bejahe das, und ich stehe dazu«.295 Doch werde es, so Zöllner weiter, ohne ein Pflichtfach Ethik an den Schulen »keinen gemeinsamen Ort mehr geben, an dem Werte, die im Christentum und Humanismus wurzeln, anderen gezielt vermittelt« werden könnten.296 Die Behauptung, dass (nur) der Ethikunterricht integrationspolitisch positive Wirkungen zeitige, blieb nicht unwidersprochen. Im Tagesspiegel wurde bemängelt, hierfür gebe es keinen einzigen Beleg. Keine Zahlen, keine Statistiken, keine Studien, nichts. Es ist ein Glaubenssatz, der sich als solcher kaum von dem an die unbefleckte Empfängnis unterscheidet.297
Sollte also der Staat wirklich auf ein einziges Schulfach angewiesen sein, um seiner integrationspolitischen Verantwortung gerecht werden zu können? Auch ›Pro Reli‹ hielt dagegen. »Die Vermittlung von Werten ist Aufgabe der ganzen Schule« – so argumentierte die Initiative in der ›Amtliche[n] Information zum Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion‹, die Ende März 2009 allen wahlberechtigten Berlinerinnen und Berlinern zugestellt wurde.298 Sie dürfe sich »nicht auf ein einzelnes Schulfach beschränken. Werte wie Respekt und Toleranz müssen das gesamte Schulleben prägen.«299 ›Pro Reli‹ blieb auch in der amtlichen Informationsbroschüre dem Slogan ›Freie Wahl!‹ treu und betonte, es gehe »beim Volksentscheid am 26. April 2009 darum, einer Freiheit auch in Berlin zum Durchbruch zu verhelfen, die es von Rostock bis Rosenheim sonst überall gibt.«300 Und diese Freiheit, so hieß es, habe »gute Gründe«, denn: »Werte kann man nicht beweisen wie mathematische Gesetze oder lernen wie Vokabeln.«301 Jenen, die allein einem »Einheitsfach Ethik«302 294 295 296 297 298 299 300 301
Siehe das Zitat und den Bericht in: Der Tagesspiegel, 22. 2. 2009. Ebd. Ebd. So Malte Lehming in: Der Tagesspiegel, 6. 4. 2009. Der Landesabstimmungsleiter Berlin (Hg.), Amtliche Information, 9. Ebd. Ebd., 5. Ebd.
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Ethik- und Religionsunterricht in Berlin
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zutrauten, sozial- und religionskulturelle Integrationsleistungen zu erbringen, hielten die Initiatoren des Volksentscheids entgegen: »Freiheit schafft Gemeinsamkeit«.303 Keineswegs, so wurde die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Lala Süsskind zitiert, gehe es im Religionsunterricht um die Verteidigung von »Partikularinteressen«.304 Vielmehr müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass »Toleranz […] ihre Grundlage immer in eigenen Überzeugungen« habe.305 Auch der Berliner Senat und das Abgeordnetenhaus, die ebenfalls Gelegenheit hatten, in der amtlichen Broschüre ihre Argumente für das »gemeinsame Fach Ethik« vorzustellen, blieben ihrer bisherigen Strategie treu, den Ethikunterricht als Gemeinsamkeit stiftendes Fach zu präsentieren und den Religionsunterricht als Fach darzustellen, das sozial- und religionskulturelle Trennung fördert: »Über Werte muss man gemeinsam reden. Stimmen Sie daher gegen eine Trennung im Klassenzimmer«, so der Aufruf des Senats.306 Und das Abgeordnetenhaus forderte: »Gemeinsam statt getrennt.«307 »Auf das Verbindende kommt es an«, betonte der Senat: »Im werteorientierenden Fach suchen alle Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Herkunft und Überzeugung gemeinsam das Verbindende.«308 Auch vom »Wahlzwang«, den ein Wahlpflichtfach Ethik/Religion herbeiführen würde, ist in der Argumentation des Senats die Rede,309 und das Abgeordnetenhaus sekundierte, ein Wahlpflichtbereich würde die »Wahlfreiheit [der Schüler/innen, AR] einschränken und ein gemeinsames Lernen verhindern«.310 »Ethik ist ein Fach, das verbindet«, so erläuterte das Abgeordnetenhaus, und erklärte: »Gemeinsam zu leben lernt man am besten gemeinsam […] – nicht getrennt nach ethnischer, weltanschaulicher oder religiöser Herkunft.«311 Die Argumente der Streitparteien lagen also auf dem Tisch. Bis zum Abstimmungstag wurden sie vor allem in der Berliner Presse, aber auch bundesweit kontrovers diskutiert und variiert. Am 26. April 2009 war es soweit: Bei warmem Frühlingswetter machten sich knapp 30 % der Stimmberechtigten auf den Weg zu den Wahllokalen, die Mehrheit jedoch, um gegen den Gesetzesvorschlag der Initiative ›Pro Reli‹ zu stimmen: 51,4 % votierten gegen die Einführung eines Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion, nur 48,4 % (in absoluten Zahlen: 345.004 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311
Ebd., 9. Ebd., 7. Ebd., 10 f. Ebd., 9. Ebd., 19. Ebd. Ebd., 16 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., 15. Ebd., 21. Ebd., 20.
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Streitigkeiten um den Status von Religion im schulischen Unterricht
Berlinerinnen und Berliner, oder : 14,1 % der Stimmberechtigten) stimmten dafür. Damit war ›Pro Reli‹ gleich doppelt gescheitert: Denn für die Annahme des Volksentscheids hätten nicht nur die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Abstimmung, sondern zugleich mindestens 25 % der Stimmberechtigten zustimmen müssen.312 Die Verantwortlichen im Berliner Senat und im Abgeordnetenhaus reagierten erleichtert, jubelten aber nur verhalten, nicht zuletzt deshalb, weil die gesamte Kampagne und der Volksentscheid selbst zutage gebracht hatten, wie sehr die Hauptstadt in religionskulturellen Fragen gleichsam von einer unsichtbaren Mauer durchzogen ist: So lagen in den westlichen Stadtbezirken die Befürworter des Wahlpflichtmodells deutlich vorn, während im Ostteil der Stadt sowie in den ›Mischbezirken‹ Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte die Gegner dominierten.313 Noch am Abend der Abstimmung mahnten Vertreterinnen und Vertreter aller Streitparteien, die ideologischen Grabenkämpfe nunmehr zu beenden und Wege der Zusammenarbeit zu suchen.314 Konzilianz bestimmte fortan den Ton, und so kam der jahrelange öffentliche Streit in der Tat zur Ruhe. Die unterschiedlichen Standpunkte aber blieben erhalten, und die strittigen Grundsatzfragen, die der Berliner Konflikt um den Ethikunterricht – ebenso wie der Brandenburger Streit um das Fach LER – aufgeworfen hatte, blieben offen und schwelen bis heute weiter. Religion erwies sich auch in den Konflikten in Brandenburg und Berlin als ein »essentially contested concept«.315 Die definitionspolitische Arbeit am Konzept von Religion wurde allerdings oftmals eher mittelbar verrichtet: Denn im Medium des bildungs- und integrationspolitischen Streits darum, wie eine an Werten orientierte schulische Erziehung zu leisten sei, wurden stets auch konträre Vorstellungen davon verhandelt, was Religion denn eigentlich sei. ›Religion‹ wurde in den Auseinandersetzungen in Brandenburg und Berlin profiliert, indem sie ins Verhältnis gesetzt wurde zu ›Ethik‹ und ›Werten‹: Wie verhalten sich Religion und Ethik zueinander? Hat jede Religion (eigene) ethische Wertmaßstäbe? Erschöpfen sich Religionen in ihren Ethiken? Oder ist Religion mehr als Ethik? Und umgekehrt: Ist Ethik auf religiöse Bindungen angewiesen? Wie verhalten sich säkulare Ethiken zu religiösen Ethiken? Welche gesellschaftlichen Steuerungsleistungen erbringen Religionen? Was leisten demgegenüber religiös 312 Zum amtlichen Ergebnis siehe: Der Landesabstimmungsleiter Berlin, Bericht: Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion am 26. April 2009. Endgültiges Ergebnis. 313 Vgl. ebd.; ferner die Berichterstattung und detaillierte Aufschlüsselung der Wahlergebnisse nach Bezirken in: Der Tagesspiegel, 27. 4. 2009. 314 Vgl. ebd. 315 Vgl. dazu die Erörterungen oben in der Einleitung sowie Fn. 34 bis Fn. 37 dort.
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indifferente Ethiken? So wurde die Frage nach der Religion in den Konflikten um die Fächer LER in Brandenburg und Ethik in Berlin vor allem als Frage nach der Funktion der Religion, nach ihren gesellschaftlichen Leistungen gestellt. Dies soll abschließend mit Blick auf die beiden eng verwandten Konflikte in Brandenburg und Berlin noch einmal herausgearbeitet werden.
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Religion und Ethik. Grenzarbeiten im öffentlichen Raum
Die Einführung der Fächer ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde‹ in Brandenburg und ›Ethik‹ in Berlin hat weit über die betroffenen Regionen hinaus Grundsatzdebatten ausgelöst. Im Fokus dieser Debatten, die (wie nicht zuletzt die Leserbriefrubriken der einschlägigen Tages- und Wochenzeitungen dokumentieren) von einer breiten Öffentlichkeit verfolgt und mitgetragen wurden, standen allerdings weniger die beiden neuen Unterrichtsfächer. Vielmehr wurde vor allem um den Religionsunterricht gestritten, der nach Meinung etlicher Beobachter die eigentliche Zielscheibe der schulpolitischen Maßnahmen in Berlin und Brandenburg war. So sollte, wie Robert Leicht in der Zeit kommentierte, das von den Sozialdemokraten in der Hauptstadt geforderte »Her mit dem Werteunterricht« im Kern nichts anderes heißen als »weg mit dem Religionsunterricht.«316 Und auch in Brandenburg ging es, wie manch einer meinte, bei der Einführung des Fachs LER vor allem darum, »von jeder Form christlichen Religionsunterrichts loszukommen«.317 Was auch immer die Absichten der Initiatoren der strittigen Fächer gewesen sein mögen – weder in Berlin noch in Brandenburg wurde intensiv über pädagogische Intentionen, über Unterrichtsinhalte oder fachdidaktische Konzepte der neuen Fächer diskutiert. Gestritten wurde vielmehr um die gesellschaftliche Legitimation des Religionsunterrichts sowie des Ethik- oder LER-Unterrichts und um die diesen Fächern jeweils angemessene Rechtsform. Im Medium des Streits aber, welche Rechtsform der Religionsunterricht im Verhältnis zum Unterricht in den Fächern LER oder Ethik haben sollte, wurde die grundsätzliche Frage debattiert, was denn eigentlich ›Religion‹ sei, welcher Stellenwert im öffentlichen Leben ihr zukomme, welche gesellschaftliche Funktion (wenn überhaupt eine) sie habe und ob diese durch eine in religiöser bzw. allgemein weltanschaulicher Hinsicht neutrale ›Ethik‹ angemessen oder gar gewinnbringend zu ersetzen sei. Nun fanden diese Grundsatzdebatten, wie wir gesehen haben, nicht in einem rechtlichen Vakuum statt. Ihre argumentativen Strukturen waren vielmehr eingebettet in die gegebenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Reli316 Die Zeit, 14. 4. 2005. 317 So der Tübinger Theologe Karl Ernst Nipkow in: FAZ, 24. 2. 1996.
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gionsunterricht – dem einzigen Fach, das (durch Art. 7 Abs. 3 GG) grundrechtlich geschützt ist, ja dem einzigen Fach, das im Grundgesetz überhaupt Erwähnung findet. Zwar gilt dieser besondere Schutz des Religionsunterrichts aus den oben genannten Gründen in Berlin nicht und in Brandenburg zumindest nicht unstrittig.318 Dennoch definierten die Streitparteien in beiden Auseinandersetzungen ihre Positionen im Konfliktfeld stets mit Bezug auf die Bestimmungen des Art. 7 Abs. 3 GG, nach denen der Religionsunterricht »in den öffentlichen Schulen […] ordentliches Lehrfach« ist und »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt« wird. Und so bildeten die aus dem Weimarer Verfassungswerk in das Grundgesetz übernommenen Regelungen den Horizont der Streitigkeiten auch in den rechtlichen Enklaven Brandenburg und Berlin. In den öffentlichen Kontroversen kristallisierten sich nun drei verschiedene Muster heraus, um den Status des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in der öffentlichen Schule argumentativ zu untermauern und zu legitimieren – oder eben, wie wir sehen werden, zu untergraben und zu delegitimieren. Jedes dieser Muster operiert mit bestimmten Vorstellungen von Religion. Das erste Argumentationsmuster ist gewissermaßen ›traditionell‹ aufgebaut: Danach soll und muss es Religionsunterricht geben, weil Religion eine – oder die zentrale – ›Werteagentur‹ der Gesellschaft ist. Religion wird also hier von ihrer sozialmoralischen Funktion her bestimmt und der Religionsunterricht entsprechend durch die Leistung gerechtfertigt, die man von der Religion erwartet und auch fordert: Sie soll die Gesellschaft ethisch-moralisch integrieren. Religion und Ethik sind also in dieser Perspektive funktional äquivalent; der Religionsunterricht wird gleichsam zivilreligiös ›verzweckt‹. So argumentierten etwa die katholischen deutschen Bischöfe (unter Berufung auf namentlich nicht genannte, allerdings »viele Soziologen und Philosophen«) in ihrer Schrift zum Religionsunterricht aus dem Jahr 1996: Auch der moderne Staat kann auf einen Grundkonsens nicht verzichten. Von einem argumentativen Diskurs allein kann dieser Grundkonsens nicht erbracht werden; er muß von ihm schon vorausgesetzt werden. Aus diesem Grund verweisen viele Soziologen und Philosophen auf die Rolle der Religion in einer pluralistischen Gesellschaft. Sie sehen in der Religion die letztgültige Kraft, die die Gesellschaft integrieren und dem Individuum Identität gewähren kann. Allein Religion könne zwanglos den fundamentalen Wertekonsens garantieren, auf den auch eine pluralistische Gesellschaft angewiesen sei. Grundwerte und öffentliche Moral können und dürfen nicht vom Staat selber legitimiert werden. […] So ist gerade der moderne Staat auf Religion ange-
318 Vgl. Art. 141 GG (Wortlaut im Anhang) sowie die Ausführungen oben in Kapitel 6.1 und 6.2.
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wiesen. Religion entzieht – nach Meinung der Soziologen ¢ die Grundüberzeugungen des Gemeinwesens der öffentlichen Diskussion und sanktioniert sie dadurch.319
Nun wohnt der kirchlichen Position allerdings eine gewisse Paradoxie inne: Denn im Brandenburger ebenso wie im Berliner Streit behaupteten die Kirchen und mit ihnen die Sympathisanten eines verbindlichen Unterrichts im Fach Religion unermüdlich, der Religionsunterricht erbringe seine integrative Leistung für alle gerade durch seine konfessionelle Standortgebundenheit: Statt alle partikularen Wertbindungen in einer weltanschaulichen »Einheitssoße« zu ertränken,320 gehe es im Religionsunterricht darum, »eigene Standpunkte zu erarbeiten«,321 so jedenfalls erläuterte es der Präsident des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Ulrich Seelemann im März 2006 den Mitgliedern des mit dem Konflikt um den Ethikunterricht befassten Ausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses. Denn, so Seelemann: »Die Dialogfähigkeit setzt in erster Linie einen eigenen Standpunkt voraus«.322 Ähnlich hatte zehn Jahre zuvor Wolfgang Schäuble in der ungewöhnlichen Bundestagsdebatte zur Einführung von LER in Brandenburg argumentiert. Den Münchner Philosophen Robert Spaemann zitierend, hatte Schäuble den Bundestagsabgeordneten erklärt: »Eine Überzeugung als solche macht nicht intolerant. Im Gegenteil: Toleranz steht auf schwachen Füßen, wenn ihr nicht auch eine Überzeugung zugrunde liegt.«323 Zu beachten ist nun, dass dieses erste Argumentationsmuster, das auf einer funktionalen Bestimmung der Religion aufruht und den Religionsunterricht letztlich zivilreligiös legitimiert, nicht nur in Dienst genommen wurde, um ›ordentlichen‹ Religionsunterricht zu rechtfertigen, so wie er in Art. 7 Abs. 3 GG vorgesehen ist. Vielmehr bediente sich auch die Gegenseite dieser Argumenta319 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Kraft des Religionsunterrichts, 22 f [Hervorhebung im Original]. Dieses erste Argumentationsmuster kann mit der herkömmlichen Lesart des sogenannten ›Böckenförde-Diktums‹ korrelieren; vgl. dazu die Erörterungen im Schlussteil der vorliegenden Arbeit. 320 So die CDU-Abgeordnete Katrin Schultze-Berndt bei einer Anhörung im zuständigen Ausschuss für Jugend, Familie, Schule und Sport des Berliner Abgeordnetenhauses 2006: Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll JugFamSchulSport 15/72 vom 2. 3. 2006, 20. 321 Ebd., 27. 322 Ebd. Diese Position findet sich nicht nur in den tagesaktuellen Äußerungen kirchlicher oder kirchennaher Akteure, sondern kommt auch in den Grundsatzpapieren beider Kirchen zum Religionsunterricht zum Ausdruck: vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Kraft des Religionsunterrichts; sowie: EKD, Identität und Verständigung. Dazu: Jödicke, Verhältnis, der feststellt, dass diese Paradoxie bei der Katholischen Kirche, die deutlicher an der Konfessionalität des Religionsunterrichts festhält, noch ausgeprägter ist als bei der Evangelischen Kirche. 323 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996, 8543. Das Zitat geht auf eine Äußerung Spaemanns im Gespräch mit dem Magazin Focus hervor; der inhaltliche Zusammenhang war jedoch ein anderer (Focus 47/1995, 20. 11. 1995).
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tionsfigur, kehrte sie allerdings um: So hat nach Auffassung der konsequenten Befürworterinnen und Befürworter von LER- oder Ethikunterricht der von den Kirchen verantwortete Religionsunterricht seine Legitimation gerade deshalb verloren, weil die christlichen Kirchen ihre Funktion als verlässliche Produzenten sozial integrativer Ethik angesichts des gerade in Brandenburg und Berlin unübersehbaren Säkularisierungstrends (der vor allem in Berlin von einer Tendenz zur Pluralisierung des religionskulturellen Feldes flankiert wird) eingebüßt haben. Unter den gewandelten Bedingungen, so wurde argumentiert, mag zwar die Religion – oder besser : mögen zwar die verschiedenen Religionen – weiterhin Werte und Ethiken des gesellschaftlichen Miteinander generieren, doch bleiben diese Werte und diese Ethiken zwingend partikular. Statt die Gesellschaft als ganze sozialmoralisch zu integrieren, so ein Argument, das in den Debatten um die Fächer LER und Ethik immer wieder begegnete, induzieren und fördern Religionen die Bildung von »Parallelgesellschaften« und spielen zunehmend eine »lernbehindernde Rolle«.324 In dieser Perspektive erscheinen religiöse Wertbindungen im besten Fall als für die gesamtgesellschaftliche Integration nutzlos, eher jedoch erscheinen sie als gefährlich. Religionsunterricht hat in dieser Argumentationsfigur dann allenfalls noch als unverbindliches zusätzliches Angebot einen Platz in der Schule, kann aber keinesfalls einen verbindlichen Unterricht ersetzen, in dem universalisierbare Werte und Ethiken vermittelt werden – im Gegenteil. Das Verhältnis zwischen Religion und Ethik hat sich damit umgekehrt: Nicht Religion liefert Ethik, sondern Ethik substituiert Religion bzw. transformiert partikulare religiöse Bindungen in sozial integrative oder doch zumindest verträgliche Werthaltungen und Lebensformen. Der Ethikunterricht wird so, wie es der Berliner evangelische Theologe Rolf Schieder polemisch formuliert hat, zu einem »staatseigenen Zivilreligionsunterricht«.325 Als die Brandenburger Auseinandersetzung um die Einführung des Fachs LER im Frühjahr 1996 auf ihren Zenit zusteuerte, diskreditierte kein Geringerer als Hermann Lübbe, der im deutschen Sprachraum wohl bekannteste Theoretiker der ›Zivilreligion‹,326 die dahinter liegende Konzeption schulischer Wer324 So der Vertreter des Humanistischen Verbandes Wilfried Seiring bei der Anhörung im Ausschuss für Jugend, Familie, Schule und Sport des Berliner Abgeordnetenhauses; vgl. Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll JugFamSchulSport 15/72 vom 2. 3. 2006, hier 11 und 10. Ähnlich äußerte sich in Vertretung des HVD zwei Jahre später vor dem zuständigen Ausschuss Bruno Osuch, der davor warnte, die Einführung eines Wahlpflichtfachs Religion »käme einer Förderung von Parallelgesellschaften […] gleich« und mehre die »Gefahr, dass unsere Gesellschaft weiter zerfällt« (Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll BildJugFam 16/24 vom 22. 5. 2008, hier 9; vgl. auch oben Kapitel 6.2, Fn. 276). 325 Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 382. 326 Zivilreligion ist für Lübbe nach der bekannten Formulierung das »Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur, die in das politische System faktisch oder gar förmlich-insti-
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tevermittlung in scharfen Worten als »Aufklärungsrelikt«: »Ethik«, so Lübbe, werde von den Protagonisten des LER-Unterrichts »als säkularisiertes Religionsäquivalent« aufgefasst. Und weiter : Doch es ist schlechterdings nicht erkennbar, wie es für einen Religionsunterricht, der zum Beispiel Schüler mit der Schöpfungslehre bekannt macht, in irgendeiner ethikunterrichtlichen Vermittlung von ›Werten und Normen‹ einen gleichwertigen Ersatz geben könnte. Auch der Sinn des Fronleichnamsfestes lässt sich in moralische Regeln ersichtlich nicht transformieren. […] Dennoch glaubt man in Deutschland, Religionsunterricht und Ethik und damit Religion einerseits und Moral andererseits als austauschbare Gegenwerte behandeln zu können. Das ist, bei einiger Vertrautheit mit den Erscheinungsformen religiöser Kultur, derart befremdlich, daß man nach einer Erklärung verlangt. Die Erklärung, so scheint mir, lautet: Die Unterstellung, Moral lasse sich als ein in säkularisierter Kultur verfügbarer Ersatz für Religion auffassen, ist ein Aufklärungsrelikt. […] Die Reduktion der Religion auf die Funktion, uns zur Moralität anzuleiten, entfernt aus der Religion genau jene Elemente, die sich religionsund näherhin kirchen- und konfessionsgeschichtlich bis hin zur Gefährdung des bürgerlichen Friedens als streitmächtig erwiesen haben. Ethik ist eine Ersatzreligion, die keinen Anstoß mehr erregt und dem Staat schon immer gefallen hat.327
Die schonungslose Kritik Lübbes am Unterrichtsmodell LER verweist nun auf eine zweite Argumentationsfigur, die in den Berliner und Brandenburger Streitigkeiten hervortrat. Wird Religion in dem ersten Argumentationsmuster – das, wie gezeigt wurde, die gegnerischen Positionen im Berliner und Brandenburger Streit gleichermaßen grundierte – konsequent von ihrer Funktion her bestimmt, so zeichnet sich das zweite Argumentationsmuster dadurch aus, dass es Religion nicht funktional engführt, sondern das Freiheitsrecht der Religion aus dem integrationspolitisch unverzweckbaren Eigensinn des Religiösen und aus der elementaren Bedeutung der Religion für den Menschen herleitet. Religion ist danach gewissermaßen eine fundamentale menschliche Möglichkeit; sie zu entwickeln – oder auch: sie in freier Entscheidung nicht zu entwickeln – gehört deshalb zu den Grundrechten, die der freiheitliche Staat zu garantieren tutionell […] integriert sind, die somit auch den Religionsgemeinschaften nicht als ihre eigene interne Angelegenheit überlassen sind, die unbeschadet gewährleisteter Freiheit der Religion die Bürger unabhängig von ihren konventionellen Zugehörigkeitsverhältnissen auch in ihrer religiösen Existenz an das Gemeinwesen binden und dieses Gemeinwesen selbst in seinen Institutionen und Repräsentanten als in letzter Instanz religiös legitimieren, das heißt auch im religiösen Lebensvollzug anerkennungsfähig darstellen« (Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 321). Vgl. außerdem jüngeren Datums: ders., Zivilreligion. Deutsche Vorbehalte; ders., Staat und Zivilreligion. Siehe auch Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?; zur Ambivalenz der »zivilreligiösen Rolle des Religionsunterrichts« in Deutschland: ders., Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 374 – 376; ders., Zivilisierung, 41 – 44 sowie 53. 327 Rheinischer Merkur, 29. 3. 1996. Der Text erschien am Tag, nachdem der Brandenburgische Landtag die gesetzliche Einführung von LER als ›ordentliches Lehrfach‹ beschlossen hatte; vgl. die Ausführungen oben in Kapitel 6.1.
