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German Pages [455] Year 2016
Michael Reder
Religion in skularer Gesellschaft ber die neue Aufmerksamkeit fr Religion in der politischen Philosophie
BAND 86 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495860687
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Religionen spielen nach wie vor eine wichtige Rolle in demokratischen Gesellschaften. Jürgen Habermas spricht deshalb von der ›postsäkularen Gesellschaft‹. Viele weitere Philosophen der Gegenwart (Jacques Derrida, Richard Rorty, Michael Walzer) prägen mit Habermas zusammen diesen gegenwärtigen philosophischen Diskurs über Religion in der politischen Philosophie. Dieser Diskurs wird in seinen Strukturen und Argumenten in dem vorliegenden Band analysiert und kritisch diskutiert. Kernfragen des Autors sind, wie Religion und ihre gesellschaftliche Funktion philosophisch verstanden werden kann, was die zentralen Problemstellen des Diskurses über Religion in der politischen Philosophie sind und wie diese mit Blick auf frühere Konzeptionen (Friedrich Schleiermacher oder John Dewey) konstruktiv weitergedacht werden können. Aus der Beschäftigung mit der Religion werden abschließend Schlussfolgerungen für die Debatte über Demokratie gezogen. Die praktische Philosophie kann damit sowohl zur Reflexion der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion als auch zur Klärung der Frage, wie Demokratie angesichts pluraler weltanschaulicher Konstellationen heute verstanden werden kann, wichtige Beiträge leisten.
Der Autor: Michael Reder promovierte nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Volkswirtschaft 2006 in München mit einer Arbeit über Globalisierungstheorien, 2011 folgte die Habilitation an der LMU. Seit 2012 ist er Professor für Sozial- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München und Inhaber des dortigen Lehrstuhls für praktische Philosophie mit dem Schwerpunkt Völkerverständigung. Arbeitsgebiete: Politische Philosophie (mit globalem Fokus), Kultur- und Religionsphilosophie, interkulturelle Philosophie, Philosophie der Gegenwart.
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Michael Reder Religion in säkularer Gesellschaft
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 86
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Michael Reder
Religion in säkularer Gesellschaft Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Die vorliegende Studie wurde 2011 an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LMU München als Habilitationsschrift angenommen. Dank gilt den drei Mentoren Axel Hutter, Wilhelm Vossenkuhl und Johannes Müller für die kollegiale Begleitung der Arbeit und darüber hinaus den Kollegen der Hochschule für Philosophie München.
2., aktualisierte und neu bearbeitete Auflage 2014 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48540-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86068-7
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Inhalt
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Religion im Kontext der Säkularisierung . . . . . . . . . .
1.1. Säkularisierung und der Prozess der Moderne . . . . 1.2. Transformationen der Religion im Kontext der Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Schlussfolgerungen für das Verständnis von Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Philosophie und die neue Aufmerksamkeit für Religion 1.5. Fragestellung und Struktur der Argumentation . . . . 2.
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Interdisziplinäre Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1. Religionstheorien der Moderne (von E. Durkheim bis C. Geertz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Klassische Religionstheorien . . . . . . . . . . . 2.1.2. Neoklassische Religionstheorien . . . . . . . . . 2.2. Von der mittelalterlichen Theologie über die Religionskritik zur modernen Religionsphilosophie . . . . . . . . 2.3. Zwei Wege der politischen Philosophie und die Konsequenzen für das Nachdenken über Religion . . . . 2.3.1. Grundfragen der politischen Philosophie . . . . . 2.3.2. Kants rationalistische Deutung von Politik und die Vernunftreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Hegels Begriff der Sittlichkeit und die kritische Funktion der Religion . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rekonstruktion des Diskurses über Religion . . . . . . . .
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3.1. Postsäkularität und die Folgen für die Demokratie (J. Habermas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Habermas’ Gesellschaftstheorie und Diskursethik .
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Inhalt
3.1.2. Merkmale der postsäkularen Deutung von Religion 3.1.2.1. Habermas und die Religion: eine lange Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . 3.1.2.2. Postsäkulare Gesellschaft und das moralische Potenzial der Religion . . . . . . . . . . 3.1.2.3. Öffentlicher Vernunftgebrauch und der Übersetzungsvorbehalt . . . . . . . . . . 3.1.2.4. Absetzung vom kantischen Erbe: Glauben ist opak . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1. (Theologische) Rezeptionen und Kritiken . 3.1.3.2. Grenzen der Postsäkularität und Funktionalisierung von Religion . . . . . 3.1.3.3. Eine erste folgenreiche Unterscheidung: Glauben und Wissen . . . . . . . . . . . 3.1.3.4. Eine zweite wichtige Unterscheidung: Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.5. Religion als Teil der politischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Liberale Begrenzung von Religion (R. Rorty) . . . . . . . 3.2.1. Pragmatismus und die liberale Ironikerin . . . . . 3.2.2. Rortys Religionskritik und romantische Hoffnung . 3.2.2.1. Antiklerikalismus als liberale Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2. Religion als conversation stopper im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3. Vorrang des Sozialen vor der Frage nach der Existenz Gottes . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1. Trennung von privat und öffentlich . . . . 3.2.3.2. Liberalismus als Weltanschauung . . . . 3.2.3.3. Schlussfolgerungen für ein pragmatistisches Religionsverständnis . . . . . . . . . . . 3.3. Religion als Teil der Geschichte und Kultur (M. Walzer) . 3.3.1. Walzers Kommunitarismus als politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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81 81 87 93 97 101 101 107 113 118 122 128 128 136 136 138 142 150 150 154 157 161 161
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Inhalt
3.3.2. Das Judentum als kulturelles Paradigma zur Deutung von Religion . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1. Über Heilige, Propheten und radikale Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2. Exodus-Motiv und politischer Messianismus . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3. Verhältnis von Religion und Politik in liberalen Demokratien . . . . . . . . . . 3.3.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1. Judentum als kulturelle Praxis . . . . . . 3.3.3.2. Kommunitaristische vs. liberale Theorie und die Kunst der Trennung . . . . . . . 3.3.3.3. Kulturelle Ausdifferenzierung der Religion 3.4. System zur Beobachtung des Unbeobachtbaren (N. Luhmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Systemtheoretische Rekonstruktion ausdifferenzierter Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Systemtheoretische Interpretation von Religion . 3.4.2.1. Reduktion von Komplexität als Funktion der Religion beim frühen Luhmann . . . 3.4.2.2. Religion als Thema der Soziologie in Zeiten der Säkularisierung . . . . . . . . . . . 3.4.2.3. Kommunikation, Sinn und Codierung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4. Gottesbegriff als Kontingenzformel . . . 3.4.2.5. Wiederkehr der Religion aus Sicht der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1. Binärer Code und die Funktion von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2. Religionsphilosophische und theologische Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.3. Einheit der Systeme und Exklusion der Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Dekonstruktion von Religion (J. Derrida) . . . . . . . . . 3.5.1. Das Denken der différance als Ziel der Philosophie . 3.5.2. Religion und die Grenzen von Sprache . . . . . . 3.5.2.1. Religion als Wiederholung der Spannung von Transzendenz und Immanenz . . . .
167 168 171 176 182 182 185 190 192 192 197 197 200 203 207 209 212 212 214 217 222 222 231 232 A
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Inhalt
3.5.2.2.
Kontextualisierung des Sprechens über Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2.3. Dekonstruktionen des religiösen Feldes . . 3.5.2.4. Verhältnis von Dekonstruktion und negativer Theologie . . . . . . . . . . . 3.5.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.1. Grenzen einer Religion ohne Religion . . 3.5.3.2. Dekonstruktion der Differenz von Glauben und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.3. Globale Dimension der Dekonstruktion und ihre Begrenzungen . . . . . . . . . 3.5.3.4. Derrida und Rorty – eine Parallele? . . . . 3.6. Religion als Grundlage des schwachen Denkens (G. Vattimo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1. Vattimos hermeneutische Metaphysikkritik . . . . 3.6.2. Religion als Ursprung des schwachen Denkens . . 3.6.2.1. Nähe von Hermeneutik und Religion und die kénosis . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.2. Hermeneutisches Erbe der jüdischen Religionstheorie . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.3. Religion und Moral . . . . . . . . . . . 3.6.2.4. Säkularisierung und die Wiederkehr der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3. Kritische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.1. Parallelen zwischen Vattimos und Rortys Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . 3.6.3.2. Interpretationen von Nietzsche und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.3. Postmoderne Interpretation der Religion . 3.7. Schnittflächen und Kritikpunkte im Diskurs über Religion 3.7.1. Metaphysikkritik als Thema der politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2. Neufassung des Säkularisierungsparadigmas . . . 3.7.3. Leerstellen des Diskurses . . . . . . . . . . . . .
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235 239 251 258 258 263 265 268 271 271 276 276 281 284 286 291 291 293 295 300 301 309 317
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Inhalt
Transformationen für den Diskurs über Religion . . . . . .
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4.1. Philosophiehistorische Impulse . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Wissendes Nichtwissen über das Absolute (Nikolaus von Kues) . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Abhängigkeitsgefühl und kulturelle Ausdifferenzierung (F. Schleiermacher) . . . . . . . . 4.1.3. Religion als Selbsttranszendenz (J. Dewey) . . . . 4.2. Merkmale eines Religionsverständnisses für den aktuellen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Philosophiehistorische Impulse . . . . . . . . . . 4.2.2. Religion als soziale Praxis und das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz . . . . . . . . . . . 4.3. Neufassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen . 4.3.1. Wechselseitige Verwiesenheit von Glauben und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Religion als Kritik des (vernünftigen) Common Sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Funktionales Religionsverständnis . . . . . . . . . . . . 4.4.1. Grundlagen und Begrenzungen eines funktionalen Zugangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Moralische Funktion von Religion . . . . . . . . 4.5. Das Verhältnis von Religion und Kultur . . . . . . . . . 4.5.1. Kultur und Interkulturalität als wissenschaftliche Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2. Konsequenzen des cultural turn für die Frage nach der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3. Ambivalenzen der ausdifferenzierten Religion . . 4.6. Religion in der politischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . 4.6.1. Chancen und Grenzen der liberalen Deutung von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2. Religion als Präzedenzfall eines demokratischen Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3. Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftliche Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.
5.
Fazit
323 330 338 344 344 349 352 352 360 363 363 368 375 375 381 384 389 389 393 397
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1. Religion im Kontext der Säkularisierung
1.1. Säkularisierung und der Prozess der Moderne Im Jahre 1799 veröffentlicht Friedrich Schleiermacher anonym eine Schrift mit dem Titel Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Schleiermacher 1799/1984). Schleiermachers Schrift erscheint in einer Zeit, die von Historikern wie Philosophen gleichermaßen als eine Umbruchphase in der Geschichte Europas beschrieben wird – sowohl was das politische System, die gesellschaftlichen Strukturen als auch die Religion betrifft (vgl. Schneiders 1997). So löst sich die Politik im Zuge der Aufklärung von absolutistischen Ideen, und im Gefolge von Autoren wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant entstehen in der politischen Philosophie demokratietheoretische Konzeptionen liberaler Prägung. Aber auch in die politische Praxis gehen diese Ansätze immer häufiger ein. Die Betonung von Freiheit und Toleranz sowie ein starker Fortschrittsglaube kennzeichnen das neue bürgerliche Selbstbewusstsein dieser Zeit, die in der Französischen Revolution ihren politischen Höhepunkt findet. Auch die Religion ist von dieser Umbruchphase stark betroffen, und zwar nicht nur institutionell. In der theoretischen Auseinandersetzung wird in dieser Zeit teils heftig diskutiert, welche Rolle der Religion in neuzeitlichen Gesellschaften überhaupt noch zukommen kann und soll. Schleiermachers Schrift muss vor dem Hintergrund dieser Debatten gelesen werden. Er schreibt gegen die vermeintlich aufgeklärten Eliten, die seiner Ansicht nach einen verkürzten Religionsbegriff verwenden oder Religion ganz aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen wollen. Schleiermacher argumentiert demgegenüber für ein neues Verständnis von Religion, das diese nicht auf einzelne Aspekte (Metaphysik oder Moral) reduziert. Religion ist in dieser Hinsicht eine fundamentale Erfahrung des Menschen, die nicht als etwas Unvernünftiges abgetan werden darf. Sie gehört auf einer grundlegenden A
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Ebene zum Menschen und dessen Erfahrungswelt und sollte deshalb in Theorie wie Praxis angemessene Beachtung finden. Schleiermachers Verdienst besteht nicht nur darin, eine philosophisch wie theologisch einflussreiche Schrift verfasst zu haben, die außerdem den neuzeitlichen Protestantismus nachhaltig geprägt hat, sondern vor allem hat er der Religion einen eigenen Platz in der Gesellschafts- bzw. Kulturwelt sowie der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts zugewiesen (vgl. Kap. 4.1.2.). Die Säkularisierungsdebatte der vergangenen vier Jahrzehnte ist der Diskussion über Religion in der Umbruchzeit des frühen 19. Jahrhunderts in gewisser Weise ähnlich. Kern dieser Diskussion ist, ob mit voranschreitender Modernisierung, Individualisierung und Demokratisierung Religion individuell wie sozial an Bedeutung verlieren oder sogar aussterben werde. In den letzten zehn Jahren wurde allerdings von unterschiedlicher Seite aus Kritik an einem überzogenen Säkularisierungsparadigma geübt. Insbesondere Religionssoziologen haben eingewendet, dass Religionen in einigen Regionen der Welt an Bedeutung verloren haben mögen, sie aber trotzdem auf unterschiedlichen Ebenen und in vielfältigen Formen eine wichtige Rolle spielen – nicht nur in westlichen Gesellschaften, sondern weltweit. Religion ist nach wie vor ein relevanter Akteur und ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Nicht zuletzt seit dem 11. September wird Religion verstärkt als globales Phänomen wahrgenommen (vgl. exemplarisch Durst/Münk 2007; Gabriel/Höhn 2008; Graf 2004; Müller et al. 2007). 1 Die Frage allerdings, wie Religion angesichts dieser Konstellationen interpretiert werden kann, ist heute genauso wie zu Schleiermachers Zeiten heftig umstritten. Zwei Aspekte spielen dabei nach wie vor eine wichtige Rolle: Wie kann Religion angemessen verstanden werden, ohne sie reduktionistisch zu interpretieren? Und welche gesellschaftliche Rolle kommt ihr heute zu? Will man dem Phänomen dieser neuen Wahrnehmbarkeit von Religion – auch als Renaissance der Religion oder des Religiösen bezeichnet – gerecht werden, so sind zuerst die gesellschaftlichen und politischen Transformationsbedingungen der Moderne in den Blick zu Die Ursprünge dieser neuen Aufmerksamkeit für Religion reichen bis in die 1980erJahre; vgl. exemplarisch die von Willi Oelmüller veranstalteten Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie. 1984 beschäftigte sich dieses bereits mit der Wiederkehr der Religion (Oelmüller 1984; vgl. auch Oelmüller 1986).
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nehmen, die Hintergrund dieser Entwicklung sind. Die zentralen Merkmale der Moderne sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer diese Diskurse über Religion geführt werden (vgl. Reder/Rugel 2010; Krause 2012; Willems/Schmidt 2013). Dieser Prozess der Moderne bringt sowohl für Gesellschaften insgesamt als auch für Religionen vielfache Veränderungen mit sich. Funktionale Ausdifferenzierung, Individualisierung und Pluralisierung – all dies sind Strukturmerkmale moderner Gesellschaften, durch die die alleinige Deutungshoheit von Religion zerbrochen ist. Menschen in demokratischen Gesellschaften greifen immer weniger auf Religion als alleinige Deutung ihres Lebens oder gesellschaftlicher Entwicklungen zurück. Politische Ausgangsbedingung der Moderne in Bezug auf die Religion ist eine in den Gesellschaften des Westens, aber auch in vielen anderen Teilen der Welt vollzogene Ablösung der Religion vom Staat (vgl. Graf 2013). Seit der Französischen Revolution hat sich immer mehr die Idee eines politischen Gemeinwesens durchgesetzt, in dem der Staat als neutrale Instanz konzeptualisiert wird, der die Interessen aller Bürger 2 unabhängig von ihrer Weltanschauung sichert (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007). Gleichzeitig wird das Recht auf Religionsfreiheit betont, das allen Bürgern eine freie Religionsausübung zusichert. Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates und individuelle Wahl von Weltanschauungen werden zu den beiden Facetten der Religionsfreiheit als einem zentralen Grundrecht moderner Demokratien. Positive wie negative Religionsfreiheit sind in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit Grundsteine der säkularen Gesellschaft, wodurch Religion einerseits ihre enge Verknüpfung zum Staat eingebüßt, andererseits aber einen gesellschaftlichen Entfaltungsspielraum eröffnet bekommen hat. Folglich hat »der Säkularisierungsprozess nicht nur der Politik, sondern auch der Religion einen Freiheitsgewinn beschert« (Fischer 2009, 11). 3 Gleichzeitig ist die säkulare Moderne durch einen Bedeutungsverlust der institutionell verfassten Religion gekennzeichnet. Die kritische Haltung gegenüber den Institutionen der christlichen Kirchen und die Hier wie im Folgenden wird bei Personengruppen nur die männliche Form verwendet, wobei die weibliche immer gleichberechtigt mitgedacht ist. 3 Zur Verdeutlichung des Zusammenhangs der beiden Aspekte von Religionsfreiheit wird in aktuellen Studien oftmals auf die USA verwiesen, weil dort positive und negative Religionsfreiheit gleichermaßen stark betont werden und sich gleichzeitig eine hohe Vitalität des Religiösen zeigt (vgl. Kodalle 1988; Mitri 2005; Brocker 2005a; Wald 2005; Ostendorf 2005). 2
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Zahl der Kirchenaustritte in den westlichen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten sind Indizien hierfür (vgl. Pollack 2003; ders. 2007; Gabriel 2008b). Diese Prozesse der Entkirchlichung gehen in säkularen Gesellschaften einerseits mit einem Rückgang des traditionellen Glaubens und andererseits mit einer Privatisierung der Religion einher. »Die Kombination von Religion, Privatheit und Intimität prägt heute sowohl den individuellen Frömmigkeitsstil als auch den gesellschaftlichen Umgang mit Religion: Die letzten Überzeugungen macht man gerne mit sich selbst oder zumindest nur mit den nächsten Angehörigen aus« (Anselm 2007, 3).
Religiöse Fragen werden im Zuge dessen immer mehr zu Fragen des Individuums und damit zu einem Teil des Privaten, weshalb die religionssoziologische Forschung von einer Privatisierung von Religion spricht. Diese verschiedenen Prozesse zusammengefasst, zeigen sich drei Dimensionen von Säkularisierung im Kontext der Moderne: eine Ablösung der Religion vom Staat einschließlich der Stärkung von positiver wie negative Religionsfreiheit, ein Rückgang des traditionellen religiösen Glaubens (inkl. der Bedeutung seiner Institutionen) und eine Privatisierung von Religion (vgl. Casanova 2004). Die Privatisierung der Religion steht dabei meist in einem engen Wechselverhältnis zur institutionellen Trennung von Staat und Religion und damit zum Modell des politischen Liberalismus, das zur Grundlage des demokratischen Rechtsstaates geworden ist. Die systematische Trennung von privat und öffentlich, die diesem Modell zutiefst inhärent ist, ermöglicht es im Grunde erst, die Religion im Privaten zu verankern. Liberalismus und Säkularisierung führen dazu, »dass die Beschränkung der Religion auf die Privatsphäre zu den Strukturmerkmalen gehört, die die Moderne als solche definieren« (Casanova 2004, 272). Religion wird schlussendlich zur Privatsache der Bürger und damit aus der Öffentlichkeit gedrängt.
1.2. Transformationen der Religion im Kontext der Säkularisierung Die genannten Merkmale der Moderne haben allerdings nicht zu einem Ende der Religion geführt, vielmehr lassen sich heute im Kontext der facettenreichen Säkularisierungsprozesse weltweit – d. h. auch in den vermeintlich säkularen Gesellschaften des Westens – Spuren der 16
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Transformationen der Religion im Kontext der Säkularisierung
Religion in unterschiedlichen Bereichen finden. Religion ist soziologisch betrachtet nicht ausgestorben, sondern sie hat die Prozesse der Moderne in verschiedenen Formen verarbeitet und im Zuge dessen ihre gesellschaftlich-kulturellen Ausdrucksformen verändert (vgl. Hainz 2003). Diese Transformation der Religion im Kontext der säkularen Moderne bezieht sich auf ihre politische Vitalität (a), ihre (institutionelle) Ausdifferenzierung (b), die Vervielfältigung des Religiösen (c) sowie ihre teilweise vollzogene Radikalisierung (d). Ad (a): Religionsgemeinschaften nehmen heute zu politischen Fragen Stellung oder bringen sich in öffentliche Debatten ein. Beispielsweise sind christliche Religionen in vielen westlichen Ländern ein selbstverständlicher Bestandteil von Bioethikkommissionen und werden zu besonders drängenden gesellschaftlichen Fragen gehört; insbesondere in kontroverse ethische Debatten bringen sie ihre Sichtweise ein (vgl. Honnefelder 2008). Aber auch viele andere Religionsgemeinschaften – seien sie islamisch, buddhistisch, hinduistisch – treten überall in der Welt als zivilgesellschaftliche Akteure auf, die sich in politische Debatten einmischen. Religionen nehmen in diesem Zusammenhang nicht nur zu bereits etablierten politischen oder ethischen Diskussionen Stellung, sondern sie setzen auch eigene, genuin religiöse Themen auf die Tagesordnung öffentlicher Diskurse. Die Debatte über das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für Deutschland ebenso ein Beispiel wie der sogenannte Kopftuchstreit (Maier 1996; Esser 2000; Oestreich 2004). Auch wenn also die institutionalisierte Religion im Zuge der Moderne an Bedeutung verloren hat, schwindet nicht das Interesse an ihren politischen Stellungnahmen in öffentlichen Debatten, was sich auch an der nach wie vor großen Medienpräsenz der Kirchen festmachen lässt (vgl. Knoblauch 2000; Hurth 2008). 4 Man kann daher die Schlussfolgerung ziehen, dass »Religionen, religiöse Überzeugungen, Praktiken und Gemeinschaften auch heute noch auf vielfache Weise in gesellschaftliche Kontexte, öffentliche AreElisabeth Hurth macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass das Alltagsleben der Gläubigen kaum Thema in den Medien ist. Die Medien »lenken die Aufmerksamkeit auf himmelssehnsüchtigen Terror sowie auf kirchliche Megaevents (…). Der mediale Aufmerksamkeitswert, der der religiösen Alltagspraxis in Kirche und Gemeinden zukommt, ist dagegen vergleichsweise gering: Je mehr von dem sogenannten ›Megatrend Religion‹ in den Medien die Rede ist, desto mehr verdunstet Religion im Alltag des Einzelnen« (Hurth 2008, 36).
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nen und Diskurse involviert und verstrickt sind« (Arens 2007b, 64). Dies gilt umso mehr auf der globalen Ebene, nicht zuletzt weil man Religionsgemeinschaften »neben multinationalen Unternehmen und Massenmedien mit globaler Reichweite zu den frühesten Motoren des Prozesses, den man ›Globalisierung‹ nennt« (Leggewie 2007, 13), zählen kann. Ad (b): Charakteristisch für moderne Gesellschaften ist eine enorme Ausdifferenzierung der Religionsgemeinschaften. Dieser Prozess ist grundsätzlich nicht neu, denn die Geschichte der Religionen, insbesondere der Weltreligionen, ist auch eine Geschichte der Aufspaltung und Ausdifferenzierung. In diesen Prozessen haben sich Religionen immer mit kulturellen Traditionen verbunden, wodurch verschiedene neue – teils synkretistische – Formen entstanden sind. Die Geschichte des Christentums in den ersten Jahrhunderten ist im Zuge dessen ein ebenso eindrucksvolles Beispiel hierfür wie die Anpassung der islamischen Religion an die javanische Kultur in Indonesien. Dieser Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung und Pluralisierung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fortgesetzt und intensiviert. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich Gruppierungen von den Weltreligionen abgespalten oder neben ihnen etabliert. Sie agieren oftmals eher informell, und sprechen dabei eine Vielzahl von Menschen an. Auch der Zulauf evangelikaler Gruppierungen ist zu einem bedeutenden globalen Phänomen geworden (vgl. Hochgeschwender 2007; Schäfer 2010). 5 Diese Pluralisierung von mehr oder weniger institutionell verfassten Religionsgemeinschaften hat auch dazu geführt, dass sich Menschen individuell für eine Religion entscheiden oder aus verschiedenen religiösen Traditionen ihre eigene Patchwork-Religion zusammensetzen können, was sich insbesondere bei Jugendlichen deutUmstritten ist allerdings in der religionssoziologischen Forschung, wie sich diese Ausdifferenzierung des religiösen Feldes auf die Vitalität von Religionen insgesamt auswirkt. Detlef Pollack beispielsweise ist skeptisch gegenüber dieser These und betont, dass »die Effekte religiöser und kultureller Pluralisierung auf das religiöse Feld (…) überwiegend eher negativ zu sein« scheinen. »Die Tendenz zur Entkonkretisierung religiöser Vorstellungen und zu einer damit einhergehenden Rückläufigkeit der Bedeutung des derart flüssig gewordenen Religiösen für die individuelle Lebensführung kann als empirisch nachgewiesen gelten« (Pollack 2007, 51). Die Vervielfältigung der religiösen Gemeinschaften, Orientierungen und Praktiken führt seiner Ansicht nach »zu einem Rückgang der Bedeutung von Religion und Kirche für das Individuum« (Pollack 2008, 11), denn die Zugewinne der neuen religiösen Bewegungen sind »nicht im entferntesten in der Lage, die beträchtlichen Verluste der christlichen Kirchen auszugleichen« (Pollack 2003, 12).
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lich zeigen lässt (vgl. Ziebertz et al. 2003). Religionsökonomische Ansätze erklären diese Pluralisierung mit dem Marktmodell, d. h., die Wiederentdeckung der Religion erfolgt »unter den Bedingungen des freien Marktes religiöser Angebote« (Hurth 2008, 26), auf dem verschiedene religiöse Formen miteinander konkurrieren und Menschen das für sie überzeugendste Angebot auswählen (vgl. Stark/Baindridge 1987). Ad (c): Im Zuge dieser Veränderungen im Bereich der institutionalisierten Religionsgemeinschaften ist außerdem eine facettenreiche Transformation des Religiösen zu beobachten, denn religiöse Symbole und Sprachspiele wurden in den vergangenen Jahrzehnten in viele andere nicht genuin religiöse Bereiche übertragen. Nicht nur in westlichen Ländern finden sich beispielsweise in Film, Theater, Werbung oder der Inszenierung von Massenevents deutliche Anleihen bei religiösen Traditionen (vgl. Knoblauch 2000; Hainz 2003). 6 Gerade in westlichen Kulturen spiegeln sich zudem vielfältige Signaturen traditioneller Religionen, wie beispielsweise in den pseudo-religiösen Inszenierungen von Fußballevents (vgl. Boelderl et al. 2005). In diesen Kontexten kann allerdings meist nur noch von quasi-religiösen Phänomenen die Rede sein, weil vor allem der Transzendenzbezug teilweise unklar bzw. sogar sinnentleert ist. 7 Im transformierten religiösen Feld im Kontext der SäkularisieFranz-Xaver Kaufmann (1989) analysiert als ein Beispiel aus dem Bereich der bildenden Kunst die Werke von Joseph Beuys und dessen Affinität zur Religion. In Beuys’ Verständnis von Gesellschaft als soziale Plastik verarbeitet er allgemein-menschliche Erfahrungen, die oftmals einen religiösen Charakter haben. In dieser Hinsicht ist Beuys ein Beispiel für die kulturelle Transformation der Religion in die (post-)moderne Kunst (vgl. Grom 2003). 7 Die Medien leisten sicherlich einen erheblichen Beitrag zur Ermöglichung dieser Transformationen und zur Verbreitung quasi-religiöser Phänomene (vgl. Dethloff et al. 2002). Was diese Transformation wiederum für die traditionellen Religionsgemeinschaften bedeutet, ist umstritten. So argumentiert der evangelische Systematiker Ulrich Körtner, dass der ›Megatrend Religion‹ keineswegs bedeute, dass der religiöse Glaube intensiviert worden wäre (Körtner 2006b). Die Religion, die da angeblich wiederkehrt, ist seiner Ansicht nach eine ›zahnlose‹ Religion. »Sofern nicht alles und jedes – wie Popkultur und Sport – für ›religioid‹ erklärt wird, kann man statt von einem ›Megatrend Religion‹ mit gleichem Recht von einem ›Megatrend Gottvergessenheit‹ sprechen« (Körtner 2006a, 13). Andere Theologen machen darauf aufmerksam, dass gerade die herkömmlichen Religionen eine spezifische Kompetenz zur Analyse »populärkultureller Phänomene« (Boelderl et al. 2005, 7) des Religiösen haben. Gerade die Theologie könnte also Hilfe6
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rung entstehen also neue Varianten von Religiosität (vgl. Arens 2007b), beispielsweise therapeutische (Selbstverwirklichung des Individuums), kultische (Rituale im Fußball) und ästhetische (das Heilige im Film) Spielarten. 8 Aus dieser Perspektive lässt sich das Verdunsten der traditionellen Religion, »aber auch ihr kulturelles Versickern und Aufgefangenwerden in den unterirdischen Bewässerungssystemen der säkularen Teilsysteme (…) ebenso wie ihre Kondensation in der Populärkultur und in den Lifestyleofferten einer zeitgemäßen ›Lebenskunst‹« (Höhn 2007, 34) beobachten. »Um die gesamte Bandbreite postreligiöser und zugleich postsäkularer Konstellationen von Religion, Kultur und Gesellschaft zu erfassen, sind daher vor allem jene Phänomene einer Transformation des Religiösen zu rekonstruieren, die dadurch geprägt sind, dass in säkularen Kontexten religiöse Themen und Motive als säkulare ›updates‹ begegnen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob die Religion wiederkehrt, sondern als was« (Höhn 2008, 46).
Folge dieses ›Dispersionstrends‹ ist, dass das »Religiöse zunehmend ungreifbarer und unbestimmter [wird]. Es schwebt frei umher, ohne sich an eine eindeutige Glaubens- und Lebenssphäre zu binden« (Hurth 2008, 24). Die semantischen und symbolischen Potenziale der Religionen prägen im Zuge dieser Transformationen zwar kulturelles Leben, ohne aber dezidiert als Religion wahrnehmbar zu sein. Dies gilt nicht nur für europäische Gesellschaften, sondern für viele Länder weltweit, in denen sich unterschiedliche Mischformen kultureller Religiosität herausgebildet haben. Solche Transformationsprozesse haben sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht eine lange Geschichte. Insbesondere in der europäischen Geschichte werden schon seit vielen Jahrhunderten religiöse Ideen und Semantiken in allgemein-politische Diskurse, Institutionen und Symbole übersetzt und in diese integriert, was beispielhaft an der Nationenbildung aufgezeigt werden kann. stellungen zur Beschreibung und Erklärung aktueller Transformationen des Religiösen in den kulturellen Bereichen leisten und damit gesellschaftliche Bedeutung erlangen. 8 Während die Rede von der Religion auf deren objektiv erfassbare Gestalt fokussiert (theologische Aussagen über Gott, moralische Handlungsorientierungen oder die Religionsgemeinschaften als Institutionen), bezeichnet der Begriff ›Religiosität‹ die subjektive Seite der Religion. Religiosität stellt eine individuell geformte Haltung des Menschen gegenüber sich selbst und der Wirklichkeit unter Bezugnahme auf eine (meist weit gefasste) Transzendenz dar.
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»Die ›Erfinder‹ der Nation sind auf religiöse Symbolsprache angewiesen, um eine emotional bindende starke Vergemeinschaftung erzeugen zu können. Sie dekorieren überkommene religionssemantische Bestände, religiöse Riten und kirchliche Liturgien, um die hohen emotionalen Energien, die fromme Menschen in ihren Glauben investieren, auf die Nation hin lenken zu können« (Graf 2004, 119). 9
Für die aktuelle Situation des ausdifferenzierten religiösen Feldes im deutschen Kontext liefert der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung einen Beleg für die sich in kultureller wie politischer Hinsicht vollziehende Transformation und Vervielfältigung des Religiösen (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2007). Der Soziologe Armin Nassehi hält fest, dass die Menschen in Deutschland über eine erhebliche religiöse Kompetenz verfügen, »das heißt die Menschen scheinen in der Lage zu sein, religiöse Formen nicht nur reflexiv zu identifizieren, sondern auch praktisch auf ihr Leben zu beziehen« (Nassehi 2007, 113). In diesem Zusammenhang spielen traditionelle Institutionen und konfessionelle Grenzen allerdings eine untergeordnete Rolle. 10 Die religiösen Chiffren sind meist »am eigenen Erleben orientiert und nur sehr begrenzt durch bloße Mitgliedschaft beziehungsweise bloße kirchlich-religiöse Praxis bestimmt« (Nassehi 2007, 118). Zentral ist für die Menschen, »einem auf Authentizität zielenden Erwartungsstil zu folgen und darin tatsächlich ›religiös‹ zu sein« (Nassehi 2007, 122). Soziologisch gesprochen »wird man durch religiöse Ansprache« (Nassehi 2007, 123) religiös. Die Grundfrage ist also weniger, »wer wie religiös ist (oder nicht), sondern in welchen ZuBeispielsweise weist auch der aktuelle Diskurs über Globalisierung an einigen Stellen religiöse Signaturen auf, was gleichermaßen die Sprachspiele der liberalen Befürworter der Globalisierung wie die ihrer Gegner betrifft. »Beide Arten von Beschreibung verweisen auf religiöse Rhetorik. Die liberale Beschreibung tendiert zur Reproduktion calvinistischer Rhetorik, denn der Liberalismus baut auf calvinistischem Vokabular auf und gelangt historisch in Verbindung mit ihm zur Blüte. Sie rekurriert auf das Konzept erkennbarer und problemlos anwendbarer Rationalität. (…) Dem stehen verschiedene Vertreter einer Betrachtung der Globalisierung entgegen, die sich im Vokabular des ›kritischen Selbstbewusstseins‹ artikulieren. (…) Sie verweisen regulär auf Marx, in dem wiederum prominente Verweise auf prophetische Erzählungen identifiziert werden können, die ihrerseits Luther beeinflussten. So sind Muster, die als lutheranisch gesehen werden können, nun als Befreiungserzählungen in der Globalisierungskritik angekommen« (Dellwing 2008, 149). 10 Nassehi ergänzt an anderer Stelle: Das »empirische Material zeigt aber, dass innerhalb des Religionssystems gewissermaßen unorganisierte und unorganisierbare Formen religiösen Erlebens sich etablieren – auch bei denjenigen, denen intensives religiöses Erleben alles andere als fremd ist« (Nassehi 2007, 130). 9
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sammenhängen die religiöse Rede sich praktisch ›bewährt‹« (Nassehi 2009, 178). Eine zentrale Funktion religiöser Rede ist es in dieser Hinsicht, Orientierung bei der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung zu geben, wobei symbolhafte Handlungen eine große Rolle spielen. »Die Erwartung an eine bürgerlich-reflexive Form des Religiösen wird abgelöst durch eine postbürgerliche Form, deren Maßstab gerade nicht ein Allgemeines ist, an dem sich das Individuum als Individuum bewährt, sondern ein Besonderes, das durch den authentischen Vortrag plausibel wird. Inhalte geraten dabei in den Hintergrund, weil sie letztlich nicht für sich zählen, sondern nur in der Form, wie sie authentisch eingesetzt werden können« (Nassehi 2007, 132).
Damit lässt sich die Aufmerksamkeit für Religion zugespitzt auf den Begriff bringen: Es findet oftmals eine Auflösung traditioneller Religionsgemeinschaften statt, die aber nicht mit einem Verschwinden des Religiösen einhergeht. Religion wird insbesondere in unterschiedlichen Lebenslagen als wichtig empfunden und daraufhin individuell angepasst, wodurch eine facettenreiche Vervielfältigung des Religiösen stattfindet. Ad (d): Religionsgemeinschaften als gesellschaftliche Akteure bringen schlussendlich teilweise auch gesellschaftliche Probleme mit sich, vor allem wenn fundamentalistische Strömungen in Religionsgemeinschaften religiöse Aussagen verabsolutieren und diese vehement – teilweise mit Gewalt – durchsetzen wollen (vgl. Meyer 1989; Marty/Appleby 1996; Riesebrodt 2000; Arens 2007b; Brocker/Hildebrandt 2008). Verbunden mit der starken Ausdifferenzierung des religiösen Feldes ist eine »oft auch radikale Re-Politisierung der Religion, zumindest in dem Sinne, dass sie im öffentlichen Raum selbstbewusster auftritt, bisweilen auch in einer fundamentalistischen Attacke auf die Trennung von Staat und Kirche und in einem damit verbundenen Anwachsen intoleranter und gewalttätiger Strömungen« (Leggewie 2007, 18). So hat die aktuelle Renaissance der Religion »ein Janusgesicht, sie bedeutet auch eine Wiederkehr von religiös motivierten Gewaltkonflikten und ist gepaart mit Intoleranz gegenüber anderen Religionen« (Hurth 2008, 33). 11 Vor diesem Hintergrund werden heute im Karsten Fischer betont zu Recht, dass die Unterscheidung von Politik und Religion letztlich eine Provokation für die Religion selbst ist, weil sie damit ihre Vorrangstellung verliert und sich deshalb gerade im Kontext liberaler Demokratien Fundamentalismen entwickeln können (Fischer 2009, 13). Fischer analysiert in seinem Buch Die Zukunft
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wissenschaftlichen Diskurs unterschiedliche Deutungen des religiösen Fundamentalismus vorgelegt, von denen im Folgenden drei exemplarisch skizziert werden. Eine erste Gruppe von Ansätzen interpretiert den religiösen Fundamentalismus vor allem als eine Gegenbewegung zur Moderne mit ihren Entwicklungen der Individualisierung und Pluralisierung. Religiöser Fundamentalismus wird in dieser Hinsicht als Versuch gedeutet, mit Bezug auf ein Absolutes den Menschen einen sicheren Halt in Zeiten eines tiefgreifenden Wandels zu geben. »Das ist Fundamentalismus: die große Versuchung, innerhalb des sinnlos scheinenden Fortschritts moderner Rationalität Halt zu suchen in einem Absoluten« (Greiffenhagen 1991, 37). Überzeugend ist an diesen Erklärungsmodellen, dass sie auf eine innere Verbindung von Moderne und religiösem Fundamentalismus hinweisen. Die facettenreichen gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Umbrüche, die seit der Neuzeit menschliches Zusammenleben zutiefst prägen, führen notwendig zu der Suche nach neuen Modellen des Zusammenlebens. Der religiöse Fundamentalismus erscheint in diesem Kontext wie eine Reaktion auf die Moderne, weil er in eben diesen tiefgreifenden Umbruchphasen Menschen Sicherheit gibt. Problematisch an diesen Deutungen von Fundamentalismus ist allerdings, dass sie nur unzureichend erklären, was Religion und religiösen Fundamentalismus voneinander unterscheidet. Damit wird dieser Erklärungstyp auf der analytischen Ebene zumindest teilweise unscharf. Daneben steht eine zweite Gruppe von Ansätzen, welche die These vom religiösen Fundamentalismus als Gegenbewegung zur Moderne aufgreift, aber dezidiert in den Kontext des Verhältnisses von Religion und Kultur einordnet (vgl. Müller 2007). Religiöser Fundamentalismus, so der Kern des Arguments, ist eine Form des Glaubens, der sich von seinen kulturellen Wurzeln entfernt hat. Wenn sich aber Religion von der Kultur abtrennt, dann wird sie nur noch zu einem beliebigen Gefühl, das immer weniger auf vernünftige Plausibilität hin überprüft werden kann. Im Zuge dessen wird Religion mehr und mehr zu einem Werbeslogan, was der französische Politologe Olivier Roy als Heilige Einfalt (Roy 2010) bezeichnet. Religiöser einer Provokation (Fischer 2009, 69–140), in welchen Formen religiöse Fundamentalismen und Religionspolitiken auf diese Provokation der Trennung von Politik und Religion reagiert haben. A
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Fundamentalismus entsteht meist dann, so eine seiner zentralen Thesen, wenn sich der Glaube von der Kultur ablöst und die in der Religion integrierten kulturellen Wissensbestände vergessen oder negiert werden. »Weitergegeben wird vor allem ein Gefühl; man möchte beim anderen das gleiche religiöse Erleben wecken, das man selbst empfindet, aber man macht einen Bogen um alles diskursive Wissen, denn das erscheint als Zeitverlust oder als Gefahr, sich in säkularer Selbstgefälligkeit zu verlieren« (Roy 2010, 242). 12
Eine dritte Interpretation des religiösen Fundamentalismus ist an einer kulturhistorischen Perspektive orientiert und setzt bei der inneren Logik der Religionen selbst an. Diese Ansätze deuten die Bezugnahme auf ein Absolutes als Ausgangspunkt für fundamentalistische Tendenzen. Autoren wie Jan Assmann argumentieren, dass insbesondere die monotheistischen Religionen eine grundlegende Tendenz zur Gewalt implizieren und damit die Entstehung fundamentalistischer Bewegungen entscheidend befördern. »Monotheismus heißt zunächst einmal absolute, alle anderen Bindungen hintansetzende Treue zu einem einzigen Gott. Das bedeutet, man darf sich keine Bilder machen, weil jedes Bild die Tendenz hat, als ein anderer Gott verehrt zu werden, und man darf sich nicht mit denen einlassen, die andere Götter verehren und einen zu deren Verehrung verführen könnten. Die Treue zu Gott verlangt, dass man mit Gewalt gegen Bilder und Bildverehrer vorgeht. Man darf sie nicht verschonen« (Assmann 2006, 480).
Diese Neigung zur gewalttätigen Verabsolutierung religiöser Wahrheiten sieht Assmann in der ausschließlichen Bindung des Menschen an einen Gott begründet. 13 Damit sind vier zentrale Facetten (a-d) der neuen WahrnehmbarEine differenzierte Analyse des islamistischen Terrorismus legt Roy in der Studie Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens (Roy 2008) vor, in der auch Verkürzungen der europäischen Perspektive auf diese Bewegungen aufgedeckt werden. 13 Vgl. hierzu Moses der Ägypter (Assmann 1998) und Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (Assmann 2005). »Die Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit Gottes – immer verstanden als: des biblischen Gottesbildes – ergibt sich aus der Ethisierung und Verrechtlichung der Religion, aus dem durchaus revolutionären Schritt des biblischen Gottes, die Ansprüche der Gerechtigkeit zu seiner Sache zu machen und in den Mittelpunkt der Forderungen zu stellen, die er an sein Volk richtet« (Assmann 2006, 483). 12
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Schlussfolgerungen für das Verständnis von Säkularisierung
keit von Religion benannt: politische Vitalität und Ausdifferenzierung der institutionalisierten Religionsgemeinschaften, (post-)moderne Transformation des Religiösen und die Entstehung fundamentalistischer religiöser Strömungen. Gerade in einer globalen Hinsicht wird diese kulturell-gesellschaftliche Bedeutung der transformierten Religion besonders deutlich. Religionen prägen in allen vier Aspekten die Handlungseinstellungen der Menschen, beeinflussen das kulturelle Leben und sind Teil öffentlicher Diskurse oder politischer Prozesse (vgl. Müller et al. 2007). Religionen sind damit ein wichtiger Faktor, der bei der Analyse westlicher Gesellschaften sowie der Weltgesellschaft besondere Beachtung verdient. Eine wichtige Schlussfolgerung aus den vorangegangenen Analysen soll abschließend noch einmal eigens betont werden: Weil Religionen in der Moderne und im Zuge der Entstehung säkularer Gesellschaften nicht verschwunden sind, sondern sich auf vielfältige Weise transformiert haben, ist es sinnvoll, nicht von einer Wiederkehr der Religion, sondern von einer neuen Aufmerksamkeit für Religion zu sprechen. Die vermeintliche Rückkehr der Religion in öffentliche Räume zeigt sich nämlich als »neue Wahrnehmbarkeit des Religiösen in den vielfältig segmentierten Öffentlichkeitsräumen moderner Gesellschaften« (Graf 2007a, 3). 14
1.3. Schlussfolgerungen für das Verständnis von Säkularisierung Vor dem skizzierten Hintergrund der neuen Wahrnehmbarkeit von Religion wird heute disziplinenübergreifend die Frage diskutiert, welche Konsequenzen daraus für das Verständnis von Säkularisierung zu ziehen sind. Auf der einen Seite stehen Autoren, die aus dem Blickwinkel einer liberalen Gesellschaftsauffassung skeptisch gegenüber Martin Treml und Daniel Weidner plädieren ebenfalls dafür, nicht von einer Wiederkehr (oder umgekehrt von einem Verschwinden von Religion) zu sprechen, sondern von einem Nachleben. »Denn Nachleben schwankt zwischen Überleben und Hinterlassen, es ist weder ungebrochenes Fortleben, noch auch ein klar bestimmter Abbruch. Damit sperrt sich die Rede vom Nachleben der Religionen gegenüber der Vorstellung, diese seien ein für alle Mal verschwunden und allenfalls ihr Beitrag zur abendländischen Kultur könne heute bilanziert werden. Sie subvertiert aber gleichermaßen die Vorstellung, Religion habe eine ungebrochene – und letztlich nicht zu brechende – Lebenskraft, die nur eine Weile verdeckt gewesen sein soll« (Treml/Weidner 2007, 11). 14
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einer Transformation des Säkularisierungsparadigmas sind. Diese Skepsis liegt vor allem darin begründet, dass mit einer stärkeren Anerkennung der Religionsgemeinschaften als gesellschaftliche Akteure die Errungenschaften der Demokratie in Gefahr geraten könnten. Der Soziologe Ulrich Beck verschreibt sich ganz eindeutig der Tradition der säkularen Aufklärung und formuliert dies entsprechend des Theorems der reflexiven Moderne bekenntnishaft als seine eigene Geschichte: »Ich, Soziologe, der ich bin, habe im Glauben an die Erlösungskraft der soziologischen Aufklärung das Säkularismus-Idiom im Blut« (Beck 2008, 13). Religion erscheint ihm trotz aller soziologischen Neugier als ein Fremdkörper, der die Errungenschaften der Aufklärung eher anzugreifen als zu unterstützen scheint. Deswegen stellt er polemisch fest: »Die Gesundheitsminister warnen: Religion tötet. Religion darf an Jugendliche unter 18 Jahre nicht weitergegeben werden« (Beck 2007, 12). Neben Autoren wie Beck, die vor allem aus normativen oder politischen Gründen an dem Säkularisierungsparadigma festhalten, gibt es eine zweite Gruppe von Wissenschaftlern, die aus der Sicht eines dezidierten Atheismus die gesellschaftliche Rolle der Religion beschränken wollen. Gemessen an den liberalen Kritikern der Religion schlägt der neue Atheismus einen deutlich schärferen Ton an. 15 Autoren wie Richard Dawkins (2007) werfen der Religion reduktionistische und vergegenständlichende Erklärungen der Welt vor, die gravierende moralische Konsequenzen für moderne Gesellschaften haben. Atheismus, so die pointierte Schlussfolgerung, ist »fast immer ein Zeichen für eine gesunde geistige Unabhängigkeit und sogar für einen gesunden Geist« (Dawkins 2007, 15). Nicht Atheisten, »sondern Theisten sind, wenn nicht moralisch verkommen, so doch auf jeden Fall geistig und seelisch zurückgeblieben, infantil oder sogar dumm« (Schärtl 2008, 155), so rekonstruiert Schärtl die Religionsdeutung von Dawkins; und weiter: »religiöse Erziehung in heutiger Zeit gesellschaftlich konsensfähig zu halten oder sogar staatlich zu fördern oder zu unterstützen, grenze daher an ›geistige Kindesmisshandlung‹« (Schärtl 2008, 155 f.). Thomas Schärtl fasst die Intention dieser Arbeiten des neuen Atheismus folgendermaßen zusammen: »Die aufsehenerregenden Bücher von Richard Dawkins oder Christopher Hitchens gehören in diese Kategorie. Es handelt sich hierbei um Kampfansagen, massive Attacken, die nichts weniger wollen, als Religion die gesellschaftliche (und kulturelle) Anerkennung zu verweigern. Die fundamentalistischen oder radikal-orthodoxen Spielarten von Religion in Christentum, Islam und Judentum liefern dabei die Munition für die atheistische Kulturrevolution« (Schärtl 2008, 143).
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Gegenüber diesen beiden Gruppen von Ansätzen, die für ein starkes Säkularisierungsparadigma plädieren, spielen im aktuellen Diskurs allerdings empirische wie normative Argumente eine wichtige Rolle, die für eine Transformation dieses Paradigmas sprechen. Die skizzierte Ausdifferenzierung und Pluralisierung des religiösen Feldes, die von religionssoziologischer Seite seit vielen Jahrzehnten intensiv erforscht wird (vgl. Kap. 2.1.), führt Autoren zu der These, dass Religion nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt. Einige Ansätze gehen sogar so weit, dass sie grundsätzlich in Frage stellen, ob man überhaupt von einem Prozess der Säkularisierung sprechen kann (vgl. Rodney/Brainbridge 1987; Knobloch 2000); in der abgeschwächten Variante des Arguments wird zumindest die Linearitätsthese der Säkularisierung kritisch in Frage gestellt (vgl. Pippa/Inglehart 2004). Insgesamt votieren diese Ansätze also in unterschiedlicher Reichweite für die Revision eines starken Säkularisierungsparadigmas und für eine neue Aufmerksamkeit für Religion. Soziologisch betrachtet wird dabei die gesellschaftliche Rolle von Religion in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens (politisch, diskursiv, medial usw.) zum Hintergrund der Untersuchung (vgl. Gabriel 2008a). Religionen sind für säkulare Gesellschaften, so das zugespitzt formulierte Ergebnis dieser Überlegungen, nicht per se eine Gefahr, sondern sie können trotz aller Ambivalenz sehr wohl vielfache positive Wirkungen entfalten. Solche Chancen öffentlicher Religion sind zum Beispiel die Verteidigung der Menschenrechte durch Religionsgemeinschaften oder die Einbindung normativ-religiöser Argumente in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu Themen wie Gemeinwohl oder Solidarität (vgl. Casanova 2004, 290 ff.). Welche Funktion der Religion in dieser Hinsicht allerdings genau zukommt und wie Religion in modernen Gesellschaften angemessen verstanden werden sollte – dies ist auch in der Gruppe der Befürworter einer Transformation des Säkularisierungsparadigmas umstritten. Der Gedankengang der vorliegenden Arbeit schließt sich den Analysen der zuletzt genannten Gruppe an und argumentiert für die Transformation eines starken Säkularisierungsparadigmas. Trotz nach wie vor anhaltender Säkularisierungstendenzen in einigen Regionen – beispielsweise in Ostdeutschland, aber auch in anderen Regionen der Welt – ist es mit Blick auf die religionssoziologische Forschung auf der deskriptiven Ebene nicht überzeugend, von einem bevorstehenden Aussterben der Religionen oder des Religiösen zu sprechen. ReligioA
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nen haben sich zwar stark gewandelt und teilweise transformiert; ihnen kommt aber nach wie vor eine gesellschaftliche Bedeutung zu. Säkularisierung führt deshalb nicht notwendig zu einem Ende der Religion, vielmehr wird der religiöse Glaube zu einer Option des gerechten Zusammenlebens und gelungenen Lebens unter vielen. Religion erfreut sich in dieser Hinsicht gerade im säkularen Kontext einer großen Vitalität und kann in einer normativen Hinsicht zur Stärkung demokratischer Gesellschaften wichtige Beiträge leisten (vgl. Taylor 2009). Die Überlegungen zu den Transformationen der Religion angesichts der Moderne (vgl. Kap. 1.2.) weisen allerdings auf die Notwendigkeit hin, einen differenzierten Begriff von Säkularisierung zu entwickeln und dabei die (welt-)gesellschaftliche Bedeutung der Religion und des Religiösen mitzubedenken. Dafür ist »anstelle einer Säkularisierungstheorie, die als religionssoziologische ›Supertheorie‹ (…) auftritt, ein Theoriedesign zu entwerfen, das höchst divergente und heterogene Transformationsprozesse des Religiösen erfasst« (Höhn 2007, 31). Solche Transformationen der Religion und ihre Wechselwirkung mit der Säkularisierung nehmen in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Formen an, denn die Prozesse der Säkularisierung laufen überall anders ab. Deshalb gibt es keinen einheitlichen Umgang säkularer Gesellschaften mit der Religion (vgl. Martin 1979). Säkularisierung muss daher selbst als ein ausdifferenzierter Prozess verstanden werden. Eine Theorie der Säkularisierung sollte offen für die verschiedenen kulturellen Kontexte sein und an die darin implizierten religiösen Standpunkte angepasst werden (vgl. Joas/Wiegandt 2007). 16 Wichtig ist es außerdem, die gesellschaftliche Vergangenheit nicht religiös zu verklären, um die heutige Zeit als säkulare Phase sichtbar werden zu lassen, denn dies würde nur bedingt den empirischen Gegebenheiten entsprechen. »Die Säkularisierungstheoretiker gehen meist von einer völligen Überschätzung der tatsächlichen Religiosität in Europa vor dem Beginn des modernen
Vor diesem Hintergrund ist auch das Verhältnis von Religion und Gesellschaft je nach kulturellem Kontext eigens zu bestimmen. Vgl. dazu beispielsweise einen Band von Michael Durst und Hans J. Münk, in dem für unterschiedliche Gesellschaften (USA, Schweiz, Indien, China, Japan) und unter Bezugnahme auf verschiedene Religionen (Christentum, Islam) das Verhältnis von Religion und Gesellschaft rekonstruiert und kritisch diskutiert wird (vgl. Durst/Münk 2007).
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Säkularisierungsprozesses dort aus. Das Glaubenswissen war aber sogar beim Klerus (und erst recht bei den Laien) lange Zeit in einem beklagenswerten, um nicht zu sagen grotesk unterentwickelten Zustand« (Joas 2007, 17).
Damit ist die Notwendigkeit eines Diskurses über die Transformation des Säkularisierungsparadigmas und die Rolle von Religion angezeigt. Die folgenden Überlegungen fokussieren vor allem auf die Funktion von Religion in demokratischen Gesellschaften. Demokratie wird dabei als politische Organisationsform verstanden, die in vielen Ländern der Welt in unterschiedlicher Weise institutionalisiert wurde und deshalb eine wichtige Voraussetzung für die Beantwortung der Frage nach der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften geworden ist. Vor diesem Hintergrund ergibt sich als eine Konsequenz der Überlegungen zur Religion und ihrer gesellschaftlichen Funktion auch die Notwendigkeit einer Reflexion über ein geeignetes Verständnis von Politik und Demokratie insgesamt. 17
1.4. Philosophie und die neue Aufmerksamkeit für Religion Auch die Philosophie hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt in den Diskurs über die neue Aufmerksamkeit für Religion und eine damit verbundene Transformation des Säkularisierungsparadigmas eingebracht. Diese Debatte über Säkularisierung, ihr mögliches Ende bzw. ihre Transformation und die Neubestimmung des politischen Feldes in seinem Verhältnis zur Religion ist Dreh- und Angelpunkt der aktuellen philosophischen Auseinandersetzung über Religion, die im Kern des folgenden Gedankenganges steht. Ausgangspunkt hierfür ist oft die politische Philosophie, von der aus die gesellschaftliche Funktion von Religion analysiert und kritisch diskutiert wird. Dabei haben sich
Auch (christliche) Theologen haben sich intensiv mit dem Säkularisierungsparadigma auseinandergesetzt. Meist argumentieren sie entweder für einen festen Kern der Religion (zum Beispiel das trinitarische Gottesverständnis), der bewahrt werden soll, oder sie wollen das Religionsverständnis an den mit der Säkularisierung einhergehenden Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung anpassen (vgl. exemplarisch Höhn 2007). In den folgenden Rekonstruktionen wird an verschiedenen Stellen explizit auf die Positionen der Theologie eingegangen (vgl. Kap. 3.1.3.1.), weil sie einige hilfreiche Impulse für den Diskurs geben können.
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auch im philosophischen Diskurs verschiedene Perspektiven auf Religion und ihre gesellschaftliche Bedeutung herausgebildet. 18 Auf der einen Seite stehen Autoren, die – aus unterschiedlichen philosophischen Traditionen herkommend – für ein starkes Säkularisierungsparadigma plädieren, entweder um das Gewaltpotenzial der Religion einzudämmen oder die weltanschauliche Neutralität des demokratischen Staates zu wahren. Peter Sloterdijk gehört mit seinen Überlegungen zum Kampf der drei Monotheismen (Sloterdijk 2007b) zu dieser Gruppe und schließt dabei an die religionstheoretischen und kulturhistorischen Reflexionen von Assmann (Assmann 1998; ders. 2005) an. Sloterdijk betont vor allem das Gewaltpotenzial monotheistischer Religionen und argumentiert, dass religiöser Suprematismus immer eine Tendenz zur Verabsolutierung und damit zur Gewalt impliziere (vgl. Sloterdijk 2007b), weswegen Skepsis gegenüber dem Postulat einer nachsäkularen Zeit geboten sei. »Es wäre ein fataler Trugschluss, wollte man die Rede von der postsäkularen Gesellschaft so verstehen, als ob die ›Aufklärung‹ – oder um einen neutralen Terminus zu wählen: die seit dem 17. Jahrhundert in Europa auskristallisierte Rationalitätskultur mit ihrem Konzept der kumulativen und Generationen übergreifenden Lernprozesse – eine bloße Mittelzeit gewesen sei, die in der Gegenwart zu Ende käme« (Sloterdijk 2007a, 92).
Richard Rorty argumentiert vor dem Hintergrund eines politischen Liberalismus in eine ähnliche Richtung. Religion deutet er als conversation stopper, der demokratische Willensbildungsprozesse empfindlich stören könne, weshalb sie in das Private zu verbannen sei. 19 Gianni Vattimo merkt leicht ironisch an, dass die Frage nach der Religion heute für (politische) Philosophen schon fast zu populär geworden sei. »Today (continental) philosophers speak increasingly, and without providing explicit justification, about angels, redemption, and various mythological figures« (Vattimo 2003b, 30). Problematisch – hier ist Vattimo sicherlich zuzustimmen – ist, dass der Diskurs über die Wiederkehr der Religion nicht immer nur zur analytischen Klärung des Phänomens beiträgt. »Der Religionsbegriff wird gegenwärtig inflationär gebraucht, dass weder das Stichwort vom Ende noch das von der Wiederkehr der Religion allzu viel auszusagen vermögen« (Striet 2005, 509). Gerade dies aber ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Klärung des Phänomens und seiner erkenntnistheoretischen wie moralphilosophischen Implikationen. 19 Besonders wichtige Veröffentlichungen von Rorty zu diesem Themenfeld sind Religion as Conversation Stopper (1994b), Religious Faith, Intellectual Responsibility and Romance (1996a), Religion in the Public Square (2003c), ein gemeinsam mit Vattimo herausgegebener Band zur Zukunft der Religion (2006), Kulturpolitik und die Frage der 18
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Philosophie und die neue Aufmerksamkeit für Religion
Michael Walzer greift einerseits diese liberale Kritik an der gesellschaftlichen Rolle von Religion auf; andererseits will er aus Sicht des Kommunitarismus kulturelle Pluralität als notwendige Bedingung moderner Gemeinwesen betonen, wodurch Religionen als kulturelle Faktoren in den Blick kommen. Das Judentum dient ihm als Beispiel, diese Bedeutung der Religion als kulturelle Grundlage deliberativer Prozesse herauszuarbeiten. 20 Eine zentrale Figur des aktuellen Diskurses über Religion ist ohne Zweifel Jürgen Habermas, der wie kaum ein anderer Intellektueller in den vergangenen Jahren den Diskurs über die postsäkulare Gesellschaft prägt und dabei im Vergleich zu Rorty für eine größere Offenheit in Bezug auf die Religion in liberalen und deliberativen Ansätzen plädiert. Durch die Friedenspreisrede 2001 und seine Gespräch mit Kardinal Ratzinger 2004 und Vertretern der Hochschule für Philosophie der Jesuiten 2007 hat er diesen Diskurs beständig fortgeführt. 21 Im Gegensatz zu früheren religionsskeptischen Äußerungen (vgl. Habermas 1981b) erkennt er heute die Bedeutung der Religion für die deliberative Demokratie deutlich stärker an. Dabei sieht er säkulare und religiöse Bürger in einem wechselseitigen Lernprozess, in dem der religiöse Glaube für das säkulare Wissen allerdings nach wie vor als opak erscheint. Wiederum aus anderen philosophischen Strömungen herkommend, und zwar von Hermeneutik und Dekonstruktivismus, thematiExistenz Gottes (2008a) und abschließend Pragmatismus als romantischer Polytheismus (2008b). 20 Bezüglich der für das Thema relevanten Arbeiten von Walzer vgl. besonders The Revolution of the Saints (1965), Exodus und Revolution (1988), Politik und Religion in der jüdischen Tradition (1996b), Drawing the Line. Religion and Politics (1998a), Exilpolitik in der Hebräischen Bibel (2001), Morality and Universality in Jewish Thought (2007a) und The Anomalies of Jewish Political Identity (2008). Vgl. außerdem zum Überblick über den Religionsdiskurs im Kommunitarismus als philosophische Strömung insgesamt das Sonderheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (2010). Dabei spielt ein weiterer Autor der kommunitaristischen Tradition eine große Rolle, der sich intensiv mit der Religion auseinandersetzt: Charles Taylor (vgl. Taylor 2002; ders. 2009). 21 Die wichtigsten Veröffentlichungen von Habermas zur Religion sind: Politik, Kunst, Religion (1978), Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits (1991b), Kommunikative Freiheit und negative Theologie (1992c), Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft? (1994), Glauben und Wissen (2001), der Band mit Kardinal Ratzinger zur Dialektik der Säkularisierung (2005), Zwischen Naturalismus und Religion (2005) und Ein Bewusstsein von dem, was fehlt (2008b). A
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sieren Gianni Vattimo und Jacques Derrida die Rolle von Religion. Während der Erstere Religion als eine wichtige Bedingung der Entstehung des schwachen Denkens in der Postmoderne interpretiert 22 , dekonstruiert Derrida die Rede über die Wiederkehr der Religion als einen zutiefst westlichen Diskurs. Die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten von Religion – beispielsweise in der Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen – werden deshalb aus seiner Sichtweise oft zu wenig beleuchtet. Religion ist für ihn hingegen ein wissendes Nichtwissen über das Absolute und notwendig mit einem Vorbehalt gegenüber verobjektivierenden Äußerungen verbunden, welche die Mehrdeutigkeit von Sprache missachten. 23 Diese negative Dialektik findet sich auch in soziologisch orientierten Konzeptionen von Religion wie der von Niklas Luhmann, der im aktuellen philosophischen Diskurs ebenfalls oftmals als Referenzpunkt dient. 24 Darüber hinaus gibt es noch viele weitere philosophische Diskursbeiträge, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Traditionen formuliert werden. So werden unter anderem in der analytischen Philosophie Debatten über Teilfragen der Religion geführt (wie beispielsweise zu den Gottesbeweisen oder zur Unsterblichkeit der Seele; vgl. Brüntrup et al. 2010; Hutter et al. 2012), die zu einer philosophischen Aufklärung des Verständnisses von Religion beitragen. Auch theologische Disziplinen schließen an den philosophischen Diskurs über Religion an und bringen aus ihrer Tradition Argumente ein (vgl. Höhn 2007; Das Thema Religion durchzieht viele Werke Vattimos; von besonderer Bedeutung sind Glauben – Philosophieren (1997a), Jenseits der Interpretation (1997b), Die christliche Botschaft und die Auflösung der Metaphysik (2002), Abschied. Theologie, Metaphysik und die Philosophie heute (2003a), After Onto-theology (2003b), Christentum im Zeitalter der Interpretation (2004a), Jenseits des Christentums (2004c), Toward a Nonreligious Christianity (2007), Ein relativistischer Gott? (2008a) und zwei mit anderen Philosophen herausgegebene Bände; und zwar einer mit Derrida zur Religion (2001) und einer mit Rorty zur Zukunft der Religion (2006). 23 Vgl. insbesondere Derridas Publikationen unter dem Titel Wie nicht sprechen (1989), Außer dem Namen (2000a), Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft (2001a) und der zusammen mit Vattimo herausgegebene Band Die Religion (2001). 24 Zentrale Überlegungen zur Religion hat Luhmann in folgenden Schriften angestellt: Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen (1972a), Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution (1972b), Institutionalisierte Religion gemäß funktionaler Soziologie (1974), Funktion der Religion (1977), Religion und Gesellschaft (1991b), Religion als Kommunikation (1998) und schließlich Die Religion der Gesellschaft (2000). 22
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Fragestellung und Struktur der Argumentation
Schmidt, T. M. 2007). Nicht zuletzt werden heute einige Ansätze entworfen, die zwischen soziologischer Religionstheorie und politischer Philosophie angesiedelt sind und die auf die Diskussion über Säkularisierung einen wichtigen Einfluss ausüben (vgl. Joas 2004; ders. 2007; Casanova 1994; ders. 2004; ders. 2009). Philosophen wie Habermas oder Vattimo integrieren teils explizit Argumente dieser Ansätze in ihre Überlegungen. Damit sind einige zentrale Figuren des philosophischen Diskurses über Religion benannt. Die von ihnen entfalteten Ansätze stellen nur einen Ausschnitt der weit gefächerten philosophischen Diskussion dar. Dennoch geht daraus deutlich hervor, dass Religion kein Randthema der Philosophie mehr ist, sondern von unterschiedlichen Autoren und philosophischen Traditionen intensiv behandelt wird. Zu den Kernfragen dieses Diskurses zählt erstens, welche Rolle der Religion in (post-)modernen Gesellschaften bzw. Demokratien zugestanden werden soll, und zweitens, wie Religion angesichts der facettenreichen Prozesse der Moderne angemessen verstanden werden kann. Die Beschäftigung mit der Religion wird dabei drittens innerhalb der politischen Philosophie zu einer Frage des Umgangs mit Pluralität in säkularen Kontexten überhaupt, womit die Grundlagen der Demokratie neu reflektiert und ausgelotet werden. In der Analyse und Reflexion aller drei genannten Aspekte liegt das Potenzial, das die Philosophie zur Klärung und Weiterführung des aktuellen Diskurses über Religion beitragen kann.
1.5. Fragestellung und Struktur der Argumentation Die vorliegende Arbeit macht den philosophischen Diskurs über Religion in säkularen Gesellschaften zum Thema, und zwar in der Form, in der er vor allem in Europa und den USA seit den frühen 1990er-Jahren in der politischen Philosophie geführt wird. Die Fragestellung der Arbeit fokussiert hierzu auf die Rekonstruktion zentraler Ansätze vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Annahmen. Auf der Grundlage einer kritischen Diskussion der Probleme dieser Konzeptionen werden verschiedene Weiterentwicklungen für das Nachdenken über Religion und ihre gesellschaftlich-politischen Funktionen vorgeschlagen. Hierzu werden drei bislang weniger beachtete philosophiehistorische Impulse verarbeitet, und zwar die Ansätze von Nikolaus von Kues, Friedrich Schleiermacher und John Dewey. A
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Methodisch nimmt der Gedankengang seinen Ausgangspunkt in der politischen Philosophie, weil damit die gesellschaftliche und politische Funktion von Religion analysiert werden kann. An vielen Stellen zeigt sich allerdings, dass eine Beschränkung auf die Argumente der politischen Philosophie zur Klärung der skizzierten Fragen zu kurz greift, weil damit metaphysische, erkenntnistheoretische oder religionsphilosophische Aspekte ausgeblendet werden, die zur Klärung der Fragestellung wichtig sind. Insofern bezieht der vorliegende Gedankengang an den entsprechenden Stellen die Argumente anderer philosophischer Teildisziplinen ein, zum Beispiel Erkenntnistheorie oder Religionsphilosophie. Der Fokus der Arbeit liegt allerdings auf den Überlegungen der politischen Philosophie zur Religion. Um die Fragestellung umfassend erörtern zu können, werden nicht nur andere philosophische Teildisziplinen in den Gedankengang integriert, sondern es wird auch auf Theorietraditionen weiterer Wissenschaftsdisziplinen Bezug genommen, die für den Diskurs insgesamt ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Weil insbesondere die Religionstheorie soziologischer und kulturwissenschaftlicher Provenienz zur Reflexion des Themas wichtige Aspekte beiträgt, wird diese explizit zu Beginn der Arbeit auf ihr Klärungspotenzial in Bezug auf die Fragestellung konsultiert. Dazu wird eine knappe Bestandsaufnahme für die Religionstheorie der letzten gut 100 Jahre vorgenommen (vgl. Kap. 2.1.). Ergänzt wird diese Rekonstruktion interdisziplinärer Kontexte außerdem durch eine Analyse der wichtigsten religionsphilosophischen Entwicklungen in der Moderne (vgl. Kap. 2.2.). Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Blick auf Grundfragen und Positionen der politischen Philosophie und die Konsequenzen für das Nachdenken über Religion (vgl. Kap. 2.3.). Daran anschließend wird der aktuelle philosophische Diskurs über Religion rekonstruiert (vgl. Kap. 3.). Um ein möglichst umfassendes Bild des Diskurses skizzieren zu können, werden sechs Ansätze einer eingehenden Analyse unterzogen, die aus dem Blickwinkel unterschiedlicher philosophischer Theorien das Phänomen der Religion in den Blick nehmen: Jürgen Habermas (deliberative Diskurstheorie), Richard Rorty (Liberalismus pragmatistischer Prägung), Michael Walzer (Kommunitarismus liberaler Prägung), Niklas Luhmann (Systemtheorie), Jacques Derrida (Dekonstruktivismus) und Gianni Vattimo (Hermeneutik). Nach den Rekonstruktionen der Ansätze werden diese jeweils einer kritischen Diskussion unterzogen. Dabei werden die An34
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Fragestellung und Struktur der Argumentation
sätze in Bezug auf ihre eigenen Annahmen hin analysiert und nach Kohärenz, Stringenz und problematischen Schlussfolgerungen gefragt. Die Argumente, die für die Auswahl dieser sechs Ansätze sprechen, sind vielfältig und in dem grundlegenden Forschungsinteresse der Arbeit begründet: Erstens gelten die Ansätze als Eckpfeiler der politischen Philosophie der vergangenen Jahrzehnte. Dies trifft allen voran sicherlich für Habermas, Rorty und Walzer zu, aber auch für Autoren wie Derrida, der sich erst relativ spät dieser philosophischen Disziplin zugewandt hat. Dabei stehen die Ansätze für unterschiedliche philosophische Konzeptionen und bilden damit verschiedene Theoriestränge der politischen Philosophie und Religionsphilosophie ab. Liberal geprägte Diskurstheorie, Pragmatismus, Kommunitarismus und Hermeneutik gelten als vier zentrale Paradigmen, die in den Rekonstruktionen zur Sprache kommen. Mit Luhmann wird zudem ein Autor ausgewählt, der eine Brücke zwischen politischer Philosophie und Soziologie schlägt, und damit eine weitere wichtige Perspektive auf das Thema eröffnet. 25 Als zweites Auswahlkriterium wurde berücksichtigt, inwieweit die einzelnen Autoren ihre Überlegungen zu einer eigenständiger Konzeption ausgearbeitet haben. Alle sechs legen eine differenzierte Beschäftigung mit der Religion vor, die entsprechend der Erkenntnisperspektive der Arbeit vor allem in der politischen Philosophie verankert sind. Drittens wurde darauf geachtet, dass die Ansätze innerhalb des Diskurses rezipiert werden und ihnen damit eine besondere Bedeutung zukommt. Dies gilt gleichermaßen für alle sechs Autoren, wobei die Reaktionen auf die Überlegungen von Habermas sicherlich am vielfältigsten waren und bis heute sind. Als viertes Kriterium diente schließlich die Frage, ob und inwieweit die Modelle neben der politischen Philosophie Erkenntnisse anderer philosophischer Sichtweisen (Religionsphilosophie, Erkenntnistheorie) wie wissenschaftlicher Disziplinen (Soziologie, Politologie) beachten. Weil der Diskurs der politischen Philosophie stark westlich geprägt ist, weist die Auswahl der Autoren und damit der gesamte Gedankengang der Arbeit in interkultureller Hinsicht allerdings eine Begrenzung Bezüglich der Autorenauswahl als Vertreter der genannten Theorietraditionen wären sicherlich auch andere Personen denkbar gewesen, beispielsweise John Rawls (Liberalismus) oder Charles Taylor (Kommunitarismus). Diese Konzeptionen eröffnen in Bezug auf die ausgewählten sechs Ansätze allerdings keine grundsätzlich neuen Perspektiven auf die Fragestellung. Ihre Erkenntnisse werden trotzdem beachtet und fließen in die kritischen Diskussionen der Konzeptionen mit ein (vgl. zum Beispiel Kap. 4.6.1.).