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hat. In der Debatte verband sich diese Argumentationsfigur vielfach mit der ersten Variante des sowohl im Brandenburger als auch im Berliner Streit dominanten ersten Argumentationsmusters: Denn auch diejenigen, die mit Verweis auf die sozialmoralischen Integrationsleistungen der Religion für eine verbindliche Rechtsform des Religionsunterrichts warben, bestimmten Religion oftmals durchaus nicht einseitig funktional, sondern verwiesen auf den ›Mehrwert‹ der Religion gegenüber Ethik und Moral: »Religion«, so hielt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner im Sommer 1994, in der ›heißen‹ Phase des Brandenburger Streits um das Verhältnis der Fächer Religion und LER, verfassten Denkschrift zum Religionsunterricht fest, »ist eine unverwechselbare Dimension des Lebens, die nicht mit Moral oder Philosophie gleichzusetzen ist.«328 Vorsichtiger formulierte es der Initiator der Berliner Kampagne ›Pro Reli‹ Christoph Lehmann, der bei einer Anhörung vor dem Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses etwas unschlüssig erklärt hatte, »dass es einen leicht unterschiedlichen Inhalt zwischen Ethik und Religion gibt, das sind keine identischen Dinge«.329 Entschiedener drückte es die Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan aus, die sich im Dezember 2008, inmitten der Berliner Kontroverse um den Ethikunterricht, in der Berliner Zeitung zu Wort meldete, um zu erklären, Religion sei »mehr als Ethik.«330 Ähnlich hatte bereits im Juni 2001 im Brandenburger Streit auch der Berliner Erzbischof Georg Sterzinsky argumentiert, der sich bei der Anhörung der Konfliktbeteiligten vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen sträubte, Religion »auf Moral und Ethik« zu reduzieren.331 Auch der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Manfred Kock hatte sich bei derselben Gelegenheit dagegen gewehrt, Religion gleichsam ethisch ›abzuschöpfen‹ und auf diese Weise zivilreligiös zu verkürzen.332 Die Evangelische Kirche verwies nach328 EKD, Identität und Verständigung, 30. 329 Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll BildJugFam 16/24, 22. 5. 2008, 2. Lehmann formulierte offenbar so behutsam, weil er sich bewusst war, dass sich für einen Wahlpflichtbereich Religion/Ethik (und also für eine Nebenordnung der beiden Fächer) nur schlüssig argumentieren ließ, wenn eine gewisse Äquivalenz von Religion und Ethik angenommen werden konnte. Die Behauptung einer fundamentalen Verschiedenheit von Religion und Ethik hätte hingegen den Gegnern der Fächergruppe zugespielt. Vertreten wurde sie an selber Stelle von Michael Bongardt, dem Direktor des für die Ausbildung der Ethik-Lehrkräfte zuständigen ›Instituts für vergleichende Ethik‹ an der FU Berlin, der den Ausschussmitgliedern erläuterte, der Ethikunterricht habe eine »grundsätzlich andere Aufgabe« als der Religionsunterricht, weil er zu einer »Sprachfähigkeit über Grenzen hinweg« befähige, während der Religionsunterricht lediglich »das Sprechen in einer bestimmten Form und Tradition« lehre (ebd., 10 f). 330 Berliner Zeitung, 13. 12. 2008. 331 Siehe den Abdruck der Stellungnahme in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 15 – 17, hier 16. 332 Die Stellungnahme Kocks findet sich in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 7 f, hier 7.
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drücklich auf die »›überschießende‹ Dynamik« des Religionsunterrichts und die daraus resultierende »bleibende produktive Differenz des Religionsunterrichts zu den Fächern Ethik und Philosophie«;333 und auch die Katholische Kirche sprach von der »grundlegende[n] Differenz beider Fächer«.334 Kennzeichnend für dieses zweite Argumentationsmuster ist also die Weigerung, das Religiöse vollends zivilreligiös aufzulösen und entsprechend staatsnützlich zu ›verzwecken‹.335 In diesem Sinne warnte beispielsweise Rolf Schieder vor einer »Banalisierung des Religiösen« durch eine religiös-theologische »Verdopplung des gesamtgesellschaftlichen Universalkonsenses«.336 Doch auch an dem ›Mehr‹ der Religion gegenüber der Ethik,337 das in diesem Argumentationsmuster behauptet wird, schieden sich in der Debatte die religionspolitischen Geister : Die Unberechenbarkeit, die sich mit der (über die Vermittlung sozial nützlicher Werte hinausgehenden) »›überschießende[n]‹ Dynamik« des Religionsunterrichts verbindet, irritierte die religiös ›Unmusikalischen‹ und ließ sie nach einem staatlich verantworteten Ethikunterricht rufen, um die religiösen Bindungskräfte zu kanalisieren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das Statement des Vertreters des Humanistischen Verbandes bei der Anhörung vor dem Bildungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses im Streit um den Ethikunterricht im Mai 2008. Verständnislos zitierte Bruno Osuch aus dem Rahmenplan für den evangelischen Religionsunterricht: Das dort angegebene Lernziel, die Schüler sollten lernen, »die Frage nach Gott zu stellen«, erschien ihm derartig hinterwäldlerisch, dass es nach seinen Vorstellungen allenfalls noch »im Süden Deutschlands« unhinterfragt üblich sein könne, nicht aber »in einer aufgeklärten, liberalen und mehrheitlich
333 So in der Denkschrift zum Religionsunterricht der EKD, Identität und Verständigung, 36 bzw. 79. 334 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Kraft des Religionsunterrichts, 74. 335 Das Motiv der »staatsnützlichen Verzweckung« der Religion stammt von Robert Leicht (Der Tagesspiegel, 8. 12. 2008). 336 Schieder, Zivilisierung, 36. Dass Religionen »mehr als bloße Systeme von Werten« sind und vielmehr als »Versuche zur Auslegung menschlicher Erfahrungen« verstanden werden sollten, die sich von säkularen Deutungsversuchen dadurch unterscheiden, dass sie »in den Erfahrungen der Selbsttranszendenz […] die Chance zur Begegnung mit der Transzendenz unterstellen«, ist auch die Grundthese von Hans Joas (Werte und Religion, hier 340 und 341). Es liegt in der Konsequenz dieser Annahme, dass »der intentionalen Wertevermittlung enge Grenzen gezogen« sind. Denn, so Joas: »Werte entstehen aus Erfahrungen – und das Bildungswesen kann deshalb nur dann und nur auf die Weise Werte vermitteln, wie es wertkonstitutive Erfahrungen vermittelt oder bei der Artikulation solcher Erfahrungen hilfreich ist« (siehe mit direktem Bezug zur Frage der Einrichtung eines separaten Schulfachs ›Werte‹: Joas, Wertevermittlung, 75 f). Ausgeführt werden diese Annahmen in: ders., Braucht der Menschen Religion?; ders., Die Entstehung der Werte. 337 Schieder, Kontroversen um das religiöse Gedächtnis, 382.
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säkular orientierten Stadt wie Berlin«.338 »Eine bezeichnende Verwunderung!«, kommentierte der Rektor des Berliner Jesuitengymnasiums Canisiuskolleg Klaus Mertes im Berliner Tagesspiegel: »Ignoranz gegenüber der ›Frage nach Gott‹ gilt als kulturelle Errungenschaft, sie wird emphatisch vorausgesetzt.«339 Und doch, so fuhr Mertes fort, kritisch in Richtung jener, die den Religionsunterricht in erster Linie von seiner sozialmoralischen Integrationsleistung her zu legitimieren suchen, habe Osuch mit seiner Verständnislosigkeit auf den Kern der Sache verwiesen. Denn er habe das ›Mehr‹ der Religion gegenüber Ethik – und damit den ›Mehrwert‹ des Religionsunterrichts gegenüber dem Ethikunterricht – freigelegt. Mertes schrieb: Dem Sprecher des zitierten Satzes gebührt das Verdienst, dass er die ›Frage nach Gott‹ in die Mitte der Debatte gestellt hat. Beim Religionsunterricht geht es in der Tat um die Frage nach Gott, um mehr als um folkloristische Traditionspflege – und mehr als bloße Wertevermittlung. Das sollten sich auch diejenigen sagen lassen, die die Relevanz des Religionsunterrichts vornehmlich mit Hinweis auf dessen Werteorientierung begründen. Die Gottesfrage lässt sich nicht reduzieren auf die Begründung von Werten. Religionsunterricht beansprucht deshalb auch nicht, der bessere Werteunterricht zu sein. […] Vielmehr liegt die Besonderheit von Religionsunterricht darin, dass er den Schülerinnen und Schülern die Frage nach Gott zu bedenken gibt.340
Neben dem ersten Argumentationsmuster (in dem Religion in erster Linie funktional bestimmt und ihr Rechtsstatus entsprechend von ihren gemeinnützigen Leistungen abhängig gemacht wird) und der zweiten Argumentationsfigur (die den über zivilreligiöse Ethik hinausweisenden Eigensinn der Religion in den Mittelpunkt rückt) scheint in den Debatten in Berlin und Brandenburg aber noch ein drittes Argumentationsmuster auf. Dieses kreist um ein Motiv, das auch im Konflikt um die Schulkreuze in Bayern schon eine tragende Rolle spielte und in diesem Zusammenhang bereits ausführlich diskutiert wurde: Religion (und insbesondere das Christentum) als bedeutender ›Kultur- und Bildungsfaktor‹.341 In den Streitigkeiten um LER in Brandenburg und um den Ethikunterricht in Berlin trat dieses Argumentationsmuster allerdings kaum eigenständig auf. Es verband sich vielmehr mit den beiden bereits genannten Mustern und konnte sowohl herangezogen werden, um die religionskundlichen Unterrichtsanteile in den Fächern LER und Ethik zu rechtfertigen, als auch, um den an ein Bekenntnis gebundenen Religionsunterricht zu legitimieren. So liest man beispielsweise in 338 Abgeordnetenhaus Berlin, Wortprotokoll BildJugFam 16/24 vom 22. 5. 2008, hier 8; vgl. auch oben in Kapitel 6.2, Fn. 277 und Fn. 278. 339 Der Tagesspiegel, 22. 6. 2008. 340 Ebd. 341 Vgl. die Ausführungen oben in Kapitel 4.2. Die Formel von Religion als ›Kultur- und Bildungsfaktor‹ stammt, wie dort ausführlich dargestellt, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Christlichen Gemeinschaftsschule im Jahr 1975.
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Grenzarbeiten im öffentlichen Raum
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den Analysen und Empfehlungen, die der Wissenschaftliche Beirat für das Fach LER 2001 vorlegte, dass die Religionen ein »Welterbe« seien und die biblischen Erzählungen »in den Kanon jeder europäischen Erziehung« gehörten, da sie »in kaum zu überschätzendem Maße europäischen Geist und europäische Kultur prägten«.342 Am deutlichsten wurde dieses Motiv aber seitens der Evangelischen Kirche zugunsten eines eigenständigen und kirchlich verantworteten Religionsunterrichts benutzt. So erklärte Richard Schröder den christlichen Religionsunterricht zum »Muttersprachenunterricht in der christlichen Tradition«.343 Ebenso wies Wolfgang Huber unermüdlich darauf hin, das Christentum sei »ein eigenständiger Beitrag unseres Lebens und unserer Kultur«344 und der Religionsunterricht entsprechend integraler Bestandteil des allgemeinen Bildungsauftrags der Schule.345 Und auch für die Argumentation des evangelischen Staatsrechtlers Martin Heckel ist das Motiv vom Christentum als allgemeinem ›Kultur- und Bildungsfaktor‹ tragend; für ihn ist der Religionsunterricht entsprechend »Kulturpflege« und ihn zu ermöglichen eine zentrale »Kulturstaatsaufgabe«.346 Nach dieser Vorstellung ist der von den Religionsgemeinschaften selbst verantwortete Religionsunterricht gesellschaftlich unverzichtbar, weil er, wie es in der Süddeutschen Zeitung hieß, »das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft« schult.347 Wie das erste und das zweite, so wurde also auch das dritte Argumentationsmuster auf beiden Seiten des Konflikts eingesetzt. Dass alle drei Argumentationsfiguren, die in den Konflikten in Brandenburg und Berlin profiliert werden konnten, für konkurrierende religionspolitische Absichten und konträre religionsverfassungsrechtliche Auffassungen mobilisiert werden konnten, zeigt einmal mehr, wie umstritten das Konzept ›Religion‹ ist. Wir haben es, wie in der Einleitung skizziert, mit einem gesellschaftlich »essentially contested concept« zu tun.348 Im Streit um die Frage, was Religion ist und was sie gesellschaftlich leistet, wurden auch in den Auseinandersetzungen um den LER- bzw. den Ethikunterricht in Brandenburg und Berlin die Grenzen des religiösen Feldes profiliert. Dies geschah in einem religionskulturell und -politisch vielfach agonalen Klima. 342 Edelstein u. a. (Hg.), Lebensgestaltung, 111, 114 f. 343 Die Äußerung ist seinem Votum bei der Anhörung zum Thema LER im Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport des brandenburgischen Landtags im September 1995 entnommen; zitiert nach: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, Religionsunterricht und LER, 85 – 87, hier 86. 344 So Huber anlässlich der Karlsruher Anhörung im LER-Streit im Juni 2001; siehe den Abdruck der Stellungnahme in: epd-Dokumentation 29/2001, 9. 7. 2001, 9 – 11, hier 9. 345 So nachdrücklich in: Huber, Melanchthon. 346 Vgl. Heckel, Verfassungsmäßigkeit, 65; vgl. auch oben in Kapitel 6.1, Fn. 147 und Fn. 149. 347 SZ, 14. 4. 2005. 348 Vgl. dazu die Erörterungen oben in der Einleitung.
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Die kontroversen Stellungnahmen zur Streitsache müssen deshalb stets in den Erfahrungshorizont ihrer Protagonisten und in den Kontext ihrer allgemeinen Interessenlagen eingerückt werden. Auch deshalb gelang es in Brandenburg und Berlin ebenso wenig wie in den Konflikten um das Kruzifix und das Kopftuch, in den strittigen Fragen durch den ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹ (Jürgen Habermas) einen Konsens in der Sache zu erzielen: Keiner der Konflikte wurde in diesem Sinne ›gelöst‹; vielmehr blieben die inhaltlichen Differenzen stets bestehen. In sämtlichen Streitfällen musste eine dritte Instanz eingeschaltet werden, um wenn nicht zu einer Lösung, so zumindest zu einer Entscheidung der Konflikte zu kommen: Im Kruzifix- und Kopftuchstreit geschah dies durch Schiedssprüche aus Karlsruhe, die jedoch so strittig waren, dass sie die Konflikte nicht beizulegen vermochten, sondern zu neuen Streitigkeiten Anlass gaben. Im festgefahrenen Brandenburger Streit gelang es dem Bundesverfassungsgericht demgegenüber, einen Kompromiss zu vermitteln, der beiden Konfliktparteien Zugeständnisse abverlangte; zustimmungsfähig war dieser Kompromiss allerdings vor allem deshalb, weil er die strittigen Sachfragen offen hielt. Um in der nicht minder stockenden Berliner Auseinandersetzung eine Entscheidung herbeizuführen, wurde schließlich der Souverän – das ›Volk‹ – eingeschaltet, dessen Stimme sich zu guter Letzt eine der beiden Seiten fügen musste. In der zentralen Frage, wie die schulische Erziehung dazu beitragen kann, eine Gesellschaft sozialmoralisch zu integrieren, die religionskulturell zunehmend heterogen und zugleich weitreichend säkularisiert ist, konnte jedoch auch im Berliner Fall Einigkeit nicht hergestellt werden. So schweben die jeweiligen Grundkonflikte in sämtlichen untersuchten Fällen weiter.
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Zwischenfazit
Streit ums Kruzifix in bayerischen Schulen, Streit um die Kopfbedeckung einer Lehrerin in Baden-Württemberg, Streit um die Einführung von ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde)‹ in Brandenburg und ›Ethik‹ in Berlin: Drei bzw. vier Fälle, in denen Religion seit 1995 Anlass zu Rechtsstreitigkeiten und öffentlichen Kontroversen gab, wurden vorangehend in ihren Verläufen rekonstruiert und als definitionspolitische Auseinandersetzungen um die Frage, was Religion ist und was ihre gesellschaftliche Rolle ist, analysiert. Deutlich wurde, dass diese Auseinandersetzungen keineswegs im religiösen Feld allein ausgetragen wurden. Als Kontrahenten standen sich vielmehr Akteure aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern gegenüber : Akteure aus dem religiösen Feld rangen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Medien, mit Verwaltungsbeamten und nicht zuletzt mit Repräsentanten des rechtlichen Feldes um die Grenzen des Religiösen und um die Frage, wer die Definitionshoheit über diese Grenzen hat bzw. haben sollte. Die untersuchten Konfliktfälle weisen im Hinblick auf die Konfliktanlässe und -themen, die Hauptakteure, die involvierten Religionen, die allgemeinen religionskulturellen, politischen und rechtlichen Kontexte sowie die Konfliktverläufe neben zahlreichen Gemeinsamkeiten und Parallelen auch beachtenswerte Unterschiede auf. Zu den Gemeinsamkeiten gehört, dass alle hier untersuchten Konflikte mit religiösen Bezügen in der Schule zu tun haben. Die Schule erweist sich, sowohl in historischer Perspektive als auch mit Blick auf die Gegenwart, als eminent wichtiger sozialer Raum für Grenzstreitigkeiten zwischen Religion und Politik, Recht, Wissenschaft, Kultur usf. Dies hat verschiedene Gründe: Zunächst einmal ist die Schule ein Ort, an dem sich die Gesellschaft gleichsam in ihre eigene Zukunft hinein entwirft. Soziale, politische und religionskulturelle Umbrüche gehen deshalb regelmäßig mit Veränderungen im Schulwesen einher. Als herausragendes Beispiel hierfür mag die Dritte Französische Republik (1871 – 1940) gelten, in der die Schulpolitik zum zentralen Instrument der Durchsetzung sozialmoralisch motivierter Reformprojekte und zum Motor für den angestrebten tiefgreifenden Wandel der gesamten französischen Gesell-
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schaft wurde.1 Dass die Schule bis heute auch in Deutschland immer wieder Schauplatz für Religionskonflikte wird, hat seinen Grund aber nicht zuletzt darin, dass in der Schule die Grundrechtsansprüche mehrerer Akteure, der Schülerinnen und Schüler ebenso wie der Lehrkräfte, zusammen und zudem auf den Anspruch und das Versprechen des Staates treffen, in religiösen und allgemein weltanschaulichen Angelegenheiten nicht Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen und sich jedweder Identifikation mit religiösen oder anderen (säkularen) weltanschaulichen Optionen zu enthalten, um gerade so die Freiheit der Religion und der Weltanschauung gewährleisten zu können: das allen gleichermaßen garantierte Recht auf Freiheit sowohl von der Religion als auch zur Religion und in der Religion (bzw., wie jeweils hinzuzufügen wäre, der Weltanschauung). Im Kruzifixstreit sahen die Kläger eben dieses Grundrecht durch die gesetzlich vorgeschriebene Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen in den Unterrichtsräumen staatlicher Grund- und Hauptschulen in Bayern verletzt. Hier klagte eine Minderheit (Nicht-Christen in Bayern) gegen die aufgrund der Schulpflicht nicht zu umgehende Konfrontation mit einem zentralen Zeichen der Religion der Bevölkerungsmehrheit; es ging mithin um die Zurückdrängung religiöser Zeichen aus dem schulischen Raum. Auch im Kopftuchstreit hatten wir es mit einer Minderheitenklage zu tun: Doch anders als die Kläger im Streit um das Kruzifix, deren religiös-weltanschauliche Orientierung ihrer anthroposophischen Selbstdarstellung zum Trotz letztlich diffus blieb, identifizierte sich die Klägerin im Kopftuchstreit offen und klar als Muslimin; wir haben es hier also mit dem Ringen einer religiösen Minderheit um das Recht auf Präsenz (auch visuelle Präsenz) in der Schule zu tun. Der Kopftuchstreit erweist sich damit im Unterschied zum Kruzifixstreit als ein Streit um die Öffnung der Schule für religiöse Bekundungen, präziser : um die Öffnung der Schule nicht nur für die Religion der Mehrheit, sondern auch für die Religion einer Minderheit. War der Kruzifixstreit ein Streit um die Freiheit von Religion, so stellt sich also der Kopftuchstreit als Streit um Gleichheit in der Freiheit zur Religion dar. Sowohl der Streit um die Schulkreuze im Spätsommer und Herbst des Jahres 1995 als auch der nur wenige Jahre später anbrechende und sich jahrelang hinziehende Konflikt um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen waren Auseinandersetzungen, deren religionspolitische, -kulturelle und -rechtliche Wurzeln in die ›alte‹ Bundesrepublik vor 1989/1990 zurückreichen. Zugleich jedoch verweisen beide Streitfälle auf je eigene Art auf die gewandelten religionskulturellen Konstellationen der ›neuen‹ Bundesrepublik, die den Hinter1 Vgl. aus der ausufernden Literatur nur: Baub¦rot, La morale laque; ders., La lacit¦; Poulat, Libert¦, lacit¦.