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auf, die zu Beginn explizit benannt werden soll. Diese Begrenzung gilt auch für die interreligiöse Perspektive, weil die Ansätze vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Gesellschaft und deren Geschichte formuliert sind. Beide Aspekte sollen insofern Beachtung finden, als die interkulturelle und interreligiöse Dimension an ausgewählten Stellen dezidiert markiert wird (vgl. exemplarisch Kap. 4.5.). Außerdem wird erstens an verschiedenen Stellen auf den Islam und dessen Tradition des Nachdenkens über die gesellschaftliche Bedeutung der Religion verwiesen und zweitens ein exemplarischer Blick auf Indonesien und dessen kulturelle Gestalt des Islam geworfen. Damit werden die gewonnenen Einsichten mit Blick auf eine andere Religion und Region in interkultureller bzw. interreligiöser Hinsicht beispielhaft plausibilisiert. An die Rekonstruktionen der sechs paradigmatischen Auffassungen von Religion in modernen Gesellschaften anschließend, werden zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konzeptionen herausgearbeitet (vgl. Kap. 3.7.). Dabei wird insbesondere reflektiert, inwieweit die sechs Zugänge eine Kritik der traditionellen Metaphysik implizieren und wie sich diese Metaphysikkritik mit der neuen Aufmerksamkeit für Religion verträgt. Außerdem wird analysiert, welches Gesellschafts- bzw. Säkularisierungsverständnis sie beinhalten und welche Konsequenzen sich daraus für die Frage nach der Verortung der Religion im politischen Feld ergeben. Daran anschließend werden einige Leerstellen bzw. Problemlagen des gesamten Diskurses herausgearbeitet. Als eine der zentralen Begrenzungen des Diskurses wird sich dabei die geringe Beachtung religionsphilosophischer Argumente bei der Rekonstruktion der gesellschaftlichen Funktion von Religion erweisen, weshalb Religion oftmals als eine Blackbox erscheint. Mit drei Philosophen, die in entscheidenden gesellschaftlichen Umbruchsituationen die Frage nach der Religion gestellt haben, aber bislang im aktuellen Diskurs nur wenig Beachtung finden, soll diese Lücke geschlossen werden, und zwar mit Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey (vgl. Kap. 4.1.). Obwohl die drei Philosophen von sehr unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen ausgehen, kommen sie hinsichtlich der Bestimmung von Religion zu ähnlichen Ergebnissen, insofern sie Religion als Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens konzeptualisieren. 26 26
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Wieso die Konzeptionen dieser drei Autoren und ihr Nachdenken über Religion für
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In den abschließenden Teilkapiteln (vgl. Kap. 4.2. bis Kap. 4.6.) werden die Ergebnisse der kritischen Diskussionen der einzelnen Ansätze mit den vergleichenden Analysen und den philosophiehistorischen Überlegungen verknüpft. Es wird untersucht, wie eine Erweiterung bzw. Transformation der gegenwärtigen Debatte über Religion aussehen kann. Die Thematisierung der Religion als soziale Praxis mit kulturellen Prägungen, die Rekonstruktion ihrer ausdifferenzierten Funktionalität und ein überzeugendes Verständnis von Religion im politischen Raum, welches religiöse Überzeugungen als vernünftige Beiträge in öffentlichen Diskursen konzeptualisiert, stehen im Zentrum dieses Kapitels. Damit rückt die grundlegende Frage der Arbeit in den Fokus der abschließenden Überlegungen: Wie kann angesichts der Probleme im aktuellen Diskurs Religion in säkularen Kontexten überzeugend philosophisch konzeptualisiert und damit eine vielstimmige Rede über Religion ermöglicht werden? Ein Fazit schließt den Gedankengang der Arbeit ab (vgl. Kap. 5.). Die zentrale These der Studie ist, dass Religion ein wichtiger Faktor gesellschaftlicher Entwicklung ist, der innerhalb der politischen Philosophie lange Zeit zu wenig beachtet wurde. Im gegenwärtigen Diskurs ändert sich dies zwar, indem zentrale Vertreter der (politischen) Philosophie immer häufiger nach der sozialen Funktion von Religion fragen. Dabei bleibt bei einigen Vertretern das Verständnis von Religion allerdings unklar. Um die soziale Funktion von Religion angemessen philosophisch erfassen zu können, will die Studie im Rückgriff auf philosophiegeschichtliche Argumentationsfiguren diese Lücke schließen. Religionen, so die Schlussfolgerung, sind sprachliche und symbolhafte Ausdrucksformen, die das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens fassen. Dabei konstituiert Religion eine soziokulturelle Praxis, die einen umfassenden Anspruch an die religiösen Menschen stellt und als solche (im Zusammenspiel mit anderen politischen und kulturellen Praktiken) eine wichtige gesellschaftliche Funktion mit einem eigenen Anspruch auf Vernünftigkeit einnimmt. Diesen Anspruch ernst zu nehmen und in eine Konzeption von politischer Philosophie zu integrieren, ist Ziel der Studie.
diese Arbeit ausgewählt wurde, wird am Anfang des vierten Kapitels eigens zu begründen sein (vgl. Kap. 4.1.). A
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2. Interdisziplinäre Kontexte
Der aktuelle philosophische Diskurs über Religion ist durch viele andere Disziplinen beeinflusst, zum Beispiel durch die soziologisch ausgerichtete Religionsforschung, die vor allem in den vergangenen 100 Jahren wichtige Ansätze zur Beschreibung und Erklärung der Religion und ihrer sozialen Rolle entwickelt hat. Die Debatte ist aber auch durch die religionsphilosophische Forschung im engeren Sinne geprägt, in der im 20. Jahrhundert verschiedene Erklärungsmodelle entstanden sind, die aktuelle Diskussionsbeiträge beeinflussen. Außerdem wird der Diskurs schlussendlich durch die politische Philosophie und die in ihr vorherrschenden Paradigmen strukturiert. Diese drei Kontexte werden deshalb im Folgenden mit ihren zentralen Autoren und Argumenten vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, welche (inter-)disziplinären Kontexte für das aktuelle Nachdenken über Religion und ihre gesellschaftliche Funktion von Bedeutung sind.
2.1. Religionstheorien der Moderne (von E. Durkheim bis C. Geertz) Die Frage nach der Religion hat wissenschaftlich eine lange Tradition. Insbesondere im 20. Jahrhundert haben sich Soziologen und Politologen (teilweise auch Philosophen) intensiv um die religionstheoretische Forschung bemüht. Die aktuelle Debatte nimmt in vielfacher Weise Bezug auf diese Ansätze, antizipiert deren Einsichten oder grenzt sich von ihnen ab. Deshalb werden im Folgenden die wichtigsten Stationen der religionstheoretischen Debatte der vergangenen 100 Jahre skizziert, die den historischen Rahmen für die aktuelle Diskussion darstellen. Dabei finden sowohl klassische als auch neoklassische Ansätze der Religionstheorie Beachtung.
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2.1.1. Klassische Religionstheorien Ein erster wichtiger Bezugspunkt der religionstheoretischen Debatte ist Émile Durkheim mit seinem Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1912/1981). Durkheim thematisiert in dieser Arbeit vor allem die Strukturen des sozialen Zusammenhalts. Im Zuge der Transformation von traditionellen Stammesgesellschaften zu funktional ausdifferenzierten Gesellschaften haben sich seiner Ansicht nach besonders die Konzeptionen von Solidarität stark verändert, und zwar von mechanischer hin zu organischer Solidarität. Religion erhält für ihn deshalb eine besondere Relevanz, weil sie bei der Herausbildung der organischen Solidarität eine außerordentliche Rolle spielt. Wenn Gesellschaften ein bestimmtes Komplexitäts- und Ausdifferenzierungsniveau erreicht haben, bilden sie nämlich ein religiöses Deutungsschema aus, um außergewöhnliche Erfahrungen erklären zu können. Religionen sind nach Durkheim idealisierte Interpretationen solcher Erfahrungen; »diese systematische Idealisierung ist ein Wesenszug der Religionen« (Durkheim 1912/1981, 564). »In der Tat haben wir gesehen, dass das kollektive Leben, wenn es einen bestimmten Intensitätsgrad erreicht hat, das religiöse Denken erweckt, weil es einen Gärungszustand erregt, der die Bedingungen der physischen Tätigkeit verändert. (…) Um sich über diese außergewöhnlichen Eindrücke Rechenschaft zu geben, die er [der Gläubige] empfindet, verleiht er den Dingen, mit denen er in den engsten Beziehungen steht, Eigenschaften, die sie nicht haben, Ausnahmekräfte, Tugenden, die die Gegenstände der täglichen Erfahrungen nicht besitzen« (Durkheim 1912/1981, 565).
Durkheim fokussiert dabei in seinen Forschungen vor allem auf die soziale Funktion von Religion, wodurch er ein wichtiger Bezugspunkt für funktionale Religionstheorien geworden ist. Religionen, so seine Kernthese, sind wichtige Elemente sozialer Strukturen, die zur Stabilisierung der Gesellschaft durch Stärkung einer organischen Solidarität beitragen. »Religion bedient ein universales Bedürfnis. Es ist nicht einfach ein Teilsystem der Gesellschaft, sondern die dominante Symbolform, über die die Gesellschaft sich ihrer Einheit versichert. (…) Religion schafft Einheit und formt eine stabile Gemeinschaft« (Sellmann 2007, 277).
Durkheim entfaltet vor diesem Hintergrund eine Definition von Religion, der bis heute eine wichtige Rolle in der Debatte zukommt. A
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»Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören« (Durkheim 1912/1981, 75).
Aufgrund der Bedeutung der sozialen Funktion von Religion in seinem Erklärungsmodell ist Durkheim grundsätzlich skeptisch gegenüber Religionsbegriffen, die das Individuum stark betonen. Der radikale Individualismus verkennt seiner Ansicht nach »die fundamentalen Bedingungen des religiösen Lebens« (Durkheim 1912/1981, 568 f.), die vor allem sozialer Natur sind. Religion – verstanden als System von Praktiken und Überzeugungen – beinhaltet dabei seinen Analysen zufolge insbesondere drei Elemente: Glaubensüberzeugungen, typisierte religiöse Handlungsformen und soziale Gemeinschaft. Dies bedeutet wiederum, dass »die Feste, die Riten, der Kult (…) nicht die ganze Religion« sind, sie besteht »nicht nur aus einem System von Praktiken; sie ist auch ein System von Ideen, deren Ziel es ist, die Welt auszudrücken« (Durkheim 1912/1981, 573) und Menschen zum Handeln zu motivieren. Deshalb betont Durkheim, dass eine der Hauptaufgaben der Religion darin bestehe, Menschen »zum Handeln zu bringen und uns helfen zu leben« (Durkheim 1912/1981, 558). Religionen spielen also sowohl in rituellen als auch gesellschaftsbildenden Formen eine wichtige Rolle bei der Herausbildung von Gemeinwesen. 1 »Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion selbst ist« (Durkheim 1912/1981, 561). Ein weiterer zentraler Bezugspunkt für den aktuellen Diskurs sind die religionssoziologischen Überlegungen von Max Weber. Im Gegensatz zu Durkheim entwickelt Weber keinen eigenen Begriff von Religion, sondern er untersucht die kulturhistorischen Auswirkungen von Religion in sozialen Prozessen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. »Eine Definition dessen, was Religion ist, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenSeine funktionale Bestimmung verdeutlicht Durkheim empirisch vor allem an den sogenannten primitiven Religionen, beispielsweise untersucht er ethnografische Berichte über Totemismus in Australien. An diesen primitiven Formen zeigt er elementare Grundzüge von Religion und deren soziale Funktionen auf. Er nimmt an, dass Religionen diese Charakteristika auch in weiterentwickelten Gesellschaften aufweisen.
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den stehen. Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ›Wesen‹ einer Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken der Einzelnen – vom ›Sinn‹ – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist« (Weber 1922/1980, 225).
Den Fokus legt Weber dabei auf religiös motivierte Handlungseinstellungen der einzelnen Menschen, die in der Summe bestimmte soziale Verhaltensmuster und gesellschaftliche Institutionen beeinflussen. Historisch betrachtet hat für Weber das Christentum den Prozess der Moderne entscheidend angestoßen und geprägt. Deshalb ist es zur Wegbereiterin einer ›Entzauberung der Welt‹ und damit der Säkularisierung geworden. »Die Wechselwirkungen von religiösen Lehren und Weltbildern einerseits, sozioökonomischen Lagen und Interessen andererseits haben Weber zufolge eine Religionsentwicklung in Gang gesetzt, deren treibende Kraft die Erfahrung der Irrationalität der Welt war. Im Zuge des durch die Ausbildung und Ausformulierung religiöser Lehren und Ethiken angestoßenen Rationalisierungsprozesses lösen sich die magischen Vorstellungen auf; die Welt wird damit zunehmend entzaubert und entgöttert« (Arens 2007b, 65).
Webers Grundthese lautet also, dass die Moderne mit ihren vielfältigen gesellschaftlichen Prozessen in Politik oder Ökonomie nicht ohne den Einfluss der Religion zu verstehen ist. In seinem Werk Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus analysiert Weber, inwieweit der Protestantismus die Entstehung einer kapitalistischen Logik gefördert hat (Weber 1920/1988). Der Protestantismus, so seine Argumentation, stimuliere durch bestimmte religiöse Lehren (beispielsweise die Rechtfertigungslehre) wirtschaftliche Anstrengung, indem Erfolg im Wirtschaftsleben als Zeichen religiöser Auserwähltheit gedeutet wird. Am Beispiel des Zusammenhangs von modernem Wirtschaftsethos und der asketischen Ethik des Protestantismus illustriert er diese These. Hierbei liefert er detailreiche Analysen zum Einfluss calvinistischer und pietistischer Ethik auf den Lebensstil der Menschen und umfassende historische Untersuchungen zum Verhältnis von Religion, Wirtschaft und Lebensstil vom Mittelalter bis zur Neuzeit (vgl. Weber 1920/1988). 2 Aus einer globalen Perspektive fragt Weber zudem nach den wirtschaftsethischen Konzeptionen der einzelnen Weltreligionen und beschreibt den Einfluss von Religion
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Ernst Troeltsch gilt als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Kulturprotestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein Nachdenken über Religion ist entsprechend dem Grundduktus seines Ansatzes, der zwischen Theologie, Geschichtswissenschaften und Soziologie angesiedelt ist, interdisziplinär ausgerichtet. Religion thematisiert er vor dem Hintergrund der kritischen Theologie, welche eine historische Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen und damit auch auf Religion eröffnet (vgl. Troeltsch 1922/2008). »Das ist die offenkundig vor Augen liegende Wirkung der historischen Methode. Sie relativiert Alles und Jedes, nicht in dem Sinne, dass damit jeder Wertmaßstab ausgeschlossen und ein nihilistischer Skeptizismus das Endergebnis sein müsste, aber in dem Sinne, dass jeder Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann, dass jede Bildung von Wertmaßstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen, sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann« (Troeltsch 1922, 737). 3
Als zentrale Methode des Historismus deutet er die Abstraktion, durch welche die Allgemeinheit bestimmter Entwicklungen (beispielsweise des Wesens der Religion) identifiziert werden kann. Das Wesen kann allerdings nur gefunden werden »aus dem Überblick über die Gesamtheit aller mit diesem Gedanken zusammenhängenden Erscheinungen, und seine Aufwendung erfordert die Übung historischer Abstraktion, die Kunst der das Ganze zusammenschauenden Divination, zugleich die Exaktheit und Fülle des methodisch bearbeiteten Materials« (Troeltsch 1922, 393). Der Wesensbegriff ist dabei keine leere Abstraktion, sondern eine Kritik an konkreten, religiösen oder ethischen Entwicklungen der Moderne. Auch Religionen wie das Christentum sind historisch betrachtet kontingent und damit relativ – so lässt sich eine wichtige Konsequenz aus den Überlegungen von Troeltsch zusammenfassen. Zwar gesteht er dem Christentum hinsichtlich seiner kulturellen Bedeutung für die Geschichte Europas eine besondere Rolle zu, weshalb er insbesondere eine die Freiheit fördernde Funktion des Christentums gegenüber Büauf Politik und Ökonomie und damit auf die Logik westlicher Gesellschaft insgesamt (vgl. Weber 1920/1988). 3 Diese Schrift Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik aus dem Jahre 1913 wird in einer Ausgabe aus dem Jahre 1922 zitiert, da sie in der Kritischen Gesamtausgabe noch nicht erschienen ist.
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rokratisierung, Verabsolutierung der Technik oder menschenfeindlicher Ökonomie betont (vgl. Troeltsch 1906–1922/2004). Aber auch für das Christentum weist er auf der Basis seines Verständnisses von Historismus dessen Absolutheitsanspruch zurück. In Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (Troeltsch 1902–1912/ 1998) wiederholt er deshalb in historischer Hinsicht seine Kritik am Absolutheitsanspruch von Religion und argumentiert für eine Anerkennung der Vielheit individuell-religiöser Lebensformen. Damit widerspricht Troeltsch einer Deutung, die Religion in eine Fortschrittslogik integrieren und ihr damit einen Absolutheitsanspruch sichern will. »Das Wesen des Christentums aus der Geschichte des Christentums erkennen lernen wollen, das heißt nur in einer realistischeren, durch die hegelsche Fortschrittsdialektik und die Logisierung der Wirklichkeit nicht gebundenen Weise das organisierende und hervorbringende Prinzip der Fülle von Lebenserscheinungen suchen, die wir das Christentum nennen« (Troeltsch 1922, 394).
Mit seinen Arbeiten wendet sich Troeltsch also gegen ein dogmatisches Verständnis von Religion, das die eigenen Wahrheitsansprüche verabsolutiert. Religion betrachtet er aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive und er fragt danach, inwieweit sie in historisch kontingenten Formen das Göttliche anstrebt und dieses in Symbolen, Riten und Lehren auszudrücken vermag. Religionstheoretisch haben für Troeltsch deshalb alle sich historisch realisierenden Religionen Anteil am Göttlichen. Die kulturell und historisch verschiedenen Formen von Religion stehen für ihn allerdings nicht unverbunden nebeneinander. Seine Arbeiten zum Historismus können vielmehr als Versuch verstanden werden, eine Synthese zu formulieren, die konkurrierende religiöse Normen der europäischen Kultur auf ihre Wechselwirkungen und Gemeinsamkeiten hin untersucht. Dabei geht es Troeltsch vor allem um das Verhältnis von Religion (besonders: Christentum) und europäischer Moderne. Er zeigt auf, dass beide einander nicht notwendig ausschließen, sondern in einer kulturellen Synthese miteinander konvergieren können. 4
Vgl. die Rekonstruktion der Bedeutung der Analysen Troeltschs für ein modernes Verständnis von Religion bei Rendtorff (1991) oder Graf (1984). Friedrich W. Graf hebt dabei hervor, dass Troeltsch im Vergleich zu Schleiermacher das Subjekt deutlich weni-
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William James eröffnet mit seinem Werk Die Vielfalt religiöser Erfahrung (James 1902/1997) eine religionspsychologisch fundierte Sichtweise, die weitere wichtige Impulse für die Religionssoziologie und Religionsphilosophie gegeben hat. Hintergrund seiner Reflexionen über Religion ist der Pragmatismus, der eine grundlegende Kritik traditioneller Wahrheitsbegriffe impliziert. James lehnt in diesem Zusammenhang die Metaphysik als philosophische Frage nach ersten Prinzipien ab und begründet Wahrheit stattdessen durch das Kriterium der Nützlichkeit (vgl. James 1904/1994). Die Welt besteht aus vielen Erfahrungsbereichen, die nicht jeweils auf sich selbst reduziert werden können und die eine je eigene nützliche Wahrheit beanspruchen. Welt als Horizont menschlicher Erfahrung kann dabei für James nicht eindeutig ontologisch bestimmt werden, sondern dieser Horizont ist notwendig plural und unabgeschlossen. Religion ist ein solcher Bereich von Welt, in dem sich die Rede von Gott als nützliche Aussage erwiesen und damit bewährt hat. James untersucht Religion – von einem pragmatistischen Verständnis ausgehend – dabei vor allem hinsichtlich ihres Erfahrungscharakters. Er interpretiert religiöse Erfahrung in diesem Zusammenhang als eine menschliche Empfindung und damit als einen psychischen Prozess. Diese Empfindung beinhaltet ein Unbehagen darüber, dass der natürliche Zustand des Menschen nicht die einzige Dimension des Menschseins sein kann. Die Reflexion dieser Erfahrung führt den Menschen über dieses Unbehagen hinaus und gleichzeitig zu einer Identifikation mit einem Mehr. Alle Religionen, so James, stimmen darin überein, dass es dieses Mehr gebe und es nicht nur eine subjektive Vorstellung sei, weshalb Religiosität eine grundlegende Qualität des Erlebens aller Individuen sei. »Daher soll Religion (…) für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen« (James 1902/1997, 63 f.).
Die Religion zielt also auf der Erfahrungsebene des Menschen auf eine Vereinigung mit einem Mehr bzw. einer höheren Macht außerhalb des Menschen ab. Damit geht das personale Bewusstsein in einem höheren ger betont. Deshalb begreift er Religion noch stärker als dieser als kulturelle Praxis, weil sie weniger im Bewusstsein des Subjekts als in kulturellen Prozessen verankert ist.
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Selbst auf, was der Mensch wiederum als eine rettende Erfahrung bzw. Heilung erlebt. Religion nimmt für James in diesem Gefühl ihren Ausgang und wird in einer reflexiven Verarbeitung zu einem religiösen Glauben. Eine so verstandene Religion ist nicht auf den Bereich des rein Geistigen beschränkt, denn sie hat viele konkret erfahrbare Konsequenzen für den Menschen, beispielsweise wenn sie ihn zu einem moralischen Verhalten anleitet. Weil Religion als Erfahrungsmoment des Menschen interpretiert wird, ist James bei seinen Studien an lebensweltlichen Erfahrungen besonders interessiert. In der Analyse religiöser Zeugnisse arbeitet er ein allgemeines Verständnis religiöser Erfahrung heraus, wobei Inhalte (Bekehrung, Gnade usw.) über Erfahrungsanalysen (Melancholie, Glück usw.) erklärt werden. In einem Vergleich der verschiedenen Formen religiöser Erfahrungen identifiziert James Gemeinsamkeiten und schließt auf allgemeine Frömmigkeitsformen. Grundmerkmale, die sich in fast allen Zeugnissen religiöser Erfahrung wiederfinden, sind beispielsweise das Gefühl der Geborgenheit und das Moment des Friedens und der Liebe. Das Spezifikum der Religion liegt für den einzelnen Menschen darin, dass er innerhalb dieser eine individuelle religiöse Identität ausbilden und sich selbst als geliebt und wertvoll erfahren kann. James beschränkt sich in seinen Arbeiten auf die Beschreibung dieser psychisch erfahrbaren Aspekte von Religion; gleichwohl will er Religion systematisch nicht auf den Bereich des Psychischen reduzieren (vgl. Herms 1979). Aber vor dem Hintergrund seines pragmatistischen Wahrheitsverständnisses ist es ihm nicht möglich, über diese funktionale Perspektive hinaus metaphysische Aussagen über die Qualität oder das Wesen von Religion zu machen. 5
2.1.2. Neoklassische Religionstheorien Die bislang skizzierten Ansätze sind der klassischen Religionstheorie zuzurechnen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts werden auf diesen aufAllerdings muss eingeräumt werden, dass James selbst nicht immer kohärent argumentiert und er seine pragmatistische Perspektive bei der Analyse der Religion zugunsten universaler Aussagen über eine übermenschliche Wirklichkeit im metaphysischen Sinne – zumindest teilweise – aufgibt (vgl. Rorty 2008a).
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bauend verschiedene Konzeptionen von Religion entwickelt, die als neoklassische Ansätze bezeichnet werden. Drei dieser Entwürfe werden exemplarisch vorgestellt, weil sie für den weiteren Duktus der Arbeit von besonderem Interesse sind. Diese neoklassischen Interpretationen betonen noch einmal dezidiert, wenn auch in unterschiedlicher Reichweite, die funktionale Sichtweise auf Religion. Ein Beispiel hierfür ist der Ansatz von Thomas Luckmann, der in der Tradition der funktionalen Religionstheorien von Weber und Durkheim steht. Der Mensch ist für ihn primär ein soziales Wesen, das sich erst durch Vergemeinschaftung vollständig entfaltet. In sozialen Prozessen transzendiert dabei der Mensch seine biologischen Gegebenheiten und entwickelt eine eigene Persönlichkeit. Luckmann beschreibt Religion als ein Interpretationsraster, durch das der Mensch die ihn transzendierenden Erfahrungen deutet und zu einer Weltansicht formt. Diese Weltansichten sind sowohl für die Deutung der Wirklichkeit als auch für die normative Orientierung von Verhalten bestimmend. »Die Tatsache also, dass eine Weltansicht dem Individuum historisch vorausgeht, bildet somit die empirische Grundlage für das ›erfolgreiche‹ Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus, für seine Ablösung von der unmittelbaren Lebensumwelt und für seine Integration als Person in eine zusammenhängende Sinntradition. Deshalb können wir behaupten, dass die Weltansicht als eine ›objektive‹ historische und gesellschaftliche Wirklichkeit eine elementare religiöse Funktion erfüllt. Sie lässt sich bestimmen als die grundlegende soziale Form der Religion, eine soziale Form, die in allen menschlichen Gesellschaften zu finden ist« (Luckmann 1991, 89).
Innerhalb dieser Weltansichten erfährt sich der Mensch als bezogen auf Transzendenz. Solche Erfahrungen »reichen von Hilflosigkeit im Angesicht unkontrollierter Ereignisse bis zum Wissen um den Tod. (…) Erfahrungen dieser Art werden in aller Regel als unmittelbare Äußerungen der Wirklichkeit des sakralen Bereichs aufgefasst« (Luckmann 1991, 96). Diese religiöse Erfahrung wird kommunikativ ausgelegt, indem »subjektive Erfahrungen von Transzendenz erstens intersubjektiv rekonstruiert und zweitens gesellschaftlich bearbeitet werden« (Luckmann 1996, 22). Berger hat die darin implizite Definition von Religion Luckmanns folgendermaßen umschrieben: »Die überzeugendste und entschiedenste Definition der Religion im gesellschaftlichen funktionalen Sinne ist die von Thomas Luckmann. (…) Das We-
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sentliche an seiner Definition der Religion ist die Fähigkeit des menschlichen Organismus, seine biologische Natur in der Konstruktion objektiver, moralisch zwingender, allumfassender Sinnwelten zu überschreiten« (Berger 1988, 166 f.).
Eine solche funktionale Definition von Religion umgeht nach Luckmann »sowohl die übliche ideologische Befangenheit wie die ›ethnozentrische‹ Enge der substanziellen Religionsdefinitionen« (Luckmann 1991, 78). Die Religionssoziologie beschreibt daher gesellschaftliche Strukturen, vor deren Hintergrund die Funktion von Religion erkennbar wird. Die Beschreibung der »Struktur gesellschaftlicher Vorgänge, in denen Sinnsysteme entstehen, erlaubt es uns, die Bedingungen für die Individuation des Bewusstseins und des Gewissens zu bestimmen« (Luckmann 1991, 87) und damit die Funktion der Religion im Prozess der menschlichen Entwicklung zu erklären. Luckmanns Ansatz impliziert damit einen weiten Begriff von Religion. »›Religion‹ findet sich nach dieser Auffassung überall dort, wo das Verhalten der Gattungsmitglieder zum sinnorientierten Handeln wird, wo ein Selbst sich in einer Welt findet, die von seinesgleichen bevölkert ist, mit welchen, für welche und gegen welche es wertend handelt – wissend, dass sein Handeln von den anderen beurteilt wird. ›Religion‹ findet sich also überall, wo Zugehörige der Gattung Mensch in Handelnde innerhalb einer sie als ›natürliche‹ Organismen transzendierenden, geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Ordnung verwandelt werden« (Luckmann 1996, 18).
Im Zuge der Individualisierung und Privatisierung moderner Gesellschaften fällt Luckmanns Ansicht nach dem Einzelnen die Aufgabe zu, Sinn zu suchen – vor allen nachdem die institutionalisierten Religionen in ihrer Eigenschaft als Sinnstifterin einen enormen Bedeutungsverlust erfahren haben. Als unsichtbare Religion kehrt sie in den individuellen Bereich zurück, und es entstehen neue, synkretistische Formen, die sich deutlich von der traditionellen institutionalisierten Religion absetzen und mit neuen Vokabeln (zum Beispiel: Selbstverwirklichung) arbeiten. Luckmann identifiziert mehrfach gestufte Erfahrungen von Transzendenz, die in der Alltagswelt des Menschen als solche Formen unsichtbarer Religion interpretiert werden können. Dies sind die Erfahrungen kleiner, mittlerer und großer Transzendenz, die sich darin unterscheiden »wie sich das Nicht-Erfahrene zum Erfahrenen verhält« (Luckmann 1996, 20). Diese Erfahrungen von Transzendenz sind die Grundlage für die gesellschaftliche Konstruktion von religiösen Wirklichkeiten. A
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Die Moderne führt nach Luckmann also zu einer Privatisierung von Religion, wobei in diesen Prozessen auf traditionelle religiöse Semantiken und Symbole zurückgegriffen wird. Die Privatisierung der Religion zeichnet sich dabei »durch das Fehlen allgemein glaubwürdiger und verbindlicher gesellschaftlicher Modelle für dauerhafte, allgemeine menschliche Erfahrungen der Transzendenz aus« (Luckmann 1996, 28). Religion bietet in ihrer unsichtbaren und privatisierten Form zwar keine allgemeingültigen Normen mehr, die als Modell für das Zusammenleben fungieren könnten, aber es besteht Luckmanns Interpretation zufolge kein Zweifel daran, dass mit diesem Prozess der Moderne »nicht das Ende der religiösen Grundfunktion«, sondern lediglich »deren Privatisierung« (Luckmann 1996, 28) eingeläutet wird. Deswegen bezeichnet der Begriff ›Säkularisierung‹ »nicht das Ende der religiösen Grundfunktion, sondern deren Privatisierung« (Luckmann 1996, 28). 6 Peter L. Bergers Interpretation von Religion steht in einem engen Zusammenhang zu der Deutung von Luckmann und setzt sich gleichzeitig in einigen Aspekten davon ab. Berger und Luckmann haben in Luckmanns Theorie wurde in den vergangenen Jahren von vielen Religionssoziologen aufgegriffen und weiterentwickelt, beispielsweise von Hubert Knoblauch, der Luckmanns Thesen angesichts der gegenwärtigen Ausdifferenzierung und Transformation religiöser Formen noch einmal modifiziert. Erstens betont er die Ausweitung der Religionen zum Religiösen, d. h. ihre institutionelle Schwächung und kulturelle Verflüssigung, und zweitens den weitreichenden Verlust der Sichtbarkeit von Religionen im öffentlichen Raum. »Die Tatsache, dass die neuen Formen der Religion sich scheinbar als durchsetzungsfähig erweisen und dass das Problem ›proteischer Identitäten‹ – heute im Zeichen der ›Postmoderne‹ – an Aktualität nichts verloren hat, begründet die Annahme, dass wir es heute nicht mit einer Epochenwende zu tun haben, sondern den Ausbau dessen beobachten können, was sich bereits in den sechziger Jahren abzeichnete: die Unsichtbare Religion« (Knoblauch 1991, 33). Knoblauch analysiert vor diesem Hintergrund vielfältige Formen populärer Religion, die heute im Zuge der Auflösung traditioneller Religionen und deren Institutionen eine immer wichtigere kulturelle Rolle spielen. Beispiele hierfür sind die Electronic Church oder die New Age-Bewegung. Basis für diese neuen religiösen Formen ist die populäre Kultur, in der die beiden Aspekte von Markt und Medien wechselseitig verschränkt werden. Diese Kombination »generiert eigene Formen der Religiosität. Diese Formen der Religion, die auf dem Gemisch aus Markt und Medien beruhen, möchte ich als populäre Religion bezeichnen« (Knoblauch 2000, 145; vgl. Knoblauch 2002, 165). Die populäre Religion bezeichnet allerdings nicht einfach eine »Religion des Trivialen. Denn die Inhalte der populären Religion beziehen sich auch auf die herkömmlichen Themen der traditionellen Religionen: die Frage nach dem Jenseits, die Erfahrungen des Numinosen, das Problem des Todes und des Lebens nach dem Tod« (Knoblauch 2000, 146).
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einer gemeinsamen Arbeit – Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. Luckmann/Berger 1972) – die soziale Struktur von Wissen analysiert, welches das Verhalten der Menschen in der Alltagswelt reguliert. Menschen, so ihre These, internalisieren Wirklichkeit durch Sozialisation. Die primäre Sozialisation vermittelt meist durch Eltern Normen oder Rollenbilder, aber auch grundlegende Sprachspiele. In diesen Prozessen stehen soziale Realität und die individuelle Entwicklung in einem engen Wechselverhältnis. Berger und Luckmann betonen deshalb nachdrücklich »die Dialektik zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und individuellem Dasein« (Berger/Luckmann 1972, 199). Religion kommt in diesen Prozessen zum Tragen, weil sie die Alltagswelt vieler Menschen prägt und damit auch die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Bergers eigene Arbeiten zur Religion setzen sich von denen Luckmanns insofern ab, als sie neben der funktionalen Bestimmung von Religion noch ein substanzielles Verständnis von Religion enthalten. Hierzu ist ein Blick auf seine gesellschaftstheoretischen Vorannahmen hilfreich. Berger interpretiert Gesellschaft als einen dialektischen Prozess von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung. Kultur wird wiederum als Externalisierung und somit als die Totalität menschlicher Produkte interpretiert, die sich in gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen verobjektivieren. Religion hat in diesem Prozess der kulturellen Externalisierung »eine strategische Rolle bei der Welterrichtung des Menschen gespielt. In ihr greift die Externalisierung, d. h. die Selbstentäußerung des Menschen, so weit über ihn hinaus, dass er der Wirklichkeit seine eigenen Sinnsetzungen auferlegt. Religion impliziert die Projektion menschlicher Ordnung in die Totalität des Seienden« (Berger 1988, 28). Wenn religiöse Inhalte nicht nur in Bezug auf den Menschen oder die Gemeinschaft, sondern auch in Bezug auf das Universum konstruiert werden, entsteht ein eigener Kosmos, der das Feld der Religion eröffnet. Religion ist »das Unterfangen des Menschen, einen heiligen Kosmos zu errichten. (…) Der von der Religion gesetzte Kosmos übergreift und umschließt den Menschen, der ihn sich gegenüber sieht als übermächtige Wirklichkeit, die anders ist als er selbst. Diese Wirklichkeit aber wendet sich ihm zu und gibt ihm seinen Platz in einer absolut sinnvollen Ordnung« (Berger 1988, 26 f.). Damit verlässt Berger eine rein funktionale Bestimmung und entwickelt stärker als Luckmann ein inhaltlich gefülltes ReligionsverA
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ständnis. 7 Religion basiert seiner Ansicht nach auf den beiden fundamentalen menschlichen Erfahrungen des Übernatürlichen und Heiligen, die Grundlage zur Errichtung eines heiligen Kosmos sind, in dem das Numinose verobjektiviert und durch Sinnstrukturen eine eigene Welt errichtet wird. Religion ist deshalb in der Fähigkeit des Menschen verankert, seine biologischen Gegebenheiten durch die Konstruktion umfassender Sinnwelten zu überschreiten, was Berger stärker als Luckmann als anthropologische Grunddimension von Religion interpretiert. Religion schützt Menschen davor, ihr Leben als sinnlos zu erfahren. Religion tritt dabei zwar als gesellschaftliche Institution in den Hintergrund, wird aber gerade in Lebenskrisen aktiviert, um diese sinnvoll bewältigen zu können. Besondere Bedeutung misst Berger beim Nachdenken über Religion der Pluralisierung bei, denn moderne Gesellschaften sind seiner Ansicht nach gleichermaßen durch Säkularität wie Pluralität geprägt. Erst wenn beide Elemente in ihrer wechselseitigen Bedingtheit in den Blick genommen werden, ergibt sich ein treffendes Bild von der gesellschaftlichen Rolle der Religion in der Moderne. »Ich verfechte seit langem die Meinung, dass die Stellung der Religion in der modernen Welt ein Mehr an Erklärung erfordert, als die Säkularisierungstheorie zu leisten vermag, dass gewissermaßen eine Zusatzerklärung erforderlich ist, die vielleicht etwas hochtrabend mit dem Begriff ›Pluralisierungstheorie‹ gekennzeichnet werden könnte. Kurz gesagt heißt das, dass der Pluralismus in diesem Zusammenhang eine ebenso wichtige Gegebenheit ist wie die Säkularität und dass letztere verständlicher wird, wenn man beide Momente zusammen betrachtet« (Berger 1994, 43).
Säkularisierung, verstanden als religiöse Pluralisierung, birgt für Berger nicht nur – wie es bei Luckmann der Fall zu sein scheint – ein positives Potenzial, sondern auch gravierende Gefahren. Wenn Menschen erkennen, dass die Konstruktionen von Wirklichkeit plural sind und sie mit dieser Pluralität immer vertrauter werden, so führt dies seiner AnVgl. dazu Berger (1994; ders. 1988). Dieses stärker inhaltlich gefasste Religionsverständnis will Berger jedoch gleichzeitig von allen metaphysischen Aussagen abgrenzen. »In all ihren Manifestationen ist Religion eine gigantische Projektion männlicher Sinnhaftigkeit in die öde Leere des Universums – eine Projektion freilich, die als fremde Wirklichkeit in die fremde Welt zurückkehrt und ihre Hervorbringer heimsucht. Dass sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie jede positive oder negative Aussage über den ontologischen Status dieser vermeintlichen Wirklichkeit verbietet, erübrigt sich fast zu sagen« (Berger 1988, 97).
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sicht nach nicht notwendig zu einem besseren Verständnis der Menschen, sondern kann gerade Konflikte verschärfen. Es ist eine »der drolligen Illusionen der liberalen Ideologie, dass die Menschen einander umso lieber mögen, je besser sie sich kennen« (Berger 1994, 43). Wenn es mehrere Antworten auf die Sinnfrage gibt, dann ist der Mensch vor die Wahl gestellt zu entscheiden, welche er für berechtigt hält. Die Pluralisierung »bringt eine Relativierung aller normativen Vorstellungen mit sich. Solange der Mensch nur ein einziges, in sich kohärentes System kultureller Normen vor sich hat, tragen diese Normen für ihn Unvermeidlichkeitscharakter« (Berger 1994, 74). Mit der Pluralisierung muss sich der Mensch jedoch dieser Vielfalt stellen. Es ist Bergers Ansicht nach deshalb ein schwieriges Unterfangen, »Anschauungen zu verfechten, ohne sie entweder in einer letzten Relativität aufzulösen oder in die falschen Absolutheiten des Fanatismus einzumauern« (Berger 1994, 52). Religiöser Pluralismus stellt damit eine Herausforderung für die früher als allgemeingültig interpretierten Sinnangebote der Religion und auch für ihre Institutionen dar. Die Brisanz der Säkularisierung besteht gerade darin, dass diese Entscheidung für oder gegen eine religiöse Überzeugung nicht nur wenige Intellektuelle betrifft, sondern alle Menschen gleichermaßen. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte »haben religiöse Legitimationen der Welt ihre Plausibilität nicht nur für eine Handvoll Intellektueller und anderer gesellschaftlicher Randfiguren verloren, sondern für die breiten Massen ganzer Gesellschaften« (Berger 1988, 120). 8 Clifford Geertz’ Verständnis von Religion als kulturelles System soll den Abschluss der religionssoziologischen Skizze neoklassischer Ansätze bilden. Geertz entwickelt einen kultursoziologischen Blick, den er durch viele langjährige Feldforschungen – zum Beispiel in Indonesien – ausgebildet hat (vgl. Geertz 1960). Kulturelle Systeme lassen sich für ihn nicht mit einer an die Naturwissenschaften angelehnten Methode, die allgemeine Objektivität beansprucht, beschreiben, sondern sie können immer nur in Form einer Annäherung erfasst werden. Sein semiotischer Kulturbegriff steht dabei in der Tradition von Weber. Er versteht im Zuge dessen Kultur als ein Gewebe von Bedeutungen, in Joas ergänzt an dieser Stelle allerdings zu Recht, dass der religiöse Pluralismus nicht erst eine Erfahrung der Moderne sei. Religiöser Pluralismus war nämlich in Europa immer schon eine gesellschaftliche Realität (vgl. Joas 2004, 36 f.), weshalb Bergers These hier nur zum Teil zutrifft bzw. angreifbar werde.
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das Menschen von jeher verstrickt sind. Kultur ist damit das Ergebnis von sinngeleitetem Handeln; sie unterliegt einem ständigen Wandel, weil sie immer wieder neu von den Beteiligten gedeutet und transformiert wird. Um Kultur zu beschreiben, entwickelt Geertz deshalb eine eigene Methode, die er als dichte Beschreibung bezeichnet und mit der er die Offenheit, Dynamik und den symbolischen Gehalt von Kultur erfassen will. Kulturen sind »ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar werden« (Geertz 1983, 21). Kultursoziologie wird damit hermeneutisch interpretiert, ihre Aufgabe ist es nicht, »unsere tiefsten Fragen zu beantworten, sondern uns mit anderen Antworten vertraut zu machen«, die Menschen gefunden haben, und »diese Antworten in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen aufzunehmen« (Geertz 1983, 43). Vor diesem Hintergrund ist Religion für Geertz ein kulturelles System, das den Menschen Wirklichkeitsdeutungen und Handlungsorientierungen zur Verfügung stellt und »mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln« (Geertz 1983, 46). »Eine Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen« (Geertz 1983, 48).
Für Geertz ist Religion also ein Symbolsystem, das Stimmungen und Motivationen erzeugt, indem es eine Wirklichkeitsdeutung mit Bezug auf eine absolute Autorität formuliert. Religiöse Symbolsysteme haben zudem eine soziale Funktion, indem sie Handlungen in Bezug zur religiösen Ordnung setzen und dem menschlichen Alltag einen Deutungshorizont eröffnen. Rituale wiederum machen religiöse Symbole in einem größeren sozialen Kontext erfahrbar und fördern die Religion in einem performativen Sinne. Religion ist für Geertz vor dem Hintergrund dieses Ansatzes ein zentraler Bestandteil von Kultur. Sie stabilisiert nicht nur die kulturell ausdifferenzierte Suche nach Identität und Sinnstiftung, sondern ist selbst ein produktiver Faktor im Gewebe der Kultur. Religion kommt insbesondere in den kulturellen Entwicklungsphasen von Gesellschaft 52
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zum Tragen, in denen andere Deutungsmuster versagen. Sie wird dabei zu einem stabilisierenden Faktor für Menschen. Daher deutet Geertz Religion nicht als sekundäre oder gar abgeleitete Dimension des Psychischen oder Sozialen, sondern als eine grundlegende Erfahrung des Menschen. Sie hat als solche eine wichtige Funktion im unabschließbaren Deutungsprozess der Kultur, weshalb nicht zuletzt mit Geertz eine »kulturwissenschaftliche Wende der Religionswissenschaft« (Arens 2007b, 61) eingeleitet wird. 9 Damit wurden einige herausragende religionstheoretische Konzeptionen der Klassik und Neoklassik dargestellt, die Grundlage der aktuellen Debatte über Religion sind. Natürlich kann dies nur eine unvollständige Skizze sein, da es viele andere Ansätze gibt, die historisch wie systematisch ebenfalls von Bedeutung sind; zu denken wäre beispielsweise an Rudolf Otto 10 oder Hermann Lübbe. 11 Unberücksichtigt bleiben auch Ansätze der neueren religionssoziologischen Forschung wie beispielsweise der von Pierre Bourdieu 12 oder Ulrich Oevermann. 13 An einigen Stellen des folgenden Gedankengangs wird auf diese und weitere Ansätze verwiesen und ihre Einsichten in die Argumentation integriert. 14
Besonders facettenreich sind die empirischen Studien, die Geertz in unterschiedlichen Regionen der Welt zu diesem Zusammenhang von Religion und Kultur durchgeführt hat. Berühmt geworden ist er vor allem mit seinen bis heute als Meilenstein geltenden Analysen der Kultur Javas. Für diese Region Indonesiens zeigt er auf, welche religiösen Symbolsysteme für die Menschen von Bedeutung sind und wie islamische Symbole mit den kulturellen Traditionen Javas verschmolzen werden (vgl. Geertz 1960). 10 Vgl. Otto (1917/2004) mit seiner Analyse des Heiligen, in dessen Erfahrung rationale, irrationale und emotionale Anteile gleichermaßen einfließen. 11 Lübbe sieht die Funktion der Religion darin, für menschliche Grenzsituationen einen Deutungshorizont bereitzustellen. Religion wird zu einer Praxis der Kontingenzbewältigung (vgl. Lübbe 1986). 12 Bourdieu erarbeitet eine Landschaftsskizze des religiösen Feldes, in die Theorieelemente wie das Habituskonzept oder das Konzept des Sozialkapitals Eingang finden (Bourdieu 2007). 13 Oevermanns hermeneutische Religionssoziologie unterscheidet zwischen der Struktur und dem Inhalt von Religion. Er interessiert sich dabei besonders für die strukturelle Religiosität. Das menschliche Bewusstsein, das sich angesichts seiner Endlichkeit bewähren muss, ist die Basis für diese strukturelle Religiosität, die je eigens kulturell gefüllt wird (vgl. Oevermann/Franzmann 2006, 51 ff.). 14 Vgl. für eine aktuelle Auseinandersetzung zwischen Religionssoziologie und systematischer Theologie den von Ansgar Kreutzer und Franz Gruber herausgegebenen Band (Kreutzer/Gruber 2013). 9
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2.2. Von der mittelalterlichen Theologie über die Religionskritik zur modernen Religionsphilosophie Die Frage nach der Religion kann philosophisch betrachtet von unterschiedlichen Standpunkten aus gestellt werden. Viele Jahrhunderte lang beantwortete vor allem die philosophisch grundgelegte Theologie diese Frage, seit der Neuzeit auch die Religionsphilosophie. Beide Sichtweisen auf Religion stehen heute in engen Wechselwirkungen mit den religionssoziologischen Überlegungen und setzen sich gleichzeitig von diesen ab. Im folgenden Schritt wird die Entwicklung der religionsphilosophischen Forschung der vergangenen 200 Jahre pointiert dargestellt, um zu rekonstruieren, was sie zur Fragestellung der Arbeit beitragen kann. Das Nachdenken über Religion hat sich seit dem Mittelalter deutlich gewandelt. Blieb in der scholastischen Tradition der persönliche Ausgangspunkt der Religion, der religiöse Glaube an Gott, unhinterfragt und wurde das Nachdenken über Gott in einem dezidiert theologischen Diskurs vollzogen, werden diese beiden Vorgaben im Laufe der Neuzeit immer mehr zur Disposition gestellt. Dabei bilden sich Theologie und Religionsphilosophie als zwei verschiedene wissenschaftliche Perspektiven auf Religion heraus. Die eine (Theologie) ist auf bestimmte Inhalte und Quellen einer religiösen Tradition bezogen, die andere (Religionsphilosophie) thematisiert auf einer allgemeinen, die konkrete Religion übersteigenden Ebene die Struktur und Bedeutung von Religion, und dabei besonders ihre Sprache, Riten und Überzeugungen. »Theologie ist die Reflexion des Inhaltes einer Religion unter der Voraussetzung, dass deren heilige Schriften, Traditionen und Äußerungen ihrer Autoritäten als Erkenntnisquelle anerkannt werden. Theologie ist also logisch abhängig von dieser Anerkennung. (…) Religionsphilosophie (…) ist dagegen logisch unabhängig davon und sollte in ihren Begründungen von allen vernünftigen Menschen nachvollziehbar sein« (Löffler 2006, 34).
Religionsphilosophie ist seit ihrem Entstehen in der Neuzeit »Schnittpunkt, Überschneidungsfeld oder Grenzreflexion für den Wissenschaften verpflichtetes, methodisches und selbstkontrolliertes Denken (Philosophie) einerseits und genuin religiöses, der jeweiligen Religion verpflichtetes Denken (Theologie) andererseits« (Deuser 2009, 7). Inhaltlich betrachtet ist die religionsphilosophische Forschung der Mo54
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derne dabei auch eine Kritik theologisch unhinterfragter Vorannahmen. Kants Kritik an den Gottesbeweisen ist ein Beispiel hierfür. 15 In seinen Überlegungen spiegelt sich »der endgültige Abschied von der Vorstellung, Gottes Existenz objektiv notwendig nachweisen zu können« (Vossenkuhl 2000, 112; vgl. Kap. 2.3.2.). Vor dem Hintergrund der Entstehung der Religionsphilosophie neben der Theologie und der religionskritischen Anfragen an inhaltlich-theologische Annahmen kristallisierten sich in den vergangenen gut 100 Jahren unterschiedliche Zugänge zum Phänomen Religion heraus. Vier paradigmatische Argumentationen sollen hervorgehoben werden, weil diese für die Fragestellung der Arbeit von besonderer Bedeutung sind: Religionsphilosophie kann (a) als eine theoretische Reflexion über die zentralen Inhalte einer Religion konzeptualisiert werden, beispielsweise über das Absolute. Damit werden religiöse Inhalte philosophisch auf den Begriff gebracht und das Phänomen Religion insgesamt auf einer reflexiven Ebene erklärbar. Beispielsweise wird dann über den Wahrheitsgehalt religiöser Inhalte diskutiert. Religionsphilosophie als Sprachkritik (b) analysiert die Merkmale religiöser Sprache. Es werden dann zum Beispiel ihre Strukturen und Eigenheiten oder deren Funktion im Sprachgeschehen insgesamt untersucht. Religionsphilosophie als Phänomenologie oder Anthropologie (c) visiert eine Synthese einer inhalts- wie formbezogenen Analyse der Religion an und will den religiösen Akt hinsichtlich seiner Struktur bzw. anthropologischen Basis begründen. Ein vierter religionsphilosophischer Zugang (d) thematisiert Religion weniger als ein theoretisches System von Sätzen oder eine anthropologisch begründete Erfahrung denn als ein Handlungssystem mit sozialer Funktionalität. Die philosophisch orientierten Zweige der Religionssoziologie argumentieren in
Kants Reflexion über Religion ist allerdings bei aller grundsätzlichen Kritik an der Metaphysik im Allgemeinen und der Theologie im Besonderen der Religion gegenüber positiv ausgerichtet. In Absetzung von dieser ›religionsfreundlichen‹ Interpretationslinie bilden sich im 19. und 20. Jahrhundert unterschiedliche Spielarten einer dezidierten Religionskritik aus, die zum Beispiel religiöse Überzeugungen als bloßen Schein interpretieren, weil der Bezugspunkt – das Transzendente – lediglich eine Projektionsfläche des Menschen und damit ein Trugbild sei. Zum Paradebeispiel dieser Religionskritik ist Ludwig Feuerbach geworden, der Religion als die Verallgemeinerung subjektiver Intentionen bezeichnet: Der Mensch wolle ens perfectissimum sein und projiziere seine Wünsche in das Trugbild mit dem Namen ›Gott‹, so sein Vorwurf (vgl. Feuerbach 1841/1973).
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diese Richtung, wenn sie nach der moralischen, politischen oder ökonomischen Funktion von Religion fragen (vgl. Kap. 2.1.). Damit sind vier paradigmatische religionsphilosophische Zugänge skizziert. Zur Verdeutlichung ihrer Argumentation soll exemplarisch ein Blick auf einzelne Autoren geworfen werden, die für diese Strömungen stehen. Die philosophische Kritik an religiöser Sprache (vgl. b) wurde beispielsweise vor allem in der angelsächsischen Tradition religionsphilosophischer Forschung entworfen. Die frühen Arbeiten von Wittgenstein sind dabei ein erster wichtiger Referenzpunkt. Wittgenstein plädiert für eine Grenzziehung zwischen dem Sagbaren, das sprachlich möglichst eindeutig darzustellen ist, und dem Unsagbaren, auf das zu zeigen ist (vgl. Wittgenstein 1921/1989, 4.114). Religiöse Sprache setzt beim Unsagbaren an und will in einem mystischen Sinn die Erfahrung der Welt zum Ausdruck bringen. Damit thematisiert sie das menschliche Staunen über die kontingente Welt, die nicht rational verfügbar ist, sondern nur gezeigt werden kann. Philosophie hat in der Sichtweise des späten Wittgenstein wiederum die Aufgabe der Grenzziehung zwischen Sprachspielen und kann diese nicht auf ein letztes oder erstes Sprachspiel reduzieren (vgl. Ricken 1989; ders. 2008). Im weiteren Verlauf der Debatte der analytischen Philosophie wurden die Thesen von Wittgenstein zugespitzt, und es wurde vor allem danach gefragt, ob religiöse Aussagen überhaupt sinnvolle Sätze seien (vgl. Ricken 1975; Schrödter 1979, 100–234). Die Kritiker stellen damit auch die Möglichkeit eines vernünftigen Nachdenkens über Religion insgesamt in Frage. Im Fahrwasser des logischen Positivismus plädiert beispielsweise Alfred J. Ayer in den 1930er-Jahren dafür, dass es verifikationistisch betrachtet für den Satz ›Gott existiert‹ weder ein logisches noch ein empirisches Argument gibt (vgl. Ayer 1936/1970). Anthony Flew führt diese Argumentation fort, indem er betont, dass religiöse Sätze empirisch nicht falsifiziert werden können und daher sinnlos sind (vgl. Flew 1968). Gegenüber Vertretern der Sinnlosigkeitsthese religiöser Aussagen haben sich wiederum andere Autoren darum bemüht, das Spezifikum religiöser Sprache nicht von vornherein als sinnlos abzuwerten, sondern in seiner Besonderheit zu erfassen. Ein Beispiel hierfür sind die Arbeiten von Donald D. Evans, der religiöse Sprache als performativen Sprechakt deutet. Dieser religiöse Sprechakt kann seiner Ansicht nach eine sinnvolle Aussage eines handelnden Menschen sein (Evans 1963). Richard B. Braithwaite setzt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls 56
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von Ayer und Flew ab, indem er die ethische Funktion religiöser Sprache in den Blick nimmt und religiöse Aussagen als Ausdruck einer moralischen Lebensweise interpretiert (vgl. Braithwaite 1955). In eine ähnliche Richtung argumentiert John Wisdom (1974), wenn er Religion als ein holistisches Interpretationsmodell von Wirklichkeit deutet. Ian T. Ramsey (1957) wiederum versteht religiöse Bilder und Gleichnisse als hermeneutische Modelle von Wirklichkeit, weshalb die Aussage ›Gott existiert‹ keine Tatsachenaussage ist, sondern eine hermeneutische Interpretation von Wirklichkeit. Religiöse Sprache ist Ramseys Ansicht nach dabei meist evokativ. Sie soll in Situationen führen, in der religiöse Einsichten erfahrbar und bestimmte Lebensentscheidungen auf Basis dieser Erfahrungen ermöglicht werden (vgl. c). Mit diesem Blick auf die religionsphilosophische Debatte der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts wird Folgendes deutlich: Religiöse Aussagen zeichnen sich durch charakteristische Unterschiede zu anderen Aussageformen (beispielsweise der Naturwissenschaftten) aus. Viele Autoren weisen als Reaktion auf die Sinnlosigkeitsthese auf die Vielfalt der Funktionen religiöser Sprache hin, wie beispielsweise die wirklichkeitsdeutende, ethische, evokative oder performative Funktion religiöser Sprache. Religiöse Sätze sind in diesen Deutungen weniger auf einen bestimmten Gegenstand bezogen, als vielmehr auf das Leben des Gläubigen bzw. die Wirklichkeit als Ganzes. Nicht zuletzt durch die Rezeption der sprachpragmatischen Wende von John L. Austin und John R. Searle werden religiöse Aussagen meist als Worthandlungen interpretiert, womit der nicht-propositionale Charakter religiöser Sprache zum Thema gemacht wird. Der Satz ›Gott ist Schöpfer‹ meint dann weniger, dass Gott die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt x in einer bestimmen Zeitspanne y geschaffen hat, sondern er ist Ausdruck einer tiefgreifenden menschlichen Ehrfurcht vor der Welt. Mit solchen Sätzen konstituieren sich außerdem religiöse Sprach- und Handlungsgemeinschaften (vgl. Schaeffler 1983, 150–160). 16 Eine weitere Traditionslinie der Religionsphilosophie, die im 19.
Dabei werden religiöse Handlungssysteme meist in einem weiten Sinne verstanden (vgl. d), d. h. Religion wird »nicht auf eine einzelne Haltung oder Tugend« reduziert, sondern unter Religion wird »die komplexe Einheit eines Ganzen, das theoretische und praktische Einstellungen, Überzeugungen und Handlungen integriert« (Lutz-Bachmann 2002b, 81), verstanden.
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und 20. Jahrhundert ebenfalls großen Einfluss hatte, ist die transzendentalphilosophische Reflexion (vgl. a und c). In dieser Tradition stehen auf der einen Seite von Schleiermacher geprägte Ansätze, die den Ankerpunkt der Religion in das religiöse Bewusstsein bzw. Gefühl legen (vgl. Kap. 4.1.2.). Auf der anderen Seite stehen religionsphilosophische Konzeptionen, die stärker die linguistische Wende der analytischen Philosophie rezipieren (vgl. b). Im Zuge dessen wird auch in der transzendentalphilosophischen Reflexion über Religion die Bedeutung religiöser Sprache hinsichtlich der Eröffnung neuer Erfahrungs- und Kommunikationshorizonte herausgestellt. Deshalb werden transzendentale Ideen als Regulative der Vernunft nicht mehr mit transzendenten Objekten identifiziert, wie dies Theologen nach Kant versucht hatten. Einen weiteren wichtigen Schritt in dieser Transformation transzendentalphilosophischer Reflexion von Religion hat Ernst Cassirer mit seiner Theorie der symbolischen Formen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen (vgl. Cassirer 1923–1929/1953–1987). Die Ordnung der subjektiven Erfahrungen des Menschen drückt sich seiner Ansicht nach durch symbolische Formen aus, wobei Religion als eine solche interpretiert wird. Religion zu verstehen bedeutet in transzendentalphilosophischer Hinsicht nach Cassirer, »die strukturelle Eigenart des religiösen Aktes frei[zu]legen und von dort aus den Aufbau der religiösen Erfahrungswelt [zu] beschreiben. Gelingt dies, dann lassen sich daraus zugleich die Kriterien des auf spezifisch religiöse Weise Gültigen ableiten« (Schaeffler 2002, 163). 17 In allen vier religionsphilosophischen Zugangsweisen (a bis d) zeigt sich zudem eine wichtige Absetzung von der vormodernen Theologie: Religionsphilosophische Forschung darf heute nicht mehr die Grundannahmen des Glaubens einfach nur postulieren, sondern sie muss sich an der Religionskritik in ihren verschiedenen Spielarten bewähren. Das bloße Faktum der Existenz von Religiosität und Religion rechtfertigt noch nicht ihren Wahrheits- und Geltungsanspruch, weshalb die Religionsphilosophie unter Rekurs auf aktuelle philosophische
›Verstehen‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, die Bedingungen freizulegen, unter denen den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft eine Zustimmung zu religiösen Überzeugungen möglich ist. »Religiöse Traditionen und Institutionen verstehen, heißt deswegen: die spezifische Weise nachzeichnen, wie auch das Profane religiöse Bedeutung erhält« (Schaeffler 2002, 169), beispielsweise wenn die ästhetische oder sittliche Dimension menschlicher Wirklichkeit religiös gedeutet wird.
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Forschungen nach einem überzeugenden und rechtfertigbaren Verständnis von Religion fragt. »Diese Konstellation markiert den Zustand der Religionskritik in der Gegenwart: Die Kritik ist zusammen mit dem Rationalitätsanspruch der Philosophie zergangen und zurück bleibt ›Religion nach der Religionskritik‹« (LutzBachmann 2002b, 93).
In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, inwieweit Religion überhaupt zum Thema wissenschaftlicher Reflexion gemacht werden kann. Im Kern läuft diese Diskussion auf die Frage zu, ob man mit Vernunft über etwas nachdenken kann, das seinem Wesen nach letztlich die Vernunft übersteigt. Es geht in diesem Zusammenhang also auch und vor allem um die Frage nach der Vernünftigkeit von Religion, die in der Moderne unter dem Stichwort Glauben und Wissen zu einem Dreh- und Angelpunkt der Debatte geworden ist. In dieser Diskussion über das Verhältnis von Glauben und Wissen spiegelt sich im Verlauf der Moderne auch eine Transformation des Verhältnisses von Religion und Philosophie wider. Einerseits werden beide entlang der Grenzziehung von Glauben und Wissen im Laufe der Neuzeit voneinander getrennt, andererseits sind sie »theoretisch aufeinander verwiesen, wenn es darum geht, einen erweiterten Begriff von öffentlicher Vernunft, befreit von den Restriktionen eines szientistischen Positivismus oder epistemologischen Naturalismus zu begründen« (Lutz-Bachmann 2002b, 97). Erst nach einer Neuformulierung des Vernunftverständnisses als Folge der Vernunftkritik, die sich als Reaktion auf die Betonung der Vernunft in der Philosophie der Moderne herausgebildet hatte, wird nun eine neue philosophische Aufmerksamkeit für Religion wieder möglich. Diesen Schritt markieren beispielsweise Autoren wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, denn erst die von beiden »angesichts der Dialektik der Aufklärung konstatierte Krise der Vernunft ist die Voraussetzung für eine ›religionsphilosophische Wende‹ in der Philosophie des 20. Jahrhunderts« (LutzBachmann 2002a, 146), woraus sich eine neue Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie ergibt. »Philosophie und Religion, zumindest die religiöse Tradition, die von einer ›negativen Theologie‹ bestimmt ist, werden von Horkheimer (…) als Gestalten von Aufklärung, von öffentlich wirksamer Kritik anerkannt, ohne dass die eine der anderen den Platz anweist. (…) Horkheimer erkennt, dass in einer Situation der Philosophie ›nach der Religionskritik‹ Philosophie und A
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Religion in einem neuen Verhältnis zueinander stehen. (…) Mit den vernunftkritischen Reflexionen seiner Spätphilosophie bereitet Max Horkheimer eine kritische Theorie der Kultur und der Religion vor, deren Ausarbeitung bis heute ein offenes Desiderat darstellt« (Lutz-Bachmann 2006, 61 f.). 18
Philosophisch betrachtet haben sich also im Laufe der Moderne Religionsphilosophie und (mittelalterliche) Theologie ausdifferenziert und nebeneinander etabliert. Dabei sind beide mehr und mehr religionskritischen Anfragen ausgesetzt. Die religionskritisch geprüfte Religionsphilosophie zeigt sich dabei, wie skizziert, als eine philosophisch vielstimmige Rede über Religion. Der neu entstandene Religionsbegriff impliziert meist ein weit gefasstes Verständnis von Religiosität, religiöser Sprache und Religion. Wie genau diese vielstimmige Rede über Religion heute aussehen und welche davon am meisten überzeugen kann, dies wird nach der Rekonstruktion des Diskursfeldes eigens zu klären sein (vgl. Kap. 4.). Im Folgenden soll aber erst noch ein genauer Blick auf die politische Philosophie und die in ihr vorherrschenden Interpretationen von Religion geworfen werden.
Gerade im Anschluss an Autoren wie Adorno oder Horkheimer erfreut sich heute die negative Theologie einer immer größeren Beliebtheit in der Religionsphilosophie (vgl. Halbmayr 2008), was im Anschluss an die Rekonstruktion des aktuellen Diskurses noch ausführlich zu diskutieren sein wird (vgl. Kap. 4.3.); vgl. beispielsweise den von Werner Schüßler herausgegebenen Band Wie lässt sich über Gott sprechen, in dem zentrale Einsichten aus der Tradition der negativen Theologie für aktuelle religionsphilosophische Debatten fruchtbar gemacht werden (vgl. Schüßler 2008). In diesem Zusammenhang spielen die Ansätze von Adorno und Horkheimer eine wichtige Rolle. Insbesondere Adorno macht in der Negativen Dialektik auf die theologische Bedeutung negativ-dialektischen Denkens aufmerksam: »Negativ, Kraft des Bewusstseins der Nichtigkeit, behält die Theologie gegen die Diesseitsgläubigen recht« (Adorno 1966/ 1990, 371). Halbmayr interpretiert dieses Erbe Adornos als Grund für die Bedeutung, welche die negative Theologie heute bei der Interpretation von Religion spielt: »Der Raum, den die Rede von Gott angesichts des erfahrenen Gottesfehlens, der Nichtigkeit Gottes, seines Rückzugs aus der Welt (…) um den Spalt zu öffnen sucht, von dem Adorno sich das notwendige Licht der Erlösung versprach, jenseits aller benennbaren Hoffnung – dieser Raum der Theologie ist nicht zufällig von den Theologen des 20. Jahrhunderts immer wieder mit den Mitteln theologisch konstitutiver Negativität erschlossen worden« (Halbmayr 2008, 16). 18
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2.3. Zwei Wege der politischen Philosophie und die Konsequenzen für das Nachdenken über Religion 2.3.1. Grundfragen der politischen Philosophie In dem Maße, in dem Religion heute gesellschaftlich wahrnehmbarer wird, spielt sie nicht nur auf der Ebene des Individuums, sondern auch im sozialen und politischen Raum eine Rolle. Damit wird sie zum Gegenstand der politischen Philosophie, wie exemplarisch bei Habermas, Walzer oder Luhmann zu zeigen sein wird. Die politische Philosophie stellt sich insbesondere der Frage nach der Funktion von Religion in (welt-)gesellschaftlichen Konstellationen. Ihre Antworten auf diese Frage sind eng mit den jeweiligen Konzepten von politischer Philosophie verbunden. In den philosophischen Beiträgen zur Religion spiegeln sich daher Grundfragen der politischen Philosophie insgesamt wider. Systematisch betrachtet sind es insbesondere vier Grundfragen, die jede politische Philosophie in unterschiedlicher Weise beantwortet und vor deren Hintergrund gegenwärtig nach der Religion gefragt wird. Erstens hat die politische Philosophie zu klären, was sie unter dem Begriff des Sozialen als Ausdrucksform menschlichen Zusammenlebens versteht. Unabhängig von der konkreten materialen Fassung des Sozialen argumentieren politische Philosophen heute oftmals, dass Wirklichkeit sinnvollerweise nicht ohne diese soziale Dimension erklärt werden kann. Sprachphilosophie, Anthropologie oder Ästhetik sind ohne eine angemessene Beachtung der sozialen Dimension von Wirklichkeit nicht zu verstehen, so die Grundannahme vieler politischer Philosophien. So ist auch Religion, beispielsweise im durkheimschen Sinne, eine gesellschaftliche Praxis, die das Leben der Menschen im privaten wie öffentlichen Feld prägt, und deshalb erst vor dem Hintergrund eines angemessenen Verständnisses des Sozialen erklärbar wird. Die zweite zentrale Grundfrage der politischen Philosophie ist die nach der Gesellschaft als Struktur des Sozialen. Auch hier gibt es eine große Bandbreite von Gesellschaftsverständnissen, die in politischen Philosophien impliziert sind. Diese Auffassungen sind in unterschiedlicher Weise von Soziologie, Politologie oder Ökonomie beeinflusst. Bei den Rekonstruktionen der verschiedenen Ansätze werden diese Konzeptionen von Gesellschaft explizit in den Blick zu nehmen sein. Aus der Sichtweise der Gesellschaftstheorie sind ReligionsgemeinA
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schaften Teil der Gesellschaft, der als Akteur oder System gedeutet wird und der sowohl auf der Mikro-, Meso- als auch Makro-Ebene Einfluss ausübt. Drittens besteht eine Nähe zur Ethik, insofern die politische Philosophie auf normative Kriterien zur Beurteilung von Handelungen zurückgreift. Zu denken ist an die Auswirkungen der Konzeption des Guten bei Platon, der Gerechtigkeit bei Aristoteles, der praktischen Vernunft bei Kant oder der grundlegenden Moralkritik bei Nietzsche für die jeweiligen politischen Philosophien ihrer Zeit. Im aktuellen Diskurs der politischen Philosophie spielen insbesondere die Bereichsethiken eine wichtige Rolle, in denen gesellschaftliche Teilbereiche (Medizin und Ökonomie usw.) in ethischer Hinsicht reflektiert werden und nach normativen Grundsätzen zur Gestaltung dieser gesellschaftlichen Teilbereiche gefragt wird. Indem Religion normative Annahmen impliziert, kommt ihr auch aus dieser Perspektive der politischen Philosophie eine zentrale Bedeutung zu. Ein viertes zentrales Thema der politischen Philosophie ist die Politik als zielgerichtetes Strukturieren von Gesellschaft und ihrer Teilbereiche. In diesem Feld spielt heute vor allem die Verhältnisbestimmung von Politik, Recht und Ökonomie eine zentrale Rolle. Religion wird zum Thema der politischen Philosophie, weil geklärt werden muss, wie sich der moderne demokratische Staat gegenüber religiösen Überzeugungen verhalten soll. Es wird zu diskutieren sein, ob und inwiefern die neue Aufmerksamkeit für Religion auch zu einem neuen Verständnis des Politischen führt, insbesondere was die Interpretation von Pluralität in säkularen Gesellschaften angeht. Philosophiegeschichtlich betrachtet haben alle vier Themenfelder eine lange Tradition, die sich von der Antike bis heute durchzieht. Besonders prägend im aktuellen Diskurs der politischen Philosophie sind zwei Theoriestränge, die sich erst in der Neuzeit gebildet haben, und zwar die kantische und hegelsche Tradition politischer Philosophie. Beide Konzeptionen dienen bis heute der Orientierung im Diskursfeld der politischen Philosophie und implizieren dabei unterschiedliche Schlussfolgerungen für die gesellschaftliche Positionierung der Religion. Deshalb sollen diese beiden Zugänge exemplarisch nebeneinandergestellt werden, um den Rahmen des aktuellen Diskurses der politischen Philosophie über Religion klären zu können.
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2.3.2. Kants rationalistische Deutung von Politik und die Vernunftreligion Kant gilt als Vertreter einer rationalistischen Konzeption von Politik und Recht. Sein philosophisches Verständnis beider basiert auf den Überlegungen zur praktischen Vernunft und dem hohen Stellenwert, den er dieser im Rahmen seiner Philosophie einräumt. Zwei Implikationen des kategorischen Imperativs als Kernelement der praktischen Vernunft sind dabei zentral. Erstens spielt die Vernunft als Richterin in Bezug auf die Frage: ›Was soll ich tun?‹ eine wichtige Rolle in seiner Philosophie. Die philosophische Pointe des kategorischen Imperativs liegt darin, dass jeder Mensch auf der Basis des allgemeinen Vernunftgebrauchs seine Gültigkeit einsehen kann und damit anerkennen muss. Die zweite zentrale Implikation ist die grundlegende Trennung von Sein und Sollen in der politischen Philosophie Kants, denn der kategorische Imperativ will nicht der faktischen Realität eine normative Gültigkeit beimessen, sondern er begründet den Sollensanspruch einzig aus der Vernunft. Damit stehen sich Sein und Sollen als zwei Pole der praktischen Philosophie gegenüber. Kants Verständnis von Politik und demokratischer Institutionen, das auf dieser moralphilosophischen Grundlegung aufbaut, erschließt sich vor allem mit Blick auf sein Rechtsverständnis. Kant misst dem Recht im politischen Raum eine zentrale Funktion bei der Ausbuchstabierung der moralischen Forderungen der praktischen Vernunft bei, wobei auch die Geltung des Rechts aus der praktischen Vernunft einsehbar ist. Die Gesetzmäßigkeit erweist sich für das Recht als das Vernunftprinzip, woraus sich für Kant das allgemeine Rechtsgebot ergibt, das als eine rechtsphilosophische Deutung des kategorischen Imperativs verstanden werden kann. »Eine jede Handlung ist r e c h t, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (Kant 1797/1998, 39). Recht ist dabei gemäß der Metaphysik der Sitten der »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Kant 1797/1998, 38). Zentrales Merkmal des Rechts ist nicht nur seine Vernünftigkeit, sondern auch und vor allem seine Erzwingbarkeit. In der Konsequenz »heißt das nichts anderes, als dass der Begriff des Rechts in einem System wechselseitiger Zwangsbefugnisse seine Erfüllung findet« (Braun A
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2006, 231). Deshalb weist Kant dem republikanisch verfassten Staat bei der Lösung von gesellschaftlichen Konflikten eine so zentrale Stellung zu, denn nur er verfügt über die legitimierte Zwangsbefugnis, Recht verbindlich zu setzen. Das Nachdenken über Religion verbindet Kant mit seiner Grundlegung der praktischen Philosophie (vgl. exemplarisch Ricken/Marty 1992). In diesem Zusammenhang hebt er gleichzeitig die Verschiedenheit von Religion und Politik deutlich hervor. Religionsphilosophisch hält er die Existenz Gottes nicht in einem metaphysischen Sinne für beweisbar (vgl. Kap. 2.2.), sondern er betont, dass die Frage nach Gott mit der Frage nach dem höchsten Gut verbunden sei. Religion ist somit eine Selbstdeutung der praktischen Vernunft und eine Explikation der sittlichen Pflicht. Damit werden nicht nur Moral und Religion in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt, sondern gleichzeitig auch Religion und Vernunft, insofern die Religion durch die Vernunft eingesehen werden kann, wie Kant in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1794 ausführt (vgl. Kant 1794/2003). »Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen« (Kant 1794/2003, 226).
Sobald Menschen im Sinne des kategorischen Imperatives moralisch handeln, setzen sie also immer schon ein Sinnganzes und damit auch Gott voraus. Deshalb ist in der praktischen Vernunft Religion auf einer grundlegenden Ebene begründet. Kants Argument zielt auf die Einsicht, »dass die moralische Selbstbestimmung des Menschen den Gottesgedanken im Rahmen der kritischen Selbsteinschätzung der endlichen, begrenzten Urteils- und Erkenntnisfähigkeit benötigt« (Vossenkuhl 2000, 113). In dieser Hinsicht eröffnet Religion einen Reflexionsraum, durch den ethisches Handeln nicht nur in Bezug auf den reflektierenden Menschen, sondern vor allem in Bezug auf einen übergeordneten Standpunkt möglich wird. »Wir dürfen also nur auf ein gutes Leben, auf eine Verwirklichung des Gemeinwohls hoffen, wenn wir diese metaphysische Perspektive auf das eigene Tun ernst nehmen. Auf diese Perspektive können wir nicht verzichten, wenn wir überhaupt einen Sinn in der moralischen Integrität der persönlichen Lebensführung und einer positiven moralischen Lebensbilanz sehen wollen« (Vossenkuhl 2006, 162).
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Durch die Konzeption des Vernunftglaubens will Kant auch das trennende Schema von Glaube und Vernunft aufheben und eine transzendentalphilosophisch ausgewiesene Option des Nachdenkens über Religion eröffnen (vgl. Hutter 2004). Für den politischen Philosophen Kant war es gleichzeitig wichtig zu betonen, dass die Religion trotz ihres moralischen Potenzials grundsätzlich von der Politik zu trennen ist. Politik steht, wie am Beispiel seines Rechtsverständnisses ablesbar ist, ganz im Dienste einer weltanschaulich neutralen Verwirklichung von Freiheit. 19 Viele Ansätze der aktuellen politischen Philosophie stehen in der Tradition Kants, wenngleich sie eine gewisse Skepsis gegenüber dessen Konzeption der Vernunftreligion bzw. seiner Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen implizieren (vgl. Kap. 3.1.3.3. oder Kap. 3.5.3.2.). In politisch-philosophischer Hinsicht finden sich kantische Anleihen beispielsweise bei John Rawls (vgl. Rawls 1998) oder Otfried Höffe (vgl. Höffe 2002). Diese kantisch geprägten Konzeptionen zielen letztlich auf ein Verständnis von Demokratie, in welchem dem Recht eine zentrale Bedeutung zukommt. Weltanschauliche Überzeugungen der einzelnen Bürger können zwar im Bereich des Privaten eine Rolle spielen, aber im politisch-gesellschaftlichen Raum gilt es, die Neutralität des Staates und der demokratischen Verfahren hervorzuheben, so Axel Hutter weist in einem anderen Zusammenhang auf einen weiteren Aspekt der Religionsschrift Kants hin, und zwar auf die Bedeutung der öffentlichen Vernunft. Kants vernunftkritische Überlegungen beziehen sich nämlich nicht nur auf den einzelnen Menschen als Erkenntnissubjekt, sondern haben zudem eine öffentliche Dimension. »Die gleichsam ›private‹ Perspektive auf die menschliche Vernunft öffnet sich dergestalt zu einer genuin ›sozialen‹ Perspektive, in der die Vernunft und ihr ›Gebrauch der Freiheit‹ als Form der Vergesellschaftung begriffen werden« (Hutter 2005, 140). Damit entwickelt Kant einen Begriff der Öffentlichkeit, denn »neben den geläufigen Begriff einer politischen Öffentlichkeit des Rechts tritt der neue Begriff einer transzendentalen Öffentlichkeit der reinen Vernunft« (Hutter 2005, 142). Darüber hinaus identifiziert Kant eine dritte Dimension der Öffentlichkeit, in der sich das Gemeinwesen (in einem utopischen Sinne) unter dem zwangsfreien Moralgesetz verwirklicht, worin sich die Offenheit der Konzeption der öffentlichen Vernunft auf eine transzendentale Dimension erweist. »Kants genuin metaphysischer Begriff einer ethisch verfassten, d. h. radikal zwangsfreien Öffentlichkeit besitzt demnach am Ende einen Vernunft- und Wahrheitsgehalt, der durch keine bloß politisch-rechtliche Deutung ›säkularisiert‹ werden kann. Gerade diese über die Grenzen der Rechts- und Moralphilosophie hinausweisenden Momente vollenden aber erst den Kantischen Begriff der Öffentlichkeit zu einem Ganzen, das dem bedingten-unbedingten Doppelcharakter der menschlichen Vernunft gerecht wird« (Hutter 2005, 145). 19
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die Schlussfolgerung dieser Konzeption. Religion spielt deswegen in der politischen Philosophie dieser Tradition meist eine untergeordnete Rolle. Religiöse Weltanschauungen sind beispielsweise für Rawls Teil der nur individuell plausibilisierbaren Anleitungen zum guten Leben, weshalb sie nicht zur Grundlage der öffentlichen Vernunft werden dürfen, sondern durch die praktische Vernunft gefiltert werden müssen (vgl. Rawls 1998, 133 ff.; Kap. 4.6.1.).