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grund der Auseinandersetzungen um den LER- und den Ethikunterricht in Brandenburg und Berlin bildeten: So können die keineswegs auf kirchliche, ja nicht einmal auf kirchennahe Kreise beschränkten empörten Reaktionen auf die Entscheidung der Karlsruher Richter im Kruzifixstreit auch als Indiz für eine gewisse religionskulturelle Verunsicherung gedeutet werden, die sich im Zuge der Verschiebung der religiösen Koordinaten der Bundesrepublik durch den Beitritt der fünf ›neuen‹, tiefgreifend säkularisierten ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik im Oktober 1990 allmählich und vielfach zunächst ganz unreflektiert einstellte. Hier suchte eine Gesellschaft, deren ›kulturchristliche‹ Selbstverständlichkeiten irritiert waren, an einem Zeichen festzuhalten, das ungeachtet der auch im Westen der Republik fortschreitenden Entfremdung von christlichen Bekenntnisinhalten doch etwas allgemein Vertrautes und Verbindendes zu repräsentieren schien. Das Kreuz wurde entsprechend in der öffentlichen Kontroverse mehrheitlich nicht als zentrales Symbol der christlichen Heilserwartung verstanden, sondern als allenfalls ›kulturchristlich‹ imprägniertes Zeichen der grundgesetzlichen ›Wertordnung‹ gedeutet. Und eben dieser Vereinnahmung christlicher Traditionsbestände für staatspolitische Interessen gebot das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung im Kruzifixstreit Einhalt. So verweist der Kruzifixstreit einerseits auf die schleichende Säkularisierung der gesamtdeutschen Gesellschaft und im Besonderen auf die Abwendung von den christlichen Kirchen. Zugleich aber traten in ihm unvermutete religionskulturelle Beharrungskräfte zutage, die sich zu einem zähen Widerstand gegen diesen Trend formierten und sich schließlich auch im Kopftuchstreit eine Stimme zu verschaffen wussten. Der 1998 beginnende Kopftuchstreit nahm – vor allem anderen, das in ihm zum Austrag kam – ein Thema vorweg, das sich als das dominierende religionspolitische Thema des nachfolgenden Jahrzehnts erweisen sollte: die (weitgehend auf die ›alte‹ Bundesrepublik und West-Berlin beschränkte) Pluralisierung des religiösen Feldes, insbesondere durch die zunehmend sichtbare Präsenz eines vitalen islamischen Milieus, das in der christlich dominierten Religionskultur als fremd und, insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, zunehmend auch als bedrohlich empfunden wurde. In diesem agonalen Klima wurde das Kopftuch zum Zentralsymbol einerseits für die gefürchtete politische Inanspruchnahme des Islams, andererseits für den beängstigenden Wandel der allgemeinen religionskulturellen Rahmenbedingungen, für Pluralisierung und Entchristlichung. Das Kopftuch hatte damit kaum eine Chance auf Anerkennung: Als politisches Symbol wurde es allseits geächtet; und auch als Ausdruck einer zutiefst persönlichen Entscheidung für eine fromme Lebensführung nach den Regeln einer den meisten fremden Religion sorgte es nicht nur unter Säkularen für Unruhe, sondern löste auch im
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christlichen Milieu sowie unter den Advokaten eines vermeintlich allgemein konsensfähigen ›Kulturchristentums‹ Unbehagen aus. Und so formierte sich im Widerstand gegen das Kopftuch eine ungewöhnliche Koalition, die im Nachklang zur Karlsruher Entscheidung 2003 für einen restriktiven Umgang mit der Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen warb. In dieser Koalition allerdings erwiesen sich die ›kulturchristlichen‹ Beharrungskräfte, die bereits im Kruzifixstreit hervorgetreten waren, erneut als übermächtig. So konnten sie in den meisten Ländern, die sich für eine gesetzliche Regelung des Umgangs mit religiösen Bezügen in der Schule entschieden, Ausnahmeklauseln für Zeichen oder Bekleidungspraktiken aus dem symbolischen Reservoir des Christentums durchsetzen. Auf welch unsicherem Grund sie jedoch operierten, deutete sich in den zeitlich teilweise parallel laufenden Auseinandersetzungen um die Neuordnung der schulischen ›Werteerziehung‹ in Brandenburg und Berlin an. Anders als im Kruzifix- und im Kopftuchstreit vermochten sie es hier nicht, religionspolitische und vor allem religionsrechtliche Wälle gegen den Ansturm von Säkularisierung und Pluralisierung aufzurichten. Im Streit um die Einführung der Fächer LER in Brandenburg und Ethik in Berlin wurde um eben diese Zukunftsfragen – den Umgang mit Säkularisierung und Pluralisierung – gerungen: In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem jede religiöse, ebenso aber auch jede ›kulturchristliche‹ Selbstverständlichkeit zusammengebrochen war und ein allgemeiner Zerfall sozial verbindlicher ›Werte‹ diagnostiziert wurde, in dem aber zugleich (wie in Berlin, allerdings kaum in Brandenburg) neue religionskulturelle Lebenswelten im Aufbau waren, wurde die Frage dringlich, wie die Freiheitsordnung angesichts der religions- und sozialkulturellen Zerklüftung künftig sozialmoralisch abgesichert werden könne. Die Hoffnungen richteten sich auf ein neues Schulfach, das auf liberal-humanistische Art gleichsam zivilreligiöse Abhilfe schaffen sollte. Die etablierten Religionsgemeinschaften, allen voran die Kirchen, die sich selbst in der Rolle gesellschaftlicher ›Werteagenturen‹ sahen und entsprechende gesellschaftliche Erwartungen in der Vergangenheit stets zu bedienen gesucht hatten, sollten dabei nach Vorstellung zumindest eines Teils der Initiatoren immerhin noch Handlangerdienste leisten. Doch witterten die Kirchen in den neuen Unterrichtsfächern bald Instrumente eines im bildungsund integrationspolitischen Gewand auftretenden religionspolitischen Verdrängungswettbewerbs und brachten sich entsprechend vehement gegen die Pläne in Stellung. Dabei wehrten sie sich sowohl gegen die Deutung der Religion als Quelle sozialkultureller und -moralischer Desintegration als auch gegen die über Jahrzehnte nicht zuletzt von ihnen selbst genährte Verkürzung des Religiösen auf das Moralische und religiöser Wertbindungen auf staatspolitisch zweckdienliche ethische Orientierungen. Entsprechend bemühten sie sich, den ›Mehrwert‹ der Religion gegenüber Ethik zu profilieren und den Religionsun-
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terricht weniger von den vermeintlichen gesellschaftlichen Leistungen der Religion her zu legitimieren als vielmehr vom grundrechtlich geschützten Eigensinn des Religiösen her und also als fundamentales Freiheitsrecht zu begründen. In sämtlichen Konfliktfällen, die in der vorliegenden Arbeit untersucht wurden, ging es – oftmals mittelbar, doch zuweilen durchaus explizit – um die Frage, was Religion ist und was sie gesellschaftlich leistet. Ist das Kreuz bzw. das Kruzifix an den Wänden bayerischer Schulen ein spezifisch christliches Bekenntnissymbol? Oder ist es zu einem nur mehr zivilreligiösen Abzeichen des freiheitlichen Verfassungsstaates geronnen? Ist die Kopfbedeckung der Lehrerin ein zutiefst persönlicher Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses, ein modisches Accessoire oder ein identitätspolitisches Signal mit religionskultureller Segregationswirkung? Was leistet die Religion – und mithin der Religionsunterricht – für die Gesellschaft? Lassen sich die Leistungen, die dem Religionsunterricht zugeschrieben werden, substituieren durch eine allein staatlich verantwortete Werteerziehung? Speist sich die ›Wertordnung‹ des Grundgesetzes, wie es in der ›alten‹ Bundesrepublik jahrzehntelang weitgehend selbstverständlich angenommen wurde, maßgeblich oder doch zumindest auch aus religiösen Quellen? Oder verhält es sich, wie viele ostdeutsche und manche Westberliner Beobachter mutmaßten, nicht gerade umgekehrt: Lassen religiöse, zumal fremde religiöse Wertbindungen nicht gerade Parallelwelten entstehen, die das ›Wertfundament‹ des freiheitlichen Staates erodieren lassen? Und wie ist in dieser Auseinandersetzung mit der irritierenden Erfahrung umzugehen, dass das Christentum stets beides ist: ein Kulturfaktor, dessen historische Prägekraft unbestritten ist, zugleich aber auch eine religiöse Tradition, die zu einem Bekenntnis für oder wider auffordert? Diskutiert wurden diese Fragen nicht allein in der politischen Arena. Erörtert wurden sie auch vor Gericht. Nun waren die Gerichte in die drei bzw. vier Streitfälle, die hier untersucht wurden, aufgrund der jeweiligen Konfliktkonstellationen und der verschiedenen rechtlichen Ausgangslagen unterschiedlich intensiv involviert. Nahmen richterliche Entscheidungen sowohl im Kruzifixals auch im Kopftuchstreit erheblichen Einfluss auf den Konfliktverlauf und -ausgang, so spielten sie im Brandenburger Streit um die Einführung von LER eine weitaus weniger bedeutende Rolle; und im Berliner ›Zwillingsstreit‹ um die Einführung von Ethikunterricht ins schulische Pflichtcurriculum wurde der Rechtsweg aufgrund der besonderen verfassungsrechtlichen Ausgangslage nur von Randakteuren beschritten und blieb von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Dennoch bildeten die rechtlichen Rahmenbedingungen auch in den beiden zuletzt genannten Konflikten den maßgeblichen Bezugskontext, in dem sich die Kontrahenten zueinander in Stellung brachten. Und so wurde der Berliner Streit zwar nicht vor Gericht entschieden, aber doch (erfolglos) ein rechtlich reguliertes politisches Verfahren – das Volksbegehren bzw. der
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Volksentscheid – eingesetzt, um religionspolitische Interessen durchzusetzen. Vor allem aber wurde in sämtlichen hier erörterten Konflikten um verfassungsrechtliche Bestimmungen und ihre gesetzliche Konkretisierung gestritten und damit durchgängig in der Sprache des Rechts um die Frage gerungen, wie mit den Mitteln des Rechts konkurrierende religiöse und weltanschauliche Freiheitsansprüche gewährleistet werden können. Schaut man sich die Konflikte an, in denen Richterinnen und Richter das (letzte) Wort hatten, so wird man feststellen, dass sie der damit verknüpften Herausforderung, in den politischen Auseinandersetzungen um die Definition von Substanz und Funktion der Religion Stellung zu beziehen, durchaus unterschiedlich begegneten. Dabei zeichnen sich auch gewisse Entwicklungslinien ab: So hatte sich die Mehrheit des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts 1995 noch selbstbewusst zu einer klaren Stellungnahme in den definitionspolitischen Kämpfen um das Kreuz entschieden. Mit ihrer kategorischen Feststellung, das Kruzifix sei das Sinnbild für die »im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem«,2 hatten die Richter der Auflösung des Religiösen im allgemeinen zivilreligiösen Wertereservoir Einhalt zu bieten versucht. Doch derselbe Senat agierte bereits deutlich zurückhaltender, als er im Sommer 1996 mit Verfassungsklagen der Kirchen und einer Gruppe von Eltern sowie mit einem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ein Normenkontrollverfahren gegen die Einführung des Unterrichtsfachs LER in Brandenburg konfrontiert wurde: Die verantwortlichen Richter ließen sich nicht nur mehrere Jahre Zeit mit der Entscheidung; auch zogen sie es vor, die zentrale verfassungsrechtliche Streitfrage offen zu lassen, ob das Land Brandenburg Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen kann und also von der Verpflichtung dispensiert ist, an den Schulen des Landes Religionsunterricht »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« nach Art. 7 Abs. 3 GG einzurichten. Vor allem aber äußerten sie sich nicht zu den in der öffentlichen Kontroverse strittigen Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Ethik und dem Beitrag der Religion zur Sicherung der Grundlagen der Freiheitsordnung. Stattdessen präsentierten die Karlsruher Richter den Streitparteien im Dezember 2001 einen Schlichtungsvorschlag, der nach einer Bedenkzeit akzeptiert wurde und, ohne dass über die strittigen Fragen ein Konsens erzielt worden wäre, insgesamt zu einer Befriedung des Konflikts führte. Behutsam agierte das Bundesverfassungsgericht auch im Kopftuchstreit: In dem Urteil, das der Zweite Senat im September 2003 verkündete, wird man definitorische Aussagen zur Semantik der Kopfbedeckung muslimischer Frauen 2 BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 44.
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vergeblich suchen. Vielmehr erkannten die Verfassungsrichter die religiöse, politische und kulturelle Polyvalenz des Kopftuchs ausdrücklich an und gaben die Entscheidung über seine Zulässigkeit in die Hände des Gesetzgebers zurück. Doch die wachsame Zurückhaltung des Gerichts in den definitionspolitisch strittigen Fragen um das Kopftuch vermochte in diesem Fall kaum zur Befriedung beizutragen. Ganz im Gegenteil: Die »Ambiguitätstoleranz«3 der Bundesverfassungsrichter im Hinblick auf das Kopftuch stieß in der Öffentlichkeit und auch beim Gesetzgeber überwiegend auf Ablehnung;4 letztlich gab sie das Kopftuch als Projektionsfläche für eine Vielzahl widerstreitender Zuschreibungen aus der Innen- wie der Außenperspektive frei und ließ es zur Zielscheibe restriktiver religionspolitischer Maßnahmen werden. So konnten die Karlsruher Richter auch mit ihrer Weigerung, in der definitionspolitischen Frage nach dem Sinngehalt des Kopftuchs ein Machtwort zu sprechen, Rückwirkungen im religiösen Feld nicht verhindern. Denn anders als die Bundesverfassungsrichter zeigte der Gesetzgeber – an den die Karlsruher Richter mit ihrer Entscheidung die Verantwortung, über das Ausmaß der religiösen Bezüge in der Schule zu entscheiden, zurückgegeben hatten – keine Scheu, sich in den strittigen Fragen festzulegen. Vielmehr veranlasste er eilfertig gesetzliche Maßnahmen, die ihrerseits sämtlich auf einen restriktiven Umgang mit den Kopfbedeckungen muslimischer Frauen hinausliefen und neue Rechtskonflikte evozierten. Diese wiederum haben gezeigt, zu welch grotesken definitorischen Abwägungen rechtliche Regulierungen des Religiösen Richterinnen und Richter nötigen können; man denke nur an Streit um die Frage, ob auch Woll- und Baskenmützen, sofern sie von muslimischen Frauen getragen werden, als Kopfbedeckungen der gesetzlich verbotenen religiös konnotierten Art zu klassifizieren sind. So tritt in den Rechtskonflikten um Religion ein Dilemma hervor : Der um der Freiheit (nicht zuletzt auch um der Freiheit der Religion) willen säkularisierte Staat kann sich den definitionspolitischen Auseinandersetzungen um Religion nicht entziehen. Denn als Garant der Religionsfreiheit muss er das religiöse Feld ›einhegen‹ und in Konflikten um Religion dem Freiheitsrecht Geltung verschaffen. Dazu muss er wissen oder doch zumindest mit Vorstellungen dessen operieren, was Religion ist. Er mag dazu Expertinnen und Experten oder auch religiöse Autoritäten befragen. Die Entscheidung aber, wie widersprüchliche 3 Zum Begriff der »Ambiguitätstoleranz« (mit Bezug auf die Geschichte des Islams und folglich in ganz anderem Zusammenhang) vgl.: Thomas Bauer, Normative Ambiguitätstoleranz; ders., Kultur der Ambiguität. 4 Vgl. dazu oben Kapitel 5 sowie: Koenig, Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungskämpfe, 158 f, der auf die paradoxen Effekte des ›Kopftuchurteils‹ des Bundesverfassungsgerichts 2003 hinweist, das (obwohl es den Anspruch der Klägerin und ihre Gleichheitsforderung ausdrücklich anerkannte) eine restriktive Gesetzgebung auslöste.
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oder konkurrierende Wissens- und Traditionsbestände gewichtet und welche Positionen entscheidungsrelevant werden, kann er nicht an Dritte delegieren. Auch der Versuch, die Frage nach den Grenzen des Religiösen rechtlich offen zu halten, führt, wie der Streit um das Kopftuch gezeigt hat, nicht aus dem definitionspolitischen Dilemma hinaus, sondern verschiebt das Problem lediglich auf eine andere – die politische – Ebene, von der es allerdings wieder ins Feld des Rechts zurückgespielt wird. Aus einem Dilemma gibt es per definitionem keinen Ausweg; die vorangehend untersuchten Streitfälle illustrieren das. Die Ausweglosigkeit zwingt aber zur Suche nach Umgangsformen mit dem Dilemma. Das Schlusskapitel ist dieser Suche gewidmet.
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Schluss: Perspektiven
Das definitionspolitische Dilemma: Umgangsformen Die vorangehenden Untersuchungen ausgewählter Rechtskonflikte und der sie begleitenden öffentlichen Kontroversen um den Ort und den Status von Religion in der Schule in verschiedenen deutschen Bundesländern haben gezeigt, dass Streitigkeiten um Religion immer auch Streitigkeiten um die Definition von Religion bzw. um die Durchsetzung bestimmter Definitionen von Religion gegenüber anderen sind. Die ausführliche Rekonstruktion und Analyse der exemplarischen Streitfälle diente dem Ziel, die widerstreitenden Definitionsanstrengungen zu profilieren und die Konflikte in Anlehnung an Pierre Bourdieu als Auseinandersetzungen um die Grenzen des religiösen Feldes auszuweisen.1 So entstand ein Tableau der in den öffentlichen Debatten und in den rechtlichen Abwägungsbemühungen zirkulierenden konkurrierenden Vorstellungen davon, was Religion ist und was Religion leistet, welche Funktion also Religion für die Lebensführung des Einzelnen und das Gemeinwesen hat bzw. haben kann oder haben sollte. Nun fanden diese definitionspolitischen Auseinandersetzungen nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Die Untersuchung hat vielmehr gezeigt, dass die Art und Weise, wie sich die Akteure in den religionspolitischen Streitfragen um Schulkreuze, Kopfbedeckungen oder den Religionsunterricht und seine Alternativen positionieren, verknüpft ist mit den jeweiligen religionskulturellen und sozialen Erfahrungshorizonten, in denen sie stehen. So speiste sich der eruptive Widerstand gegen den Karlsruher Beschluss im ›Kruzifixstreit‹ zum einen aus der Verunsicherung, die der Entscheid der Verfassungsrichter im Milieu des zur Selbstverständlichkeit geronnenen bayerischen ›Kulturkatholizismus‹ auslöste; in den übrigen westdeutschen Bundesländern erschütterte das höchstrichterliche Diktum das über Jahrzehnte solide Vertrauen in die Unantastbarkeit der religionsrechtlichen und -politischen Arran1 Vgl. oben Kapitel 1.
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Schluss
gements der ›alten‹ Bundesrepublik, die durch den noch jungen Beitritt der fünf ›neuen‹ ostdeutschen Bundesländer ohnehin gefährdet schienen. Gesellschaftlich ganz anders gelagert waren die Streitigkeiten, die in Brandenburg und Berlin um die Einführung der neuen Unterrichtsfächer ›Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde)‹ und ›Werte‹ bzw. ›Ethik‹ geführt wurden. Die konfliktive Dynamik ist in diesen Fällen nur vor dem Hintergrund der fortgeschrittenen Entkirchlichung in Ostdeutschland und Berlin zu verstehen, wobei für die Berliner Konfliktlage zusätzlich die Vitalität des Islams in der Hauptstadt prägend war. Wenn, wie in den neuen Bundesländern, säkulare Lebensorientierungen das Selbstverständliche sind, dann gerät Religion in die Defensive, religiöse Bindungen geraten unter Rechtfertigungsdruck. Im Horizont derart unterschiedlicher religionskultureller Erfahrungen – Bayern bzw. Westdeutschland auf der einen Seite, Brandenburg und Berlin auf der anderen – bildeten sich auch ungleichartige religionspolitische Motivations- und Interessenlagen aus. Dies ließ sich auch innerhalb des kirchlichen Milieus beobachten. So war in Kreisen der Evangelischen Kirche der ehemaligen DDR das Interesse an der Einführung von Religionsunterricht als reguläres Unterrichtsfach (zumindest zunächst) gering; ganz anders positionierten sich die westdeutschen Landeskirchen, die stets auf die Durchsetzung von Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG pochten. Dahinter stehen unterschiedliche Erfahrungen: So hatten die evangelischen Christinnen und Christen in der DDR anders als ihre Glaubensgeschwister in den westdeutschen Landeskirchen die Erfahrung gemacht, dass der Verzicht auf Privilegien und Staatsnähe durchaus auch einen Gewinn an Freiheit generieren kann; und diesen DDR-spezifischen Erfahrungshorizont nahmen sie 1990 mit in die Bundesrepublik. Was den dritten hier untersuchten Streit angeht, den Konflikt um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen, der ausschließlich in westdeutschen Bundesländern geführt wurde (da es muslimische Lehramtsanwärterinnen in den ostdeutschen Bundesländern, die einen nur geringen muslimischen Bevölkerungsanteil haben, bisher nicht gab), so kamen in ihm neben einer allgemeinen religionskulturellen Unsicherheit im Umgang mit einer fremden Religion tiefe antiislamische Ressentiments zum Ausdruck. Und damit nahm der Streit einen Teil jener Dynamik vorweg, die seit der Jahrtausendwende die politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen um Religion nicht nur in Deutschland dominiert. Wie die im zweiten Teil vorgenommenen exemplarischen Sondierungen gezeigt haben, beteiligten sich an den (Rechts-)Streitigkeiten um Religion eine Vielzahl von Akteuren und Akteursgruppen aus Politik und Gesellschaft. Deutlich wurde darüber hinaus, dass – ungeachtet des Anspruchs liberal-demokratischer Verfassungsordnungen, in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten Neutralität zu wahren – auch Staatsorgane in die Auseinander-
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Das definitionspolitische Dilemma
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setzungen um Religion involviert sind: Denn auch Regierungsvertreter, Verwaltungsbeamte und nicht zuletzt Richterinnen und Richter operieren in Ausübung ihres Amtes mit bestimmten Vorstellungen von Religion. So werden sowohl im politisch-parlamentarischen Prozess der Rechtsetzung als auch im Prozess der Rechtsprechung bestimmte Vorstellungen von Religion gegenüber anderen ›ins Recht‹ gesetzt und von den staatlichen Verwaltungen in die soziale Lebenswelt eingespeist. Es liegt auf der Hand, dass dies auch Wirkungen im religiösen Feld selbst erzeugt, werden dabei doch die Grenzen für religiöse Bezüge in den verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens (hier : im schulischen Raum) mal enger, mal weiter gezogen und entsprechend mögliche Erfahrungsund Entfaltungsräume für Religion geöffnet oder geschlossen und nicht zuletzt auch das Feld der Möglichkeiten, der Religion anderer zu begegnen, abgesteckt. Insofern die Konflikte und Kontroversen um die Frage, in welchen Grenzen und in welcher Weise Bezüge auf Religion in der Schule möglich sein sollten, als Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Gestaltung der sozialen Ordnung ausgetragen werden, sind sie eingebettet in den politischen Prozess demokratisch verfasster Gesellschaften und entsprechend geradezu unverzichtbare Elemente des deliberativen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesses. Zu konzedieren bleibt freilich, dass die Strukturen der öffentlichen Meinungsbildung nicht alle gesellschaftlichen Akteure mit den gleichen Chancen ausstatten, sich im politischen Prozess zu artikulieren, für die eigene Position Gehör zu finden und sie gegebenenfalls auch, sei es rechtlich, sei es politisch, durchzusetzen. Kritisch abzuwägen bleibt insbesondere auch die Rolle, die staatliche Akteure (Regierende, Verwaltungsbeamte, Richterinnen und Richter) in diesen Konflikten spielen. Dass auch sie, wie in den Fallanalysen gezeigt wurde, in den Auseinandersetzungen Position beziehen, ja beziehen müssen und damit in die gesellschaftlichen Definitionsprozesse von Religion eingreifen – dies ist ein Dilemma, dem die grundrechtlich abgesicherte Freiheits- und Gleichheitsordnung nicht entrinnen kann.2 Nun gibt es aus einem Dilemma per definitionem keinen Ausweg. Umso mehr stellt sich die Frage, ob Formen des Umgangs mit den Rechtskonflikten und den sie begleitenden öffentlichen Kontroversen um Religion gefunden werden können, die – im Bewusstsein des skizzierten Dilemmas – dem ›Geist‹ der säkularisierten, freiheitlichen Verfassungsordnung verpflichtet bleiben. In den vorliegenden Schlussüberlegungen sollen hierfür zwei Perspektiven eröffnet werden. Keine der beiden weist einen Ausweg aus dem Dilemma. Beide jedoch könnten dazu beitragen, die Konflikte zu entschärfen, indem sie Wege aufzeigen, die eine alternative Konzeptualisierung des Verhältnisses von Religion und
2 Vgl. oben Kapitel 3.2.
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staatlicher Neutralitätsverpflichtung erlauben, und für eine religionspolitische Neubewertung von Rechtsstreitigkeiten um die Religionsfreiheit werben. Beide Perspektiven speisen sich aus Überlegungen des Staats- und Verfassungsrechtlers sowie ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde.3 Dass Böckenförde zum Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt wird, ist der Beobachtung geschuldet, dass sämtliche Streitfälle, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht wurden, so aktuell und neuartig sie auch scheinen mögen, im Horizont einer fundamentalen religionspolitischen Verunsicherung stehen, der Böckenförde bereits 1967 prägnant Ausdruck verliehen hatte: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«4 Enthalten ist in diesem Satz die Unterstellung eines elementaren historischen Bruchs zwischen wesentlich religiös integrierten und legitimierten ›vormodernen‹ Gemeinwesen und dem ›modernen‹ Verfassungsstaat, für den die »Bindungskraft aus der Religion nicht mehr essentiell ist und sein kann« und der die »Regulierungskräfte der Freiheit«, derer er bedarf, nicht selbst hervorbringen kann.5 Und Böckenförde fügte, was weniger oft zitiert wird, hinzu: Das ist das große Wagnis, das er [der Staat, AR], um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und ¢ auf säkularisierter Ebene ¢ in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.6
Angesichts dieser für die freiheitliche Gesellschaftsordnung konstitutiven Selbstbeschränkung des Staates wirft Böckenförde gleichwohl die Frage auf, ob die sozialmoralischen Ressourcen, auf die das staatliche Gemeinwesen angewiesen bleibt, die es aber nicht selbst erzeugen kann, dem Staat nicht gleichsam aus der Gesellschaft ›entgegenwachsen‹ können: So wäre denn […] zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.7 3 Zu Böckenförde vgl. das biographische Interview mit Dieter Gosewinkel: Böckenförde/ Gosewinkel, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 305 – 486. 4 Böckenförde, Die Entstehung des Staates (zuerst 1967 veröffentlicht; zurückgehend auf einen Vortrag aus dem Jahr 1964), 112 [Hervorhebung im Original]. 5 Beide Zitate ebd., 111. 6 Ebd., 112 f. 7 Ebd., 113.
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Dies allerdings, wie Böckenförde umgehend hinzufügte, nicht in der Weise, daß er zum ›christlichen‹ Staat zurückgebildet wird, sondern in der Weise, daß die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.8
Diese Passagen aus Böckenfördes viel zitierter Untersuchung über Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation werden unten noch ausführlicher zu erörtern sein; dabei sollen auch die verschiedenen Lesarten dieser als ›Böckenförde-Diktum‹, ›Böckenförde-Dilemma‹ oder auch ›Böckenförde-Paradox‹ in die Geschichte eingegangenen Situationsanalyse des modernen Verfassungsstaates aufgezeigt werden.9 An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass Böckenförde – im Bewusstsein dessen, dass für den modernen Staat die »Bindungskraft aus der Religion nicht mehr essentiell ist und sein kann«10 – dennoch den ›sittlichen‹ Kräften der Religion (oder doch zumindest jenen des Christentums) eine bedeutende Rolle für die sozialmoralische Reproduktion der Freiheitsordnung zuweist.11 Er hat damit dem religionskulturellen Selbstverständnis der ›alten‹ Bundesrepublik prägnant Ausdruck gegeben. Eben dieses Selbstverständnis jedoch geriet in den hier behandelten Rechtskonflikten und Kontroversen unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Und so verwundert es nicht, dass Böckenfördes ›Diktum‹ in diesen Auseinandersetzungen immer wieder kommentiert wurde: mal emphatisch zustimmend, mal heftig ablehnend, mal direkt Bezug nehmend, mal sich mit indirekten Bezügen begnügend. Böckenfördes Formel vom modernen Verfassungsstaat, der von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, wurde in den Debatten immer wieder aufgerufen, forderte die Streitparteien zur Stellungnahme heraus und trug zur Lagerbildung bei. Dass den religionspolitisch widerstreitenden Positionierungen dabei eine letztlich identische Lesart des ›Diktums‹ zugrunde lag und liegt, wird unten zu thematisieren sein. Zunächst jedoch soll das analytische Raster, das im ersten Teil der Arbeit mit 8 Ebd., 113 f. Zu den zeit- und näherhin kirchengeschichtlichen Hintergründen dieses v. a. an die Katholiken gerichteten Aufrufs, der (auf einen Vortrag von 1964 zurückgehend) noch vor der Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Katholische Kirche erfolgte (die erst mit der Erklärung Dignitatis Humanae auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 vollzogen wurde), vgl.: Böckenförde, Der säkularisierte Staat, darin auch das Vorwort, 7 – 10. Siehe in diesem Zusammenhang auch: ders., Der säkularisierte, religionsneutrale Staat als sittliche Idee. Zur werkbiographischen Vorgeschichte des Diktums vgl.: Große Kracht, Unterwegs zum Staat. 9 Vgl. dazu die Ausführungen im letzten Abschnitt dieses Schlusskapitels. 10 Siehe Fn. 5 oben. 11 Dass er diese Position grundsätzlich und bei aller Offenheit für soziale, rechtliche und nicht zuletzt auch religionskulturelle Wandlungsprozesse auch vier Jahrzehnte später noch vertritt, wird deutlich in: Böckenförde, Der säkularisierte Staat.
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Bezug auf Pierre Bourdieu entwickelt wurde, im Licht der vorangehenden Fallstudien reflektiert und mit Blick auf eine mögliche Entschärfung des skizzierten definitionspolitischen Dilemmas weiterentwickelt werden. Auch hierbei wird eine Argumentationsfigur von Ernst-Wolfgang Böckenförde den Ausgangspunkt bilden; allerdings ist diese einem Text entnommen, der anders als das inflationär bemühte ›Diktum‹ über die Grenzen des Fachpublikums hinaus kaum wahrgenommen wurde und entsprechend in den öffentlichen Debatten, mit denen wir es hier zu tun hatten, keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle spielte. Es handelt sich um einen 1975 veröffentlichten Text, in dem Böckenförde sich ausführlich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Streit um die Zulässigkeit von Kruzifixen in Gerichtssälen aus dem Jahr 1973 auseinandersetzte.12
Vom religiösen Feld zum religiösen Raum Der vorliegenden Arbeit liegt ein Konzept von Religion zugrunde, nach dem Religion keine invariante Wesenseinheit, sondern ein wandelbares soziales Feld ist, dessen Grenzen dynamisch sind und stets von neuem und oftmals kontrovers gesellschaftlich verhandelt werden. In Anlehnung an Pierre Bourdieu wurde Religion als eine öffentliche Arena konzipiert, in der – noch zu bestimmende – Akteure […] Kämpfe um die Durchsetzung einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen, austragen.13
In den Rechtskonflikten und Kontroversen um Religion, die vorangehend untersucht wurden, konnten solche definitionspolitischen Aushandlungsprozesse beobachtet werden: So wurde im Streit um die Anbringung von Kruzifixen in den Klassenräumen bayerischer Grund- und Hauptschulen darum gerungen, ob denn das Kruzifix überhaupt ein religiöses Bekenntnissymbol sei oder nicht einfach ein spezifisch religiöser und im engeren Sinne christlicher Bezüge entleertes, gleichsam zivilreligiöses ›Logo‹ des ›Abendlandes‹ und seiner liberaldemokratischen Verfassungskultur bzw., wie es in der regionalpolitischen Variante dieser Argumentationsfigur behauptet wurde, ein Symbol bayerischer Volkskultur.14 Hinter dem definitionspolitischen Ringen um den Sinngehalt des Kruzifixes stand die Frage, ob dieses denn überhaupt (noch) als religiöses Zeichen wahrgenommen werde und also auch tatsächlich eine religiöse Rolle 12 Vgl. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?. 13 Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 231 f. 14 Das Kreuz gehöre »in Bayern zur Tradition«, so etwa Edmund Stoiber in einem Interview in: Der Spiegel 33/1995.
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spiele. Strittig war nicht zuletzt auch, wer überhaupt befugt sei, sich an diesen Definitionskämpfen um das Kruzifix zu beteiligen: Die Universitätstheologen? Die Bischöfe? Die ›einfachen‹ Glaubenden selbst? Der parlamentarische Gesetzgeber? Und wer soll im (hier gegebenen) Fall konkurrierender Definitionen entscheiden? Richterinnen und Richter? Auch im Konflikt um die Kopfbedeckung muslimischer Lehrerinnen konnten wir solche Definitionskämpfe beobachten. Diskutiert wurde hier nicht nur, ob das Kopftuch überhaupt religiös oder nicht vielmehr (identitäts)politisch motiviert und also eher ein kulturelles Accessoire sei und wer hierüber zu befinden habe. In einem kuriosen Nachspiel zum ›Kopftuchurteil‹ des Bundesverfassungsgerichts sahen sich nordrhein-westfälische Gerichte vielmehr gedrängt, über die religiöse Qualität auch anderer Kleidungsstücke zu entscheiden. So waren sie etwa mit der Frage befasst, ob eine Baskenmütze, wenn sie von einer muslimischen Lehrerin im Unterricht getragen wird, als ein ›Kopftuchsurrogat‹ zu verstehen und deshalb im Sinne des geänderten nordrhein-westfälischen Schulgesetzes zu verbieten sei. In den Streitigkeiten schließlich, die in Brandenburg und Berlin um den Status des Religionsunterrichts in der Schule ausgetragen wurden, ging es letztlich darum, wer überhaupt wie über Religion in der Schule sprechen darf. In diese Auseinandersetzungen waren, wie wir in den Fallanalysen beobachten konnten, zahlreiche Akteure aus verschiedenen sozialen Feldern involviert, die zueinander keineswegs in symmetrischen Kommunikationsverhältnissen standen. So hatten wir es neben den im engeren Sinne religiösen Akteuren (den gegen das Kruzifix klagenden Eltern und den für das Recht auf die Kopfbedeckung streitenden Lehrerinnen, den Aktivistinnen und Aktivisten für den Religionsunterricht und ihren antiklerikalen Gegenspielern, den Kirchenvertretern und Hochschultheologen, den vielen Glaubenden, deren religiöse Freiheitsräume von den Entscheidungen in den verschiedenen Streitfragen unmittelbar betroffen sind) auch mit Vertretern parteipolitischer Interessen, mit Parlamentariern, Regierungsmitgliedern und mit Verwaltungsbeamten zu tun, mit Journalisten und Wissenschaftlern sowie – und hierauf lag der Akzent der Untersuchung – mit Richterinnen und Richtern. Nun ging es in der vorangehenden Rekonstruktion und Analyse exemplarischer Konfliktfälle jedoch nicht darum, nach Art einer ›klassischen‹ Feldanalyse im Schatten Bourdieus die Stellungnahmen der verschiedenen Akteure in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Feldpositionen zu rekonstruieren. Statt auf die Binnenstruktur des religiösen Feldes war der Fokus der Analyse – in Fortschreibung der Überlegungen Bourdieus zum »Abbröckeln der klaren Grenzen des religiösen Feldes«15 – auf die Grenzen des religiösen Feldes nach außen bzw. 15 Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 234; siehe dazu oben Kapitel 1.2.
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auf die Auseinandersetzungen an seinen Grenzen und um seine Grenzen gerichtet. Sieht man sich aber die Akteure, die an diesen ›Grenzkonflikten‹ beteiligt waren, etwas genauer an, so fällt, wie eben erneut hervorgehoben, zunächst einmal auf, dass wir es keineswegs nur mit Akteuren zu tun hatten, die dem religiösen Feld im engeren Sinne zuzurechnen sind, sondern darüber hinaus auch mit Akteuren, die auf dem Feld der Politik, der Wissenschaft oder eben auf dem Feld des Rechts tätig sind. Rückt man nun noch ein wenig näher an die Akteure heran, so wird man zudem sehen, dass diese nicht nur in verschiedenen sozialen Feldern beheimatet sind, sondern auch auf unterschiedlichen sozialen Ebenen agieren: als Vertreter staatlicher Ordnung und zivilgesellschaftlicher Dynamik, als Privatpersonen oder als Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften oder politischen Interessenkoalitionen, als Schülerinnen und Schüler oder als Lehrerinnen, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder als journalistische Beobachter und Berichterstatter, als Richterinnen und Richter, Anwälte etc. Diese Beobachtung gibt Anlass, das zweidimensionale Konzept des religiösen Feldes, in dem diese Ebenendifferenzierung der Gesellschaft letztlich nicht verarbeitet werden kann, zu einem dreidimensionalen Konzept des religiösen Raumes zu erweitern. Diese konzeptuelle Erweiterung kann sich auf Bourdieu selbst stützen, der seinerseits anregte, »die soziale Welt in Form eines – mehrdimensionalen – Raums« darzustellen,16 als einen Komplex verschiedener, in sich gegliederter »Teilräume«,17 deren Akteure auf unterschiedlichen Ebenen operieren. Sein Sozialraummodell entwickelte Bourdieu, indem er Elemente der marxistischen Klassentheorie mit Webers Konzept der Lebensführung verknüpfte: Er setzte die differenzierte Sozialstruktur einer Gesellschaft, d. h. die ›Klassenlage‹, in Beziehung zur Differenzierung der Lebensführungen bzw., wie es bei ihm heißt, der ›Lebensstile‹ (»styles de vie«). So gelangte er zu einem dynamischen Modell des sozialen Raums: Sozialstrukturelle Unterschiede (Unterschiede in der Klassenlage) werden danach für die Akteure erst im Raum der Lebensstile als reale erfahrbar (als Geschmacksunterschiede im Hinblick auf Ernährung und Kleidung, Freizeitgestaltung etc.) und auf diese Weise habitual reproduziert.18 16 Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹, 9. 17 Ebd., 32. Feld- und Raummetaphern stehen bei Bourdieu allerdings nebeneinander; keineswegs löst die Raummetapher also die Feldmetaphorik ab. 18 Ausgeführt und empirisch breit fundiert hat Bourdieu dies in seinem 1979 erschienenen Werk La distinction (dt. zuerst 1982: Die feinen Unterschiede). Bourdieu setzt hier die französische Alltagskultur (die Konsumgewohnheiten, den Geschmack im Hinblick auf Kleidung, Ernährung, Freizeitgestaltung usw.) in Beziehung zur Sozialstruktur der französischen Gesellschaft. Instruktiv zu Bourdieus Sozialraummodell vgl.: Krais, Die moderne Gesellschaft, insbesondere 90 ff.
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Nun hat Bourdieu mit seiner Verknüpfung von Klassenlage und Lebensführung, von Marx und Weber, sicher einen »zentrale[n] Beitrag zur Klassendiskussion« geleistet.19 Gleichwohl stehen seine konzeptuellen Überlegungen zum sozialen Raum seltsam unvermittelt neben seiner Feldtheorie.20 Während das Modell des sozialen Raums dreidimensional angelegt ist, verharrt die Feldmetaphorik in einer zweidimensionalen Vorstellung des Sozialen, nach der die verschiedenen Felder und ihre Akteure (gleichsam wie auf einer Landkarte) nebeneinander stehen. Um die dreidimensionale Vorstellung des sozialen Raums mit der Konzeptualisierung der sozialen Felder zu vermitteln, muss das Soziale als ein Raum gedacht werden, in dem die verschiedenen Lebens-, Funktions- und Organisationsbereiche nicht einfach nebeneinander stehen, sondern auf verschiedenen Ebenen ineinander ausgreifen, während sie auf anderen Ebenen deutlich voneinander getrennt sein können. Dies sei am Beispiel der Schule verdeutlicht, jenem sozialen Raum, in dem sämtliche Konflikte, die in der vorliegenden Arbeit untersucht wurden, angesiedelt sind: »Das gesamte Schulwesen«, so steht es in Art. 7 Abs. 1 GG, »steht unter der Aufsicht des Staates.« Dieses Aufsichtsrecht und die Aufsichtspflicht des Staates über die Schule steht nun aber im deutschen Verfassungsrecht in – durchaus gewollter – Spannung zum, wie es in Art. 6 Abs. 2 GG heißt, »natürliche[n] Recht der Eltern«, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen.21 Diese Spannung wächst in dem Maße, in dem sich die Gesellschaft sozialkulturell und religiös pluralisiert. Denn in der Schule treffen die unterschiedlichen sozialkulturellen Milieus aufeinander und auf den Staat. Die Schule ist mithin der Ort, an dem Ansprüche des Staates, der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien, der Lehrerinnen und Lehrer sowie verschiedener gesellschaftlicher Gruppen interferieren. Der französische Philosoph Etienne Balibar hat die Schule deshalb zutreffend beschrieben als einen Übergangsort zwischen den Sphären der privaten und der öffentlichen Existenz, der allerdings seinem gesetzlichen Status zufolge im öffentlichen Raum selbst situiert ist.22
Das Beispiel Schule illustriert, dass die durch die Feldmetaphorik evozierte Vorstellung von der zweidimensionalen Topographie des Sozialen als einer Art Landkarte, auf der die verschiedenen sozialen Felder verzeichnet sind, präzisiert 19 Krais, Die moderne Gesellschaft, 93. 20 So bleibt, wie Krais anmerkt, »das Verhältnis von sozialen Feldern und sozialem Raum, also das Verhältnis von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Sozialstruktur, das nach Bourdieu konstitutiv ist für den sozialen Raum, […] unklar« (ebd.). 21 Der vollständige Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 GG findet sich im Anhang. 22 Balibar, Dissonanzen, 20 [Hervorhebungen im Original]. Der Text, dem das Zitat entnommen ist, entstand im Kontext des französischen ›Kopftuchstreits‹. Balibar bemüht sich darin um eine kritische Revision des französischen Konzepts der »lacit¦«.
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Schluss
werden muss: Wir haben es, um im Bild zu bleiben, nicht mir einer Landkarte zu tun, sondern mit mehreren Landkarten, die gleichsam übereinander geschichtet werden. Jede dieser Karten verzeichnet die Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Feldern, doch verlaufen die Grenzen auf jeder Karte anders; die Grenzverläufe sind also nicht deckungsgleich. Und das heißt: Es können keine klaren (vertikalen) Schnitte gezogen werden. Vielmehr sind die verschiedenen Sphären des Sozialen auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich miteinander ›verzahnt‹ oder auch voneinander geschieden. Das gilt auch für die Religion: Ihr können im staatlichen Schulwesen andere Grenzen gesetzt sein als etwa im Rechtswesen, im Hochschulbereich oder im ökonomischen oder politischen oder kulturellen Sektor. So hatte ja auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem ›Kruzifixbeschluss‹ 1995 nicht im Sinn, künftig etwa auch Weg- und Bergkreuze zu verbannen, Kreuze von Kirchtürmen und Kapellen entfernen zu lassen und staatliche Museen von allen Kreuzesdarstellungen zu ›säubern‹ oder gar den Gebrauch des Wortes ›kreuzfidel‹ zu unterbinden, wie es sich der Kölner Kardinal Joachim Meisner in seiner düsteren Polemik gegen die Karlsruher Entscheidung ausmalte.23 Das Karlsruher Verdikt bezog sich vielmehr allein auf die verpflichtende Anbringung von Kreuzen in den ›Volksschulen‹ (d. h. den Grund- und Hauptsschulen) des Freistaats Bayern. Die Grenzen, die dem Religiösen auf der einen Ebene gesetzt werden, müssen also keineswegs zwangsläufig auf alle anderen Ebenen übertragen werden. Vielmehr können die Grenzen des religiösen Feldes auf den verschiedenen Ebenen des Sozialen unterschiedlich verlaufen: im Bereich der staatlichen Öffentlichkeit anders als im Bereich der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, in der öffentlichen Schule (die gleichsam im Zwischenraum von Staat und Gesellschaft bzw. der Sphäre des Privaten angesiedelt ist) anders als im Rechtswesen, in der Privatwirtschaft anders als im staatlichen Dienstleistungssektor. Die Vorstellung vom religiösen ›Feld‹ sollte deshalb zur Vorstellung vom religiösen ›Raum‹ erweitert werden. Doch was ist mit dieser metaphorischen Neuausrichtung vom ›Feld‹ zum ›Raum‹ für den Umgang mit dem definitionspolitischen Dilemma, das in dieser Arbeit konstatiert wurde, gewonnen? Diese Frage soll nun im Anschluss an Überlegungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde erörtert werden, der Mitte der 1970er Jahre in seiner Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits Perspektiven für den Umgang mit dem Recht auf Religionsfreiheit auf den verschiedenen Ebenen von Staat und Gesellschaft eröffnet hat, die in die skizzierte Richtung weisen und das aufgezeigte Dilemma entschärfen könnten.24
23 Vgl. das Zitat Meisners oben in Kapitel 4, Fn. 23. 24 Vgl. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?.
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Zunächst zu dem Konfliktfall: 1973 hatte das Bundesverfassungsgericht einen ersten ›Kruzifixstreit‹ zu entscheiden. Es ging um die Verfassungsbeschwerde eines jüdischen Rechtsanwalts, der sich durch die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kruzifixen in seinen religiösen Freiheitsrechten verletzt sah. Die Karlsruher Richter entschieden damals: Der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, kann das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzen.25
Das war – wie das »kann« im Hauptsatz andeutet – keine Grundsatzentscheidung in dem Sinne, dass das Bundesverfassungsgericht die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kruzifixen prinzipiell für verfassungswidrig (weil gegen die staatliche Neutralitätsverpflichtung verstoßend) erklärt und folglich untersagt hätte. Allerdings hielten die Richter des Ersten Senats, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, im konkreten Fall eine Grundrechtsverletzung für möglich und gaben also dem Anspruch des Anwalts statt, ihm (durch zumindest temporäres Entfernen des Kruzifixes) zu ermöglichen, in einem Gerichtsaal zu verhandeln, der nicht mit diesem »von alters her als symbolischer Inbegriff des christlichen Glaubens« geltenden »Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi« ausgestattet ist.26 Die Konfliktkonstellation ist auf den ersten Blick analog zu der aus dem Konflikt um die Schulkreuze, der gut zwanzig Jahre später die Republik beschäftigte: Hier das Kreuz bzw. Kruzifix im Gerichtssaal – dort in der Schule; hier ein Vertreter einer religiösen Minderheit, der sich durch das Kreuz in seiner negativen Religionsfreiheit verletzt fühlte – dort die Vertreter einer weltanschaulichen Minderheit, die sich in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt fühlten. Böckenfördes Auseinandersetzung mit dem Urteil über die Kruzifixe in Gerichtssälen liegt zeitlich weit vor allen Konflikten um Religion in der Schule, die hier untersucht wurden. Und doch können wir von seinen Überlegungen profitieren. Denn Böckenförde beschäftigte sich 1975 bereits mit der Frage, ob das, was die Karlsruher Richter für die Gerichtssäle entschieden hatten, zwingend auch für andere staatlich beaufsichtigte und verwaltete soziale Räume zu gelten habe. Wie, so fragte er, kann der Grundsatz staatlicher Neutralität auf den verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns zur Geltung gebracht werden? Hat das, was für die staatliche Gerichtsbarkeit gilt, zwingend auch Geltung für die Schule, die zwar unter staatliche Aufsicht gestellt, aber doch auf einer Ebene zwischen 25 So der Leitsatz aus: BVerfG 1 BvR 308/69, Beschluß vom 17. 7. 1973; zum Fall vgl. auch oben Kapitel 4, Fn. 79. 26 BVerfG 1 BvR 308/69, Beschluß vom 17. 7. 1973, 25.