2.3.3. Hegels Begriff der Sittlichkeit und die kritische Funktion der Religion Der kantischen Argumentationslinie steht die hegelsche Tradition der politischen Philosophie gegenüber, die ihrerseits viele Theorien im 20. Jahrhundert beeinflusst hat. Hegels Verständnis von Politik und Recht steht in einem engen Verhältnis zu dem von Kant und setzt sich doch in entscheidender Weise von diesem ab. Zuerst manifestiert sich in der Betonung der Vernunft, die sich bei Hegel in der dialektischen Bewegung des Geistes äußert, eine große Nähe zwischen den beiden Philosophen. Wie Kant betont Hegel die Vernunft, wenn er in der Vorrede der Rechtsphilosophie argumentiert: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« (Hegel 1820–1821/ 1986, Vorrede 24). Diese Nähe findet sich ebenfalls in der Verhältnisbestimmung von Politik, Recht und Freiheit, denn auch Hegel nimmt ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen diesen an, insofern Recht und Politik auf die Verwirklichung von Freiheit zielen. Trotz dieser Ähnlichkeiten gibt es allerdings deutliche Unterschiede in Kants und Hegels Verständnis von politischer Philosophie; wiederum ist es die Rechtsphilosophie, die in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist (vgl. Hegel 1820–1821/1986). Erstens betont Hegel, dass das Verhältnis von Freiheit und Recht im politischen Raum nicht ein kausales sei, sondern sich als ein dialektischer Stufenprozess darstelle. Recht kann Freiheit nicht in einem linearen Sinne herstellen, ebensowenig wie Freiheit in eine ausschließlich rechtliche Semantik übersetzt werden kann, sondern beide vollziehen im Laufe der Geschichte einen dialektischen Prozess. Hegel fokussiert deshalb weniger auf die Vernünftigkeit des Rechts an und für sich als auf den konkreten Gebrauch der Rechte. Seine Absicht ist »überhaupt nicht so sehr, das Vernunftrecht als ein System normativer Sätze zu deduzieren 66
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und zu empfehlen, als vielmehr aufzuzeigen, wie der Gebrauch der Rechte der Verwirklichung menschlicher Freiheit dient« (Ilting 1975, 55). Dabei kann zweitens das einzelne Individuum nicht als von der jeweiligen Gemeinschaft losgelöst gedacht werden. Im Bereich des Sozialen stehen sich Individuum und Gemeinschaft nicht als Pole gegenüber – wie dies nach Hegel bei Kant oft zu sein scheint –, sondern beide befinden sich in einem unauflösbaren Wechselverhältnis zueinander. Hegel deutet dies als unaufhebbare Durchdringung von Besonderem und Allgemeinem. Dieses Verhältnis ergibt sich vor allem daraus, dass die Bedürfnisse der einzelnen Menschen mit dem Wohl der Gemeinschaft eng verbunden sind (vgl. Thompson 2001, 53). Deshalb kritisiert Hegel an Kants politischer Philosophie dessen Individualismus, der sich paradigmatisch in seinem Staatsverständnis widerspiegelt. Der Staat darf nach Hegel nicht als eine Summe von Einzelinteressen gedeutet werden, sondern er ist ein dialektischer Prozess der Bürger und der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären. Ein Kernelement der politischen Philosophie Hegels ist das Verständnis von Sittlichkeit, die er als »zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene[n] Begriff der Freiheit« (Hegel 1820–1821/1986, § 142) versteht. Damit vollzieht sich im Bereich der Sittlichkeit die Freiheit in einer gesellschaftlichen Hinsicht. Hegel betont hierbei, dass das Sittliche je eigens verfasst sei und deshalb für die politische Philosophie eine Berücksichtigung der gewachsenen Verhältnisse des Sittlichen unumgänglich sei. Mit diesem gesellschaftstheoretischen Modell argumentiert er gegen eine rationalistische Konzeption von Gesellschaft bzw. Staat und betont die Bedeutung der verschiedenen Sphären der Sittlichkeit (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat). Hierin drückt sich wiederum die dialektische Verschränkung von Besonderem und Allgemeinem aus. Systematisch betrachtet nimmt Hegel damit die klare Trennung Kants von Moralität und Legalität zurück und bekräftigt die Vielfalt sozialer, moralischer und rechtlicher Praktiken einer Gemeinschaft als Voraussetzung des Politischen (vgl. Reder 2010a). 20 Hinsichtlich des Religionsverständnisses ist bei Hegel eine EntIm Letzten ist Hegel allerdings skeptisch gegenüber dieser Vielfalt und bindet diese wieder an den monarchisch geformten Staat zurück (vgl. Hegel 1820–1821/1986, § 275 ff.), was auf vielfache Kritik stieß.
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wicklung in seinen Schriften festzustellen. Während sich in den frühen Jahren noch eine gewisse Nähe zu Kants Identifizierung von Moral und Religion erkennen lässt, nimmt Hegel in späteren Werken einige Akzentverschiebungen vor. 21 Während Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat Ausdruck des objektiven Geistes sind, ist die Religion neben Kunst und Philosophie für Hegel Teil des absoluten Geistes. 22 In diesem Zusammenhang geht es für Hegel vor allem darum, »die Vernunft der Religion zu zeigen« (Hegel 1832/1986, 341). Der Zugang zu Gott mittels der Vernunft ist deshalb möglich, weil Gott sich selbst offenbart und der Mensch damit Anteil an Gott hat. Hegel denkt Religion also vor allem als geschichtliche Offenbarungsreligion. »In der absoluten Religion ist es der absolute Geist, der nicht mehr abstrakte Momente seiner, sondern sich selbst manifestiert« (Hegel 1817/1986, § 564). In ganz besonderer Weise drückt sich Religion, verstanden als absoluter Geist, im Christentum aus, wobei die trinitarische Gotteslehre als die vollendetste Form der Religion interpretiert wird. In der Verortung der Religion im absoluten Geist bringt Hegel (wiederum ähnlich wie Kant) die kategoriale Verschiedenheit von Religion und Gesellschaft bzw. Politik zum Ausdruck. In Bezug auf die Rolle von Religion innerhalb des Staates betont er, dass beide voneinander zu trennen seien, weil nur dadurch beide miteinander versöhnt werden könnten (Hegel 1820–1821/1986, § 270; vgl. besonders Arndt et al. 2009). Religion und Politik sind gleichzeitig aufeinander bezogen, weil sie auf demselben Begriff von Freiheit fußen. Das Christentum ist dabei geschichtlich betrachtet in Hegels Lesart die sittliche Grundlage des modernen Staates, insofern es »Ursprung der rechtlichen, moralischen und selbst politischen Freiheit« (Leuven 2009, 54) ist. Die Religion ist »zwar die Grundlage des Staates, aber der Staat ist wiederum die Verwirklichung desjenigen in der Welt stehenden Geistes, der zugleich den Gehalt des Glaubensaktes darstellt« (Karasek
Zudem findet sich in späteren Schriften eine sehr deutliche und teils scharfe Akzentuierung gegenüber einer auf Gefühl begründeten Religion im Allgemeinen und gegenüber der schleiermacherschen Religionstheorie im Besonderen (vgl. Hegel 1818–1831/ 1986; vgl. Kap. 4.1.3.). 22 Religion und Philosophie sind in diesem Zusammenhang eng aufeinander bezogen, denn die Philosophie ist wie die Religion Ausdrucksform des absoluten Geistes. Deshalb kann Hegel schlussfolgern: »In der Philosophie erhält die Religion ihre Rechtfertigung vom denkenden Bewusstsein aus« (Hegel 1832/1986 II, 341). 21
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Zwei Wege der politischen Philosophie und das Nachdenken über Religion
2009, 80). Damit bietet die Religion als Ausdruck des absoluten Geistes gleichzeitig einen Gegenpol zur gesellschaftlich-politischen Sphäre des objektiven Geistes. Hegel erklärt diese Entgegensetzung in dem Bild von Werktagen und Sonntag (vgl. Hegel 1832/1986 II, Einleitung): Beide können nicht voneinander getrennt werden. Aber erst von der Religion (dem Sonntag) aus kann der Mensch der Gestaltformen des objektiven Geistes, d. h. der endlichen politischen Welt gewahr werden und diese kritisieren. 23 »Religion wird in Hegels Rechtsphilosophie mithin als etwas verstanden, was über die Partikularität einer eigentümlich-frommen Bewusstseinsstellung hinausgreift und selbst einen Ort der Manifestation der Allgemeinheit des Humanen im geschichtlichen Geistes- und Kulturleben darstellt« (Dierken 2005, 11).
Religion ist damit also immer eine reflexiv-kritische Gegenfolie zu den gängigen gesellschaftlichen Praktiken des objektiven Geistes. Auch die politische Philosophie Hegels ist Ideengeber für viele aktuelle Ansätze. Axel Honneths Reformulierung der hegelschen Rechtsphilosophie ist gegenwärtig sicherlich eine der bedeutendsten. Seine Theorie fokussiert im Sinne Hegels auf die vielfältigen Anerkennungsverhältnisse, auf denen Gesellschaften aufbauen und die jeder ethischen Reflexion vorausgehen (vgl. Honneth 1992). In Honneths Lesart ist das Zenrtum der hegelschen Überlegungen der Bereich der Sittlichkeit, den er als Erfahrung kommunikativer Freiheit deutet (vgl. Honneth 2001a). In dieser Sphäre der Sittlichkeit drückt sich die von Hegel betonte Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als ein Wechselspiel von Selbstverwirklichung des Einzelnen und Ordnung der Gesellschaft als Ganzer aus. Erst in der gesellschaftlichen Realisierung von Freiheit befreit sich der Mensch vom Leiden an Unbestimmtheit (Honneth 2001a; ders. 2001b). Honneth argumentiert, auf dieser Anerkennungstheorie aufbauend, gegen eine scharfe Grenzziehung zwischen Sein und Sollen und stattdessen für eine Verknüpfung des Nachdenkens über Gerechtigkeit mit einer gründlichen Analyse der bereits verwirklichten sozialen und normativen Praktiken. Die Aufgabe einer kriHegels Überlegungen zur Religion und ihrer Rolle im gesellschaftlich-politischen Gefüge werden im aktuellen Diskurs nicht nur herangezogen, um die soziale Funktion der Religion und ihr Verhältnis zur Politik zu bestimmen, sondern auch, um die Vielfalt der Religionen hinsichtlich eines auf Einheit abzielenden Vernunftkonzeptes zu untersuchen (vgl. Nagl-Docekal et al. 2008).
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tischen Gesellschaftstheorie ist es daher, »die gegebenen Institutionen und Praktiken (…) auf ihre normativen Leistungen« hin zu analysieren und darzustellen, inwiefern »sie für die soziale Verkörperung und Verwirklichung der gesellschaftlich legitimierten Werte von Bedeutung sind« (Honneth 2008, 21). Dies bedeutet allerdings nicht eine uneingeschränkte Anerkennung des Faktischen, sondern es soll mit einer kritischen Rekonstruktion der uneingeholten Potenziale der Praktiken darauf aufmerksam gemacht werden, wie diese weiterentwickelt werden sollen. Neben Honneths Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie finden sich im Kommunitarismus und Pragmatismus, aber auch im Dekonstruktivismus Anleihen der hegelschen Philosophie. Es ist daher nicht überraschend, dass Autoren wie Taylor die Rezeption der politischen Philosophie Hegels entscheidend geprägt haben (vgl. Taylor 1978). Auch Kommunitarismus und Pragmatismus betonen mit Hegel die Vielfalt von (kulturellen) Praktiken als Basis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Vernunft, die nach Allgemeinem strebt, steht ihrer Ansicht nach immer in einem unauflösbaren Verhältnis zur Pluralität gesellschaftlicher Praktiken – dem Besonderen (vgl. Kap. 3.3.1.). Deshalb ist es nicht notwendig, religiöse Überzeugungen durch den Filter des öffentlichen Vernunftgebrauches zu reinigen; vielmehr werden religiöse Überzeugungen als wichtiger Bestandteil deliberativer Prozesse mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen aufgefasst.
2.4. Zwischenfazit Die zwei Traditionsstränge der politischen Philosophie und die damit verbundenen Interpretationen der gesellschaftlichen Rolle von Religion prägen die aktuelle Debatte, weshalb beide Positionen bei der Rekonstruktion der Ansätze in den folgenden Kapiteln als Hintergrundfolie dienen. Zusammen mit den skizzierten Positionen der soziologischen wie kulturtheoretischen Religionstheorie und Religionsphilosophie sind damit drei wichtige interdisziplinäre Kontexte der Debatte identifiziert. Alle zusammen dienen als theoretischer Hintergrund für die Rekonstruktionen des aktuellen Diskurses. Sie liefern ein Schema, anhand dessen Religion hinsichtlich ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen untersucht werden kann. Ein vergleichender Blick auf die drei Debatten zeigt grundlegende Themen- und Span70
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nungsfelder, in denen sich die Frage nach der Religion bis heute bewegt. • Religion als individuelles oder soziales Phänomen: In einigen Ansätzen wird die Bedeutung der Religion für das Individuum herausgestellt, beispielsweise für seine Identitätsbildung, Sinnstiftung oder Kontingenzbewältigung. Davon ausgehend wird Religion als ein Phänomen bestimmt, das vor allem auf der individuellen Ebene eine zentrale Funktion übernimmt. Demgegenüber fokussieren andere Ansätze stärker auf die soziale Dimension der Religion und sehen ihr zentrales Merkmal weniger in einer individuellen Sinn- oder Identitätsstiftung als in einer sozial-integrativen Funktion. • Religion als Substanz oder Funktion: Wenn auf einen anthropologischen Kern von Religion als materiale Basis fokussiert wird, findet sich meist ein substanzielles Religionsverständnis. Solche Religionsverständnisse implizieren die Annahme, dass Religion unabhängig von ihrer Wirkung auf den Menschen oder die Gesellschaft einen festen Wesenskern aufweist. Funktionale Ansätze betonen dagegen, dass Religion in der Bestimmung ihrer gesellschaftlichen Funktion erklärt werden sollte. Erst in der Beobachtung dieser Funktionalität kann ihr zentrales Merkmal bestimmt werden. • Religion und Kultur: Vor allem in den klassischen Religionstheorien, aber auch bei einigen neoklassischen Autoren wird Religion als Teil eines umfassenden kulturellen Gewebes gedeutet. Dadruch rückt Religion in ihrem Verhältnis zu ökonomischen Prozessen oder kulturellen Bedeutungszusammenhängen in den Fokus der Untersuchungen. Diese kulturelle Dimension tritt bei anderen Ansätzen in den Hintergrund, weil diese einen allgemeinen Begriff entwickeln, der Religion weniger abhängig von der Kultur verortet. • Religion und Moral: Von einigen Ansätzen der praktischen Philosophie, aber auch vor allem von funktionalen Konzeptionen der Religionssoziologie wird die moralische Kompetenz der Religion in den Blick genommen. Religion ist in dieser Hinsicht ein System von gesellschaftlichen Normen und individuellen Handlungsorientierungen, die aufgrund ihrer hohen Motivationskraft im öffentlich-politischen Raum eine große Wirkung entfalten können. Demgegenüber betonen andere Autoren, dass die Moral nur eine A
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Dimension der Religion unter vielen und zudem nicht ihr primäres Merkmal sei, weshalb diese Konzeptionen einen moralischen Reduktionismus bei der Erklärung von Religion ablehnen. • Religion und Religiosität: Eine weitere Unterscheidung ist die von Religion und Religiosität, die allerdings je nach kulturellem Kontext unterschiedlich ausfällt. Tendenziell ist mit dem Fokus auf Religion ein allgemeines Verständnis des Phänomens oder auch eine Beobachtung der institutionalisierten Religionsgemeinschaft anvisiert. Eine Beobachtung der Religiosität ist demgegenüber weitergefasst und stellt eine Analyse der religiösen Erfahrungen oder Haltungen dar, in denen (teils diffus) auf einen letzten Grund oder die Transzendenz Bezug genommen wird. • Glauben und Wissen: Der Blick auf die religionsphilosophische Debatte zeigt die Bedeutung der Frage nach der Vernünftigkeit der Religion. In unterschiedlicher Weise (sprachanalytisch, phänomenologisch usw.) lassen sich Argumente für und gegen die Vernünftigkeit der Religion anführen, die wiederum auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Prämissen beruhen. Je nach Zugang werden deshalb Glauben und Wissen deutlich voneinander geschieden oder als wechselseitig aufeinander bezogen verstanden. • Religion und Politik: Innerhalb der politischen Philosophie wurden in der Moderne verschiedene Politikmodelle entwickelt, die der Religion unterschiedliche Funktionen im säkularen Staat zuweisen. Einige Autoren betonen, dass demokratische Institutionen eine vollständige weltanschauliche Neutralität notwendig voraussetzen. In anderen Modellen wird dafür plädiert, dass diese Trennlinie historisch wie systematisch kontingent ist und auch moderne Demokratien auf die Pluralität weltanschaulich bedingter sozialer Praktiken angewiesen sind. Damit sind zentrale Aspekte des Analyserasters für die folgenden Rekonstruktionen benannt. Die skizzierten Spannungsfelder, die als ein Desiderat aus den interdisziplinären Forschungen zur Religion und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gewonnen wurden, geben eine Orientierung für die Analyse und kritische Diskussion der verschiedenen Ansätze im Besonderen und des gesamten Diskurses im Allgemeinen. Dabei wird in Anlehnung an Webers Zugang zur Frage nach der Religion (vgl. Kap. 2.1.1.) auf die Festlegung auf einen Religionsbegriff verzichtet, was nicht nur dem komplexen Phänomen selbst, sondern auch 72
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der aktuellen Debatte geschuldet ist, denn »es gibt gegenwärtig keine allgemein akzeptierte Definition für Religion« (Löffler 2006, 11). Dies liegt zum einen daran, dass sich historisch das Verständnis von Religion enorm gewandelt hat. Zum anderen ist es angesichts der Vielfalt und Ausdifferenzierung des religiösen Feldes, gerade auch in interkultureller Hinsicht, nicht plausibel, vorab nur mit einer festen Religionsdefinition zu operieren, weil damit weder die Vielfalt der Phänomene erklärbar noch die Unterschiedlichkeit der theoretischen Zugänge verarbeitbar wäre. Im Anschluss an Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeiten wird dagegen auf Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Religionsspiele und deren theoretische Konzeptualisierungen geachtet, um die Vielfalt bestmöglich verarbeiten und ein überzeugendes Erklärungsmodell der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften liefern zu können (vgl. Löffler 2006, 16; vgl. außerdem Vossenkuhl 1992; Koritensky 2008). Vor diesem Hintergrund werden nun die aktuellen Positionen des Diskurses rekonstruiert und einer kritischen Diskussion unterzogen. Dies ist Aufgabe des folgenden Kapitels (Kap. 3.). Dabei gilt es nicht nur die Auseinandersetzung der jeweiligen Autoren mit der Religion zu analysieren, sondern diese Überlegungen auch in den größeren Zusammenhang ihrer Konzeptionen von politischer Philosophie einzuordnen, um zu einem umfassenden Verständnis des Diskurses, seiner zentralen Positionen und Problemstellen gelangen zu können.
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3. Rekonstruktion des Diskurses über Religion
3.1. Postsäkularität und die Folgen für die Demokratie (J. Habermas) Die Beschäftigung mit Religion nimmt in den Überlegungen von Jürgen Habermas seit den 1990er-Jahren einen immer größeren Stellenwert ein. Bezeichnete er sich früher in Anlehnung an Webers Diktum als einen dezidiert ›religiös Unmusikalischen‹, so thematisiert er Religion heute nicht mehr nur aus einer kritischen Distanz heraus, sondern setzt sie in einer konstruktiveren Weise in Beziehung zu seiner Gesellschaftstheoretie und Ethik. Im Folgenden werden zuerst diese Grundannahmen seines Ansatzes skizziert, um daran anschließend zu zeigen, inwieweit Habermas den aktuellen Diskurs über Religion – vor allem mit dem Begriff ›postsäkular‹ – prägt und welche Konsequenzen mit seinem Verständnis von Postsäkularität verbunden sind.
3.1.1. Habermas’ Gesellschaftstheorie und Diskursethik Habermas steht in der Tradition der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer. Seine Philosophie versteht sich daher als eine Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, mit dem Ziel, die Emanzipation der Bürger zu fördern und Verfahren zur gemeinsamen diskursiven Problemlösung zu stärken. Deshalb nimmt Habermas in seinem gesamten Werk den kritischen Blick auf Gesellschaft seiner Vorgänger der Kritischen Theorie auf und ergänzt diesen vor allem um das Moment der Intersubjektivität, die Menschen in ihrer Alltagswelt als ein Grundmoment von Wirklichkeit erfahren. »Die Intuition stammt aus dem Bereich des Umgangs mit anderen; sie zielt auf Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität, fragiler als alles, was
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bisher die Geschichte an Kommunikationsstrukturen aus sich hervorgetrieben hat – ein Netz von intersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeit ermöglicht, wie man es sich immer nur unter interaktiven Modellen vorstellen kann. Es sind Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeiten – all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schließt nicht etwa den Konflikt aus, sondern was sie meint, sind die humanen Formen, in denen man Konflikte überleben kann« (Habermas 1981a, 152).
Neben der Kritischen Theorie gibt es noch eine zweite philosophiegeschichtliche Wurzel des Ansatzes von Habermas, und zwar die sprachphilosophische, die sein Nachdenken über den Menschen und soziales Leben entscheidend geprägt hat. Habermas verarbeitet hierbei vor allem die Sprechakttheorie von Austin und Searle (Austin 1972; Searle 1971; vgl. Kap. 2.2.) und deutet Sprache dementsprechend als eine grundlegende Handlungsform des Menschen. Sprache wird zum bestimmenden Merkmal menschlicher Wirklichkeit, woraus Habermas schlussfolgert, dass das, »was uns aus der Natur heraushebt, (…) der einzige Sachverhalt [ist], den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt« (Habermas 1968a, 163). Sprache ist also nicht nur die basale Form von Intersubjektivität, sondern gleichzeitig ein grundlegender Schritt auf dem Weg zu Emanzipation und Verständigung, denn mit dem ersten sprachlichen Satz ist »die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmissverständlich ausgesprochen« (Habermas 1968b, 163). Seine Sprach- und Handlungstheorie entfaltet Habermas grundlegend in seinem wohl wichtigsten Werk: der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981b I-II). In diesem Werk legt er eine Zeitdiagnose der Rationalität spätkapitalistischer Gesellschaft vor und untersucht, welche Handlungsrationalität sozialen Prozessen in modernen Gesellschaften zugrunde liegt. Philosophiegeschichtlich (von Weber über Adorno und von Mead bis hin zu Durkheim) rekonstruiert Habermas verschiedene Rationalitätstypen sozialer Handlungen, deckt deren Schwächen auf und diskutiert insbesondere, inwiefern sie allgemein-menschlichen bzw. gesellschaftlichen Alltagserfahrungen wiA
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dersprechen. Systematisch unterscheidet er in diesem Zusammenhang zwei Handlungstypen: das instrumentelle und das soziale Handeln (vgl. Habermas 1981b I, 25–44). Das soziale Handeln differenziert sich wiederum in zwei weitere Handlungstypen aus, und zwar in das strategische und das verständigungsorientierte Handeln. Im ersten (strategischen) Handlungstyp versuchen Menschen ihre Ziele unabhängig vom Einverständnis der anderen Handelnden zu erreichen, im zweiten (verständigungsorientierten) Fall zielt das Handeln auf eine einvernehmliche Handlungskoordinierung im Sinn eines wechselseitigen Überzeugens. Habermas’ Interesse gilt vor allem der verständigungsorientierten kommunikativen Rationalität. In diesem Zusammenhang identifiziert er vier Bedingungen von Verständigung (Habermas 1981b I, 148 f.). Dies sind verständliches Sprechen, Wahrheitsbezug, angemessene Kommunikation der sozialen Beziehungen und eine aufrichtige Formulierung der eigenen Absichten und Gefühle. Hinter diesen Bedingungen stehen wiederum Weltbezüge kommunikativer Äußerungen, die er als objektive Welt der Tatsachen, soziale Welt interpersonaler Beziehungen und subjektive Welt der Wünsche und Gefühle bezeichnet (vgl. Habermas 1981b I, 114 ff.). Wenn ein Sprecher sich äußert, so kann er zugleich etwas über die objektive Welt, seine Beziehung zum Gesprächspartner und seine subjektiven Empfindungen aussagen. Eine Handlung ist dann für Habermas rational, wenn die mit den Weltbezügen verbundenen Geltungsansprüche zu Recht erhoben werden, d. h., wenn sie intersubjektiv rechtfertigbar sind. Dahinter steht die zentrale These von Habermas, das wer rational handelt, dies kommunikativ tun muss. Menschen erfahren in ihrem lebensweltlichen Alltag und den dort stattfindenden Sprachhandlungen, dass ein so verstandenes kommunikatives Handeln auf Verständigung ausgerichtet ist, dies ist eine der Grundintuitionen der Theorie des kommunikativen Handenls. 1
Diese Einsicht in die Grundlogik kommunikativen Handelns deutet Habermas entwicklungspsychologisch als zentralen Schritt bei der moralischen Entwicklung eines Kindes. »Habermas löst Kohlbergs entwicklungspsychologische Beschreibung der Entstehung sozialmoralischer Perspektiven kommunikationstheoretisch auf und beschreibt diese nunmehr als Interaktionsstufen des kommunikativen Handelns. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die Frage individueller Entwicklungsvorgänge, sondern die Frage des Wechselverhältnisses zwischen sich differenzierenden Interaktionsformen und Moralbewusstsein« (Kalupner 2003, 87).
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»Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren« (Habermas 1981b I, 128).
Habermas identifiziert in diesem Zusammenhang grundlegende Ansprüche, die jeder auf Verständigung angelegten Kommunikation immer schon zugrunde liegen – beispielsweise Zurechnungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit. Ohne die Akzeptanz dieser Ansprüche durch die Gesprächspartner wäre überhaupt keine Kommunikation möglich. Diese Ansprüche kommunikativen Handelns sind deshalb unhintergehbare Grundregeln gelungener Kommunikation. Gleichzeitig ist Habermas allerdings sehr wohl bewusst, dass die Merkmale verständigungsorientierten Handelns selten alle gleichermaßen erfüllt sind, weshalb er betont, dass kommunikative Rationalität ein menschlicher Handlung ist. Sie ist daher nichts Technisches oder eindeutig Herstellbares, typisch sind vielmehr »Zustände in der Grauzone zwischen Unverständnis und Missverständnis, beabsichtigter und unfreiwilliger Unwahrhaftigkeit, verschleierter und offener Nicht-Übereinstimmung einerseits, Vorverständigtsein und Verständigung andererseits« (Habermas 1984b, 253). Die so verstandene kommunikative Rationalität wird im Weiteren zur Grundlage der ethischen Überlegungen von Habermas: der Diskursethik. Normative Geltungsansprüche, so die Argumentation von Habermas, sind dann gerechtfertigt, wenn sie verständigungsorientiert ausgehandelt sind, d. h., wenn alle Betroffenen diesen potenziell zustimmen können. Der diskursethische Grundsatz lautet, »dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)« (Habermas 1983, 103). Auch hier ist die Grundidee von Habermas, dass, wer normativ zu argumentieren anfängt, schon bestimmte Diskursregeln akzeptiert hat, hinter die er nicht mehr zurückgehen kann. Damit schließt die Diskursethik zwar an die formale Ethikkonzeption Kants an, setzt sich aber gleichzeitig von dieser ab, indem sie praktische Vernunft intersubjektiv fasst (vgl. Habermas 1983, 67–108). Vom Standpunkt des kommunikativen Handelns und der Diskursethik aus will Habermas die Gesellschaft als Ganzes analysieren und in ihren Tiefenstrukturen erklären; diese Überlegungen werden in der Theorie des kommunikativen Handelns grundgelegt und in der rechtsA
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philosophischen Schrift Faktizität und Geltung (Habermas 1992b), dem zweiten Hauptwerk von Habermas, weiterentwickelt. Die auf der systematischen Ebene identifizierten Handlungstypen sind die Basis des Gesellschaftsmodells von Habermas, das aus drei Ebenen besteht: der Lebenswelt, den Systemen und der Öffentlichkeit. Der Lebenswelt, der ersten Ebene seines Gesellschaftsmodells, kommt dabei historisch wie systematisch eine besondere Bedeutung zu, weil sie für den Menschen der primäre Ort des sozialen Handelns ist. Den Begriff ›Lebenswelt‹ übernimmt Habermas aus der Phänomenologie von Alfred Schütz und Edmund Husserl, gibt ihm allerdings eine kommunikationstheoretische Wendung, denn der Zugang zur Lebenswelt erschließt sich für Habermas nicht über eine phänomenologische Wesensschau, sondern letztlich nur über die gelebte Teilnahme an sozialen, d. h. kommunikativen Interaktionen (vgl. Habermas 1981b I, 192–211). Auch hier zeichnet sich der Grundzug einer an Intersubjektivität ausgerichteten Philosophie im Gegensatz zu einer Bewusstseinsphilosophie eines Descartes, Kant oder Husserl ab (vgl. Habermas 1988). Habermas fokussiert in diesem Zusammenhang besonders auf die symbolischen Komponenten der Lebenswelt, die er als ein Netz kommunikativer Alltagspraxis interpretiert. Kommunikatives Handeln ist deshalb in den lebensweltlichen Formen sozialer Interaktionen begründet und nur vor diesem Hintergrund verstehbar: »Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt« (Habermas 1981b I, 107). Kommunikatives Handeln ist also mit dem Bereich der Lebenswelt eng verbunden, weshalb die Lebenswelt »einen Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln« (Habermas 1981b I, 182) bildet. Mit der Moderne beschleunigt sich gesellschaftstheoretisch nach Habermas der Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung enorm, womit die zweite Ebene seines Gesellschaftsmodells markiert wird. Mit der Entstehung autonomer Systemlogiken vollzieht sich gesellschaftliche Rationalisierung als ein Prozess der Distanzierung von mythischen Weltbildern, was mit Weber als ein Prozess der Entzauberung der Welt interpretiert werden kann (vgl. Habermas 1981b I, 72–111). In ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne gibt es keine einheitliche Lebenswelt mehr; Gesellschaften sind nämlich immer mehr durch die Dynamik der Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft geprägt. Diese Systeme sind durch funktionale Systemintegration gekennzeichnet und als strategische Kommunikationsformen 78
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der Lebenswelt gegenübergestellt. Die Systemintegration vollzieht sich in einem instrumentellen Sinn durch die Verfolgung eines bestimmten Zieles bzw. einer festgelegten Logik (vgl. Habermas 1981b II, 226). Die dritte Ebene des Gesellschaftsmodells ist die der Öffentlichkeit, mit der sich Habermas schon in seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1962) auseinandergesetzt hat und die vor allem in Faktizität und Geltung (Habermas 1992b) in das gesellschafts- und demokratietheoretische Konzept integriert wird. Die Öffentlichkeit ist der soziale Raum, der zwischen Lebenswelt und Systemen angesiedelt ist, in dem sich gesellschaftliche Akteure zu Wort melden und Beiträge zur Diskussion über die Gestaltung der Gesellschaft liefern. »Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; (…) Die Öffentlichkeit zeichnet sich (…) durch eine Kommunikationsstruktur aus, die sich auf einen dritten Aspekt verständigungsorientierten Handelns bezieht: weder auf die Funktionen noch auf die Inhalte der alltäglichen Kommunikation, sondern auf den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raum« (Habermas 1992b, 436).
Der öffentliche Raum übernimmt dabei eine Scharnierfunktion zwischen Lebenswelt und Systemen und eröffnet eine wichtige Form der Partizipation an politischen Prozessen. Paradebeispiel für die normativ orientierten Akteure der Öffentlichkeit sind die facettenreichen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements, die »problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten« (Habermas 1992b, 443 f.) etablieren. Hierzu gehören nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse auf freiwilliger Basis wie Nichtregierungsorganisationen oder Bürgerinitiativen. Ihre Funktion besteht darin, Problemlagen aus der Lebenswelt aufzunehmen, diese lautverstärkend in den öffentlichen Raum einzuspeisen und dabei vor allem gesellschaftliche Probleme an das System der Politik zu adressieren. Geschichtlich betrachtet sind moderne Gesellschaften von beiden skizzierten Entwicklungen geprägt: Zum einen durch eine Loslösung der Systeme von der Lebenswelt und zum andere durch die Entstehung von Öffentlichkeit. Ein zentrales Problem der fortschreitenden Moderne, das sich mit diesen beiden Entwicklungen ergibt und das Habermas A
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besonders in den Blick nimmt, ist die Kolonialisierung der Lebenswelt. Systeme tendieren seiner Auffassung nach nämlich dazu, ihre Systemlogik für alle Lebensbereiche absolut zu setzen. Paradebeispiel ist das System der Ökonomie inklusive seiner Logik des Gewinnstrebens, das heute immer mehr zum alleinigen Maßstab für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche – vor allem für die Lebenswelt – wird. Einzelne Systemlogiken überformen damit die Lebenswelt, was zu einer pathologischen Verfremdung der lebensweltlichen, verständigungsorientierten Kommunikation führt. Damit laufen moderne Gesellschaften Gefahr, eine ihrer wichtigsten Grundlagen für soziale Interaktionen zu verlieren, und zwar die Verankerung kommunikativer Rationalität im sozialen Alltagsleben der Menschen. In der politischen Philosophie argumentiert Habermas vehement gegen eine solche Kolonialisierung der Lebenswelten und für eine Stärkung des kommunikativen Handelns, beispielsweise im System der Politik oder im Raum der Öffentlichkeit. 2 Unter dem Stichwort der deliberativen Demokratie entfaltet Habermas die demokratietheoretischen Konsequenzen der Theorie des kommunikativen Handelns und der Diskursethik (vgl. exemplarisch Habermas 1992a; ders. 1992b). Dabei betont er, dass für moderne Gesellschaften institutionalisierte Meinungs- und Willensbildungsprozesse eine zentrale Rolle spielen, weil damit kommunikative Rationalität in öffentlich-politischen Verfahren institutionalisiert und gemäß dem diskursethischen Grundsatz alle Betroffenen an diesen beteiligt werden können. Im Kern geht es Habermas dabei um Prozeduren der Beratung und Beschlussfassung mit dem Ziel eines kommunikativ erzeugten gesellschaftlichen Konsenses. Der Liberalismus greift deshalb seiner Ansicht nach mit der Betonung des Schutzes negativer Rechte zu kurz und muss in der Sichtweise der deliberativen Demokratie auf die aktive politische Beteiligung aller Bürger erweitert werden (vgl. Habermas 1992a, 15 f.). Das Recht fungiert hierbei als eine Membran, die zwischen Öffentlichkeit und Lebenswelt einerseits und der Politik andererseits vermittelt und eine gerechte Rahmenordnung für komplexe Gesellschaften sichern soll (vgl. Habermas 1992b, 43 f.).
Besonders pointiert kommt diese These der Kolonialisierung der Lebenswelt in der Auseinandersetzung mit Luhmann zu Beginn der 1970er-Jahre zum Ausdruck (vgl. Habermas/Luhmann 1971; vgl. Kap. 3.4.3.3.).
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»Die paradoxe Leistung des Rechts besteht also darin, dass es das Konfliktpotential entfesselter subjektiver Freiheiten durch Normen zähmt, die nur so lange zwingen können, wie sie auf dem schwankenden Boden entfesselter kommunikativer Freiheiten als legitim anerkannt werden. Eine Gewalt, die sonst der sozialintegrativen Kraft der Kommunikation entgegensteht, wird so in der Form des legitimen staatlichen Zwangs zum konvertierten Mittel der sozialen Integration selbst« (Habermas 1992b, 680).
In diesem Zusammenhang spielt die kreative und dezentrale vermachtete Öffentlichkeit wiederum eine wichtige Rolle, vor allem weil sie die gesellschaftliche Pluralität von Meinungen sichert. Diese Konzeption der deliberativen Demokratie wird von Habermas in den 1990er-Jahren wiederum auf die globale Ebene übertragen, denn auch hier ist Politik nur als ein kommunikativer Austausch mit dem Ziel einer kooperativen Lösung anstehender globaler Probleme sinnvollerweise konzeptualisierbar (vgl. Habermas 1998; ders. 2004a). Weltpolitik ist daher für ihn nur in einem Mehrebenesystem möglich (Habermas 2004a, 113–193), in dem eine Ontologisierung des FreundFeind-Schemas – wie sie sich in der Tradition des Ansatzes von Carl Schmitt heute einer immer größeren Beliebtheit erfreut (vgl. Habermas/Derrida 2004) – vermieden wird und vielfältige Verfahren zum kooperativen Austausch eingerichtet werden.
3.1.2. Merkmale der postsäkularen Deutung von Religion 3.1.2.1. Habermas und die Religion: eine lange Entwicklungsgeschichte Habermas hat in seinem philosophischen Schaffen immer wieder kreativ auf neu entstandene gesellschaftliche und philosophische Fragen reagiert. Wie kaum ein anderer Philosoph hat er sich auf aktuelle Debatten eingelassen oder sie selbst angestoßen. Als Denker des gesellschaftlichen Ganzen hat er öffentliches Leben mitgeprägt und war dabei stets interdisziplinär ausgerichtet. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er sich ebenfalls der neuen Wahrnehmbarkeit von Religion zuwendet und den Diskurs darüber mitgestaltet. Überblickt man das Gesamtwerk von Habermas, so stellt man allerdings fest, dass sich bis Mitte der 1990er-Jahre nur wenige systematische Ausführungen zum Themenfeld Religion finden (vgl. exemplarisch Habermas 1991b, 127 ff.). Diese zum Teil indirekten Äußerungen sollen im Folgenden A
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zuerst im Fokus des Gedankengangs stehen (vgl. Reder/Schmidt 2008b). 3 In der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981b), in der Habermas seinen soziologischen wie ethischen Ansatz begründet, finden sich einige erste Hinweise auf die gesellschaftliche Rolle von Religion, die ganz unter dem Vorzeichen des Säkularisierungsparadigmas stehen. Habermas geht davon aus, dass die Funktion der Religion, Integration herzustellen und Gesellschaft zu prägen, im Grunde mit der Entwicklung moderner Demokratien auf die säkularisierte kommunikative Vernunft übergehen wird. »Die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, [gehen] auf das kommunikative Handeln über (…), wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt werden« (Habermas 1981b, 118). 4
Hinter dieser Einschätzung steht die Grundidee des kommunikativen Handelns, die besagt, dass sich kommunikativ handelnde Menschen argumentativ über ihre normativen Geltungsansprüche verständigen und nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen finden. Die Religion steht im Verdacht, genau dieses kommunikative Handeln zu unterlaufen, weil sie die gläubigen Diskursteilnehmer nicht in den vorurteilsfreien Raum intersubjektiver Verständigung entlässt, sondern Zielvorgaben für den Diskurs vorgibt. Habermas fordert deshalb vor dem Hintergrund der Theorie kommunikativer Rationalität, dass religiöse Bürger ihre einseitigen moralischen Urteile nicht verabsolutieren dürfen, sondern sich den Bedingungen eines liberalen Staates stellen müssen. Aus dieser Perspektive erscheint Religion als eine historische Entwicklungsphase moderner Gesellschaften, die durch kommunikatives Handeln überwunden wird.
Für einen Überblick über die frühen Arbeiten von Habermas zur Religion vgl. Arens (1989, 11–17) und die aufschlussreiche Durchleuchtung möglicher theorieinterner Beweggründe bei Cooke (2002). 4 In einigen Publikationen deutet Habermas sogar an, dass diese Aufgabe »einer kritischen Aneignung und Transformation der semantischen Gehalte der Religion inzwischen beendet« und »der wertvolle Gehalt der Religion in die grundlegenden Prinzipien einer universalen Ethik der Art, wie er sie vorschlägt, vollständig übernommen worden sei« (Cooke 2002, 107; vgl. Habermas 1985, 52). 3
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»Das skizzierte Religionsverständnis zeichnet einen Weg vom sakralen Kult zum sprachlichen Konsens, von der Kultgemeinschaft zur Kommunikationsgemeinschaft. Die damit markierte religionstheoretische Position läuft darauf hinaus, dass die Religion einer vergangenen, historisch überholten Entwicklungsstufe der Menschheit angehört, die im Zuge eines welthistorisch angelegten Prozesses der Rationalisierung und Modernisierung inzwischen von der Moderne abgelöst worden ist, womit Religion mit ihrem weltbildhaft-kognitiven, expressiven und moralisch-praktischen Gehalt Bedeutung einbüßt und sich in eine kommunikative Ethik auflöst« (Arens 1998, 253).
Gegenüber dieser eher religionsskeptischen Sichtweise finden sich aber schon in den späten 1970er- und 1980er-Jahren vereinzelt Äußerungen, die weniger unter dem Duktus der Säkularisierungsthese stehen und stärker betonen, dass moderne Gesellschaften – wenn sie das Humane stärken wollen – immer auch auf eine fortwährende Beachtung der Religion und eine Übersetzung religiöser Traditionen in säkulare Sprache angewiesen sind. Zum 80. Geburtstag von Gerschom Scholem formuliert Habermas diese Einsicht folgendermaßen: »Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferungen in die Bezirke der Profanität einbringen kann, auch die Substanz des Humanen retten können« (Habermas 1978, 141).
Zehn Jahre später wird in den Aufsätzen zum Nachmetaphysischen Denken (Habermas 1988) diese Anerkennung der Bedeutung des Religiösen für moderne Gesellschaften noch pointierter formuliert. Habermas betont hier die Notwendigkeit der Reflexion des Religiösen, beispielsweise um die zentralen Begriffe der Geistesgeschichte angemessen verstehen zu können, die an vielen Stellen aus religiösen Überzeugungen erwachsen sind. Aber auch über dieses geschichtliche Wissen hinaus implizieren Religionen unaufgebbare Gehalte, die sich zwar grundlegend von der Philosophie unterscheiden, die aber für eine gerechte Gestaltung moderner Gesellschaften wichtig sein können. 5 Der Grundgedanke der Theorie des kommunikativen Handelns und die damit verbundene Betonung des Säkularisierungsparadigmas bleiben aber auch in diesen Überlegungen erhalten. Denn entsprechend dem 5 Diese Bedeutung der semantischen Gehalte der Religion betont Habermas bis heute nachdrücklich. Gemeint ist damit, dass in religiöse Semantik z. B. Vorstellungen von Solidarität und Gerechtigkeit eingebettet sind, die eine moralische Ressource für moderne Gesellschaften sein können (vgl. Habermas 2001; ders. 2005).
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nachmetaphysischen Ansatz verliert die Religion ihren Universalisierungsanspruch und kann deshalb keine integrative Weltbildfunktion mehr beanspruchen. Der Begriff des ›nachmetaphysischen Zeitalters‹ zielt für Habermas vor allem auf ein unverrückbares Ende der Universalisierung religiöser Überzeugungen in säkularen Kontexten. 6 Die Beachtung der Religion in ihrer gesellschaftlichen Funktion ist mit diesem nachmetaphysischen Verständnis von Philosophie auf das Engste verknüpft. »Die überraschende Konzilianz gegenüber der Religion geht nämlich bei Habermas mit einer strikten Verpflichtung der Philosophie auf eine ›nachmetaphysische‹ Gestalt einher, die überhaupt erst die ›Koexistenz‹ mit der Religion plausibel werden lässt« (Hutter 1998, 243).
Eine weitere Akzentuierung in Habermas’ Auseinandersetzung mit der Religion zeigt sich in den frühen 1990er-Jahren. In dieser Zeit entsteht unter anderem ein Aufsatz, in dem er sich explizit mit dem Thema der Transzendenz auseinandersetzt (vgl. Habermas 1991b). Habermas kommentiert in diesem Aufsatz zuerst die Entstehung von linken Milieus in beiden christlichen Konfessionen in den 1970er-Jahren, die sich zusammen mit säkularen Akteuren der Zivilgesellschaft in öffentliche Diskurse eingebracht haben. »Mit diesem exemplarisch bezeugten und breitenwirksamen Mentalitätswandel entsteht das Bild eines religiösen Engagements, das aus der Konventionalität und Innerlichkeit eines bloß privaten Bekenntnisses ausbricht. Mit einem undogmatischen Verständnis von Transzendenz und Glauben nimmt dieses Engagement diesseitige Ziele der sozialen Emanzipation und Menschenwürde ernst und verbindet sich in einer vielstimmigen Arena mit anderen, auf radikale Demokratisierung drängenden Kräften« (Habermas 1991b, 130).
Habermas betont, dass religiöse Überzeugungen nicht unbedingt ein Hindernis für öffentliche Deliberation sein müssen, sondern die normativen Gehalte des Christentums sehr wohl mit den Grundsätzen einer universalistischen Moral in demokratischen Gesellschaften übereinstimmen können. Habermas gesteht in diesem Zusammenhang auEine kritische Rekonstruktion und Kritik des habermasschen Theorems vom nachmetaphysischen Denken legt Rudolf Langthaler vor (vgl. Langthaler 1997). Dabei macht er zu Recht darauf aufmerksam, dass dieses Konzept von Habermas wiederum selbst Probleme impliziert, die beispielsweise in seinem Sprachverständnis begründet sind (vgl. zur Frage des Status der Metaphysikkritik zudem Kap. 3.7.1.).
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ßerdem den Religionen explizit eine gesellschaftliche Funktion zu, die vor allem in ihren »noch unabgegoltenen semantischen Potenzialen« (Habermas 1991b, 131) einer gerechten und friedlichen Welt besteht. Allerdings liegen diese Inhalte in der Religion in einer eingeschränkten Form vor, weil sie (fast immer) in festgelegte Riten und normativ gehaltvolle dogmatische Traditionen eingebunden und zudem an die Anerkennung kirchlicher Autoritäten gekoppelt sind. »Die religiösen Diskurse sind mit einer rituellen Praxis verschwistert, in der die Freiheitsgrade der Kommunikation im Vergleich zur profanen Praxis des Alltags auf eine spezifische Weise eingeschränkt sind« (Habermas 1991b, 137).
Deshalb fordert Habermas einen Übersetzungsprozess von religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache. Wer heute unter den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens »einen Wahrheitsanspruch stellt, muss jedoch Erfahrungen, die im religiösen Diskurs ihren Sitz haben, in die Sprache einer wissenschaftlichen Expertenkultur übersetzen – und von dort in die Praxis rückübersetzen« (Habermas 1991b, 137). Damit kann die Transzendenz des Diesseits in säkularer Sprache hörbar gemacht werden. 7 Ab Mitte der 1990er-Jahre wendet sich Habermas immer häufiger und dezidierter dem Thema Religion zu. 8 Eine erste explizite Auseinandersetzung mit der Frage nach der Religion findet sich in seiner Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Karl-Jasper-Preises im Jahr 1995 (Habermas 1997b). Öffentlich stärker beachtet und noch pointierter sind die Reden bei der Verleihung des Friedenspreises 2001 (Habermas 2001) und im Rahmen der Diskussion mit dem damaligen Kardinal Ratzinger in der Katholischen Akademie in München 2004 (Habermas/Ratzinger 2005). Die wichtigsten Texte zwischen den Jahren 2000 und 2005 zum Themenfeld Religion hat Habermas 2005 in dem Band Zwischen Naturalismus und Religion zusammengetragen (Habermas 2005). BesonNeben dieser möglichen Übersetzung des Transzendenzbezuges in säkulare Semantik spricht Habermas auch von einer Transzendenz von innen und meint damit »jene pragmatisch rekonstruierte Idealisierungsleistung einer notwendigen Überschreitung lokaler Bedeutungskontexte, die mit der Erhebung von Geltungsansprüchen verbunden ist« (Schmidt 2007, 328). 8 Eine sehr gute Skizze der neueren Entwicklung der Religionsdeutung von Habermas liefert Maly (2005). 7
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ders hervorzuheben ist der Beitrag zum Religionsverständnis Kants (vgl. Habermas 2005, 216–256), der eine leicht überarbeitete Fassung des 2004 im Rahmen des Kant-Symposions an der Wiener Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrags zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie ist, in dem Habermas seine Überlegungen in die religionsphilosophische Tradition einordnet. Dieser Vortrag zur Religionsphilosophie Kants wurde im Jahr 2005 zum Ausgangspunkt für ein weiteres Symposion in Wien, bei dem Habermas Philosophen und Theologen seine Interpretation der kantischen Religionsphilosophie zur Diskussion stellte. Unter dem Titel Glauben und Wissen. Ein Symposion mit Jürgen Habermas haben Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal diese facettenreiche Debatte herausgegeben (Langthaler/Nagl-Docekal 2007). Zu nennen ist schlussendlich eine Veranstaltung an der Münchener Hochschule für Philosophie der Jesuiten, im Rahmen derer Habermas sein Verständnis der gesellschaftlichen Rolle von Religion mit Vertretern des Lehrkörpers diskutierte (Reder/Schmidt 2008a). In der 2009 erschienenen Studienausgabe fasst Habermas im fünften Band schlussendlich wichtige Artikel zum Themenfeld Religion zusammen (Habermas 2009). Diese Arbeiten zur Religion, die Habermas seit 2001 veröffentlicht hat, stehen im Mittelpunkt der weiteren Rekonstruktion. Den bisher letzten Schritt der Beschäftigung mit Religion vollzieht Habermas mit dem Band Nachmetaphysisches Denken II (Habermas 2012). Knapp 25 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes unter gleichnamigen Titel bündelt Habermas seine Überlegungen zur Entwicklung der Moderne und ihrem Verhältnis zu religiösen Überzeugungen. Neben einigen bereits publizierten Beiträgen, die sich dezidiert mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigen, verdienen vor allem die Reflexionen zur Lebenswelt als Raum der Gründe besondere Beachtung. Diese schlagen einen systematischen Bogen von den grundsätzlichen Überlegungen zur Metaphysikkritik zu den kritischen Reflexionen der gegenwärtigen Gestalt der Moderne. In diesem Spannungsfeld siedelt Habermas seine Überlegungen zur postsäkularen Gesellschaft an. Dazu weitet Habermas seinen Blick auf das Gesamtspektrum kommunikativen Handelns. In der Rekonstruktion lebensweltlicher Kommunikation, insbesondere symbolischer Gesten, reflektiert Habermas hierzu beispielsweise rituelle Praktiken, »die offenbar die Alltagskommunikation als eine außeralltägliche Form der Kommunikation ergänzt haben« (Ha86
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bermas 2012, 11). In der Versprachlichung des Sakralen bzw. der sakralen Praktiken findet nach Habermas ein Transfer der sakralen Bedeutung in die säkular geprägte Alltagskommunikation statt. Dieser Prozess ist mit Blick auf die gegenwärtige Vitalität der Religionen nach wie vor in vollem Gange. Habermas hält damit an dem säkularen Charakter philosophischen (d. h. nachmetaphysischen) Denkens als Grundkonstante fest. Allerdings bezieht er in seine Bestimmung des nachmetaphysischen Denkens nun stärker das Fortbestehen der Religion als eine rituelle Praxis des Sakralen mit ein als dies 1988 der Fall gewesen ist. Die Aufgabe der Philosophie in diesem Übersetzungsprozess ist es, »die noch unabgegoltenen semantischen Potenziale zu entdecken und mit eigenen begrifflichen Mitteln in eine allgemeine, über bestimmte Religionsgemeinschaften hinaus zugängliche Sprache zu übersetzen – und so dem diskursiven Spiel öffentlicher Gründe zuzuführen« (Habermas 2012, 17). 3.1.2.2. Postsäkulare Gesellschaft und das moralische Potenzial der Religion Die skizzierte Entwicklung in den frühen Schriften von Habermas hat bereits einige Facetten seines Religionsverständnisses bzw. seiner Deutung der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften deutlich gemacht. Es gilt nun zu untersuchen, inwieweit Habermas in seinen neueren Arbeiten ab Mitte der 1990er-Jahre diese Überlegungen neu akzentuiert und was in diesem Zusammenhang das spezifische Merkmal seines Nachdenkens über Religion ist. In der Friedenspreisrede, die den Titel Glauben und Wissen trägt, entfaltet Habermas seine neu akzentuierte Sichtweise auf Religion in paradigmatischer Weise (Habermas 2001). 9 Ein Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der 11. September, durch den das Gewaltpotenzial der Religion instrumentalisiert wird, um die westliche Welt grundlegend zu kritisieren bzw. zu erschüttern. Am 11. September hat sich »die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion« (Habermas 2001, 22) in einer bedrohlichen und folgenreichen Weise verschärft. Der 11. September ist aber noch in einer anderen Weise ein Symptom für die Probleme der modernen Welt, denn er ist Ausdruck Als Beispiele für die vielfältigen Reaktionen von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen auf die Friedenspreisrede vgl. Orth 2001; Düringer 2002; Fischer 2002; Ollig 2002; Schröer 2002; Becker 2006.
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dafür, dass die säkulare Welt Gefahr läuft, sich nur an Gewinnstreben und Effizienz zu orientieren und damit ihre Kommunikationspotenziale und ihr Gespür für gesellschaftliche Pathologien zu verlieren. In seiner Beschäftigung mit Globalisierung und Bioethik in den 1990er-Jahren (vgl. exemplarisch Habermas 1998) nimmt Habermas selbst meist einen skeptischen Standpunkt in Bzug auf solche gesellschaftlichen Entwicklungen ein. Hinsichtlich der Globalisierung zeige sich vor allem, so seine Einschätzung, eine unbeherrschte Dynamik der Weltwirtschaft, die bislang nicht durch supranationale politische Verfahren habe gezügelt werden können. Hierin spiegelt sich auf globaler Ebene die Kolonisierung der Lebenswelt wider. Gleichzeitig verschärfe sich auf der nationalen Ebene eine schwindende Sensibilität für gesellschaftliche Pathologien. Die Moderne droht nach Ansicht von Habermas deshalb zu entgleisen. Der liberale Staat, der auf die Solidarität seiner Bürger und deren Motivation, sich an öffentlichen Diskursen zu beteiligen, angewiesen ist, ist mit diesem Problem besonders konfrontiert. Motivierende Quellen könnten infolge einer ›entgleisenden Säkularisierung‹ versiegen, so die Befürchtung von Habermas, womit das Projekt der deliberativen Demokratie grundsätzlich gefährdet wäre. Was aber kann einer solchen Entwicklung entgegengesetzt werden? Was motiviert Bürger zu einer aktiven Teilnahme an öffentlichen Diskursen und auf welchen Voraussetzungen beruht diese? Habermas hebt heraus, dass in diesem Zusammenhang die Religion eine wichtige Rolle spielen könnte. Deshalb kritisiert er Gesellschaftstheorien, welche Religionen als einen sozialen Fremdkörper interpretieren. Er bemängelt, dass Säkularisierung verstanden werde »als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite. Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung« (Habermas 2001, 24) einstellen sollte. Das Säkularisierungsparadigma hat für ihn mittlerweile also an Erklärungskraft eingebüßt. Religion und säkulare Welt stehen vielmehr in einem Wechselverhältnis zueinander – ja noch mehr: Sie sind in Zeiten komplexer gesellschaftlicher Prozesse und angesichts drängender globaler Probleme auf ein konstruktives Miteinander angewiesen. Im demokratischen Spiel der Meinungen dürfen Religionen ihre Deutungen von Wirklich88
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keit oder Menschsein allerdings nicht verabsolutieren, sondern sie sind herausgefordert, eine grundlegende Reflexion ihrer Vorannahmen zu leisten – sowohl gegenüber anderen Religionen, der Wissenschaft als auch dem demokratischen Staat. »Das religiöse Bewusstsein muss erstens die Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen kognitiv verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet« (Habermas 2001, 25).
Habermas plädiert also – ganz auf der Linie der Theorie der deliberativen Demokratie – für einen offenen Diskurs der Meinungen, in dem auch nichtreligiöse Weltanschauungen zu einer Reflexion aufgerufen sind. Habermas denkt vor allem an naturalistische Positionen, welche die Frage nach der Person »durch eine objektivierende Selbstbeschreibung« (Habermas 2001, 27) ersetzen und damit ebenfalls eine weltanschauliche Deutung des Menschseins absolut setzen. Ein komplementärer Lern- und Übersetzungsprozess ist deshalb von allen Weltanschauungen gleichermaßen gefordert. In öffentlichen Diskursen ist es für demokratische Gesellschaften wichtig, sich »ein Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprachen« (Habermas 2001, 28) zu bewahren. Das Besondere religiöser Sprachen besteht darin, eine je eigene Deutung von Wirklichkeit und Begründung von Sittlichkeit zur Verfügung zu stellen. Beides motiviert religiöse Menschen, sich zu engagieren und sich für soziale Belange einzusetzen. Habermas deutet damit Religion funktional als eine moralische Ressource für deliberative Prozesse, weil sie Gläubigen ein besonderes Begründungspotenzial für moralische Fragen zur Verfügung stellt. Angesichts vielfältiger Problemlagen moderner Gesellschaften erscheinen Religionen also wieder als ein wichtiger Teil öffentlicher Diskurse, denn sie eröffnen nicht nur ein Sinnpotenzial in einer immer komplexer werdenden Welt, sondern sie ermöglichen es außerdem, normative Fragen aus einer anderen Sichtweise zu bearbeiten. Genau solche Ankerpunkte sucht Habermas, um der entgleisenden Moderne entgegenzuwirken. Der Begriff ›postsäkular‹ ist deshalb nicht nur ein deskriptiver Begriff, der dem faktischen Bedeutungszuwachs von Religionen in weltgesellschaftlichen Diskursen Rechnung trägt, sondern er ist auch ein normativer Begriff, weil mit ihm ausgedrückt wird, dass A
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Religionen ein moralisches Potenzial implizieren, das für die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme von Bedeutung ist. Ein Beispiel für das normative Potenzial der Religionen, das diese in öffentliche Diskurse einbringen können, ist ihre Rede von der Geschöpflichkeit des Menschen und der Welt (Habermas 2001, 29 ff.). Formulierungen wie ›Geschöpflichkeit des Menschen‹ oder ›Bewahrung der Schöpfung‹, die sowohl in ökologischen wie bioethischen Debatten heute eine wichtige Rolle spielen, können dabei nicht nur Gläubigen etwas sagen, sondern sie sind für alle Menschen intuitiv verständlich. Diese beiden Begriffe drücken die Unverfügbarkeit der menschlichen Würde bzw. die Notwendigkeit des Schutzes der Umwelt aus. ›Der Mensch ist geschaffen‹ – dieses Anthropologumenon scheidet heute nicht mehr Glauben und Evolutionstheorie, sondern es zeigt die Überkreuzung des religiösen und postsäkularen Diskurses an (vgl. Reder/ Frick 2010). »In der Kontroverse über den Umgang mit menschlichen Embryonen berufen sich heute immer noch viele Stimmen auf Moses 1,27: ›Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn‹. Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Menschen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben. Dieses Gegenüber in Menschgestalt muss seinerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann« (Habermas 2001, 30).
Habermas’ Rückgriff auf die Geschöpflichkeit ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert (vgl. Reder/Frick 2010, 222). Wer wie Weber religiös unmusikalisch ist, muss in gewisser Weise die religiösen Melodien säkular weitersummen, wenn er nicht Wesentliches verlieren will. Würde sich das säkulare Denken einfach nur dem Singen verweigern, so verlöre es die gemeinsame Vernunft von Gläubigen, Ungläubigen und Andersgläubigen (vgl. Habermas 2008b, 36). Die Übersetzung von Geschöpflichkeit ist also keineswegs eine bloß philologisch-exegetische Frage, sondern auch eine genuin philosophische. 10 10
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Diese Rede von der Geschöpflichkeit kann inhaltlich für den öffentlichen Diskurs in
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In seinem Gespräch mit Ratzinger führt Habermas aus, um welches Potenzial der Religionen es sich seiner Ansicht nach handelt (Habermas/Ratzinger 2005, vgl. Reder 2011). Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die den Titel Vorpolitische Grundlage des demokratischen Rechtsstaates? tragen, ist die bekannte Frage von Ernst-Wolfgang Böckenförde, »ob der demokratische Verfassungsstaat seine normativen Bestandsvoraussetzungen aus eigenen Ressourcen erneuern kann« (Habermas/Ratzinger 2005, 16) oder ob er dabei auf weiter reichende (beispielsweise religiöse) Grundlagen verwiesen bleibt. Auf diese Frage antwortet Habermas zuerst mit dem klassischen Diktum des politischen Liberalismus, indem er betont, dass der demokratische Staat auf den gemeinsamen Willensbildungsprozess seiner Bürger angewiesen sei. Demokratische Verfahren sollten deswegen nicht rein positivistisch verstanden werden, »sondern als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität« (Habermas/Ratzinger 2005, 20). Dieser Prozess rechnet mit allgemeinverständlichen Gründen, die Basis politischen Handelns in Demokratien sind. Staatsbürgerliche Solidarität entsteht in diesem demokratischen Prozess, der sich als eine »gemeinsam auszuübende kommunikative Praxis« (Habermas/ Ratzinger 2005, 24) darstellt. Der Begriff des Verfassungspatriotismus markiert in diesem Zusammenhang den Kern des politischen Selbstverständnisses von Habermas: Indem sich Bürger mit dem demokratischen Prozess identifizieren, bleiben die politischen Prinzipien, auf die sie sich geeinigt haben (zum Beispiel Vorstellungen von Gerechtigkeit), keine abstrakten Entitäten, sondern werden zur geteilten Grundlage politischen Handelns. Dazu ist es notwendig, dass die ethischen Prinzipien in das »dichtere Geflecht kultureller Wertorientierungen Eingang finden« (Habermas/Ratzinger 2005, 25).
einer Demokratie Unterschiedliches bedeuten. Markus Knapp zeigt beispielhaft drei solcher Implikationen auf. »Der Mensch muss erstens davon ausgehen, dass sein Dasein unaufhebbar kontingent ist« (Knapp 2008, 278), weshalb er von seinen Kontexten bzw. seiner Geschichte oder Kultur geprägt bleibe. Zweitens verweise die »theologische Rede von der Geschöpflichkeit auf den anthropologischen Tatbestand, dass kein Mensch sich ursprünglich selbst, seinem eigenen Wollen und Wirken verdankt« (Knapp 2008, 278). Der Mensch bleibe daher immer verwiesen auf einen voraus liegenden Grund. Drittens lenke die theologische Rede »von der menschlichen Geschöpflichkeit den Blick darauf, dass der Mensch sich auch insofern selbst entzogen bleibt, als die Verfügbarkeit über sich selbst und das eigene Leben nicht unbegrenzt ist, unbeschadet etwa aller medizinischen Fortschritte« (Knapp 2008, 278). A
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Die Entwicklungen der Moderne, die im 20. Jahrhundert mit gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen einhergingen, stellen für moderne Demokratien immense Herausforderungen dar. Die Moderne allein, so die Kritik postmoderner Autoren, werde hierfür keine Lösungen anbieten können. Habermas lässt diese kritische Anfrage der Postmoderne offen und hebt stattdessen hervor, dass Religion eine moralische Ressource für säkulare Gesellschaften angesichts möglicher Entgleisungen der Moderne bereitstelle. 11 »So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist« (Habermas/Ratzinger 2005, 33).
Der Begriff der postsäkularen Gesellschaft, den Habermas in der Friedenspreisrede eingeführt hatte, wird in dem Gespräch mit Ratzinger nun also weiter mit Inhalt gefüllt. Dieser Begriff bezeichnet nicht nur ein Akzeptieren des Fortbestehens von Religionsgemeinschaften, sondern darüber hinaus eine vorurteilsfreie Einbindungen religiöser Überzeugungen in deliberative Demokratien. Hierzu sind semantische Potenziale der Religion, wie schon immer im Laufe der Geschichte, in säkulare Sprachspiele zu übersetzen. Dies ist für beide – d. h. für die religiöse wie säkulare Seite – lehr- und hilfreich. »Beide Seiten können, wenn sie die Säkularisierung der Gesellschaft gemeinsam als einen komplementären Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernst nehmen« (Habermas/Ratzinger 2005, 33).
Abschließend skizziert Habermas, wie er sich dieses Gespräch von gläubigen und säkularen Bürgern vorstellt. Es geht nicht darum, in einen harmonischen Konsens zu verfallen, sondern um einen offenen und konstruktiven Umgang von divergierenden Positionen, die weltanschaulich begründet sind. Dabei ist es nach Habermas wichtig, dass »religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist« (Habermas/Ratzinger 2005, 35). Mit der Forderung nach weltanschaulicher Neutralität des Staates wird zwar betont, dass keine In historischer Hinsicht argumentiert Habermas in diesem Zusammenhang, dass sich auch der Liberalismus als politische Theorie viele Aspekte der Religion über die Jahrhunderte hinweg angeeignet habe, weshalb er von einer »säkularisierenden Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotenziale« (Habermas/Ratzinger 2005, 32) spricht.
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Weltsicht verallgemeinert werden könne und dürfe; damit wird jedoch die demokratische Gesellschaft auch dazu aufgefordert, die Pluralität weltanschaulicher Meinungen ernst zu nehmen und damit der Religion einen angemessenen Platz im öffentlichen Diskurs zuzugestehen. Damit zeigt sich im Vergleich zu früheren Aufsätzen von Habermas eine deutliche Verschiebung hinsichtlich der Bewertung des Säkularisierungsparadigmas. »Zusammengefasst lässt sich aus der Lektüre des Münchner Vortrags folgendes festhalten: In der postsäkularen Gesellschaft ist Säkularisierung keine Einbahnstraße mehr. Funktionale wie inhaltliche Argumente sprechen dafür, dass Säkularisierung auch für ungläubige Bürger bedeutet, dass sie sich ernsthaft mit den Überzeugungen und der Diskursfähigkeit ihrer gläubigen Mitbürger und letztlich den Grenzen eines aufgeklärten Staatsbürgerseins auseinandersetzen müssen. Aus der Asymmetrie in der Zumutung der Toleranz scheint eine Symmetrie geworden zu sein, soweit die Aufforderung zur Reflexivität alle Seiten angeht« (Maly 2005, 558). 12
3.1.2.3. Öffentlicher Vernunftgebrauch und der Übersetzungsvorbehalt In dem Aufsatz Religion in der Öffentlichkeit (Habermas 2005, 119– 154) expliziert Habermas die epistemologischen und demokratietheoretischen Implikationen der Forderung nach wechselseitiger Übersetzung in Bezug auf die Position von Rawls. Vor dem Hintergrund einer Die Diskussion zwischen Habermas und Ratzinger hat nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt. Die Tatsache, dass sich zwei öffentliche Intellektuelle auf ein gemeinsames Gespräch einlassen und sich noch dazu viele Überschneidungen in der Argumentation ergeben, hat bei vielen Menschen Sympathie, teilweise aber auch Unverständnis ausgelöst. Zweiteres hat in pointierter Weise Herbert Schnädelbach zum Ausdruck gebracht: »Auf der einen Seite der unermüdliche Verteidiger der Moderne und des Projekts der Aufklärung, der sogar mit dem Teufel diskutierte, wenn es ihn denn gäbe (…); andererseits der Gralshüter der reinen, prämodernen katholischen Lehre, der als beinharter Konservativer bekannt ist und vor allem die kirchlich gebundenen ›freien Geister‹ das Fürchten lehrt. Und dann die sensationelle Nachricht: Nachdem beide ihre Statements vorgetragen hatten, war offenbar nur noch ›schwer auszumachen, worüber die Kontrahenten überhaupt zu streiten gedachten‹ (…). Wie konnte das geschehen? Hatte Habermas sich in den Verliesen des Vatikans verlaufen, oder war Ratzinger plötzlich ins Feld der herrschaftsfreien Kommunikation übergewechselt, wo päpstliche Denkdekrete machtlos sind?« (Schnädelbach 2004, 129) In den weiteren Veröffentlichungen von Habermas (insbesondere mit Blick auf seinen Beitrag in der Hochschule für Philosophie) werden allerdings die Unterschiede wieder deutlicher sichtbar.
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liberalen Gerechtigkeitstheorie argumentiert dieser für die Anerkennung des Faktums der Pluralität. In einem demokratischen Rechtsstaat ist deshalb mittels des Rechts auf Religionsfreiheit die faktische Pluralität religiöser Lebensformen und Weltanschauungen anzuerkennen. Gleichzeitig sind die Bürger im öffentlichen Raum herausgefordert, sich durch einen öffentlichen Vernunftgebrauch ihre Argumente wechselseitig zugänglich zu machen (vgl. Rawls 1998; Habermas 1997a). Religiöse Menschen sind deshalb nicht nur verpflichtet, die Trennung von Staat und Kirche und das grundlegende Recht auf Religionsfreiheit anzuerkennen, sondern außerdem in öffentlichen Diskursen ihre religiösen Überzeugungen in eine allgemeinzugängliche Sprache des öffentlichen Vernunftgebrauches zu übersetzen (vgl. hierzu auch Kap. 4.6.1.). Habermas ist skeptisch gegenüber dieser restriktiven Bestimmung des öffentlichen Vernunftgebrauches (vgl. Habermas 1997a, 170 ff.) und fordert, dass auch religiöse Äußerungen eine größere Beachtung in öffentlichen Diskursen finden sollten. Zwar sind auch für Habermas religiöse Bürger verpflichtet zu einer »Anerkennung des Prinzips der weltanschaulich neutralen Herrschaftsausübung« (Habermas 2005, 136). Trotzdem darf der liberale Staat »die gebotene institutionelle Trennung von Religion und Politik nicht in eine unzumutbare mentale und psychologische Bürde für seine religiösen Bürger verwandeln« (Habermas 2005, 135). Das Neutralitätsgebot darf deshalb nicht, wie dies bei Rawls zumindest teilweise zu sein scheint, zu einem Angriff auf deren religiöse Identität werden (vgl. Habermas 2008b, 34). 13 Eine derart scharfe Trennung ist außerdem aus demokratietheoretischen Gründen bedenklich, denn funktional betrachtet lebt der liberale Staat gerade von der Vielstimmigkeit seiner Bürger und der Artikulationskraft ihrer lebensweltlich verankerten Motivationen zur aktiven Beteiligung am Gemeinwesen. Der Staat hat deshalb ein »Interesse an der Freigabe religiöser Stimmen in der politischen Öffentlichkeit sowie an der politischen Teilnahme religiöser Organisationen« (Habermas 2005, 137). Diesen Zusammenhang betont Cristina Lafont in ihren Überlegungen zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion: »According to Habermas, the most serious objection that authors such as Wolterstorff and Weithman have articulated against Rawls’s account of the ethics of citizenship is that the obligation to provide publicly accessible reasons for political decisions imposes an undue cognitive burden on religious citizens, threatening the integrity of their religious existence« (Lafont 2007, 243).
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»Thus, in contradistinction to Rawls’s account, this proposal allows ordinary citizens to justify the policies they favor not only on the basis of religious reasons that can be backed up by parallel public reasons, but also on the basis of religious reasons for which no parallel public reasons can be found. In other words, this proposal releases ordinary citizens from the obligation to justify the policies they favor with public reasons whenever such reasons are not available« (Lafont 2007, 244).
Auch wenn Habermas also die liberale Grenzziehung zwischen Religion und Politik von Rawls nicht teilt, so hält er doch an einer modifizierten Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs auf der Basis der Theorie kommunikativer Rationalität sehr wohl fest. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einem Übersetzungsvorbehalt, unter dem alle Bürger stehen, denn vom Standpunkt der Theorie des kommunikativen Handelns und der deliberativen Demokratie aus schulden sich alle Menschen in einer wechselseitigen Perspektivübernahme Gründe für ihre weltanschaulichen Überzeugungen. Religiöse Äußerungen dürfen daher im öffentlichen Raum nur dann zugelassen werden, wenn die betreffenden Personen, die diese Argumente vorbringen, bereit sind, diese für andere Personen verständlich zu machen. Von den nichtreligiösen Bürgern ist gleichzeitig die Offenheit gefordert, sich auf solche Übersetzungsprozesse einzulassen. »Die religiösen Bürger dürfen sich nur unter dem Übersetzungsvorbehalt in ihrer eigenen Sprache äußern; diese Bürde wird durch die normative Erwartung ausgeglichen, dass sich die säkularen Staatsbürger für einen möglichen Wahrheitsgehalt religiöser Beiträge öffnen und auf Dialoge einlassen, aus denen die religiösen Gründe möglicherweise in der verwandelten Gestalt allgemein zugänglicher Argumente hervorgehen« (Habermas 2005, 137 f.).
Einerseits will Habermas also das restriktive Verständnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs von Rawls einschränken und religiöse Überzeugungen in öffentlichen Diskursen stärker anerkennen als Rawls dies tut. Andererseits beharrt er auf dem Übersetzungsprozess – wenn auch nur als einem potenziellen Vorbehalt. Zur Erörterung dieser Argumentation ist ein Blick auf drei Herausforderungen hilfreich, vor denen Habermas zufolge religiöse Bürger in modernen Gesellschaften stehen. Erstens sind sie dazu aufgefordert, »epistemische Einstellungen zu fremden Religionen und Weltanschauungen« (Habermas 2005, 143) zu finden, um damit die Vielfalt von Weltanschauungen anzuerkennen und nicht den eigenen Wahrheitsanspruch zu verabsolutieren. HaberA
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mas betont vor dem Hintergrund der Konzeption kommunikativer Rationalität, dass der Dissens zwischen Weltbildern und Lebensweisen ein grundlegender Bestandteil moderner Gesellschaften sei und bleiben müsse. »Die Konkurrenz zwischen Weltbildern und religiösen Lehren, die die Stellung des Menschen im Ganzen der Welt zu erklären beanspruchen, lässt sich auf der kognitiven Ebene nicht schlichten« (Habermas 2005, 141).