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Staat und Gesellschaft angesiedelt ist? Folgt also aus der Neutralitätsverpflichtung des Staates, dass der Religionsfreiheit in sämtlichen öffentlichen Räumen, die staatlicher Aufsicht unterstellt sind, identische Grenzen zu setzen sind?27 Böckenförde nahm die Karlsruher Entscheidung des Jahres 1973 also zum Anlass, die Frage der Zulässigkeit religiöser Bezüge in staatlichen bzw. staatlich verwalteten sozialen Räumen losgelöst vom konkreten Streitfall grundsätzlich zu erörtern. Und in seiner Antwort weist er einen Weg zu einer möglichen Form des Umgangs mit Rechtskonflikten um Religion, der zwar aus dem Dilemma, das im Spannungsfeld von Säkularität und Religionsfreiheit entsteht, nicht herausführt, aber doch eine Perspektive eröffnet, in der weder die positiven religiösen Freiheitsrechte dem Säkularitätsprinzip geopfert noch neutrale öffentliche Räume religiös überwältigt werden. Der Kern seiner Argumentation liegt in seiner Mahnung zur Differenzierung, und zwar zur Differenzierung verschiedener sozialer Ebenen bzw. Funktionsund Organisationsbereiche staatlichen Handelns, in denen sich angesichts religiöser Lebensführungsansprüche Regulierungsbedarf ergibt. So verwirft Böckenförde religionspolitische und -rechtliche Ansätze, die darauf zielen, das Neutralitätsprinzip auf sämtlichen Ebenen gleichförmig umzusetzen, und wirbt stattdessen dafür, die soziale Differenzierung auch bei der Umsetzung des Neutralitätsprinzips zu respektieren: »Neutralität als Rechtsbegriff«, so schreibt er, »kann […] nicht losgelöst von dem Bereich, dem gegenüber Neutralität gefordert ist […], bestimmt werden.«28 Dies ist deshalb nicht möglich, weil das Neutralitätsprinzip Böckenförde zufolge kein Selbstzweck ist, sondern der Freiheitsentfaltung dienen soll: Staatliche Instanzen sind danach zur Neutralität verpflichtet, damit sich alle (ungeachtet ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindungen, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung etc.) gleichermaßen frei entfalten können. Daraus ergibt sich nun für Böckenförde, dass das Prinzip der Neutralität nicht uniform umgesetzt werden kann. Um seinem Grundsinn – der Absicherung der Freiheits- und Gleichheitsordnung – gerecht zu werden, muss es vielmehr flexibel gehandhabt werden, und das heißt: Die Ausgestaltung des Neutralitätsprinzips hat sich an der Struktur des jeweiligen Lebensbereichs zu orientieren, in dem es zur Geltung gebracht werden soll. Damit ist der Neutralitätsgrundsatz jedoch nicht der Beliebigkeit preisgegeben: Zwar lässt sich, folgt man Böckenförde, der
27 Dass der Neutralitätsgrundsatz (obwohl der Begriff ›Neutralität‹ selbst im Grundgesetz keine Erwähnung findet) den Rang eines »objektiven Verfassungsprinzip[s]« genießt, ist für Böckenförde unstrittig; vgl. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, 128 – 138, hier v. a. 129. 28 Ebd., 129 [Hervorhebung im Original].
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Inhalt der religiös-weltanschaulichen Neutralität […] nicht aus einer Legaldefinition der Verfassung oder einer einhellig anerkannten wissenschaftlichen Lehrmeinung gewinnen. Der Begriff Neutralität ist aus sich zwar nicht inhaltsleer, aber doch mehrdeutig; er bringt ein bestimmtes Beziehungsverhältnis zum Ausdruck, bestimmt aber den Inhalt dieses Beziehungsverhältnisses nur vage und nicht schon eindeutig. Je nachdem, gegenüber welchen Ansprüchen, Zielvorstellungen, Sachbereichen von Neutralität gesprochen, sie gefordert oder geltendgemacht wird, verbinden sich im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch mit dem Begriff unterschiedliche Vorstellungen und normative Intentionen.29
Mit anderen Worten: Das Verfassungsprinzip Neutralität ist ein relatives Prinzip. Es ist relativ in dem Sinne, dass seine Bedeutung sich nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf konkrete soziale Orte entfalten lässt. Die Relativität des Neutralitätsprinzips zu betonen heißt nun aber nicht, seine Ausgestaltung dem Gutdünken der jeweiligen politischen Verantwortungsträger oder der staatlichen Verwaltung zu überlassen. Das macht Böckenförde deutlich, indem er zwei Grundmodelle für die Verwirklichung des Neutralitätsprinzips in staatlichen oder staatlich verwalteten Räumen vorstellt:30 Das erste Modell, das Böckenförde als »distanzierende Neutralität«31 bezeichnet, fordert einen strikten Ausschluss jedweder religiöser oder anderer weltanschaulicher Bezüge. Danach darf sich der Staat nicht mit religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen identifizieren, beansprucht aber auch seinerseits keinerlei Regelungskompetenz in religiösen Fragen. Er ergreift nicht Partei, weder für die eine oder die andere Religion oder Konfession, noch gegen Religion allgemein oder gegen eine bestimmte Religion. Anders als in diesem ersten Modell, in dem der positiven Religionsfreiheit eher enge Grenzen gesetzt sind und im Konfliktfall dem negativen Freiheitsrecht Vorrang zu gewähren wäre, öffnet das zweite Modell der positiven Religionsfreiheit größere Freiheitsräume. Böckenförde spricht hier von dem Modell der »offene[n]«, »übergreifende[n] Neutralität«, deren Kern darin liege, daß Religion und Weltanschauung, wiewohl ohne Teilhabe am Allgemeinen des Staates, doch als Ausdruck der Besonderheit und Eigenart der Bürger, als tragende Lebensmächte für die Bürger, anerkannt und demgemäß in ihrer Entfaltungsfreiheit geschützt sind.32
Dieses zweite Modell basiert auf der Einsicht in die
29 Ebd. [Hervorhebung im Original]. 30 Vgl. dazu bereits ganz knapp und mit anderem Fokus oben Kapitel 3.1; auch: ders., Der säkularisierte, religionsneutrale Staat als sittliche Idee, 86 f. 31 Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, 130 [Hervorhebung im Original]. 32 Ebd., 131 [Hervorhebung im Original].
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Schluss
Notwendigkeit, innerhalb des Staates die Möglichkeit offen zu halten, daß sich Religion und Weltanschauung oder genauer : die Bürger in ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung (oder Nichtüberzeugung) frei entfalten können.33
Dass diese beiden Grundmodelle zur Ausgestaltung des Neutralitätsprinzips sehr unterschiedliche praktische Konsequenzen haben können, liegt auf der Hand. Es ist deshalb nach Böckenförde die entscheidende Frage, in welchen Bereichen staatlicher oder staatlich getragener Tätigkeit die eine oder andere Erscheinungsform [der Neutralität, AR] zu gelten hat, damit der aufgezeigte Grundsinn religiös-weltanschaulicher Neutralität sich verwirklicht.34
Diese Frage muss in jedem einzelnen Konflikt mit Blick auf den jeweiligen sozialen Ort, an dem religiöse Lebensführungsansprüche gestellt werden (oder unterbunden werden sollen), neu beantwortet werden. So ist, wie Böckenförde mit Blick auf den Karlsruher Streitfall des Jahres 1973 ausführt, der Bereich der Rechtspflege (wie auch jener der Gesetzgebung) ein Bereich, in dem »ursprüngliche staatliche Hoheitsfunktionen […] ausgeübt werden«;35 wir haben es also hier zu tun mit einem »Teil staatlicher Öffentlichkeit, in der sich die staatliche Rechtspflege als eine Kernfunktion des Staates vollzieht und darstellt.«36 Anders hingegen sei die Situation dort, »wo der Staat bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in seine Obhut nimmt, sie mehr oder minder seiner Leitung unterstellt«,37 diese Bereiche aber doch andererseits zugleich auch Orte der Gesellschaft bleiben, wie es etwa für das öffentliche Schulwesen gelte. Denn die Schule ist für Böckenförde kein rein staatlicher Raum, sondern ein »soziale[s] Gebilde« hybrider Art, eine Institution, die zwar staatlich geleitet und verwaltet wird, »deren ›Mitglieder‹ jedoch nicht als Rollenträger in die staatliche Ämterorganisation einbezogen sind, sondern Zivilpersonen, Bürger, bleiben«.38 Ähnlich wie für Balibar, dessen Definition der Schule als »Übergangsort« zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bereits zitiert wurde,39 so ist die Schule also auch für Böckenförde ein Ort, an dem sich Staat und Gesellschaft begegnen. Das aber heißt: »Selbstdarstellung ist […] hier nicht nur als staatliche möglich und zulässig, sondern auch als Selbstdarstellung aus
33 34 35 36 37 38 39
Ebd. Ebd. Ebd., 127. Ebd., 123. Ebd., 127; ähnlich auch 134. Ebd., 127 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Fn. 22 oben.
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Vom religiösen Feld zum religiösen Raum
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gesellschaftlicher und bürgerlicher Freiheit«.40 Daraus ergibt sich für Böckenförde, dass die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen eine andere Sache ist […] als etwa die Ausstattung von Klassenräumen in staatlichen Schulen […] mit Kreuzen (Kruzifixen).41
Im Bereich der Rechtsprechung sei daher die Neutralität als »distanzierende, auf Nichtidentifikation beruhende Neutralität« zu entfalten, während in der Schule das für religiöse Bezüge offene Modell »übergreifende[r] Neutralität« zur Geltung zu bringen sei.42 Halten wir also fest: Um den Grundsinn der staatlichen Neutralitätsverpflichtung zu verwirklichen, der in der »Verbürgung freier Entfaltung« aller Gesellschaftsmitglieder besteht, muss die Ausgestaltung des Neutralitätsprinzips auf die verschiedenen Ebenen in der sozialen Welt bezogen sein. Damit schließt sich, wenn man so will, der Kreis zu den im Anschluss an Bourdieu angestellten Überlegungen, die gängige Vorstellung vom religiösen Feld zur Vorstellung vom religiösen Raum zu erweitern und entsprechend auch die Arbeiten an den Grenzen der Religion als Grenzarbeiten in einem sozialen Raum zu begreifen, der sowohl horizontal als auch vertikal vielfältig differenziert ist und in dem die verschiedenen Lebens- und Organisationsbereiche gleichsam als soziale Ebenen übereinander liegen. In dieser Perspektive zeichnen sich dann auch neue Wege des Umgangs mit den Konflikten um die (Grenzen der) Religionsfreiheit ab: Geht man von einem Sozialraummodell aus, nach dem das Soziale ein in sich vielfach gegliederter Raum unterschiedlicher und unterschiedlich miteinander verknüpfter Praxis- und Organisationsformen ist, so ist von einer strikt formalistischen und entsprechend uniformen Durchsetzung des Neutralitätsprinzips in sämtlichen staatlich kontrollierten sozialen Teilräumen abzusehen. Vielmehr ist der Neutralitätsgrundsatz dann abhängig vom jeweiligen sozialen Ort zu entfalten. Für diese situations- bzw. ortspezifische Ausgestaltung der staatlichen Neutralitätsverpflichtung spricht nicht zuletzt, dass das Neutralitätsprinzip in der Verfassungsordnung kein Selbstzweck ist, sondern – in den Worten Böckenfördes – ein ›Wagnis um der Freiheit willen‹43 und also im Dienst der Freiheit, auch der religiösen Freiheit, stehen sollte.
40 41 42 43
Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, 127. Ebd., 128. Ebd., 131. Vgl. zum Bezugszitat Fn. 6 oben.
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Schluss
Das performative Potential des Rechts auf Religionsfreiheit Die Unterscheidung von »distanzierender« und »offener« Neutralität, die Böckenförde 1975 vorgenommen hat, eröffnet eine Perspektive für den Umgang mit dem Dilemma der Religionsfreiheit: Die Neutralitätsverpflichtung des Staates ist, folgt man Böckenförde, keine rein formale Verpflichtung. Da sie unmittelbar mit dem Freiheitsversprechen verknüpft ist, ist sie in einer (Religions-)Freiheit ermöglichenden Weise umzusetzen. Das Neutralitätsprinzip in diesem Sinne zur Geltung zu bringen, verlangt deshalb eine gründliche Kenntnis des sozialen Gefüges, in dem Freiheit (und zwar allen Beteiligten gleichermaßen) ermöglicht werden soll. So kann in einem Bereich, etwa im staatlichen Rechtswesen, distanzierende Neutralität gefordert sein, um Freiheit zu ermöglichen; in anderen Bereichen hingegen, wie zum Beispiel in der Schule, kann es geboten sein, das Neutralitätsprinzip offen auszugestalten, um das Freiheitsversprechen einzulösen. Der Staat wahrt damit das Neutralitätsgebot gerade dadurch, dass er als religionspolitischer Akteur möglichst zurückhaltend auf dem weltanschaulich-religiösen Feld operiert. Dem skizzierten Dilemma, dass er die Freiheit der Religion nur gewährleisten kann, wenn er sie zugleich begrenzt, kann er damit zwar nicht entkommen; doch können die Konsequenzen des Dilemmas so möglicherweise abgefedert werden. Nun lässt sich mit Blick auf die Frage nach einem der säkularen Freiheitsordnung angemessenen Umgang mit dem Dilemma noch in anderer Hinsicht an Überlegungen Ernst-Wolfgang Böckenfördes anschließen: So legt eine Relektüre seines berühmten, oben in extenso zitierten ›Diktums‹, nach dem der »freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann«,44 die Vorstellung nahe, dass das Modell offener, (Religions-) Freiheit ermöglichender Neutralität des Staates dazu führen kann, dass Glaubende den Verfassungsstaat nicht trotz, sondern gerade wegen und in seiner Säkularität anerkennen. Jahrzehntelang herrschte breite Einigkeit darüber, wie dieses ›Diktum‹ zu verstehen sei. So legten sich nicht nur die Befürworter des religionskulturellen und religionsrechtlichen Status quo der ›alten‹ Bundesrepublik, sondern auch dessen Kritiker auf eine gleichsam ›substantialistische‹ Deutung der »Voraussetzungen«, von denen die säkularisierte Freiheitsordnung Böckenförde zufolge lebt, fest: Böckenförde, so hieß es (teils mehr oder minder emphatisch zustimmend, teils mehr oder minder empört ablehnend, aber stets in großer Eintracht), weise der Religion (und maßgeblich dem Christentum) die für das Gemeinwesen herausragende Aufgabe zu, das ›Wertereservoir‹ zur Verfügung zu stellen und zu pflegen, auf das der freiheitliche, säkularisierte Staat unabdingbar 44 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112; vgl. oben Fn. 4 und folgende.
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Das performative Potential des Rechts
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angewiesen bleibe. Die Kirchen rückten in dieser Lesart gleichsam in die Rolle von »Bundeswerteagenturen«45 ein, und diese Rollenzuweisung haben sie lange gern angenommen und sich nur mühsam von ihr distanziert.46 In der Diskussion um Böckenfördes ›Diktum‹ ist vielfach verkannt worden, dass diese substantialistische Lesart nicht nur von kirchenkonservativen Kreisen verfochten, sondern auch von der religionspolitischen Gegenseite vertreten wird, die vehement gegen die Stabilisierung eines wie auch immer gearteten religionsrechtlichen Sonderstatus der Kirchen zu Felde zieht.47 Denn die Gegner des staatskirchenrechtlichen Status quo sprechen zwar einerseits den Kirchen die Legitimation und die Befähigung ab, jene ›Werte‹ zu stiften, derer der freiheitliche, säkularisierte Staat vermeintlich bedarf; doch stellen sie andererseits nicht in Frage, dass die Freiheitsordnung auf ein solches Fundament angewiesen ist und bleibt. Entsprechend halten sie Ausschau nach Substituten; so setzen sie dem kulturchristlichen ›Wertefundamentalismus‹ einen liberal-humanistischen ›Wertefundamentalismus‹ entgegen.48 Dieses ›Wertefundament‹ wird von ihnen dabei in der Regel mit dem Grundgesetz in Verbindung gebracht, das ihres Erachtens in der Lage ist, den überkommenen, nicht mehr tragfähigen kulturchristlichen Konsens liberal-demokratisch zu beerben. Mit dieser Vorstellung können sie sich durchaus auf höchste verfassungsrechtliche Autoritäten berufen. Denn den Weg dahin hat das Bundesverfassungsgericht selbst vorgezeichnet: In einer nach dem Kläger Erich Lüth gemeinhin als ›Lüth-Urteil‹ bezeichneten Entscheidung, die breites Aufsehen erregte, hatten die Karlsruher Richter 1958 festgestellt, dass das Grundgesetz »keine wertneutrale Ordnung« sei, sondern »in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet« habe.49 Seither hat sich die Vorstellung etabliert, das Grundgesetz 45 So Heinig, Ordnung der Freiheit, 253. 46 Vgl. ebd. Auch kirchenintern wächst der Widerstand gegen diese Rollenzuweisung; so erklärte Wolfgang Huber als EKD-Ratsvorsitzender im Herbst 2006, die Kirche sei keine »Bundesagentur für Werte« (FAZ, 6. 11. 2006). 47 Vgl. aber aufschlussreich: Reiß, Homogenität oder Demokratie als »einigendes Band«?. 48 Ohne dies in diesem Zusammenhang weiter verfolgen zu können, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die gängige Deutung des ›Diktums‹ sich mit einem spezifischen Verständnis des Rechts auf Religionsfreiheit verbindet: Das Recht auf Religionsfreiheit wird in dieser Perspektive als Förderinstrument des Staates für diejenigen Religionen angesehen, die sozialmoralisch ›abgeschöpft‹ werden können. Die grundrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit zielt dann aber nicht auf die Religion, sondern auf den Staat als Nutznießer ; mit anderen Worten: Das eigentliche ›Schutzgut‹ ist die staatliche Ordnung, nicht die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, sich religiös zu binden und ihre Lebensführung an dieser Bindung zu orientieren (oder eben dies nicht zu tun). 49 BVerfG 1 BvR 400/51, Urteil vom 15. 1. 1958, 205. Aufsehen erregte dieser Fall auch deshalb, weil er in die damals noch junge NS-Vergangenheit zurückreichte: Der Leiter der staatlichen Pressestelle Hamburg, Erich Lüth, hatte zum Boykott eines Films von Veit Harlan (dem Regisseur von ›Jud Süß‹) aufgerufen. Seine Verurteilung durch das Hamburger Landgericht, das ihn zur Unterlassung des nach Auffassung des Gerichts sittenwidrigen Boykottaufrufs
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Schluss
sei nicht nur eine Verfassungsordnung, sondern zugleich auch das ›Wertefundament‹ staatlichen Handelns und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland. Ernst-Wolfgang Böckenförde gehörte zu den engagierten Kritikern des LüthUrteils. Schon in den 1960er Jahren mahnte er, »dieser Rekurs auf die ›Werte‹« sei »ein höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz« für den Rekurs auf religiöse Wertbindungen, denn er öffne »dem Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen das Feld«, die, »je für sich objektive Geltung verlangend, die Freiheit eher zerstören als fundieren.«50 Und noch Ende der 1980er Jahre warnte er, dass die »Wertbegründung des Rechts« dieses »auf ein schwankendes Element« gründe, nämlich den zeitigen Wertkonsens, der gerade in einer pluralistischen Gesellschaft häufigen Veränderungen unterliegt und in sich keine Richtigkeitsgewähr bietet. […] Damit huldigt sie dem Positivismus der Tageswertungen. Diesem gegenüber vermag sie kein Rechtsprinzip aufrechtzuerhalten, wenn es vom aktuellen Konsens nicht mehr getragen wird. Sie vertraut lediglich darauf, daß dies nicht geschieht.51
Wiederum knapp zwanzig Jahre später, in einem Vortrag in der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung, wies Böckenförde erneut auf die Gefahren der Ineinssetzung von Rechten und Werten hin und warnte vor einem neuen »Wertordnungsfundamentalismus«, der das Freiheitsprinzip in seinem Kern beeinträchtige, da er von den Bürgerinnen und Bürgern ein »Bekenntnis, die Bekundung einer bestimmten Gesinnung« und also weit mehr als »das loyale Befolgen der bestehenden Gesetze« verlange.52 Doch was folgt daraus für die Interpretation seines eigenen ›Diktums‹, das Böckenförde in der Münchner Rede aus einer Distanz von vier Jahrzehnten einer Relektüre unterzog? Läuft die Kritik am »Wertordnungsfundamentalismus« nicht den Kernaussagen seines ›Diktums‹ zuwider? Rufen wir noch einmal in Erinnerung, was Böckenförde im Anschluss an den so oft zitierten Satz von den verpflichtete, hob das Bundesverfassungsgericht auf. In seiner Entscheidung spricht das Karlsruher Gericht den Grundrechten, die in erster Linie als Abwehrrechte der Staatsbürger gegen den Staat definiert werden, eine so genannte ›mittelbare Drittwirkung‹ zu. Da die Grundrechte eine »objektive Wertordnung« begründeten, sei den mit ihnen gesetzten Wertmaßstäben auch in den rechtmäßigen Beziehungen der Staatsbürger untereinander Rechnung zu tragen. Zur immensen Bedeutung des Urteils für die Grundrechtssensibilisierung vgl. zustimmend: Grimm, Die Verfassung und die Politik, 202 – 204, 307 – 311. 50 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112. Rechtsphilosophisch breit entfaltet und ausgeführt wird diese Kritik in einem Vortrag Ende der 1980er Jahre: ders., Wertbegründung des Rechts [zuerst 1990 veröffentlicht]; explizit zum ›Lüth-Urteil‹ ebd., 87 f. Auf die dahinterliegende Kritik Carl Schmitts an der Werttheorie des Rechts (Schmitt, Tyrannei der Werte) kann hier nicht eingegangen werden; siehe aber zur Kritik der Schmitt-Schule an der Werttheorie des Rechts die kürzlich vorgelegte Arbeit über den Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff von: Meinel, Der Jurist, 410 – 425, besonders 420. 51 Böckenförde, Wertbegründung des Rechts, 90. 52 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 29 und 30.
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»Voraussetzungen, die er [der Staat, AR] selbst nicht garantieren kann«, ausführte. Böckenförde schrieb: »Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen eingegangen ist.« Und weiter : Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat. Die […] Proklamierung eines ›objektiven Wertsystems‹ heb[t] gerade jene Entzweiung auf, aus der sich die staatliche Freiheit konstituiert.53
Gegen den Rekurs auf eine »objektive Wertordnung« spricht also, wie Böckenförde schon in den 1960er Jahren ausführte, dass mit ihr das Konstitutionsprinzip der Freiheitsordnung – die »Entzweiung« – aufgegeben wird. Unter »Entzweiung« verstand er hier, ohne das an dieser Stelle explizit zu machen, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Religion, Staat und Kirche usw., so wie sie von Hegel idealtypisch formuliert und von Böckenfördes Lehrer Joachim Ritter als konstitutiv für die Moderne ausgewiesen wurde.54 Werte zu generieren ist danach, folgt man Böckenförde, Sache der Gesellschaft, keinesfalls des Staates. Letzterem obliegt es, Gesetze zu erlassen und über die Einhaltung der Rechtsordnung zu wachen; keinesfalls aber kann er von seinen Bürgerinnen und Bürgern eine darüber hinaus gehende sittlich-moralische Bindung an diese Rechtsordnung als Ausdruck einer ›objektiven Wertordnung‹ verlangen. Dass der Staat dennoch dieser Wertbindungen, die in der Gesellschaft hervorgebracht werden, als seines Fundaments bedarf, dass also die freiheitliche Verfassungsordnung letztlich nur Bestand haben wird, wenn sie sich zumindest auf ein Minimum an sittlich-moralischer Zustimmung seitens der Bürgerinnen und Bürger stützen kann – eben dies ist das Paradox des säkularisierten, freiheitlichen Staates, das Böckenförde in seinem ›Diktum‹ auf den Punkt bringt. Wenn es nun aber nicht die ›Wertordnung‹ an sich ist, die den Bestand der freiheitlichen, säkularisierten Staatsordnung garantiert – was ist es dann? Neben 53 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112 f. Zum intellektuellen Entstehungskontext des ›Diktums‹ vgl. Große Kracht, Unterwegs zum Staat. 54 Vgl. den zuerst 1956 erschienenen Beitrag von: Ritter, Hegel und die französische Revolution, dort besonders 213 – 233, sowie Böckenfördes auf einen Vortrag von 1981 zurückgehenden Beitrag: Staat und Religion bei Hegel; in dem biographischen Interview mit Dieter Gosewinkel erwähnt Böckenförde, er habe im ›Collegium Philosophicum‹ Joachim Ritters in Münster »selbst […] mal etwas vorgetragen über die Entstehung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als geschichtlicher Vorgang« (Böckenförde/Gosewinkel, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 351).
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der »moralischen Substanz des einzelnen« nennt Böckenförde den »religiöse[n] Glaube[n] seiner Bürger« und nicht zuletzt: »die »Homogenität der Gesellschaft«.55 Nun ist das Unterfangen, die staatliche Freiheitsordnung auf die »Homogenität der Gesellschaft« zu stützen, sicher nicht weniger ideologieanfällig als der von Böckenförde vehement zurückgewiesene Versuch, die Freiheitlichkeit auf eine »objektive Wertordnung« zu gründen. Gleichwohl hielt Böckenförde am Begriff der »Homogenität der Gesellschaft« fest und verteidigte ihn auch noch in der schon erwähnten Rede in der Münchner Siemens Stiftung 2006. Dort verwies er im Zusammenhang mit der Frage, wie der freiheitliche säkularisierte Staat »das Maß an vor-rechtlicher Gemeinsamkeit und tragendem Ethos, das für ein gedeihliches Zusammenleben in einer freiheitlichen Ordnung unerläßlich ist«, gewinnen und erhalten könne,56 erneut auf den »umstrittenen, aber darum noch nicht falschen Begriff relative Homogenität«.57 Dabei suchte Böckenförde jedoch, wie schon das Attribut ›relativ‹ anzeigt (das sich in dem Aufsatz aus den 1960er Jahren nicht findet), das problematische Homogenitätsprinzip vor substantialistischen Ausdeutungen, etwa im Sinne einer exklusiv christlichen ›Leitkultur‹, in Schutz zu nehmen. Dies gelang ihm allerdings nur bedingt: Denn er wandte sich zwar einerseits gegen kulturchristliche Homogenitätserwartungen,58 hoffte aber doch andererseits auf »ein bestimmtes WirGefühl«,59 an das die Rechts- und Verfassungsordnung anknüpfen könne. So erläuterte Böckenförde in München: Der Weg zur Lösung liegt […] in der Stabilisierung einer offenen säkularen Freiheitsordnung. Dazu bedarf es freiheitsbezogener, aber auch freiheitsbegrenzender Gesetze, deren Einhaltung und Beobachtung dann strikt durchgesetzt wird. […] Solche freiheitsbezogenen Gesetze, werden sie konsequent und unparteiisch angewandt, vermögen eine neue Art von einigendem Band über einer pluralen, teilweise auseinanderstrebenden kulturellen Wirklichkeit hervorzubringen: die Gemeinsamkeit des Lebens in und unter einer vernunftgetragenen gesetzlichen Ordnung, die unverbrüchlich ist. […] Geht der Staat in dieser Weise vor, schafft er eine Art von Gemeinsamkeit, die Pluralität und partielle Heterogenität zu übergreifen vermag: Das gemeinsame Leben unter freiheitsbezogenen Gesetzen […]. Anstelle von ausgreifenden Wertbekenntnissen wird Gesetzesloyalität zur Grundlage des gemeinsamen Zu-
55 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112 und 113. Zu dieser dreifachen Bestimmung der Voraussetzungen, von denen der Verfassungsstaat lebt, vgl. prägnant: Reiß, Homogenität oder Demokratie als »einigendes Band«?, 206 – 208. 56 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 24. 57 Ebd., 25. 58 So warnte er ausdrücklich davor, das Recht auf Religionsfreiheit unter einen »Kulturvorbehalt« zu stellen (ebd., 34). 59 Ebd., 25.
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sammenlebens. Das zugehörige Ethos der Gesetzlichkeit vermag eine solche Ordnung mitzutragen und zu stabilisieren.60
Die sozialmoralische Integrationsgrundlage der Freiheitsordnung liegt danach nicht in der Zustimmung zu ›objektiven Werten‹ (seien diese nun christlicher oder liberal-humanistischer Provenienz), sondern in der Zustimmung zur Bindung aller an die Rechts- und Verfassungsordnung. Nun könnte man diesen Weg, den Böckenförde hier zu beschreiten versucht, um den Kerngehalt seines ›Diktums‹ auch unter den gewandelten religionskulturellen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu bewahren, lediglich für eine neue Beschreibung alter Probleme halten: Lassen sich die Probleme, die sich mit dem Verweis auf die erforderliche (relative) »Homogenität« der Gesellschaft stellen, umgehen, wenn stattdessen von einem »Ethos der Gesetzlichkeit« gesprochen und dieses zur stabilisierenden Grundlage der Freiheitsordnung erhoben wird? Woher soll dieses »Ethos der Gesetzlichkeit« kommen, wenn sich die »Homogenität« der Gesellschaft zugunsten einer Pluralität religionskultureller und sozialmoralischer Milieus und Lebensstile verflüchtigt hat? Lösungswege für diese Problematik könnten sich dann eröffnen, wenn die Frage anders gestellt wird: Statt nach dem ›Woher?‹ (Woher soll das »Ethos der Gesetzlichkeit« kommen?) wäre nach dem ›Wie?‹ (Wie wird das »Ethos der Gesetzlichkeit« hervorgebracht?) zu fragen. An die Stelle einer vergegenständlichten, ›substantialistischen‹ Definition des »Ethos der Gesetzlichkeit« könnte dann eine prozeduralistische Bestimmung treten. Wie dies aussehen könnte, soll im Folgenden knapp skizziert werden. Zugleich soll damit auch der Blick für das sozialund religionskulturell performative Potential des (Religions-)Rechts geschärft und so eine Perspektive für den Umgang mit Rechtskonflikten um Religion erschlossen werden. Den Ausgangspunkt für diese Überlegungen bildet die Kritik, die Jürgen Habermas Anfang 2004 im Kontext seines Gesprächs mit dem damaligen Kardinal Josef Ratzinger in der Münchner Katholischen Akademie61 an Böckenfördes These geübt hat. Habermas machte in dem Gespräch deutlich, dass er 60 Ebd., 35 f. Böckenförde nimmt hier ausdrücklich Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Konflikt um den Antrag der Zeugen Jehovas auf Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts im Land Berlin (vgl. BVerfG 2 BvR 1500/97, Urteil vom 19. 12. 2000). Die Karlsruher Richter stellten darin fest, den Zeugen Jehovas könne der Körperschaftsstatus nicht unter Verweis auf einen (vermeintlichen) Loyalitätsmangel gegenüber dem Staat verweigert werden. Zwar müsse eine Religionsgemeinschaft, die den Körperschaftsstatus beanspruche, »rechtstreu« sein (ebd., 390), wobei »nicht jeder einzelne Verstoß gegen Recht und Gesetz die Gewähr rechtstreuen Verhaltens in Frage« stelle (391). Eine »Loyalität zum Staat« zu verlangen sei aber »zum Schutz der verfassungsrechtlichen Grundwerte nicht notwendig und mit ihnen im übrigen auch nicht vereinbar« (395). 61 Vgl. die Dokumentation dieses Gesprächs: Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung.
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anders als Böckenförde sehr wohl davon ausgeht, dass der freiheitliche Staat seinen Legitimationsbedarf selbstgenügsam, also aus den kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationshaushaltes bestreiten kann.62
Um das zu zeigen, schlägt er allerdings einen anderen Pfad ein als die meisten anderen Kritiker Böckenfördes. Letztere lehnen es zwar (wie oben ausgeführt) ab, die Freiheitsordnung auf das sittliche Potential der Religionen zu gründen, rekurrieren aber ihrerseits auf allgemeine ›Werte‹ und bleiben damit eben jenem substantialistischen Ansatz verhaftet, den sie Böckenförde kritisch unterstellen. Habermas beschreitet demgegenüber einen ganz anderen Weg. Im demokratischen Verfassungsstaat, so schreibt er, gebe es »kein Herrschaftssubjekt, das von einer vorrechtlichen Substanz zehrte«.63 Zwar bestreitet er nicht, dass die freiheitliche Gesellschaft auch aus »ethischen Lebensentwürfen und kulturellen Lebensformen« schöpfe.64 Aber, so fährt er fort, »demokratische Praktiken entfalten eine eigene politische Dynamik. Nur ein Rechtsstaat ohne Demokratie […] würde auf Böckenfördes Frage eine negative Antwort suggerieren.«65 Der demokratisch verfasste Rechtsstaat aber, so Habermas weiter, mobilisiere die Bürgerinnen und Bürger zur »Teilnahme […] am öffentlichen Streit über Themen, die alle gemeinsam betreffen. Das vermisste ›einigende Band‹«, so resümiert er, »ist ein demokratischer Prozess«.66 Aber muss Habermas’ prozeduralistische Umdeutung des ›einigenden Bandes‹ tatsächlich als Gegenposition zu Böckenförde verstanden werden, so wie Habermas selbst es in seinem Gespräch mit Ratzinger nahelegt? Eine andere Sicht auf die Dinge hat der Staatsrechtler Ulrich K. Preuß vorgeschlagen. Anlässlich des Kolloquiums zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises der Heinrich-Böll-Stiftung an Ernst-Wolfgang Böckenförde im Dezember 2004 in Bremen sprach Preuß über die »ungeheure Sogwirkung« des Böckenfördeschen ›Diktums‹ und ließ die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, die es eröffnet, Revue passieren. Böckenförde, so mahnte Preuß in Richtung der Kritiker, habe das Recht darauf, dass man ihn […] von der Unterstellung, die bei vielen immer mitschwingt, freispricht: Die Unterstellung, dass er im Grunde meint, dass der Verfassungsstaat […] nur funktioniert, wenn wir so etwas wie einen Wertekonsens haben,
62 63 64 65
Hier zitiert nach: Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 109. Ebd., 108. Ebd., 110. Ebd. An anderer Stelle schreibt Habermas, das demokratische Verfahren selbst sei »eine Methode zur Erzeugung von Legitimität durch Legalität« (ebd., 109). 66 Ebd., 110.
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Das performative Potential des Rechts
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und dass dieser Wertekonsens etwas ist, das wir gleichsam vorpolitisch voraussetzen müssen.67
Das aber, so Preuß weiter, sei »genau das, was der Satz von Herrn Böckenförde nicht sagt.«68 Diese Fehldeutung des ›Diktums‹, so behauptete Preuß, basiere auf einem Missverständnis der Rolle, die Böckenförde der Religion in diesem Zusammenhang zuweise. Wenn Böckenförde in der Schlusspassage seines Beitrags Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation 1967 schreibe, dass »auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt«,69 so sei Religion »hier nicht als gesellschaftliches Gebilde, das Gemeinschaft stiftet und einen Werte- und Gemeinschaftskonsens bildet, gemeint«. Angesprochen sei vielmehr das »individuelle Gewissen« des verantwortungsbewussten Staatsbürgers.70 Der Verweis auf die Religion sei an dieser Stelle mithin »etwas höchst Persönliches«71 – und jedenfalls kein Versuch, die Freiheitsordnung auf eine ›objektiv‹ vorfindbare (christliche) ›Wertordnung‹ zu gründen. Gegen die gängige Vorstellung, als wenn die vorpolitischen Voraussetzungen der Politik und die vorrechtlichen Voraussetzungen des Rechts etwas Statisches, Gegebenes oder auch PräExistentes sind, auf das der säkularisierte Staat keinen Zugriff hat,72
stellte Preuß im Anschluss an diese Überlegungen seine eigene Lesart des ›Diktums‹ vor, die dem prozeduralistischen Ansatz von Habermas nahe kommt.73 In Absetzung von der substantialistischen und letztlich statischen Vorstellung eines vorgängigen Wertereservoirs, aus dem die Freiheitsordnung sich speise, betonte auch Preuß das Prozessuale: Wir müssen uns diesen Prozess der Herbeiführung der Funktionsbedingungen des Verfassungsstaates viel dynamischer vorstellen. Es ist ein Prozess wechselseitiger Kreation und Inspiration.74
Der Staat ist danach keineswegs, wie es in der gängigen Deutung des Böckenförde-›Diktums‹ unterstellt wird, einseitig auf die Gesellschaft angewiesen, die ihm die Werte, derer er bedarf, zuführt. Vielmehr kann er das gesellschaftliche Leben auch seinerseits gestalten, indem er (rechtlich, politisch) Bedingungen 67 68 69 70 71 72 73
Zit. nach: Das Wagnis der Freiheit. Festschrift, III [Hervorhebung im Original]. Zit. nach: ebd. [Hervorhebung im Original]. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 113. Zit. nach: Das Wagnis der Freiheit. Festschrift, III. Ebd. Ebd., IV [Hervorhebungen im Original]. Preuß selbst allerdings meinte, dass sie »abweicht von der böckenfördischen und von allen anderen Deutungen ebenfalls« (ebd.). 74 Ebd.
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schafft, die der freiheitlichen Entfaltung der Individuen und Gruppen und damit der dynamischen Reproduktion von Wertbindungen dienen. Preuß hat diese Überlegungen nur ansatzweise weiter ausgeführt. Doch seine Formulierung, es sei ein »Prozess wechselseitiger Kreation und Inspiration«, der die Voraussetzungen hervorbringe, von denen der säkularisierte, freiheitliche Staat lebe, legt es nahe, das ›Schichtungsmodell‹, nach dem der Staat einseitig auf dem sittlichen Humus einer ›homogenen‹ Gesellschaft auflagert, durch die Vorstellung eines wechselseitigen dynamischen und prinzipiell unabgeschlossenen Vorgangs der Wertegenerierung zu ersetzen, der an Dichte und Intensität gewinnt, wenn um die freiheitliche Ordnung der Gesellschaft gestritten wird.75 Die Staat ist mithin, folgt man Preuß’ Deutung, keineswegs zur Passivität aufgefordert, wenn es um die Absicherung seiner normativen Bestandsvoraussetzungen geht; er ist vielmehr auch selbst ein Akteur in diesem Geschehen. In seinem Statement anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Böckenförde im Dezember 2004 zeigte sich Preuß überzeugt, dass der Staat »eine Menge von Möglichkeiten hat, sich das Individuum (das hört sich jetzt sehr missverständlich an) zu formen – denken Sie doch nur an die Schule!«76 Um Missdeutungen zu vermeiden, präzisierte Preuß sogleich, er wolle das »nicht so passiv im Sinne des ›Einwirkens‹ verstehen, aber doch als einen Prozess, in dem die Bürger, die die Träger dieser freiheitlichen Ordnung sind, ›heranerzogen‹ werden«.77 In seiner Replik auf Preuß’ Ausführungen machte Böckenförde deutlich, dass er Preuß’ Deutungsansatz seines ›Diktums‹ durchaus nicht als Gegenposition zu seiner eigenen Auffassung verstand, sondern als eine Lesart, die mit seiner eigenen durchaus korrelierte. Denn sein Satz von den Voraussetzungen der Freiheitsordnung, die der Staat nicht garantieren könne, sage ja nicht […] [,] der Staat kann dafür überhaupt nichts tun. Er sagt eher, der Staat kann das nicht garantieren […], aber er kann natürlich etwas fördern, er kann etwas stützen und schützen.78
So könne der Staat vorhandenen Kräften Freiheitsräume geben und damit die Bedingungen dafür schaffen, dass sich diese Kräfte entfalten können. Dabei bleibe er allerdings stets
75 Diese Vorstellung kommt den Überlegungen von Hans Joas nahe; vgl. Joas, Die Kreativität des Handelns; ders., Die Entstehung der Werte. 76 Zit. nach: Das Wagnis der Freiheit. Festschrift, IV. 77 Ebd. 78 Zit. nach: ebd., VIII. Ebenfalls ganz im Sinne Preuß’ verweist Böckenförde dann auf die Schule, der er in diesem Kontext eine bedeutende Rolle zuweist (ebd., IX).
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daran gebunden, dass sich da etwas von selbst herstellt und erneuert. Ich glaube, das deckt sich ja weitgehend mit der einen Deutung, die Herr Preuß – als seine eigene – gebracht hat.79
Böckenförde selbst öffnete sein ›Diktum‹ also hier für eine kreativ-prozessuale Lesart. Und diese Linie verfolgte er weiter, als er knapp zwei Jahre später, in der bereits mehrfach erwähnten Rede in der Münchner Siemens Stiftung im Oktober 2006, erneut auf seinen Beitrag von 1967 zurückkam. Zwar hielt er auch in München an dem »umstrittenen, aber darum noch nicht falschen Begriff relative Homogenität« fest, um das »einigende Band« zu bezeichnen, auf das die Freiheitsordnung bleibend angewiesen sei.80 Zugleich aber suchte er erneut das Missverständnis auszuräumen, damit werde der Staat auf eine vorgängige ›Wertordnung‹ gegründet.81 Der Staat, so wiederholte er, könne weder aus einem präexistenten ›Wertefundus‹ schöpfen noch die vitalen Reproduktionskräfte der Freiheitsordnung selbst garantieren.82 Allerdings bedeute dies nicht, ihn zur Passivität zu verurteilen. Denn sehr wohl könne er die kulturellen und auch die religiösen Quellen, aus denen die Freiheitlichkeit lebe, schützen und auch fördern und damit zur Bildung eines »Ethos der Gesetzlichkeit« beitragen.83 Böckenfördes Münchner Ausführungen öffnen sein ›Diktum‹ damit für eine kreativ-prozessuale Lesart: Danach lebt der freiheitliche, säkularisierte Staat nicht aus einer vorgängigen ›Wertesubstanz‹, über die er nicht verfügen und die er nicht garantieren kann. Vielmehr reproduziert er seine Freiheitlichkeit dynamisch: im Prozess gelebter Freiheit. Dass dieser Prozess tatsächlich auch jene sozialmoralischen Bindungen freisetzt, derer die freiheitliche Ordnung bedarf, kann er nicht garantieren. Aber er kann dazu beitragen, dass dieser Prozess in Gang kommt und in Gang bleibt, indem er Räume öffnet, in denen (durch die Erfahrung der Teilhabe am politischen Prozess und an der Gestaltung der Freiheitsordnung) das »Ethos der Gesetzlichkeit« gedeihen kann. Nicht der Wert der Freiheit, sondern die Erfahrung der Freiheit ist in dieser Perspektive die 79 Ebd., VIII. 80 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 25. 81 Wie vage die Rede von der ›Homogenität‹ der Gesellschaft dennoch bleibt, zeigen seine Äußerungen zu diesem Thema anlässlich der Entgegennahme des Hannah-Arendt-Preises 2004. Auch hier kam er »auf den Satz mit der Homogenität« zu sprechen: »Man kann das Wort«, so äußerte er, »ja kaum noch in den Mund nehmen. Ich habe – damals [in dem zuerst 1967 publizierten Beitrag Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation; AR] noch nicht, aber später – von relativer Homogenität gesprochen. Damit meine ich gewisse gemeinsame Grundauffassungen, die Ausdruck einer Zusammengehörigkeit sind […]. Also die Einigkeit über das Unabstimmbare – das würde ich sagen – zeigt das an« (zit. nach: Das Wagnis der Freiheit. Festschrift, VIIIf). Die Wendung »Einigkeit über das Unabstimmbare« stammt, wie Böckenförde anmerkt, von dem Weimarer Juristen und späteren sozialdemokratischen Politiker Adolf Arndt. 82 Vgl. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 24 ff. 83 Vgl. ebd., 26.
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Quelle, aus der heraus die freiheitliche Ordnung sich reproduziert. Der Staat kann diese Quelle nicht selbst hervorbringen. Doch er kann Bedingungen schaffen, die ihr günstig sind. Und dies tut er, indem er Räume öffnet und (grund)rechtlich schützt, in denen sich das soziale, kulturelle, religiöse Leben frei entfalten und also Freiheitlichkeit erfahren werden kann. Dass diese Freiheitsräume auch tatsächlich genutzt und dass sie zur Reproduktion der Freiheitsordnung genutzt und nicht etwa gegen diese gerichtet werden,84 vermag der Staat nicht zu garantieren. Seine Kompetenz beschränkt sich darauf, die Möglichkeit – oder vielmehr : die Bedingung der Möglichkeit – einer vitalen Freiheitskultur zu schaffen und zu erhalten. Und eben dies ist »das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist«.85 Die Freiheitsrechte, auch die religiösen Freiheitsrechte, sind in dieser Perspektive gewissermaßen ›Vehikel‹ der Freiheitsordnung, die sich erst in dem Maße sittlich fundiert, in dem sie – durch den Gebrauch der Freiheitsrechte – vollzogen wird. In diesem Sinne wohnt dem Recht ein performatives Potential inne: Die freiheitliche Rechts- und Verfassungsordnung bestätigt und reproduziert sich in ihrem Vollzug. Das stellt den freiheitlichen, säkularisierten Staat vor besondere Aufgaben: Statt sich zum Hüter ›objektiver Werte‹ zu machen, hat er dafür Sorge zu tragen, dass Werte und Wertbindungen im gesellschaftlichen, kulturellen und auch im religiösen Leben entstehen können. Die Verantwortlichkeit des Staates beschränkt sich dann konsequent auf den Bereich des Rechts. Das aber heißt, dass der Staat gewissermaßen in ›Vorleistung‹ gehen muss: Das Recht auf Freiheit und Gleichheit kann dann weder an ein vorgängiges Bekenntnis zu den ›Werten‹ Freiheit und Gleichheit geknüpft noch von der moralischen Qualität der Person, die es in Anspruch nimmt, von deren gesellschaftlichem Wohlverhalten oder von der zu erwartenden sozialmoralischen Integrationsleistung der Religionsgemeinschaft, der sie ggf. angehört, abhängig gemacht werden. Vielmehr muss der Verfassungsstaat darauf vertrauen, dass sich Zustimmung zu seiner Ordnung in dem Maße herstellt, in dem diese Ordnung als ›wertvoll‹ erfahren wird. Die Voraussetzungen, von denen er lebt,
84 An diesem Punkt lässt Böckenförde Zweifel im Hinblick auf Konflikte um den Islam durchaus zu, erinnert aber die Zweifler daran, dass auch die Katholiken den säkularisierten Staat erst in dem Maße anzuerkennen bereit waren, in dem sie seine Freiheitlichkeit selbst erfuhren (vgl. ebd., 38). Die Grundfrage, ob für den Islam eine »parallele Entwicklung […], wie sie namentlich in der katholischen Kirche stattgefunden hat, ohne Selbstaufgabe möglich erscheint«, bleibt bei Böckenförde letztlich offen. Jedoch unterstreicht er, keinesfalls dürfe der Staat einer religiösen Überzeugung »die Chance einräumen, unter Inanspruchnahme der Religionsfreiheit […] seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen und schließlich abzubauen« (ebd., 39). Und so mündet sein Münchner Vortrag in ein Plädoyer für das Recht auf »Selbstverteidigung des säkularisierten Staates« (ebd., 41). 85 Böckenförde, Die Entstehung des Staates, 112.