Die Rolle der Philosophie ist in diesem Disput eine zurückhaltende; sie bietet keinen allwissenden Standpunkt, sondern kann lediglich bei der Übersetzung formale Hilfestellung leisten. Die Philosophie nimmt im Diskurs der Weltbilder eine Vermittlerrolle ein, insofern sie den rational geführten Diskurs immer wieder einfordert und auf Blockaden der am Diskurs Beteiligten aufmerksam macht. Die Philosophie »stellt somit das unparteiische Grundwissen zur Verfügung, das nötig ist, um den Kampf der Glaubensmächte reflexiv zu entschärfen« (Maly 2005, 549). Voraussetzung dafür ist, dass die Philosophie selbst von religiösen Inhalten freigehalten wird. Die Philosophie zehrt »nur so lange auf vernünftige Weise vom religiösen Erbe, wie die orthodox entgegengehaltene Quelle der Offenbarung für sie eine kognitiv unannehmbare Zumutung bleibt. Die Perspektiven, die entweder in Gott oder im Menschen zentriert sind, lassen sich nicht ineinander überführen. Sobald diese Grenze zwischen Glauben und Wissen porös wird und sobald religiöse Motive unter falschem Namen in die Philosophie eindringen, verliert die Vernunft ihren Halt und gerät ins Schwärmen« (Habermas 2005, 252). Zweitens müssen Religionen eine »epistemische Einstellung zum Eigensinn von säkulare[m] Wissen« (Habermas 2005, 143) entwickeln, um das Verhältnis ihrer dogmatischen Aussagen zu diesen Wissensformen reflektieren zu können. Damit fordert Habermas die Religion explizit auf, (neu) über das Verhältnis von Glauben und Wissen nachzudenken. Diese Reflexion ist seiner Interpretation nach eine notwendige Voraussetzung für die Beteiligung von Religion an der öffentlichen Deliberation. Drittens müssen religiöse Bürger schließlich »eine epistemische Einstellung zu dem Vorrang finden, den säkulare Gründe auch in der politischen Arena genießen« (Habermas 2005, 143). Gerade dieser Aspekt weist auf die Notwendigkeit eines öffentlichen Vernunftgebrauchs hin, der für einen demokratischen Rechtsstaat unerlässlich 96
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ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass säkulare Bürger in diesem Übersetzungsprozess nicht auch gefordert wären. Vielmehr fordert das liberale Staatsbürgerethos von allen in der wechselseitigen Perspektivübernahme »komplementäre Lernprozesse« (Habermas 2005, 146). 14 Habermas betont schließlich, dass solche Lern- und Übersetzungsprozesse zwar durch entsprechende öffentliche Räume und Verfahren gefördert, aber niemals in einem administrativen Sinne steuerbar sind. 3.1.2.4. Absetzung vom kantischen Erbe: Glauben ist opak Die zweite Forderung nach einer Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen steht seit dem Gespräch mit Kardinal Ratzinger im Fokus der Überlegungen von Habermas. Philosophiegeschichtlich expliziert er seine Sicht auf dieses Verhältnis mit Blick auf Kants Religionsphilosophie (vgl. Habermas 2005, 216–257; 15 vgl. außerdem Kap. 2.3.3.), wobei die Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft im Zentrum steht. Seine Beschäftigung mit Kants ReliDie Rekonstruktion des Übersetzungsprozesses und der verschiedenen reflexiven Schleifen, die damit verbunden sind, überträgt Habermas an anderer Stelle auch auf die multikulturelle Gesellschaft (Habermas 2005, 258–278): »Der Reflexionsschub, der dem religiösen Bewusstsein in weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften abverlangt wird, ist wiederum Vorbild für die mentale Verfassung multikultureller Gesellschaften. Denn ein Multikulturalismus, der sich nicht missversteht, bildet keine Einbahnstraße zur kulturellen Selbstbehauptung von Gruppen mit je eigener Identität. Die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Lebensformen darf nicht zu einer Segmentierung führen. Sie erfordert die Integration der Staatsbürger – und die gegenseitige Anerkennung ihrer subkulturellen Mitgliedschaften – im Rahmen einer geteilten politischen Kultur« (Habermas 2005, 278). 15 In diesem Beitrag zeichnet Habermas außerdem die Wirkungsgeschichte des kantischen Religionsbegriffs bei Hegel, Schleiermacher und Kierkegaard nach. Besonders aufschlussreich ist hierbei seine Deutung des Religionsbegriffs von Schleiermacher (vgl. Kap. 4.1.2.). Dieser kann mit seiner Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls, die auf dem Theorem des unmittelbaren Selbstbewusstseins aufbaut, zwar die Pluralität religiöser Formen erklären, denn das Abhängigkeitsgefühl verzweigt sich notwendig in kulturell-plurale Formen, sobald es sich äußert. Allerdings hat dieses Religionsverständnis erhebliche Folgen für die Interpretation ihrer gesellschaftlichen Rolle: »Der Kulturprotestantismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts macht allerdings den Preis deutlich, den Schleiermacher für diese elegante Versöhnung von Religion und Moderne, Glauben und Wissen zahlt. Die gesellschaftliche Integration der Kirche und die Privatisierung des Glaubens berauben den religiösen Bezug zur Transzendenz seiner innerweltlichen Sprengkraft« (Habermas 2005, 243). 14
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gionsphilosophie erfolgt in diesem Zusammenhang vor allem »unter dem Eindruck der defätistischen Zwangslage der Vernunft« (Kühnlein 2009, 535). Habermas kritisiert dabei an Kant, dass dieser Religion vor allem als Vernunftreligion versteht (vgl. Ricken/Marty 1992). Seiner Ansicht nach zieht Kant mit diesem Modell die Grenzen der Vernunft zu weit, denn Religion ist für Habermas letztlich etwas außerhalb der Vernunft Liegendes, das erst in den allgemeinen Vernunftgebrauch übersetzt werden muss. Für Habermas impliziert Kants Religionsverständnis deshalb eine Überstrapazierung des Glaubensbegriffs, weil Vernunft sinnvollerweise nur als kommunikative Vernunft gefasst werden kann und Glauben das Andere der Vernunft ist. Die Absetzung von Kant liegt also in dem intersubjektiv gewendeten Vernunftverständnis begründet. »Die zunehmende Prozedurrealisierung der nachmetaphysischen Rationalität macht also letzten Endes auch noch jene ethikotheologische Konzeption von Religionsphilosophie fragwürdig, die Kant als mögliche Alternative zu einer metaphysisch begründeten philosophischen Theologie formulierte« (Schmidt 1994, 84).
In seinem Vortrag an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten 2007 (Habermas 2008b) präzisiert Habermas sein Nachdenken über das Verhältnis von Glauben und Wissen als ein Verhältnis von säkularem Staat und Religion. Sein Statement kann auch als Reaktion auf die Regensburger Rede des Papstes verstanden werden. Durch seine Ausführungen werden nun – im Vergleich zum Akademiegespräch 2004 – auch die Unterschiede zwischen Habermas und Papst Benedikt XVI. wieder deutlicher. Es geht Habermas hierbei, ganz im Duktus der Theorie des kommunikativen Handelns, um ein konstruktives Miteinander von Religion und nachmetaphysischer Philosophie: »Es macht einen Unterschied, ob man miteinander spricht oder nur übereinander« (Habermas 2008b, 27). Die wechselseitige Herausforderung im Gespräch von Religion und säkularer Vernunft in postsäkularen Gesellschaften dürfe allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der »Riss zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen nicht wieder zu kitten« (Habermas 2008b, 28) sei. Das nachmetaphysische Denken dürfe nicht der Gefahr erliegen, Glauben und Wissen wieder in eins oder auch nur in eine allzu große Nähe zueinander zu setzen, weshalb Religion für die säkulare Vernunft opak bleibe und nur durch einen Übersetzungspro98
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zess verständlich gemacht werden könne. »Der Glaube erhält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf« (Habermas 2008b, 29). Damit betont Habermas gegenüber früheren Äußerungen wieder stärker die Unterschiedenheit von Glaube und Wissen. Auch in diesen Zusammenhang hebt Habermas seine Absetzung von Kant hervor, weil er die Grenze der Vernunft nicht so weit ziehen möchte wie dieser. Gleichzeitig will Habermas aber das Bewusstsein dafür wach halten, dass die praktische Vernunft auf ein Mehr verwiesen sei, worin sich der Grundgedanke der Postsäkularität widerspiegelt. Die praktische Vernunft verfehlt ihre »eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wach zuhalten« (Habermas 2008b, 30 f.). Das Motiv für die Offenheit der säkularen Vernunft gegenüber der Religion ist also in der kritischen Selbstreflexion einer absolut gesetzten Vernunft begründet. Das Motiv »meiner Beschäftigung mit dem Thema Glauben und Wissen ist der Wunsch, die moderne Vernunft gegen den Defätismus, der in ihr selber brütet, zu mobilisieren« (Habermas 2008b, 30). 16 Analog zu früheren Ausführungen argumentiert Habermas, dass für einen gelungenen Dialog von Religion und säkularem Staat die religiöse Seite »die Autorität der ›natürlichen‹ Vernunft als die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral anerkennen« müsse und sich gleichzeitig die säkulare Vernunft nicht »zum Richter über Glaubenswahrheiten aufwerfen« (Habermas 2008b, 27) dürfe. Deshalb stehen beide in einem wechselseitigen Lernprozess zueinander, der allerdings heute vor zahlreiche Probleme gestellt ist. Denn mit einer Revitalisierung der Religion bilden sich fundamentalistische religiöse Formen, wodurch die Konflikte zwischen Religion und liberalem Denken auf allen Ebenen zunehmen. Insbesondere wenn mit wörtlichen Auslegungen von heiligen Schriften politische Forderungen
Die Thematisierung dessen, was fehlt, ohne gleichzeitig selbst einen substanziellen Kern dieses Fehlenden oder Transzendenten anzunehmen, bezeichnet Habermas in frühen Arbeiten auch als ›Transzendenz von innen‹ (Habermas 1991b). Dieses Festhalten »am Unbedingten ohne Rekurs auf ein substantielles Unbedingtes hat Habermas mit dem Begriff einer ›Transzendenz von innen‹ gekennzeichnet« (Schmidt 1994, 84 f.).
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formuliert werden, stoßen religiöse Gesinnungen »mit Grundüberzeugungen der Moderne zusammen« (Habermas 2008b, 32). Der Staat sei daher notwendig darauf angewiesen, dass Religionen die demokratischen Grundprinzipien anerkennen. Der Staat dürfe außerdem die eigenen Grundlagen nicht auf metaphysische Rechtfertigungen aufbauen, weil er sich damit seiner allgemein akzeptierbaren Legitimation berauben würde. »Der Verfassungsstaat muss nicht nur weltanschaulich neutral handeln, sondern auch auf normativen Grundlagen beruhen, die sich weltanschaulich neutral – und d. h. nachmetaphysisch – rechtfertigen lassen. Und diesem normativen Anspruch gegenüber können sich die Religionsgemeinschaften nicht taub stellen« (Habermas 2008b, 33).
Mit Blick auf die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. formuliert Habermas am Ende seiner Ausführungen die Konsequenz, die eine solche Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen für die christliche Theologie hat. Der Papst, so argumentiert Habermas, betone die Synthese von griechischer Metaphysik und biblischem Glauben zu stark und bestreite damit, »dass es für die in der europäischen Neuzeit faktisch eingetretene Polarisierung von Glauben und Wissen gute Gründe« (Habermas 2008b, 35) gebe. Habermas attestiert deshalb dem Papst »in postmetaphysischer Bescheidenheit ›ein Quäntchen zu viel an Vernunftstolz‹« (Wenzel 2007, 14) 17 und betont die Trennung von Glauben und Wissen, die zur Grundlage des modernen Autonomieverständnisses geworden sei und zu den neuzeitlichen Errungenschaften von Rechtsstaat und Demokratie geführt habe. So wie der Historismus nicht zwangsläufig zu einem Relativismus führen müsse, sondern für kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten sensibel machen könne, so müsse auch die Trennung von Glauben und Wissen kein Abdanken der Religion zur Folge haben, sondern könne gerade zu einer konstruktiven Positionierung der Religion im pluralen Spiel der Weltdeutungen führen, so die Schlussfolgerung von Habermas. 18 Vgl. hierzu die Interpretation von Bischof Wolfgang Huber, welcher die Regensburger Rede vor allem auch als eine Kritik am Protestantismus deutet. »Denn der Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft muss immer wieder neu entfaltet und ausgelegt werden. Nur in einer solchen, immer wieder erneuerten Aneignung bewahrt er vor einer glaubenslosen Vernunft ebenso wie vor einem vernunftlosen Glauben« (Huber 2007, 61). 18 Am Papst kritisiert Habermas außerdem, dass dieser das positive Potenzial einer säkularen Vernunft zu gering veranschlagt. »So begrüßenswert die Suche nach der Ver17
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3.1.3. Kritische Diskussion 3.1.3.1. (Theologische) Rezeptionen und Kritiken Die Beschäftigung von Habermas mit der Religion hat ein breites öffentliches Echo ausgelöst und eine Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen nach sich gezogen. 19 Besonders intensiv werden seine Überlegungen in der christlichen Theologie rezipiert. Dabei bezieht sich diese Rezeption nicht nur auf die Werke von Habermas, die seit den 1990er-Jahren um das Thema Religion kreisen, sondern schon auf die früheren Arbeiten zur Theorie kommunikativen Handelns bzw. zur Diskursethik. Eine Rekonstruktion der zentralen Argumente der theologischen Studien markiert vonseiten der Theologie aus das Feld, auf dem heute der philosophische Diskurs über die Theorie der postsäkularen Gesellschaft geführt wird. Deshalb lohnt es sich, in einem ersten Schritt, diese theologischen Rezeptionen systematisch zu analysieren. Gleichwohl soll dabei vermieden werden, »Habermas theologisch überzuinterpretieren oder vorschnell theologisch zu vereinnahmen« (Ollig 2008, 425). Helmut Peukert gilt als einer der ersten Theologen, der die Theorie kommunikativen Handelns in einer fundamentaltheologischen Sichtweise verarbeitet hat (vgl. Peukert 1976). Sein Ziel ist es, kommunikatives Handeln »in seinen Grunderfahrungen, wie sie sich paradigmatisch aus dem Erfahrungspotenzial der jüdisch-christlichen Überlieferung rekonstruieren lassen, zu analysieren und die Möglichkeit einer verantwortlichen Rede von Gott aus diesen Grunderfahrungen aufzuweisen« (Peukert 1976, 337). Viele andere systematische Theologen sind dieser Argumentation gefolgt und haben insbesondere danach gefragt, inwieweit die Logik des kommunikativen Handelns im Christentum verankert ist und inwiefern sich deshalb eine besondere
nünftigkeit des Glaubens ist, so wenig hilfreich erscheint es mir zu sein, jene drei Enthellenisierungsschübe, die zum modernen Selbstverständnis der säkularen Vernunft beigetragen haben, aus der Genealogie der ›gemeinsamen Vernunft‹ von Gläubigen, Ungläubigen und Andersgläubigen auszublenden« (Habermas 2008b, 35 f.). Die scheinbare Nähe der Positionen von Habermas und Ratzinger ist spätestens mit diesen Äußerungen wieder deutlich zurückgenommen. 19 Vgl. dazu die große Fülle an Literatur, die in den vergangenen Jahren zu diesem Thema erschienen ist, beispielsweise Arens 2007; Höhn 2007; Schweidler 2007; Walter 2007; Schmidt/Parker 2008; Gorski 2012; Calhoun/Mendieta/VanAntwerpen 2013. A
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Nähe zwischen dem Ansatz von Habermas und der christlichen Theologie ergibt (vgl. Höhn 1985; Lob-Hüdepohl 1993; Arens 1997). 20 So argumentiert zum Beispiel Markus Knapp, dass die Einsicht, die Zusammengehörigkeit der Menschen verweise auf ein Mehr, ursprünglich eine urchristliche Idee sei, weshalb die Theologie einen Beitrag zur Präzisierung der kommunikativen Rationalität leisten könne. »Ein vorgängiges Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit beruht auf einem asymmetrischen Verpflichtetsein dem anderen gegenüber, das im Christentum durch die Ausrichtung auf ein umfassendes Agapegeschehen geschaffen und begründet wird« (Knapp 1997, 94 f.).
In dieser Hinsicht nimmt Habermas mit der Formulierung Bewusstsein von dem, was fehlt (Habermas 2008b) die uneingeholten Implikationen der kommunikativen Rationalität in den Blick. Denn diese basiert letzten Endes auf Annahmen, die sie selbst nicht mehr begründen kann. 21 Norbert Brieskorn nennt in diesem Zusammenhang einige solcher Implikationen, und zwar die Solidarität als Voraussetzung einer Kommunikationsgemeinschaft, die religiöse Geschichte des politischen Gemeinwesens und schließlich die gesellschaftliche Bedeutung religiöser Überzeugungen, die eine lebensweltlich und weltanschaulich verankerte Begründung für ein Gemeinwesen liefern können (vgl. Brieskorn 2008, 43 ff.). Eine frühe Studie, die sich in dieser Argumentationslinie vor allem auf die Theorie des kommunikativen Handelns bezieht, legte Rudolf J. Siebert (1985) vor. Er ordnet dabei die möglichen Anknüpfungspunkte für die Theologie im Denken Habermas’ in den Gesamtrahmen der Kritischen Theorie ein. Neueren Datums ist die Studie von Hermann Düringer (1999), der aufzeigt, an welchen Stellen der früheren Publikationen von Habermas religiöse Ideen transformiert werden bzw. jüdisch-christliches Denken ein bestimmender Horizont seiner Arbeiten ist. 21 Michael Kühnlein beschäftigt sich in einer ähnlichen Argumentationsrichtung mit dem Beitrag der christlichen Theologie zur Klärung der Bedeutung von Vertrauen in Kommunikationsprozessen. Vertrauen, so das Argument, sei eine notwendige Voraussetzung von Kommunikation, die von dieser selbst nich hergestellt werden kann. Gelingende Kommunikation ist deshalb immer auf Vertrauen als Voraussetzung bezogen. Den Gesprächsteilnehmer, der seinem Gegenüber vertraut, interpretiert er als einen Glaubenden, weil er an eine gelingende Kommunikation glaubt. »Vertrauen kann nur durch den Glaubenden in der Kommunikation verwirklicht werden; Vertrauen verweist nicht auf Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivität, sondern auf die Strukturen intersubjektiv gestifteter Glaubensgemeinschaft« (Kühnlein 1996, 403). Dies ist für Kühnlein ein Hinweis auf die religiöse Signatur der Kommunikationstheorie von Habermas. Höhn spricht in diesem Zusammenhang von »handlungstheoretischen Signaturen des christlichen Glaubens« (Höhn 1985, 83–136). 20
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In eine ähnliche Richtung argumentiert Peukert, wenn er fordert, dass sich kommunikative Rationalität (noch mehr) ihrer eigenen Begrenzungen bewusst werden sollte, um das volle Potenzial des Projekts der Aufklärung entfalten zu können, dem Habermas sich so entschieden verschreibt. Peukert nennt einige Beispiele für solche Reflexionsräume, die sich aus der Thematisierung der Grenzen von kommunikativer Rationalität ergeben: ein angemessenes Verständnis der »Integrität und unverletzlichen Würde von Menschen; (…) Weisen des Diskurses, die den Sprachlosen zur Stimme verhelfen; innovatorisches, versöhnendes Handeln, das die Möglichkeit zum Frieden eröffnet; eine Solidarität, welche die Toten und die zukünftigen Generationen einschließt« (Peukert 1989, 63 f.). 22 Höhn ergänzt, dass christliche Theologie nicht nur auf die systematischen Grenzen der kommunikativen Rationalität aufmerksam machen sollte, sondern außerdem auf die Probleme, die sich aufgrund der Diskursregeln selbst ergeben. Gerade die christliche Theologie kann von ihrem Standpunkt einer ›Option für die Armen‹ aus betonen, dass nicht nur vermeintlich vernünftige Teilnehmer in einem Diskurs ernst zu nehmen sind, sondern alle Menschen, denn ein Diskurs, »der nur solchen Personen angeboten wird, denen Freiheit, Mündigkeit und kommunikative Kompetenz zugerechnet werden kann, droht inhuman zu werden« (Höhn 1989, 196). 23 Neben dieser unbedingten Offenheit dem Mitmenschen gegenMagnus Striet geht noch einen Schritt weiter. Wenn der Philosoph Habermas in seiner Kommunikationstheorie ein Bewusstsein von dem, was fehlt, thematisiert, dann bleibt für Striet die Frage, wieso er an dieser Stelle nicht explizit die Gottesfrage stellt. »Aber muss sich der Philosoph nicht auch fragen lassen, ob er es sich am Ende nicht doch zu leicht macht, die Ausschöpfungssymptome einfach zu konstatieren, ohne die Vernunft auch weiterhin auf den möglichen Gott zu öffnen – weil doch nur ein durch Freiheit sich auszeichnender Gott dem Menschen definitiven Sinn gewähren kann. Zwingt nicht die bedrängende Frage nach den Toten dazu, die Möglichkeit Gottes zumindest offenzuhalten? Atmen nicht gerade auch die gelingenden Momente unseres Daseins die Möglichkeit des freien Gottes, weil das Gelingen die Gefräßigkeit der Zeit nicht akzeptiert?« (Striet 2004, 141) 23 Gleichzeitig betonen andere Theologen, dass Habermas seinerseits der Theologie helfen könne, ihr eigenes Rationalitätsverständnis zu reflektieren, um nicht in einer naiven und gebetsmühlenartig vorgetragenen Kritik eines positivistischen Rationalitätsverständnisses verhaftet zu bleiben. »Habermas’ Erweiterung des Begriffs der Rationalität und seine Betonung der Vernunft als kommunikativ bietet Theologen die Möglichkeit, ihr Verständnis der Beziehung zwischen Vernunft und dem christlichen Glaubensleben, zwischen Hoffnung und Liebe zu revidieren, was ihnen dabei hilft, die Einschüchterung 22
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über, die Theologen als Ausdruck der Transzendenz von Kommunikationsgeschehen deuten, wird in den vergangenen Jahren noch auf andere Ähnlichkeiten zwischen der habermasschen Kommunikationstheorie und der Religion aufmerksam gemacht. Josef Wohlmuth zieht beispielsweise Parallelen zwischen dem Bilderverbot im Christentum und der Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. Wohlmuth 1997). Wenn Habermas nachmetaphysisches Denken als eine Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen konzeptualisiert (vgl. Habermas 1988, 153–186), dann weisen diese Überlegungen seiner Ansicht nach eine analoge Argumentationslogik zum Bilderverbot auf, durch das ebenfalls die unhintergehbare Notwendigkeit der Vielfalt der Stimmen zum Ausdruck kommt. Edmund Arens spielt bei der theologischen Habermas-Rezeption in Deutschland ebenfalls eine wichtige Rolle, besonders wegen seiner kontinuierlichen theologischen Aufarbeitung der verschiedenen Schaffensphasen von Habermas (vgl. Arend 1989; ders. 1997; ders. 2007a). Aus den jüngeren Veröffentlichungen hervorzuheben ist seine kommunikative Religionstheologie (Arens 2007a), mit der er in Anlehnung an Habermas ein kommunikationstheoretisch grundgelegtes Verständnis von Religion entwickelt. Er identifiziert dabei zentrale kommunikativ-religiöse Praktiken, die vor allem im Christentum wichtige Merkmale des religiösen Selbstverständnisses sind, beispielsweise das Erzählen, Feiern oder Verkündigen. Diese Praktiken weisen seiner Ansicht nach Merkmale kommunikativer Handlungen auf. Deshalb überträgt er die habermassche Kommunikationstheorie auf das religiöse Feld. Mit der Theorie der kommunikativen Handlungen können außerdem verschiedene Lehrmeinungen innerhalb einer Religion bzw. zwischen unterschiedlichen Religionen in Beziehung gesetzt und kommunikativ bearbeitet werden (vgl. Arens 2007a, 243). 24 und Verzerrungen einer eng gefassten positivistischen Vernunft zu überwinden« (Davis 1989, 114). 24 Nicholas Adams deutet den Diskurs der Theologie als eine kommunikative Praxis. Scriptural reasoning ist seiner Ansicht nach eine religiöse Form kommunikativen Handelns im öffentlichen Raum. Durch das gemeinsame Schriftgespräch der Vertreter unterschiedlicher religiöser Traditionen, die jeweils auf das bessere Argument zur Auslegung der heiligen Schriften abzielen, kann das Potenzial der Religion für die Öffentlichkeit besser nutzbar gemacht werden (vgl. Adams 2006). Die Philosophie kann dabei im Sinne von Habermas die Moderatorenrolle zwischen den religiösen Traditionen übernehmen (vgl. Dy 2005).
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Ein weiterer Theologe, der in der Liste der theologischen Diskussionspartner von Habermas nicht fehlen darf, ist Johann Baptist Metz, mit dem Habermas mehrfach den Dialog gesucht hat (vgl. exemplarisch Habermas 1994). Metz macht mit seiner Konzeption einer anamnetischen Vernunft darauf aufmerksam, dass Vernunft aus einer historischen Perspektive als ein Erinnerungsvermögen des Leidens der Menschen, genauer gesagt: des verletzten Lebens, interpretiert werden kann. Dieses hält den unerfüllten Anspruch nach einer gerechten Gesellschaft aufrecht, in der menschliches Leiden überwunden werden kann. »Metz hat immer wieder dafür plädiert, dass Vernunft sich durch Erinnerung bestimmen lässt, um so berührbar zu bleiben vom Leid der Anderen, von der elementaren Ungerechtigkeit, die um der Modernisierung, Rationalisierung und Globalisierung willen in Kauf genommen wird« (Werbick 2000, 100).
Religion hat gerade in vermeintlich säkularen Gesellschaften zum Aufbau und zur Stärkung einer so verstandenen anamnetischen Vernunft beigetragen, was Habermas der Ansicht von Metz nach in seinen Überlegungen zu wenig thematisiert. »Unterschätzt Habermas in seinem diskurstheoretischen Ansatz nicht doch die intelligible und kritische Macht der anamnetischen Basis öffentlicher Diskurse, die durch die jüdisch-christliche Tradition nicht nur in das Glaubensethos, sondern auch in das Vernunftethos der Menschheit eingegangen ist und sich z. B. auch im Umkreis der Frankfurter Schule in der negativen Metaphysik W. Benjamins und Th. W. Adornos reflektiert hat?« (Metz 2006, 200)
Habermas hat in seinen Gesprächen mit Metz die grundlegende Bedeutung einer anamnetischen Vernunft anerkannt, dabei allerdings argumentiert, dass seiner Ansicht nach die religiösen Impulse zur Herausbildung dieser anamnetischen Vernunft schon seit langer Zeit in die säkulare Vernunft übergegangen seien (vgl. Habermas 1994). 25 Außer-
Dieser These steht Metz kritisch gegenüber. Habermas habe ihm gegenüber betont, »dass der von mir angemahnte anamnetische Geist des biblischen Zeitdenkens längst in die neuzeitlichen Traditionen der praktischen Vernunft eingedrungen sei. Ist das wirklich so?« (Metz 2006, 241) Vgl. für eine weiterführende Auseinandersetzung mit der kritischen Theologie von Metz und deren Verbindung zur Theorie von Habermas die Analysen von Marc P. Lalonde (1999).
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dem betont Habermas bereits früh, dass der Hinweis auf die anamnetische Vernunft nicht zu einer Vergewisserung der Transzendenz im Sinne eines säkularen Wissens führen könne. »Die anamnetisch verfasste Vernunft, die Metz und Peukert gegen eine platonisch verkürzte, zeitunempfindliche kommunikative Vernunft mit Recht immer wieder einklagen, konfrontiert uns mit der skrupulösen Frage nach einer Rettung der vernichteten Opfer. Dadurch werden wir uns der Grenzen jener ins Diesseits gerichteten Transzendenz von innen bewusst; aber sie vermag nicht, uns der Gegenbewegung einer ausgleichenden Transzendenz aus dem Jenseits zu vergewissern« (Habermas 1991b, 142). 26
Peukert, Arens oder Metz haben bei allen inhaltlichen Differenzen die habermassche Diskurstheorie positiv rezipiert und konstruktiv in die Theologie integriert. Von dieser wohlwollenden Rezpetion haben sich andere Theologen in den vergangenen Jahren abgesetzt und sich kritisch zum Ansatz von Habermas geäußert, beispielsweise mit Blick auf die in der Theorie des kommunikativen Handelns enthaltene Skepsis gegenüber der Religion. Elisabeth Schüssler Fiorenza kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Habermas die Religion zu sehr auf Autoritäten beziehe und deshalb in den Bereich des Privaten abschiebe. Der frühe Habermas schließe eine konstruktive Deutung der Kirchen als Diskursgemeinschaften aus, »weil religiöse und sittliche Traditionen auf autoritäre Formen des Glaubens zurückgeführt und an teleologische Weltbilder zurückgebunden werden« (Schüssler Fiorenza 1989, 143). Damit würden von Habermas religiöse Glaubensüberzeugungen »mit antiquierten Weltbildern gleichgesetzt. Religiöser Glaube wird als an traditionelle Formen von Autorität gebunden verstanden, die es unmöglich machen, religiöse Glaubensüberzeugungen der Diskussion innerhalb des öffentlichen Bereichs zu unterwerfen. (…) Zusätzlich sind religiöse und metaphysische Weltbilder in dem Maße, wie sie ihre Überzeugungskraft verloren haben, zu Angelegenheiten subjektiver und individueller Wahl geworden« (Schüssler Fiorenza 1989, 124). Diese Abschiebung religiöser Überzeugungen ins Private begründet sich ihrer Ansicht nach letztlich aus dem Verständnis von kommunikativer Rationalität. Hierin zeigt sich wiederum, dass Habermas jedes weiterführende religionsphilosophische Argument, das beispielsweise die Existenz Gottes mit Rekurs auf die anamnetische Vernunft als plausibel erweist, nicht anerkennen will – auch nicht in der kantischen Variante.
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Offensichtlich ist diese Einschätzung von Schüssler Fiorenza heute ein Stück weit zu revidieren, denn Habermas gesteht religiösen Überzeugungen im aktuellen Prozess der politischen Deliberation einen höheren Stellenwert zu als er dies noch in den 1980er-Jahren getan hat. Die Möglichkeiten eines unvoreingenommenen Dialogs zwischen Religion und säkularer Vernunft bewerten heute denn auch viele Theologen und Religionsphilosophen optimistischer. »Mit dieser Würdigung wesentlicher Inhalte der Religion ist ein Dialog zwischen ihr und der säkularen Vernunft in Gang gebracht, der diesen Namen verdient. (…) Das Ende dieses kritischen Dialoges ist mit den wenigen hier gegebenen Hinweisen keineswegs antizipiert. Zu zeigen war nur, wie spannend und fruchtbar er bleibt, und zwar als Dialog, in dem nicht ›übereinander, sondern miteinander‹ gesprochen wird und in dem beide Seiten sich im Kern ihrer Überzeugungen ernst genommen fühlen dürfen« (Schmidt 2008, 90 ff.).
Welche Probleme allerdings nach wie vor – auch trotz der neuen Offenheit gegenüber der Religion – der habermassche Ansatz aus philosophischer Sicht impliziert, soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Dabei wird zuerst sein Verständnis einer postsäkularen Gesellschaft zu diskutieren sein.
3.1.3.2. Grenzen der Postsäkularität und Funktionalisierung von Religion Der Begriff ›postsäkular‹ ist im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs zu einem Synonym für die neue Aufmerksamkeit für Religion geworden (vgl. exemplarisch Langthaler/Nagl-Docekal 2007; Schweidler 2007; Losonczi/Singh 2010). Positiv ist an der Rede von der postsäkularen Gesellschaft, dass Religion nicht mehr länger unter dem Generalverdacht steht, kommunikatives Handeln per se zu behindern, sondern sie einen konstruktiven Beitrag zur Deliberation leisten kann. Religionsgemeinschaften werden damit wieder als gesellschaftliche Akteure ernst genommen und nicht länger aufgrund eines starken Säkularisierungsparadigmas liberaler Prägung automatisch von der Bühne der Öffentlichkeit verbannt. Nicht nur angesichts der empirisch beobachtbaren Bedeutung, die Religion in den meisten westlichen Gesellschaften hat, sondern auch und gerade mit Blick auf die globale Ebene und die rege Vitalität von Religion in vielen Regionen weltweit, ist diese Transformation einer zu starken Säkularisierungsthese für die A
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politische Philosophie, Soziologie und Politologie wichtig und sinnvoll (vgl. Kap. 1.3.). Habermas erkennt damit die Potenziale der Religion für gesellschaftliche Debatten an und sieht die Notwendigkeit eines wechselseitigen Diskurses von religiösen und säkularen Bürgern in postsäkularen Gesellschaften. Religion zeigt sich dabei als eine moralische Ressource für die moderne Gesellschaft, weil sie in besonderer Weise ein Begründungspotenzial für moralische Argumente zur Verfügung stellt (vgl. Ricken 2008a, 131). Damit folgt Habermas dem durkheimschen Diktum, das Religion vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung als moralische Tatsache herausstreicht (vgl. Durkheim 1912/1981, 75; vgl. Kap. 2.1.1.). Religion liefert in ihrer Sinnstiftungsfunktion eine moralische Basis für den öffentlichen Diskurs und übernimmt insofern eine wichtige Funktion in deliberativen Demokratien. Jenseits des politischen Systems, aber auch jenseits der Lebenswelt, formulieren religiöse Bürger auf Basis ihrer religiösen Weltanschauung normativ-politische Meinungen und bringen diese in öffentliche Aushandlungsprozesse ein. Damit werden sie zu zivilgesellschaftlichen Akteuren (vgl. Große Kracht 1997). An dem Begriff ›postsäkular‹ zeigen sich jedoch auch paradigmatische Schwierigkeiten des habermasschen Nachdenkens über Religion. Zu klären ist hinsichtlich seiner Deutung von Postsäkularität zuerst, ob – wie der Begriff indirekt voraussetzt – Religionen im Verlauf der Moderne tatsächlich derart an Bedeutung verloren haben. »Um von einer ›postsäkularen‹ Gesellschaft sprechen zu können, muss diese sich zuvor in einem ›säkularen‹ Zustand befunden haben« (Habermas 2008a, 33). Bei einer differenzierten empirischen Analyse wird allerdings deutlich, dass dies nur bedingt der Fall ist: Religion spielte auch in Zeiten der Säkularisierung eine wichtige gesellschaftliche Rolle – wenn auch in anderen Formen. Religiöse Ideen oder Semantiken wurden in säkulare Sprache transformiert, was sich am Diskurs über Menschenrechte oder die Entstehung des Nationalstaates zeigen lässt. Für afrikanische oder asiatische Gesellschaften traf die Säkularisierungsthese ohnehin nicht zu. Der Begriff ›postsäkular‹ drückt vor diesem Hintergrund »dann nicht eine plötzliche Zunahme an Religiosität nach ihrer epochalen Abnahme aus – sondern eher einen Bewusstseinswandel derer, die sich berechtigt gefühlt hatten, die Religionen als moribund zu betrachten« (Joas 2002, 32). Gerade aus diesem Argument ist es folgerichtig, nicht von postsäkularen Gesellschaften im Zeitalter der Globa108
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lisierung zu sprechen, sondern die vermeintliche Wiederkehr der Religion als eine verstärkte Aufmerksamkeit für Religion zu deuten (vgl. Kap. 1.2.). 27 Der Begriff ›postsäkular‹ verdeckt also den Blick auf die facettenreichen Transformationen der Religion und des ausdifferenzierten religiösen Feldes moderner Gesellschaften, denn »nicht ein Nacheinander von Prozessen des Verlustes und der Wiederkehr von Religion, sondern deren Ineinander, die Simultaneität von Abschied und Rückkehr gilt es zu diagnostizieren« (Höhn 2006, 3). Außerdem stellt sich die Frage, ob der Begriff überhaupt zur Charakterisierung einer Gesellschaft als Ganzes herangezogen werden kann. »Statt des wegen seiner nicht eindeutigen Konnotationen ungeeigneten Begriffs ›postsäkular‹ würde ich, wäre der Begriff nicht etwas schwammig und abgeschmackt, anstelle von postsäkular lieber von einer reflexiven Säkularisierung sprechen« (Arenhövel 2008, 175).
Neben diesen soziologisch ausgerichteten Anfragen ist auch ein kritischer Blick auf die mit der These der Postsäkularität verbundene funktionale Verortung der Religion im Spiel gesellschaftlicher Kräfte zu richten. Hinter der Beschreibung moderner Gesellschaften als postsäkular steht bei Habermas meist eine skeptisch konnotierte Sichtweise auf aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse, die ihn scheinbar überhaupt erst aufmerksam auf die Religion haben werden lassen. Überzeugend an seinen Gesellschaftsanalysen ist sicherlich die These, dass aktuelle globale Strukturen durch eine Zunahme gewalttätiger Konflikte, ein weiterhin starkes Nord-Süd-Gefälle und asymmetrische Machtstrukturen gekennzeichnet sind (vgl. Reder 2009b). Gegenüber diesen problematischen Merkmalen der Weltgesellschaft stehen jedoch auch positive Entwicklungen globaler Dynamik, die in den Überlegungen zur postnationalen Konstellation tendenziell zu kurz kommen (vgl. Habermas 1998). Ökonomisch betrachtet gibt es einen Auf-
Gerade deshalb sind nicht wenige Autoren skeptisch gegenüber dem Begriff ›postsäkular‹, denn die These der Postsäkularität scheint zu implizieren, dass die unsichtbare Religion heute wieder sichtbarer wird (vgl. Kap. 2.1.2.). »Die ›unsichtbare Religion‹, von der Luckmann gesprochen hat, wird damit allzu sichtbar, wenn auch nicht mehr verstehbar. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob der Begriff einer postsäkularen Gesellschaft die Idee einer solchen Deutung tatsächlich angemessen transportieren könnte« (Arenhövel 2008, 174).
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schwung früher armer Entwicklungsländer, und bei aller Vorläufigkeit und Kritik an den internationalen Bemühungen wurde begonnen, eine institutionelle Rahmenordnung als Antwort auf globale Herausforderungen aufzubauen. Auch wenn die Finanzkrise diese Bemühungen in den vergangenen Jahren erheblich erschwert hat, so zeigen sich doch nach wie vor viele positive Entwicklungen. Dabei ist auch die Vielzahl regional wie global aktiver Nichtregierungsorganisationen ein Indiz für eine vitale globale Öffentlichkeit. Diese Organisationen sind Spiegelbild eines öffentlich-politischen Bewusstseins, das globale Strukturen gerecht gestalten will. Mit diesen Beispielen soll nicht einer naivpositiven Deutung globaler Realität Vorschub geleistet werden, sondern es soll lediglich betont werden, dass Globalisierung grundsätzlich ein ambivalenter Prozess ist (vgl. Reder 2006, 20 ff.). Religionen sind selbst Teil dieser Ambivalenz; in einigen Regionen haben sie positive (zum Beispiel friedensstiftende, armutsbekämpfende) Wirkungen, in anderen Regionen und gesellschaftlichen Feldern sind sie eher konfliktfördernd oder erhalten asymmetrische Machtstrukturen (vgl. Müller 2007; Brocker/Hildebrandt 2008). Habermas betrachtet globale Entwicklungen allerdings vor allem aus der Perspektive der Entgleisung, weshalb seine Beschäftigung mit Religionen in der Gefahr steht, die Ambivalenz globaler Dynamik zu wenig zu beleuchten und gleichzeitig Religion zu instrumentalisieren: Wo gesellschaftliche Störungen auftreten, sollen Religionen helfen, diese zu vermeiden oder zu beheben. In dieser Hinsicht neigt Habermas dazu, diese für eine reflexive Bearbeitung der moralischen Probleme der Moderne zu instrumentalisieren. Die Religion soll »der Moral angesichts einer entgleisenden Modernisierung gleichsam unter die Arme greifen. Insofern stellt sie ähnlich wie die Lebenswelt eine Ressource für die kommunikative, auf Verständigung angelegte Diskursethik dar« (Danz 2007, 28). Der Religion wird scheinbar nur deshalb eine Funktion in modernen Deliberationsprozessen zugestanden, weil sie im Bewusstsein der Moderne etwas wach hält, was verloren zu gehen droht. »An der Religion ist Habermas lediglich im Hinblick auf die Anwendung der Moral interessiert bzw. im Hinblick auf ihre Funktion für die Regeneration des normativen Bewusstseins, welches der diskurstheoretischen Moraltheorie auf halbem Wege entgegenkommt. Für diese Funktion ist die Eigenständigkeit der Religion erforderlich« (Danz 2007, 31).
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Religionen haben für Habermas also in erster Linie die Funktion einer moralischen Ressource, wenn moderne Gesellschaften nicht mehr in der Lage sind, eine motivationale Basis für die eigenen normativen Grundlagen zu erschließen. Habermas weist zwar selbst auf andere Funktionen der Religion hin. 28 Trotzdem sind dies im Letzten nur Randerscheinungen – zentral ist für Habermas in seiner Eigenschaft als politischer Philosoph die normative Funktionalität der Religion. Damit steht sein Nachdenken über Religion in der Gefahr, diese zu verkürzen, denn sie übernimmt vielfältige gesellschaftliche Funktionen, von denen die Bereitstellung ethischer Weltbilder nur eine ist. Die Gestaltung kulturellen Lebens, die Verarbeitung von Kontingenz oder die Thematisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz sind weitere Funktionen von Religionen, und erst in der Zusammenschau ergibt sich ein detailliertes Bild ihrer gesellschaftlichen Bedeutung (vgl. Kap. 2.1.). Moral ist deshalb nur ein Aspekt, auf den Religionen nicht verkürzt werden dürfen. Zudem würden sich viele Religionen selbst gegen eine solche Reduzierung wehren, was ebenfalls ein Argument für ein weites Religionsverständnis ist. 29 Die Mehrdimensionalität von Religion ist noch in einer anderen Rücksicht von Bedeutung, denn die Argumentation von Habermas impliziert ein Religionsverständnis, das vor allem auf die Religionen der Achsenzeit abstellt. Dies ist einerseits fast unumgänglich, wenn philosophisch über Religion nachgedacht werden soll. Angesichts der pluralen Situation der westlichen Gesellschaften, aber auch wegen der Vielfalt religiös-kultureller Mischformen in westlicher wie globaler Hinsicht (vgl. Kap. 1.2.) ist es andererseits allerdings gerade aus einem So geht es im Fall der Beerdigung von Max Frisch (vgl. Habermas 2008b, 26 f.) um rituelle Kontingenzbewältigung und weniger um die Schaffung normativer Grundlagen für den modernern Verfassungsstaat. 29 Habermas setzt sich explizit mit diesem Vorwurf auseinander. Die Kritiker sind »zurecht unzufrieden mit einer funktionalistischen Betrachtung der Religion, die in Politikwissenschaft und Soziologie zwar ihren legitimen Ort hat, aber im Rahmen einer philosophischen Selbstverständigung über das Verhältnis von Glauben und Wissen zu kurz greift. Die Unklarheit löst sich auf, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt, von wo aus man jeweils spricht. (…) Denn eine Philosophie, die sich zur Religion als einer zeitgenössischen Gestalt des Geistes in Beziehung setzt, tritt mit ihrem Gegenüber in einen Dialog ein, statt nur über ihn zu sprechen. Die zweite Person-Einstellung einer Philosophie, die sich gegenüber der Religion gleichzeitig agnostisch und lernbereit verhält, ist unvereinbar mit der instrumentellen Einstellung gegenüber dem Objekt einer feindlichen Übernahme« (Habermas 2008c, 100). 28
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liberalen Denken heraus wichtig, nicht schon durch eine begriffliche Engführung die Bedeutung dieser Formen von Religion zu vernachlässigen. Wenn es um wechselseitige Übersetzungsprozesse zwischen säkularen und religiösen Bürgern geht, denkt Habermas aber fast ausschließlich an die großen Weltreligionen. Andere religiöse Erscheinungsformen will er stattdessen nur bedingt als potenzielle Teilnehmer öffentlicher Diskurse in den Blick nehmen, vor allem weil sie den von ihm eingeforderten Reflexionsschub nicht durchlaufen haben. 30 »Der kalifornische Synkretismus aus pseudowissenschaftlichen und esoterischen Lehren und der religiöse Fundamentalismus sind durch und durch moderne Phänomene, in denen sich vielleicht sogar soziale Pathologien der Moderne ausdrücken, jedenfalls kein Widerstand gegen diese. Auch die Missionserfolge eines wortgläubigen, aber liturgisch entgrenzten Spiritualismus sind unter soziologischen Gesichtspunkten gewiss interessant. Aber ich vermag nicht zu sehen, welche Bedeutung religiöse Bewegungen, die sich von den kognitiven Errungenschaften der Moderne abkoppeln, für deren säkulares Selbstverständnis haben könnten« (Habermas 2008c, 101).
Der Schulterschluss mit den institutionalisierten Religionen und die Skepsis gegenüber neuen spirituellen Bewegungen gehen also mit einer definitorischen Beschränkung des religiösen Phänomens auf die Weltreligionen einher, insbesondere auf die jüdisch-christliche Tradition. Damit werden allerdings nicht nur andere religiöse Formen ausgeblendet, sondern letztlich wird dieser Zugang sowohl der hohen »Fragmentierung innerhalb des konfessionellen Christentums« (Danz 2007, 29) als auch der Ausdifferenzierung der Religionen insgesamt nicht gerecht (vgl. Reder/Frick 2010).
In einer Anmerkung zu Wittgenstein wird dies besonders deutlich. Habermas fragt kritisch an, welche Schlussfolgerungen sich aus einem weiten, an Wittgenstein orientierten Religionsbegriff ergeben könnten: »Die semantische Geschlossenheit der inkommensurablen Sprachspiele räumt esoterischen Lehren einen gleichberechtigten Platz neben Religionen und naturwissenschaftlichen Theorien ein« (Habermas 2007, 385), gerade dies hält er in Bezug auf ein Nachdenken über Religion nicht für sinnvoll (vgl. hierzu die Überlegungen zu einem an Wittgensteins Sprachspieltheorie orientierten Religionsbegriff in Kap. 2.4.). Ähnlich argumentiert Habermas in dem Beitrag Revitalisierung der Weltreligionen (Habermas 2009, 387–407). Zwar thematisiert er in diesem Zusammenhang kulturell ausdifferenzierte Formen von Religion, beispielsweise charismatische Gruppen und Pfingstkirchen (vgl. Habermas 2009, 387 f.); aber auch hier erfahren diese letztlich keine vollständige Anerkennung innerhalb seines Theorierahmens der Postsäkularität.
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3.1.3.3. Eine erste folgenreiche Unterscheidung: Glauben und Wissen Ein weiterer Problemkreis bei der Bestimmung von Religion durch Habermas schließt direkt an den bereits genannten Aspekt an: Es geht um das in der Geschichte der Philosophie und Theologie schon lange und viel diskutierte Verhältnis von Glauben und Wissen. Nicht zuletzt durch die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006 ist dieses Thema zu neuer Aktualität gelangt (vgl. Benedikt XVI. 2006) und wurde auch für Habermas’ Reflexionen ein wichtiger Referenzpunkt. Benedikt XVI. betont vor dem Hintergrund einer augustinischbonaventurisch geprägten Denktradition, dass griechisches Denken und christlicher Glaube zutiefst verwoben seien (vgl. Reder/Schmidt 2008b). Der Papst entwickelt in seiner Rede dieses Anliegen aus dem ersten Satz des Johannesevangeliums: »Im Anfang war der Logos« (Joh. 1), wobei Logos mit Vernunft gleichbedeutend ist. Denn »Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft« (Benedikt XVI. 2006, 18). Der Grund der Welt ist also Vernunft, die sich mitteilt, weshalb Gottes Handeln als vernünftig interpretiert wird. »Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider« (Benedikt XVI. 2006, 20). Von diesem göttlichen Ursprung her ergibt sich für die philosophische Theologie des Papstes ein Vernunftverständnis, durch das gleichzeitig jede Tendenz einer Verengung der Vernunft kritisch beurteilt wird, etwa mit Blick auf den modernen Szientismus. Diese Kritik bedarf keiner Anleitung von außen, sondern sie kommt aus der menschlichen Vernunft selbst. Glauben und Wissen sind deshalb nicht zu trennen – Gottes Wirken ist Logos-durchzogenes Handeln, weshalb die christliche Religion Gott als Logos denken kann. 31 Schon in der Friedenspreisrede, aber auch später betont Habermas die Trennung von Glauben und Wissen, denn Glauben ist für das säkulare Wissen grundsätzlich opak (vgl. Habermas 2008b, 28). Die Philosophie kann deshalb lediglich in einer allgemein zugänglichen Sprache die Inhalte der Religion rekonstruieren und ihre normativen bzw. politischen Äußerungen unter den Bedingungen des liberalen Staates beachten. Gleichzeitig sind beide aufeinander angewiesen, gerade wenn es um die sozialen Probleme einer Gesellschaft in Zeiten einer entgleiVgl. exemplarisch für die Auseinandersetzungen mit der Regensburger Rede des Papstes Wenzel (2007).
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senden Moderne geht. Habermas deutet deshalb die Grenze zwischen Glauben und Wissen als Membran, »wodurch beide Bereiche – wissenschaftliche Welterkenntnis und religiöse Weltdeutungen – zwar voneinander unterscheidbar bleiben, jedoch für gegenseitige Stimulationen sensibel bleiben« (Arenhövel 2008, 169). Dennoch: Trotz dieser wechselseitigen, membranähnlichen Verwiesenheit weist Habermas immer wieder nachdrücklich auf die strikte Trennung von Glauben und Wissen hin. Diese Trennung formuliert er allerdings fast ausschließlich von der Seite des säkularen Wissens aus. Er betont zwar, dass historisch betrachtet religiöse Gehalte in Positionen des säkularen Wissens Eingang gefunden haben; in systematischer Hinsicht will er aber die Grenze zur Religion hin nicht überschreiten und sich einer inhaltlichen (religionsphilosophisch begründeten) Interpretation des Glaubens enthalten. Allerdings impliziert seine Argumentation sehr wohl eine bestimmte Interpretation des Glaubens. Religiöser Glaube wird von Habermas nämlich letzten Endes in einem fideistischen Sinne als eine nichtrationale Entscheidung des einzelnen Menschen gedeutet. Habermas holt allerdings diese Vorentscheidung für ein bestimmtes Glaubensverständnis nicht mehr reflexiv ein, weil er sein Nachdenken über Religion auf eine Analyse der Religion von außen reduziert. Damit thematisiert er erstens sein eigenes Verständnis von Religion nicht mehr innerhalb seines Ansatzes, wodurch es ihm zweitens nur bedingt möglich ist, die Eigenheiten der Religion in einem umfassenden (religions-)philosophischen Sinn erklären zu können. »Was Habermas betrifft, liegt sein blinder Fleck, die religiöse Innenperspektive, durchaus in seiner Methode, die (…) der postsäkularen Situation zu entsprechen sucht, indem sie die ›Grenze des methodischen Atheismus‹ einhält« (Thomalla 2007, 131).
Habermas äußert sich zwar zur »existenziellen und gesellschaftlichen Relevanz der Religion«, stellt »aber dieser funktionalistischen Außenbetrachtung der Religion keine Betrachtung ihrer Innenseite« (Ollig 1998, 573) gegenüber. Als politischer Philosoph ist er nur daran interessiert, die gesellschaftliche Rolle von Religion zu rekonstruieren und nicht zu klären, was Religion ist oder wie sie von religiösen Menschen gedeutet wird. He »is not asking why the others, those religiously-minded people, still need religion; he is asking what he as an agnostic secularist can still get from religion. He rejects the external 114
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sociological view in favor of an internal philosophical view« (Chambers 2007, 220). Für eine umfassende Thematisierung der Frage nach der Religion in modernen Gesellschaften und für eine Reflexion des eigenen Vorverständnisses von Religion ist ein solcher religionsphilosophischer Standpunkt allerdings wichtig, ja sogar unersetzlich. Die politisch-philosophisch äußerst relevante Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen erschwert dies allerdings, was schlussendlich dazu führt, dass der religiöse Mensch in seinem Glauben nur teilweise ernst genommen wird. 32 Joas hat diese Anfrage auf einer Tagung in München pointiert formuliert: »Habermas kennzeichnet den Kern religiöser Einstellungen als opak. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht sieht, dass das für religiöse Menschen geradezu eine Beleidigung ist. Für religiöse Menschen ist der Kern ihrer Auffassungen das subjektiv Evidenteste, was es gibt, die Erleuchtung. Es opak zu nennen, ist eine reine Außenperspektive« (Diskussionsbeitrag von Joas in Reder/Rugel 2010, 205 f.).
Habermas selbst geht an einigen Stellen hinter die Trennung von Glauben und Wissen zurück, wenn er argumentiert, dass religiöse und säkulare Bürger ihre Aussagen wechselseitig übersetzen können. Es stellt sich dann allerdings die Frage, »was ›Übersetzung‹ und ›rettende Aneignung‹ bedeuten sollen, wenn es sich bei Glauben und Wissen um zwei getrennte, inkommensurable epistemische Bereiche der Lebenswelt handelt. Wie stellt Habermas sicher, dass sich religiöse semantische Gehalte in eine allgemein zugängliche Sprache übersetzen lassen? Eine Übersetzung ist nur dort möglich, wo es ein Tertium comparationis, einen gemeinsamen Kontext gibt« (Maly 2005, 564; Nagl-Docekal 2008b, 851). Eine Übersetzung religiöser Überzeugungen, d. h. eine kognitive Erschließung religiöser Gehalte in säkulare Semantiken ist also nur möglich, wenn Glauben für das Wissen nicht ausschließlich opak ist. Das bedeutet nicht, dass Glauben und Wissen in eins gesetzt wer-
Hans Albert fragt aus einer anderen Tradition herkommend, ob diese Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen nicht vielmehr auf persönlichen Vorentscheidungen beruhe als auf systematischen Gründen: »Man sieht also, wie weit dieser Denker, der seinerzeit gegen einen ›positivistisch halbierten Rationalismus‹ zu Felde gezogen war, inzwischen mit seiner Regulierung des Vernunftgebrauchs in pragmatischer Absicht gekommen ist« (Albert 2006, 367).
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den, sondern lediglich, dass sie gemeinsame Ursprünge bzw. Kontexte haben und wechselseitig aufeinander verwiesen sind. 33 Man könnte diesen gemeinsamen Kontext im habermasschen Denken als das Bewusstsein von etwas, das fehlt (Reder/Schmidt 2008a) bezeichnen. Die säkulare Vernunft erkennt, dass sie nicht nur angesichts der drängenden sozialen Probleme der Moderne, sondern auch aufgrund der ihr inhärenten Grenzen immer auf etwas verwiesen ist, das fehlt – sei es auf die Unverfügbarkeit der Menschenwürde oder auf den unhintergehbaren Vertrauensvorschuss einer Kommunikation. Der Gläubige bezeichnet diese Einsicht mit dem Begriff ›Transzendenz‹ oder ›Gott‹. Diese Einsicht ist nicht opak in dem Sinne, dass sie ausschließlich für religiöse Menschen vernünftig nachvollziehbar ist, auch wenn sie weder in einem rationalen Sinne bewiesen noch notwendig von allen Menschen vollzogen werden muss. Doch trotz dieses vernünftigen Bewusstseins von dem, was fehlt, betont Habermas nachdrücklich die grundsätzliche Trennung von Glauben und Wissen. Bei aller Forderung nach wechselseitiger Übersetzung von religiösen und säkularen Überzeugungen scheint er deshalb im Letzten offen zu lassen, ob die Gehalte religiöser Rede überhaupt in die säkulare Vernunft übersetzt werden können: »But when asked directly if he thought that philosophy would succeed in assimilating the important, indeed essential moral insights of religion, Habermas answered, ›I do not know‹« (Chambers 2007, 221). Aus der Sicht von Habermas ermöglicht die Interpretation des religiösen Glaubens als opak in diesem Zusammenhang noch eine andere Perspektive auf Religion, die auch historisch betrachtet eine einflussreiche Rolle gespielt hat (vgl. Kap. 4.3.2.). Religion ist in dieser Argumentation im Kern eine Deutung von Wirklichkeit bzw. eine Handlungsorientierung, die sich gegen den gesellschaftlichen Common Lutz-Bachmann formuliert dieses Wechselverhältnis von religiösem Glauben und säkularer Vernunft folgendermaßen: »Aus der Tradition der ›fides quaerens intellectum‹ kann eine kritisch überarbeitete Theorie der kommunikativen Vernunft heute lernen, dass das Verhältnis von Vernunfteinsicht und Religion (…) keine Einbahnstraße und kein Vorgang einer einseitigen Übersetzungsarbeit ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Diskurstheorie die durch den prozeduralen Formalismus des Begriffs der kommunikativen Vernunft entstehenden Probleme auch im Lichte der Einsichten, die in der Religion enthalten sind, erkennt und sich zu einer Erweiterung ihres eigenen Konzepts von Vernunft und Philosophie durch Einsichten bringen lässt, die in den spezifischen Erkenntnissen der Religion, der ›fides‹, enthalten sind« (Lutz-Bachmann 2003, 347).
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Sense und damit gegen die als vernünftig eingestuften Wissensbestände einer Gesellschaft stellt. Durch vollkommen andere, provozierende Sichtweisen will sie die Menschen zu einer Umkehr bewegen. Die Figur des Propheten in den großen monotheistischen Weltreligionen ist genau so konzipiert (vgl. Kap. 3.3.2.1.), denn die prophetische Rede behält im Kern immer etwas Opakes, das sich dem gesellschaftlich Anerkannten und Vernünftigen widersetzt; die Gläubigen sollen damit wachgerüttelt, eingefahrene Verhaltensweisen hinterfragt und neue politische Weichenstellungen angestoßen werden. In diesem Sinne bringt die Deutung des Glaubens als opak einen wichtigen Aspekt des Selbstverständnisses vieler Religionen zum Ausdruck. Allerdings kann wiederum kritisch angefragt werden, ob im habermasschen Übersetzungsmodell diese Eigenheit der religiösen Überzeugung wirklich erhalten bleiben kann. Wenn religiöse Gehalte scheinbar problemlos in säkulare Semantik übersetzt werden können, besteht der berechtigte Zweifel, ob damit die ursprüngliche Stoßrichtung und der spezifische Gehalt der religiösen Überzeugung bewahrt werden können. 34 »Das kreative Potenzial der Fremdheit religiösen Lebens und Denkens ist also nur als domestiziertes geheuer und erlangt bloß eingeschränkt, nämlich auf einen säkularen Zweck hin, Interesse. Die gesellschaftskritische Kraft der Religionen selbst kommt nicht mehr in den Blickpunkt« (Esterbauer 2007, 321). 35
Außerdem ist fraglich, ob sozialphilosophisch betrachtet sowohl auf der individuellen wie sozialen Ebene säkulare bzw. religiöse Überzeugungen überhaupt eindeutig getrennt werden können. Mit Rekurs auf Danz (2007) fragt daher an, ob Habermas nicht letztlich nach wie vor davon ausgehe, dass Religion früher oder später in die säkulare Vernunft übergehen werde. »Aber das zugrunde liegende Religionsverständnis scheint doch tendenziell auf eine bisher nur noch nicht gelungene Transformation der Religion in Philosophie angelegt zu sein. Mit dieser Sicht ist jedoch eine tendenzielle Revision der These von der Eigenständigkeit der Religion verbunden, insofern Habermas nicht mit einer prinzipiellen Entzogenheit der Religion rechnet, sondern lediglich mit einer faktischen« (Danz 2007, 31). In eine ähnliche Richtung argumentiert Ricken, wenn er betont, dass dem, der »die griechische Begrifflichkeit etwa in den Formulierungen von Nikaia und Chalkedon durch eine andere Begrifflichkeit ersetzen will«, die Beweislast obliege, »dass diese andere Begrifflichkeit die Sperrigkeit und Provokation der biblischen Botschaft ebenso bewahrt wie die Begrifflichkeit der griechischen Metaphysik« (Ricken 2008, 78). 35 Striet thematisiert aus der Perspektive der Theologie die Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen in säkulare Sprache (vgl. Striet 2007). 34
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Philip Clayton argumentiert Thomas M. Schmidt deshalb für eine Koexistenz von religiösen und säkularen Überzeugungen innerhalb eines religiösen Subjekts. Beim Verhältnis von Glauben und Wissen handelt es sich in dieser Sichtweise »um eine ständig neu herzustellende kognitive Balance zwischen Skepsis und Gewissheit, um eine unter dem externen Druck neuer Informationen und Kritik stets zu erneuernde epistemische Kohärenz zwischen säkularen und religiösen Überzeugungen« (Schmidt 2007, 338; vgl. Reder 2008). 36 Diese Verschränkung von religiösen und säkularen Überzeugungen auf der Ebene des Individuums ist ein weiteres Indiz für eine wechselseitige Verschränkung von Glauben und Wissen. Diese zeigt sich auch auf der sozialen Ebene der Vergemeinschaftungsprozesse, denn in der komplexen Sozialgestalt von Religionsgemeinschaften spielen ebenfalls säkulare und religiöse Argumente oft gleichzeitig und meist ineinander verschränkt eine Rolle. Habermas betont hingegen die Trennung der beiden Ebenen, worin sich wiederum sein am Fideismus orientiertes Religionsverständnis spiegelt und gemäß dem die soziale Gestalt von Religion als Summe von Einzeläußerungen religiöser Bürger gedeutet wird, die sich aufgrund individueller Glaubensentscheidungen öffentlich zu Wort melden. Die Mehrdimensionalität sozialer Gebilde und die damit einhergehende Verschränkung von religiösen und säkularen Argumentationen sollten in diesem Zusammenhang allerdings deutlich mehr Beachtung finden, um zu einem überzeugenden Verständnis von Religionsgemeinschaften als sozialen Akteuren zu gelangen. 3.1.3.4. Eine zweite wichtige Unterscheidung: Moral und Ethik Blick man auf den gesamten Argumentationsgang von Habermas, so zeigt sich ein weiterer und vielleicht sogar noch wichtigerer Grund für die Unterscheidung von Glauben und Wissen, und zwar seine Habermas präzisiert in seiner Replik auf Schmidt noch einmal sein Verständnis des religiösen Bürgers: »Ich habe den Fall eines religiösen Bürgers vor Augen, der sich vorbehaltlos auf die politischen Beiträge seiner säkularen Mitbürger einlässt, aber in einer hoch kontroversen Frage von den öffentlich verhandelten Argumenten seine eigenen, mit starken moralischen Gefühlen besetzten Intuitionen nicht getroffen sieht. Dieser Bürger muss, meine ich, das Recht haben, seine Intuition (…) in religiöser Sprache auszudrücken – wenn er sie nur so zur Sprache bringen kann«; notwendige Voraussetzung ist aber, »dass er auf die Kooperation der anderen (…) Bürger angewiesen bleibt« (Habermas 2007, 412).
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Trennung des moralischen und ethischen Gebrauchs der praktischen Vernunft (Habermas 1991a, 100–118; ders. 1992b). Im ethisch-existenziellen Gebrauch nehmen Menschen auf Werte Bezug, die in lebensweltliche Kontexte eingebettet und damit von diesen abhängig sind. Ethische Fragen liegen auf der Ebene des Individuums und sind auf das Telos des je einzelnen Lebens bezogen. Im Bereich der Moral können dagegen universale, d. h. überparteilich begründete Geltungsansprüche erhoben werden, die das Ergebnis idealer Kommunikationsprozesse sind. Habermas verwendet einen formalen Begriff von Moral, wenn er betont, dass innerhalb des Begründungsbereichs von Moral »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden können)« (Habermas 1983, 103; vgl. Kap. 3.1.1.). Die Rolle der Philosophie ergibt sich aus dieser klaren Trennung von Moral und Ethik. Sie bezieht in der Ethik keine inhaltliche Stellung, sondern rekonstruiert lediglich die Argumente, die sich aus den ethischen Weltbildern speisen, und achtet auf die formalen und vernünftigen Spielregeln des Austausches von Argumenten. Eine rationale Entscheidung zwischen konkurrierenden Weltbildern kann sie jedoch nicht fällen; in diesem Diskurs fällt ihr nur noch die Moderatorenrolle zu. Äußerungen der Religionen sind aus Sicht der Diskursethik Teil des ethischen Gebrauchs der praktischen Vernunft und damit der individuell geprägten, lebensweltlich bedingten Vorstellungen vom guten Leben. Diese weisen für den einzelnen Menschen eine hohe Plausibilität auf. Habermas betont allerdings, dass damit die Frage nach der intersubjektiven Geltung im Grunde nicht berührt werde. Die Abgrenzungskriterien zwischen Moral und Religion als Teil der Ethik sind dabei die allgemeine Zugänglichkeit der Sprache und die öffentliche Akzeptanz der zugelassenen Gründe. 37 Philosophiehistorisch sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen, die Habermas im Nachwort zu Rawls’ Schrift Über Sünde, Glaube und Religion anstellt, aufschlussreich (vgl. Habermas 2010). In der kritischen Rekonstruktion dieser Anmerkungen des frühen Rawls zur Religion thematisiert Habermas insbesondere das Verhältnis von Moral und Ethik. Habermas hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Rawls hervor, der als einer der ersten Philosophen des politischen Liberalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit gesehen hat, die Säkularisierung des Staates nicht als eine Säkularisierung der Gesellschaft zu interpretieren. In dieser Hinsicht lassen sich moralische Überzeugungen, »wenn sie ihre existentiell tragende und motivierende Kraft nicht einbüßen sollen, vom dichten Kontext einer umfassenden religiösen oder metaphysischen Lehre nicht abtrennen« (Habermas 2010, 333). Obwohl
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In der Reflexion über Moral geht Habermas also von einer zwar formalen, aber doch einheitlichen Vernunft aus, im Bereich der Ethik von einer Pluralität der ethischen Weltbilder, weshalb hier keine allgemeingültigen Vernunftansprüche erhoben werden können. Ethische Aussagen über das gute Leben unterliegen nicht den Wahrheitsansprüchen der Diskurstheorie, denn »die religiösen oder klassisch-philosophischen Ethiken, die diesen sittlichen Lebenszusammenhang zum Thema machen, verstehen und rechtfertigen das Moralische nicht aus ihm selber, sondern aus dem Horizont eines heilsgeschichtlichen oder kosmologisch begriffenen Ganzen« (Habermas 1983, 178). Über dieses Ganze können im nachmetaphysischen Zeitalter keine universalen Aussagen gemacht werden, weshalb solche Überzeugungen in individuellen Lebenswelten diskutiert werden sollten. »Weil sich eine selbstkritisch gewordene Philosophie allgemeine Aussagen über das konkrete Ganze exemplarischer Lebensformen nicht mehr zutraut, muss sie die Betroffenen an Diskurse verweisen, in denen diese ihre substantiellen Fragen selber beantworten« (Habermas 1991b, 131).
Diese Trennung von Moral und Ethik und die damit einhergehende Verankerung der Religion in der Ethik sind nicht unproblematisch, denn in vielerlei Hinsicht ist sowohl aus empirischen wie systematischen Gründen diese Unterscheidung nicht so trennscharf zu vollziehen, wie Habermas dies vorschlägt. Ethische Weltdeutungen und normative Diskurse sind immer schon miteinander verzahnt und gehen fließend ineinander über (vgl. Vossenkuhl 2006; vgl. zudem Kap. 4.3.1.). Der eine Bereich speist sich aus dem anderen und umgekehrt. In diesem Wechselspiel erheben auch ethische Überzeugungen im habermasschen Sinne vernünftige Geltungsansprüche. Die Konzeptionen eines gelungenen Lebens oder einer Tugendethik, die heute im Anschluss an die antike Philosophie immer stärker in den wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden (vgl. Bordt 2009), verstehen sich selbst nicht als private Weltdeutungen oder individuelle Anleitungen zum guten Leben. Sie implizieren eine universale Anthropologie und wollen allgemeingültige Vorschläge für den ethischen Diskurs liefern (vgl. exemplarisch Nussbaum 1999), weshalb er diese Einsicht bezüglich der frühen Arbeiten von Rawls wohlwollend konstatiert, plädiert er selbst in seinen Überlegungen für eine strukturelle Trennung, die sich in seinem Theoriegebäude an der Differenz von Moral und Ethik festmachen lässt (zur Rekonstruktion der religiösen Signaturen in Rawls’ Werk vgl. auch Reidy 2010).
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die Trennung von privat und öffentlich im Sinne einer Trennung von Normen und Werten schwer begründbar ist. Mit der Unterscheidung von Ethik und Moral versuche Habermas, so die leicht polemische Interpretation von Chantal Mouffe, im öffentlich-politischen Raum dem Pluralismus von Werten zu entkommen und diesen in den privaten Bereich abzuschieben (vgl. Mouffe 2008, 95). Der entscheidende Aspekt in diesem Zusammenhang ist wiederum das Vernunftverständnis. Die Einheit der Vernunft, so die Kritik, werde von Habermas zu eng gefasst, indem er sie zwar auf den Bereich der Moral beschränke, dann aber sehr wohl davon ausgehe, dass kommunikative Vernunft in den Diskursen eine einheitliche Lösung moralischer Fragen erreichen könne. Habermas »will die Pluralität wieder an Einheit zurückbinden, obwohl er nicht mehr zeigen kann, wie eine solche Einheit noch gedacht werden kann« (Welsch 1995, 139). Damit beschneidet sich die Vernunft selbst, und zwar aus Angst, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten. Zwar betont die Diskursethik die Pluralität der Weltbilder, da sie aber davon ausgeht, dass im moralischen Diskurs eine vernünftige Einigung über Geltungsansprüche nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, impliziert sie ein bestimmtes Einheitsmodell von Vernunft. 38 Menschen sind mittels eines intersubjektiven Verfahrens und auf der Basis eines gemeinsamen Vernunftgebrauchs zu einer solchen Einigung aufgefordert. Letztlich schneidet sich die praktische Deliberation mit der eindeutigen Trennung von Glauben und Wissen bzw. Moral und Ethik von einer zentralen Grundlage der Theorie des kommunikativen Handelns ab, und zwar der soziokulturell geprägten Lebenswelt. Genau diese stellt aber die Basis der kommunikativen Rationalität dar. Deshalb ist die Charakterisierung der religiösen Überzeugungen als opak gerade aus Sicht der habermasschen Kommunikationstheorie heraus problematisch. Religiöse Argumente aufgrund dieser Unterscheidung »von vornherein aus der Argumentation auszuschließen, führt nicht nur zu einer Verarmung des jeweiligen Dis-
Christoph Böhr formuliert diese Kritik in einem ausdrucksstarken Bild: »Die Vernunft, wenn sie nicht nur selbstreflexiv einen wachen Blick für ihre Grenzen behält, sondern sich – aus Angst, diese Grenze zu verletzen – nur noch auf sich zurückbeugt, verhält sich wie Narziss: Sie steht gebannt vor ihrem eigenen Spiegelbild, von dem sie den Blick nicht mehr lösen mag. Sie bleibt in sich selbst gefangen und sperrt sich in ihrer Selbstbezüglichkeit ein« (Böhr 2007, 112).
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kurses; es bedeutet eine Verkümmerung des sozio-kulturellen Lernens überhaupt« (Cooke 2002, 119). 3.1.3.5. Religion als Teil der politischen Öffentlichkeit Religion ist vom Standpunkt der deliberativen Demokratie aus einerseits eine Orientierung zum guten Leben für den einzelnen Gläubigen und andererseits Teil der politischen Öffentlichkeit. Habermas hat zeitlebens die Bedeutung einer solchen kritischen Öffentlichkeit für moderne Demokratien hervorgehoben. Mit Blick auf die Religionsgemeinschaft als einen öffentlichen Akteur zeigen sich jetzt allerdings einige grundsätzliche Probleme seines Verständnisses von Öffentlichkeit, die ihrerseits wiederum Konsequenzen für die Funktionsbestimmung von Religion in politischer Deliberation haben. Kritisch zu diskutieren ist vor allem die normative Ausrichtung von Öffentlichkeit, denn als Akteure der Öffentlichkeit scheinen an einigen Stellen nur die Organisationen zu gelten, welche die Grundsätze des demokratischen Liberalismus in einer bestimmten Weise verinnerlicht haben (Habermas 1992b, 435 ff.). Deshalb wird der Begriff der Öffentlichkeit meist eng mit dem der Zivilgesellschaft verbunden. Diese Koppelung der beiden Konzepte ist aus dem liberalen Denken erwachsen und schränkt den öffentlichen Raum ein, denn nur die Akteure und Organisationen werden der Öffentlichkeit zugerechnet, die dem Gemeinwohl in einem bestimmten normativen Sinne dienlich sind. Darin spiegelt sich unter anderem eine Absetzung von Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, zu der dieser auch interessengeleitete und damit ökonomisch orientierte Akteure zählt »This specification of the ›common‹ as the ›public‹ good was determinant for all subsequent developments of any notion of publicness« (Salvatore 2007, 252). Problematisch daran ist, dass die Vielfalt der Akteure der Öffentlichkeit genauso ausgeblendet wird wie deren unterschiedliche Semantiken zur Bearbeitung gesellschaftlicher Themen. Nicht zuletzt deshalb war Habermas lange Zeit skeptisch, Religionsgemeinschaften als Akteure der Öffentlichkeit zuzulassen – im Grunde beschränkt er bis heute ihren Spielraum auf den informellen Bereich der Öffentlichkeit. 39 »Habermas’s proposal to allow religious contributions in politiHabermas betont, dass innerhalb des formellen politischen Systems – beispielsweise in Debatten des Parlaments – ausschließlich säkulare Argumente (oder eben in säkulare
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cal deliberation is confined to deliberations in the informal public sphere« (Cooke 2007a, 228). Noch mehr: Die Grenzen des öffentlichen Raumes werden – dies zeigen seine Überlegungen zur Rolle von Religion deutlich – dadurch festgelegt, dass nur bestimmte Argumente innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzungen zugelassen werden, wodurch eine theoretische Engführung des Öffentlichkeitsverständnisses vorgenommen wird. »As long as the challenge of religion is seen in this way, as long as the only question is whether religious arguments can be translated into the language of rational – which means secular! – arguments, the discussion of what the public sphere is and what it means takes place within a narrow horizon« (Turner 2009, 237).
Problematisch ist dabei vor allem die Fokussierung der Öffentlichkeit auf bestimmte Formen kommunikativen Handelns und ausgewählte Vorstellungen von Gemeinwohl. »The ›Habermas effect‹ consisting in turning private concerns into public deliberation on the common good via the virtue of communicative action to build a collective We-identity is too sharp a passage to account for the complexity and variety of such long term, interlocking trajectories of notions of publicness and of their influence in social life« (Salvatore 2007, 253). 40
Semantik übersetzte Argumente) vorgetragen werden dürfen. Denn »mit der Öffnung der Parlamente für den Streit um Glaubensgewissheiten kann jedoch die Staatsgewalt zum Agenten einer religiösen Mehrheit werden, die ihren Willen unter Verletzung des demokratischen Verfahrens durchsetzt« (vgl. Habermas 2005, 139 f.). Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Kritik wird allerdings deutlich, dass eine solche Grenzziehung nicht notwendig vorgenommen werden muss, wenn man die Vielfalt von Überzeugungen auch politisch ernst nehmen will. »It seems that the dividing line between public discourse, legitimate reference to religious arguments and illegitimate religious interference with secular institutional activity is not to be drawn at the parliament’s entrance, or at the doorway of any institutional body, but well inside the in-house activities of parliaments and other institutions in ways which remain to be defined according to the nature of the diverse communicative activities which take place in institutional settings« (Ferrara 2009, 87). 40 In diesem Zusammenhang spiegelt sich wiederum das am Glauben des Einzelnen orientierte Religionsverständnis von Habermas wider, durch das insbesondere das Potenzial der Religionen zur Vergemeinschaftung zu wenig beleuchtet wird. »In his view of religion Habermas turns out to consistently underestimate or even overlook one of the basic dimensions of religion: its power of symbolic community institution« (Braeckmann 2009, 284). Genau dieses Potenzial zeigt sich mit Blick auf die Öffentlichkeit, in der Religionsgemeinschaften unterschiedliche Institutionen etablieren, angefangen von A
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Auch aus interkultureller Sicht erscheint diese Engführung nicht gerechtfertigt, weil Öffentlichkeit in ihren verschiedenen kulturellen Gestalten sehr unterschiedlich strukturiert sein kann. 41 Es ist daher eine Revision des deliberativen Verständnisses notwendig, um ein mehrdimensionales Konzept begründen zu können, das der Vielfalt der Strömungen und Akteure in der Öffentlichkeit gerecht wird. 42 »The public sphere cannot bet her form of a singular, albeit universalising, tradition. The notion of the public sphere can regain theoretical coherence and conceptual plausibility (…) only if carefully reconstructed by drawing on the conceptual resources of a plurality of partly overlapping and partly conflicting discursive traditions« (Salvatore 2007, 258).