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sind damit überaus offen und fragil. Die Freiheits- und Gleichheitsordnung ist eine riskante Ordnung. Denn dieser Prozess kann scheitern: Religionen können den sozialmoralischen Konsens bestärken, sie können ihn aber auch gefährden. In religionskulturell unübersichtlichen Zeiten wie der Gegenwart, die sich durch einen Prozess religionskultureller Pluralisierung bei gleichzeitiger Säkularisierung auszeichnet, führt dieses ›Restrisiko‹ zu deutlich mehr Verunsicherung, als dies etwa in der recht überschaubaren religionskulturellen Landschaft der ›alten‹ Bundesrepublik der Fall war ; die vorangehend untersuchten Konflikte haben dies anschaulich illustriert. Dem säkularisierten Verfassungsstaat bleibt jedoch ›um der Freiheit willen‹ nichts anderes, als dieses Risiko, dieses ›Wagnis‹ einzugehen. Er muss, mit anderen Worten, auf das performative Potential der Freiheitsordnung vertrauen. Für den Umgang mit den Rechtskonflikten um die Religionsfreiheit, die in dieser Arbeit diskutiert wurden, und mit dem definitionspolitischen Dilemma, das in diesen Konflikten hervortrat, heißt das: Der Staat sollte – insofern die Freiheits- und Gleichheitsordnung, die er garantiert, davon zehrt, dass sie anerkannt wird – die Räume, in denen Freiheit und Gleichheit der Religion erfahrbar sind, nicht restriktiv begrenzen, sondern möglichst offen halten. Das aber bedeutet, die Offenheit der Grenzen des religiösen Feldes, die potentielle Mehrdeutigkeit religiös konnotierter Zeichen, Symbole, Bekleidungen sowie grundsätzlich die Deutungsoffenheit religiöser Sprache anzuerkennen. Es gilt, kurzum, anzuerkennen, dass Religion ein potentiell offenes soziales Feld »mit dynamischen Grenzen [ist], die ein im Feld selbst umkämpftes Interessenobjekt darstellen.«86 Das Grundgesetz gibt diesen Weg frei, indem es darauf verzichtet, Religion (und damit den Schutzbereich des Rechts auf Religionsfreiheit) näher zu bestimmen.87 Religion ist hier vielmehr, wie der Verfassungsrechtler Hasso Hofmann formuliert hat, »primär negativ durch Aussparungen« definiert,88 durch einen Verzicht also auf Konkretion. Der Schutzschirm des Grundrechts auf Religionsfreiheit wird so nicht durch Vereindeutigung des Geschützten von vornherein verengt, sondern im Gegenteil flexibel weit aufgespannt. Die Bundesverfassungsrichter haben diesem Weg durchaus zu folgen versucht; so ist in vielen Entscheidungen das Bemühen erkennbar, in den verfassungsrechtlichen Abwägungen die Polyvalenz des Religiösen zu berücksichtigen. Das wurde auch in den Streitfällen deutlich, die in dieser Arbeit untersucht wurden: Im ›Kru86 Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, 135. 87 Art. 4 Abs. 1 GG fächert die Religionsfreiheit lediglich auf in Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, gibt aber keinerlei Definition der Religion (vgl. den Wortlaut im Anhang). 88 Hofmann, Recht, Politik und Religion, 379; ähnlich auch 378.
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zifixbeschluss‹ des Jahres 1995 etwa wiesen die Richter des Ersten Senats zunächst ausdrücklich auf die religiös-kulturelle Doppeldeutigkeit des Kreuzes bzw. Kruzifixes hin, indem sie feststellten, dieses sei sowohl das »Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung« als auch »Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur«.89 Doch beschritten sie diesen Weg, die Grenzen des religiösen Feldes offen zu halten, letztlich nicht konsequent. Vielmehr gaben sie schlussendlich doch dem religiösen Sinngehalt des Kreuzes unmissverständlich den Vorrang und erklärten es entschlossen zum christlichen »Glaubenssymbol schlechthin«.90 Ähnliches gilt für das Urteil im ›Kopftuchstreit‹ 2003, für das der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verantwortlich war. Auch hier schlugen die Karlsruher Richter zunächst den Weg der Anerkennung der Offenheit des religiösen Feldes ein: Ausdrücklich unterstrichen sie die Bedeutungsambivalenz der Kopfbedeckung. Diese, so erklärten sie, sei ein »Kürzel für höchst unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen«.91 Allerdings blieben sie auf halber Strecke stehen; denn statt die Zumutungen, die sich mit dieser Uneindeutigkeit verbinden, zu akzeptieren, suchten sie auf dem Umweg über die Frage nach der Wirkung des Kopftuchs auf die Betrachter dann doch noch (wenn auch vergeblich) Vereindeutigungseffekte zu erzielen, die sich bei der Fokussierung auf die Frage nach seiner Bedeutung nicht erlangen ließen.92 Einen Ausweg aus dem definitionspolitischen Dilemma, Religion in konkreten Streitigkeiten definieren bzw. strittige religiöse Zeichen oder Praktiken vereindeutigen zu müssen, hat also auch das Bundesverfassungsgericht nicht gefunden. Und da im Konfliktfall Entscheidungen getroffen werden müssen, kann es einen Ausweg aus dem Dilemma auch nicht geben. Wohl aber bleibt die Möglichkeit, sich dem Dilemma, das mit dem Recht auf Religionsfreiheit entsteht, reflexiv zu stellen und seine freiheitsbegrenzenden Konsequenzen ›um der Freiheit willen‹ zu minimieren. Konkret bedeutet dies: Im Umgang mit einem zunehmend in Bewegung geratenen religionskulturellen Feld und den Konflikten, die es hervorbringt, ein hohes Maß an pragmatischer Flexibilität walten zu lassen und im Übrigen auf das performative Potential der Freiheitsordnung zu vertrauen, die sich nicht aus Quellen speist, die ihr äußerlich sind, sondern ihre vitalen Kräfte im Vollzug der Freiheitsrechte stets von Neuem selbst reproduziert, mit allen Chancen und Risiken, die damit verbunden sind.
89 90 91 92
BVerfG 1 BvR 1087/91, Beschluß vom 16. 5. 1995, 42. Ebd., 44. BVerfG 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. 9. 2003, 50. Vgl. die Ausführungen oben in Kapitel 5.
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Abs. AG AR Art. Aufl. BAG BAGE BayEUG BayVBl. BayVerfGH BayVGH Bd. BdbgSchulG BEK BGU bspw. BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG BVerwGE bzw. CDU CEDH CFCM christl. CORIF CRCM d. h. dass. DBK ders.
Absatz Arbeitsgericht Astrid Reuter Artikel Auflage Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Band Brandenburgisches Schulgesetz Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR ,Biblischer Geschichtsunterricht’ (Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage) beispielsweise Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Cour Europ¦enne des Droits de l’Homme (s. ECHR und EGMR) Conseil FranÅais du Culte Musulman christlich Conseil de R¦flexion sur l’Islam en France Conseils R¦gionaux du Culte Musulman das heißt dasselbe Deutsche Bischofskonferenz derselbe
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308 dies. DI˙B DIK DI˙TI˙B DÖV dt. ebd. ebf. ECHR EGMR EKBO EKD EKiBB EMRK epd Eph etc. EU f/ff FAZ FDP Fn. FR FU geb. GEW GG ggf. GVBl. Hg. HU HU HVD i. d. R. i. S. i. V. m. IFB IGMG insbes. JZ Kap. KLJB KNA
Abkürzungsverzeichnis
dieselbe/n Diyanet I˙¸sleri Bas¸kanlig˘i / Staatliches Amt für Religionsangelegenheiten Deutsche Islam Konferenz Diyanet I˙s¸leri Türk I˙sam Birlig˘i / Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion Die Öffentliche Verwaltung. Zeitschrift für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft deutsch ebenda ebenfalls European Court of Human Rights (s. CEDH und EGMR) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (s. CEDH und ECHR) Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und schlesische Oberlausitz Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) Evangelischer Pressedienst Brief des Apostels Paulus an die Epheser et cetera Europäische Union folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Fußnote(n) Frankfurter Rundschau Freie Universität Berlin geboren Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Grundgesetz gegebenenfalls Gesetz- und Verordnungsblatt Herausgeber/innen Humboldt-Universität zu Berlin Humanistische Union Humanistischer Verband Deutschlands in der Regel im Sinne in Verbindung mit Islamische Föderation Berlin Islamische Gemeinschaft Milli Görü¸s insbesondere JuristenZeitung Kapitel Katholische Landjugendbewegung Katholische Nachrichten-Agentur
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Abkürzungsverzeichnis
LAG LAG-E LER LISUM Bbg LKV
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Landesarbeitsgericht Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf Lebensgestaltung–Ethik–Religion(skunde) Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg Landes- und Kommunalverwaltung. Verwaltungsrechts-Zeitschrift für die Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen LV Landesverfassung m. E. meines Erachtens m. w. N. mit weiteren Nachweisen MBJS Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg MDR Monatsschrift für Deutsches Recht MWG Max Weber-Gesamtausgabe MWS Max Weber-Studienausgabe NJW Neue Juristische Wochenschrift NRW Nordrhein-Westfalen NS Nationalsozialismus NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht NZZ Neue Zürcher Zeitung o. J. ohne Jahr öffentl. öffentlich OVG Oberverwaltungsgericht PDS Partei des Demokratischen Sozialismus (Juli 2005 umbenannt in: Die Linke.PDS; seit Juni 2007: Die Linke) PEK Pressestelle Erzbistum Köln PLIB Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg RAF Rote Armee Fraktion Rn. Randnummer Rspr. Rechtsprechung RU Religionsunterricht S. Satz s.E. seines Erachtens SchulG Schulgesetz SenBildWiss Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Berlin SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SZ Süddeutsche Zeitung taz tageszeitung u. a. unter anderem / unter anderen u.a. / u. a.m. und andere(s) / und andere(s) mehr u.v.m. und vieles mehr USA / US United States of America / United States usf. und so fort usw. und so weiter v. a. vor allem VerfGBbg Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
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310 VG VGH vgl. vs. w. WRV WS ZevKR zit.
Abkürzungsverzeichnis
Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche versus wörtlich Weimarer Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919) Wintersemester Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht zitiert
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Literatur- und Quellenverzeichnis
*
1. 2. 3. 4.
Literatur Zeitungen und Zeitschriften / Agenturmeldungen Pressespiegel Dokumentationen der Parlamente, Ministerien und Regierungen, staatlicher Kommissionen, Arbeitsgruppen und der Verwaltung 5. Rechtsquellen (gerichtliche Entscheidungen und Mitteilungen, Gesetze, Verfassungstexte, menschenrechtliche Erklärungen und Vereinbarungen) 6. Onlineressourcen
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Wiese, Kirsten, Lehrerinnen mit Kopftuch. Zur Zulässigkeit eines religiösen und geschlechtsspezifischen Symbols im Staatsdienst, Berlin 2008. Wiesmann, Helmut, Anmerkungen zur Kopftuchdebatte, in: Haug/Reimer (Hg.), Politik ums Kopftuch, 2005, 67 – 76. Wittreck, Fabian, Bonn ist doch Weimar. Die Religionsfreiheit im Grundgesetz als Resultat von Konflikt und Kontroverse, in: Reuter/Kippenberg (Hg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 2010, 66 – 92. Wiygul, Elisa (Hg.), The headscarf. A political symbol in comparative and historical perspective, New York 2008. Wohlrab-Sahr, Monika, Integrating Different Pasts. Avoiding Different Futures. Recent conflicts about Islamic religious practice and their judicial solutions, in: Time & Society 13, 1, 2004, 51 – 70. Ziegler, Walter, Der Kampf um die Schulkreuze im Dritten Reich, in: Maier (Hg.), Das Kreuz im Widerspruch, 1996, 40 – 50.
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Zeitungen und Zeitschriften/Agenturmeldungen
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Literatur- und Quellenverzeichnis
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 9. 1995: Das Ansehen des Karlsruher Gerichts beschädigt (Heinz Honnacker, Leserbrief). –––––, 8. 9. 1995: Verpaßt – Die Kirchen und das Kruzifix (Konrad Adam). –––––, 14. 9. 1995: Die unsichtbare Kirche. Kreuz, Staat und Gesellschaft (Eberhard Jüngel). –––––, 20. 9. 1995: Kreuze sichtbar machen. Eine Erwiderung auf Eberhard Jüngel (Hans Maier). –––––, 25. 9. 1995: Ärger über manches, nie aber über Kreuze an der Wand. Die frohe Botschaft vom Odeonsplatz (Roswin Finkenzeller). –––––, 25. 9. 1995: Die Preußen sitzen jetzt in Karlsruhe. Deutsche Szene: Die Bayern demonstrieren für das Kreuz (Renate Schostack). –––––, 11. 10. 1995: Lebenskunden, Ethiken, Religionen. Brandenburgische Bildungspolitiker träumen von der multikulturellen Persönlichkeit (Heike Schmoll). –––––, 24. 2. 1996: Eine aufgeklärte Staatsreligion? Neutralität schafft keine Freiheit: Zum Streit um den Religionsunterricht in Brandenburg (Karl Ernst Nipkow). –––––, 28. 9. 1996: Religionsunterricht und LER. Die Verfassungsbeschwerde der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Heike Schmoll). –––––, 16. 7. 1998: »Baden-Württemberg wird kein kopftuchloses Land«. –––––, 12. 12. 2001: Ohne Bildungsauftrag. –––––, 5. 11. 2002: ›Wir sind nicht die Samariter für die Türken‹ (Hans-Ulrich Wehler). –––––, 4. 6. 2003: Kopf und Tuch (Mü). –––––, 25. 9. 2003: Karlsruhe drückt sich (Reinhard Müller). –––––, 25. 9. 2003: Kopfsache. Karlsruher Denksportsunde: Was wollen wir wissen? (Patrick Bahners). –––––, 21. 10. 2003: Heute tun wir mal so, as ob wir alle tolerant wären (Andreas Rosenfelder). –––––, 19. 12. 2003: Die türkische Frage. Europas Bürger müssen entscheiden (Hans-Ulrich Wehler). –––––, 7. 1. 2004: Kulissenzauber. Das Kopftuch und der Exklusivitätsanspruch christlicher Kultur (Mark Siemons). –––––, 23. 11. 2004: Böger plant Gesetz zum Werteunterricht. –––––, 15. 3. 2005: Sterzinsky : »Werteunterricht« ist verfassungswidrig. –––––, 19. 3. 2005: »Berlin erhebt einen weltanschaulichen Herrschaftsanspruch«. Der EKD-Vorsitzende Huber kritisiert den vom SPD/PDS-Senat geplanten Werteunterricht (Mechthild Küpper). –––––, 6. 4. 2005: Enthaltungsnoten (Mark Siemons). –––––, 11. 4. 2005: Die neuen Missionare. Staatsglauben: Die Berliner SPD will den ›Werteunterricht‹ (Johan Schloemann). –––––, 14. 4. 2005: »Es riecht verdammt nach DDR« (Mechthild Küpper). –––––, 17. 9. 2005: Warum das Alte Reich ein Hort der Toleranz war. Der Augsburger Religionsfriede: Ein Anfang, kein Ende und eine europäische Pionierleistung (Hans Maier). –––––, 24. 9. 2005: Der Augsburger Religionsfrieden (Dorothea Wendebourg). –––––, 13. 12. 2005: Wieder Weihnachten (L.J.). –––––, 4. 4. 2006: Ethik für alle. Mit dem Werteunterricht zeigen SPD und PDS in Berlin, dass sie sich durchsetzen können (Mechthild Küpper).
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Zeitungen und Zeitschriften/Agenturmeldungen
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–––––, 8. 7. 2006: Lehrerin darf Kopftuch im Unterricht tragen. –––––, 8. 7. 2006: Ungleich (G.H.). –––––, 11. 7. 2006: Ohne Kreuz und Kopftuch (Patrick Bahners). –––––, 6. 11. 2006: EKD gegen Aushöhlung des Sonntagsschutzes. –––––, 14. 12. 2007: Mit prophetischem Schwung (Hans Joas). –––––, 16. 1. 2009: Die Kirchen haben schon verloren (Bernhard Schlink). –––––, 2. 10. 2009: Wer ist hier neutral? Die Erlaubnis zum Beten baut dem Separatismus vor (Patrick Bahners). –––––, 19. 11. 2009: Die Hoheit über das Kreuz. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überschätzt seine Rolle im Zusammenspiel zwischen Staaten und Religionen. Das zeigt die Kruzifix-Entscheidung (Christian Walter). –––––, 28. 1. 2010: Deutsche Evangelikale erhalten Asyl (Matthias Rüb). –––––, 29. 1. 2010: Lernbereit (Jürgen Kaube). –––––, 25. 2. 2010: Ein Menschenrecht auf Säkularisierung? (Martin Kriele). –––––, 26. 4. 2010: Özkan gegen Kreuze in der Schule. Unionspolitiker : Abwegig und erschreckend. –––––, 27. 4. 2010: Kruzifix und Gipfelkreuz (Stephan Löwenstein). –––––, 28. 4. 2010: Wer schafft den Skandal? Der neue Streit ums Kreuz im Klassenzimmer (Christian Geyer). –––––, 16. 8. 2010: Jeder Schüler ist ein Religionsschüler (Rolf Schieder). Financial Times, 25. 9. 2003: »Karlsruher Drückeberger« (Matthias Ruch). Focus 47/1995, 20. 11. 1995: »Den Untergang aufhalten«. Der Philosoph Robert Spaemann über die Krise der Neuzeit und die Versuche, die NS-Zeit durch Betroffenheitsrituale zu bewältigen (Interview mit Stephan Sattler). ––––– 32/1997, 4. 8. 1997: Angst vor dem Kopftuch (Hartmut Kistenfeger). ––––– 40/2003, 29. 9. 2003: Karlsruhe kneift (Hartmut Kistenfeger). ––––– 14/2004, 29. 3. 2004: Vormarsch der Verbote (Hartmut Kistenfeger). ––––– 17/2010, 26. 4. 2010: »Beide Seiten sind gefordert« (Interview mit Aygül Özkan). Frankfurter Rundschau, 8. 6. 1995: Über Religionen und kulturkampfähnliche Töne. Die Auseinandersetzungen über ein neues Schulfach in Brandenburgs Schulen verschärfen sich (Jürgen Lott). –––––, 15. 8. 1995: Im Namen des Kreuzes (Astrid Hölscher). –––––, 16. 11. 1995: Für eine garantierte Religionsfreiheit an den Schulen – nur wie? Synode Berlin-Brandenburg streitet über Pflichtfach Lebenskunde/»Eine Klage in Karlsruhe ist eine Klage gegen mich« (Karl-Heinz Baum). –––––, 2. 4. 1996: Schulfach LER entzweit Berlin und Brandenburg. Diepgen beharrt kurz vor der Volksabstimmung über Zusammenschluß auf Religion (Ullrich Fichtner). –––––, 12. 12. 2001: Die religiöse Versorgungslücke. –––––, 2. 6. 2003: Herablassende Pseudo-Toleranz. Kein Schleier im Namen von Gleichheit und Selbstbestimmung (Alice Schwarzer). –––––, 2. 6. 2003: Koalitionen über Kreuz. Der Fall Ludin lässt übliche Bündnisse aufbrechen (Ursula Knapp). –––––, 25. 9. 2003: So recht befriedigt das Kopftuch-Urteil niemanden (Ursula Knapp). –––––, 8. 7. 2006: Lehrerin darf Kopftuch tragen. –––––, 2. 2. 2011: Burka-Affäre. Vorreiter Hessen. Heilbronner Stimme, 23. 9. 2003: Schlussstrich von höchster Stelle (Mirjam Mohr).
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Zeitungen und Zeitschriften/Agenturmeldungen
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–––––, 20. 3. 1996: Der Falsche Weg zur Re-Christianisierung. Religionsunterricht ist ein Besitzstand, der den Kirchen in der Praxis längst entglitten ist (Friedrich Schorlemmer). –––––, 29. 3. 1996: Ab kommendem Schuljahr gibt es ein konfessionsübergreifendes Fach. –––––, 6. 10. 2001: Wissenschaftler für Ausweitung des LER-Unterrichts. Neues Gutachten des Fachbeirates für das Schulfach Lebensgestaltung, Ethik, Religion. Rheinische Post, 16. 7. 1998: Grenzen der Multikulturalität (Rupert Scholz). –––––, 25. 9. 2003: »Das Kopftuch-Fehlurteil« (Ulrich Reitz). –––––, 25. 9. 2003: Stimmen zum Urteil. Rheinischer Merkur, 18. 8. 1995: Das Gericht in die Irre geführt. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und ihre Bedeutung für das Urteil – Interview mit dem juristischen Berater des Bundes der Freien Waldorfschulen. –––––, 18. 8. 1995: Erklärung der Pressestelle der Evangelischen Kirche in Deutschland [Auszug]. –––––, 25. 8. 1995: Kritik ja – aber bitte im Detail (Ernst Benda). –––––, 1. 9. 1995: Kruzifix-Urteil: Kritik und Lamentieren reichen nicht (Walter Kasper). –––––, 1. 9. 1995: Uns bläst der Wind ins Gesicht (Interview mit Bischof Hartmut Löwe). –––––, 1. 9. 1995: Vergleich muss sein. Der Streit heute und die Auseinandersetzung im Dritten Reich (Konrad Repgen). –––––, 19. 1. 1996: Wie Brandenburg aus der Verfassung gerät (Axel Freiherr von Campenhausen). –––––, 29. 3. 1996: Ethik ¢ ein Ersatz für Religion? (Hermann Lübbe). –––––, 12. 4. 1996: LER ¢ Staatsreligion auf Samtpfoten (Axel Freiherr von Campenhausen). Sonntagsblatt, 21. 3. 1995: Warum Schüler unnötig trennen? Brandenburgs ehemalige Bildungsministerin Marianne Birthler begründet, warum sie am Fach LebenskundeEthik-Religion festhält. Der Spiegel 33/1995, 14. 8. 1995: Die Kreuze bleiben. Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) über das Kruzifix-Urteil. ––––– 40/1995, 2. 10. 1995: Heiliger Edmund, bitt’ für uns (Barbara Supp). ––––– 30/1998, 20. 7. 1998: »Reize bedeckt«. Die abgelehnte Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin über Kopftücher, Schulalltag, Religion und Toleranz. ––––– 26/2003, 23. 6. 2003: Die Machtprobe (Alice Schwarzer). Spiegel Online, 8. 4. 2005: Ideologischer Glaubenskrieg in Berlin (Ronald Heinemann) [http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,350327,00.html; 27. 7. 2011]. Stuttgarter Nachrichten, 16. 7. 1998: Das Nein zum Kopftuch findet breite Unterstützung (Andreas Scharf). –––––, 28. 3. 2000: Kopftuch einer Lehrerin: »Für modischen Gag gehalten« (Heidemarie A. Hechtel). –––––, 25. 9. 2003: Auch die SPD plädiert für ein Landesgesetz (Rainer Wehaus). Stuttgarter Zeitung, 16. 7. 1998: Generelles Kopftuchverbot abgelehnt (Bärbel Krauß). –––––, 28. 3. 2000: Cannstatter Lehrerin unterrichtet seit Jahren mit Kopftuch (Nicole Höfle). –––––, 28. 3. 2000: Verschwiegen (Nicole Höfle).