Diese Anerkennung der Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit würde wiederum voraussetzen, dass in öffentlichen Diskursen postsäkularer Gesellschaften nicht nur bestimmte Argumente als gerechtfertigt angesehen werden, sondern die Bandbreite der berechtigten Argumente erweitert wird. 43 »In einem postsäkularen Staat, den ich vor Augen habe, sind religiöse Gründe zu den Beratungen der formell verfahrenden Öffentlichkeiten zugelassen, jedoch nur unter der anspruchsvollen Bedingung, dass die Rechtfertigungstraditionellen Gemeinden über Entwicklungshilfe-NGOs bis hin zu Migrationslobbyisten. 41 Armando Salvatore (2007) skizziert beispielsweise die facettenreiche Geschichte der Idee der Öffentlichkeit in islamischen Gesellschaften, die sich deutlich von einem westlichen Verständnis absetzt, aber trotzdem eine wichtige gesellschaftliche Funktion in islamischen Gesellschaften ausübt. 42 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang beispielsweise auch, dass Habermas in Fakizität und Geltung (Habermas 1992b) zwar einen Begriff der politischen Öffentlichkeit entwickelt, der mit Blick auf zivilgesellschaftliche Akteure ausbuchstabiert wird, er aber keinen Begriff einer kulturellen Öffentlichkeit entfaltet, auch wenn er selbst Raum für einen solchen innerhalb seines Konzeptes von Öffentlichkeit lässt. 43 In dieser Hinsicht bleibt Habermas letzten Endes in den gleichen Problemen des politischen Liberalismus wie Rawls verhaftet. »Habermas proposes to weaken requirements of citizenship without giving up the essential liberal desideratum that legitimate political decisions be based on generally accessible reasons. Absent further explanation, this proposal seems to ignore the important role citizens play in holding representatives accountable for their political reasoning and decisions. It also fails to address the concern that citizens and officials pursuing secular translations of religious utterances should avoid relying on insincere and ad hoc political justifications« (Boettcher 2009, 234). In diesem liberal-demokratischen Verständnis der Religion in der Öffentlichkeit spiegelt sich also abermals die problematische Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen wider.
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zusammenhänge, in denen sie angeführt werden, weder epistemisch noch ethisch autoritär sind. (…) Im Unterschied zur Habermasschen Vorstellung wird jedoch dieser Anspruch als eine Forderung nicht nach profanen, sondern nach gemeinsamen Gründen und als ein Verbot nicht gegen religiöse, sondern gegen autoritäre Gründe gedeutet« (Cooke 2007b, 360).
Nur dort, wo Gründe autoritär vorgebracht werden, kommt die demokratische Gesellschaft in der Argumentationslinie von Mave Cooke an ihre Grenzen, nicht aber wenn sie religiöse Argumente in der Öffentlichkeit bzw. politischen Praxis zulässt. Habermas kann damit einerseits zugestimmt werden, dass moderne Gesellschaften auf eine vitale Öffentlichkeit und ein deliberatives Verständnis von Demokratie angewiesen sind, die kritisch gegenüber allen autoritär vorgetragenen Äußerungen sein sollte. Um diese autoritären Gründe auszuschließen, muss aber andererseits nicht der Bezug auf das Absolute oder Transzendente selbst eliminiert werden, weil dieser Bezug nicht notwendig autoritär ist. 44 Habermas braucht also für den Bereich der politischen Praxis nicht notwendig eine postreligiöse Sicht, »um den epistemischen und ethischen Autoritarismus zu vermeiden, der sich auch aus der Warte seines Begriffs des nachmetaphysischen Denkens als verwerflich darstellt; folglich braucht es ein nichtautoritäres Rechtfertigungsmodell, um religiöse Geltungsansprüche nicht von vornherein auszuschließen« (Cooke 2007b, 365). Ein solches Verständnis von politischer Praxis setzt allerdings wiederum eine Transformation des Vernunftverständnisses voraus und schließt daher an die bereits skizzierte Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen an, durch das religiöse Überzeugungen nicht automatisch als nicht-diskursiv bestimmt werden. »Habermas will die Argumentationsbeiträge gläubiger Bürger nicht in die demokratischen Gesetzgebung- und Entscheidungsverfahren einlassen, weil er sie wegen ihres nichtdiskursiven Kerns als dogmatisch – in meiner Sprache ›autoritär‹ – auffasst. Der Ausschluss solcher Argumentationsbeiträge beeinträchtigt jedoch die politische Autonomie vieler gläubiger Bürger« (Cooke 2008, 184).
Brieskorn kritisiert in diesem Zusammenhang Habermas zu Recht: Denn mit der vehement vorgetragenen Forderung, dass Religion den Egalitarismus von Moral und Recht anzuerkennen habe, werde diese letzten Endes als »hinterwäldlerisch« (Brieskorn 2008, 47) abgetan. Dies werde allerdings der gegenwärtigen Gestalt von Religion in modernen Gesellschaften nicht gerecht.
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Mit einem an Hegel angelehnten Wahrheitsbegriff (vgl. Nagl-Docekal et al. 2008) kann der öffentliche Raum rechtfertigbarer Überzeugungen weiter gezogen werden als dies bei Habermas geschieht, weil Hegel »der Religion einen Anspruch auf Wahrheit zugesteht, der nicht inhärent autoritär ist; dadurch ermöglicht er eine Haltung gegenüber religiösen Argumentationsbeiträgen in dem demokratischen Rechtsstaat, die differenzierter ist als diejenige von Habermas« (Cooke 2008, 192; vgl. Kap. 2.3.3.). 45 Indem Bürger eine solche antiautoritäre Praxis der Rechtfertigung akzeptieren, werden sie anderen Formen autoritärer Überzeugungen automatisch skeptisch gegenüberstehen. »Citizens who internalize and practice non-authoritarian modes of reasoning reject authoritarian conceptions of practical knowledge« (Cooke 2007a, 234). Mit einer entsprechenden Transformation des Verständnisses von kommunikativer Rationalität wäre es also möglich, religiösen Aussagen innerhalb des habermasschen Theorierahmens einen höheren Stellenwert in der politischen Praxis zuzugestehen als bisher. Wichtig hierbei ist die Beobachtung, dass die Rationalität von religiösen Überzeugungen immer auf bestimmte Lebensformen und sprachliche Kontexte bezogen ist. Ihrer Rationalität wurzelt also »nicht in einer Realität, die uns interpretationsfrei, jenseits konkreter Lebens- und SprachAn anderer Stelle macht Cooke zudem deutlich, dass es gerade aus der Perspektive der Deliberation im Grunde kein wirkliches Argument gibt, solche religiösen Überzeugungen aus dem Prozess der Deliberation auszuschließen, außer wenn der allgemeinen Verständlichkeit als Kriterium eine absolute Stellung zugesprochen wird, was allerdings der Grundidee der Deliberation widerspricht. »In other words, on a dynamic model of argumentation, general accessibility cannot be construed as a requirement that has to be met by reasons prior to deliberation, for this would render the search for the right answer pointless. If Habermas wishes to uphold such a model of argumentation, therefore, the requirement of translation into a generally accessible language prior to the deliberative process makes no sense« (Cooke 2007a, 228 f.). Herta Nagl-Docekal plädiert in diesem Zusammenhang mit Rekurs auf Hegel für eine Reformulierung des habermasschen Theorems der entgleisenden Moderne, weil mit Rekurs auf Hegel die konkrete, gesellschaftlich bereits realisierte Verständigungspraxis der Religion in den Blick genommen werden kann. So betont sie im Anschluss an Hegel die Bedeutung der Gemeinde im Kontext der Religionsgemeinschaft »als Ort der Verständigung über (praktisch relevante) Wahrheit« (Nagl-Docekal 2008a, 175). Eine so verstandene Religion hat ihrer Ansicht nach ein großes Potenzial, die Gefahren einer entgleisenden Moderne zu überwinden sowie eine Polarisierung von Fundamentalismus und Moderne zu entschärfen (vgl. zur Bedeutung der hegelschen Religionsphilosophie den Band von Nagl-Docekal et al. 2008; vgl. Schmidt 2000).
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gemeinschaften zugänglich« (Schmidt 2008b, 212) ist. Innerhalb des komplexen Gewebes lebensweltlich verankerter Überzeugungen können religiöse Aussagen vielmehr erkenntnistheoretisch gerechtfertigt sein. Zentral ist, dass sie kommunikativ in einen diskursiven Austausch mit anderen Überzeugungen gebracht werden. Religiöse Überzeugungen verlieren »in diesen Prozessen der Rechtfertigung nicht notwendig die Eigenschaften der Gewissheit und Unmittelbarkeit. Sie werden aber in ein kohärentes Verhältnis zu anderen, säkularen Überzeugungen gestellt« (Schmidt 2008b, 216 f.). 46 Entscheidend ist ihre intersubjektive Rechtfertigung in einem kommunikativen Prozess, was auch an die habermassche Forderung nach wechselseitiger Übersetzung anschlussfähig ist. Insofern könnte man mit dem Konzept der kommunikativen Rationalität ein Verständnis politischer Praxis begründen, welches den weltanschaulich gefärbten Überzeugungen einen gleichberechtigten Platz im Spiel der pluralen Meinungen zugesteht (vgl. Striet 2008). Aus den vorangegangenen Überlegungen zur politischen Öffentlichkeit wird Folgendes deutlich: Auch wenn die deliberative Demokratie auf der Pluralität von politischen Meinungen basiert, wird diese Pluralität von Habermas selbst letztlich zu gering gewichtet. Diese Einschätzung ist in seiner strikten Trennung von Moral und Ethik begründet. Damit werden politisch relevante Positionen als Teil der Ethik in den privaten Bereich abgeschoben und können keine konstruktive Wirkung mehr in der praktischen Deliberation ausüben. Mit dem Modell der kommunikativen Vernunft ist dies jedoch im Grunde unnötig. Wird die Trennung von Moral und Ethik zurückgenommen und werden weltanschaulich begründete Überzeugungen als vernünftig zum öffentlichen Diskurs zugelassen, so könnten diese berechtigterweise Teil der Deliberation sein. Gerade für eine entgleisende Demokratie in Weil Gläubige gleichzeitig auf religiöse und säkulare Überzeugungen rekurrieren, macht es keinen Sinn, sie nur auf ein postmetaphysisches Verständnis von Politik festzulegen: »However, Habermas’ secularist interpretation of the principle of neutrality means that only those citizens who are committed to a postmetaphysical interpretation of validity are able, in principle, to understand their subjection to laws and political decisions as a matter of rational insight and, thus, to see these laws and decisions as legitimate in a context-transcending, epistemic sense. Even in contemporary liberal democracies, many religious believers do not fall into this category: their conception of legal-political validity is not ›innerworldly‹ but ›otherworldly‹, referring to a source of validity beyond history and context« (Cooke 2007a, 231).
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Zeiten global-pluraler Konstellationen wäre eine solche konstruktive Einbindung weltanschaulich geprägter Meinungen wichtig und sinnvoll.
3.2. Liberale Begrenzung von Religion (R. Rorty) 3.2.1. Pragmatismus und die liberale Ironikerin Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere war Richard Rorty fest verwurzelt in der analytischen Philosophie US-amerikanischer Provenienz. Nach seinen Studien in Chicago, Yale und Princeton bei den philosophischen Größen der analytischen Philosophie seiner Zeit galt er als einer der ambitioniertesten Nachwuchsphilosophen auf diesem Gebiet. Die Reflexion der analytischen Philosophie über eine möglichst exakte universale Sprache lehnte er allerdings mehr und mehr ab. Gleichzeitig wendete er sich der Tradition des Pragmatismus von James und Dewey zuwendet. Rorty wurde damit zu einem der wichtigsten Vertreter des Pragmatismus mit liberalem Einschlag des späten 20. Jahrhunderts. Seine Position ist gekennzeichnet durch eine radikale Kritik an traditionellen Wahrheitstheorien wie metaphysischen Modellen. Stattdessen argumentiert er für eine philosophische Grundhaltung der liberalen Ironie. 47 Grundannahme Rortys ist dabei, dass es nicht nur eine exakt fassbare Wahrheit gibt, sondern dass Wahrheit im Plural gedacht werden muss. Weil Menschen keinen letzten Zugriff auf Wirklichkeit haben und deshalb Wahrheiten untereinander nicht mehr endgültig abwägen können, sind sie automatisch auf die Wahrheit verwiesen, die sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte und Kultur für am plausibelsten halten. In Der Spiegel der Natur (Rorty 1981) legt Rorty seine pragmatistische Erkenntniskritik in systematischer Form vor. In Kontingenz, Ironie und Solidarität (Rorty 1989) entTypisch für Rortys Philosophieren ist seine provokative Art und Weise des Denkens und Schreibens, die über die Jahre hinweg zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen hat. Nicht zuletzt weil Rorty keiner Diskussion aus dem Weg gegangen ist, bilden viele Veröffentlichungen diese Debatten ab, beispielsweise der Band mit Donald Davidson zur Wahrheitsfrage (vgl. Davidson/Rorty 2005) oder der Band Hinter den Spiegeln (Rorty 2001c), in dem sich Kritiker zu unterschiedlichen Facetten seines Ansatzes äußern und Rorty diesen antwortet.
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wickelt er seine Position weiter und betont insbesondere die Verknüpfung der Wahrheits- und Metaphysikkritik mit dem Liberalismus, der das Zentrum seiner politischen Philosophie bildet. Die traditionelle Metaphysik im Allgemeinen und die metaphysischen Implikationen der analytischen Philosophie im Besonderen bieten seiner Meinung nach nur eine Scheinsicherheit und berücksichtigen nicht, dass alles menschliche Sprechen und Denken kontextgebunden und damit relativ ist (vgl. Rorty 1989, 34 ff.). Die Entscheidung, mit welchen Aussagen Menschen die Welt beschreiben, wird deshalb nicht durch etwas außerhalb des Menschen ›wahr gemacht‹, sondern sie hängt von den Sprachen und kulturellen Kontexten des erkennenden Menschen ab und damit von einem »Netz von kontingenten Beziehungen« (Rorty 1989, 80). Dies bedeutet nicht, dass Wahrheit durch ein inneres (beispielsweise emotionales) Kriterium ersetzt werden kann, sondern dass es überhaupt keine sinnvollen Maßstäbe gibt, anhand derer Wahrheitsfragen entschieden werden können. Wahrheit versteht Rorty in Anlehung an Nietzsche als »ein bewegliches Heer von Metaphern« (Rorty 1989, 58). Der Metaphysiker will allerdings an Wahrheit festhalten, sucht nach zeitlosen Argumenten und will damit den scheinbar sicheren Pfad der Philosophie gehen, so Rortys Vorwurf. Philosophie sollte seiner Ansicht nach »den Versuch aufgeben, für beruhigende Gewissheit zu sorgen« (Rorty 1994a, 24), denn es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur kontingente Wirklichkeit. »Worüber haben unsere Vorfahren gesprochen? War Aristoteles mit seiner Einteilung der Bewegung in eine natürliche und eine gewaltsame im Irrtum? Oder sprach er über etwas anderes als wir, wenn wir über Bewegung sprechen? Gab Newton richtige Antworten auf Fragen, die Aristoteles falsch beantwortet hatte? Wir erwarten (…) deshalb hierauf endgültige Antworten, weil wir der Meinung sind, die Geschichte der Wahrheitssuche solle sich eigentlich von der Geschichte der Dichtung, der Politik oder der Mode unterscheiden. (…) Warum kann ihre Beantwortung nicht einfach davon abhängig sein, welche heuristischen Annahmen einem bestimmten histographischen Zweck dienlich sind?« (Rorty 1981, 293)
Wenn sich der Mensch dieser Einsicht bewusst wird, muss er der These von der Vielfalt der Wahrheiten zustimmen, so die Schlussfolgerung Rortys. Dieses Verständnis von Wahrheit korreliert philosophiegeschichtlich mit dem Erkenntnismodell der Romantik.
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»Wenn wir uns aber je mit dem Gedanken versöhnen könnten, dass der Großteil der Realität indifferent gegenüber unseren Beschreibungen von ihr ist und dass das menschliche Selbst durch die Verwendung eines Vokabulars geschaffen und nicht adäquat oder inadäquat in einem Vokabular ausgedrückt ist, dann hätten wir uns endlich zu eigen gemacht, was wahr an der romantischen Idee ist, dass Wahrheit eher gemacht als gefunden wird« (Rorty 1989, 27).
Diese Überlegungen zur Wahrheit haben gravierende Folgen für das Verständnis von Sprache, insofern es für Rorty kein Vokabular gibt, das einen Sachverhalt umfassend oder abschließend beschreiben kann. Die Vielfalt von möglichen Vokabularen und die Kontextgebundenheit der Ausdrucksformen der Rationalität anzuerkennen, heißt für ihn, eine Haltung der Ironie anzunehmen. Damit nimmt Rorty abermals Bezug auf eine zentrale Gedankenfigur der Philosophie der Romantik. 48 Ironie wird von ihm deshalb nicht in einem umgangssprachlichen Sinne verstanden, sondern im Anschluss an die Philosophie der Romantik als Kontingenzbewusstsein. Ironisch zu sein bedeutet, »radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular« (Rorty 1989, 127) zu haben und damit skeptisch gegenüber allen universalen Wahrheitsansprüchen zu sein. Zweierlei wird mit diesen Überlegungen zur Ironie deutlich: Erstens reiht sich Rorty in die Tradition des Pragmatismus ein. Mit Rekurs auf James ist für Rorty deshalb »Wahrheit das, woran zu glauben für uns gut ist« (Rorty 1988, 14; vgl. Kap. 2.1.1.); ob Aussagen in einem realistischen Sinne mit der Wirklichkeit übereinstimmen, interessiert ihn als Pragmatisten nicht. Seiner Ansicht nach hat er damit den Spiegel der Natur (vgl. Rorty 1981) zerstört. 49 Aussagen, die früher einmal als wahr gegolten haben, können heute falsch sein, weil sich die historischen Kontexte verändert haben, ohne dass damit ausgesagt wäre, welchen metaphysischen Wahrheitswert beide Aussagen hatten bzw. haben. Damit ist für Rorty die »Verbindung von Wahrheit und Rechtfertigung unterbrochen« (Rorty 1981, 84), weil in Diskursen Aussagen Vgl. exemplarisch die Analysen von Manfred Frank zur romantischen Philosophie und der Bedeutung der Ironie in deren epistemologischen Konzepten, unter anderem bei Schlegel oder Novalis (vgl. Frank 1989, vor allem 287–308; vgl. auch Götz 2001). 49 Rorty kritisiert damit jede Form von positivistischer Wahrheitstheorie, die einen objektiven Zugriff auf Wirklichkeit leisten will. »Rorty argues that the empiricist-positivist program, as well as its analytic critics, remain far too metaphysical, still believing in the mind as mirror, the ›glassy essence‹ which can reflect objective reality« (Isenberg/ Thursby 1985, 42). 48
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nicht mehr mit dem Wahrheitskriterium gerechtfertigt werden können, sondern nur noch dadurch, inwiefern sie sich als nützlich erweisen. Darin spiegelt sich eine zweite Einsicht wider, die in dem folgenden Zitat enthalten ist: »Der Pragmatist vertritt keine positive Theorie, die besagt, etwas sei relativ zu etwas anderem. Vielmehr geht es ihm um den rein negativen Punkt, dass wir die herkömmliche Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung fallen lassen sollten, wenn sie als Unterscheidung zwischen Wahrheit und Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (…) gedeutet wird. (…) Aber der Pragmatist vertritt keine Theorie der Wahrheit, erst recht keine relativistische« (Rorty 1988, 16).
Der Pragmatismus versteht sich also selbst nicht als eine nachmetaphysische Wahrheitstheorie, sondern betont lediglich, dass er sich für diese Fragestellung als solche nicht interessiert. Stattdessen plädiert Rorty für einen Nonfoundationalism als erkenntnistheoretische Position. Damit betont er sowohl die Unmöglichkeit eines festen Fundaments für die Wahrheitsfrage als auch die wechselseitige Abhängigkeit der kontextuellen Perspektiven auf Wirklichkeit. Rortys »critique of foundationalism is first and foremost a critique of rationalism – in particular, that form of rationalism that Rorty calls ›correspondence theory‹ or ›representationalism‹« (Owen 2001, 64). Rorty bevorzugt in dieser Argumentationslinie gegenüber dem Metaphysiker den bildenden Philosophen, der literarische Züge aufweist (vgl. Rorty 1981, 396 ff.). Der bildende Philosoph erkennt an, dass es keine absolute Wahrheit gibt – egal in welcher sprachlichen oder logischen Form – und schreibt stattdessen Satiren oder Aphorismen, die zu einem ursprünglichen philosophischen Staunen verhelfen sollen. Der bildende Philosoph reagiert schöpferisch auf die Kontingenz und versteht Philosophie als ein unabschließbares Vokabular, das immer wieder von Neuem eine ironische Beschreibung der Welt anvisiert: »Description and re-description become the philosopher’s means – and goal« (Isenberg/Thursby 1985, 45). Rortys politische Philosophie baut auf dieser grundsätzlichen Kritik metaphysischen Denkens auf. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung von öffentlich und privat, die seiner Ansicht nach heute von vielen Philosophen nicht ernst genommen wird. Deshalb wird individuelle Selbstverwirklichung oftmals zu stark mit der Öffentlichkeit verbunden. Stattdessen schlägt Rorty vor, literarische SelbstA
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erschaffungen und metaphysische Weltdeutungen im Privaten zu belassen; Menschen sollten »die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben« und sich »damit abfinden, die Forderung nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten« (Rorty 1989, 14). Er bewertet damit das Private nicht grundsätzlich gering, sondern betont, dass aus diesem Bereich keine politischen Forderungen abgeleitet werden können. Im Privaten erschaffen Menschen ihre eigene Wahrheit, aber sie sollten nach Rortys Ansicht nicht so tun, als ob es sich hierbei um verallgemeinerbare Wahrheiten handele, aus denen politische Schlussfolgerungen abgeleitet werden könnten. Es gibt nach Rorty keine universalisierbaren oder gar metaphysisch begründbaren Einsichten in das Wesen des Menschen oder in grundlegende Werte, die als normative Orientierung für das politische Feld fungieren könnten (vgl. Rorty et al. 2011). »What distinguishes Rorty’s rejection of metaphysics most sharply from the Enlightenment’s rejection is that Rorty ceases to aspire to being scientific. Rorty does not claim to offer universally valid insights into what human beings can know, what they want, or how they can secure what they want, as had the early modern critics of scholasticism« (Owen 2001, 45).
Politische Forderungen können für Rorty also nicht in einer metaphysisch fundierten Gesellschaftsdeutung oder in objektiven Werten begründet werden, sondern nur in der allen Menschen gemeinsamen Erfahrung, dass Grausamkeit das Schlimmste ist, was Menschen einander antun können. Solche Grausamkeiten wollen Menschen überall auf der Welt überwinden; sie sind solidarisch mit denen, die leiden. Solidarität ist dabei nicht ein metaphysisch gedachtes Wiedererkennen des Menschlichen in allen Menschen, sondern »die Fähigkeit, immer mehr zu sehen, dass traditionelle Unterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen Unterschiede) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung« (Rorty 1989, 310). Er selbst hält die liberal-demokratische Staats- und Gesellschaftsform für den geeignetsten politischen Ausdruck von Solidarität und Leidüberwindung. Diese politische Gestalt von Solidarität ist zwar historisch kontingent, aber sie ist heute die sinnvollste und effektivste Möglichkeit, mit dem umzugehen, was Menschen in der Öffentlichkeit als Leiden erfahren. Wer dies anerkenne, sei ein wahrhaft Liberaler, so Rortys Schlussfolgerung. 132
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»Liberalism is simply the name for the way we conduct our social and political life in modern Western societies. We do so not thanks to Nature or God, but thanks simply to the sort of people we happen to be. This, Rorty believes, makes for a relatively more secure liberalism. Liberalism, then, is ethnocentric – a fundamentally closed society« (Owen 2001, 77 f.).
Um sein Verständnis von Liberalismus zu verdeutlichen, grenzt sich Rorty von anderen liberalen Autoren wie beispielsweise Rawls ab. Rawls möchte, so Rorty, Gründe anführen, wieso man eine Gesellschaft nach einem allgemeingültigen philosophischen Prinzip (Gerechtigkeit) bewerten und organisieren sollte. Er wünscht sich dafür ein Vokabular, das »nicht durch eine Unterscheidung von öffentlich und privat in der Mitte zerrissen ist« (Rorty 1989, 157) und das der Forderung nach Solidarität und Leidüberwindung einen theoretischen Unterbau gibt. In Absetzung hiervon entwirft Rorty die Figur der liberalen Ironikerin als philosophisches Leitbild. »Die liberale Ironikerin möchte nur, dass unser Chancen, freundlich zu sein und die Demütigung anderer zu vermeiden, durch Neubeschreibung erhöht werden. Sie meint, die Erkenntnis, dass uns die Verletzbarkeit durch Demütigung gemeinsam ist, sei das einzige soziale Band, das wir brauchen. Während der Metaphysiker die Beziehung seiner Mitmenschen zu einer höheren Macht, die alle anerkennen – Rationalität, Gott, Wahrheit oder Geschichte –, für das moralisch relevante Charakteristikum hält, nimmt die Ironikerin an, dass die moralisch relevante Definition einer Person (…) heiße: ›etwas, das gedemütigt werden kann‹« (Rorty 1989, 156).
Die westliche Demokratie und in besonderer Weise die Menschenrechte sind Ausdruck dieses liberalen Denkens – Rortys eigenem historisch-kulturellen Kontext. Dabei gibt es für ihn konsequenterweise keine metaphysische Letztbegründung der Menschenrechte, sondern sie stellen vielmehr eine ethnozentrisch bedingte Anleitung zur Leidüberwindung dar (vgl. Rorty 2000b, 241 ff.). Theoretische Diskussionen über die Begründung der Menschenrechte sind daher seiner Meinung nach nicht zielführend. Die politische Philosophie sollte den Menschen nicht durch solche ahistorischen Wahrheiten entlasten, sondern zu verantwortlichem Handeln ermutigen, wofür Menschenrechte eine Hilfe sein können. 50 In diesem Zusammenhang stellt Rorty häufig einen grundlegenden Unterschied zu Habermas heraus, der zwar auch in einem nachmetaphysischen Sinne skeptisch gegenüber traditionellen Wahrheitstheorien ist, der aber mit der Argumentationsfigur der
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Beispielhaft zeigt sich Rortys Konzeption der liberalen Ironikerin an seinen Beiträgen zu Themenfeldern wie Globalisierung und Krieg gegen den Terror nach dem 11. September. Rorty hat es (in seiner Verantwortung als liberaler Ironiker) als seine Pflicht angesehen, sich in diese öffentliche Diskussion einzubringen. 51 Seine Position ist dabei weniger ein kohärenter Argumentationsgang als der Versuch, in sich verändernden weltgesellschaftlichen Konstellationen die Idee der liberalen Ironikerin jeweils neu auszubuchstabieren. Im Februar 2002 sympathisiert Rorty zuerst mit 60 amerikanischen Wissenschaftlern (unter anderem Michael Walzer, Francis Fukuyama, Samuel P. Huntington), die in einem öffentlichen Statement unter dem Titel What we are fighting for (vgl. Institute for American Values 2002) den Afghanistankrieg als einen moralisch gerechtfertigten Krieg auslegen. Rorty greift in seinen Äußerungen deren Intention auf, betont allerdings, dass es ihm weniger um die moralische Rechtfertigung des Krieges gehe (womit nur nach letzten Wahrheiten gesucht werde), sondern um die Verbreitung westlichen Denkens und den Einsatz für Menschenrechte, die beide notfalls mit Gewalt zu verteidigen seien (vgl. Rorty 2001b). Ziel zukünftiger Politik ist für ihn eine Verwestlichung der Welt und damit die Ausbreitung des Liberalismus (vgl. Rorty 2003a). Mit Feinden des Liberalismus könne und müsse man dabei nicht solidarisch sein, so Rortys provokante Schlussfolgerung. Aus dieser Haltung heraus begründet sich auch eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg, denn letztlich hilft Rortys Ansicht nach ein solcher interkultureller Dialog wenig, um Leid zu mindern.
kommunikativen Rationalität wiederum eine universale Begründungsfigur in seinen Ansatz integriert. Habermas, so argumentiert Rorty, »meint, es sei essentiell für eine demokratische Gesellschaft, dass ihr Selbstbild den Universalismus und eine Form des aufklärerischen Rationalismus inkarniere. Er hält seine Darstellung der ›kommunikativen Vernunft‹ für eine Möglichkeit, den Rationalismus wieder aktuell zu machen. Ich will weder Universalismus noch Rationalismus aktualisieren, vielmehr beide auflösen und durch etwas anderes ersetzen« (Rorty 1989, 120), und zwar durch die Konzeption der liberalen Ironikerin. 51 Vgl. die zahlreichen Publikationen von Rorty in deutschsprachigen Zeitungen, unter anderem zur Rolle Europas gegenüber den USA in einer globalisierten Welt (Rorty 1988), die problematischen innenpolitischen Auswirkungen des Kampfes gegen den Terror (Rorty 2003b) oder zur Frage der Legitimation und den weltpolitischen Auswirkungen des Irakkrieges (Rorty 2003a; ders. 2003d).
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»Ich verspreche mir nichts von solch einem Dialog. In den zwei Jahrhunderten seit der Französischen Revolution ist in Europa und Amerika eine säkulare humanistische Kultur gewachsen, in der viele gesellschaftliche Ungleichheiten beseitigt wurden. Es gibt noch viel zu tun, aber der Westen ist grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Ich glaube nicht, dass er von anderen Kulturen etwas zu lernen hat. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, den Planeten zu verwestlichen« (Rorty 2001b, 15). 52
Demgegenüber steht allerdings noch eine andere Facette des Ansatzes von Rorty, die sich insbesondere mit Blick auf seine Kritik an den politischen Entwicklungen in den USA in Zeiten des Terrors zeigt. Eine der gravierenden politischen Folgen des internationalen Terrorismus ist nämlich die Reaktion der westlichen Welt darauf, die vor allem in innenpolitischer Hinsicht ein Angriff auf grundlegende Freiheitsrechte in liberalen Demokratien darstellt. Der »Verdacht, der Krieg gegen den Terror sei potenziell gefährlicher als der Terrorismus selbst« (Rorty 2004), ist für ihn vollständig gerechtfertigt, denn vor allem in den USA legt der Staat große Härte an den Tag und untergräbt damit die Trennung von privat und öffentlich, für die Rorty so leidenschaftlich eintritt. Der Patriot Act der Bush-Regierung gleicht für ihn einem Zukunftsszenario von Überwachung und Zensur à la George Orwells Big Brother-Staat (vgl. Rorty 2004). Dadurch laufen demokratische Institutionen Gefahr, fragil zu werden. Die USA vergessen in dieser Hinsicht ihre eigene liberale Tradition und werden zum Tyrannen, so die provokative Schulssfolgerung Rortys. Deshalb votiert Rorty so vehement dafür, das Private zu schützen und mit den Menschen solidarisch zu sein, die aufgrund der Missachtung der Trennung von Privatem und Öffentlichem Leid erfahren.
Rortys Forderungen für einen interreligiösen Dialog fallen in eine ähnliche Richtung deutlich aus: Religionsvertreter sollten nicht länger dem Konzept der liberalen Ironikerin misstrauen, sondern dieses als Ziel zukünftiger Politik annehmen: »Wir können dem Rest der Welt immer noch sagen: Schickt eure Leute auf unsere Universitäten, macht euch mit unseren Traditionen vertraut und ihr werdet schließlich die Vorteile einer demokratischen Lebensweise erkennen« (Rorty 2006, 85).
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3.2.2. Rortys Religionskritik und romantische Hoffnung 3.2.2.1. Antiklerikalismus als liberale Religionskritik Rortys Religionsverständnis muss vor dem Hintergrund seiner Kritik an Wahrheitstheorien und der damit korrespondierenden Bedeutung des Liberalismus rekonstruiert werden. Denn er ist sowohl skeptisch gegenüber den Wahrheitsansprüchen, die Religionen oftmals erheben, als auch gegenüber ihren moralischen Forderungen, die seiner Ansicht nach meist einen antiliberalen Charakter haben. Deshalb plädiert er für eine kritische Haltung gegenüber der Religion, die er in der Rede anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises 2001 als Antiklerikalismus bezeichnet. Diese Position soll zuerst rekonstruiert werden, bevor mit Blick auf frühere Publikationen ihre religionsphilosophischen Implikationen untersucht werden. Abschließend wird ein mögliches positives Religionsverständnis bei Rorty skizziert, das er selbst als romantische Hoffnung auf Liebe umschreibt (vgl. Rorty 1999, 160). 53 Atheisten, so betont Rorty in der Rede zum Meister-EckhartPreis, die in modifizierter Weise in dem Band Zukunft der Religion veröffentlicht wurde (Rorty 2006), argumentieren oftmals vor dem Horizont einer traditionellen Metaphysik gegen Gott, weil dessen Existenz eine empirisch nicht belegbare bzw. überprüfbare These sei. Rorty hält dieses Argument vor dem Hintergrund seines Wirklichkeits- und Sprachverständnisses für verfehlt, weil diese These ein ungenügendes Wahrheitsverständnis impliziert. Es gibt Rortys Ansicht nach keine objektiven Wahrheitsaussagen über Wirklichkeit, und deshalb sei sowohl ein Beweis der Existenz wie Nichtexistenz Gottes von vornherein zum Scheitern verurteilt (Rorty 2006, 37 ff.). Die Argumente für oder gegen die Existenz Gottes hält er deshalb für gleichermaßen unbegründet. Rorty bezeichnet seinen Ansatz, den er von beiden Positionen abgrenzt, als Antiklerikalismus. Diese Position bringt zunächst eine grundlegende Skepsis gegenüber dem metaphysischen Denken der Religion zum Ausdruck, wie es sich beispielsweise in Schöpfungstheologien findet. Mit solchen theologischen Annahmen vertreten Religionen metaphysische Positionen mit universalem Geltungsanspruch, obwohl auch religiöse Aussagen aus Sicht des Pragmatismus keinen Für eine knappe Skizze der Entwicklungsschritte, die Rorty zu der Beschäftigung mit dem Thema Religion geführt haben, vgl. die Analysen von Jason Boffetti (2004).
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metaphysischen Wahrheitsanspruch mehr erheben können (vgl. Kuipers 2013). Aussagen über Gott als das höchste Seiende, als summum bonum oder Schöpfer der Welt, sind für Rorty als metaphysische Aussagen sinnlos. 54 Damit wird die Kritik an jeder Form von Wahrheitstheorie zur Grundlage seiner Reflexion der Rolle von Religion in liberalen Gesellschaften. »Um die Religion vor der Onto-Theologie zu retten, muss man das Bedürfnis nach universeller intersubjektiver Übereinstimmung schlicht als ein menschliches Bedürfnis unter anderen begreifen, als eines, das nicht automatisch alle anderen aussticht. Diese Auffassung teilen Nietzsche und Heidegger mit James und Dewey« (Rorty 2006, 43).
Religiöse Aussagen machen für Rorty nur als individuelle Selbsterschaffung Sinn. Er interpretiert sie als literarische Aussagen im Kontext privater Weltdeutungen, also ohne jeden Allgemeinheitsanspruch. »Religious beliefs, therefore, are and should be maintained as private matter« (Reece 2002, 84). Hierin spiegelt sich die liberale Trennung von privat und öffentlich wider; sein Religionsverständnis erweist sich deshalb »geradezu als Paradigma einer grundsätzlichen Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem« (Kleemann 2007, 30). Religiöse Bürger neigen allerdings dazu, die philosophischen Einsichten des Pragmatismus und Liberalismus zu unterlaufen, denn ihre Überzeugungen implizieren nicht nur metaphysische oder anthropologische Annahmen (zum Beispiel ein bestimmtes Menschenbild, das aus der Ebenbildlichkeit Gottes begründet wird), sondern die Gläubigen leiten daraus auch normative Imperative ab. Damit überschreiten Religionen nicht nur die Grenze zwischen privat und öffentlich, sondern nehmen außerdem philosophisch nicht rechtfertigbare Universalisierungen normativer Aussagen vor. 55 Sie stellen somit – dies formuliert Rorty immer wieder in teils provokativer Weise – einen Angriff auf die liberale Ordnung dar. Diese Kritik richtet sich ganz besonders an die Institutionen der Weltreligionen. Hierin spiegeln sich Signaturen der analytischen Religionsphilosophie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihrer Diskussion über die Sinnlosigkeit religiöser Aussagen (vgl. Kap. 2.2.). 55 Rorty argumentiert, dass geschichtlich betrachtet insbesondere die christlichen Religionen vor der Entscheidung standen, ihre Überzeugungen als ein soziales Evangelium zu deuten oder aber an eine starke Metaphysik zu binden. »Wie die Dinge lagen, waren die christlichen Kirchen jedoch nach wie vor besessen von der platonischen Idee, Wahrheit und Gott seien eins« (Rorty 2008b, 66). 54
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»Der Antikleriker vertritt die Auffassung, dass kirchliche Institutionen trotz allem Guten, das sie tun – trotz all dem Trost, den sie den Bedürftigen und Verzweifelten spenden – die Gesundheit demokratischer Gesellschaften gefährden. (…) Unserer Auffassung nach ist nichts gegen die Religion einzuwenden – solange kirchliche Institutionen nicht versuchen, die Gläubigen für politische Forderungen zu mobilisieren und solange Gläubige und Nichtgläubige darin übereinkommen, miteinander nach dem Motto ›leben und leben lassen‹ umzugehen« (Rorty 2006, 38).
Die Position des Antiklerikalismus, die Rorty entfaltet, versteht Religion also als eine Gefährdung des demokratischen Liberalismus. Rorty treibt die Sorge an, dass die Betonung von Rechtgläubigkeit schlussendlich zu autoritären Strukturen führt und sich damit die »Religion in den Händen klerikaler Religionsführer zu außerreligiösen Zwecken instrumentalisieren« (Kleemann 2007, 31) lässt. Im Privaten haben religiöse Äußerungen ihre Berechtigung, zur Begründung ihrer Geltungsansprüche gibt es aber keine andere Instanz als das subjektiv Innere des Menschen. Zwei Gründe, so lassen sich die vorangegangenen Überlegungen zusammenfassen, sprechen Rortys Ansicht nach besonders für diese Position: Erstens implizieren Religionen vor dem Hintergrund des Pragmatismus problematische erkenntnistheoretische und metaphysische Annahmen, die für Rorty in ihrer universalen Stoßrichtung heute nicht mehr plausibel begründet werden können. Zweitens leiten die organisierten Religionsgemeinschaften daraus bestimmte normative und politische Forderungen für den konkreten öffentlichen Diskurs ab, was er vor dem Hintergrund seines Demokratieverständnisses und der strikten Trennung von privat und öffentlich ebenfalls für gefährlich hält (vgl. Dann 2011, 41). Die Kombination aus beiden Gründen lässt Rorty besonders pointiert auf die neue Aufmerksamkeit für Religion in Öffentlichkeit und Wissenschaft mit seiner These des Antiklerikalismus reagieren. 3.2.2.2. Religion als conversation stopper im öffentlichen Raum Im öffentlichen Raum sind Religionen vor allem deshalb gefährlich, weil sie sich nicht auf das liberale Spiel der Meinungen im öffentlichen Diskurs einlassen, sondern ihren Mitgliedern eindeutige Positionen vorschreiben, so der Vorwurf von Rorty. Religionen haben vor allem Probleme mit Diskursen, in denen politische Entscheidungen unabhängig von metaphysischen, anthropologischen oder ethischen Vorannah138
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men gefällt werden. Rorty bezeichnete Religionen deshalb in einem seiner ersten Artikel als conversation stopper: »The main reason religion needs to be privatised is that, in political discussion with those outside the relevant religious community, it is a conversation stopper« (Rorty 1994b). 56 Hinsichtlich vieler gesellschaftlicher Fragen, beispielsweise der Bioethik oder Sexualmoral, hält er der Religion vor, dass sie rein private Entscheidungen für alle verbindlich regeln lassen will, dafür aber keine im säkularen Diskurs einsichtigen Argumente vorbringen kann. Ihre Argumente seien in säkular-liberalen Kontexten weder verständlich noch sinnvoll verhandelbar, womit Religion grundlegende Imperative des Liberalismus unterlaufen würde. Im Privaten kann wiederum religiöse Freiheit gewahrt werden: Ob sich beispielsweise religiöse Bürger für oder gegen eine Abtreibung entscheiden, kann als eine freie, religiös begründete Entscheidung des Einzelnen interpretiert werden. Wenn also Religion im Privaten verortet wird, garantiert dies auch religiöse Freiheit, so das Argument von Rorty. Der politische Liberalismus will den öffentlichen Diskurs von solchen privaten, weltanschaulich geprägten Annahmen freihalten und damit keine Beschränkungen für das politische Feld aufstellen. »A speakers depth or spirituality is [no] more relevant to her participation in public debate than her hobby or hair colour« (Rorty 1994b, 4). Gläubige tun sich nach Rorty oft schwer, dies zu akzeptieren, und argumentieren immer wieder für eine rigorose Übertragung privat-religiöser Überzeugungen in politisch-öffentliche Debatten. Damit erheben sie für ihre privaten Ansichten zur individuellen Lebensgestaltung in der Öffentlichkeit nicht rechtfertigbare Geltungsansprüche; teilweise wollen sie ihre Überzeugungen sogar in allgemeines Recht überführen. »Thinking a political view has to be accepted because one believes it to be the will of God would be of no interest to people in the public square. The public square is a place for democratic, not theocratic, political debate« (Dann 2006, 65). Dieser Artikel ist eine Auseinandersetzung mit den Überlegungen von Stephen L. Carter, der diese 1993 unter dem Titel The culture of disbelief veröffentlichte (Carter 1993). Der Untertitel der Studie (How American law and politics trivialize religious devotion) bringt zum Ausdruck, dass Carter gegenüber einem Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Diskurs skeptisch ist. Stattdessen spricht er der Religion eine wichtige Funktion im Staat zu. Der Staat dürfte nicht aufgrund einer überzogenen Betonung seiner Neutralität die Freiheit der Bürger zu einer weltanschaulich geprägten Beteiligung am öffentlichen Leben unterminieren, so seine Schlussfolgerung.
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Genau einer solchen Beschränkung der öffentlichen Reichweite religiöser Überzeugung entziehen sich allerdings religiöse Bürger. Dies liegt zum Teil daran, dass sie ihre moralischen Überzeugungen grundlegender mit ihrer religiösen Identität verwoben sehen, als dies bei Atheisten der Fall ist. Diese Ansicht sieht Rorty bei Carter gegeben: »Carter seems to think that religious believers’ moral convictions are somehow more deeply interwoven with their self-identity than those of atheists with theirs. He seems unwilling to admit that the role of the Enlightenment ideology in giving meaning to the lives of atheists is just as great as Christianity’s role giving meaning to his own life« (Rorty 1994b, 5).
Einige Jahre später greift Rorty diese Argumentation in dem Artikel Religion in the public square (Rorty 2003c) auf und entwickelt sie in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen von Nicholas Wolterstorff weiter. 57 Dieser hatte gegen Rorty eingewendet, dass Religionen geschichtlich betrachtet nicht nur eine Anleitung zu individueller Selbsterschaffung gewesen seien, sondern auch enorme soziale Veränderungen angestoßen hätten, beispielsweise den Kampf gegen Unterdrückung oder soziale Ungerechtigkeit. »Yes indeed, religion is sometimes a menace to the freedoms of a liberal society. But the full story of how we won the freedoms we presently enjoy would give prominent place to the role of religion in the struggle; the good that religion does is not confined to providing, in Rorty’s words, comfort ›to those in need or in despair‹. Has the prominent role of religion in the American civil rights movements already been forgotten? Has its prominent role in the revolutions in South Africa, Poland, Romania, and East Germany already
Vgl. zur Charakterisierung dessen Position zum Beispiel Wolterstorff (2008). Dort kritisiert Wolterstorff das Verständnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs im Liberalismus, aus dem sowohl eine Verankerung der Religion im Privaten als auch ein Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs gefolgert wird – eine Kritik, die bereits in der Auseinandersetzung mit Habermas deutlich wurde (vgl. Kap. 3.1.3.5.). »Wolterstorff kritisiert vor allem die nach seiner Meinung von allen Theoretikern des politischen Liberalismus geteilte Voraussetzung, die hinter dem Begriff der öffentlichen Vernunft verborgen steckt. Es handelt sich dabei um die Idee eines kognitiven Zugangs zu einer homogenen menschlichen Natur, die von unseren umfassenden Überzeugungen, also von der jeweiligen Bildung und Tradition, unabhängig sei. Nach seiner Auffassung stellt diese Idee eine Art der Wiedergeburt mittelalterlicher Vorstellungen von Homogenität dar, wonach gesellschaftliche Gerechtigkeit und Stabilität nur unter der Voraussetzung einer gemeinsamen und einheitlichen Theologie und Moralität möglich sei« (Schmidt/ Parker 2008, 13).
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passed into amnesia?« (Wolterstorff 2003, 133; vgl. außerdem Wolterstorff 2012)
Rorty stimmt Wolterstorff zu, dass Religionen historisch betrachtet teilweise Solidarität und Leidüberwindung befördert hätten. Wenn sie dies täten, so gesteht Rorty zu, dürften Religionen in öffentlichen Diskursen ihre Argumente vorbringen, beispielsweise wenn sie ihren Einsatz für soziale Gerechtigkeit als Konsequenz ihres Glaubens oder mit Verweis auf die Lektüre heiliger Schriften begründeten. Aber gleichzeitig will er die Reichweite und Geltung dieses Engagements nach wie vor stark begrenzen. »So, instead of saying that religion was a conversation-stopper, I should have simply said that citizens of a democracy should try to put off invoking conversation-stoppers as long as possible. We should do our best to keep the conversation going without citing unarguable first principles, either philosophical or religious« (Rorty 2003c, 148 f.).
Mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse der USA betont Rorty, dass einige Vertreter von Religionsgemeinschaften über die Grenze der liberalen Leidüberwindung hinausgingen und ihre Argumente ungerechtfertigter Weise verabsolutieren. Er verdeutlicht dies am Beispiel der Stellung Homosexueller in den USA, die teilweise selbst religiös sind (Rorty 2003c, 144 ff.). Für diese Menschen, so Rorty, erscheine es alles andere als verständlich, dass von den offiziellen Vertretern einiger Religionsgemeinschaften ausschließlich religiöse Argumente gegen eine Liberalisierung der Heirat von Homosexuellen vorgebracht würden. »They are struck by the fact that religious reasons are now pretty much the only reasons brought forward in favour of treating them with contempt« (Rorty 2003c, 146). Eine solche Verabsolutierung religiöser Argumente geht Rorty entschieden zu weit. Deutlich wird an diesen Ausführungen, dass Rorty vor dem Hintergrund eines politischen Liberalismus mit der Position des Antiklerikalismus vor allem eine grundlegende Skepsis gegenüber kirchlichen Organisationen zum Ausdruck bringt. Letztere sind seiner Ansicht nach diejenigen, welche oftmals als conversation stopper fungieren und, einer eigenen Machtlogik folgend, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität eher behindern als fördern. »History suggests to us, that such organisations will always, on balance, do more harm that good« (Rorty 2003c, 142). Hierin sieht Rorty den zentralen Unterschied zu Wolterstorffs Position, der die negativen Wirkungen religiöA
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ser Institutionen deutlich geringer veranschlagt als er. 58 Deshalb fokussiert Rorty auch und vor allem auf die Differenz zwischen dem Glauben und den religiösen Institutionen, die zu einem Merkmal säkularer Gesellschaften geworden ist. Denn viele religiöse Bürger sind längst Teil der liberalen Kultur, erkennen deren Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität an und haben deswegen große Schwierigkeiten, wenn religiöse Organisationen Themen wie Sexualmoral oder Homosexualität in der skizzierten Weise, die Rorty für nicht berechtigt hält, in den Mittelpunkt öffentlicher Diskurse stellen. 59 3.2.2.3. Vorrang des Sozialen vor der Frage nach der Existenz Gottes Rortys Fokus bei der Reflexion über die gesellschaftliche Rolle von Religion ist, wie bislang skizziert, vor allem ein religionskritischer. Besonders kritisiert er in diesem Zusammenhang die Institutionen der Religionsgemeinschaften, die einen metaphysischen Universalismus vertreten und die Trennung von Privatem und Öffentlichem missachten. Religion kann für Rorty aber weder in einer metaphysischen Wahrheit noch in einem natürlichen religiösen Bedürfnis verankert werden, sondern sie ist ein Kulturprodukt, das Orientierung bei der individuellen Selbsterschaffung bietet. Nicht »das Streben nach Wahrheit oder das Streben nach Gott [sind] in allen menschlichen Organis-
Zwar haben Religionen immer auch derartige Leidüberwindungen und Solidaritätsprozesse unterstützt, aber – und hier wird der Ton wieder polemisch – »occasional Gustavo Guttierez or Martin Luther King does not compensate for the ubiquitous Joseph Ratzinger and Jerry Falwells« (Rorty 2003c, 142). 59 Wolterstorff sieht seinerseits hierin eine verkürzte Sicht auf Demokratie, weil Rorty skeptisch gegenüber der freien Wahl von Weltanschauungen als Grundprinzip der Demokratie sei. Der Fokus auf Religion als conversation stopper verdeckt seiner Ansicht nach das eigentliche Problem. Rorty lasse keine Wahl zu, in denen sich weltanschauliche Meinungen ohne Zwang durchsetzen können. »There is, after all, a perfectly familiar, and to my mind admirable, procedure in liberal democracies for reaching a decision on some political issues, when we find ourselves still disagreeing after we have debated – as we almost always do. We take a vote. In Rorty, Rawls, Audi, Larmore, and their cohorts, there is an implicit dislike for a procedure that I regard as belonging to the very essence of a democracy, viz., voting. I do not understand it. Of course the voting procedure had better be a fair one; often it isn’t. But if it is fair, then what’s wrong with it? Conversation-stopping is not some appalling evil perpetrated upon an otherwise endlessly talkative public by religious people. Stopped conversation is an all pervasive feature of political debate in a democracy; and voting is a procedure for arriving at a decision of the body when conversation is stopped« (Wolterstorff 2003, 136). 58
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men ›fest verdrahtet‹«, sondern dies sind lediglich »Produkte kultureller Formierung« (Rorty 2006, 46). In seinem Aufsatz Kulturpolitik und die Frage der Existenz Gottes (Rorty 2008a) entfaltet Rorty diese Interpretation der Religion als kulturpolitisches Produkt. Damit ordnet er einerseits seinen Ansatz in die Strömung des (Neo-)Pragmatismus ein (vor allem den von Robert B. Brandom angestoßenen) und expliziert andererseits die Möglichkeiten für einen pragmatistischen Religionsbegriff, den er als romantische Hoffnung auf Liebe umschreibt (vgl. Rorty 1999). Kulturpolitik ist für Rorty in diesem Zusammenhang der Diskurs einer Gesellschaft darüber, welches Vokabular in der Öffentlichkeit zugelassen werden sollte. An die Stelle der metaphysischen Frage nach Gott tritt damit die kulturelle Frage, welchen Stellenwert Gesellschaften der Religion in der Öffentlichkeit einräumen wollen. Ein mögliches pragmatistisches Religionsverständnis, das Rorty vor Augen hat, ist also wiederum eines, das jeden Anspruch auf Wahrheit aufgibt: »The pragmatist understanding of religion, according to Rorty, recaptures the indifference to knowledge, belief and truth of the original, pre-philosophical religious impulse« (Smith 2005, 83). Rorty greift zur Verdeutlichung dieser Überlegung auf James und Brandom zurück und betont mit diesen, dass Fragen nach der Wirklichkeit »um der sozialen Praktiken willen« (Rorty 2008a, 21) existieren und nicht umgekehrt. Brandom formuliert diese Einsicht auf Basis seiner Theorie des Interferentialismus als Vorrang des Sozialen. Behauptungen dienen danach immer dazu, bestimmte soziale Verhältnisse auszudrücken oder soziale Verantwortung zu übernehmen (vgl. Brandom 2000; ders. 2001). 60 Ob ein physischer Gegenstand oder Gott existiert, ist deshalb sekundär gegenüber der sozialen Bedeutung, dass jemand von einem Gegenstand oder Gott spricht. Entgegen der (Rortys Die Bedeutung einer Aussage ist für Brandom »nicht etwas, das der betreffenden Aussage für sich genommen zukommt; sie besteht vielmehr in inferentiellen Beziehungen zu anderen Aussagen in einem System von Aussagen, das letztlich eine gesamte Sprache umfasst. Diese Beziehungen werden in konkreten Situationen der Verwendung der betreffenden Aussage determiniert« (Esfeld 2001, 25). Brandom steht mit seiner Theorie in der Tradition des Pragmatismus, »weil sie als Ausdruck einer philosophischen Haltung verstanden werden kann, die von einem umfassenden Primat menschlicher Praxis ausgeht. Primat meint hier vor allem ein theoretisches oder begriffliches Primat: Ein philosophisches Verständnis unserer begrifflichen Aktivität hat in Begriffen menschlicher Praxis zu erfolgen« (Liptow 2002, 44).
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Deutung nach) weit verbreiteten empiristischen Grundhaltung betont er mit Rekurs auf Brandom, dass auch die Erfahrung dem Menschen nichts an die Hand gibt, »um zwischen die kulturpolitische Frage, worüber wir reden sollten, und die Frage, was wirklich existiert, einen Keil zu treiben« (Rorty 2008a, 28). 61 Kulturpolitik fragt hierbei nach dem Nutzen der Verwendung bestimmter Begriffe oder Aussagen – in diesem Fall nach dem Nutzen der Aussage ›Gott existiert‹. »Der Wandel, den Brandom herbeiführen möchte, entspricht dem Übergang von einer theistischen zu einer humanistischen Weltanschauung. Anstatt zu fragen, ob Gott existiert, haben die Menschen in den letzten Jahrhunderten zu fragen begonnen, ob es eine gute Idee ist, weiter über ihn zu reden, und welchen menschlichen Zwecken dieses Reden dienen könnte. Kurz, sie haben zu fragen begonnen, welchen Nutzen der Gottesbegriff für die Menschen haben könnte« (Rorty 2008a, 37).
Rortys Analyse des Gedankengangs von Brandom – insbesondere seiner an Hegel orientierten Deutung von nebeneinander existierenden logischen Räumen (vgl. Brandom 2000) – führt ihn wieder zu der zentralen Unterscheidung von privat und öffentlich. Rorty deutet die Frage, ob Gott existiere als eine symbolische Frage, die das einzelne Individuum für sich selber beantworten muss. Egal wie diese Antwort ausfällt, sie kann keine objektive Wahrheit im Sinne eines Übergriffs auf verschiedene logische Räume beanspruchen, »denn es gibt keinen neutralen logischen Raum« (Rorty 2008a, 45), in dem solche Fragen entschieden werden könnten. Die These, dass Gott nach einer außerordentlichen Sprache verlange ist hinfällig, weil auch diese These auf der Annahme basiert, dass es übergreifende logische Räume gibt. 62 Gegenüber solchen Annahmen ist Rorty im Einklang mit Brandom grundsätzlich skeptisch. Deshalb will er mit Rekurs auf die hegelsche These, dass jede Philosophie ein Kind ihrer Zeit sei (vgl. Hegel 1820– 1821/1986, Vorrede 26), den Versuch aufgeben, »Diskurspraktiken in einen umfassenden Rahmen zu stellen, der den Hintergrund aller Dies bedeutet allerdings nicht, dass über einen sozialen Diskurs die Existenz von etwas ›herbeigeredet‹ werden könnte. Mit Verweis auf Brandom und James benennt Rorty drei Grenzen, die hierfür leitend sind, und zwar transzendentale, praktische und kulturelle Grenzen (vgl. Rorty 2008a, 35 f.). 62 Nichlas H. Smith charakterisiert den rortyschen Rekurs auf Brandom: »Rorty generously reads Brandom as having refined this strategy still further, and he draws on Brandom’s inferentialism to argue that the preoccupation with the issue of the existence of God characteristic of theism is misplaced« (Smith 2005, 80). 61
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möglichen sozialen Praktiken bildet und eine Liste ›neutraler‹ kanonischer Designatoren enthält, die den Bereich des Existierenden ein für alle Mal abstecken« (Rorty 2008a, 51 f.). 63 Deshalb gesteht Rorty den Gläubigen sehr wohl zu, dass sie sich im Bereich der privaten Selbsterschaffung die Frage nach der Existenz Gottes stellen und diese für sich beantworten. Er hält es sogar für notwendig, dass eine liberale Gesellschaft einen privaten Raum für solche Überlegungen eröffnet und sichert, um jede Form der Diskriminierung auszuschließen. In Bezug auf die Öffentlichkeit – und vor allem im rechtlich-politischen Bereich – insistiert Rorty allerdings vehement auf den Grenzen religiöser Aussagen. Die Entscheidung, »welche sozialen Praktiken aufgegeben oder eingeführt werden sollen« (Rorty 2008a, 54), also die Kernfrage der Kulturpolitik, kann weder auf eine umfassende Metaphysik noch auf eine allgemein-menschliche Erfahrung zurückgreifen. Das einzige Kriterium für die Abwägung für oder gegen eine soziale Praktik ist wiederum ihre Nützlichkeit für das Zusammenleben der Gemeinschaft (vgl. Philström 2013). Brandoms Anregung führt Rorty dazu, »Fragen darüber, welche Sprachspiele gespielt werden sollten, als Fragen darüber zu deuten, wie es den Angehörigen demokratischer Gesellschaften am ehesten gelänge, zwischen der Verantwortung für sich selbst und der Verantwortung für ihre Mitbürger ein Gleichgewicht herzustellen« (Rorty 2008a, 55). Religiöse Sprachspiele sind Rortys Interpretation nach keine nützlichen Kandidaten dafür. Rorty bezeichnet diese Position an anderer Stelle auch als romantischen Polytheismus (Rorty 2008b, 56–81). Der Polytheist kennt Rorty zufolge Wahrheit nur im Plural, ohne eine entsprechende Wahrheitstheorie zu postulieren, die diesen Pluralismus noch einmal versöhnen könnte. Damit verfolgt Rorty also eine »Privatisierung der Dabei ist allerdings zu betonen, dass Brandom gegenüber Rorty stärker auf die (teils unreflexiven) sozialen Praktiken achtet. »Brandom’s approach is pragmatic in two senses. First, it is pragmatic in the sense that it assigns discursive practices a more basic role in the order of explanation than it assigns to the categories of semantics. (…) Second, Brandom’s approach is pragmatic in the sense that he takes the normative know-how of unreflective language-users to be more basic than the reflective expression of norms in rules« (Stout 2002, 37). Stout diskutiert in diesem Zusammenhang die Unterschiede zwischen Brandom und Rorty, besonders hinsichtlich der Frage, inwieweit die Pluralität von sozialen Praktiken und Wahrheitsansprüchen mit der jeweiligen Theorie eingeholt werden kann.
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Vervollkommnung« (Rorty 2008b, 61) 64 , wie sie schon Nietzsche oder James anvisiert haben. In der Tradition der Romantik spielt Dichtung dabei eine wichtige Rolle. Diese übernimmt mehrere Funktionen der Religion: Sie gibt Anregungen zur Gestaltung des individuellen Lebens, arbeitet menschliche Grenzerfahrungen auf und entwirft moralische Ideale zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein zentrales Ideal der romantischen Dichtung ist dabei die Liebe. Dieses Ideal könnte, Rorty folgend, analog zum zentralen Orientierungsmaßstab für Religion in modernen Gesellschaften werden: Wenn Religionen das Ideal der Liebe als korrespondierenden Gegenpart zur liberalen Forderung nach Solidarität verstehen, könnten sie konstruktive Impulse in den Prozessen der Selbsterschaffung ausüben. »The point of religion is not to produce any specific habit of action, but rather to make the sort of difference to a human life which is made by presence or absence of love« (Rorty 1999, 158). In diesem Sinne ist Gott oder das Heilige für Rorty ein Symbol für die Hoffnung auf den Tag, »vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend«, in dem »meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist« (Rorty 2006, 47). Damit werden religiöse Hoffnungen in den Pragmatismus integriert, ohne dass sie metaphysisch begründet werden. »Rorty tries to show that the edifying aspects of a religious temperament can be kept by those who no longer place their faith in the transcendent or supra-natural« (Kuipers 1997, 102). 65 Diese Hoffnung bedarf allerdings einer radikalen Uminterpretation vieler religiöser ÜberzeugunDieses Ziel der Privatisierung religiöser Vervollkommnung hat auch für den interreligiösen Dialog einige wichtige Konsequenzen. Denn wenn man die These der Privatisierung ernst nimmt, wird man Rorty folgend nicht – und dieses wurde bereits in der Auseinandersetzung mit Habermas deutlich – für eine wechselseitige Übersetzung religiöser Überzeugungen argumentieren, sondern diese vielmehr als unterschiedliche Formen der Selbsterschaffung nebeneinander stehen lassen. 65 In diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem noch einmal Rortys Absetzung von der analytischen Philosophie, die sich auch in seinem Nachdenken über Religion widerspiegelt. Das Interesse der analytischen Religionsphilosophie an der Klärung des erkenntnistheoretischen Status religiöser Aussagen (vgl. Kap. 2.2.) greift Rorty zwar indirekt in der kulturpolitischen Frage auf, transformiert dieses aber entscheidend, denn es geht ihm hierbei vor allem um die soziale Funktion der Aussagen und weniger deren erkenntnistheoretischen Status. Sein Zugang zur Religion ist deshalb bei allen liberalen Begrenzungen letztlich weitergefasst als dies in analytischen Konzeptionen meist der Fall ist (vgl. Lauritzen 1984, 38). 64
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gen und einer Zurückweisung dogmatisch-theologischer Erklärungen, die auf metaphysische Annahmen Bezug nehmen. »Ziel ist nicht nur die Aufgabe oder entmythologisierend-symbolische Uminterpretation zahlreicher Glaubensinhalte, sondern der generelle Verzicht, die religiöse Haltung in einem Glaubensbekenntnis auszudrücken« (Kleemann 2007, 29).
Die Verschmelzung einer Hoffnung an die Wirkmächtigkeit liberal konzeptualisierter Solidarität mit einem Glauben, der sich im Feld der Selbsterschaffung dem Ideal der Liebe verschreibt, nennt Rorty Romantik. »I shall call this fuzzy overlap of faith, hope and love ›romance‹« (Rorty 1999, 160). Positionen eines religiösen Humanisten im Sinne der Romantik weisen deshalb strukturelle Ähnlichkeiten mit den Ansätzen der Neopragmatisten auf – allerdings nur, wenn Erstere ihre epistemologischen Voraussetzungen anerkennen. »If religious humanists opt for neopragmatism (…), they too will have to become ›neo‹. They must move onto the new soft terrain provided by the post-epistemological turn, looking to, perhaps even becoming, imaginative, creative artists. The task of a religious humanist society is to address the twin concerns of encouraging individuals to become self-creators and challenging society to become more free and just, to express concern for the well-being of both individuals and the culture« (Olds 1997, 268).
In diesem Glauben an die Möglichkeiten des Humanismus zeigt sich nun abschließend indirekt ein möglicher positiver Begriff von Religion in Rortys Ansatz. Auf diesen spielt er selbst in seinem Gespräch mit Vattimo an, wenn er zugesteht, dass das Neue Testament als literarisches Produkt ein Vorgänger der romantischen Hoffnung ist (vgl. Rorty 2006). Die Bibel kann in dieser Hinsicht eine Anleitung zur kreativen Selbsterschaffung im Sinne eines neuen religiösen Humanismus sein (vgl. Michener 2007, 135). 66 In diesem Zusammenhang scheint Rorty (zumindest teilweise) die Hoffnung auf Solidarität, Leidüberwindung und Liebe als eine Art US-amerikanische Zivilreligion etablieren zu wollen. Vor allem seine Kritik an der Linken in den USA weist in diese Richtung, wenn er ihnen ein emotionsloses und damit leeres Theoretisieren vorwirft, welches die Notwendigkeit motivationaler und symbolischer Bindung innerhalb einer Gemeinschaft unterminiert (vgl. Rorty 1993). Rorty macht sich mit dieser Kritik an den »Linken und ihrer sündenverhafteten Theoriereligion zum expliziten Fürsprecher einer amerikanischen ›Bürgerreligion‹« (Kleemann 2007, 40 f.). Diese besteht in einer quasireligiösen Betonung des amerikanischen Traums von Freiheit und Gleichheit. Sein »zi-
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Eine solche pragmatistische Religionskonzeption, verstanden als polytheistischer Humanismus, besteht vor allem aus fünf Aspekten (vgl. Rorty 2008b, 67 ff.; Dann 2006, 53 ff.): (a) Religiöse Überzeugungen sind ein komplexes Bündel von Handlungsgewohnheiten, das sich ständig verändert. (b) Religion kann als eine Form von Dichtung, d. h. als etwas Symbolisches im Sinne Paul Tillichs, verstanden werden. Diese Form der literarischen Selbsterschaffung darf allerdings keine Vorrangstellung vor anderen Formen beanspruchen. (c) Religion kann in diesem so verstandenen Sinne eine Orientierung für die individuelle Selbstentfaltung geben. (d) Religion muss dazu allerdings ihr metaphysisches Verständnis von Wahrheit aufgeben, denn »so etwas wie die Liebe zur Wahrheit gibt es« (Rorty 2008b, 69) nicht. (e) Gegenüber den religiösen Fundamentalisten beharrt ein pragmatistisches Verständnis von Religion schlussendlich darauf, dass in moralischer Hinsicht der demokratische Konsens einer liberalen Gesellschaft niemals durch religiöse Absolutheitsansprüche unterlaufen werden darf. 67 Dieses Verständnis von Religion hat wiederum deutliche utilitaristische Merkmale, die Rorty immer wieder mit Blick auf Dewey thematisiert und damit sein Religionsverständnis in die Tradition des Pragmatismus einordnet (Rorty 2008b, 61; vgl. Kap. 4.1.3.). 68 Dewey betont Rortys Ansicht nach genauso wie er die Notwendigkeit einer
vilreligiöses Plädoyer für ›Amerika‹ ist der Versuch, der Linken wieder zu politischer Handlungsfähigkeit zu verhelfen« (Kleemann 2007, 42). 67 In dieser Hinsicht weisen Rortys Argumente gegen einen wahrheitstheoretischen Realismus und seine Überlegungen zum religiösen Fundamentalismus große Ähnlichkeiten auf: »Both scientific realism and religious fundamentalism are private projects which have got out of hand. They are attempts to make one’s own private way of giving meaning to one’s life – a way that romanticises one’s relation to something starkly and magnificently non-human, something Ultimately True and Real – obligatory for the general public« (Rorty 1996a, 131). 68 Im Gegensatz zu den beiden Gründerfiguren des Pragmatismus will Rorty allerdings die erkenntnistheoretische Relativierung jedweder Wahrheitsansprüche – auch von Religionen – noch deutlicher zurückweisen. Diese Kritik trifft seiner Ansicht nach vor allem auf James zu, denn erstens gibt es einige Stellen in dessen Arbeiten, die dem eigenen Wahrheitsbegriff entgegenstehen und stattdessen von einer objektiven religiösen Wahrheit sprechen. Außerdem fokussiert James teilweise auf die Unterscheidung zwischen rational und emotional und weniger auf die Unterscheidung von privat und öffentlich. Beide Aspekte lassen Rorty skeptisch gegenüber James werden und ihn seinen am Pragmatismus orientierten Religionsbegriff vor allem an Dewey anlehnen (vgl. Rorty 2008b, 71 ff.; ders. 1996a, 126 ff.).
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antiautoritären Form des demokratischen Zusammenlebens. Einerseits unterlaufen Religionsgemeinschaften durch ihre autoritären Institutionen dies teilweise, andererseits zeigt die Geschichte der Religionen, dass ihre soziale Botschaft dieses Ideal auch befördern kann. »Das Positive am Christentum ist, wie Dewey sagt, dass man festgestellt hat, dass es funktioniert. Genauer gesagt: Was, wie man festgestellt hat, funktioniert, ist die Idee der Brüderlichkeit und Gleichheit als Basis der gesellschaftlichen Organisation« (Rorty 2008b, 76; vgl. Isenberg/Thursby 1985, 48 ff.).
Die Rückbindung des Gläubigen an eine höchste Macht ist für Rorty dann berechtigt, wenn sie sich für den religiösen Bürger als nützlich erweist – »es sei denn, die Verehrung dieses Symbols stört das Glückstreben der Mitbürger« (Rorty 2008b, 78). Darin drückt sich der utilitaristische Grundzug seines Religionsverständnisses aus. Religiös zu sein und gleichzeitig eine utilitaristische Position zu vertreten, schließt sich demnach nicht aus. »Further, if a private relation to God is not accompanied with the claim to knowledge of the Divine Will, there may be no conflict between religion and utilitarian ethics. A suitably privatised form of religious belief might dictate neither one’s scientific beliefs nor anybody’s moral choices save one’s own. That form of belief would be able to gratify a need without threatening to thwart any needs of any others, and would thus meet the utilitarian test« (Rorty 1996a, 123).
Rorty versteht seine Philosophie als eine, die auf eine solche Welt hinarbeitet. Wenn Menschen nicht mehr mit Streitigkeiten über die Wahrheit oder den wahren Glauben beschäftigt wären, dann könnten sie gemeinsam am Projekt der solidarischen Leidüberwindung arbeiten. Religionen müssten sich dabei insbesondere von ihren machtpolitischen Ummantelungen religiöser Inhalte lösen und zu einem pragmatistischen Verständnis religiöser Überzeugungen gelangen. Wenn Religionen diesen Schritt wagen, dann können sie für Rorty eine konstruktive Rolle in modernen Gesellschaften spielen.
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3.2.3. Kritische Diskussion Der (Neo-)Pragmatismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer wichtigen philosophischen Strömung entwickelt 69 , die sich mit zahlreichen gesellschaftlichen Themen der Zeit und deshalb auch mit der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften auseinandersetzt (vgl. Hardwick 1997; Stout 2002; Joas 2004). Rortys Reflexion auf Religion muss vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Kernpunkte der folgenden kritischen Diskussion sind dabei weniger die erkenntnisund wahrheitstheoretischen Grundthesen von Rorty, sondern, dem politisch-philosophischen Duktus dieser Arbeit folgend, die Überlegungen, die er vom Standpunkt des Liberalismus zur Religion anstellt, wie unter anderem die strikte Trennung von privat und öffentlich und sein Verständnis von romantischer Hoffnung auf Solidarität. 70 3.2.3.1. Trennung von privat und öffentlich Rortys Verständnis von Religion fußt auf der Unterscheidung von privat und öffentlich, die für ihn das Fundament der politischen Philosophie ist. Religion wird vor dem Hintergrund dieser Trennung im Pri-
Vgl. von den (neo-)pragmatistischen Ansätzen exemplarisch die Arbeiten von Putnam (1995), Brandom (2000; ders. 2001), Stout (1988) oder Joas (1999). 70 Hinsichtlich der Rezeption von Rortys Überlegungen zur Religion fällt auf, dass diese (beispielsweise gegenüber Habermas, vgl. Kap. 3.1.3.1.) vor allem in philosophischen oder politologischen, aber weniger in theologischen Diskursen stattfindet. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Rekonstruktionen ist allerdings leicht zu verstehen, dass Rortys kritische Interpretation von Religion von der Theologie bislang nur wenig rezipiert wurde. Dies liegt nicht zuletzt an dem starken Unterschied, den Rorty zwischen Pragmatismus und Theologie markiert. »Rorty’s position emphasises a radical incommensurability between pragmatism and theology« (Anderson 1997, 109). Diese Position formuliert Rorty selber in leicht polemischer Form: »If we are going to have theologians at all, it will be nice to have theologians with a sense of humour, a faculty in which Heidegger was notably deficient. But, as the old-fashioned kind, the kind without the slash, I keep wishing that we didn’t have any theologians. I wish we would stop running together the needs of religious believers with the needs of philosophers« (Rorty 1991, 74). Diese Polemik hat Theologen zwar nicht davon abgehalten, Rortys Ansatz zu rezipieren, im Vergleich zu anderen Autoren (wie beispielsweise Derrida oder Habermas) ist diese Rezeption jedoch aufgrund des teilweise antireligiösen Jargons meist stockend verlaufen, was sicherlich auch an einer der grundlegenden Forderungen Rortys an die Theologie liegt: »In Rorty’s view, the religious person must be either willing to give up the beliefs embodied in particular doctrines (…), or to interpret them symbolically« (Dann 2006, 69). 69
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vaten verankert, und die liberale Ironikerin wacht in der Öffentlichkeit darüber, dass die Religion nicht unberechtigt aus dem privaten Bereich heraus normative Urteile oder politische Forderungen in die Öffentlichkeit trägt. Diese Trennung von privat und öffentlich ist ein wichtiges Diktum in vielen aktuellen Ansätzen der politischen Philosophie. Sie ist auch ein zentrales Element demokratischer Gesellschaften, weil damit die freie Lebensgestaltung des Einzelnen gesichert wird, in die der Staat nur im Ausnahmefall und unter Verweis auf besondere Gründe eingreifen darf. Die Trennung, hier ist Rorty zuzustimmen, ist auch ein wichtiges Element bei der Begründung und Umsetzung der Religionsfreiheit, weil damit der private Raum des einzelnen Gläubigen, in den der Staat nicht intervenieren oder Vorschriften für die Religionsausübung machen darf, überhaupt erst identifiziert wird (vgl. Barthold 2012). Gegen eine strikte Grenzziehung von Privatem und Öffentlichem, wie Rorty sie annimmt, lassen sich allerdings auch einige systematische Einsprüche erheben. Erstens ist anzufragen, ob sich eine eindeutige Trennung empirisch überhaupt halten lässt, denn gerade global betrachtet zeigt sich deutlich, dass Gesellschaften die Trennlinie sehr unterschiedlich ziehen, beispielsweise je nachdem, wie sie die Stellung des Individuums im Privaten interpretieren. In vielen ostasiatischen Gesellschaften wird das soziale Netzwerk, in das Menschen immer schon einbezogen sind, deutlich stärker betont, weshalb die Grenze zwischen privat und öffentlich an einer anderen Stelle gezogen wird als in europäischen Gesellschaften, wie sich exemplarisch an sozialen Themenfeldern wie dem Gesundheitsbereich ablesen lässt (vgl. Inthorn et al. 2010, 65–83). Aber auch in Europa findet sich keine einheitliche Grenzziehung, was der kulturell bedingten Strukturierung von Gesellschaften geschuldet ist. Wenn sich die Grenze zwischen privat und öffentlich empirisch allerdings überhaupt nicht eindeutig bestimmen lässt, dann stellt sich die Frage, ob Religion wirklich so strikt im Privaten verankert werden kann, wie Rorty dies tut bzw. was diese Verankerung (bei flexibler Trennlinie) systematisch überhaupt bedeutet (vgl. Mouffe 1999, vor allem 171–195; Nagl 2002). 71 Chantal Mouffe wie Ludwig Nagl nehmen in ihrer Kritik an der Grenzziehung von privat und öffentlich explizit auf Derrida Bezug, was als ein Hinweis auf die Parallelen der beiden philosophischen Ansätze gedeutet werden darf. Nicht zuletzt deshalb wird im Anschluss an die Rekonstruktion des Religionsverständnisses von Derrida nach mögli-
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Zweitens ist auch in einer normativen Hinsicht zu diskutieren, ob diese Grenzen sinnvoller Weise so strikt gezogen werden sollten. Die feministische Forschung hat in den vergangenen Jahren beispielsweise darauf hingewiesen, dass eine zu strikte Trennung von privat und öffentlich zu einer Verharmlosung von – in der Sprache Rortys formuliert – Leid und Demütigung führt. Wenn die Grenze starkgemacht wird, ist dies oftmals ein Grund dafür, dass der private Raum jenseits allgemein akzeptierter normativer Orientierungen strukturiert wird, was in der Geschichte oftmals zu Diskriminierung in Form von psychischem und physischem Leid geführt hat (vgl. exemplarisch Patemann 1989; Krause 2003, 65–84). Es lässt sich wohl nur schwer ein plausibles Argument anführen, wieso Rortys Forderung nach Liberalismus – verstanden als solidarische Leidüberwindung – an den Grenzen der individuellen Selbstentfaltung haltmachen sollte. Wäre das Private, normativ betrachtet, von der Öffentlichkeit vollständig getrennt, dann müssten alle privaten Handlungsweisen, die sich einer öffentlich-diskursiven Kritik entziehen, gleichermaßen normativ gültig sein. In diesem Zusammenhang zeigt sich bei Rorty also eine ähnliche Spaltung von Moral und Ethik wie bei Habermas (vgl. Kap. 3.1.3.4.), auch wenn Rorty dies nicht explizit zum Thema seiner philosophischen Reflexion macht. »[Die Privatheitsthese] führt in die Irre, wo sie eine Privatisierung normativer und religiöser Geltung festschreiben wollte, denn damit würde sie einem Geltungs-Dezisionismus Vorschub leisten. Es kommt hier gerade auf einen lebendigen Austausch zwischen privater Sphäre und Öffentlichkeit an, für die nicht zuletzt die Religionsgemeinschaften im Einflussbereich der biblischen Überlieferungen Sorge trugen und sich noch immer engagieren« (Werbick 2000, 99).
Ein drittes Argument, das mit Blick auf das Religionsverständnis relevant ist, zielt auf eine wichtige Implikation der Konzeption der liberalen Ironikerin, und zwar die starke Betonung des Individuums. »Obviously, what Rorty has done, as he moves the discussion from political theory to a theory about intellectual responsibility, is to identify the private with the individual« (Reece 2002, 90 f.). Obwohl Rorty mit Rekurs auf Brandom den Vorrang des Sozialen vor überzogenen Wahrheits- oder Erkenntnisansprüchen hervorhebt, setzt die Betonung chen Überschneidungen und Absetzungen zwischen Rorty und Derrida zu fragen sein (vgl. Kap. 3.5.3.4).
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des Privaten notwendig einen starken Begriff des Individuums voraus, der zu diesem Vorrang des Sozialen zumindest teilweise im Widerspruch steht. Im Privaten zielt das scheinbar vereinzelte Individuum auf Selbstentfaltung, wofür Dichtung und Religion hierfür eine Orientierung geben können. Das Individuum entscheidet sich scheinbar vollkommen selbstständig für diese oder jene Orientierung und damit auch dafür, religiös musikalisch zu sein oder nicht. Diese Gleichsetzung von Individuum und privatem Raum ist vor dem Hintergrund des postulierten Vorrangs des Sozialen widersprüchlich, denn es sind soziale Beziehungen und Netzwerke, welche die Orientierungen der Selbstentfaltung prägen und weshalb Religion bzw. religiöser Glaube nicht ausschließlich Angelegenheiten des Individuums sind. Hier impliziert Rortys Überlegung ein fideistisch orientiertes Religionsverständnis, das schon im Zusammenhang mit der Diskussion des habermasschen Ansatzes kritisiert wurde (vgl. Kap. 3.1.3.3.). Religion ist allerdings weniger eine mit der Vernunft nicht mehr plausibilisierbare, private Entscheidung des Einzelnen, sondern immer auch eine soziale Angelegenheit. Religion könnte gerade in einem pragmatistischen Sinn als eine soziale Praxis verstanden werden, die sowohl ins Private als auch in gesellschaftliche Prozesse und Strukturen eingebunden ist. »One’s basic commitments, beliefs, and dominant ideas cannot be separated from praxis – for the believer, faith cannot be separated from works« (Sweet 2002, 310). Religion ist als solche immer auf beiden Seiten der vermeintlich eindeutigen Trennung von privat und öffentlich angesiedelt. »What about social forms which are in between the public and private spheres, which Durkheim labels as secondary groups? Religion, I would argue, should be placed in more of an intermediate position in modern society. As a social form it is not totally outside the public realm in that it still has some influence, both nationally and internationally« (Wallace 1985, 29). 72
Umso erstaunlicher aus Sicht der Religionsgemeinschaften ist wiederum, dass Rorty Religion einerseits ins Private zurückdrängen will, er andererseits aber gleichzeitig für eine Zivilreligion im Sinne eines romantischen Humanismus plädiert, was der Verankerung religiöser Selbsterschaffung im Privaten zuwiderläuft. »Vertreter der verfassten Religionen wiederum muss seine Weigerung, den Religionsgemeinschaften einen Ort in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zuzugestehen, ebenso abschrecken, wie sie seine pragmatistische (US-amerikanische) Zivilreligion nur als direkte Konkurrenz wahrnehmen können« (Kleemann 2007, 45).
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Ein Blick auf die Religion zeigt deshalb für die politische Philosophie insgesamt die wechselseitige Bezogenheit und Durchlässigkeit dieser beiden gesellschaftlichen Felder. Einerseits ist Rorty mit Rekurs auf die Religionsfreiheit darin zuzustimmen, dass der private Raum religiöser Überzeugungen vor dem Zugriff staatlicher Macht geschützt werden muss. Andererseits gilt damit allerdings nicht in selber Weise der Umkehrschluss, dass die Religion ausschließlich im Privaten zu verankern ist; dies kann als Schlussfolgerung aus der vorangegangenen Kritik an Rortys strikter Unterscheidung von privat und öffentlich festgehalten werden. 3.2.3.2. Liberalismus als Weltanschauung Unabhängig von dieser Kritik an der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, stellt sich eine weitere grundlegende Anfrage, und zwar die, ob Rorty selbst dieser Unterscheidung gerecht wird. Es scheint nämlich so, als ob er bei aller Betonung dieser Differenz und des gleichberechtigten Nebeneinanders von Privatem und Öffentlichem, dem Liberalismus als Telos der Öffentlichkeit letztlich einen übergeordneten Stellenwert jenseits dieser Unterscheidung einräumte. »Rortys Beschreibung der Dichotomie öffentlich/privat organisiert, unbewusst, einen prekären (und fragwürdigen) Doppelanspruch. Einerseits sollen die beiden Diskurse – die private und die öffentliche Narrativität – nebengeordnet bleiben wie Sprachspiele bei Wittgenstein; andererseits aber ist der Diskurs der Gerechtigkeit (so scheint es nicht selten), ein Telos (…) aller avancierten Authentizitätssuchen« (Nagl 2002, 168).
Damit droht die Argumentation von Rorty zumindest teilweise widersprüchlich zu werden, weil er der Solidarität als Ziel des Liberalismus gegenüber der privaten Selbsterschaffung einen übergeordneten Rang zuweist. Diese Anfrage korrespondiert mit dem Vorwurf des Ethnozentrismus, weil Rorty nicht mehr erklärt, wieso er die liberale Position anderen ethisch-politischen Positionen vorzieht. 73 Liberale Demokratie – so könnte man den Vorwurf pointiert formulieren – ist für ihn die beste institutionalisierte Form der Leidvermeidung, die unhinterfragt bleibt.
Rortys Anmerkungen zu einem Dialog der Kulturen und Religionen zeigen ebenfalls diese ethnozentrische Verengung seines Ansatzes (Rorty 2001b; ders. 2006; vgl. außerdem Kap. 3.2.1.).
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»There is no evidence that Rorty ever really doubts his commitment to liberal democracy. He never really questions it and asks himself whether there are alternatives that should be considered. He has, in effect, insulated his liberal convictions from any doubt« (Bernstein 1990, 58).
Damit verabsolutiert Rorty seinen eigenen Kontext und begibt sich in die Gefahr, dass seine philosophische Position zirkulär wird, denn die Befürwortung des Liberalismus ist im Grunde nur aus dem eigenen historischen Kontext begründbar. Deshalb müssen diskursiv vorgetragene Argumente von Weltbürgern aus anderen Traditionen ignoriert werden. Er missachtet damit, dass, historisch betrachtet, der säkulare Liberalismus selbst eine Weltanschauung war und ist, die moderne Demokratien nachhaltig prägt. Wieso sollten nun aber Personen mit einer anderen weltanschaulichen Ausrichtung aus diesem Diskurs ausgeschlossen werden? »Secular liberals, sensing the demise of the religious Left, might want to argue that the only way to save our democracy from the religious Right is to inhibit the expression of religious reasons in the public square. Aside from whatever theoretical errors might lie behind this argument, it is foolhardy to suppose that anything like the Rawlsian program of restraint or what Rorty calls the Jeffersonian compromise will succeed in a country with our religious and political history. So the practical question is not whether religious reasons will be expressed in public settings, but by whom, in what manner, and to what end. Secular liberals underestimate the role they themselves have played in shifting the balance between the religious Left and the religious Right in American politics« (Stout 2004, 299).
Rorty betont mit Blick auf diesen Einwand, dass er keine andere Möglichkeit für eine plausible politische Philosophie sieht: Entweder man schreibt als Philosoph der eigenen Gemeinschaft und der in ihr zur Leidüberwindung am besten funktionierenden Politikform eine Vorrangstellung zu, oder man beansprucht eine Toleranz im Sinne einer willkürlichen Beliebigkeit für jede andere Gruppe. Rorty positioniert sich auf der ersten Seite und nimmt damit eine ethnozentrische Haltung ein. Aus welchem Grund aber wird im öffentlichen Bereich die liberale Position einer religiösen vorgezogen? Wieso darf sich nur der säkularliberale Bürger öffentlich äußern, wohingegen der religiöse seine weltanschaulichen Überzeugungen nur privat oder in Form eines säkular gefilterten romantischen Humanismus entfalten darf? In dieser liberalen Ausgrenzung anderer Weltanschauungen spiegelt sich ein verkürzA
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tes Bild des Politischen bei Rorty wider. »I want to suggest that the basic problem lies in the fact that Rorty does not fully acknowledge the complexity of politics« (Mouffe 1996, 6). Die Rortys Konzeption zugrunde liegende These, dass sich Menschen als öffentliche Bürger vollkommen frei von ihren Weltanschauungen und metaphysischen Deutungen von Wirklichkeit begegnen, ist nicht nur problematisch, weil damit religiöse Menschen letztlich in zwei Persönlichkeiten aufgespalten werden, sondern sie muss auch aus systematischen Gründen kritisiert werden. Denn jede politische Position – auch die des säkularen Liberalismus – beruht auf weltanschaulich gefärbten Vorannahmen. Wenn ein Gemeinwesen alle Mitglieder gleichermaßen als aktive Teile in öffentliche Diskurse und praktische Deliberation integrieren will, so sind sie deshalb als solche ernst zu nehmen und nicht von vornherein zu beschränken. 74 Die Beachtung weltanschaulich geprägter Überzeugungen bedeutet nicht, dass jede dieser Äußerungen gleichermaßen gewichtig ist oder der Diskurs zwischen den Überzeugungen schon von vornherein entschieden wäre. Gerade mit einem pragmatistisch orientierten Wahrheitsverständnis ließen sich die verschiedenen Überzeugungen als gleichberechtigt interpretieren. Der Streit zwischen den Meinungen verlangt gleichzeitig nach fairen Verfahren, um zu gemeinsamen, für alle tragbaren Lösungen der Probleme des Gemeinwesens zu kommen. In diesen Überlegungen zeigt sich also eine grundlegende Spannung in Rortys Nachdenken über Religion: Ermöglicht er einerseits mit dem Hinweis auf James’ oder Deweys Wahrheitsverständnis die Grundlegung eines pragmatistischen Religionsbegriffs, von dem aus die pluralen weltanschaulichen Überzeugungen als integraler Bestandteil eines öffentlichen Diskurses verstanden werden könnten, will er diese andererseits doch ins Private zurückweisen, weil sie einen unberechtigten Übergang von metaphysischen Annahmen zu normativen Urteilen im Bereich der Öffentlichkeit vollziehen. Mouffe argumentiert deswegen gegen Rorty, die Prinzipien des politischen Liberalismus nicht absolut zu setzen, sondern vielmehr ein Ethos der demokratischen Praxis auf den pluralen Praktiken des Sittlichen einer Gesellschaft aufzubauen: »Liberal democratic principles can only be defended in a contextualist manner, as being constitutive of our form of life, and we should not try to ground our commitment to them on something supposedly safer. So secure allegiance and adhesion to those principles what is needed is the creation of democratic ethos. It has to do with the mobilization of passions and sentiments, the mutliplication of practices, institutions and languages« (Mouffe 1996, 5).
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»In many of those writings he treats religion per se as an unwelcome intruder in the political sphere, and is looking for ways, consistent with his own pragmatic philosophical commitments, to mobilize opposition to its influence. (…) It seems to me that such remarks are no more useful than saying that sport, politics, or art is, on the whole, a good or bad thing. None of these things is about to go away, and all of them provide ample opportunities for the expression of good and bad motives and for the production of good and bad consequences« (Stout 2010, 525).
Rortys Konzeption des Antiklerikalismus, so der Einwand, lässt sich also aus den eigenen pragmatistischen Annahmen kaum begründen. Deshalb ist es hilfreich zu fragen, inwieweit sich seine Überlegungen überhaupt aus der Tradition des Pragmatismus heraus rechtfertigen lassen und welche alternativen Schlussfolgerungen mit Blick auf James oder Dewey für ein pragmatistisches Verständnis von Religion in aktuellen politischen Konstellationen gezogen werden könnten. 3.2.3.3. Schlussfolgerungen für ein pragmatistisches Religionsverständnis Philosophiehistorisch betrachtet stellt sich also zuerst die Frage, ob Rortys Privatisierungsthese von Religion überhaupt mit den Überlegungen Deweys oder James’ rechtfertigbar ist, wie er dies tut. Einige Kritiker sind in diesem Zusammenhang skeptisch, weil sich Rorty ihrer Ansicht nach mit der Betonung der Privatisierungsthese von seinen pragmatistischen Ursprüngen entfernt. »In effect, Rorty’s thinking on religious beliefs marks a significant departure from his pragmatic forebears, even though he employs (especially Dewey) to bolster his own position« (Flasherty 2005, 175). Von Dewey ausgehend, müsste der Privatisierung religiöser Überzeugungen eigentlich widersprochen werden, weil diese Forderung im Grunde dessen Votum für eine Vielfalt von Wahrheitsansprüchen entgegensteht (vgl. Kap. 4.1.3.). 75 »In the end, then, Dewey and James would have found Rorty’s proposed privatisation of religious beliefs antithetical to the pragmatic point of view they so enthusiastically endorsed and promoted« (Flasherty 2005, 185; vgl. ders. 2007).
Rorty selbst weist wie aufgezeigt als Grund für die Privatisierungsthese auf historische Beispiele hin, in denen sich religiöse Institutionen machtpolitisch äußerst problematisch verhalten haben. Dieser BeobEine ausführliche Rekonstruktion und Kritik der rortyschen Überlegungen zu Deweys Religionsverständnis liefert Nagl (2010, 179–186).
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achtung muss man einerseits zustimmen, denn Religionen haben als gesellschaftliche Institutionen oftmals eine ambivalente Rolle in sozialen Prozessen gespielt und tun dies bis heute (vgl. Müller/Reder 2009), vor allen wenn sie gewalttätig gegenüber Andersgläubigen sind und ihren Anhängern enge Grenzen setzen, wie mit nichtreligiösen Menschen umzugehen ist (vgl. Müller 2007). Andererseits erscheint die Funktion und Gewichtung dieses historischen Arguments im Gedankengang Rortys nicht unproblematisch, denn auch wenn religiöse Institutionen historisch betrachtet negative Wirkungen in sozialen Prozessen hatten, so ist dies noch kein Argument dafür, diese Institutionen grundsätzlich kritisch zu beurteilen. Jeffrey Stout macht darauf aufmerksam, dass Religion auch als Institution nicht per se ein conversation stopper sein muss, weil sie – gerade in der Logik des Pragmatismus – keinen festen inhaltlichen Wesenskern besitzt (vgl. Stout 2008). Religiöse Institutionen sind von ihrer Grundausrichtung her (Bezug auf das Absolute, Unbedingtheitsanspruch religiöser Erfahrung usw.) ambivalent, aber deswegen sollten sie nicht automatisch im Privaten verankert werden. Rortys grundlegende Kritik an religiösen Institutionen ist vielmehr vor allem der liberalen Skepsis gegenüber autoritären und die Freiheit einschränkenden Machtstrukturen geschuldet, weshalb er zu der Behauptung neigt, Atheisten seien bessere Menschen als Gläubige. »This explains why many of his writings project a utopia in which theists not only keep their religious convictions private, but eventually pass from the scene altogether« (Stout 2008, 535). 76 Dieses Urteil aber ist empirisch wie systematisch nur schwer haltbar, vor allem weil sich religiöse Bürger Stout hat seine Variante des Pragmatismus vor allem in Abgrenzung zu Alasdair MacIntyre und Rorty entfaltet. Mit McIntyre lehnt er einen epistemologischen Foundationalism als Begründung für einen politischen Liberalismus ab, betont aber gegenüber diesem gleichzeitig, dass man den Liberalismus selbst als eine nonfoundationalistische Theorie lesen kann (vgl. Stout 1988). Moralphilosophisch betrachtet bestehen moralische Praktiken aus Formen der Bricolage unterschiedlicher normativer Traditionen, die Rückwirkungen auf die lebensweltliche Praxis haben. »The pragmatic approach being pursued here assumes (…) that norms are initially implicit in practice. Material inferential commitments are full capable of guiding action, of functioning normatively, without taking the explicit form of a rule« (Stout 2004, 286). In dieser pragmatistischen Lesart spielen religiöse Überzeugungen immer schon eine wichtige Rolle in den sozialen Praktiken der Menschen. Im Vergleich zu Rorty nimmt Stout damit dessen klare Trennung von öffentlich und privat zurück und argumentiert für die Möglichkeit einer Bricolage moralischer Praktiken quer zu dieser Grenzziehung. Pragmatistische Philosophie
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deswegen nicht aus dem öffentlichen Leben zurückziehen oder gar vollständig auf ihren Glauben verzichten werden. Stout will deshalb aus der Perspektive eines Neopragmatismus den Ansatz von Rorty kritisch weiterdenken und betont dabei zu Recht, dass durch Rortys Argumentation Gläubige nicht von ihren Überzeugungen abgebracht werden können. 77 »They will continue believing what they believe and acting on the apparent political implications of their beliefs regardless of whatever liberal advice they hear to change their ways« (Stout 2008, 539). Religionen sind in dieser pragamatistischen Sicht von Stout – egal ob in einer konservativen oder progressiven Spielart – ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft in modernen Demokratien, zum Beispiel zum Aufbau oder zur Förderung von Sozialkapital (vgl. Wallacher 2001). In diesen Formen sind sie ein integraler Bestandteil moderner Gesellschaften und sind als solche ernst zu nehmen. »Far be it from me to advise them to keep their religious convictions to themselves. Far be it from me to dream of a future in which they and others like them have passed from the scene« (Stout 2008, 544). 78 In dieser Argumentationslinie ist es sinnvoll und notwendig, Religion (verstanden als soziale Praxis) als Teil öffentlicher Diskurse aufhat die Aufgabe, die Gesamtheit der Vorstellungen des Guten in gesellschaftlichen Praktiken zu rekonstruieren und zu kritisieren (vgl. Stout 1988; ders. 2002; ders. 2010). 77 Stout sieht diese Forderung Rortys in dessen Betonung des scheinbar säkular-neutralen Common Sense begründet. »But in the many passages where Rorty seems to be emulating Nietzsche rather than Dewey as his model social critic, he becomes too naughty, too much the violator of what his fellow citizens recognise as common sense, to perform the expressive function he has limned in his best work« (Stout 2004, 295 f.). 78 In diesem Zusammenhang ist noch einmal ein Blick auf Rortys Konzeption des Antiklerikalismus aufschlussreich (vgl. Kap. 3.2.2.1.). Hinter dieser Gedankenfigur steht letztlich das Bild eines Klerikers, der ausschließlich überzogene Ansprüche in gesellschaftlichen Diskursen erhebt. Stout macht zu Recht darauf aufmerksam, dass damit Rorty die Figur des Klerikers essentialistisch deutet, obwohl er den Pragmatismus eigentlich als eine anti-essentialistische Philosophie versteht (vgl. Stout 2010). Aus ähnlichen Argumenten heraus ließe sich auch das Bild des religiösen Menschen kritisieren, denn Rorty stellt diesen letzten Endes unter Generalverdacht, unberechtigte Forderungen in öffentlichen Diskursen zu formulieren. Genau diese Generalisierung hält Stout nicht für überzeugend, weil historisch betrachtet Gläubige oft Bürger sind, die sich gerade in Rortys Sinn als engagierte Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Unterdrückten und Armen ausgezeichnet haben. »When Rorty said that atheists are better citizens than theists, he must have had particular people in mind, but what he uttered was a generalisation« (Stout 2008, 539). A
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zufassen. Natürlich müssen sich auch Religionen an den demokratischen Rahmen gesellschaftlicher Prozesse halten, insbesondere was ihr Verhältnis zu anderen Religionen betrifft. Aber sie können einen wichtigen Teil zum Gelingen moderner Demokratien beitragen. Deliberative Verfahren, so kann mit Rekurs auf Stout argumentiert werden, werden nicht gefährdet, wenn sie religiöse Argumente als solche beachten, sondern erst, wenn einzelne Gruppierungen – seien sie religiös oder säkular – einen Absolutheitsanspruch im politischen Raum stellen (vgl. Stout 2010, 527 ff.). Wichtig ist daher ein offener und fairer Umgang der verschiedenen Praktiken miteinander und weniger die Frage, ob religiöse Signaturen in der Öffentlichkeit zugelassen werden oder nicht. Für das Verhältnis sozialer Praktiken zueinander und gegenüber dem Staat ist wechselseitiger Respekt von zentraler Bedeutung. Im Zuge dessen werden pragmatistische Überlegungen, ganz im Sinne Rortys, an die liberale Argumentation anschlussfähig, allerdings in einem deutlich weiter gefassten Sinn praktischer Deliberation. »A model of this way of building community is ecumenism. Here, one can see how individuals and groups of people might come to work with others in a way that recognises the values in other perspectives and is open to change, but is not arbitrary, and is also consistent with Christian religious belief« (Sweet 2002, 310).
Rorty erkennt die Bedeutung der Religion als soziale Praxis letztlich nicht an und missachtet damit, dass Religion nicht nur eine Form romantischer Hoffnung ist, sondern immer ein integraler Bestandteil der Gesellschaft. Religionen können allgemein verständliche und vernünftige Argumente vortragen; auch innerhalb der Religionsgemeinschaften geben sich religiöse Menschen wechselseitig Argumente für ihre Überzeugungen. Gregory L. Reece betont daher zu Recht, »that Rorty has seriously misconstrued religious beliefs, and has ignored the communities of justification in which religious people live their lives and hold their beliefs« (Reece 2002, 98). Der Grund dafür liegt im Konzept der Ironie selbst, weil Rorty damit annimmt, dass für private Vokabeln keine Gründe mehr angegeben werden können. Der romantische Ironiker kann deshalb nur noch literarisch verfasste Geschichten erzählen, die im Grunde nur für das erzählende Individuum verständlich sind. Dies geht aber am Selbstverständnis von Erzählungen vorbei, weil sich diese immer auch als eine Begründung für eine bestimmte Praxis verstehen, die nicht nur für den Erzähler selbst verstehbar ist. »Rorty’s 160
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reduction of religious beliefs to a shallow, individualised romanticism leaves something that does not even deserve the title religion« (Reece 2002, 104). Dies gilt außerdem auch für die von Rorty vertretene Konzeption einer pragmatistisch verstandenen Romantik, die inhaltsleer bleibt, wenn sie denn nur auf das Ideal der Liebe abzielt. 79
3.3. Religion als Teil der Geschichte und Kultur (M. Walzer) 3.3.1. Walzers Kommunitarismus als politische Philosophie Michael Walzers philosophische Position muss vor dem Hintergrund der Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus gelesen werden, welche die politische Philosophie in den 1980er-Jahren entscheidend geprägt hat. Walzer steht dabei auf der Seite des Kommunitarismus. Sein wichtigstes Werk hat er in der Hochphase dieser Debatte unter dem Titel Sphären der Gerechtigkeit (Walzer 1982) als eine kommunitaristische Antwort auf die Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1979) veröffentlicht. Walzer will damit weniger eine abstrakte Theorie der Gerechtigkeit entwickeln als ein konkretes Gerechtigkeitskonzept, das soziale Kontexte beachtet. Bezugspunkt für sein Nachdenken über Gerechtigkeit ist deshalb die jeweilige politische Gemeinschaft, die durch ein geteiltes Bewusstsein von Sprache, Geschichte und Kultur geprägt ist. Gerechtigkeit ist für ihn immer ein relativer Begriff in Bezug auf diese Traditionen und Strukturen der jeweiligen Gemeinschaft. Gegen Rawls wendet Walzer ein, dass Gerechtigkeitsprinzipien nicht hinter einem Schleier des Nichtwissens gesucht, sondern nur vor diesem Hintergrund kultureller und geschichtlicher Erfahrungen plausibilisiert werden können. Gerechtigkeit wurzelt also »in all den Dingen, die eine gemeinsame Lebensweise ausmachen« (Walzer 1982, 443); sich über dieses Verständnis hinwegzusetzen, bedeute ungerecht zu sein, so Walzers prägnante These. Jede Gemeinschaft hat also eine eigene Vorstellung von GerechDies betont Reece in einem anderen Zusammenhang noch einmal deutlich: »Rorty’s argument for a pragmatic reductionism of both liberal values and religious beliefs is problematic, however, Rorty’s version of liberal values and religious beliefs are just too shallow, too shallow to make sense, too shallow to take account of their social and historical development, and too shallow to male a difference in anyone’s life« (Reece 2002, 122 f.).
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tigkeit, die es zu rekonstruieren, reflektieren und beachten gilt. Es gibt deshalb »keine einzig richtige Verteilungsregel oder einen konsistenten Satz von Verteilungsregeln, nach der man alle heute begehrten Güter verteilen könnte« (Walzer 1992a, 12). Güter könnten vielmehr nur in Bezug auf ihre Bedeutung innerhalb einer Gesellschaft gerecht verteilt werden. Diese soziale Bedeutung von Gütern ändert sich im Laufe der Zeit kontinuierlich – und damit natürlich auch das Verständnis von Gerechtigkeit. Walzer illustriert diese Überlegung anhand der westlichen Gesellschaften. Er diagnostiziert, dass heute in vielen dieser Gesellschaften oft ein Gut verabsolutiert wird: das Kapital. Diese Dominanz des Kapitals deutet Walzer als eine Missachtung der Vielfalt von Verteilungsregeln einer Gesellschaft und damit der Sphären von Gerechtigkeit, worin sich, negativ formuliert, Ungerechtigkeit ausdrückt. »Es ist die Dominanz des Kapitals außerhalb des Marktes, die den Kapitalismus ungerecht macht« (Walzer 1992a, 444), was Walzer als eine Ideologie bezeichnet. Er wendet sich gegen solche Dominanzen einzelner Güter, weil sie der Vielfalt der Bewertungen von Gütern und den damit verbundenen Verteilungsregeln nicht entsprechen. Auch in den westlichen Gemeinschaften gibt es unterschiedliche Sphären von Gerechtigkeit, die durch eine solche Ideologie missachtet werden. Die verschiedenen Sphären der Gerechtigkeit dürfen also Walzers Meinung nach nicht harmonisiert werden, wie Rawls dies tut. Stattdessen ist ein komplexer Ausgleich zwischen den Sphären herzustellen, was Walzer als komplexe Gleichheit bezeichnet. »Das System der komplexen Gleichheit ist das Gegenteil von Tyrannei. Es erzeugt ein Netz von Beziehungen, das Dominanz und Vorherrschaft verhindert« (Walzer 1992a, 49). Damit visiert er den Erhalt einer größtmöglichen Vielfalt von Sphären der Gerechtigkeit an. Am ehesten kann ein solcher Ausgleich zwischen den Gerechtigkeitssphären in einem Wohlfahrtsstaat mit hoher Bürgerbeteiligung realisiert werden, weshalb Walzer für einen dezentralisierten demokratischen Sozialstaat votiert (vgl. Walzer 1992a, 448). Der kommunitaristische Zug seiner Theorie kommt in diesen Überlegungen zur Gerechtigkeit deutlich zum Ausdruck. Gegenüber den liberalen Theorien betont Walzer vor allem die gesellschaftlichen Unterschiede in Form von Bindungen an Familien, Kulturen, Staaten oder moralische Gemeinschaften, die je eigene Gerechtigkeitssphären konstituieren. Liberale Theorien betonen seiner Meinung nach zu sehr das 162
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Individuum und beleuchten die facettenreichen Bezüge innerhalb von Gemeinschaften und damit (normativ formuliert) die Sphären der Gerechtigkeit zu wenig. Außerdem halten sie an der These von einer allgemeingültigen Rationalität fest, die – wie im Fall von Rawls – universale Gerechtigkeitsprinzipien begründen soll. Selbst bei Habermas, der Rationalität als kommunikative Vernunft interpretiert, zeigt sich dieser Glaube an eine Harmonisierung der Unterschiede im rational geführten Diskurs. 80 Hierdurch werden kulturelle Prägungen als Teil gesellschaftlicher Debatten von ihm ebenfalls zu wenig beachtet, so der Vorwurf von Walzer (vgl. Walzer 1999, 26 ff.). Moral ist – das machen die Überlegungen zur Gerechtigkeit bereits einsichtig – kein abstraktes Regelwerk, das durch theoretische Überlegungen begründet werden kann. Ethik als Reflexionstheorie von Moral deutet Walzer deshalb als Entdeckung und Interpretation der vorherrschenden Moral. Menschen stellen beim Nachdenken über Moral fest, »dass die Moralvorstellungen, die wir entdecken und erfinden, letzten Endes stets der Moral, die wir bereits besitzen, erstaunlich ähneln« (Walzer 1990, 30). Ethische Überlegungen haben daher keinen von der gesellschaftlichen Realität losgelösten Status, sondern sind eng mit dieser verbunden. Indem Menschen auf sie Bezug nehmen, interpretieren sie Normen und legen sie hinsichtlich ihrer konkreten Situation aus (vgl. Walzer 1990, 31). 81 Die Verpflichtung, einer Norm zu folgen, ergibt sich daher für Walzer weniger daraus, dass sie theoretisch besonders gut begründet wäre, sondern aus der faktischen Gültigkeit innerhalb einer Gemeinschaft. Die moralische Welt »verpflichtet, weil sie uns mit allem versorgt, was wir benötigen, um ein Walzer betont gegenüber Habermas, dass in der deliberativen Theorie Differenzen in Form der »Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einer Kultur, zu einem Staat oder die Bindung an eine moralische Beziehung« (Walzer 1999, 27) zu wenig beachtet würden. Außerdem hält Walzer die Möglichkeiten einer auf einen rationalen Konsens abzielenden Deliberation für beschränkt. Die »Deliberation an sich, und eine Anzahl von Leuten, deren Arbeit sie ist oder jemals sein könnte, gibt es nicht« (Walzer 1999, 62). Schlussendlich macht er auf das Moment der Leidenschaft als wichtige Grundlage politischer Deliberation aufmerksam, wodurch eine wichtige und »nützliche Revision liberaler Theorie« möglich wird, »die in den letzten Jahren zu sehr mit der Entwicklung leidenschaftsloser deliberativer Verfahren beschäftigt gewesen ist« (Walzer 1999, 88). 81 Das bedeutet für die politische Philosophie wiederum, dass auch ihr kein von der historischen Realität vollständig unabhängiger Status zukommt, worin sich einmal mehr Hegels Diktum von der kontextuellen Eingebundenheit des Philosophierens widerspiegelt (vgl. Hegel 1820–1821/1986, Vorrede; vgl. Kap. 2.3.3.). 80
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moralisches Leben zu führen – die Fähigkeit zur Reflexion und Kritik eingeschlossen« (Walzer 1990, 31). Der Nachsatz macht wiederum deutlich, dass Ethik nicht eine normative Anerkennung des Faktischen ist, sondern dass Menschen die Möglichkeit haben, sich von der gesellschaftlich vorherrschenden Moral zu distanzieren und diese zu kritisieren. Moral ist für Walzer daher kein abgeschlossenes System von Überzeugungen, sondern in einen Prozess der kritischen Adaptation und Diskussion eingebunden. Moral ist »etwas, worüber wir streiten müssen. Der Streit impliziert, dass wir sie gemeinsam besitzen, doch dieser gemeinsame Besitz garantiert keine Übereinstimmung« (Walzer 1990, 42). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ständig neu zu formulierenden Kritik an gesellschaftlichen Strukturen. 82 Diese wiederum hat allerdings nicht den Status eines theoretischen Systems, sondern den einer Erzählung, die an die bestehenden Moralauffassungen anschließt und diese gleichzeitig kritisch erweitert bzw. transformiert. »Gesellschaftskritik ist weniger ein praktischer Abkömmling wissenschaftlichen Wissens als vielmehr der gebildete Vetter der gemeinen Beschwerde. Wir werden gewissermaßen auf natürliche Weise zum Sozialkritiker, indem wir auf der Grundlage der bestehenden Moral(auffassungen) aufbauend Geschichten von einer Gesellschaft erzählen, die gerechter ist als die unsere, aber niemals eine völlig andere Gesellschaft« (Walzer 1990, 78).
Als Hintergrund für die Reflexion der gesellschaftlichen Funktion von Religion sind neben Walzers kommunitaristischer Grundlegung der politischen Philosophie seine Überlegungen zur Globalisierung von besonderem Interesse, in denen er seine gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen auf globale Kontexte überträgt. Seine kommunitaristische Position führt dabei keineswegs zu einem kulturellen RelativisAuf diesem Verständnis von Gesellschaftskritik aufbauend, interpretiert Walzer philosophiegeschichtlich die Arbeiten von Moralphilosophen. Grundlage dieser biografisch orientierten Analysen ist auch hier das Wechselverhältnis ethischer Reflexion und faktischer moralischer Erfahrungswelt der Autoren. »Seit einer Reihe von Jahren schon verwahre ich mich (…) gegen die Behauptung, dass moralische Grundsätze der alltäglichen Erfahrungswelt notwendig fremd sein müssten und dort draußen darauf warteten, von einem distanzierten und leidenschaftslosen Philosophen entdeckt zu werden« (Walzer 1991, 7). Vor diesem Hintergrund analysiert Walzer das Leben von Gesellschaftskritikern wie Antonio Gramsci, Martin Buber oder Michel Foucault und erklärt, warum deren Gesellschaftskritiken nicht aus abstrakten ethischen Überlegungen entstanden sind, sondern sich aus den lebensweltlichen Kontexten ihrer Lebensgeschichten heraus erklären lassen (vgl. Walzer 1991).
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mus, sondern zu einer Position, die zwischen einem starken Universalismus und einer kommunitaristischen Betonung der kulturellen Gemeinschaften und deren Moralvorstellungen changiert. Er argumentiert einerseits, dass kulturelle Prägungen von Werthorizonten ebenfalls im Zeitalter der Globalisierung enorm wichtig sind. Andererseits hebt er gleichzeitig heraus, dass Menschen weltweit, ausgehend von diesen lokalen Verankerungen, eine gemeinsame globale Moral ausbilden. »Ich zeige, wie wir einerseits unter uns, zu Hause, über die ›Dichte‹ unserer eigenen Geschichte und Kultur (einschließlich unserer demokratischen politischen Kultur) sprechen und wie wir andererseits mit Menschen anderer Länder, über alle kulturellen Unterschiede hinweg, über das gemeinsame ›dünnere‹ Leben reden können« (Walzer 1999, 12).
Walzer unterscheidet deshalb zwischen einer dichten und einer dünnen Moral, wobei mit dem Begriff ›dicht‹ die von einer Gemeinschaft geteilte Moral gemeint ist. Walzer will gerade angesichts globaler Dynamiken diese dichte Moral der einzelnen Gruppen ernst nehmen und die Unterschiede zwischen diesen Moralvorstellungen nicht selbstverständlich in einer übergeordneten Moral aufgehen lassen, vor allem weil es keine umfassende Gemeinschaft der Menschheit gibt, die Bezugspunkt für eine solche dichte Moral sein könnte. »Dies bedeutet auch, dass unser gemeinsames Menschsein uns niemals zu Mitgliedern eines einzigen, allumfassenden ›Stammes‹ machen wird. Die entscheidende Gemeinsamkeit der menschlichen Rasse ist der Partikularismus: Wir alle nehmen Anteil an unseren eigenen ›dichten‹ Kulturen. Mit dem Ende der alten Imperien und der totalitären Herrschaft können wir wenigstens diese Gemeinsamkeit anerkennen und in die dadurch erforderlichen, schwierigen Verhandlungen eintreten« (Walzer 1996, 110).
Dennoch bildet sich auf globaler Ebene auch eine dünne Moral geteilter Minimalnormen heraus, die sich aus den dichten Moralvorstellungen speist. Walzer deutet zum Beispiel globale Protestbewegungen als Ausdruck dieser dünnen Moral, die Menschen vor dem Hintergrund ihrer eigenen dichten Moral verstehen. Die Bilder von den Demonstrationen 1989, auf denen Menschen zu sehen sind, die in Mittel- und Osteuropa für eine freie Welt auf die Straße gehen, sind ein Paradebeispiel hierfür, weil sie weltweit unabhängig von kulturellen Traditionen intuitiv verständlich sind und als Ausdruck einer globalen Gerechtigkeit gedeutet werden können (vgl. Walzer 1996a, 17 ff.). A
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Menschen sind also Teil lokaler Moralgemeinschaften und gleichzeitig Teil der Weltgemeinschaft, die durch eine dünne Moral gekennzeichnet ist. Angesichts der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und der vielfältigen Prozesse der Individualisierung zeigen sich gleichzeitig aber auch die dünnen Moralvorstellungen nicht als homogene Einheiten. Denn Menschen sind ebenfalls auf der lokalen Ebene schon von Beginn an Teil verschiedener politischer und gesellschaftlicher Gruppen. Nationalstaatlich verfasste Gesellschaften, die vor allem der Bezugspunkt für dünne Moralvorstellungen sind, sind heute nicht nur durch eine Moral, sondern vielfältige Gemeinschaften und damit plurale Wertvorstellungen gekennzeichnet. »Die Erzeugung von Differenz, sowohl im Selbst als auch in der Gesellschaft, ist das beherrschende Merkmal der Geschichte der Moderne« (Walzer 1996a, 56). Damit interpretiert Walzer Subjekte als heterogen; das Subjekt teilt sich »erstens in seine verschiedenen Interessen und Rollen auf, zweitens in seine verschiedenen Identitäten und drittens in seine Ideale, Werte und Grundsätze« (Schürmann 2008, 125). Menschen stellen heute mehr denn je fest, dass sie durch ein ›geteiltes Selbst‹ gekennzeichnet sind, weil sie immer verschiedenen Traditionen angehören. Dies gilt auch für das ethische Selbst, das immer »mit mehr als nur einer moralischen Stimme spricht« (Walzer 1996a, 112). Will politische Philosophie diesem Sachverhalt entsprechen, muss sie ein komplexes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Versionen von Selbstbestimmung in der eigenen und globalisierten Gesellschaft anvisieren. Dazu ist analog zum Ausgleich zwischen den Gerechtigkeitssphären ein ständiger Ausgleich zwischen den unterschiedlichen dichten Moralvorstellungen der jeweiligen Kulturen und der dünnen (globalen) Moral notwendig. Dieser dynamische Austausch von dichten und dünnen Moralvorstellungen ist der Kern des ethischen Universalismus von Walzer. Das, was Menschen in globaler Dimension als dünne Moral bilden, muss sich nämlich immer wieder neu an den einzelnen Entwicklungen der Weltgesellschaft bewähren, weshalb Universalismus nur in Form einer ständigen Wiederholung möglich ist: Dünne Moral entsteht immer wieder neu und wird gleichzeitig mit anderen, dichten Moralvorstellungen und weltgesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert, wodurch der Universalismus dynamisiert wird. »Der Universalismus der Wiederholung wirkt größtenteils innerhalb durch ›wir und sie‹ gezogener Grenzen – er handelt von ›unserer‹ Vernunft und
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›ihrer Vernunft‹, nicht von der Vernunft als solcher. Er erfordert Achtung vor den anderen, die nicht weniger Bildner von Moral sind als wir selbst. Das heißt nicht, dass die von ihnen und die von uns geschaffenen Moralen den gleichen Wert (oder Unwert) haben. Es gibt keinen einheitlichen oder ewigen Wertmaßstab (…), die Wiederholung ist eine beständige und beständig umstrittene Tätigkeit. Die umfassendste Forderung der Moral, das Kernprinzip eines jeden Universalismus, muss darum lauten: Wir müssen einen Weg finden, diese streitbare Tätigkeit auszuüben und zugleich mit den anderen Akteuren in Frieden zu leben« (Walzer 1996, 168).
Die Achtung kultureller Differenzen wird in diesem Zusammenhang genauso zum unhintergehbaren Ausgangspunkt des wiederholenden Universalismus wie das Gespür für die globale Minimalmoral. Damit hebt Walzer die facettenreichen »Prozesse kultureller Kreativität und Modelle wechselseitiger Bindung« (Walzer 1996, 198) innerhalb seiner politischen Philosophie hervor.
3.3.2. Das Judentum als kulturelles Paradigma zur Deutung von Religion Walzers Beschäftigung mit Religion und deren gesellschaftlicher Funktion ist vor dem Hintergrund seines kommunitaristischen Erklärungsmodells sozialer Prozesse zu analysieren. Er eröffnet hierbei zwei zu unterscheidende Zugänge zur Religion. Auf der einen Seite steht eine Analyse und Reflexion von Religion in ihrer geschichtlich-kulturellen Gestalt anhand ihrer religiösen Quellen. Das Judentum ist dabei für Walzer Dreh- und Angelpunkt, beispielsweise in den Studien, die er mit Historikern und Religionswissenschaftlern erarbeitet bzw. herausgibt (vgl. Walzer 1988; ders. 2001; ders. 2006). 83 Walzers Grundannahme in diesen Studien ist, dass es im Judentum von Beginn an eine ausdifferenzierte politische Theorie gab, angefangen von allgemein-politischen oder rechtlichen Konzepten bis hin zu konkreten Vorschlägen politischer Institutionalisierung. Dabei spielen historische Ereignisse des jüdischen Volkes eine wichtige Rolle. »A long series of writers have addressed political questions by referring themselves to the same authoritative texts and to the critical events on which Im Jahr 2000 hat Walzer begonnen, eine eigene Reihe zur Jewish Political Tradition herauszugeben; der erste Band widmet sich dem Thema Autorität (Walzer et al. 2000).
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these texts are focussed: the Exodus from Egypt, the Sinai revelation and covenant, the winning of the land, the establishment of the monarchy in the time of Saul and David, and then the conquests and revolts, the wars and civil wars, that brought destruction, loss, and exile« (Walzer et al. 2000, XXII).
Inhaltlicher Fokus dieses kulturgeschichtlich orientierten Zugangs zur Religion ist damit die Frage nach der politischen Dimension von Religion, die in religiösen Quellen impliziert ist. Es geht Walzer dabei nicht primär um das Herausarbeiten eines klar umrissenen Religionsbegriffs, sondern um die Rekonstruktion der kulturellen Geschichte von Religion, in der bestimmte theoretische Inhalte transportiert und damit gesellschaftlich wirkmächtig werden. Den zweiten Zugang zur Religion eröffnet Walzer dezidiert als ein politischer Philosoph, der im Kontext der US-amerikanischen Tradition über Religion nachdenkt. Als solcher will er sowohl liberales Denken zu einer stärkeren Beachtung von kultureller Vielfalt führen als auch den demokratischen Staat vor autoritären Strömungen schützen. Aus dieser teils gegenläufigen Doppelperspektive heraus widmet er sich besonders der Verhältnisbestimmung von Politik (verstanden als demokratischer Staat) und Religion. Es geht ihm dabei um die Anerkennung der Religion als Teil der kulturellen Vielfalt von Gesellschaften und gleichzeitig um einen Schutz vor der ideologischen Dominanz einer gesellschaftlichen Gruppe mit ihrer religiösen Weltanschauung und Moralvorstellung. Auch in diesem Zusammenhang entwickelt Walzer keinen expliziten Religionsbegriff; es wird allerdings deutlich, in welchen Formen und unter welchen Bedingungen Religion als eine gesellschaftliche Kraft in öffentlichen und politischen Diskursen beachtet werden kann und wo ihr Aktionsradius begrenzt werden sollte. Im Folgenden wird zuerst der kulturgeschichtliche Zugang zur Religion in zwei Schritten rekonstruiert (vgl. Kap. 3.3.2.1. und Kap. 3.3.2.2.). Dabei stehen die Analysen des Exodus-Motivs im Fokus. Danach wird die systematische Verhältnisbestimmung von Religion und Politik in modernen Gesellschaften rekonstruiert (vgl. Kap. 3.3.2.3.). 3.3.2.1. Über Heilige, Propheten und radikale Politik Schon früh beschäftigt sich Walzer mit religiösen Signaturen in politischen Prozessen; ein herausragendes Beispiel ist seine 1965 vorgelegte Studie zum Thema The revolution of the saints: A study in the origins of radical politics (Walzer 1965). Darin rekonstruiert er Formen radi168
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kaler Politik, die sich in verschiedenen religiösen Kontexten gebildet haben. Einen besonderen Stellenwert nimmt in diesem Zusammenhang die Analyse des Calvinismus ein. Dabei analysiert er die Bedeutung von Exilerfahrungen, die bei der Konstruktion radikaler Politik eine Rolle gespielt haben. Ein Beispiel hierfür sind die englischen Glaubensflüchtlinge unter Königin Maria im 16. Jahrhundert. »The radicalism of their views was the intellectual outcome of a long process of alienation and detachment, culminating finally in the physical fact of their double exile and setting them altogether free of English convention and law« (Walzer 1965, 96).
Die Herausbildung religiös begründeter radikaler Politik vollzieht sich nach Walzer in langen Entwicklungsprozessen. Religiösen Führungsfiguren, die Walzer auch als ›moderne Heilige‹ bezeichnet, kommt dabei eine bedeutende Rolle zu. Diese haben vor ihrem eigenen religiösen Hintergrund radikale Sichtweisen auf politische oder soziale Probleme entwickelt und diese revolutionären Ideen in gesellschaftliche Prozesse mit dem Ziel einer radikalen Veränderung eingebracht. Dies zeigt sich wiederum mit Blick auf die englische Geschichte der frühen Neuzeit. »The very appearance of the Puritan saints in English history suggests the breakdown of an older order in which neither Protestant autodidacts, political exiles, nor voluntary associations of lay brethren were conceivable« (Walzer 1965, 310).
Neue Heilige konfrontieren die Gesellschaft mit ihren radikalen Ideen und entwickeln dabei – nicht zuletzt durch eine Instrumentalisierung existierender Ängste in der Bevölkerung – radikale Politikkonzepte. Die Geschichte des Puritanismus ist für Walzer ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür. »Walzer betrachtet den Puritanismus und seine Ausbreitung in bestimmten sozialen Schichten als eine Reaktion auf soziale Unordnung und die damit verbundenen Angsterfahrungen, eine ideologische Antwort auf extrem unstabile soziale Verhältnisse, wie sie vor allem von Mitgliedern der aufsteigenden Mittelklasse erlebt wurden. (…) Durch Neustrukturierung der Situation verhalf sie den betreffenden Individuen dazu, ihre Desorientierung zu überwinden und ihre Energien in einer Weise zu kanalisieren, die ihnen sinnvoll erschien und ihr Bedürfnis nach sozialer Legitimation befriedigte« (Albert 1998, 279 f.).
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Die Aufnahme der puritanischen Ideen in umfassende politische Konzepte musste dabei allerdings eine reflexive Läuterungsphase durchlaufen, denn erst damit konnten religiöse Ideen ihre volle gesellschaftliche Wirkung in politischen Prozessen entfalten. Die Faszination für Menschen, die in besonderer Weise die Moralauffassungen einer Gesellschaft kritisieren und in einer visionären, teils revolutionären Weise unter Bezugnahme auf religiöse Erzählungen neue Wege der politischen Gestaltung aufzeigen, spiegelt sich in vielen Arbeiten von Walzer wider. Die Figur des Propheten in den heiligen Schriften des Judentums und Christentums, die Walzer als eine personifizierte, religiös motivierte Form von Gesellschaftskritik interpretiert, ist seiner Ansicht nach ein herausragendes Beispiel hierfür (vgl. Walzer 1990, 83–108). Auch prophetische Botschaften sind allerdings nicht kultur- oder kontextlos, sondern sie stehen immer in einer bestimmten gesellschaftlichen Tradition. Beispielhaft analysiert Walzer Passagen aus dem Buch Deuteronomium als Formen von Gesellschaftskritik, die erst vor dem Hintergrund der israelischen Geschichte ihre Deutungskraft und volle Brisanz entfalten. Auch am Propheten Amos zeigt Walzer auf (vgl. Walzer 1991, 27 f.), dass sich prophetische Gesellschaftskritik immer an eine konkrete Gesellschaft und deren politische Praxis richtet und deshalb von Außenstehenden zwar bewundert werden kann, aber für diese nicht die gleiche politische Wirkung entfaltet. Propheten verfolgen daher letztlich immer partikulare Ziele, die nur vor dem Kontext ihrer Gemeinschaft und ihrer Geschichte verstehbar und realisierbar sind. »Es ist also ein Irrtum, die Propheten für ihre universalistische Botschaft zu preisen; denn das Bewundernswerte an ihnen ist ihr partikularistischer Zank und Streit – ein Streit, der auch, wie sie uns sagen, Gottes Streit mit den Kindern Israels ist« (Walzer 1990, 107 f.).
Zwei weitere Merkmale prophetischer Gesellschaftskritik hebt Walzer in seinen Analysen besonders hervor: Erstens entwickeln Propheten keine materialen Konzeptionen einer politischen Philosophie bzw. Theologie im Sinne einer umfassenden Utopie, die Handlungsorientierung für politische Regime sein könnte. Ihre Kritik will die Probleme bestehender Moralauffassungen oder politischer Praktiken aufdecken und anprangern. Propheten verstehen sich dabei selbst nicht als Konstrukteure eines neuen politischen, institutionellen Gefüges, die Bedeutung ihrer Äußerungen liegt vielmehr in der schonungslosen Kritik. 170
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Zweitens sind sie dabei nicht an einer individuellen Rettung ihrer Person interessiert, weshalb sie ihre Kritik unabhängig von möglichen Konsequenzen für ihr eigenes Leben formulieren. An diesen Überlegungen zu Heiligen und Propheten wird das grundsätzliche Interesse von Walzer an der Religion deutlich: Religiöse Ideen und Erzählungen sind Teil umfassender kultureller Prozesse, mit denen sie eng verwoben sind. Religiöse Menschen wie Propheten nehmen daher in politischen Prozessen selbstverständlich Bezug auf religiöse Überzeugungen, beispielsweise um politische Konzepte zu entwerfen oder revolutionäre Ansätze zu verfolgen. Menschen werden in diese Kontexte ›hineingeboren‹ ; sie sind Bestandteil ihrer individuellen wie kollektiven Identität. »Die früheren Rituale zur Festigung religiöser Bindungen sind bemerkenswert wirksam. Für die Mehrheit der Menschen lässt sich die Religionszugehörigkeit deshalb am besten als ein Erbe beschreiben. (…) Die Menschen schließen sich solchen Assoziationen an, die ihre Identität bestätigen« (Walzer 1999, 15).
Solche religiösen Gemeinschaften sind ein wichtiges Element für das Zusammenleben in einer Gesellschaft im Sinne einer kulturell gefüllten Identitätsbildung. Sie sind dabei allerdings meist nicht nur auf den einzelnen religiösen Menschen bezogen, sondern implizieren religiöse oder moralische Ansprüche, die auf die Menschheit als Ganzes weisen. In moralischer Hinsicht wissen Gläubige sich beispielsweise oftmals verbunden mit all denen, die unterdrückt oder ungerecht behandelt werden. Religionen sind deshalb für Walzer einerseits Kulminationspunkte partikularer Werte und können andererseits gleichzeitig auch Träger und Förderer eines wiederholenden Universalismus sein, wenn sie ihre Werte auf die Menschheit als Ganzes übertragen. Walzer sieht diese Einstellung eines wiederholenden Universalismus im Judentum im Allgemeinen und dem Prophetentum im Besonderen paradigmatisch verwirklicht (vgl. Walzer 2007b, 183 ff.). 3.3.2.2. Exodus-Motiv und politischer Messianismus Grundlegend für Walzers Rekonstruktion der Religion als integraler Bestandteil kulturell-gesellschaftlicher Entwicklungen ist der Band Exodus und Revolution (Walzer 1988). Um zeitgenössische Politik verstehen zu können, rekonstruiert er die Tiefenschichten dieser religiösen Erzählung in ihrer Bedeutung für aktuelle soziale Konstruktionen A
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von Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Politik. »Die biblische ExodusErzählung wird hier als ein politisches Narrativ vorgestellt, als eine Erzählung, die gemeinsamem Handeln einen sinnstiftenden Rahmen verleiht« (Haus 2010, 43) und die als solche bis heute hochaktuell ist. Erkenntnisleitend ist für Walzer in diesem Zusammenhang die These, dass das Motiv des Exodus über Jahrhunderte hinweg politische Entwicklungen in Europa (zum Beispiel die Französische Revolution) und den USA geprägt hat. So sind die Geschichte und das Selbstverständnis der US-amerikanischen Politik bis heute stark durch die Erzählung des Exodus und der mit ihr verbundenen Idee des Bundes zwischen Gott und Mensch beeinflusst. Es ist daher sinnvoll, dieses Motiv genauer zu analysieren, um die religiösen Wurzeln der westlichen Kulturen besser verstehen zu können. »Es gibt wohl kaum ein Buch, das es uns ermöglicht, die politische Theologie der amerikanischen Republik besser zu verstehen als Michael Walzers ›Exodus und Revolution‹ (…). Walzer erzählt uns vom Alten Bund und vom puritanischen Projekt einer Neuen Welt, vom Bund des Pilgervolks in der Wüste, von der Erfahrung und Erinnerung der Auswanderung, von der Fremde, die hinter jeder neuen Heimat steht« (Kallscheuer 1994, 119).
Walzer deutet in der Rekonstruktion dieser Interpretationsgeschichte den Exodus als ein Paradigma revolutionärer Politik (vgl. Walzer 1988, 17), das insbesondere auf die Momente der Rettung und Befreiung fokussiert. Der Exodus beschreibt eine zielgerichtete Reise, die mit einem moralischen Fortschritt und einer Verwandlung der reisenden Gemeinschaft einhergeht. Die Exodus-Geschichte impliziert die Annahme, dass es für diese Gemeinschaft nicht nur um das Ziel geht, sondern vor allem um den Weg selbst, der als eine immer wieder neu herzustellende Form der Befreiung für die religiöse Gemeinschaft gedeutet werden kann. Als einen wichtigen Aspekt des Exodus-Motivs interpretiert Walzer dabei das »Murren des Volkes« (Walzer 1988, 22), das Ausdruck der Furchtsamkeit einer Gemeinschaft ist. Die Reise ist nämlich nicht nur eine Geschichte der heldenhaften Befreiung, sondern wegen moralischer oder politischer Verfehlungen erfährt die Gemeinschaft immer wieder massive Rückschläge, die das Ergebnis von Ungehorsam oder des Versagens ›moralischer Wachsamkeit‹ sind (vgl. Walzer 1988, 23). Das Motiv des Exodus ist damit eines des Verarbeitens von Rückschritten und der Hoffnung auf Rettung. Der Blick auf Gott motiviert 172
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die Menschen zu diesem Weg durch die Wüste, wobei die Gemeinschaft immer als aktiv handelnde dargestellt wird. Sie kann sich deshalb auch gegen Gott stellen und muss dann mit Rückschlägen umzugehen lernen. In dieser Rekonstruktion des Exodus wird Walzers Verständnis von Religion indirekt sichtbar. Religion ist eine Motivation für eine religiöse Gemeinschaft, sich auf den Weg zu machen und sich durch die Geschichte auf ein bestimmtes Ziel hin zu bewegen. Hoffnung und das Moment des sich immer wieder neu ›in-Bewegung-Setzens‹ spielen dabei eine entscheidende Rolle. Vom Kampf in Ägypten ausgehend, über den Weg durch die Wüste bis hin zum Erreichen des Gelobten Landes führt die Reise der religiösen Gemeinschaft. Religion wirkt, Walzer zufolge, wie ein motivationaler Antrieb für die Gläubigen, diesen Weg zu gehen. Dabei wird Religion von Walzer weniger vom einzelnen religiösen Gläubigen her erklärt, sondern von der Religionsgemeinschaft als einer historisch-kulturellen Praxis. Der Exodus, wie er im Alten Testament beschrieben ist, ist mit Blick auf die lange Interpretationsgeschichte allerdings kein eindeutiges und für alle Zeit fixierbares Motiv. Es wurde seit seinem Entstehen auf vielfältige Weise in säkulare politische Theorien übertragen. In diesen Transformationsprozessen wird das genuin religiöse Exodus-Motiv zu einem säkularen Modell von revolutionärer (Exodus-)Politik, die Unterdrückung aufheben will und eine umfassende Befreiung der Menschen anstrebt. Exodus-Politik ist eine Politik, die aktiv auf Leid reagiert und dieses trotz immer wiederkehrender Rückschläge zu überwinden versucht. Das Element der Transzendenz wird dabei von Gott als einer Person, die eine Orientierung für den Marsch durch die Wüste gibt, gelöst und auf ein politisches Ziel bzw. eine immanent-geschichtliche Hoffnung übertragen. Gleichzeitig zeigt Walzer eine grundsätzliche Spannung auf, in der sich Exodus-Politik in all ihren historischen Gestaltungsformen schon immer befunden hat. Exodus-Politik läuft nämlich Gefahr, zu einem politischen Messianismus zu werden, der Rückschläge und die scheinbare Endlosigkeit der Exodus-Geschichte überwinden will und stattdessen eine möglichst schnelle, endgültige Befreiung intendiert. »Die ›Exodus-Politik‹ droht immer wieder in den ›politischen Messianismus‹ umzuschlagen, d. h. einer eschatologischen Abkürzung des langen Kampfes um Befreiung« (Haus 2010, 43). Der Messianismus will nach Walzers Verständnis der Last der Geschichte entkommen, inA
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dem das Ende des Marsches in das Gelobte Land als eine endgültige Befreiung prophezeit wird. Es geht dem Messianismus weniger um einen immer wiederkehrenden Neuanfang, wie er für das ursprüngliche Exodus-Motiv charakteristisch ist, sondern um eine endgültige Realisierung der ursprünglichen Erlösungsprophezeiung (vgl. Walzer 1988, 26). Dieser so verstandene Messianismus baut damit auf dem Exodus-Motiv auf, transformiert dieses allerdings stark. Die ursprüngliche Exodus-Erzählung dient dabei oftmals lediglich nur noch als religiöse Legitimation. Walzers Ansicht nach findet man heute in vielen globalen Problemfeldern und gesellschaftlichen Entwicklungen moderne Formen des Messianismus als politische Modelle. Messianismus wird dabei zu einem Synonym für radikale Politik mit einem überhöhten Ziel, wodurch messianische Vorstellungen, die ihren Ursprung im religiösen Exodus-Gedanken haben, in säkular Konzepte übertragen werden – dies gilt auch für die Politik der jüdischen Religionsgemeinschaft selbst. Beispielsweise sieht Walzer Tendenzen des Messianismus im Zionismus, der die Auswanderung der Juden nach Israel teilweise mit einem endgültigen Rettungsgedanken verbindet. Der messianische Zionismus nimmt apokalyptische Züge an, indem er bei seinen Anhängern die Bereitschaft fördert, das Ende der Zeit notfalls mit Gewalt zu erzwingen (vgl. Walzer 1988, 147). Das Ende der Geschichte ist dabei für den Messianismus eine Überwindung der kontingenten Geschichte, womit das Element der Offenheit und des Neuanfangs im Exodus-Motiv negiert wird. Eine mögliche politische Niederlage wird deshalb als ein Verlust Gottes gedeutet, was noch einmal deutlich die Überhöhung des Zielpunktes zum Ausdruck bringt. Walzer argumentiert, dass gerade bei der Eroberung eines Landes eine solche Transformation des Exodus-Motivs zum Messianismus sehr schnell vollzogen werden kann. Es geht dann darum, die Feinde um jeden Preis zu töten, um damit die historische Bedingtheit einer Gemeinschaft auf ein bestimmtes Ziel hin zu überwinden. Dabei benutzt der Messianismus als politisches Konzept oftmals das Mittel der physischen wie psychischen Gewalt. Gegen einen solchen politischen Messianismus betont Walzer, dass damit der Kern der religiösen Exodus-Erzählung negiert werde, und zwar auf mehrfache Weise. Zum einen impliziert das Exodus-Motiv die Notwendigkeit, immer innerhalb der Geschichte zu handeln (vgl. Walzer 1988, 149), was der Messianismus leugnet, weil er letztlich auf ein Ziel hinarbeitet, das jenseits der kontingenten Geschichte 174
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angesiedelt ist. Damit werde die geschichtliche Kontingenz menschlicher Vergesellschaftung negiert, so Walzers Kritik. Das ursprüngliche Exodus-Motiv und der heutige politische Messianismus unterscheiden sich daher Walzers Argumentation zufolge vor allem hinsichtlich ihres Geschichtsverständnisses: Während der Messianismus die Geschichte überwinden will, betont das Exodus-Motiv, dass politische Revolution nur in der Geschichte möglich ist, weshalb Exodus-Politik ursprünglich aus einer langen Reihe von konkreten Entscheidungen besteht (vgl. Walzer 1988, 155). »Gegen den politischen Messianismus setzt Walzer auf die Praxis der ›Exodus-Politik‹, die nicht auf das Ende der Zeiten, sondern auf die schrittweise Verbesserung der irdischen Lebensbedingungen abzielt« (Krause 2010, 346). 84
Zum anderen betont Walzer, dass radikale Politik, die sich am Motiv des Exodus orientiert, keinesfalls gewalttätig sein müsse, was beim Messianismus heute oftmals der Fall sei (vgl. Walzer 1988, 153). Das Moment der Gewalt findet sich gerade nicht im Kern der religiösen Geschichte, sondern es ist erst im Laufe der Interpretationen und Transformationen von außen hinzugefügt worden. 85 Exodus-Politik ist ursprünglich gemäßigt und gewaltfrei. Zwar zielt auch sie auf eine revolutionäre Entwicklung und sieht den Menschen als aktiven und nicht passiven Teil gesellschaftlicher Prozesse, aber die Mittel der politischen Aktion sind in der ursprünglichen Erzählung des Judentums nicht an Gewalt orientiert. Diese gewaltlose, »säkulare Interpretation des Exodus, die die lange Reise ins Gelobte Land gleichsetzt mit der Suche nach einer gerechten Gesellschaft, die es allen Bürgern, ungeachtet ihres Glaubens, ermöglicht, sich mit dem Marsch und seinen
Walzer hat bereits in seinen frühen Arbeiten über das Judentum in ähnlicher Weise zwischen Radikalismus und Totalitarismus unterschieden (vgl. Walzer 1965). Der Unterschied der beiden Formen radikaler Exodus-Politik kann an der Geschichte politischer Revolutionen abgelesen werden. Es gibt einen ersten Typ von Revolution, der auf eine schnelle, meist ausschließlich an Gewalt orientierte Ausrichtung des Politischen setzt. Dagegen visiert der am Exodus-Motiv orientierte Typus von Revolution einen langfristigen gesellschaftlichen Veränderungsprozess an, in dem Lernerfahrungen gemeinsam vollzogen werden. 85 Damit bezieht Walzer explizit Position zu der These Assmanns, dass insbesondere die monotheistischen Religionen wie das Christentum grundsätzlich zu Gewalt neigten (Assmann 1998; ders. 2005; vgl. Kap. 1.2.). 84
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Zielen zu identifizieren, ist nach Walzer diejenige, die einer pluralistischen Gesellschaft alleine angemessen ist« (Krause 2010, 346). 3.3.2.3. Verhältnis von Religion und Politik in liberalen Demokratien Walzers Zugang zum Thema Religion, wie er bislang rekonstruiert wurde, folgt seiner kommunitaristischen Ausrichtung politischer Philosophie. Religion ist in dieser Hinsicht ein Teil des kulturellen Bewusstseins einer Gemeinschaft, und als solches prägt es diese auf unterschiedlichen Ebenen; explizit thematisiert Walzer das religiös geprägte Verständnis von Zeitlichkeit, Gemeinschaft, Werten und Politik. Indem Religionen in die Geschichte von Gesellschaften verwoben sind, werden sie zu wichtigen Bestandteilen von diesen, was exemplarisch an der Transformation des Exodus-Motivs abgelesen werden kann. Ihren Einfluss üben Religionen dabei nicht nur – und nicht einmal vorrangig – in einer direkten Weise aus; vielmehr werden religiöse Ideen durch zahlreiche Interpretationen (vor allem von heiligen Schriften) in gesellschaftliche und politische Entwicklungsprozesse integriert. Gleichzeitig wurde bereits deutlich, dass Religion immer ein ambivalentes Phänomen ist, denn die kulturell bedingten Interpretationen können religiöse Ideen in unterschiedliche Richtungen transformieren. Das Beispiel des politischen Messianismus als eine solche Transformation zeigt dies paradigmatisch, weil hier die religiöse Exodus-Geschichte aufgegriffen, ins Politische übertragen und dabei gleichzeitig ihr ursprünglicher Kern (Verständnis von Zeitlichkeit und Kontingenz) überwunden und radikalisiert wird. Ein so verstandener politischer Messianismus als Teil des kulturellen Bewusstseins einer Gesellschaft radikalisiert religiöse Ideen und setzt diese, teilweise gewalttätig, um. Die Exodus-Geschichte ist grundsätzlich offen für solche Transformationen, auch wenn damit ihre ursprüngliche Intention nicht mehr erhalten bleibt. Dieses Beispiel bringt somit die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz religiöser Motive und Erzählungen zum Ausdruck. Eine mögliche Schlussfolgerung daraus wäre nun, sich der liberalen Position anzuschließen und religiöse Traditionen und Motive ganz aus dem politischen Feld zu verbannen, um der Ambivalenz von Religion vorzubeugen und radikal-gewalttätige Transformationen zu unterbinden. Walzer widmet sich eigens dieser Frage und thematisiert damit explizit die Rolle von Religion in liberal-säkularen Demokratien (vgl. im Folgenden Walzer 1998a). Zuerst trägt er in diesem Zusam176
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menhang die Argumente vor, die aus einer liberalen Sichtweise – ganz im Sinne Rortys – für eine strikte Trennung von Religion und Politik und einen Ausschluss religiöser Überzeugungen und Semantiken aus dem öffentlichen Diskurs sprechen. In diesem Sinne betont Walzer, dass der moderne demokratische Staat neutral sein müsse, um dem Modell der komplexen Gleichheit zu entsprechen; insbesondere dürfe Religion keine staatliche Gewalt ausüben, weil damit die Freiheit des einzelnen Bürgers massiv eingeschränkt würde. Zudem dürften öffentliche Zeremonien des Staates nicht von einer Religion geprägt sein, weil dieser sonst eine Vorrangstellung eingeräumt werden könne, was insbesondere in der Diskussion um die sogenannte Zivilreligion in den USA eine wichtige Rolle spiele. 86 Darüber hinaus wird vonseiten des Liberalismus eine allgemeine Verständlichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs gefordert, was bereits in der Auseinandersetzung mit Habermas und Rorty deutlich wurde (vgl. Kap. 3.1.3. und Kap. 3.2.2.). Für das Verhältnis von Religion und Politik bedeutet dies, dass in öffentlichen Diskursen nur allgemein verständliche Argumente akzeptiert werden, weshalb von den religiösen Bürgern eine Übersetzung ihrer Überzeugungen gefordert wird. »So it is very important that people whose views have had a religious formation learn to politicise them« (Walzer 1998a, 297). Vor dem Hintergrund seiner kommunitaristisch orientierten Deutung von Religion wird leicht ersichtlich, dass Walzer eine solche eindeutige Trennung von Religion und Politik nur bedingt für begründbar hält. Er bleibt in seiner weiteren Argumentation deshalb zwar innerhalb des Rahmens einer liberalen Konzeption, weil diese sein eigener kulturell-geschichtlicher Zugang zu Politik und Demokratie ist; er transformiert diesen aber aufgrund seines kommunitaristischen Ansatzes deutlich. Ein erster Hinweis auf eine solche Transformation der strikten liberalen Trennung von Religion und Politik liegt Walzers Ansicht nach darin, dass eine Absolutsetzung dieser Trennung selbstwidersprüchlich zu werden droht. Denn wenn die Trennlinie strikt gezogen wird, immunisiert sich diese Verhältnisbestimmung gegenüber Neuformulierungen dieser Grenze. Auch wenn Walzer vor Die liberale Argumentationslinie betont in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich die Zivilreligion, die in öffentlichen Formen der Politik zum Ausdruck kommt, nicht auf eine positive Religion stützen dürfe. »Civil religion aims at religiosity without a positive religion« (Walzer 1998a, 296).
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dem Hintergrund seiner eigenen Demokratietradition für eine liberale Trennung von Politik und Religion plädiert, so betont er also gleichzeitig, dass diese Trennlinie keinen absoluten Charakter haben dürfe, sondern ständig neu ausgehandelt werden müsse. »It is always subject to re-negotiation« (Walzer 1998a, 298). 87 Die Trennlinie zwischen Politik und Religion wird damit im Vergleich zu den liberal ausgerichteten Positionen von Habermas und Rawls durchlässiger, nicht zuletzt weil von Walzers Standpunkt aus auch diese Grenze dem historisch kontingenten Prozess gesellschaftlicher Aushandlung unterliegt und deswegen jeweils neu von den Gesellschaften bestimmt werden muss. Er hebt allerdings hervor, dass die Trennung dort aufrechterhalten werden muss, wo es um genuin staatliche Kompetenzen und die Grundinstitutionen der Demokratie geht. Die Forderung nach positiver und negativer Religionsfreiheit erweist sich in diesem Zusammenhang als notwendige Grundlage demokratischer Gesellschaften. Dort, wo es um solche individuellen Schutzräume vor staatlicher Zwangsgewalt geht, dürfen religiöse Argumente keine Rolle spielen. 88 »The limits are set not by the abstract principle of separation but by the concrete needs of the regime of toleration. (…) So what is separated is probably not best described as religion and politics. We separate religion from state power, and also ethnicity from state power, even politics from state power« (Walzer 1998a, 304).
Wenn dies anerkannt wird, dann kann man nach Walzer der Religion mehr Spielraum im Bereich des Politischen geben, als dies beispielsweise bei Habermas oder Rorty der Fall ist. Deshalb ist es für Walzer Walzer weist darauf hin, dass sich die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht alleine aus dem Liberalismus her begründet, sondern Signaturen verschiedener religiöser Strömungen trage; er sieht »in der Politik als Praxis staatlicher Selbstverwaltung Werte und Normen religiösen Ursprungs als bestimmende Größen« (Schürmann 2008, 164). Das Judentum ist in seinen Augen eine Religion, der eine solche Idee neutraler Politik immer schon inhärent sei, weshalb das jüdische Politikverständnis eine religiöse Quelle des modernen Liberalismus und daher mit demokratischer Politik liberaler Prägung kompatibel sei (Walzer 1996b, 132 f.). 88 Das Neutralitätsgebot des Staates gilt umgekehrt auch für die Religionsgemeinschaften, denn der Staat darf sich aufgrund des Rechts auf Religionsfreiheit auch nicht in die Belange der Religion einmischen. »The Walzerian, normative point: religion should be kept largely independent of political power, because religion is an independent source of meaning and self-affirmation« (Andre 1995, 193). 87
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auch unproblematisch, wenn sich eine US-amerikanische Zivilreligion herausbildet. Problematisch wird es entsprechend dem Diktum der komplexen Gleichheit lediglich dann, wenn im demokratischen Staat eine Religion absolut gesetzt wird oder die Zivilreligion ausschließlich aus den Quellen einer Religion geformt wird, weil dies gegen die Anerkennung der Vielfalt gesellschaftlicher Sphären spricht. Die notwendige Grenze zwischen Politik und Religion wird beispielsweise dort überschritten, wo der Staat mit einer bestimmten Religion verschmolzen wird. »Eine fundamentale Herausforderung ist folglich dann gegeben, wenn Nationalismus und (universalistische) Religion eine Symbiose eingehen, so dass die Daseinsweise der eigenen Nation zugleich als Ausdruck einer religiösen Lehre verstanden wird, die sehr wohl in eine Rangordnung gegenüber anderen Religionen gesetzt werden kann« (Haus 2000, 95).
Deshalb ist der Liberalismus nach Walzer herausgefordert, die Trennung zwischen Politik und Religion immer wieder neu zu reflektieren und auszuhandeln. Diese sogenannte Kunst der Trennung »als interne Ausrichtung einer Politik der Differenz richtet sich auf einen wirksamen Schutz dieser institutionellen Sphären gegenüber Dominanzversuchen durch jeweils andere Sphären und deren Akteure. (…) Das Aufbrechen etwa der Dominanz des Staates gegenüber der Religion und umgekehrt (…) stellt nach Walzer die große Leistung in der Geschichte des Liberalismus dar« (Haus 2003, 141; vgl. Walzer 1992b, 38– 63). Diese Kunst der Trennung ist das Kernmotiv, das schon Walzers Gerechtigkeitstheorie kennzeichnet. In Bezug auf das Verhältnis von Religion und Staat hat sich die Kunst der Trennung bewährt, »weil sie nicht zur Zersplitterung der Lebensbereiche führte, sondern zur Ermöglichung neuer Freiheitsräume« (Lesch 2010, 335) – sowohl für religiöse Bürger als auch den säkularen Staat. 89 Eine zweite Transformation der liberalen Konzeption und ihrer Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion von Religion zeigt sich Wird im demokratischen Staat diese Kunst der Trennung überzeugend und für alle akzeptabel vollzogen, so hat dies außerdem eine konstruktive Wirkung auf das Verhältnis der Religionen untereinander. Wenn Religionen im öffentlich-politischen Raum erfahren, dass es notwendig andere Sichtweisen auf gesellschaftliche Themen gibt, dann lernen sie, Toleranz gegenüber diesen Standpunkten zu üben. Vielfalt und Toleranz werden Walzers Ansicht nach durch eine solche offenere Deutung des Verhältnisses von Religion und Politik gefördert (vgl. Walzer 1998b).