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Literatur- und Quellenverzeichnis
–––––, 25. 9. 2003: »Eine unsägliche Debatte geht jetzt weiter« (Interview mit Nadeem Elyas). –––––, 26. 9. 2003: »Diskretion üben, Provokation vermeiden« (Interview mit Annette Schavan). –––––, 15. 12. 2009: Meßkirch streitet über Kruzifixe (Andreas Müller). Südkurier, 25. 9. 2003: »Keine Hinweise« (Interview mit Annette Schavan). Süddeutsche Zeitung, 28. 6. 1995: Der Religionskrieg von Brandenburg. Die Entscheidung über das Unterrichtsfach ›Lebensgestaltung, Ethik, Religion‹ hat bundesweite Bedeutung (Lilo Berg). –––––, 17. 8. 1995: Jurist sucht Lücken im »Kruzifix-Urteil«. –––––, 5. 10. 1995: Wenig Chancen für multikulturelles Pflichtfach. Die Kirchen sträuben sich gegen Einführung von ›Lebenskunde, Ethik, Religionskunde‹ (Albrecht Hinze). –––––, 22. 11. 1995: Der Protest speist sich nicht aus Hysterie und Hinterwäldlertum (Ottmar Fuchs, Norbert Greinacher, Leo Karrer, Norbert Mette, Hermann Steinkamp). –––––, 27. 2. 1996: Der Staat als Religionslehrer (Elmar zur Bonsen). –––––, 16. 4. 1996: Zwang zum Unterricht in staatlicher Weltanschauung (Rolf Schieder, Leserbrief zum Kommentar ›Religion im Bundestag‹ in der SZ vom 16./17.3). –––––, 16. 7. 1998: Stuttgart gegen generelles Kopftuchverbot. –––––, 30. 3. 2000: Gefährlicher Stoff (Wulf Reimer). –––––, 24. 9. 2003: Karlsruhe entscheidet im Kopftuch-Streit (Helmut Kerscher). –––––, 25. 9. 2003: »Ich müsste mich sehr schämen« (Wulf Reimer). –––––, 25. 9. 2003: Zeit für ein Toleranzedikt (Heribert Prantl). –––––, 2. 4. 2004: Baden-Württemberg beschließt Kopftuchverbot. –––––, 25. 2. 2005: Schlachtfeld Frau (Werner Schiffauer). –––––, 6. 4. 2005: Zustände wie in der Nazizeit. –––––, 14. 4. 2005: Kanzler setzt sich für Religionsunterricht ein (Philipp Grassmann). –––––, 14. 4. 2005: Schule der Werte (Matthias Drobinski). –––––, 8. 7. 2006: Kopftuchverbot in Baden-Württemberg gelockert (Bernd Dörries). –––––, 11.7. 2006: Ratlos nach dem Urteil (Bernd Dörries). –––––, 9./10. 12. 2006: Leere Krippen im Winterlicht (Wolfgang Koydl). –––––, 25./26. 4. 2009: Spalten statt versöhnen. Berlin vor der Entscheidung: »Pro Reli« oder »Pro Ethik« (Stephan Speicher). –––––, 30. 9. 2009: Religionsfreiheit an Schulen. Beten erlaubt (Tanjev Schultz). –––––, 27. 4. 2010: Alles, was recht ist. Der Tagesspiegel, 26. 7. 1995: In der Tradition der Aufklärung. Humanistischer Verband: Gleichberechtigung für ›Lebenskunde‹ (Uwe Schlicht). –––––, 19. 9. 1995. LER nun doch kein Pflichtfach? Streit um Zehn-Punkte-Papier der Bildungsministerin (Thorsten Metzner). –––––, 29. 9. 1995: SPD gegen Befreiung vom Ethik-Unterricht. Ja zum neuen Fach mit einer Niederlage für Stolpe (Michael Mara). –––––, 9. 11. 1995: »Was die Welt im Innersten zusammenhält«. Opposition und SPDFraktion zausen SPD-Ministerin wegen ihres Schulgesetzentwurfs (Werner van Bebber). –––––, 12. 11. 1995: SPD-Basis besteht auf LER als Pflichtfach. –––––, 12. 1. 1996: Juristen gegen Öffnungsklausel (Michael Mara). –––––, 16. 3. 1996: Brandenburg geht bundesweit einmaligen Weg (Uwe Schlicht).
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Zeitungen und Zeitschriften/Agenturmeldungen
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–––––, 16. 3. 1996: SPD sieht Attacke auf Föderalismus. Bonner Koalition fordert von Brandenburg die Einführung eines Schulfaches Religion. –––––, 17. 3. 1996: Brandenburg hält an Einführung von LER fest. Bildungsministerin Angelika Peter weist Vorwurf der Kirchenfeindlichkeit zurück. –––––, 28. 3. 1996: Bis zuletzt heftiger Streit um Schulgesetz (Michael Mara). –––––, 29. 3. 1996: Beschlossen: LER steht auf dem Stundenplan. Landtag beschloss mit SPD-Mehrheit das neue Schulgesetz. –––––, 12. 12. 2001: Werte sind recht – auch für Berlin (Martin Gehlen). –––––, 4. 6. 2003: Das Kopftuch ist keine Glaubensfrage (Jost Müller-Neuhof). –––––, 25. 9. 2003: Urteil zweiter Klasse (Clemens Wergin). –––––, 26. 9. 2003: Die unbequeme Religionsfreiheit (Barbara John). –––––, 27. 9. 2003: Symbol ohne Bedeutung. Die Kritik am Bundesverfassungsgericht hält an. Auch Richter vermissen klare Worte zum Kopftuch selbst (Jost Müller-Neuhof). –––––, 9. 10. 2003: Die eigenen Überzeugungen ernst nehmen. Das Kopftuch befördert eine kulturelle Kluft (Wolfgang Huber). –––––, 22. 11. 2004: »Ja, wir haben alle versagt«. Bildungssenator Klaus Böger (SPD) über Integration, Werteunterricht und die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit. –––––, 22. 11. 2004: Böger legt Gesetzentwurf für Ethikunterricht vor (Susanne ViethEntus). –––––, 23. 11. 2004: Bögers Vorstoß zu Ethikunterricht verärgert die PDS (Claudia Keller, Susanne Vieth-Entus). –––––, 28. 11. 2004: Mehr als eine Glaubensfrage (Susanne Vieth-Entus). –––––, 31. 1. 2005: Privater ›Notbund‹ will Religionsunterricht retten (Alexandra Demke). –––––, 6. 3. 2005: Werte müssen durchgesetzt werden (Klaus Böger). –––––, 16. 3. 2005: SPD-Chef will Werteunterricht in der Grundschule (Ulrich ZawatkaGerlach). –––––, 5. 4. 2005: Streit um Wertekunde eskaliert. –––––, 8. 4. 2005: SPD und PDS wollen Streit mit den Kirchen entschärfen (Claudia Keller, Susanne Vieth-Entus). –––––, 8. 4. 2005: Werteunterricht für alle Schüler. Warum das neue Fach nicht zugunsten von Religion abgewählt werden darf (Klaus Wowereit). –––––, 9. 4. 2005: Wertekunde in Berlin. Der Papst und die Piefkes (Bernd Ulrich). –––––, 11. 4. 2005: Politik als Kulturkampf. Der Wert der Werte (Lorenz Maroldt). –––––, 15. 4. 2005: »Kirchenfeind« SPD. –––––, 8. 7. 2006: Schavan verwundert über Urteil. –––––, 9. 5. 2008: SPD geht beim Ethikunterricht in die Defensive (Susanne Vieth-Entus). –––––, 21. 5. 2008: Vereint gegen Reli (Susanne Vieth-Entus). –––––, 22. 6. 2008: Die Frage nach Gott (Klaus Mertes). –––––, 8. 12. 2008: Verwirrung der Geister (Robert Leicht). –––––, 22. 2. 2009: Senat: Pro Reli gefährdet Integration (Ulrike von Leszczynski). –––––, 6. 4. 2009: Berliner Leidkultur (Malte Lehming). –––––, 27. 4. 2009 [Berichte und Kommentare zum Ausgang des Volksentscheids über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion am 26. 4. 2009]. –––––, 4. 10. 2009: Auch wer betet, kann ein guter Demokrat sein (Claudia Keller). tageszeitung, 15. 3. 1995: Bonn gegen das gottlose Brandenburg. Der Streit um das
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Literatur- und Quellenverzeichnis
Lehrfach ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionen‹ geht weiter. Jetzt wollen die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Bundestag eine Änderung des Gesetzes (Karin Flothmann). –––––, 2. 4. 1996: Diepgen und Stolpe tasten zur Fusion (Severin Weiland). –––––, 3. 5. 1996: Fusionsgegner haben Angst vor Ethik (Torsten Teichmann). –––––, 1. 2. 2002: Werner Schiffauer : »Im Problem das Potential sehen« (Interview mit Daniel Bax). –––––, 4. 7. 2002: Integration per Gerichtsurteil? (Yassin Musharbash). –––––, 25. 9. 2003: Aus Not zur Vielfalt. Das Kopftuchurteil ist mutig – und gut für alle Beteiligten (Christian Rath). –––––, 25. 9. 2003: Kleinstaaterei bei der Kleiderordnung (CHR, OES). –––––, 8. 11. 2003: »Ein Kopftuch integriert nicht« (Interview mit Wolfgang Huber). –––––, 8. 7. 2006: Kopftuch-Lehrerin darf unterrichten. –––––, 10. 7. 2006: Kopftuch-Urteil erzürnt Ministerin (Cosima Schmitt). –––––, 11. 4. 2008: Auch Baskenmütze ist ein Kopftuch (Pascal Beucker). –––––, 26. 9. 2008: Religionsunterricht ist Glaubenssache (Antje Lang-Lendorff). –––––, 7. 1. 2010: Sieg gegen den Kruzifixwahn (Christian Rath). –––––, 27. 1. 2010: Deutsche erhalten US-Asyl (Lukas Dubro). –––––, 30. 11. 2011: Angst vor dem gefährlichen Gebet (Christian Rath). Die Welt, 22. 5. 1995: Drei Fragen an Reinhard Stawinski. –––––, 22. 9. 1995: Kirche droht mit dem Verfassungsgericht. In Brandenburg spitzt sich der Streit um das Schulfach LER zu – Siebenstündige Anhörung (Holger Paech). –––––, 14. 3. 1996: Staat gegen Glauben (Felicitas von Aretin). –––––, 22. 9. 2003: Mohammeds deutsche Geschwister (Till-R. Stoldt). –––––, 5. 4. 2005: »Wir brauchen Religionsunterricht als Alternative« (Klaus Böger). –––––, 10. 12. 2005: Ein Pogrom gegen die Republik. Alain Finkielkraut über die gewalttätigen Krawalle in Frankreichs Vorstädten (Dror Mishani, Aurelia Smotriez). –––––, 8. 7. 2006: Lehrerin darf in Stuttgart mit Kopftuch unterrichten. –––––, 8. 7. 2006: Lehrerin siegt im Kopftuchstreit (Claudia Ehrenstein). Welt am Sonntag, 13. 7. 2003: Forum: Briefe an die Redaktion. –––––, 17. 4. 2005: DDR-Duft oder Wertestolz? In Berlin wird staatlicher Werteunterricht eingeführt. Die Kirchen bangen, Verfassungspatrioten jubeln (Till-R. Stoldt). Wochenpost 47/1995, 16. 11. 1995: Beispielhaft (Marianne Birthler). Die Zeit, 2. 6. 1995: Cuius regio, eius religio. Das Schulfach Ethik ersetzt zunehmend den Religionsunterricht. Der Streit zwischen Staat und Kirche macht Brandenburg zum Modellfall (Anja Dilk). –––––, 18. 8. 1995: Das Kreuz ist kein Maskottchen (Robert Leicht). –––––, 22. 12. 1995: Auf der Suche nach der verlorenen Utopie (Robert Leicht). –––––, 10. 5. 1996: Als sie achtzehn wurde, hat Elisabeth Schories aufgehört zu beten (Sabine Rückert). –––––, 10. 5. 1996: Freiheit zum Bekennen. Wolfgang Huber, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, zum Religionsunterricht. –––––, 10. 5. 1996: Schulfrei für Jesus. Ethik und Lebenskunde brechen das Wertemonopol der Konfessionen (Sabine Rückert, Wolfgang Gehrmann). –––––, 16. 7. 1998: Lehrer müssen Vorbilder sein. Baden-Württembergs Kultusministerin Schavan über Kopftücher in der Schule (Gespräch mit Martin Klingst). –––––, 23. 7. 1998: Im Glauben eine Heimat finden (Merle Hilbk).
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Pressespiegel/Dokumentationen
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–––––, 12. 11. 1998: Für einen deutschen Islam (Cem Özdemir im Gespräch mit Jochen Buchsteiner). –––––, 28. 6. 2001: Die Gretchenfrage – auf preußisch. Wie hält’s der Staat mit der Religion, an den Schulen und überhaupt, vor allem im Lande Brandenburg? (Robert Leicht). –––––, 7. 2. 2002: Eine Rose im Kreuz der Vernunft (Hans Joas). –––––, 12. 9. 2002: Das Türkenproblem (Hans-Ulrich Wehler). –––––, 25. 9. 2003: Feige Richter. Karlsruhe hat sich gedrückt – und den Streit um das Kopftuch in der Schule an die Parlamente zurückgereicht (Martin Klingst). –––––, 26. 2. 2004: Die Würde der Differenz. Im sich verschärfenden Kopftuchstreit muss der Staat anerkennen, dass die Symbole der Religionen nicht alle gleichwertig sind (Jürgen Moltmann). –––––, 14. 4. 2005: Das Opium der Partei. Die Berliner Sozialdemokraten führen einen Kulturkampf gegen den Religionsunterricht (Robert Leicht). –––––, 21. 12. 2005: Christen gegen Wal-Mart (Thomas Kleine Brockhoff). –––––, 12. 7. 2007: Der Krampf um das Tuch (Julia Gerlach). –––––, 20. 5. 2009: Ein Gotteslästerer (Thomas Assheuer).
3.
Pressespiegel
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Pressestelle (Hg.), Sonderpressespiegel »Kopftuch«, Juli 1998 – September 2003. ––––– (Hg.), Sonderpressespiegel »Kopftuch« nach dem BVG-Urteil 24. September 2003. Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg, L-E-R im Spiegel der Presse. Eine Auswahl von Meldungen, Artikeln und Leserbriefen der Jahre 1995 und 1996, Januar 1997.
4.
Dokumentationen der Parlamente, Ministerien und Regierungen, staatlicher Kommissionen, Arbeitsgruppen und der Verwaltung
Abgeordnetenhaus Berlin, Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie, Wortprotokoll BildJugFam 16/24, 22. 5. 2008 [http://www.parlament-berlin.de/pari/web/wdefault.nsf/ vHTML/D13?OpenDocument; 15. 2. 2012]. –––––, Ausschuss für Jugend, Familie, Schule und Sport, Wortprotokoll JugFamSchulSport 15/72, 2. 3. 2006 [http://www.parlament-berlin.de/pari/web/wdefault.nsf/v HTML/D13?OpenDocument; 15. 2. 2012]. –––––, Erstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 30. 3. 2006 [Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 62, 13, 11. 4. 2006, 299]. –––––, Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Abstimmungsgesetz) vom 11. 6. 1997, zuletzt geändert am 20. 2. 2008 [http://www.wahlen-berlin.de/ wahlinfos/recht/Abstimmungsgesetz.pdf; 2. 3. 2011]. –––––, Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und
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Literatur- und Quellenverzeichnis
zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes vom 27. 1. 2005 [http://www.unitrier.de/fileadmin/fb5/inst/IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchenrecht/Deutschland /Kopftuchverbot/Berlin_Gesetz_zur_Schaffung_eines_Gesetzes_zu_Artikel_29_der _Verfassung_von_Berlin_und_zur_AEnderung_des_Kindertagesbetreuungsgesetzes _27. 1. 2005.pdf; 3. 1. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 15/66, 14. 4. 2005 [http://www.parlament-berlin.de/pari/web/ wdefault.nsf/vFiles/D12 – 00052/$File/p15 – 066-wp.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 16/30, 29. 5. 2008 [http://www.parlament-berlin.de/pari/web/ wdefault.nsf/vFiles/D12 – 00339/$File/pp16_30.pdf; 15. 2. 2012]. Bayerischer Landtag, Plenarprotokoll 13/36, 13. 12. 1995 [http://www.bayern.landtag. de/www/ElanTextAblage_WP13/Protokolle/13%20Wahlperiode%20Kopie/13%20WP %20Plenum%20LT%20Kopie/036%20PL%20131295%20ges%20endg%20Kopie.pdf; 15. 2. 2012]. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Frau Renate und Herrn Ernst Seler, München, 21. 6. 1988 (III78 – 8/50 938), Faksimile-Abdruck in: Ketzerbriefe 15/16, 1989, 61 – 65. Bremische Bürgerschaft, Gesetz zur Änderung des Bremischen Schulgesetzes und des Bremischen Schulverwaltungsgesetzes vom 28. 6. 2005 [http://www.uni-trier.de/file admin/fb5/inst/IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchenrecht/Deutschland/Kopftuch verbot/Bremen_AEnderungsG_SchulG_und_SchulvwG_28. 6. 2005.pdf; 3. 1. 2012]. Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Rapport au Pr¦sident de la R¦publique, Paris, 11. 12. 2003 [http://lesrapports.ladocu mentationfrancaise.fr/BRP/034000725/0000.pdf; 31. 1. 2010]. Conseil d’Etat, Etude relative aux possibilit¦s juridiques d’interdiction du port du voile int¦gral, Rapport adopt¦ par l’assembl¦e g¦n¦rale pl¦niÀre du Conseil d’Etat le jeudi 25 mars 2010 [http://www.conseil-etat.fr/cde/media/document/avis/etude_vi_30032010. pdf; 8. 2. 2011]. Deutscher Bundestag, Antrag der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Gerald Häfner, Cem Özdemir und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, 13. 3. 1996 (Drucksache 13/4090) [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/040/1304090.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Verfassungsgebotene Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg, 12. 3. 1996 (Drucksache 13/4073) [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/040/1304073.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Endbericht der Enquete-Kommission ›Sogenannte Sekten und Psychogruppen‹, 9. 6. 1998 (Drucksache 13/10950) [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/109/1310 950.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 13/96, 15. 3. 1996 [http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13096. pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 15/168, 13. 4. 2005 [http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/15/151 68.pdf; 15. 2. 2012]. Hessischer Landtag, Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität vom 18. 10. 2004 [http://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/inst/IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchen recht/Deutschland/Kopftuchverbot/Hessen_Gesetz_zur_Sicherung_der_staatlichen_ Neutralitaet_18. 10. 2004.pdf; 5. 1. 2012].
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Pressespiegel/Dokumentationen
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Der Landesabstimmungsleiter Berlin (Hg.), Amtliche Information zum Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion in Berlin am 26. April 2009 [http://www.wahlen-berlin.de/wahlen/volksentscheid-2009-proreli/ broschuere_24. pdf; 3. 7. 2011]. –––––, Bericht: Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion am 26. April 2009. Endgültiges Ergebnis [http://www.wahlen-berlin.de/historie/ abstimmungen/Landeswahlleiterbericht_VE09. pdf; 12. 7. 2011]. –––––, Pressemitteilung vom 4. 2. 2009: Volksbegehren über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion. Endgültiges Ergebnis ermittelt: Volksbegehren zustande gekommen [http://www.wahlen-berlin.de/historie/abstimmungen/VB2009 ProReli.pdf; 12. 7. 2011]. Landtag Brandenburg, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung, 27. 3. 1996 (Drucksache 2/2350) [http://www.parldok.brandenburg.de/parladoku//w2/drs/ab% 5F2300/2350.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung, 19. 3. 1996 (Drucksache 2/2349) [http:// www.parldok.brandenburg.de/parladoku//w2/drs/ab%5F2300/2349.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung, 24. 6. 2002 (Drucksache 3/4498) [http:// www.parldok.brandenburg.de/parladoku//w3/drs/ab%5F4400/4498.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Gesetzentwurf der Landesregierung, Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg (Brandenburgisches Schulgesetz BdbgSchulG), 25. 10. 1995 (Drucksache 2/1675) [http://www.parldok.brandenburg.de/parladoku//w2/drs/ab% 5F2300/1675.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 2/32, 27. 3. 1996 [http://www.parldok.brandenburg.de/parlado ku//w2/plpr/32.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 2/33, 28. 3. 1996 [http://www.parldok.brandenburg.de/parlado ku//w2/plpr/33.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 3/43, 24. 10. 2001 [http://www.parldok.brandenburg.de/parlado ku//w3/plpr/43.pdf; 15. 2. 2012]. –––––, Plenarprotokoll 3/58, 26. 6. 2002 [http://www.parldok.brandenburg.de/parlado ku//w3/plpr/58.pdf; 15. 2. 2012]. Landtag des Freistaates Bayern, Gesetz zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vom 23. 11. 2004 [http://www.uni-trier.de/fi leadmin/fb5/inst/IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchenrecht/Deutschland/Kopftuch verbot/Bay_AEnderungsG_Erziehungs-_und_Unterrichtswesen_23. 11. 2004.pdf; 3. 1. 2012]. Landtag des Saarlandes, Gesetz Nr. 1555 zur Änderung des Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens im Saarland vom 23. 6. 2004 [http://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/inst/ IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchenrecht/Deutschland/Kopftuchverbot/Saarl_Ge setz_Nr._1555_23. 6. 2004.pdf; 3. 1. 2012]. Landtag Nordrhein-Westfalen, Erstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. 6. 2006 [http://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/ inst/IEVR/Arbeitsmaterialien/Staatskirchenrecht/Deutschland/Kopftuchverbot/NRW _Erstes_Gesetz_zur_AEnderung_des_Schulgesetzes_13. 6. 2006.pdf; 3. 1. 2012].
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Literatur- und Quellenverzeichnis
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Rechtsquellen
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Rechtsquellen
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Literatur- und Quellenverzeichnis
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6.
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Anhang: Auszüge einschlägiger Rechtsquellen
1. Auszüge aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 2. Auszüge aus Verfassungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland 2.1. Auszüge aus der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 2.2. Auszüge aus der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 3. Auszüge aus der Weimarer Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919) 4. Auszüge aus der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 in der Fassung des Protokolls Nr. 11 zur Konvention vom 11. Mai 1994 sowie aus dem Ersten Zusatzprotokoll vom 20. März 1952
1.
Auszüge aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
Präambel GG Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. […] Art. 2 GG (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
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352
Anhang
Art. 3 GG (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Art. 4 GG (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Art. 6 GG (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. […] Art. 7 GG (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. Art. 12 GG (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Art. 19 GG (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. […]
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Auszüge einschlägiger Rechtsquellen
353
Art. 33 GG (1) Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. (2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. (3) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen. Art. 100 GG (1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt. Art. 140 GG Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes. Art. 141 GG Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.
2.
Auszüge aus Verfassungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland
2.1
Auszüge aus der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946
Art. 130 (1) Das gesamte Schul- und Bildungswesen steht unter der Aufsicht des Staates, er kann daran die Gemeinden beteiligen.
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354
Anhang
Art. 131 (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne. Art. 135 Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle volksschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt das Volksschulgesetz.
2.2
Auszüge aus der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953
Art. 1 (1) Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten. Art. 12 (1) Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen. Art. 15 (1) Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 9. Dezember 1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben. Art. 16 (1) In christlichen Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen. Der Unterricht wird mit Ausnahme des Religionsunterrichts gemeinsam erteilt.
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Auszüge einschlägiger Rechtsquellen
355
Art. 18 Der Religionsunterricht ist an den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Er wird nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften und unbeschadet des allgemeinen Aufsichtsrechts des Staates von deren Beauftragten erteilt und beaufsichtigt. Die Teilnahme am Religionsunterricht und an religiösen Schulfeiern bleibt der Willenserklärung der Erziehungsberechtigten, die Erteilung des Religionsunterrichts der des Lehrers überlassen.
3.
Auszüge aus der Weimarer Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919)
Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG (1) Es besteht keine Staatskirche. (2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. (4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes. (5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. (6) Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. (7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. (8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.
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356
4.
Anhang
Auszüge aus der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 in der Fassung des Protokolls Nr. 11 zur Konvention vom 11. Mai 1994 sowie aus dem Ersten Zusatzprotokoll vom 20. März 1952
Art. 9 EMRK (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Art. 14 EMRK Der Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Art. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.
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