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in Walzers Hinweis, dass auch Politik auf motivierende Ressourcen angewiesen ist. Im Vergleich zu Habermas interpretiert er Religion allerdings nicht nur als eine externe Moralressource für politische Deliberation, sondern integriert sie noch in einer anderen Hinsicht in sein Verständnis von politischen Aushandlungsprozessen. Dies liegt an seiner kommunitaristischen Auffassung, nach der demokratische Politik kein ausschließlich rationales Geschäft ist, sondern von allen Beteiligten Leidenschaft verlangt (vgl. Kap. 3.3.1.). Walzer merkt deshalb gegenüber Habermas kritisch an, dass deliberative Aushandlungsprozesse nicht nur von einer allgemeinen Rationalität geleitet werden und daher notwendigerweise auf Elemente der emotionalen Mobilisierung und Leidenschaft angewiesen sind. Deshalb hat »leidenschaftliche Energie (…) ihren legitimen Platz in der sozialen Welt« (Walzer 1999, 88). In dieser Hinsicht können Religionen eine konstruktive Funktion im demokratischen Staat ausüben. »They can defend the welfare state (…), they can argue for civil rights and affirmative action in the name of prophetic justice« (Walzer 1998a, 304). Religionsgemeinschaften, die sich in öffentliche Diskurse einbringen, stützen damit die Demokratie – insbesondere in einer motivationalen Hinsicht, weil sie Leidenschaft für politische Beteiligung nutzbar machen können. Eine strikte Trennung von Religion und Politik ignoriert die gesellschaftliche Bedeutung solcher leidenschaftlich konnotierter Überzeugungen, insbesondere um die mit ihnen teilweise einhergehenden Mobilisierung großer Gruppen zu vermeiden. »What the ideology of separation expresses is (…) a kind of anti-sceptic liberalism: a disdain of religious enthusiasm and a fear of popular mobilisation« (Walzer 1998a, 300). Walzer gesteht zu, dass religiöse Massenmobilisierungen negative Auswirkungen auf Politik haben können, weshalb der Staat herausgefordert ist, sich vor ihnen zu schützen, wenn sie sich gegen die Grundlagen liberaler Demokratien richten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass religiöse Argumente im öffentlichen Raum per se keine Rolle spielen dürfen. Denn wenn man religiöse Überzeugungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, schließt man damit auch die religiösen Bürger aus dem Prozess der Deliberation aus. Dies spricht im Grunde gegen das liberale Demokratieverständnis selbst. »So it is better to welcome their expression and hope that the pressure of democratic argument will ensure that absolutism is not the last word« (Walzer 1998a, 305). Walzer plädiert deshalb gegen ein starkes Verständnis von Libera180
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lismus und für eine stärkere Beachtung und Integration der Religion in deliberative Prozesse innerhalb der Spielregeln des demokratischen Staates. Damit spricht er sich für ein Verständnis von Religion in modernen Gesellschaften aus, »das die Bedeutung religiöser Motivation für politisches Engagement und die Rolle solidarischer Gemeinschaften für die Identität politischer Akteure respektiert und das religiösen Argumentationsmustern prinzipielle Berechtigung zuspricht. Walzers entscheidendes Argument für diese Permissivität ist, dass es keinen Weg gibt, absolutistische Überzeugungen und Leidenschaften auszuschließen, ohne zugleich die Menschen auszuschließen, die von ihnen geprägt sind« (Haus 2000, 188). Dies bedeutet nicht, dass die Religionen den »politischen Entscheidungsträgern eine ganz bestimmte, religiöse oder moralisch begründete Gerechtigkeitsauffassung« (Walzer 1996b, 140) aufdrängen dürfen, sondern nur, dass sie einen Beitrag in das plurale Spiel deliberativer Prozesse einbringen dürfen. »Ob diese Auffassung dann allerdings übernommen wird oder nicht, wird von einer weitgestreuten Zustimmung abhängen; ihre Durchsetzung wird auf radikalen Zwang verzichten müssen; ihre konkrete politische Umsetzung wird Ausdruck notwendiger politischer Kompromisse sein« (Walzer 1996b, 140).
Die Pluralität der Weltanschauungen wird für Walzer also im Zuge der kommunitaristischen Interpretation gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu einem eigenen Wert für die Demokratie. Diese ist deshalb dazu aufgerufen, die Pluralität religiöser und kultureller Einflüsse zu fördern und nicht zu einer neutralen Einheit zu verschmelzen. Die Gemeinschaft lebt notwendigerweise von dieser Pluralität – dies gilt auch für die Religionsgemeinschaften selbst. 90 Religiöser Pluralismus, verstanden als Gleichheit zwischen den und innerhalb der Religionen, bedeutet, dass jeder religiöse Mensch seine eigene Form der Religiosität finden kann und dass sich erst aus dem Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Formen das bildet, was Religionen ausmacht, worin sich in In Bezug auf das Judentum macht Walzer darauf aufmerksam, dass dieses intern ein enorm ausdifferenziertes Gemeinschaftskonstrukt aufweise. Das Potenzial, das die jüdischen Quellen zur Verarbeitung dieser Pluralität bieten, solle sich das Judentum bewusst machen. Nur mit einer solchen Reflexion der eigenen kulturellen Ausdifferenzierung könne auch das Judentum im Wettstreit der Weltanschauungen in liberalen Gesellschaften eine selbstbewusste Rolle spielen, so Walzers Schlussfolgerung (vgl. Walzer 2008).
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einer abgewandelten Form wiederum das Theorem der komplexen Gleichheit aus den Sphären der Gerechtigkeit widerspiegelt. »Die andere mögliche Deutung des religiösen Pluralismus ist: demokratische Gleichheit. So geht nach Michael Walzer auf religiöser Seite die Priesterschaft aller Gläubigen auf diese Rechtsnormen (…) zurück, die die Verantwortung für das eigene Seelenheil dem je einzelnen Religionsmitglied überträgt« (Kallscheuer 1994, 127).
Auf das politische Gemeinwesen übertragen bedeutet dies, dass moderne Gesellschaften herausgefordert sind, sich ihrer weltanschaulichen Differenzen bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein um die Unterschiede ermöglicht erst eine wechselseitige soziale Bindung der Menschen und eine stärkere Identifikation mit dem Gemeinwesen. Denn eine liberale, »weltanschaulich pluralistische Ordnung mag zwar weniger an unmittelbar, ›fraglos‹ geteilten Werten zwischen allen Beteiligten implizieren, aber sie erfordert ein höherstufiges ›Mehr‹ an Bürgeridentität oder ziviler Religion: Anders als die Kultgemeinde oder die Staatsreligion verlangt ein derart selbstbewusst pluralistisches Gemeinwesen von jedem Mitglied auch das Bewusstsein um die Differenzen seiner eigenen (kulturellen, religiösen, ethnischen …) Gemeinschaft zu anderen communities und ihren Mitgliedern, die das übergeordnete Gemeinwesen gleichwohl verkörpert« (Kallscheuer 1994, 168).
3.3.3. Kritische Diskussion 3.3.3.1. Judentum als kulturelle Praxis Walzers Religionsverständnis fokussiert weniger auf den einzelnen Gläubigen denn auf die Religionsgemeinschaft als eine kulturelle Praxis, die mit der jeweiligen Geschichte der Gesellschaften eng verwoben ist; das, »was er im Blick hat, ist die Religionsgemeinschaft als Ganze, die Formen ihrer Selbstorganisation und ihre Transformation in den Auseinandersetzungen mit anderen Gemeinschaften« (Krause 2010, 343). Walzers Analyse der Geschichte des Judentums und einzelner Erzählungen bzw. Motive dieser Religion (beispielsweise des ExodusMotivs), die er vor dem Hintergrund dieses Religionsverständnisses anstellt, können für den aktuellen Diskurs über Religion wichtige Impulse geben. Walzer zeigt damit nämlich auf, dass Religion und Kultur nicht voneinander getrennt werden können, sondern Religion ge182
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schichtlich betrachtet eng mit den kulturellen Entwicklungen von Gemeinschaften verwoben ist. So wird beispielsweise das Exodus-Motiv als ein kulturell verankertes »Panorama paradigmatischer Erfahrungen des gemeinschaftlichen Strebens nach Freiheit« (Haus 2010, 43) interpretiert. Dabei beeinflussen Religionen Gesellschaften sowohl als soziale Akteure als auch durch die Transformation religiöser Motive in säkulare Konzepte, wie die Transformation des Exodus-Motivs in einen politischen Messianismus zeigt. Walzer betont in diesem Zusammenhang zu Recht, »dass die Exodus-Tradition in der politischen Theoriebildung jede Säkularisierung überdauert« hat, was auch »auf den offensichtlichen Mehrwert der Geschichte« (Kühnlein 2010, 373) verweist. 91 Innerhalb der Analysen der jüdischen Religion als kulturelle Praxis entwickelt Walzer keinen expliziten Religionsbegriff, allerdings geben seine Überlegungen sehr wohl einen Blick auf sein implizites Religionsverständnis frei. Weil Religionen nur als Teil einer Gemeinschaft mit ihrer Geschichte und Kultur verstehbar sind, konzeptualisiert Walzer sie als soziokulturelle Phänomene. Religion ist keine einsame Entscheidung des einzelnen Menschen, sondern immer in einem sozialen Kontext verortet und damit Teil einer sozialen Praxis. Diese soziale Praxis wird von religiösen Überzeugungen strukturiert, die aufgrund der vielfältigen Transformationsprozesse meist nicht trennscharf von säkularen Überzeugungen unterschieden werden können. Kritisch anzufragen ist allerdings, ob mit einer solchen kommunitaristischen Interpretation von Religion die einzelnen religiösen Erfahrungen angemessen beachtet werden können, denn diese spielen innerhalb der Religionen sicherlich eine nicht unbedeutende Rolle. Wenn Religion nur noch auf ihre sozialen und kulturellen Aspekte reduziert wird, so besteht analog zu Habermas die Gefahr einer Reduktion der Religion auf eine bestimmte Form. Auch wenn es aus Sicht der politiDie Interpretationen der religiösen Motive und Erzählungen, die Walzer vorlegt, können dabei weitestgehend überzeugen. Nur an einigen Stellen erscheinen sie zu holzschnittartig, wie beispielsweise die Rekonstruktion des Messianismus. Messianismus zeigt sich religionsgeschichtlich nämlich nicht notwendig als eine Negation der dialektischen Grundspannung des Exodus-Motivs, sondern man müsste zwischen einem politischen Messianismus unterscheiden, der die Spannung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz negiert, und einem Messianismus, der dieses zumindest teilweise offen hält (vgl. hierzu die Überlegungen zum Messianismus bei Derrida 2001a, 32 ff. und Kap. 3.5.2.2.).
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schen Philosophie sinnvoll erscheint, in der Tradition von Durkheim den sozialen Aspekt von Religion zu betonen und Religion nicht ausschließlich als eine individuelle Glaubensentscheidung zu konzeptualisieren, so sollte dies umgekehrt nicht dazu führen, religiöse Erfahrungen, die im Selbstverständnis der Gläubigen eine große Rolle spielen, innerhalb des Religionsverständnisses nicht oder nur ungenügend zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf andere kommunitaristische Deutungen von Religion hilfreich, mit denen diese Leerstelle ausgeglichen werden könnte. Autoren wie Charles Taylor (Taylor 2002) betonen nämlich die Bedeutung der Religion nicht nur für die Etablierung kultureller Praktiken, sondern auch für den Prozess der individuellen Selbstwerdung. Die Suche nach einem authentischen Leben ist deshalb gleichfalls ein wichtiger inhaltlicher Fokus des Kommunitarismus, womit gerade auch Selbstdeutungen religiöser Menschen in säkularen Kontexten überzeugend erklärt werden können (vgl. Nassehi 2007; ders. 2009). Religionen werden in dieser Spielart des Kommunitarismus als Orientierungen für den Menschen gedeutet, die ihm bei seinem Nachdenken über ein authentisches Leben helfen können (vgl. Haus 2008; vgl. auch Kap. 1.2.). Dies hat auch zur Folge, dass in diesen an den Kommunitarismus angelehnten Reflexionen über Religion ein deutlich weiterer Religionsbegriff verwendet wird, der nicht nur auf die Weltreligionen als etablierte kulturell-religiöse Praktiken fokussiert. Taylor plädiert beispielsweise dafür, neue Formen 9spiritueller Bewegungen, die stärker auf individuellen religiösen Erfahrungen fußen, ebenso in das Nachdenken über die erneute Aufmerksamkeit für Religion zu integrieren und nicht vorschnell in die Ecke rein immanenter Selbstfindungsprozesse abzuschieben. Nur wenn ein monolithisches Bild religiöser Praktiken aufgebrochen wird, kann eine adäquate Skizze der gegenwärtigen religiösen Landschaft gezeichnet werden, so seine Schlussfolgerung (vgl. Taylor 2009, 847ff.). Bei Walzer liegt der Fokus allerdings deutlich auf der Religion als sozialer wie kultureller Praxis und deswegen weniger auf dieser Suche nach einem authentischen Leben des einzelnen Gläubigen. »Für Walzer ist nicht die Konstitution des Selbst entscheidend, sondern ›the pattern of social relations‹« (Schürmann 2008, 125). Damit werden allerdings andere Formen religiöser Erfahrungen und kulturell-religiöser Praktiken, die sich jenseits der etablierten Religionsgemeinschaften herausbilden, wie bei Habermas, eher vernachlässigt. 184
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3.3.3.2. Kommunitaristische vs. liberale Theorie und die Kunst der Trennung Für die Fragestellung der vorliegenden Studie ist ein weiterer Aspekt wichtig, der in der Rekonstruktion der Überlegungen von Walzer deutlich wurde, und zwar seine kommunitaristische Transformation eines traditionellen Liberalismus, woraus sich eine anders ausgerichtete Funktionsbestimmung von Religion im Vergleich zu Habermas oder Rorty ergibt. Entgegen seiner auf Rawls bezogenen Liberalismuskritik im Zusammenhang mit der Reflexion über Gerechtigkeit konzeptualisiert er die kommunitaristische Deutung der Rolle von Religion in modernen Demokratien weniger in einer radikalen Opposition zum Liberalismus. Vielmehr interpretiert er die US-amerikanische liberale Tradition als kulturelle Basis seiner eigenen politischen Philosophie. Damit nimmt er eine liberale Neuformulierung seines kommunitaristischen Ansatzes vor. Liberale Demokratien sind von diesem Standpunkt aus die geschichtlich ausgehandelte, dünne moralische Basis, um bestmöglich mit Religionen umgehen zu können und sie als leidenschaftlich motivierenden Bezugspunkt dichter Moralvorstellungen ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund wird Walzer zum Beispiel aus einer interkulturellen Perspektive vorgeworfen, dass eine grundlegende Spannung zwischen seinem kommunitaristischen Plädoyer für die Vielfalt von kulturell bedingten Vergemeinschaftungsprozessen einerseits und dem Votum für die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts andererseits bestehe (vgl. Bounds 1994). »Paradoxically, Walzer, who grants religious identities to play a much greater role in politics, ends up in the here and now of western societies with a very resolute and uncompromising theory of postsecularism little sensitive to communitarian particularities« (Kaul 2010, 513).
Zum einen sind Religionen als zivilgesellschaftliche Akteure Ausdruck des Selbstverständnisses partikularer Gemeinschaften, zum anderen betont Walzer die Neutralität des Staates, der sich nicht von solchen weltanschaulichen Überzeugungen beeinflussen lassen darf. 92
Diese Spannung zeigt sich auch in der Religionsfreiheit selbst. Sie speist sich einerseits aus den Traditionen religiöser Gemeinschaften, weshalb Walzer »die Religionsfreiheit von communities [als] die Wurzel der amerikanischen Demokratie« (Kallscheuer 1994, 127) interpretiert. Andererseits ist die Religionsfreiheit das zentrale politisch-
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»Damit kommt Walzers Anliegen zum Ausdruck, das demokratische Ideal zwischen liberaler Vergesellschaftung und kommunitärer Vergemeinschaftung auch religiösen Motiven nicht preiszugeben. Religion spielt in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle, sie darf aber nicht die Politik beherrschen« (Schürmann 2008, 166).
Ein Spezifikum der Argumentation von Walzer sind die Schlussfolgerungen für die Demokratietheorie, die noch einmal eigens hervorgehoben werden sollen. Seine Konzeption der gesellschaftlichen Rolle von Religion muss nämlich auch vor dem Hintergrund seiner Absetzung von einem rationalistischen Politikmodell verstanden werden, weshalb er Emotionen und Leidenschaften als wichtige Faktoren von Politik ansieht. In der Auseinandersetzung mit Habermas argumentiert Walzer, dass der gesellschaftliche Konsens nicht nur von nachvollziehbaren Argumenten lebe, sondern ebenso von Bürgern, die sich für ihre Sache leidenschaftlich einsetzten – dies sei gerade angesichts der drängenden sozialen Probleme der Weltgesellschaft von großer Bedeutung (vgl. Walzer 1999, 38). Dieses Engagement ist weniger ein Beitrag für eine rationale Deliberation als eine Bezugnahme auf die emotional besetzten Lebenswelten und Lebensgeschichten. Kulturell oder religiös geprägte Weltanschauungen, die eine große emotionale Motivation entfalten können, spielen für Walzer eine wichtige Rolle im Prozess der Deliberation, weil Argumente oft in diese weltanschaulichen Überzeugungensgewebe eingebettet sind und von ihnen motiviert werden. »Die Demokratie benötigt Deliberation, das heißt eine Kultur des Argumentierens (…). Das ›Argumentieren‹ lässt sich aber nicht von all den anderen Dingen trennen, die politisch aktive Bürger sonst noch tun. So etwas wie die reine Argumentation, die Deliberation an sich, und eine Anzahl von Leuten, deren Arbeit sie ist oder jemals sein könnte, gibt es nicht. Und für die meisten Auseinandersetzungen des politischen Lebens lässt sich kein Argument finden, das als das Beste von allen für Männer und Frauen verschiedenster Weltanschauungen, religiöser Bekenntnisse, wirtschaftlicher Interessen und sozialer Stellung gleichermaßen überzeugend wäre oder sein sollte« (Walzer 1999, 62).
Walzer bringt insofern religiösen Bürgern eine gewisse Sympathie entgegen, weil sie sich mit leidenschaftlichem Engagement für ihre Überzeugungen einsetzen, denn der »Eifer und die Radikalität, mit rechtliche Instrument, um das demokratische Gemeinwesen vor solchen religiösen Einflüssen zu schützen.
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der ein politisches Ziel verfolgt wird, halten die Demokratie am Leben« (Schürmann 2008, 165). Walzer ist durchaus bewusst, dass die Erweiterung der Deliberation um das Moment der Leidenschaft – in diesem Fall um den religiös motivierten Einsatz für ein bestimmtes Ziel – politische und soziale Probleme nicht sofort lösen, sondern vielleicht sogar verschärfen wird (vgl. Walzer 1998a, 300 f.). 93 Der große Vorteil dieser Erweiterung des deliberativen Demokratieverständnisses besteht aber darin, die kulturellen Kontexte und motivationalen Grundlagen menschlichen Handelns stärker zu beachten und Demokratie als eine offene Auseinandersetzung weltanschaulich gefärbter Überzeugungen zu verstehen, was hinter dem scheinbar neutralen Deckmantel der rationalen Deliberation oft vernachlässigt wird. »Mein Argument lautet also bislang: die leidenschaftliche Energie hat ihren legitimen Platz in der sozialen Welt, (…) auch dann, wenn wir Bündnispartner anbellen und Gegner angreifen. Mir scheint diese Erweiterung der rationalen Legitimität auf die politischen Leidenschaften eine nützliche Revision liberaler Theorie zu sein, die in den letzten Jahren zu sehr mit der Entwicklung leidenschaftsloser deliberativer Verfahren beschäftigt gewesen ist. Die Erweiterung macht den Weg frei für bessere Erklärungen von sozialen Bindungen und sozialem Konflikt und für ausdrückliche und selbstbewusstere Antworten auf die unausweichliche politische Frage: Auf welcher Seite stehst du?« (Walzer 1999, 88)
Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle von Religion in Demokratien führt damit zur Revision eines rein rationalistischen Verständnisses politischer Deliberation. Walzer sieht in diesem Zusammenhang die Probleme, die sich im aktuellen weltpolitischen Diskurs und den darin aufkommenden fundamentalistischen Strömungen von Religion für ein solches Verständnis ergeben. »Wir mögen die Tolerierung individueller Entscheidungen und persönlicher Kultur- und Glaubensversionen als das Maximum oder die intensivste Form von Toleranz ansehen; ob allerdings die Existenz von Gruppen und ihr Gemeinschaftsleben durch sie begünstigt oder eher ausgehöhlt werden, ist völlig unklar. Die Furcht, dass die Adressaten von Toleranz bald nur noch exzentrische Individuen sein werden, hat eine ganze Gruppe (…) dazu bewogen, mehr zu fordern als Toleranz – nämlich eine handfeste Unterstützung durch den Staat« (Walzer 2000, 224). Er selber ist allerdings skeptisch, ob diese Forderung nach einem starken Staat als Reaktion auf religiösen Fundamentalismus das Problem lösen wird. Dieser Einwand ist durchaus begründet, denn mit einem starken Staat wird genau das unterlaufen, was sich als Stärke der kommunitaristischen Position gezeigt hat, und zwar die Integration der weltanschaulich gefärbten Positionen in den öffentlichen Diskurs. Denn diese sind es oftmals, die Menschen bewegen, sich politisch für die Gemeinschaft einzusetzen.
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So berechtigt es ist, solche Leidenschaften als Teil der Deliberation ernst zu nehmen, so problematisch kann es allerdings sein, wenn sich leidenschaftlich vorgetragene Überzeugungen nicht mehr in einen öffentlichen Diskurs integrieren lassen. Walzer sieht dieses Problem in Bezug auf religiöse Überzeugungen selbst. Er plädiert daher für eine Kunst der Trennung von Religion und Staat und damit für eine explizite Grenze des leidenschaftlich geführten Diskurses religiöser Überzeugungen. Es ist allerdings nicht immer einsichtig, wann und wie diese Trennung vorgenommen werden soll. In manchen Passagen (vor allem wenn er vom Kommunitarismus aus denkt) legt Walzer eine sehr weitreichende Integration weltanschaulicher Überzeugungen nahe, und relativiert genau diese Forderung an den Stellen wieder, an denen er vom Liberalismus als eigene kulturelle Basis aus argumentiert. Damit changiert Walzer zwischen Kommunitarismus und Liberalismus, was seinen Ansatz teilweise zumindest missverständlich werden lässt. Als Abgrenzungskriterium betont er die Notwendigkeit, dass die Grenzziehung zwischen Religion und Politik von der Gesellschaft jeweils neu reflektiert und ausgehandelt werden müsse. Der traditionelle politische Liberalismus kritisiert dies, weil er damit die Neutralität des Staates ständig der Gefahr ausgesetzt sieht, porös zu werden (vgl. Habermas 2005, 252). Walzer plädiert gegen diese Skepsis des Liberalismus für Toleranz (vgl. Walzer 1998b), denn wenn Menschen einander ihre leidenschaftlich vorgetragenen, weltanschaulich geprägten Positionen zumuten, sind sie gleichzeitig gefordert, genau diese Unterschiedlichkeit der Positionen zu tolerieren. Dazu bedarf es allerdings Regeln, welche die Toleranz absichern, weshalb Walzer für deliberative Verfahren in Demokratien als Ausdruck dünner Moralvorstellungen plädiert. »Wechselseitige Tolerierung setzt Vertrauen voraus, weniger in den guten Willen des anderen als in die institutionellen Vorkehrungen« (Walzer 2000, 220). Die positive wie negative Religionsfreiheit ist die Institutionalisierung einer so verstandenen Toleranz. Mit dem skizzierten Übergang vom traditionellen Liberalismus zu einem Liberalismus kommunitaristischer Spielart (was für Walzer gleichbedeutend ist mit dem Übergang von Moderne zu Postmoderne) fokussiert er vor allem auf einen toleranten Umgang mit Differenzen innerhalb demokratischer Spielregeln. Eine gelungene politische Praxis aufzubauen, heißt für Walzer, Formen der Toleranz für solche Differenzen auf der individuellen wie der sozialen Ebene zu etablieren. Dies bedeutet auch, dass Menschen sich aus ihren Gemeinschaften heraus188
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lösen bzw. dass sie frei entscheiden können, was sie von der Tradition dieser Gemeinschaft für ihre eigene Lebensweise übernehmen wollen und was nicht (vgl. Krause 2010, 352). »Dieser Dualismus von Moderne und Postmoderne (…) erfordert einen doppelten Umgang mit der Differenz, zuerst in ihrer kollektiven und danach in ihrer individuellen und gespaltenen Version (…). Wir bedürfen der Toleranz und des Schutzes als Mitglieder und als Fremde. Selbstbestimmung muss beides sein: politisch und persönlich – die beiden Formen hängen eng miteinander zusammen« (Walzer 2000, 229 f.).
In diesem Kontext spielt wiederum die Gedankenfigur der Kunst der Trennung eine entscheidende Rolle in der Konzeption von Walzer (vgl. Haus 2010, 55). Wird diese Trennung überzeugend vollzogen, so gelingt eine wechselseitige Anerkennung der Sphären einer Gesellschaft. Die Trennung kann als gelungen betrachtet werden, wenn sie »Konflikte entkrampft und so einen Beitrag dazu leistet, sehr verschiedene Menschen einander näher zu bringen und in gemeinsame Projekte zu verwickeln, ohne dass jemand befürchten muss, seine Eigenart zu verlieren« (Lesch 2010, 337). Bei aller inhaltlichen Zustimmung zu diesem Plädoyer für eine Kunst der Trennung erscheint dieser Gedanke angesichts komplexer Diskussionslagen in ausdifferenzierten Gesellschaften, bei denen in den einzelnen Sphären oft unterschiedlichste Argumentationsstränge zusammen laufen, allerdings teilweise zu holzschnittartig. Denn es wäre naiv, angesichts aktueller weltgesellschaftlicher Konstellationen und der damit verbundenen »Herausforderung einfach nur zu Toleranz aufzurufen und jeden Versuch, die Vielfalt der Überzeugungen zu strukturieren, schon als gewaltsame Einschränkung der Meinungsvielfalt zurückzuweisen« (Lesch 2010, 336). Hier erscheinen die Überlegungen Walzers, die auf seiner Gerechtigkeitstheorie fußen, zwar in der Stoßrichtung überzeugend, bei genauerer Analyse aber zu undifferenziert. So plausibel Walzers Rekonstruktionen der kulturellen Strukturierungen von Gemeinschaften sind, so offen bleibt letzten Endes die Frage, wie in Konflikt stehende Gemeinschaften miteinander umgehen sollen. Hier wirkt das Plädoyer für Toleranz und Anerkennung der verschiedenen Sphären von Gerechtigkeit teils zu apodiktisch. 94 Vgl. dazu die Kritik von Elizabeth M. Bounds an Walzers politischer Philosophie. Sie betont ebenfalls die unzureichende Reflexion auf Konfliktmechanismen innerhalb von Gemeinschaften (vgl. Bounds 1994).
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3.3.3.3. Kulturelle Ausdifferenzierung der Religion Vielfalt betont Walzer nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch mit Blick auf die Religionsgemeinschaften. Wenn diese ihre interne kulturelle Ausdifferenzierung anerkennen, können sie seiner Ansicht nach ein paradigmatischer Ausdruck des wiederholenden Universalismus sein, der als die zentrale Argumentationsfigur seiner politischen Philosophie bestimmt wird. Denn Religionen implizieren eine universale Moral, die für alle Gläubingen gleichermaßen gültig sein soll, und nehmen gleichzeitig eine lokal ausdifferenzierte Ausgestaltung dieser religiösen Moral an. Das Judentum ist seiner Ansicht nach ein Beispiel hierfür. »But in the Jewish account, there are different sets of commandments for different people, and these differences give the moral universe its particular shape. (…) So there is a universal code, and many (better and worse) elaborations of this code – and these may well co-exist for all time« (Walzer 2007a, 40 f.).
Das Judentum negiert also die Existenz der Vielfalt lokaler Moralvorstellungen nicht, sondern impliziert gerade ihre Anerkennung auf einer grundlegenden Ebene. »Even in the best of times, even in the end of days, even when ›God’s name shall be one‹, there will still be many nations, many religious communities (…) and many versions of the moral law. In contemporary language, morality has a common core and then a wide range of historical and cultural variations; it is one universalist and multiculturalist« (Walzer 2007a, 46).
Das Judentum ist Ausdruck eines wiederholenden Universalismus, insofern es minimale Moralstandards für alle Menschen fordert und gleichzeitig die Notwendigkeit einer internen wie externen Vielfalt religiös-kultureller Moralvorstellungen anerkennt. 95 Die prophetische Tradition Israels ist ein Beispiel für eine solche partikulare Tradition, die von außen nur bedingt verstehbar ist, geschweige denn einen all-
Gerade deswegen ist Walzers Ansicht nach das Judentum besonders kompatibel mit liberalen Demokratien (Walzer 1996b, 132 f.). Historisch betrachtet haben jüdische Schriftgelehrte ein intensives Studium der Gesetze betrieben und infolge dessen Vorschläge für die Politik gemacht. Letztlich haben sie dabei aber immer die Begrenzungen ihrer Vorschläge betont und es deswegen dem König überlassen, wie er mit diesen Vorschläge umgeht. Seine Neutralität wurde nicht angezweifelt, selbst wenn er die Gesetze nicht so gut studiert hatte wie die Schriftgelehrten, so die Deutung Walzers.
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gemeinen Geltungsanspruch zu erheben vermag (vgl. Walzer 1990, 106 ff.). In dieser Hinsicht hat Religion einen (im habermasschen Sinne) opaken Charakter und will keine allgemeine Vernünftigkeit beanspruchen. Sie will die religiösen Menschen durch provokative Perspektivwechsel zu einer neuen Denkart oder Umstellung der Lebensführung anleiten. Dieser prophetische Charakter der Religion, der sich auch gegen den Common Sense moderner Gesellschaften stellen kann, darf nicht unter einer Vernunftreligion subsumiert werden, sondern er sollte Teil eines umfassenden Religionsverständnisses sein. Religionen bestehen immer auch aus einer großen Vielfalt solcher prophetisch-provokativen Traditionen, und gleichzeitig sind diese eingebettet in den größeren Zusammenhang einer umfassenden religiösen Praxis. Innerhalb dieser Praxis ist prophetische Rede auch nicht schlichtweg unvernünftig, sondern für deren Mitglieder verstehbar. Wie aber genau das Verhältnis der verschiedenen religiösen Aussagen zu denken ist, bleibt bei Walzer letzten Endes unbeantwortet. Dies ist ein weiterer Anstoß dazu, die Frage nach der Vernünftigkeit religiöser Aussagen im systematischen Teil dieser Arbeit noch einmal dezidiert in den Blick zu nehmen (vgl. Kap. 4.3.). 96 Abschließend kann man festhalten, dass Walzers Ansatz ein Beleg für die vorpolitische kulturelle Bedeutung der Religion ist. Religionen als kulturelle Praxis und damit als Teil der Zivilgesellschaft können zum Handeln befreien und eine Orientierung auf dem Weg in das ›gelobte Land‹ geben. Dies »nimmt der Religion nichts von ihrer Partikularität, doch zeigt sich darin zugleich auch die Mobilisierungskraft und interpretatorische Anschlussfähigkeit ihres semantischen Erbes und Bedingungen der Moderne« (Kühnlein 2010, 386). Diese Anerkennung der kulturell-religiösen Pluralität setzt allerdings notwendig die Kunst der Trennung voraus, die einen dritten Weg zwischen Liberalismus und Unabhängig davon, dass Walzer in seinen Studien zur kulturellen Ausdifferenzierung von Religion fast ausschließlich auf das Judentum fokussiert, kann man außerdem kritisch einwenden, dass Religionen zwar ein paradigmatischer Ausdruck des wiederholenden Universalismus sein können, dies aber nicht sein müssen – und oftmals nicht waren. Die Anmerkungen von Rorty zeigen zu Recht, dass Religionen immer ambivalente Phänomene sind, die als solche auch gesellschaftlich beachtet werden müssen. Walzer betont dies selber, indem er die Bedeutung der Religionsfreiheit herausstellt; seine Analysen zum Judentum lassen diese Einsicht in die grundsätzliche Ambivalenz der Religionen allerdings teilweise vermissen.
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Kommunitarismus eröffnen will. Das, was Politik dabei bis heute vom Exodus-Motiv lernen kann, formuliert Walzer am Ende seiner Überlegungen paradigmatisch: »Erstens, dass wo immer man lebt, wahrscheinlich Ägypten ist; zweitens, dass es einen besseren Ort, eine reizvollere Welt, ein Gelobtes Land gibt; und drittens, dass der ›Weg zu dem Land durch die Wüste führt‹. Wir können von hieraus nur dorthin gelangen, wenn wir uns zusammenschließen und marschieren« (Walzer 1988, 157).
3.4. System zur Beobachtung des Unbeobachtbaren (N. Luhmann) 3.4.1. Systemtheoretische Rekonstruktion ausdifferenzierter Gesellschaften Niklas Luhmanns Systemtheorie ist eine abstrakte Form der Rekonstruktion und Erklärung moderner Gesellschaften, die zwischen Soziologie und Philosophie angesiedelt ist. Sie will dabei nicht nur eine Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen sein, sondern auch eine Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt. Dabei erhebt sie den Anspruch, eine »leistungsfähigere Alternative zur philosophischen Theoriebildung zu entwickeln, leistungsfähiger hinsichtlich der symbolischen Erfassung und kommunikativen Repräsentation von Wirklichkeit« (Spaemann 1990, 52 f.). Weil sich die luhmannsche Systemtheorie in dieser Hinsicht nicht nur als eine empirische Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit und der Wiederkehr der Religion versteht, sondern als eine sozialphilosophische Reflexion auf die Funktion von Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften, wird sie in den Duktus dieser Arbeit aufgenommen. In der Verschränkung von soziologischen und sozialphilosophischen Argumenten innerhalb der Argumentation Luhmanns, die in mancherlei Hinsicht – wie Spaemann zu Recht hervorhebt (Spaemann 1990) – an das Systemdenken Hegels erinnert, ist ein wichtiger Impuls für die aktuelle Debatte begründet. Erkenntnisleitend ist dabei für das Vorgehen von Luhmann, gängige Theorien umzukehren und eine Theorie zu entwerfen, die »das Normale für unwahrscheinlich hält (…). Sie muss das Normale, alltäglich Erfahrbare ins Unwahrscheinliche auflösen und 192
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dann begreiflich machen, dass es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustande kommt« (Luhmann 1981b, 14 f.). Ausgangspunkt der Systemtheorie ist die sozialphilosophisch weithin anerkannte These von der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften. Waren traditionelle Gesellschaften hierarchisch strukturiert, so haben sich in der Neuzeit Milieu- und Klassenstrukturen mehr und mehr aufgelöst, und es entstanden autonome Teilbereiche, die unterschiedliche soziale Funktionen übernehmen. Gleichzeitig erudierten auf der Ebene des Individuums traditionelle Bindungen wie Familienstrukturen, weshalb der einzelne Mensch immer weniger in vorgegebene soziale Ordnungen eingebunden ist und sich selbst bestimmen und gesellschaftlich positionieren muss. Luhmann interessieren an diesem Prozess der Ausdifferenzierung und der damit einhergehenden Individualisierung vor allem die neu entstehenden systembildenden Grenzen. Die Systemtheorie ist damit eine Theorie zur Verarbeitung und Erklärung dieser funktionalen Ausdifferenzierung und ihrer Auswirkungen auf moderne Gesellschaften. Die Systeme werden von Luhmann dabei differenztheoretisch bestimmt, womit er Substanzialisierungen vermeiden will. Systeme sind das, was die Umwelt nicht ist. Sie sind »strukturell an ihrer Umwelt orientiert« und können »ohne diese nicht bestehen« (Luhmann 1984, 35). Systeme bilden gegenüber ihrer Umwelt eine eigene Form der Kommunikation aus. Kommunikation wird in diesem Zusammenhang nicht – wie in vielen herkömmlichen Modellen – als Übertragung einer Information von einem Sender zu einem Empfänger verstanden. Eine solche Übertragungsmetapher ist Luhmanns Einschätzung zufolge unbrauchbar, weil sie zu viele ontologische Vorannahmen impliziert und suggeriert, dass der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält (vgl. Luhmann 1984, 193). Kommunikation meint für den Systemtheoretiker vielmehr die Herausbildung einer binären Codierung von Systemkommunikation und damit eine Reduktion von Komplexität. Diese binäre Operation als Selektion von sich ausschließenden Möglichkeiten (a oder non-a) ist die Grundoperation jedes Systems und legt als Leitdifferenz fest, welche Kommunikation an ein System anschlussfähig ist. Luhmann nennt diese Form der Selektion in Kommunikationssystemen auch Sinn, wodurch die Kommunikation eines Systems das auswählt, was systemimmanent verständlich ist. Sinn ist die »Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität« (Krause 2001, 223) des in A
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Sinnsystemen ermöglichten Erlebens und Handelns. Er ist damit die Ordnungs- bzw. Bedeutungsform von menschlichem Erleben und systemischer Kommunikation. Dabei betont Luhmann, dass weder Kommunikation noch Sinn an Personen gebunden seien oder als psychische Qualitäten verstanden werden könnten. Sinn ist »ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt« (Luhmann 1997, 44). Personen werden deshalb in dieser systemtheoretischen Konstruktion von Gesellschaft als psychische Systeme verstanden, denen Kommunikation zugeschrieben wird, die aber selbst nicht Urheber derselben sind, weil die Kommunikation eines Systems nur aus sich selbst heraus entsteht. Deshalb schlussfolgert Luhmann in konsequenter Weise, dass nur »Kommunikation kommunizieren kann« (Luhmann 2001, 95). Dieser an Kommunikation orientierte Sinnbegriff setzt voraus, dass Systeme immer auf sich selbst Bezug nehmen, weshalb Luhmann sie als selbstreferenziell bezeichnet. Als »Sinnpraxis sieht sich auch Kommunikation genötigt, Unterscheidungen zu treffen, um die eine Seite zu bezeichnen und auf dieser Seite für Anschlüsse zu sorgen« (Luhmann 1997, 71). Luhmann nennt diesen Prozess der selbstreferenziellen Sinnpraxis autopoietisch, womit er die Fähigkeit zur Selbstreproduktion in operativ geschlossenen Systemen meint. Von zentraler Bedeutung im autopoietischen Prozess der Systeme sind die Aspekte der Wiederholung und Anschlussfähigkeit, genauer: der sich ständig wiederholende Vorgang der »Erzeugung einer Differenz von System und Umwelt« (Luhmann 1997, 66) innerhalb des Systems. Mit dieser systemtheoretischen Deutung von Kommunikation verändert sich auch das, was philosophisch gemeinhin als Rationalität bezeichnet wird. Rationalität zeigt sich für Luhmann nur noch innerhalb eines Systems, und zwar in der binären Codierung. Systeme reduzieren Komplexität anhand dieser Differenz, weshalb es in der Systemtheorie keine gesamtgesellschaftliche Rationalität geben kann, sondern Rationalität sich nur im Plural der Systemkommunikationen konzeptualisieren lässt. 97 In dieser Hinsicht zeigt sich eine auffällige Ähnlichkeit zwischen den Überlegungen von Rorty und Luhmann. »Der systemtheoretische Wahrheitsbegriff ist mit dem Rortys deckungsgleich« (Kött 2003, 98), denn auch bei Luhmann ist vor dem Hintergrund des skizzierten Rationalitätskonzepts der Wahrheitsgehalt von Kommunikation immer kontingent und an die jeweilige Kommunikationspraxis eines Systems gebunden.
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»Wenn die moderne Gesellschaft im Übergang zu einer vorherrschend funktionalen Differenzierung auf ein Leitsystem, auf eine Spitze oder ein Zentrum verzichten muss, kann sie auch keine einheitliche Rationalitätsprävention für sich selbst mehr erzeugen« (Luhmann 1997, 185).
Damit erübrigen sich für den Systemtheoretiker auch traditionelle philosophische Fragen nach einem öffentlichen Vernunftgebrauch. Wie aber lässt sich dann Systemkommunikation überhaupt beobachten, wenn es im Grunde keine systemübergreifende Kommunikation bzw. Rationalität mehr gibt? Luhmann führt hierzu den Modus der Beobachtung ein, mit dem Unterscheidungen handhabbar gemacht werden können: »eine Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet« (Luhmann 1997, 882). Mit der Differenz von System und Umwelt wird nach Luhmann etwas unterschieden und das Unterschiedene zugleich bezeichnet. Die Systemkommunikation erster Ordnung tut dies, indem sie einen binären Code als Sinn konstituiert und damit Komplexität reduziert. Auf dieser Ebene ist nur eine Beobachtung des Systems im Vollzug möglich, indem die System-Umwelt-Differenz in der eigenen Systemkommunikation operativ umgesetzt und damit für das System handhabbar wird. Dabei hat diese Beobachtung erster Ordnung immer einen »blinden Fleck« (Luhmann 1997, 882), denn sie unterscheidet, obwohl sie letztlich nicht unterscheiden kann, was sie unterscheidet. 98 »Die Beschreibung kann operieren, sie kann sich aber im Vollzug nicht selbst beschreiben, denn dies würde eine andere Operation, eine andere unterscheidende Beschreibung erfordern. Sie kann nur im Nachhinein wieder beschrieben werden« (Luhmann 1997, 882).
Aufgrund der Selbstreferenzialität und Geschlossenheit der Systeme ist diese Paradoxalität der Beobachtung auf der Ebene der autopoietischen Systemkommunikation nicht auflösbar. Sie ist philosophisch formuliert die Bedingung der Möglichkeit von Systemkommunikation. Welt als der Hintergrund so verstandener Systemkommunikation wird dabei von Luhmann als unmarked space konzeptualisiert; damit ist der kontingent-selektive Horizont von Möglichkeiten gemeint, der durch eine Beobachtung erzeugt wird. »Eine Unterscheidung negiert nicht etwa das, was sie nicht bezeichnet, sondern setzt es als ›unmarked space‹ gerade voraus« (Luhmann 1997, 222). Welt ist damit ein einwertiger Begriff und bringt die Einheit der Differenz von System und Umwelt zum Ausdruck. Was Unterscheidungen zurücklassen, ist der unmarked space und in diesem bleiben »die Welt und der Beobachter als blinder Fleck seiner Beobachtung zurück« (Luhmann 2000, 89).
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Die Differenz von System und Umwelt ist nur als interne Differenz aktualisierbar, obwohl eine Abgrenzung von etwas vorgenommen wird, das außerhalb des Systems liegt. Deshalb sind Systemkommunikationen im Grunde tautologisch (vgl. Luhmann 1997, 883). Eine Beobachtung der Systeme von außen, beispielsweise aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, ist daher für Luhmann nicht möglich. Allerdings stellt die Systemtheorie selbst eine Beobachtung von Beobachtung dar, d. h., sie unterscheidet Systemkommunikationen. In den späteren Arbeiten erklärt Luhmann diese Möglichkeit einer sogenannten Beobachtung zweiter Ordnung mit der Gedankenfigur des re-entry und unter Bezugnahme auf die operative Logik von Spencer Brown. Durch eine Grenzüberschreitung in Form eines Perspektivwechsels kann jede Unterscheidung des Systems neu beschrieben und durch einen re-entry in das System eingeführt werden. Der re-entry ist dabei die »Wiederholung einer Unterscheidung innerhalb einer Unterscheidung« (Krause 2001, 191) und wird in der Systemkommunikation durch die Beobachtung zweiter Ordnung vollzogen. Der Begriff ›zweiter‹ darf allerdings nicht im Sinne von ›höhergestellt‹ interpretiert werden, sondern meint eine Integration des blinden Flecks in die eigene Beobachtung. »Im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung garantiert der beobachtete Beobachter die Realität seines Beobachtens (…). Auf den Durchgriff auf eine dahinterliegende Realität muss man verzichten« (Luhmann 1997, 767).
Mit dem re-entry wird also eine Unterscheidung in eine Unterscheidung integriert und damit die systemeigene Differenz von System und Umwelt beobachtbar. Beispielsweise kann mittels des re-entry der Code der Wissenschaft (wahr/falsch) in der Wissenschaftstheorie unter genau diesem Code thematisiert werden. Damit findet eine Enttautologisierung als Einführung der Differenz von System und Umwelt in die Systemkommunikation statt. Damit sind die wichtigsten Elemente der Systemtheorie Luhmanns skizziert. Es geht im Folgenden nun darum, sein Verständnis von Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften zu rekonstruieren und damit zu erklären, welche Funktion der Religion in diesen Kontexten zukommt. Dass für Luhmann das Thema Religion innerhalb seiner systemtheoretischen Konzeption von Gesellschaft wichtig war, zeigt sich schon bereits daran, dass er diesen Fragekomplex »für seine Verhältnisse seltsam ironiearm behandelt« (Fuchs 2000) hat. 196
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3.4.2. Systemtheoretische Interpretation von Religion 3.4.2.1. Reduktion von Komplexität als Funktion der Religion beim frühen Luhmann Luhmann setzt sich bereits in den frühen 1970er-Jahren mit der gesellschaftlichen Funktion von Religion auseinander. Diese Arbeiten müssen vor dem Hintergrund der systematischen Grundlegung in der Schrift Soziale Systeme (1984) gelesen werden und fokussieren deshalb vor allem auf den Komplexitätsbegriff bzw. auf Organisationsfragen von Religionsgemeinschaften. 99 Bereits deutlich ausgeprägt ist allerdings die funktionale Erklärung von Religion, wobei er die Funktion der Religion primär in der Verarbeitung von Komplexität sieht. Sie hat »die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren« (Luhmann 1972a, 251). 100 Religion hat demnach »für das Gesellschaftssystem die Funktion, die unabschließbare Welt in eine bestimmbare zu transformieren, in der System und Umwelt in Beziehungen stehen können, die auf beiden Seiten eine Beliebigkeit der Veränderungen ausschließen« (Luhmann 1977, 26). Der methodische Zugriff des frühen Luhmann auf die Religion ist also »von der Frage geleitet, für welches Problem in der Gesellschaft Religion zuständig ist. (…) Dieses Problem wird von Luhmann als das Problem der Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität beschrieben« (Geisthardt 1985, 18; vgl. zudem Murphy 1987, 210). 101 Die systemtheoretische Interpretation der Eine facettenreiche Auseinandersetzung mit diesem frühen Religionsbegriff von Luhmann findet sich in der Zeitschrift Sociological Analysis, in der neben Luhmann (1985a; ders. 1985b) sowohl Ruth A. Wallace (1985) als auch James Schmidt (1985) einen Beitrag zur systemtheoretischen Interpretation der Religion veröffentlicht haben. 100 An einigen Stellen wird die Funktion der Religion noch in einer anderen Hinsicht bestimmt, und zwar dort, wo Luhmann von der Diakonie als Funktion der Religion spricht. »Die Leistungen des Religionssystems für andere gesellschaftliche Subsysteme bestimmte Luhmann als Diakonie, für Personen als Seelsorge. Religion habe dabei die Aufgabe, sozialstrukturelle Probleme personalisiert zu bearbeiten« (Woiwode 1997, 235). Die Konsequenz aus dieser Beschreibung ist allerdings, dass die Funktion der Religion letztlich vor allem in der individuellen Versorgung von Personen liegt, was im Grunde der systemtheoretischen Perspektive zuwiderläuft, weshalb Luhmann in späteren Überlegungen diese Argumentation modifiziert. 101 Der späte Luhmann wird die Funktion der Religion hingegen weniger in ihrer Fähigkeit zur Reduktion von Komplexität bestimmen als in der Fähigkeit, die paradoxale 99
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Religion in den frühen Arbeiten fokussiert außerdem auf einen zweiten Themenkomplex, und zwar auf die Kirche als Organisationsform der christlichen Religion. »Die Funktion des Religionssystems wird unmittelbar durch das System geistlicher Kommunikation erfüllt, das man Kirche nennt. Insofern trägt die Kirche die Ausdifferenzierung des Religionssystems« (Luhmann 1977, 56).
Luhmann unterscheidet diesbezüglich verschiedene Formen der Teilnahme am Religionssystem, und zwar eine rechnerische, amtstragende oder aktive Mitgliedschaft (vgl. Luhmann 1972a, 258 f.). Die christlichen Kirchen in Europa verzeichnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinsichtlich aller drei Formen rückläufige Mitgliederzahlen. Das zentrale Problem der Religionsgemeinschaften ist nach Luhmanns Ansicht in diesem Zusammenhang, dass sie sich schwer tun, die funktionale Ausdifferenzierung theoretisch wie praktisch zu verarbeiten. Sie stellen sich nicht der drängenden Aufgabe der Komplexitätsverarbeitung und finden deshalb keine theologisch überzeugenden Antworten auf gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen, was für ihn der Hauptgrund dafür ist, warum christliche Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren. »Gerade soziologisch und organisatorisch gesehen scheint mithin das Hauptproblem der Kirche ein theologisches zu sein. Ihre generelle, nicht nur problemspezifische Verunsicherung geht letztlich darauf zurück, dass es nicht gelingt, ihre gesellschaftliche Funktion im theologisch dogmatisierten Programm fassbar zu rekonstruieren« (Luhmann 1972a, 262).
Den Kirchen fehlt in dieser Hinsicht nach Luhmann vor allem ein soziologisches »Abstraktionspotenzial« (Luhmann 1972a, 285), was sich exemplarisch an den Diskursen der Dogmatik bzw. systematischen Theologie ablesen lässt. Kirchen stehen immer häufiger vor dem Problem, dass sie mit traditioneller Dogmatik ihre Religionsmitglieder nicht mehr erreichen, ja noch mehr: dass sie damit die Mitglieder sogar negativ abschrecken. Dies sieht er als ein Indiz dafür, dass sich Religionen noch nicht genügend mit den Ausdifferenzierungen moderner GeStruktur von Beobachtung thematisieren zu können. Die Idee eines einheitlichen Codes des Kommunikationssystems Religion ist beim frühen Luhmann ebenfalls nicht so eindeutig ausgeprägt wie in seinen späteren Arbeiten. In den frühen Werken spricht er vielmehr von der Chiffre, wobei auch mit diesem Begriff letztlich die Entparadoxalisierung zum Ausdruck gebracht werden soll (vgl. Luhmann 1991a).
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sellschaften auseinandergesetzt und deren Anforderungen in die eigene Systemkommunikation übertragen haben (Luhmann 1974, 21 f.). 102 »Die Inhalte von Dogmatiken werden durch die gesellschaftliche Funktion von Religion keineswegs vorgezeichnet oder gar alternativlos festgelegt. Sie entstehen vielmehr ›zufällig‹, sind jedenfalls soziologisch und systemtheoretisch nicht reduzierbar. Sie sind gleichwohl nicht beliebig möglich, sondern müssen mögliche Antworten geben auf Probleme, die mit der evolutionären Lage des Gesellschaftssystems und der Struktur ausdifferenzierter Religionssysteme zusammenhängen« (Luhmann 1972b, 12).
Luhmann formuliert angesichts dieser Problemdiagnose zwei Forderungen an die zeitgenössische Dogmatik der 1970er-Jahre: Erstens ist sie herausgefordert, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Allgemeinen wie des Religionssystems im Besonderen reflexiv zu verarbeiten. Den Weg, den er hierfür vorschlägt, ist ein systemtheoretisches Verständnis von Religion als Form der Komplexitätsreduktion. 103 Sie sollte zweitens eine Kontingenzformel entwickeln, mit der in modernen Gesellschaften über Transzendenz kommuniziert werden kann. Damit wird schon in diesen frühen Schriften Luhmanns eine weitere Grundannahme seiner Religionstheorie deutlich. Es geht ihm nämlich – wie in der Systemtheorie insgesamt – weniger um den einzelnen Menschen, sondern um die Systemkommunikation als solches. Es muss sich deshalb also weniger der religiöse Mensch auf gesellschaftliche Veränderungen einstellen als das religiöse System als Ganzes. »In der gegenwärtigen Diskussion von kirchlicher und außerkirchlicher Religiosität ist die Erfahrung eines stärkeren Auseinanderlebens der Systeme zunächst zu einem Gegensatz von Organisation und Subjekt bearbeitet wor-
102 Allerdings betont Luhmann auch, dass die Probleme der Religionsgemeinschaften nicht nur aus ihrem eigenen Verhalten heraus erklärt werden können. Vielmehr zeige sich bei genauerer Analyse, dass sich ihr Bedeutungsverlust auch auf äußere Gründe zurückführen lasse, weil die Gesellschaft öffentliche Kommunikation über Transzendenz nur noch bedingt erlaube. »The main problem of contemporary religious practice might well be the problem of transcendental communication. For structural reasons our society discourages any attempt to communicate with partners in its environment. The universe has withdrawn into silence. But relations between God and man have to be communication – or what else? – yet cannot be communication« (Luhmann 1985b, 17). 103 Luhmann macht auch Vorschläge, was dies für die Organisation Kirche bedeuten könnte, beispielsweise hinsichtlich einer Weiterentwicklung von Personal- oder Programmpolitik (vgl. Luhmann 1972a.).
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den mit der Maßgabe, dass Reflexionsleistungen nur vom Subjekt erwartet werden. Darin liegt eine falsche Alternative« (Luhmann 1972b, 93).
Luhmann veröffentlicht in den 1970er-Jahren verschiedene Aufsätze zur Religion, die in der skizzierten Linie argumentieren. 1977 bringt er den Band Funktion der Religion heraus, der eine erste Zusammenfassung dieser Überlegungen vor dem Hintergrund des einige Jahre später erschienenen Werkes Soziale Systeme (1984) darstellt. In den darauffolgenden Jahren finden sich einzelne Veröffentlichungen in Aufsatzform, die diesen Ansatz weiterentwickeln, insbesondere was die Fassung der Funktion von Religion und ihren Code betrifft. Kurz vor seinem Tod hatte Luhmann diese Artikel zu einem neuen Manuskript zusammengefasst, das er selbst allerdings nicht mehr veröffentlichen konnte. Diese Aufgabe hat André Kieserling übernommen, indem er dieses Manuskript aus dem Jahr 1997 überarbeitete und für die Publikation redigierte. Er selbst hält diesbezüglich fest: »Über das bloße Fragment geht der Text weit hinaus, und vermutlich hätte ein winziges Mehr an Lebenszeit ausgereicht, um die Arbeit am Manuskript abschließen zu können« (Kieserling 2000, 357). Man kann deshalb davon ausgehen, dass der im Jahre 2000 erschienene Band mit dem Titel Religion der Gesellschaft (Luhmann 2000) die Ansichten des späten Luhmann zum Funktionssystem Religion sehr gut widerspiegelt. Im Folgenden sollen vor allem seine Aufsätze aus den 1990er-Jahren und dieser Band als Grundlage für die weitere Rekonstruktion herangezogen werden, um die systemtheoretischen Merkmale der Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften umfassend bestimmen zu können. 3.4.2.2. Religion als Thema der Soziologie in Zeiten der Säkularisierung Vor dem Hintergrund seiner weiterentwickelten systemtheoretischen Grundannahmen, wie er sie paradigmatisch in dem Band Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997) vorlegt, entfaltet Luhmann auch in seinen späteren Arbeiten einen Zugang zur Religion in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. Wie schon hinsichtlich anderer Funktionssysteme (beispielsweise Recht, Wissenschaft oder Kunst) sucht Luhmann nach spezifischen Elementen der Systemtheorie in diesem Bereich und rekonstruiert sie unter den Vorzeichen seiner theoretischen Annahmen. In dieser Hinsicht wird auch für die Religion eine spezifische Codierung religiöser Kommunikation identifiziert, eine 200
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Funktion bestimmt und verschiedene wichtige Begriffe aus dem religiösen Feld (beispielsweise Gott oder das Sakrale) systemtheoretisch ausbuchstabiert. Dabei gehen Luhmanns religionstheoretische Überlegungen – genauso wie die Systemtheorie insgesamt (vgl. Spaemann 1990; vgl. Kap. 3.3.4.) – über die Grenzen einer deskriptiven Religionssoziologie hinaus. Indem er auf die Bedingung der Möglichkeit von Religion in modernen Gesellschaften reflektiert und Fragen nach dem »Wesen der Religion, ihrer Entstehung, Entwicklung und gesellschaftliche[n] Funktion stellt« (Kühneweg 2001), integriert er sozial- und religionsphilosophische Argumente in seinen Ansatz. Weil die kommunikative Struktur von Religion und deren Einbindung in das gesamtgesellschaftliche System für ein überzeugendes Verständnis von Religion unentbehrlich sind, ist seiner Ansicht nach »die Soziologie und nicht Psychologie oder Anthropologie die eigentlich zuständige Religionswissenschaft« (Luhmann 2000, 44). In traditionellen Gesellschaften war Luhmanns Deutung zufolge der Religionsbegriff eindeutig bestimmt und wurde als solcher meist nicht problematisiert. In modernen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Kontexten hingegen muss sich Religion von anderen gesellschaftlichen Bereichen unterscheiden, so seine Ausgangsthese. Diese Bestimmung von Religion verläuft entsprechend den Charakteristika der Systemtheorie über die Differenz von System und Umwelt. Da es in der Systemtheorie keine Einheit von Wirklichkeit gibt, kann folglich auch Gott nicht mehr als letzte Einheit gedacht werden. In vielen aktuellen Religionstheorien wird Religion Luhmann zufolge nach wie vor phänomenologisch oder ontologisch bestimmt, was den Anforderungen an eine reflexive Verarbeitung funktionaler Ausdifferenzierung im Kontext der Moderne nicht gerecht wird. Noch heute, so Luhmann, würden beispielsweise empirisch ausgerichtete Religionssoziologen durch Befragungen religiöse Einstellungen zu erheben versuchen, um damit Religion in ihrem Wesenskern zu verstehen. Traditionelle Religionstheorie »sucht Religion dadurch zu bestimmen, dass sie beschreibt, wie Sinngehalte als Religion, und das heißt dann: als ›heilig‹ erscheinen« (Luhmann 2000, 11). Diese Annäherung an Religion ist in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften unangemessen, vor allem weil das System der Religion nicht als eine Substanz gedacht werden kann. Mit dem Schema »des Bewusstseins (Subjekt/ Objekt, Beobachter/Gegenstand) lässt sich Religion nicht zureichend begreifen, weil sie auf beiden Seiten dieser Differenz angesiedelt ist« A
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(Luhmann 2000, 13). Deshalb legt auch der späte Luhmann keine Religionstheorie im traditionellen Sinne vor, sondern fragt nach der Kommunikation von Religion. Das systemtheoretische Nachdenken über Religion beobachtet die Kommunikation von Religion dabei im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung. Hintergrund dieser systemtheoretischen Beobachtung waren bereits in den früheren Arbeiten von Luhmann die funktionale Ausdifferenzierung und die damit einhergehende Säkularisierung moderner Gesellschaften. Säkularisierung bedeutet systemtheoretisch formuliert allerdings weder ein empirisches beobachtbares Verschwinden der Religion noch eine normativ begründete Verankerung der Religion im Privaten, sondern meint lediglich die Auflösung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen bzw. normativer Ordnung und die Herausbildung sozialer Teilsysteme mit je eigener Funktionalität. Säkularisierung ist für Luhmann ein Begriff, »der auf eine polykontextural beobachtbare Welt zugeschnitten ist, in der die Kontexturen der Beobachter nicht mehr vom Sein her oder von Gott her identisch« (Luhmann 2000, 284) sind. »Die Systemtheorie rechnet dagegen mit einer funktional differenzierten polyzentrischen Gesellschaft der Moderne ohne dominantes Zentrum. Säkularisierung resultiert dann aus dem Übergang von hierarchischen zu funktionalen Mustern gesellschaftlicher Strukturbildung. Die spezifischen Anpassungsprobleme für Religion ergeben sich daraus, dass die Ausdifferenzierung religiöser Kommunikation zum Sozialsystem schon mit dem Übergang zur Hochreligion einen hohen Grad an Geschlossenheit erreichte. (…) Als soziale Form aber hatte sie dann noch einen weiten Weg gesellschaftlicher Entwicklung vor sich« (Schlögl 2001, 37).
Luhmann hält daher ganz in der Logik seiner frühen Arbeiten zur Religion fest, dass Säkularisierung nicht »Funktions- oder Bedeutungsverlust der Religion« bedeutet, aber sehr wohl »vorübergehende (?) Schlechtanpassung an die Bedingungen der modernen Gesellschaft« (Luhmann 2000, 301). Religion gehört »zu den schlecht angepassten Funktionssystemen der Gesellschaft« und ist »den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen mehr reaktiv ausgeliefert (…), als dass sie sie aktiv befördert« (Pollack 2001, 17). Gerade dies ist eine zentrale Herausforderung im aktuellen Diskurs über die neue Aufmerksamkeit für Religion.
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3.4.2.3. Kommunikation, Sinn und Codierung der Religion Religion ist vom theoretischen Standpunkt Luhmanns aus eine Systemkommunikation im Kontext ausdifferenzierter Gesellschaften und kann deshalb »nur als Kommunikation realisiert werden (…). Es gibt keinen anderen sozialen Ort dafür« (Luhmann 1998, 144). Wenn Religion als Systemkommunikation konzeptualisiert wird, dann wird gleichzeitig Sinn als Ordnungsform dieser Kommunikation etabliert. Durch Sinn wird festgelegt, was von der religiösen Systemkommunikation selektiert wird und was nicht. Sinn ist deshalb nur systemimmanent zugänglich. Das allgemeinste, nicht »transzendierbare Medium für jede Formbildung, das psychische und soziale Systeme verwenden können, nennen wir Sinn« (Luhmann 2000, 15). Sinn ist dabei die Einheit der Differenz von Aktualität und Möglichkeit der religiösen Kommunikation. Jedes System, so wurde bereits im Kontext der systemtheoretischen Grundlegung herausgestellt (vgl. Kap. 3.4.1.), operiert mit Sinn, ohne dass die vollzogene Selektion objektivierbar wäre, weshalb der Sinn einer Kommunikation vom System selbst nicht reflektiert werden kann. Religion ermöglicht nun allerdings gerade einen solchen Zugang zu Sinn, denn sie thematisiert diesen vor dem Horizont seiner eigenen Unbestimmbarkeit. Religion ist »zuständig für das Konstitutionsproblem von Sinn, für eine jeweils fällige Umfundierung, wenn diese den Umweg über die Paradoxie nimmt« (Luhmann 2000, 137 f.). Das Religionssystem ist gekennzeichnet durch die Kommunikation über Sinn, ohne dessen Kontingenz zu verneinen. Damit garantiert Religion »die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare« (Luhmann 2000, 127). Die zentrale Frage der Religion ist dabei: Was ist der Sinn von Sinn? »Und ich stelle mir vor, dass Religion für die[se] Frage eine Antwort sucht« (Luhmann 1991a, 940). Religion thematisiert also als einziges System die Kontingenz von Sinn als unhintergehbare und unreflektiert hingenommene Unterscheidung aller Funktionssysteme. »Mit dieser Funktionszuweisung bezieht Luhmann Religion auf das Problem der Kontingenz aller sinnhaften Selektionen und mutet ihr die Aufgabe zu, durch Transformation des Unbestimmten in Bestimmtes das Problem der Gleichzeitigkeit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, das mit jeder Selektion gegeben ist, zu bewältigen« (Pollack 1991, 963).
Religion findet sich also nach Luhmann nicht mit der Sinnsetzung ab, welche in den anderen Systemen notwendig als kontingente VoraussetA
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zung vollzogen wird, sondern religiöse Systemkommunikation verweist »auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und [findet] dafür eine Form« (Luhmann 2000, 35). Damit vollzieht sie eine Realitätsverdoppelung, indem »sie etwas für Beobachtung bereitstellt, was nicht mehr unter diese Kategorie fällt« (Luhmann 2000, 60). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Sinn in religiöser Kommunikation lässt sich nun auch die gesellschaftliche Funktion von Religion noch einmal genauer bestimmen. Sie besteht darin, Unbeobachtbares zu beobachten und dies kommunikativ in einem eigenen System zu operationalisieren. Deshalb stellt Luhmann fest, dass es bei der Religion um einen »re-entry der Unterscheidung beobachtbar/unbeobachtbar ins Beobachtbare« geht (Luhmann 2000, 32). Damit bringt Religion die Kontingenz von Sinn in einer Kommunikationsform zum Ausdruck und nicht die individuelle Suche nach Kontingenzbewältigung, wie dies in traditionellen Religionsmodellen oft der Fall war. Es sind »keine Defekte, Sorgen, Unsicherheiten, die mit Religion kompensiert werden, sondern eine notwendige Bedingung jeder Festlegung (…) auf etwas-und-nichts-anderes« (Luhmann 2000, 36). 104 Religiöse Kommunikation ist deshalb für Luhmann nicht von der Gesellschaft abgekoppelt, sondern sie bildet lediglich einen eigenen, binären Code heraus, der für die Selektion von Kommunikation eine notwendige Voraussetzung ist. Das Problem der Religion liegt nicht in der Abwehr »von fremden Einflüssen und schon gar nicht im Verzicht auf eine Thematisierung ›weltlicher‹ Belange. Es liegt in der Ausarbeitung einer eigenen Welt- und Gesellschaftsbeschreibung und in der Ausarbeitung einer diesem Kontext genügenden Selbstbeschreibung der Religion« (Luhmann 1991b, 136). Hierzu ist die Entwicklung eines eigenen Codes unumgänglich, der wie in allen Funktionssystemen binär strukturiert ist. Im Falle der Religion ergibt sich der Code aus den Überlegungen zum Sinn im Religionssystem: Er besteht aus der Differenz von Transzendenz und Immanenz, womit religiöse Kommunika104 Damit setzt sich Luhmann außerdem von seinen früheren Arbeiten zur Religion ab, in denen die Funktion von Religion vor allem als Reduktion von Komplexität gefasst wurde (vgl. Kap. 3.4.2.1.). »Luhmann now postulates that religion tries to observe the paradoxical unity of the difference between the observable and the unobservable. This characterization implies that every religion is a so-called re-entry. (…) Religion, then, does not speak of the unobservable as such. It deals with the unity of the distinction observable/unobservable, with that which makes the observable itself unobservable« (Laermans 2001, 13).
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tion auf dem Spannungsverhältnis von Inner- und Außerweltlichem aufbaut. »Man kann dann auch sagen, dass eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet. Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, für den Wert, der Anschlussfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann« (Luhmann 2000, 77).
Diese Codierung dient der Selbstunterscheidung der Religion von anderen Systemen und liegt allen Religionen gleichermaßen zugrunde. Damit greift das systemtheoretische Modell von Religion nicht in das Jenseits von Welt, wie dies in Religionstheorien oftmals angenommen wird, wenn sie ein Raummodell zugrunde legen. Transzendenz bedeutet zwar Grenzüberschreitung, aber gemeint sind »nicht territoriale Grenzen (…), sondern Grenzen zum Unerreichbaren nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Gesellschaft, von der man ausgeht« (Luhmann 2000, 80). Mit dem systemtheoretisch gefassten Code von Religion sind die beiden Pole religiöser Kommunikation, Immanenz und Transzendenz, markiert. Das Spezifikum der Religion besteht nun darin, eine kommunikative Vermittlung zwischen beiden Polen zu leisten, indem es ihr um ein »Überschreiten der Grenze geht, um ein Kreuzen hin und zurück« (Luhmann 2000, 82). Religiöse Figuren wie Jesus Christus sind solche Vermittler, weil sie einerseits immanent (Jesus) und zugleich transzendent (Christus) sind. Die immanente Seite der Religion bezeichnet Luhmann auch als das dem Menschen Vertraute, das Transzendente als das Unvertraute. Indem Religion eine Vermittlung der beiden Pole herstellt, vollzieht sie einen re-entry: Sie thematisiert das Transzendente unter den Bedingungen der Immanenz. »Nimmt man die Religion konstituierende Differenz in ihrer ursprünglichen Form als Differenz von vertraut/unvertraut, dann entsteht Religion erst durch ein re-entry dieser Form in die Form: durch einen Wiedereintritt der Differenz von vertraut/unvertraut ins Vertraute und Umgängliche« (Luhmann 2000, 83).
Durch den re-entry wird also die Unterscheidung, die sich in der binären Codierung ausdrückt, für die Religion erst operationalisierbar. Der binäre Code »der Religion übernimmt die ›formaluniversale‹ Unterscheidung von marked/unmarked space, wobei die Religion beiden A
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Seiten dieser Unterscheidung eine eigene Realität zuspricht, sie verdoppelt die ›profane‹ Realität« (Kött 2003, 147 f.). Der entscheidende Vorteil einer solchen systemtheoretischen Konzeptualisierung von Religion ist nach Luhmann, dass die Bestimmung von Religion nicht durch einfache Abgrenzungen vorgenommen wird, sondern dass ein abstraktes Verständnis entwickelt wird, das der paradoxalen Struktur von Religion (über etwas zu sprechen, über das nicht gesprochen werden kann) gerecht wird. »Die Religion kann als der Versuch angesehen werden, dieses Unvermeidliche nicht bloß hinzunehmen. Deshalb wird die durch Unterscheidungen beobachtbare Welt dupliziert und schließlich mit der Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz in die strenge Form eines Codes gebracht« (Luhmann 2000, 89). 105
Exkludiert wird in diesem systemtheoretischen Verständnis von Religion natürlich der Mensch, was als eine Provokation für viele Religionsgemeinschaften wie Religionstheorien interpretiert werden muss. Im Christentum spielt beispielsweise der religiöse Gläubige eine zentrale Rolle, sowohl in der konkreten religiösen Praxis als auch in der theologischen Ausdeutung der Religionsgemeinschaft. Luhmann formuliert dies gleich zu Beginn seiner Überlegungen paradigmatisch: Die systemtheoretische Erklärung von Religion will »den Begriff Mensch durch den Begriff Kommunikation und damit die anthropologische Religionstheorie der Tradition durch eine Gesellschaftstheorie ersetzen« (Luhmann 2000, 13). Gerade dieses Bekenntnis zum individuell erfahrbaren Transzendenten ist allerdings in vielen Religionen ein zentrales Merkmal ihres Selbstverständnisses. Für Luhmann ist dieser Bekenntnischarakter von Religion und damit auch das innerpsychische Erleben der religiösen Menschen allerdings soziologisch irrelevant, weil es lediglich eine individuelle Erfahrung darstellt, aber nichts über die grundlegende paradoxale Struktur der Systemkommunikation aussagt. »Daran erkennt man die Autonomie der kommunikativen Realität gegenüber inneren, psychischen Zuständen und ihren Schwankungen. Religiöse Kommunikation stabilisiert sich selbst auf der Ebene des Gesellschaftssystems 105 Luhmanns Interpretation nach ist dieser Entwicklungsschritt erst in Hochreligionen möglich geworden, die entsprechende reflexive Regeln und Rituale bereitgestellt haben und damit ihren »Halt nicht mehr an ausgezeichneten Dingen oder Ereignissen« finden, sondern »an der in sich geschlossenen, Welt interpretierenden Unterscheidung, so dass auch höhere ›weltliche‹ Unsicherheit verkraftet werden kann« (Luhmann 2000, 89).
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und seines Funktionssystems für Religion, und dies gerade dadurch, dass sie in einer nicht überprüfbaren Weise innere Einstellungen zum Ausdruck bringt« (Luhmann 1998, 145).
Religion ist für den Systemtheoretiker Luhmann also keine Sache des Individuums und kein anthropologisches Thema, sondern ein eigenständiges Kommunikationssystem, weshalb religiöse Fragen oder Erfahrungen des einzelnen Menschens für ihn keine Rolle spielen. Das personale System wird in der funktionalen Analyse der Religion zwar nicht vollständig aufgelöst, aber »es steht nur im Hintergrund. Luhmann betrachtet es nicht als konstitutiv für die Ausdifferenzierung des Religionssystems« (Pollack 1988, 190). Religion ist deshalb nur als eine funktionale Kommunikation mit eigenem Code adäquat beschreibbar. 3.4.2.4. Gottesbegriff als Kontingenzformel In vielen Religionen spielt der Gottesbegriff eine entscheidende Rolle. Um die Konsequenzen der Konzeptualisierung von Religion als Kommunikationssystem erklären zu können, thematisiert Luhmann deshalb ausführlich die systemtheoretischen Schlussfolgerungen für die Interpretation des Gottesbegriffs. Der Gottesbegriff wird zwar im systemtheoretischen Verständnis von Religion nicht eliminiert, aber doch vollkommen neu gefasst. Luhmann deutet Gott nämlich als Kontingenzformel, mit der festgelegt wird, was innerhalb des Religionssystems selektiert werden darf. Kontingenzformeln zielen ganz allgemein formuliert »darauf ab, andere Möglichkeiten, die auch gegeben sind, zu unterdrücken« (Luhmann 2000, 150). Kontingenzformeln »müssen verständlich und plausibel machen, dass in bestimmter Weise erlebt und gehandelt wird, obwohl – oder sogar: gerade weil – auch anderes möglich ist« (Luhmann 2001, 58 f.). Kontingenzformeln etablieren alle Funktionssysteme, innerhalb des Wirtschaftssystems fungiert beispielsweise Knappheit als Kontingenzformel. Gott als Kontingenzformel des Religionssystems operationalisiert also, um was es in der Religion geht. Allerdings muss man einschränkend festhalten, dass »›Gott‹ nur in monotheistischen Subsystemen des Religionssystems als Kontingenzformel fungiert« (Oberdorfer 2001, 76); in den christlichen Religionen wird sie beispielsweise als Einheit der Differenz von Transzendenz und Immanenz verstanden. Religiöse Kommunikation im Christentum muss deshalb notwendig auf Gott als A
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Kontingenzformel Bezug nehmen, wenn sie innerhalb der Religion anschlussfähig sein will. Die Personalität Gottes ist in diesem Zusammenhang außerdem eine Chiffre für das wechselseitige Verwiesensein von Beobachten und Beobachtet-Werden. »Der transzendente Gott wird als Beobachter der Welt, als Einheit von Beobachter und Beobachtung geführt« (Luhmann 2000, 90), weshalb sich Gott in der Beobachtung selbst beobachten kann. »Gott wird als Person definiert, weil ihn das als Beobachter etabliert. (…) Vor allem aber gibt es einen Sonderstatus dieses Beobachters Gott, der mit dem Transzendenzwert des Religionscodes korreliert. Gott braucht keinen ›blinden Fleck‹. Er kann jedes Unterscheidungsschema als Differenz und als Einheit des Unterschiedenen zugleich realisieren« (Luhmann 2000, 157 ff.).
In die Kategorie des Sinns übersetzt bedeutet dies, dass durch die Kontingenzformel Gott ausgedrückt wird, dass aller Sinn einen Sinn hat, obwohl er immanent nicht erkennbar, aber immer garantiert ist. Im Christentum zeigt sich diese paradoxale Struktur von Religion am trinitarischen Gottesbild. »Wenn es nicht um Markieren, sondern um Überschreiten der Grenze geht, um ein Kreuzen hin und zurück, sind Vermittler nötig. Auch sie sind, wenn man von ihrer jeweiligen Befindlichkeit abstrahiert und sie zu identifizieren sucht, Inkarnationen des Paradoxes. In seinem Weltleben ist Jesus von Nazareth Mensch (wenngleich Mensch ohne Sünde). Als Christus ist er Sohn Gottes. Als Teil der Trinität ist er Gott, also sein eigener Vater, sowie Gottvater sein eigener Sohn ist« (Luhmann 2000, 82 f.).
Zur Entparadoxalisierung schafft das Religionssystem also mit dem Gottesbegriff eine verständliche Formel. Systemtheoretisch gesprochen kann diese Kontingenzformel, verstanden als Einheit von Transzendenz und Immanenz, allerdings nur innerhalb des Systems beobachtet werden. Aus dieser Innensicht zeigt sich dann wieder die typisch paradoxale Struktur systemischer Beobachtung: Gott ist Einheit und Differenz, ist Alles und Nichts, worin sich eine gewisse Nähe des systemtheoretischen Verständnisses von Religion zur negativen Theologie beispielsweise eines Nikolaus von Kues zeigt (vgl. Nickel/ Nickel-Schwäbisch 2005; vgl. Kap. 4.1.1.). Analog zum Gottesbegriff schlägt Luhmann vor, auch andere religiöse Grundbegriffe wie beispielsweise ›Sakrament‹ oder ›Geheimnis‹ differenztheoretisch zu deuten. Sakramente sind somit religiöse Riten, die eine ständige Wiederholung des re-entry im Alltag der Religions208
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gemeinschaft sind und damit »soziale Stabilisierungen« (Luhmann 2000, 84) von Kommunikation, d. h., sie ermöglichen Sinn ohne Realitätskontakt. Das religiöse Symbol, das zentrale Inhalte der Religion zum Ausdruck bringt, ist im Grunde beliebig, denn es ist lediglich eine Ausdrucksform zur Stabilisierung von Kommunikation in sozialen Bezügen. Deswegen hätte das Christentum für die Feier des Abendmahls auch Malzbier und Bananen statt Brot und Wein verwenden können, so die provokative Schlussfolgerung von Luhmann (vgl. Luhmann 2000, 118; vgl. Fuchs 2000). Die evolutionäre Herausbildung einer bestimmten rituellen Füllung des Codes stabilisiert lediglich religiöse Kommunikation und macht sie operationalisierbar. 3.4.2.5. Wiederkehr der Religion aus Sicht der Systemtheorie Die Funktion von Religion, das Unbeobachtbare zu beobachten, spielt auch und gerade für moderne Gesellschaften eine zentrale Rolle, in denen den einzelnen Funktionssystemen keine Reflexion der Kontingenz von Sinn möglich ist. Dies ist für Luhmann ein deutlicher Hinweis darauf, dass die aktuelle Renaissance der Religion kein kurzfristiges Phänomen sein wird. Deshalb spricht er auch nicht von einem automatischen Bedeutungsverlust der Religion in säkularen Gesellschaften. »Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass unter der Bedingung eines Rückzugs aus vielen anderen Funktionsbereichen, eines Verzichts auf ›social control‹ und Legitimierung politischer Macht, die Chancen für Religion steigen« (Luhmann 2000, 145).
Religion kann in modernen Gesellschaften also sehr wohl ein Gewinner der funktionalen Ausdifferenzierung sein, vor allem »wenn sie sich beschränkt und darauf verzichtet, in möglichst vielen anderen Funktionssystemen mitzumischen« (Luhmann 2000, 144). 106 Durch eine solche Beschränkung der Religion auf ihre Kernfunktion verliert sie 106 Einigen Religionsgemeinschaften fällt dies Luhmanns Ansicht nach offensichtlich leichter als anderen. Der Protestantismus beispielsweise hat sich dem Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung gegenüber schon immer aufgeschlossen gezeigt und diesen sogar selbst gefördert. »Denn erst durch die funktionale Differenzierung von Politik, Recht und Religion kann die Eigenart der christlichen Religion hervortreten und glaubwürdig ihre Wirkung entfalten. Schleiermacher beklagt die funktionale Differenzierung der Gesellschaft deshalb auch dezidiert nicht als Funktionsverlust für die Religion, sondern begrüßt die dadurch provozierte Beschränkung der Religion auf ihre eigene spezifische Wesensart und Wahrnehmung« (Karle 2001, 105). Eine Rekonstruktion der Bedeutung des Protestantismus hinsichtlich des Ausdifferenzierungsprozesses moderner
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gesellschaftlich nach Luhmann keineswegs an Bedeutung. Ein Indiz hierfür ist die aktuelle Vielfalt religiöser Formen. »Der Eindruck der Vielfalt und Lebendigkeit religiöser Kommunikation (…) ist empirisch wie theoretisch gerechtfertigt« (Luhmann 2000, 347) und Ausdruck dessen, dass Religion nach wie vor eine wichtige Funktion in modernen Gesellschaften hat und auch weiter haben wird. Die Funktion der Religion wird aber wahrscheinlich immer weniger von großen Religionsgemeinschaften wahrgenommen, sondern gerade von ausdifferenzierten religiösen Formen, die neue und angepasste Kommunikationen über Sinn etablieren. 107 Eine Zurückweisung oder gar Missachtung der funktionalen Ausdifferenzierung sollte von Religion vermieden werden, weil damit ein Rückgang ihres gesellschaftlichen Einflusses einhergehen wird, so die Schlussfolgerung Luhmanns. 108 Ein weiterer Aspekt der luhmannschen Überlegungen ist für den gegenwärtigen Diskurs über die neue Aufmerksamkeit für Religion von Bedeutung. In den heutigen Debatten wird nämlich häufig Religion auf ihre moralischen Aspekte reduziert, wie sich mit Blick auf Habermas’ Überlegungen zur postsäkularen Gesellschaft belegen lässt (vgl. Kap. 3.1.3.2.). Luhmann betont nun seinerseits, dass eine Koppelung des Codes der Religion an den der Moral angesichts der systemtheoretischen Annahmen nicht mehr möglich ist und deswegen strikt zurückgewiesen werden muss. Grundsätzlich legt soziale Codierung nur zwei Pole der Systemkommunikation fest und verbindet diese Gesellschaften findet sich bei Rainer Dahnelt (2009), der die Religionssoziologie Luhmanns aus Sicht der evangelischen Theologie von Falk Wagner diskutiert. 107 Deshalb hält Luhmann auch fest, dass die Renaissance der Religion notwendig mit einer Ausdifferenzierung von Religion einhergehen wird, die »auf Konkurrenz um Aufmerksamkeit, aber auch auf Diversifikation der Angebote und Insulierung und Konsolidierung von Teilsystemen in Nischen hinauslaufen [wird], die gleichsam olfaktorisch anlocken, aber nicht davon abhängen, dass Massen zuströmen und generalisierbare Konzepte angenommen werden« (Luhmann 2000, 327). 108 Dies betrifft seiner Ansicht nach auch fundamentalistische Formen von Religion, die nur scheinbar eine Stärkung von Religion in Zeiten der Säkularisierung darstellen. »Der religiöse Fundamentalismus reagiert auf die ›Privatisierungen religiösen Entscheidens‹, indem er vordergründig durch eine intern gesteuerte Deflation religiöser Kommunikation private Entscheidungen unterbindet. (…) Damit stellt der Fundamentalismus den restaurativen Versuch dar, die funktional differenzierte Gesellschaft wieder aufzuheben, indem er versucht, den Code der Religion wieder zu universalisieren« (Nickel-Schwäbisch 2004, 97 f.). Weil der Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung allerdings nicht rückgängig gemacht werden kann, werden sich deswegen diese Formen von Religion langfristig betrachtet selbst überholen.
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nicht mit normativen Wertigkeiten, denn »der Sinn der Codierung liegt ja gerade darin, diese Entscheidung offenzuhalten« (Luhmann 2000, 93). In vormodernen Gesellschaften haben Religionen immer ihren Code mit dem der Moral verbunden; einige Religionen – besonders die Hochreligionen – verstehen teilweise bis heute »Transzendenz als Option für die gute Seite menschlichen Verhaltens« (Luhmann 2000, 96) und versuchen damit, den religiösen Code normativ zu stabilisieren. Im Anschluss daran wurde beispielsweise von Religionsgemeinschaften argumentiert, dass weltliches Handeln immer von Schuld und Sünde durchzogen sei und deshalb einer Vergebung durch die Transzendenz bedürfe. Luhmann weist eine solche Vermischung der beiden Codes in ausdifferenzierten Gesellschaften zurück, weil beide systemtheoretisch betrachtet unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen wahrnehmen und deswegen als zwei Systeme zu behandeln sind (vgl. Luhmann 2000, 98 ff.). Außerdem kann gerade die Religion aus ihrer eigenen Geschichte der Koppelung des religiösen an den moralischen Code auf die Gefahren solcher Vermischungen hinweisen. »Man könnte sich vorstellen, dass in dem heutigen Ethikboom und in der heutigen Nachfrage nach moralischen Direktiven die Religion ihren eigenen Beitrag gerade in der Vorstellung haben könnte: Treibt es nicht zu doll mit Moral, denn das hat immer zwei Seiten: Wenn einer etwas für gut hält, hält er etwas anderes für schlecht« (Luhmann 1991a, 950).
Eine letzte Konsequenz ergibt sich aus dem systemtheoretischen Ansatz für den aktuellen Diskurs: Mit der abstrakten Bestimmung der Funktion von Religion nimmt gleichzeitig die theoretische Analyse der konkreten organisatorischen Ausgestaltung der Religionsgemeinschaften ab. In den späten Arbeiten Luhmanns zur Religion tritt deshalb die Frage nach der Kirche als religiöser Organisation zurück. Hatte dieses Thema in den frühen Arbeiten noch eine wichtige Rolle gespielt, argumentiert Luhmann jetzt, dass religiöse Organisationen letztlich überhaupt nicht nach Kriterien religiöser Kommunikation funktionieren und deshalb im Grunde nicht mit der Frage nach Religion in Zusammenhang stehen. Kirchen funktionieren seiner Ansicht zufolge vielmehr nach organisatorischen Kriterien, d. h. vor allem nach solchen der Macht. Kommunikationsentscheidungen werden darüber hinaus auf der Basis von Mitgliedschaft getroffen, weshalb andere Leitunterscheidungen für die Operationen religiöser Organisationen entscheiA
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dend sind. Beide Bereiche (Religion und Kirche) haben also je eigene semantische Verkettungen, weshalb Luhmann skeptisch ist, ob sie in modernen Gesellschaften miteinander versöhnt werden können. Kirche als Organisationsform wird deshalb für ihn immer weniger wichtig für das Verständnis des Religionssystems, weil sie nicht Ausdruck der grundlegenden religiösen Systemkommunikation ist und daher nur bedingt die gesellschaftliche Funktion von Religion übernehmen kann – auch dies ist eine wichtige Konsequenz der systemtheoretischen Reflexion auf die Funktion von Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften.
3.4.3. Kritische Diskussion 3.4.3.1. Binärer Code und die Funktion von Religion Die Systemtheorie bettet die Frage nach der Religion in die theoretische Rekonstruktion und Erklärung ausdifferenzierter Gesellschaften ein. Eine erste Stärke dieser systemtheoretischen Sichtweise ist die Bestimmung der Funktion von Religion. Diese Funktion besteht darin, die Dialektik von Transzendenz und Immanenz kommunikativ einholen zu können. In anderen Funktionssystemen wird diese Spannung einseitig aufgelöst und damit Sinn als unhintergehbar vorausgesetzt. In der Religion wird dagegen die Bedeutung von Sinn grundlegend reflektiert. Dies geschieht dadurch, dass Sinn als notwendige und gleichzeitig nicht verobjektivierbare Systemoperation zum Thema gemacht wird. Die gesellschaftliche Funktion der Religion besteht darin, die Kontingenz von Sinn, die grundlegend für jede Systemoperation ist, zu thematisieren und damit eine ausgewiesene Reflexionsform für die Gesellschaft über sich selbst zur Verfügung zu stellen. Religion ist damit zwar keine Vermittlungsinstanz mehr, »die die Beziehung aller gesellschaftlichen Aktivitäten zu einem Gesamtsinn herstellt« (Luhmann 2000, 115), aber sie ermöglicht eine Kommunikation über die Kontingenz von Sinn. Religion ist in dieser Sichtweise zuständig für die blinden Flecken von Systemkommunikation und die Frage nach der kontingenten Setzung von Sinn und stellt damit »eine Art Rahmen für Luhmanns Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft« (Emlein 2005) dar. »Alle Unterscheidungen, die jemals getroffen werden können, sind immanente Unterscheidungen (…). Das, wovon aber alle Bezeichnungen und alle
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Unterscheidungen unterschieden sind, bleibt als unmarked space zurück. Und im unmarked space bleiben (…) die Welt und der Beobachter als blinder Fleck seiner Beobachtung zurück – unbeobachtbar, weil ununterscheidbar. Religion kann als der Versuch angesehen werden, dies Unvermeidliche nicht bloß hinzunehmen. Deshalb wird die durch Unterscheidungen beobachtbare Welt dupliziert und schließlich mit der Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz in die strenge Form eines Codes gebracht« (Luhmann 2000, 89).
Vorteil eines solchen systemtheoretischen Konzeptes ist es, die Funktion der Religion in modernen Gesellschaften auf einem hohen Abstraktionsniveau zu beobachten und nicht »Säkularisierung und religiöse Erneuerung gegeneinander auszuspielen« (Schlögl 2001, 43). Damit liefert Luhmann eine in ihren Grundzügen überzeugende funktionale Rekonstruktion von Religion. Luhmann stellt sich mit seiner Religionstheorie erstens den Herausforderungen ausdifferenzierter Gesellschaften und kann damit zweitens dem modernen Pluralismus angemessen Rechnung tragen. Dabei betont er zu Recht, dass kein System in modernen Gesellschaften einen weltanschaulichen Alleinvertretungsanspruch mehr erheben oder begründen kann. Diese Begrenzung gilt sowohl für die Systeme der Moral, Politik oder der Religion, denn systemtheoretisch kann auch für die Religion keine Vorherrschaft über andere Funktionssysteme begründet werden. Aufgrund der strikten Trennung der einzelnen Systeme, hat Religion außerdem keine leitende moralische Funktion mehr für moderne Gesellschaften. Damit kann ein moralischer Reduktionismus zurückgewiesen werden, der die aktuelle Debatte über Religion oftmals bestimmt. »Anders als viele, vor allem wissenssoziologische und ältere systemtheoretische Ansätze, die Religion als das normative Fundament einer vom Auseinanderfallen bedrohten Gesellschaft behandeln, sieht Luhmann die Gesellschaft jedoch nicht durch die Dominanz schwer verträglicher Widersprüche bestimmt und braucht daher der Religion auch nicht die Funktion zuzumuten, allgemeingültige Sinnzusammenhänge zu stiften, die in der Lage sind, divergierende Momente zusammenzuschließen« (Pollack 1988, 182).
Moralische und religiöse Kommunikation können daher nicht mehr miteinander verschmolzen werden, was allerdings nicht das Ende der Religion bedeutet. Die Religion kann vielmehr der Gesellschaft eine überzeugende Kommunikationsform über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz zur Verfügung stellen – dies ist eine zentrale Schlussfolgerung Luhmanns, die für den aktuellen Diskurs wichtig ist. A
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3.4.3.2. Religionsphilosophische und theologische Anfragen Sowohl in der Religionsphilosophie als auch in der christlichen Theologie erfuhr Luhmanns Systemtheorie eine breite Rezeption, die sich in einer Fülle von Veröffentlichungen niederschlägt. Angefangen von der Auseinandersetzung sehr renommierter Theologen in den 1970erJahren (neben Pannenberg 1973 vgl. u. a. Herms 1974; Rendtorff 1975) bis hin zu vielen facetten- und detailreichen Studien in den 1980er- und 1990er-Jahren in der systematischen Theologie (vgl. exemplarisch Welker 1985; Dallmann 1994; Woiwode 1997). Insbesondere die protestantische Theologie hatte schon früh eine große Offenheit gegenüber der luhmannschen Systemtheorie gezeigt, was sich bis heute in den Publikationen theologischer Systematiker im deutschsprachigen Raum zeigt. Uwe Kühneweg (2001) hat dies wiederum leicht ironisch kommentiert: »Vor allem im Protestantismus entfaltet Luhmann ja schon seit mehr als zwei Jahrzehnten seine Wirkung: Einer Religion, deren Vertreter immer öfter ihre Legitimation nicht mehr mit Transzendenz oder Offenbarung begründen, sondern in der (manchmal ängstlichen) Berufung auf gesellschaftlichen oder innerweltlichen Nutzen, muss die Systemtheorie ja wie das fünfte Evangelium erscheinen. Andererseits ist mir aber fraglich, ob eine Religion oder Theologie den Ansatz Luhmanns wirklich ganz integrieren kann, ohne in ein System des Priesterbetrugs zu mutieren« (Kühneweg 2001). 109
Für die Theologie stellt das systemtheoretische Verständnis von Religion also eine grundsätzliche Herausforderung dar, was in diesem Zitat bereits anklingt. Theologie kann, wenn sie der Systemtheorie folgt, nicht mehr eine allgemeine Struktur von Wirklichkeit voraussetzen, sondern muss die radikale Kontingenz des luhmannschen Religions109 In Bezug auf den Protestantismus wird in der aktuellen Luhmann-Forschung noch ein weiterer Aspekt diskutiert, und zwar, ob religiöser Glaube innerhalb des Religionssystems als symbolisches Kommunikationsmedium interpretiert werden kann (vgl. Luhmann 2000, 205; Krause 2001, 214). Diese Bestimmung des Glaubens als Medium, so die mehrheitliche Meinung, kann allerdings nur bedingt überzeugen; Corsi betont dies beispielsweise, weil Glaube nicht genügend zwischen Handeln und Erleben unterscheidet (vgl. Corsi 1997). Demgegenüber argumentiert Dinkel, dass man zumindest für den Protestantismus den Glauben als Medium deuten könne. »Indem der Protestantismus das Ritual zugunsten reflektierender Kommunikation des Wortes Gottes zurückdrängte, betrat er den Weg hin zur für die Moderne typischen Dauerreflexion (…). Denn nur bei einem vergleichsweise hohen Maß an Reflexion kann der christliche Glaube in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auch außerhalb der unmittelbar religiösen Kommunikation das Erleben und sekundär dann auch das Handeln von Menschen bestimmen« (Dinkel 2001, 69).
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begriffs hinnehmen und damit außerdem auf jede inhaltliche Ausdeutung der Transzendenz verzichten. Theologie hat in der »Religionstheorie von Niklas Luhmann allein die Aufgabe, die Identität des Religionssystems selbst zu reflektieren, die dabei als negierbar erscheinen muss, um Reflexionen überhaupt zu ermöglichen« (Woiwode 1997, 236). Letztlich geht es einer systemtheoretisch orientierten Theologie dann vor allem um einen aufgeklärten Umgang mit Kontingenz in Ritualen und Symbolen. Eine so konzipierte Theologie ist weniger wissend als schauend, was mit Verweis auf die Überlegungen von Luhmann zur Mystik oder Autoren wie Nikolaus von Kues bereits anklang. Die Mystik als theologische Reflexionsform ist für Luhmann eine adäquate Form, mit Kontingenz umzugehen und die paradoxale Einheit der Differenz von Transzendenz und Immanenz auszudrücken (vgl. Dahnelt 2009, 143 f.; Nickel/Nickel-Schwäbisch 2005). 110 Allerdings geht Luhmann deutlich über Nikolaus von Kues hinaus. Denn er spricht der Religion letztlich jede Möglichkeit einer vernünftigen Aussage über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz ab, die über die formale Codierung hinausreicht. Problematisch an diesem Religionsverständnis ist, dass damit alle religiösen Wahrheitsansprüche per se negiert werden. Luhmann schlägt damit dem Religionssystem vor, »seinen Wahrheitsanspruch fallen zu lassen und die Wahrheitsunfähigkeit des Glaubens, die in seiner Absicherung durch Fremdheitserfahrung und durch die historische Kontingenz der Offenbarung begründet liegt, zuzugestehen« (Pollack 1988, 159). Mit diesem Verständnis von Religion ist es einerseits zwar möglich, das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in einer nichtreligiösen Sprache zugänglich zu machen. Andererseits wird damit aber erstens jede Vernünftigkeit religiöser Aussagen geleugnet, was auch angesichts der bisherigen Rekonstruktionen des Diskurses aus religionsphilosophischen Gründen nur bedingt plausibel ist (vgl. Kap. 3.1.3.3.; zudem Kap. 4.3.). Außerdem wird zweitens die Transzendenz verendlicht, weil sie in den 110 In dieser Anschlussfähigkeit an die negative Theologie, wie sie Nikolaus von Kues vertritt, sehen einige Interpreten eine große Stärke der luhmannschen Religionstheorie: »Vermutlich ist der von Luhmann selbst bemühte Nikolaus von Kues mit seinem Begriff der coincidentia oppositorum und seiner Rede von Gott als dem Nicht-Anderen einer der hellsichtigsten Theologen aller Zeiten gewesen. Wenn die Einheit von Sinn und Nicht-Sinn, von Glauben und Zweifel, von Position und Negation am Ende im Paradox verschwimmt (…), hat Luhmann mehr von Religion verstanden als viele ihrer Amtsleute« (Kühneweg 2001; vgl. Kap. 4.1.1.).
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Bereich der Immanenz hineingezogen wird und damit ihre Eigenheit nur bedingt bestehen bleibt. Die Einführung der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz in die Immanenz »sichert die Verfügbarkeit der Transzendenz in der Immanenz, verletzt damit aber auch ihre Unzugänglichkeit. Durch ihre Verfügbarmachung wird sie sowohl verstellt und verdeckt als auch fixiert und verdinglicht« (Pollack 2001, 12). Es muss deshalb kritisch angefragt werden, ob die Systemtheorie mit der skizzierten Funktionsbestimmung von Religion das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz zu stark unter dem Fokus der Immanenz thematisiert und damit das Spannungsverhältnis zwischen binären Polen entgegen der eigenen Grundannahmen einseitig auflöst. Damit wird die systemtheoretische Überlegung letzten Endes auch der Tradition negativer Theologie nicht gerecht, auf die sie sich bezieht. Eine weitere religionsphilosophisch relevante Konsequenz der Systemtheorie ist eine massive Engführung des Gottesbegriffs, die ebenfalls kritisch anzufragen ist. Der Gottesbegriff wird von Luhmann nämlich rein formal als Kontingenzformel gefasst, weshalb dieser Begriff nur bedingt an Offenbarungsreligionen anschlussfähig ist. Viele dieser Religionen sehen es gerade als ihr zentrales Kennzeichen an, den Gottesbegriff nicht nur formal als Kontingenzformel zur Bearbeitung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz zu fassen, sondern sie legen den Gottesbegriff auch inhaltlich aus. Eine Beschreibung und Reflexion solcher materiellen Füllungen des Gottesbegriffs ist für Luhmann vor dem Hintergrund seiner systemtheoretischen Grundannahmen allerdings nur noch bedingt möglich. »Die Religionstheorie Niklas Luhmanns verzichtet auf jegliche Qualifizierung Gottes, indem sie Gott allein formal als ersten Beobachter bestimmt. Damit schließt sie den Gedanken von (…) Heil und Erlösung aus. Damit erfasst Luhmanns Religionstheorie zwar einen Teil der faktisch vorfindbaren Religionen, schließt aber alle Religionen aus, die sich aus guten Gründen konstitutiv auf Offenbarung beziehen. Die Reichweite der Luhmannschen Religionstheorie ist damit erheblich eingeschränkt« (Woiwode 1997, 16).
Ein ähnliches Problem stellt sich hinsichtlich des Sinnbegriffs, den Eilert Herms bereits früh kritisch anfragt (vgl. Herms 1974). Herms macht in seiner Auseinandersetzung mit Luhmann darauf aufmerksam, dass der Sinnbegriff der Systemtheorie im Grunde nicht mit dem vorherrschenden Sinnverständnis der christlichen Theologie kompatibel ist, weil er nur formal als kontingente Setzung einer Differenz 216
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gedeutet wird. In Religionen wird Sinn allerdings inhaltlich gefasst und die Ursache von Sinn religiös interpretiert. Diese zwei Grundannahmen, und zwar, »dass Sinn einen letzten Urheber haben müsse und dass Sinn einen letzten, nicht innerweltlichen Horizont ihrer Selektion voraussetze, sind weder mit den ausdrücklichen Absichten Luhmanns kompatibel noch mit dem Textbestand« (Woiwode 1997, 231). Dies hat zur Konsequenz, dass Luhmann eine Formalisierung und damit Engführung des Sinnbegriffs vornimmt, der im Grunde nicht mehr an die faktische religiöse Praxis anschlussfähig ist. 111 3.4.3.3. Einheit der Systeme und Exklusion der Gläubigen In den bislang formulierten Anfragen an Luhmanns Religionsverständnis ist ein grundlegender Kritikpunkt am systemtheoretischen Zugang impliziert, der noch einmal eigens zu reflektieren ist. Es geht um die Kritik an einer zu starken Betonung der Einheitlichkeit der Systeme und die Ausblendung der Systemvielfalt. Angesichts der differenztheoretischen Grundlegung droht damit die Systemtheorie selbstwidersprüchlich zu werden. Auf der einen Seite bringt die systemtheoretische Deutung in diesem Zusammenhang – gerade mit Blick auf die globale Situation – einen wichtigen Vorteil mit sich: Weil die Fragen nach dem Ursprung von Gesellschaft oder der Natur des Menschen als prinzipiell unbeantwortbar gedeutet werden, können sie systemtheoretisch betrachtet in einem interreligiösen Diskurs nicht mehr stören. Im Gegenteil: Die kulturelle und religiöse Verschiedenheit bezüglich der Deutungen des Ursprungs von Gesellschaft oder des Menschseins sind von der Systemtheorie aus leicht zu entschärfen, denn diese Unterschiede erklären sich aus der inhaltlich unterschiedlichen Ausgestaltung des binären Codes religiöser Kommunikation. Religionen »unterscheiden sich durch den Vollzug des re-entry und die von daher bestimmte Ausmalung der Transzendenz« (Luhmann 2000, 85). Indem die Systemtheorie auf die gemeinsamen formalen Merkmale dieser Kommunikationsweisen (binäre Codierung von Immanenz und Transzendenz) aufmerksam macht, kann sie die verschiedenen Religionen in ein Ver-
111 Ähnlich argumentiert Pannenberg, wenn er gegen Luhmann die Sinngegebenheit von Religion betont, die Grundlage allen menschlichen Sinndeutens ist und die von der Systemtheorie letztlich nicht mehr erklärbar ist (vgl. Pannenberg 1978).
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hältnis zueinander setzen und deren Kommunikationen vergleichen, ohne sie gegeneinander auszuspielen (vgl. Schlögl 2001, 39). Dies bringt auf der anderen Seite allerdings auch erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Mit dem Fokus auf die allen Religionen zugrunde liegende Codierung deutet Luhmann nämlich Religion als einheitliches System, denn die »Gestalten der historischen Religionen und die Vielfalt religiösen Erlebens (…) werden in einem allgemeinen Begriff von Religion aufgehoben« (Helmstetter 2002). Das damit verbundene Problem liegt in dem Umstand, dass die Systemtheorie den Anspruch auf »die Erfüllung einmal gefundener Funktionen auf Ewigkeit stellt und auf diese Weise gesellschaftliche Wandlungsprozesse unterschätzt oder übersieht« (Arenhövel 2008, 171). Besonders aufgrund des einheitlichen Religionscodes kann Luhmann sowohl historischen Wandeln als auch die kulturelle Ausdifferenzierung der Religion bzw. des Religiösen nur bedingt beschreiben bzw. erklären (vgl. Welker 1991). 112 Pannenberg fragte deshalb schon in den 1970er-Jahren in einer Auseinandersetzung mit Luhmann kritisch an, ob Religion wirklich in ein System gezwängt werden könne. Er betont stattdessen die Allgemeinheit der religiösen Thematik, »die in keiner partikularen Organisation, auch in keinem ›Teilsystem‹ der Gesellschaft, aufgehen« (Pannenberg 1978, 102) könne. 113 Luhmann interpretiert also die kulturellen Ausdifferenzierungen der religiösen Kommunikation letzten Endes als sekundär gegenüber dem binären Code. Damit werden die Analysen zur Religion engge112 Pollack betont allerdings zu Recht, dass die Kritik der Geschichtslosigkeit nur zum Teil zutrifft, was darin begründet ist, dass Luhmann »fast durchweg von der Religion statt von den Religionen spricht« (Pollack 1988, 179). Damit macht Luhmann deutlich, dass er nicht die faktische Gestalt der Religionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung untersuchen will, sondern seine Überlegungen stärker auf einer abstrakten Metaebene angesiedelt sind. »Allein aufgrund eines theoretischen Verarbeitungsmodus auf Geschichtslosigkeit zu schließen, wäre jedoch verfehlt, denn auch hochabstrakte Bestimmungen schließen (…) die Aufnahme historischer und empirischer Erkenntnisse nicht aus, aufgrund ihres hohen Komplexitätfrades können sie eine solche Aufnahme sogar begünstigen« (Pollack 1988, 179). 113 Luhmann erwiderte auf Pannenbergs Kritik, dass die Begrenzung der Religion auf ein System keine Einengung sei, sondern eine Spezialisierung, welche die Möglichkeiten von Religion in der Gesellschaft erhöhe. »Die gesellschaftliche Relevanz der Funktionssysteme ergibt sich gerade aus ihrer Spezialisierung, unter dem Primat einer Funktion, und ferner daraus, dass jedermann in jeder Situation, die dafür geeignet ist, das Funktionssystem in Anspruch nehmen kann« (Luhmann/Pannenberg 1978, 355).
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führt, denn Religionen sind immer kulturelle Systeme (vgl. Geertz 1983, 44–95), die erst durch die kulturelle Verankerung und Ausgestaltung ihre spezifische Eigenheit bekommen. Dies zeigen beispielsweise die vorangegangenen Rekonstruktionen von Walzers Konzeption deutlich (vgl. Kap. 3.3.2.). 114 Die konstruktivistisch orientierte Deontologisierung der Systemtheorie führt zwar zu einer rechtfertigbaren Aufgabe eines Subjekt-Objekt-Schemas und einer sicherlich auch berechtigten Kritik an einem vergegenständlichenden Nachdenken über Religion. Die Systemtheorie neigt aber gleichzeitig mit ihren stark vereinheitlichenden Zügen zu einer neuen Substanzialisierung der Systeme, durch die Differenzen innerhalb eines Systems zu wenig beleuchtet werden, was sich am Beispiel der Religion und der faktischen internen wie externen Ausdifferenzierung zeigen lässt (vgl. Petzke 2013, 143 ff.). Diese Tendenz ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass Luhmann die nationalstaatlich orientierte Soziologie ausweitet und die Weltgesellschaft in den Blick nimmt (vgl. paradigmatisch Luhmann 1975). Dies hat auch Auswirkungen auf seinen Zugang zur Religion, weil ihre Funktion dezidiert aus einer globalen Perspektive analysiert wird. Luhmanns Überlegungen zur »Religion in der modernen Weltgesellschaft tendieren letztlich auf eine systemtheoretisch artikulierte Version ökumenischer Weltreligionen« (Rainer 1992, 189). Gerade angesichts der aktuellen globalen Situation kommt es allerdings »zu einer ›zunehmenden Artenvielfalt von Religionen‹« (Stichweh 2001, 123), die Luhmann aufgrund der Ausblendung kultureller Fragen nur bedingt zu fassen vermag, auch wenn er selbst diese Vervielfältigung des Religiösen betont. Die Betonung der Einheit des Religionssystems macht es fast unmöglich, diese Vielheit des Religiösen nicht nur als sekundäres Anhängsel, sondern als primäre Gestaltform des Religiösen zu betrachten. Luhmann kann deshalb im Grunde seinen eigenen »Ansprüchen nicht genügen, denn die Ergebnisse der systemtheoretischen Analyse stimmen nicht mit dem Selbstverständnis
114 In der Konzeption der Systemtheorie wird Kultur nicht als ein System gefasst, weil sie nicht binär codiert ist. Es ist, dies lässt sich gegen Luhmann einwenden, aber gerade das Kennzeichen der Kultur, dass sie je Kontext andere Inhalte verarbeitet und neue (nicht binäre) Formen ausprägt. Die Vernachlässigung des kulturellen Aspektes entspricht nicht der empirisch belegbaren Erfahrung von Menschen weltweit, die Kultur als einen wesentlichen Aspekt menschlicher Vergesellschaftung erfahren (Müller 1997; vgl. Luhmann 1996).
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der Religionen überein – die Religionen beschreiben sich ja gerade nicht als ein einheitliches System« (Seibert 2004, 167). 115 Diese Betonung der Einheit von Systemen führt außerdem dazu, dass Luhmann die Ambivalenz der Religionen in gesellschaftlich-politischen Prozessen zu wenig thematisiert. Nicht alle Religionen halten nämlich in ihrer Kommunikation die Unbestimmbarkeit von Sinn offen, sondern verabsolutieren ihn vielmehr. Diesen Fall reflektiert Luhmann kaum, weil er von einer zu starken Einheitlichkeit und kulturellen Unabhängigkeit der Systemkommunikation ausgeht. Die Ambivalenz der ausdifferenzierten religiösen Kommunikation findet auch in dieser Hinsicht zu wenig Beachtung, weil Luhmann das Verhältnis von Religion und Kultur zu wenig in den Blick nimmt (vgl. Kap. 1.2.; vgl. Roy 2010). Dabei bleibt außerdem fraglich, ob die starke Fokussierung auf die einheitlichen Systeme und die damit verbundene systemtheoretische Ausblendung des religiösen Menschen überzeugen kann. »What is missing in Luhmann’s paper, however, are individual actors« (Wallace 1985, 31). Schon Habermas hatte in seiner Debatte mit Luhmann eingewendet, dass der einzelne Mensch durch die Systemperspektive ausgeblendet und damit die für eine Gesellschaftstheorie zentrale Frage der Intersubjektivität zu wenig berücksichtigt wird (vgl. Habermas/ Luhmann 1971). Habermas betont, dass personale Identität immer intersubjektiv bedingt ist, d. h. dass sie nur dort entstehen kann, wo eine funktionierende soziale Ordnung vorherrscht und Sinn immer an eine intersubjektive Geltung gebunden ist. Aus der Sicht einer kommunikationstheoretisch fundierten Handlungstheorie ist fraglich, ob Religion ohne den religiösen Gläubigen und dessen individuelle Erfahrungen von Transzendenz wirklich erklärt werden kann. So kann man berechtigterweise die Frage stellen, »ob das religiöse Erleben und Handeln sich wirklich mittels des Luhmannschen Begriffs der Kommunikation darstellen lässt« (Seibert 2004, 165), denn damit verliert Luhmann vor allem auch das heute in vielerlei Hinsicht nicht unproblematische Verhältnis zwischen Subjekt und Gesellschaft aus dem Blick. Das Theoriedesign suggeriert bereits, dass dieses Verhältnis unproblematisch sei. Angesichts der vielfachen Entfremdungstendenzen und Entsolidarisie115 Weil sich die Systemtheorie zudem ausschließlich auf »die Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion« konzentriert, wird »eine Untersuchung einzelner Religionen vor diesem Hintergrund beinahe unmöglich« (Seibert 2004, 171).
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rungen moderner Gesellschaften, auf die Habermas vor dem Hintergrund der kritischen Theorie bei seiner Beschäftigung mit Religion hinweist (vgl. Kap. 3.1.2.2.), erscheint dies nur bedingt plausibel. Luhmann übersieht »aufgrund der rein funktionalen Zuordnung von Individuum und Gesellschaft zu einem großen Teil die afunktionalen und dysfunktionalen Momente dieses Verhältnisses« (Pollack 1988, 193). Luhmanns Eliminierung des Subjekts bedeutet also einen Ausschluss von »Ethik und Moral, Freiheit und Verantwortung. So lassen sich die brennenden Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft nicht beantworten« (Dahnelt 2009, 237). Genau dies sind die Fragen, in denen sich Religion heute besonders in öffentlichen Debatten zu Wort meldet und zu deren Bearbeitung sie wichtige Impulse beiträgt. Der Ausschluss des Subjekts führt deswegen zu Verkürzungen, die durch den Erklärungswert der Gesamttheorie nur zum Teil aufgewogen werden können. 116 Mit einem systemtheoretisch orientierten Zugang wird die Funktion der Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften erklärbar – dies lässt sich abschließend festhalten. In der Umstellung von Vernunft auf Beobachtung und von Einheits- auf Differenzdenken werden die Traditionen der negativen Theologie in die Systemtheorie integriert, die sich stärker suchend und weniger wissend der Religion nähern wollen. Auch die paradoxale Struktur des Gottesbegriffs kann mit der Systemtheorie thematisiert werden, allerdings mit dem gravierenden Nachteil, dass der Gottesbegriff inhaltlich fast nicht mehr gefüllt werden kann. Bei aller Sympathie, die Luhmann der Religion gegenüber durch seine Argumentation zum Ausdruck bringt, verbleibt er in dieser Hinsicht letztlich in einer soziologischen Außenansicht (vgl. Pollack 1988, 154 f.), was zur Folge hat, dass er die spezifischen Eigenheiten der Religion nur bedingt erklären kann. Deshalb ist auch die Beschäftigung 116 Ob es sich bei Luhmanns Exklusion des Menschen aus der Soziologie allerdings wirklich um einen neuen Antihumanismus handelt, fragt Günther Emlein zu Recht kritisch an. »Exkludiert ist dabei – der Mensch! Der Mensch kommt im System Religion (aus systemtheoretischen Gründen, also aus Gründen der Theoriekonsistenz) nicht vor. Diese leider oft ›Antihumanismus‹ (und damit menschenfeindlich) genannte Position Luhmanns hat in der Theologie großen Widerspruch hervorgerufen. Aber von der Kritik war es nicht weit zu einer neuen, nun angeblich humanistischen Ontologie, mit der man es besser weiß« (Emlein 2005). Diese neue theologische Position büßt nach Emlein aber eben jenen Erklärungswert ein, den die Systemtheorie zur Analyse ausdifferenzierter Gesellschaften bereitstellt.
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mit der Konzeption von Luhmann ein Indiz dafür, die politisch-philosophische bzw. soziologische Außensicht noch stärker mit einer religionsphilosophischen Innensicht auf Religion zu verbinden (vgl. Kap. 4.2. und Kap. 4.3.). Dabei scheint Luhmann den Eindruck zu erwecken, dass er trotz – oder vielleicht gerade wegen aller empirischen und historischen Abstraktionen – die Religion »besser und ursprünglicher versteht als die ›Organisationen‹, die sie gesellschaftlich verwalten. Man könnte sagen: Luhmann erklärt der Gesellschaft ›Religion‹, aber auch der Religion die ›Gesellschaft‹« (Helmstetter 2002). Für die Religionsgemeinschaften erscheint dieser leicht besserwisserische Ton an einigen Stellen sicherlich als eine Provokation. Für Luhmann sind die Abwehrreaktionen von Religionen wiederum nur Formen der Selbstimmunisierung gegenüber der Dynamik ausdifferenzierter Gesellschaften. Deswegen könnte man provokant, Luhmann paraphrasierend, sagen: »Die Schwierigkeiten für Theologen und ›Religionspraktikanten‹ (…) lassen sich in der Tat auf die lapidare Formel bringen: ›Einen Unterschied kann man nicht anbeten‹« (Helmstetter 2002).
3.5. Dekonstruktion von Religion (J. Derrida) 3.5.1. Das Denken der différance als Ziel der Philosophie Der Ausgangspunkt des Ansatzes von Jacques Derrida liegt in der Metaphysikkritik der 1960er-Jahre begründet. In einer von Martin Heidegger inspirierten Dekonstruktion menschlicher Sprache zeigt Derrida auf, dass in der Philosophie lange Zeit die Schrift als etwas Sekundäres im Vergleich zum beschriebenen Gegenstand interpretiert wurde. Traditionelle Metaphysik argumentiert entsprechend dem »Gesetz der Präsenz« (Derrida 1972, 424), dass die Wahrheit des Seins im Präsens liege. Im Zuge dessen wird das Seiende gleichzeitig auf eine Substanz reduziert und die Gegenwart als zeitlicher Bezugspunkt verabsolutiert. Die Vernunft ermögliche eine Offenlegung des Seienden durch die dem Seienden nachgeordnete Sprache, so argumentieren Derrida zufolge die meisten Metaphysiker. In der Denkform der traditionellen Metaphysik wird Derridas Ansicht nach allerdings das Seiende ausschließlich durch scheinbar eindeutige Abgrenzungen bestimmt. Im Gegensatz dazu argumentiert er, 222
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dass zum einen die Sprache nichts Sekundäres gegenüber dem Seienden ist, und zum anderen jedes Wort immer in einem Netz von geschichtlichen und sprachlichen Bezügen steht. In dieser Hinsicht wird Wirklichkeit als umfassendes textuelles Geschehen interpretiert. Für Derrida ist Text »praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere« (Derrida 1999, 51). Sprache wird damit als ein komplexes Netzwerk von Verweisungszusammenhängen verstanden, weshalb die Bedeutung von Worten sich nur aus den sich verästelnden Differenzen selbst erklären lässt. »Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, dass zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verweise. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen« (Derrida 1990, 150).
Derrida ist skeptisch gegenüber einem Verständnis von Sprache, das die Welt essenzialistisch oder korrespondenztheoretisch erfassen und abbilden will, denn sprachliche Zeichen haben keine Bedeutung an sich, sondern nur in Absetzung von anderen Zeichen, weshalb Sprache niemals eine eindeutige Abbildung des Seienden sein kann. Das, was die Sprache anzielt, ist immer nur als eine Spur im Gesagten anwesend, weshalb sich auch die Bedeutung ständig verschiebt. »Die ›Unmotiviertheit‹ des Zeichens verlangt nach einer Synthese, in der das ganz Andere sich als solches – ohne alle Einfältigkeit, ohne Identität, ohne Ähnlichkeit oder Kontinuität – ankündigt. (…) Es gilt, die Spur vor [sic!] dem Seienden zu denken« (Derrida 1996a, 82).
Der Begriff der différance, gewissermaßen der Kern des dekonstruktivistischen Ansatzes von Derrida, bringt dies zum Ausdruck. Mit dem a im Wort différance betont Derrida, dass die Differenz zwischen dem Wort und dem, was damit angezielt wird, nie vollständig überwunden werden kann. Differenz meint deshalb für Derrida nicht einen klar bestimmten Unterschied im Sinne der herkömmlichen Metaphysik, sondern eine sich fortwährend im Sprachgeschehen vollziehende Dynamik der Bedeutungsverschiebung.117 Différance ist eine produktive Hervor117
In Abgrenzung zur traditionellen Metaphysik betont Derrida in diesem ZusammenA
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bringung der Differenzen, denn »während wir uns indes dem infinitiven und aktiven Kern des différer nähern, neutralisiert ›différance‹ (mit a) das, was der Infinitiv als einfach aktiv kennzeichnet« (Derrida 1999, 37). 118 Die Reflexion der différance (verstanden als Ziel der Philosophie der Dekonstruktion) will scheinbar eindeutige Differenzen aufspüren, hierarchische Ordnungen von Gegensätzen aufdecken und zeigen, dass diese Differenzen immer von komplexen Mehrdeutigkeiten und Bedeutungsverschiebungen durchzogen sind. Dabei sollen verdrängte oder ignorierte Gegensätze genauso aufgezeigt werden wie Widersprüchlichkeiten der scheinbar eindeutigen Differenzen. Die Dekonstruktion ist damit eine philosophische Methode, welche die Struktur von Wirklichkeit als textuelles Geschehen analysiert und einer kritischen Reflexion unterzieht. »Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und wirksam, können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohnen (…). Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen« (Derrida 1996a, 45).
Derrida hat sich lange Zeit nicht dezidiert zu Themen der politischen Philosophie geäußert. Die Fragen nach Gesellschaft, Politik oder Kultur wurden von ihm meist indirekt über (sprach-)philosophische Überlegungen beantwortet. In den letzten 15 Jahren seines Lebens hat sich dies geändert. In dieser letzten Phase seines philosophischen Schaffens »vollzieht Derrida einen weiteren Schritt im Explizit-machen der ethischen wie vor allem der politischen Implikationen seiner Philosophie« hang, dass die so verstandene Differenz Ausgangspunkt der Philosophie sein solle und nicht der Rückgang auf eine letzte Einheit, durch die Bedeutungsdifferenzen aufgehoben werden. »Der Bruch trägt von Anfang an nur einen Namen: die Uneinlösbarkeit des historisch-metaphysischen Anspruchs, von einem Ursprung, einer Evidenz oder Unmittelbarkeit, einem höchsten Seienden oder einem Gott, einem Logos (…), einem Ding an sich oder einem Subjekt, einem Ego, einem ersten Signifikanten bzw. einem Ersten überhaupt ausgehen zu können« (Zeillinger 2001, 71). 118 An der Gedankenfigur der différance zeigt sich außerdem deutlich Derridas Kritik an einer Metaphysik der Präsenz. »The important point for Derrida is that there can not be ›pure presence‹ or pre-given onto-theological truth because the actual process of communicating via linguistic signs (written or spoken) introduces the working of différance, which always serves to delay and defer the expected meaning of any privileged term of metaphysical center« (Freemann 2010, 49).
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(Kimmerle 2005b, 111). Er erweitert in dieser Zeit den Gegenstandsbereich der Dekonstruktion auf den Bereich ethischer und politischer Begriffe, wobei auch diese als dynamische Bedeutungszusammenhänge konzeptualisiert werden. (Ethische) Dekonstruktion bedeutet deshalb nicht, normative Prinzipien aus theoretischen Überlegungen abzuleiten, sondern dem Besonderen, das sich hinter scheinbar eindeutigen Differenzsetzungen zeigt, einen sprachlichen Ort zu geben. Darin drückt sich auch eine ethische Grundausrichtung seines Denkens insgesamt aus, und zwar die Achtung des Anderen, Unvordenklichen und Ereignishaften. Die Dekonstruktion »mag tatsächlich überhaupt keine Ethik mehr sein, und dennoch bliebe sie gerade so dem verpflichtet, was wirklich geschieht, nämlich dem unvordenklichen und dadurch immer unkalkulierbar bleibenden Ereignis des Anderen, der/das immer, in jedem Moment, im Kommen bleibt« (Letzkus 2002, 457). Auch im Bereich des ethischen oder politischen Sprechens wird dieses Andere und Ereignishafte oftmals von eindeutigen Gegensatzpaaren überlagert. Als ein wichtiges Beispiel dient Derrida das Verständnis von Gewalt, das in der politischen Philosophie seiner Ansicht nach meist verkürzt interpretiert wird. Denn häufig wird im Sprachgebrauch der politischen Philosophie Gewalt als ein äußerliches, scheinbar eindeutig beschreibbares Phänomen verstanden. Derrida zeigt auf, dass Gewalt mehr ist und viele verschiedene Aspekte in den philosophischen Arbeiten über Gewalt meist zu wenig zur Sprache kommen (vgl. Derrida 1991). So wohnt seiner Ansicht nach der Schrift selbst eine Gewalt inne, denn in der Unterdrückung anderer Bedeutungen oder der Etablierung von Tabus wird menschliche Sprache gewalttätig, was es in ethischer Hinsicht zu reflektieren gilt. »Derrida hebt diese ursprüngliche und transzendentale Gewalt der Sprache hervor: Noch vor jeder Demagogie oder Rhetorik kommt der Sprache als Logos schon eine eigene Gewaltsamkeit zu. Durch ihre begriffliche und prädikative Struktur subsumiert Sprache den Anderen unter ihre Begriffe und verkennt damit seine Andersheit. Durch die Begrifflichkeit der Sprache beginnt die Zirkulation des Selben und die Kontrolle des Seins« (Herrmann/ Kuch 2007, 16).
Durch Dekonstruktion kann Gewalt in der Sprache aufgedeckt werden. Sich eines Tabus bewusst zu werden, kann Ausgangspunkt für ein politisches Sprechen sein, welches das Besondere und Unvordenkliche achtet. Dass das Nachdenken über Ethik bei Derrida nicht auf allA
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gemeingültige Prinzipien abzielt, sondern vor allem ein Denken der ethischen Brüche und Differenzen darstellt, ist vor diesem Hintergrund leicht zu verstehen. Das wohl berühmteste Beispiel derridascher Dekonstruktion im Bereich der Ethik ist das sich am Gewaltbegriff von Walter Benjamin orientierende Nachdenken über Gerechtigkeit, womit er auch an die Überlegungen von Rawls oder Walzer anschließt (Derrida 1991; vgl. außerdem Haverkamp 1997). Derrida will entsprechend der Gedankenfigur der différance die scheinbar eindeutige Grenzziehung von gerecht und ungerecht hinterfragen und die Möglichkeiten einer überzeugenden Rede von Gerechtigkeit diskutieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Wechselverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, wobei in Demokratien Zweites durch Ersteres realisiert wird. Das Problem dabei ist allerdings, dass die allgemeine rechtliche Regel nur bedingt dem Besonderen des Einzelfalles entsprechen kann, denn »jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf« (Derrida 1991, 48). Eine allgemeine Regel kann menschlicher Wirklichkeit also nur bedingt gerecht werden, weshalb die politisch-rechtliche Umsetzung von Gerechtigkeit ebenfalls begrenzt ist und doch gleichzeitig auf das Recht angewiesen bleibt. Ein gerechter Richter ist deshalb weder eine Auslegungsmaschine des Rechts noch kann er unentschieden bleiben. Er erweist sich als gerecht, wenn er in seinem Handeln genau diese paradoxe Spannung umzusetzen vermag, wobei Gerechtigkeit niemals präsentisch hergestellt werden kann. »Aus diesem Paradoxon folgt, dass man niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgend jemand sind gerecht (das heißt frei und verantwortlich); und noch weniger: ›ich bin gerecht‹« (Derrida 1991, 48).
Und trotzdem bleibt Gerechtigkeit als Idee des Rechts das anvisierte Ziel – aber letztlich als eine Erfahrung des Unmöglichen, so die Schlussfolgerung Derridas aus der Dekonstruktion der Aporien der Gerechtigkeit. »So justice is in need of law, but it is at the same time in need of postponement of law. Justice charges us with a double bind. In seeking for justice we get struck in an aporia. This is the quasi transcendental structure of justice« (Evink 2004, 318).
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In genau dieser aporetischen Erfahrung zeigt sich indirekt der positive Gehalt von Gerechtigkeit. Diese ist nie präsentisch herstellbar, aber sie ist genau deshalb ein wichtiger Orientierungsmaßstab für politisches Handeln, weshalb Derrida betont, dass, wenn man über Gerechtigkeit spreche, man das Wort ›vielleicht‹ hinzufügen solle. 119 »Vielleicht – wenn es um (die) Gerechtigkeit geht, muss man immer vielleicht sagen. Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt« (Derrida 1991, 56).
Gerechtigkeit kann sich nur ›vielleicht‹ ereignen, sie kann nicht technisch geplant oder gemacht werden und zeigt sich deshalb als unendliche Gerechtigkeit. Damit bringt Derrida die unbedingte und in dieser Weise unendliche Offenheit für das Andere zum Ausdruck. »Derrida’s ethics is one marked by anticipation, ambiguity, and tension. What will come? Who will come? The perhaps marks and signifies this essential ambiguity and tension« (Zachary 2008, 65). An dieses Verständnis von Gerechtigkeit schließt Derrida seine Überlegungen zur Politik an (Derrida 2000c; ders. 2001b; ders. 2003). Basis von Politik ist bis heute die Souveränität des Staates, die letztlich keine Außenlegitimation braucht. Souveränität begründet sich immer nur aus sich selbst heraus: Ein Staat ist souverän, weil er souverän ist – so könnte man Derridas Bestandsaufnahme des politischen Feldes zusammenfassen. Der Wechsel von Wählen und Abwählen der Parlamentarier erscheint in dieser Hinsicht als ein Mechanismus der Selbstimmunisierung, weil politische Probleme nur noch selbstreferenziell innerhalb dieses Zyklus bearbeitet werden. Angesichts aktueller globaler Entwicklungen ist eine so verstandene Konzeptualisierung von Politik nach der Idee von Souveränität für Derrida äußerst problematisch. Erstens zeigt sich die Souveränität eines 119 Genau darin erweist sich die gerechtigkeitstheoretische Überlegung von Derrida als eine Weiterführung der Argumentation von Benjamin. Dieser hatte in seiner Abgrenzung von Naturrecht und positivem Recht argumentiert, dass Gerechtigkeit nicht aus dem positiv gesetzten Recht entspringen kann, sondern im Bezug zum Recht immer eine transzendente Dimension aufweist. Gerechtigkeit liegt deshalb jenseits der Sphäre menschlicher Macht und findet ihren Ursprung im Bereich der göttlichen Gewalt (vgl. Benjamin 1965). Derrida transformiert diesen Gedanken dahingehend, dass er von unendlicher Gerechtigkeit spricht und damit ihren transzendenten Charakter im Vergleich zum positiven Recht betont.
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Staates bei genauerem Hinsehen nur noch als komplexes Verhältnis von unterschiedlichen globalen Einflüssen. Kein Staat ist nur in sich souverän, sondern auf vielfältigen Ebenen immer schon auf verschiedenste Akteure und deren Einflussnahme bezogen. Zweitens impliziert dieses moderne Souveränitätsverständnis eine weitere Annahme, die schon bei der Diskussion des Liberalismus von Rorty kritisiert wurde, und zwar die Trennung von privat und öffentlich (vgl. Kap. 3.2.3.1.). Nach Derrida kann das Öffentlich-Politische heute nicht mehr eindeutig vom Privaten getrennt werden, wie es der Liberalismus lange Zeit propagiert hat (vgl. Nagl 2002, 173 ff.), sondern die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem sind durchlässiger geworden, weshalb der Bereich des Privaten mehr und mehr auch zum öffentlichen Raum wird. Weder die absolute Setzung von souveränen und in sich geschlossenen Staaten noch die eindeutige Gegenüberstellung von privat und öffentlich sind also angesichts dynamischer weltgesellschaftlicher Prozesse heute noch plausibel begründbar, so Derridas Kritik (vgl. Derrida 1996b). Beide Veränderungen im politischen Feld werden allerdings sowohl in der Politik als auch der politischen Philosophie noch zu wenig beachtet. Derridas Verständnis von Politik zielt aber noch auf etwas anderes ab, und zwar auf eine in der unendlichen Gerechtigkeit begründete, unbedingte Gastfreundschaft (vgl. Derrida 2001b). Bislang zeichnen sich viele Gesellschaften nach Derrida meist nur durch eine Form bedingter Gastfreundschaft aus, die sich beispielsweise in den liberalen Grundrechten widerspiegelt. Toleranz wird dabei oftmals als eine kontrollierte Gastfreundschaft verstanden und in einer Weise praktiziert, die auf eine Überwachung der eigenen Souveränität abzielt. Problematisch an dieser bedingten Form von Toleranz ist für Derrida, dass damit Ausgeschlossene und Fremde nicht in die Gesellschaft integriert werden. Er argumentiert daher für eine Weitung des Toleranzverständnisses, das offen für das Unvorhersehbare ist und Menschen nicht eindeutig in Bezug auf Grenzen zuordnet, sondern stattdessen unbedingt toleriert. 120 120 In Marx’ Gespenster zeigt Derrida auf, welche Konsequenzen die unbedingte Gastfreundschaft und unendliche Gerechtigkeit für das Verständnis von Verantwortung haben (Derrida 1996b; vgl. dazu auch Stegmaier 1998). Beide Ideale stehen letztlich im Dienst einer Verantwortung für den Anderen, worin sich Überlegungen von Lévinas und dessen Verständnis von Verantwortung für den Anderen widerspiegeln. Verantwortung kann es für Derrida erst geben, wenn traditionelle metaphysische oder transzendentalphilosophische Erklärungen des Guten überwunden werden und Verantwortung
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»Reine und unbedingte Gastfreundschaft, die Gastfreundschaft selbst, öffnet sich, sie ist von vorneherein offen für wen auch immer, der weder erwartet noch eingeladen ist, für jeden, der als absolut fremder Besucher kommt, der ankommt und nicht identifizierbar und nicht vorhersehbar ist, alles andere als das« (Derrida in Habermas/Derrida 2004, 170). 121
Nach dem 11. September hat sich allerdings gerade auf globaler Ebene eine neue Intoleranz ausgebreitet, die nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt Menschen zuordnet und die der Idee einer unbedingten Gastfreundschaft fast diametral entgegensteht. 122 Entsprechend seiner Überlegung zur Gerechtigkeit sollte nach Derrida als Reaktion auf diese Entwicklungen auch auf globaler Ebene dem Recht eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Gerechtigkeit zugestanden werden, allerdings wiederum in dem Wissen um dessen aporetischen Charakter (vgl. Derrida 2003b). Denn die Herstellung einer gerechten Welt ist ebenfalls auf globaler Ebene eine Erfahrung der Unmöglichkeit und trotzdem das immer neu anzuvisierende Ziel. Derrida nennt diese Vision eine kommende Demokratie (vgl. Derrida 2003b, 120–152). »[Damit] ist ein Bild, eine Vision gemeint, die vom Volk jeden Tag verändert bzw. erneuert wird. Sie ist nicht existent, gleichzeitig aber etwas, auf das hingearbeitet werden soll und muss. Es besteht eine gewisse Dringlichkeit, denn die Arbeit an der kommenden Demokratie kann nicht aufgeschoben oder verschoben werden. ›Weil sie nicht wartet und gleichwohl auf sich warten lässt. Sie erwartet nichts, verliert aber alles, wenn sie wartet‹« (Derrida 2003b, 150 f.).
nicht in einem letzten Wert verankert wird, sondern sie sich selbst ihrer eigenen Vorläufigkeit bewusst wird und genau deshalb dem Anderen unvoreingenommen begegnet. »Unter welcher Bedingung kann es Verantwortung geben? Unter der Bedingung, dass das Gute nicht mehr eine objektive Transzendenz sein kann, ein Verhältnis zwischen objektiven Dingen, sondern der Bezug auf den Anderen, eine Antwort auf den Anderen: Erfahrung der persönlichen Güte und intentionale Bewegung« (Derrida 1994, 378). 121 Darin zeigt sich noch einmal deutlich die Absetzung von einem traditionellen Verständnis von Gastfreundschaft, das stark vom Gastgeber aus in Form eines Geschenkes konzeptualisiert wird. »In a nutshell, while the traditional hospitality of the gift paradigm is centered on the giver’s or donor’s perspective, Derrida’s hospitality of the ›gift without gift‹ shifts its main focus from the giver or donor to the givee or donee« (Ahn 2010, 251). 122 Der Begriff ›Schurkenstaat‹ ist für Derrida in diesem Zusammenhang paradigmatisch, besonders weil durch ihn Gewalt gerechtfertigt wird. Problematisch ist seiner Ansicht nach, wenn der Westen alleine bestimmt, wer zu den Schurken zählt. Letztlich machen sich die USA und Europa damit selbst zum Schurken, weil sie die Unmöglichkeit absoluter Festlegungen missachten (vgl. Derrida 2003b). A
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Die Rede »von einer ›Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit‹«, die Derrida mit dem Begriff der Demokratie verbindet, impliziert eine »historische Prozessualität und Offenheit der Voraussetzungen, die in die Grundlagen einer demokratischen Politik investiert sind« (Wolf 2007, 96). 123 Eine kosmopolitische Demokratie als Kommende sucht jenseits nationalstaatlicher Strukturen nach neuen Wegen von unbedingter Gastfreundschaft und wird dabei immer kontingent bzw. im Kommen bleiben – genau darin liegt ihre Stärke. Das Kommen nennt Derrida deshalb ein Versprechen, weil Demokratie nie vollständig existieren wird und sich doch täglich neu verspricht. »Das ›Kommende‹ bezeichnet nicht nur das Versprechen, sondern auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne von gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird« (Derrida 2003b, 124). 124
Demokratie ist also kommend, nicht ankommend in dem Sinne, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vollendet werden könnte, worin sich wiederum der Grundgedanke der différance ausdrückt (Derrida 2003b, 62 f.). 125 Einige zentrale Merkmale einer solchen kommenden Demokratie lassen sich dementsprechend identifizieren (vgl. Derrida 2003b, 123–131). Sie ist zuerst die stets schon stattfindende kämpferische und schrankenlose politische Kritik an bestehenden Verhältnissen. Damit kann sie zu einem Ereignis der unbedingten Gastfreundschaft werden, indem sie die Ausweitung des Demokratischen über den Staat hinaus vorantreibt. Die Suche nach globaler Gerechtigkeit 123 Damit versteht sich Derridas Konzeption einer kommenden Demokratie wiederum als eine notwendige Ergänzung des politischen Liberalismus. In der Idee der kommenden Demokratie ist die Sphäre des Politischen weniger ein Diskursraum rationaler Akteure, der durch deliberative Verfahren strukturiert wird, sondern ein geschichtlicher Prozess, in dem das Politische einer ständigen Korrektur am aporetischen Ideal der Gerechtigkeit ausgesetzt ist (vgl. Wolf 2007, 89 f.). 124 Eine solche Form der sich versprechenden Gastfreundschaft ist für Derrida nur in einer Demokratie möglich, weil dieses politische System immer auch eine kritische Anfrage an sich selbst darstellt. »Die Demokratie ist das einzige System, das einzige Verfassungsmodell, in dem man prinzipiell das Recht hat oder sich nimmt, alles öffentlich zu kritisieren, einschließlich der Idee der Demokratie, ihres Begriffs, ihrer Geschichte und ihres Namens. Einschließlich der Idee des Verfassungsmodells und der absoluten Autorität des Rechts« (Derrida 2003b, 124). 125 Gleichzeitig wehrt sich Derrida dagegen, sie als eine regulative Idee im kantischen Sinne zu deuten, denn sie ist weder ins Unendliche als Unmögliches abgeschoben noch ist sie die Anwendung einer apriori gegebenen Regel.
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im Sinne einer unendlichen Gerechtigkeit ist dabei der normative Kern dieser kommenden Demokratie. Die kommende kosmopolitische Demokratie ist schlussendlich schon im Hier und Jetzt, aber nur zwischen einem dringlichen Appell und einem geduldigen Vielleicht. Mit Anspielung auf das Heidegger-Interview im Spiegel aus dem Jahr 1966 (Heidegger 1966/1976) vergleicht Derrida diese offene Struktur der Demokratie mit einer religiösen Grundhaltung: »Nur noch ein Gott kann uns retten. Ein Recht, das sich durchsetzen kann, ohne sich auf eine Macht zu berufen, erscheint bei Licht betrachtet unmöglich. Darauf zu setzen, dass es so etwas doch einmal gibt, ist ein Akt des Glaubens. Eine Utopie. Und damit genau das, was wir brauchen in Zeiten, da uns die Nachrichten täglich vorführen, dass Recht immer nur der Starke hat« (Derrida 2003b, 154).
Diese Anmerkung zeigt bereits eine gewisse Nähe zwischen Politik als aporetische Realisierung einer unendlichen Gerechtigkeit und Religion. Um diese strukturelle Ähnlichkeit genauer fassen zu können, soll im Folgenden nun zuerst Derridas Nachdenken über die Religion und ihre Wiederkehr in der Weltgesellschaft rekonstruiert werden.
3.5.2. Religion und die Grenzen von Sprache Das Nachdenken über Religion, wie es sich im aktuellen Diskurs über die Wiederkehr der Religion zeigt, ist immer an Voraussetzungen und Vorverständnisse gebunden – so die Ausgangsthese von Derridas Analyse. Entsprechend der Gedankenfigur der différance geht es ihm vor allem darum, solche Vorverständnisse aufzuspüren und kritisch zu diskutieren, denn auch in der Rede über Religion zeigt sich seiner Ansicht nach das Spezifikum neuzeitlichen Philosophierens: die scheinbar unerschütterliche Sicherheit, abstrakte Begriffe eindeutig zu bestimmen und deshalb nach dem Diktum der Metaphysik der Präsenz das Wesen der Religion erfassen und erklären zu wollen. Derridas Beschäftigung mit der Religion ist deshalb eng verbunden mit seiner grundlegenden philosophischen Reflexion über die Struktur und die Grenzen der menschlichen Sprache. Religion wird für Derrida zum philosophischen Thema, weil sie weltweit in das textuelle Geschehen von Gesellschaften eingebettet ist. Dabei ist die Religion historisch wie systematisch betrachtet zudem ein A
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wichtiger Aspekt der Philosophie und ihrer Sprache, sodass sie zum philosophischen Thema wird, wenn die Philosophie über ihre eigene Sprache reflektiert. In einem Interview formuliert Derrida diese Einsicht paradigmatisch: »My interest in religion (…) is simply an interest in something that is in our culture, in our philosophy« (Derrida in Dooley 2003b, 25). Die folgende Rekonstruktion der Überlegungen Derridas fokussiert im ersten und zweiten Teil vor allem auf eine Konferenz auf Capri, bei der Derrida zusammen mit Vattimo und Gadamer über die Religion diskutiert hat (Derrida/Vattimo 2001). Der darauffolgende Teil des Kapitels untersucht schwerpunktmäßig Vorträge und Aufsätze von Derrida, in denen er sich explizit mit dem jüdischen Verständnis von Religion und der Tradition der negativen Theologie auseinandersetzt (vgl. Derrida 1989; ders. 1997; ders. 2000a). Diese Überlegungen sind aus religionsphilosophischer Sicht eine zweite wichtige Prägung seines Verständnisses von Religion und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. 3.5.2.1. Religion als Wiederholung der Spannung von Transzendenz und Immanenz Eine erste Voraussetzung des Diskurses über Religion besteht nach Derrida darin, dass in wissenschaftlichen wie politischen Diskussionen oftmals so getan wird, als gebe es einen abstrakten, die verschiedenen Religionen übergreifenden Begriff von Religion. »Wir glauben, dass wir so tun können als würden wir (daran) glauben, ein Vorverständnis zu teilen: treuhänderische Handlung. Wir tun so, als würden wir über einen Gemeinsinn verfügen, der uns mitteilt, was ›Religion‹ in all den Sprachen bedeutet, von denen wir zu wissen glauben, wie man sie spricht (wie viel an diesem Tag geglaubt worden ist!)« (Derrida 2001a, 12).
Schon die ironische Anmerkung zum Ende dieses Zitats zeigt deutlich, dass Derrida gegenüber einem solchen allgemeinen Religionsbegriff skeptisch ist, weil diese Verallgemeinerung nur geglaubt werden kann. Religion ist vielmehr gebunden an die unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Kontexte, in denen verschiedene religiöse Phänomene mit diesem Begriff bezeichnet werden. Der Kontext des Nachdenkens der Philosophie über diese Phänomene ist dabei meist das Christentum und damit ein lateinisches Verständnis von Religion. Derrida betont, dass »die Welt heute Lateinisch spricht (meistens in der Form des Ang232
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lo-Amerikanischen), wenn sie des Namens Religion sich bedient oder auf ihn beruft« (Derrida 2001a, 47). Dieser lateinische Hintergrund ist es auch, der das Nachdenken über Religion unter das Vorzeichen der Universalisierung stellt. Wer in diesem Zusammenhang nach Religion fragt, will weltweit einheitliche Merkmale bestimmen, weil es sich bei der Latinisierung »um eine weltumspannende Bewegung« (Derrida 2001a, 51) handelt. Ein solches verallgemeinerndes Sprechen über Religion im aktuellen philosophischen Diskurs ist also vor allem durch die westliche Philosophie und christliche Religion geprägt, womit »die Religion eine europäische Angelegenheit« (Derrida 2001a, 14) geworden zu sein scheint. Schon allein die Tatsache, dass in den meisten Diskursbeiträgen von der Religion im Singular die Rede ist, ist Ausdruck dieses westlich geprägten Verständnisses, das universalisiert wird. Derrida argumentiert im Gegensatz hierzu, dass man heute sowohl angesichts der facettenreichen Ausdifferenzierung der christlichen Religion als auch der Erfahrung von Multireligiosität auf globaler Ebene von Religion im Plural sprechen könne und solle. 126 Das Wissen über Religionen ist dabei immer begrenzt, denn es können keine universalen Merkmale der Religion angegeben werden, woraus sich dann die Vielfalt der Religionen erschließen ließe. Bereits die Anspielung auf die beiden Quellen von Religion in dem Titel des Vortrages auf der Capri-Konferenz zeigt (Derrida 2001a), dass es Derrida immer um eine Multiperspektivität geht, die vor allem eine interdisziplinäre Bearbeitung der Fragestellung erfordert. »Derrida’s very title ›Faith and Knowledge‹ conveys that one cannot relegate the question of religion to a single discipline – or set of disciplines – that would fall either under the rubric of faith (expressed by speculative, systematic, or biblical theology and church dogmatics, but also mystical enlightenment, spiritual exercises, etc.) or under that of knowledge (the historical and scientific study of religion or, say, its naturalist reduction to a mere epiphenomenon or other – biological, social, psychological, or linguistic – systems of meaning)« (Vries 1999, 12). 126 Derrida stellt gleichzeitig fest, dass die Rede von Religion im Plural dem auf Einheit abzielenden Religionsbegriff letztlich fremd bleibt. Deshalb sind die vielfältigen Erscheinungen, die heute als religiös bezeichnet werden, dem, »was das Wort ›Religion‹ in seiner Geschichte benennt und sich gefügig macht, stets fremd geblieben« (Derrida 2001a, 51). Dies wird sich Derridas Einschätzung nach zukünftig kaum ändern, weil der Begriff ›Religion‹ aus seiner lateinischen Bedeutungsgeschichte nur bedingt herausgelöst werden kann.
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Es sind also nach Derrida multidisziplinäre Zugänge zum Nachdenken über Religion zu eröffnen, die sich jenseits eines traditionellen, metaphysisch orientierten Ansatzes bewegen. Solche Dekonstruktionen zeigen Derridas Analysen zufolge, dass eine lateinisch geprägte Rede über Religion, die nach einheitlichen Merkmalen fragt, zu kurz greift. Ein solcher Zugang reduziert Religion auf einzelne Aspekte (beispielsweise den moralischen Anteil), ohne ihre ursprüngliche Mehrdeutigkeit und Ambivalenz thematisieren zu können. Diese Mehrdimensionalität besteht für Derrida besonders darin, dass Religion einerseits ein Moment des Identischen impliziert, das sich in einem umfassenden Wahrheitsanspruch ausdrückt, und gleichzeitig dieses Identische immer wieder transzendiert und deshalb in je neuen Sprachformen und Riten thematisiert wird. Diese dialektische Spannung von Immanenz und Transzendenz kommt im Modus der Wiederholung in der Religion zum Ausdruck. »Der Begriff der Iteration (Wiederholung) bringt zwei Bedeutungsnuancen ins Spiel und enthält damit bereits im Kern die beiden klassischen ›Quellen der Religion‹. (1) ein Moment von Identität, im Sinn von identischer oder auch mechanischer Reproduzierbarkeit (…), (2) ein Moment von Alterität, da der Begriff der ›Wiederholung‹ notwendig ein Moment von Nichtidentität impliziert, das den Bereich der Gegenwart transzendiert« (Hoff 1999, 130).
Das Moment der Wiederholung wird damit zu einem zentralen Merkmal der Religion, denn »der freie Akt der Wiederholung gehört wesentlich zur Religion: dieselben Riten und Gebete müssen immer wieder neu gesprochen werden; dieselbe Treue, Gott und den Menschen gegenüber, muss immer wieder erneuert werden« (Haeffner 1999, 674). Religion ist ein Prozess der ständigen Wiederholung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz in sprachlichen und symbolischen Handlungen. In diesem Sinne impliziert sie auch Wahrheitsansprüche, aber nicht als verdinglichte, sondern als ereignishafte. Religion trägt für Derrida immer schon einen Versprechenscharakter in sich, weil sie den Menschen etwas verspricht (Wahrheit), das nicht reflexiv (als Seiendes) eingeholt werden kann, sondern sich dem Menschen in einem kommenden Ereignis (als Offenbarung) zuspricht. Deshalb darf die zweideutige etymologische Wurzel von Religion nicht als Alternative gedacht werden, sondern als wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Religion ist beides zugleich: relegere – »sammeln, 234
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auflesen« – und religare – »binden, verbinden« (Derrida 2001a, 57). Religion fordert den Gläubigen in beide Richtungen zu einer Antwort heraus, sie ist Sammlung und Bindung zugleich. Daher plädiert Derrida dafür, das Identische von Religion immer wieder neu mit der Transzendenz zu konfrontieren und im Sinne einer Sammlung (relegere) bewusst zu machen. Religion geht es »um eine Versammlung, um eine wiederholte Versammlung, um eine erinnernde, wiederholt versammelnde oder einsammelnde Sammlung [re-collection]« (Derrida 2001a, 62). Beide etymologischen Wurzeln von Religion können also keine eindeutige Definition geben, sondern sie sind auf eine wiederholende Vernetzung verwiesen, in der sich die unüberwindbare Spannung von Transzendenz und Immanenz ausdrückt. 127 Derrida schlussfolgert: »man muss (…) antworten und gut antworten« (Derrida 2001a, 63) – aber in dem Wissen, dass Religion letztlich unbestimmbar bleibt und deshalb die Antwort nur eine vorläufige sein kann. Es geht also nicht um das Wesen oder einen universalen Kern von Religion, sondern um ihre Mehrdeutigkeit, die sich insbesondere an den Rändern zeigt. Wenn Philosophen im aktuellen Diskurs behaupten, »dass die Religion sich eigentlich denken lässt, dass sie eigentlich denkbar ist, hält man sie im Voraus in Schach, und die Angelegenheit ist über kurz oder lang entschieden« (Derrida 2001a, 68), und zwar in dem Sinne, dass die Religion mit einem solchen Vorgehen nicht angemessen zum Thema der Philosophie werden kann. 3.5.2.2. Kontextualisierung des Sprechens über Religion Zwei aktuelle Bedingungsverhältnisse, die den Rahmen für ein solches Nachdenken über Religion in politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Sicht abstecken, hebt Derrida eigens hervor. Ein erster Kontext sind die politischen Diskussionen um Fundamentalismus im Allgemeinen und Islamismus im Besonderen, die vor allem nach den Anschlägen vom 11. September intensiv geführt werden. In diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere die Verknüpfung von Religion und Gewalt als problematisch, denn die Bestimmung dessen, was als religiös begründete Gewalt bezeichnet werden kann, ist – genauso 127 Derrida bezeichnet Religion in Bezug auf diese beiden Brennpunkte auch als eine Ellipse. »Die ›Religion‹ ist die Gestalt ihrer Ellipse, weil sie die beiden Stätten umfasst und ihre irreduktible Dualität zuweilen auch durch eine geheimnisvolle, versteckte, aussparende, zurückhaltende Bewegung verschweigt« (Derrida 2001a, 59).
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wie die Bestimmung eines Schurkenstaates – alles andere als eindeutig (vgl. Kap. 3.5.1.). Um sagen zu können: ›dies ist ein religiös begründeter Krieg‹ oder gar: ›ein Religionskrieg‹, müssten die Grenzen des Religiösen und Politischen eindeutig gezogen werden können (vgl. Derrida 2001a, 45), was nicht nur angesichts der aktuellen weltgesellschaftlichen Konstellationen, sondern auch aufgrund der systematischen Grenzen der Sprache nicht möglich ist. Weil diese Begrenzungen im aktuellen Diskurs zu wenig beachtet werden, sind für Derrida viele Beiträge über den islamischen Fundamentalismus problematisch. Damit wird allerdings nicht ausgesagt, dass Religion und Gewalt nicht in einem Wechselverhältnis stünden, Derrida betont im Gegenteil, dass Religion immer schon ein Moment der Gewalt impliziere, weil sie sich auf das ganz Andere beziehe, das eine Gegengewalt provoziere. 128 »No violence without (some) religion; no religion without (some) violence« (Vries 2002, 1). Daraus ergibt sich die grundlegende Ambivalenz der Religion, die aber sprachlich nicht eindeutig bezeichnet oder politisch operationalisiert werden kann, was bei den Diskussionen über den sogenannten Islamismus oft der Fall zu sein scheint. Ein zweites Bedingungsverhältnis der gegenwärtigen Rede über Religion sind die weitreichenden Veränderungen der Informationsund Kommunikationstechnologien in den vergangenen Jahrzehnten, die auch die Religion nachhaltig beeinflusst haben. Derrida spricht auch von der Religion im Cyberspace: »digitale Kultur, desk-jet und Fernsehen. Ohne sie gibt es heute keine religiöse Bekundung« (Derrida 2001a, 42). Religiöse Texte werden zeitgleich als Buch, CD-ROM und im Internet veröffentlicht, wodurch sich die Kommunikation über Religion verändert, denn diese findet weniger in den herkömmlichen religiösen Räumen (beispielsweise in Moscheen oder Kirchen) statt, sondern in Internetforen oder als Bibelsprüche per SMS. »Derrida emphasises that religion is not only linked to traditions such as monotheistic heritage or the Abrahamic religions of the Book, but is also ›on line‹ with the new media« (Vries 1999, 16). Die Rückkehr des Religiösen als weltumspannendes lateinisches Nachdenken über Religion ist 128 Das Problem der Gewalt von Religion ergibt sich für Tilman Beyricht daraus, dass diese immer ein Moment des Unverfügbaren impliziert, das von der jeweiligen Religionsgemeinschaft exklusiv beansprucht wird. »Das, was einer Religion ihre unverwechselbare Signatur verleiht, lässt sich niemals ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ erfassen. Und vor allem: Wer dürfte über diese ›Grenzen‹ befinden?« (Beyricht 2001, 325). Hierin zeige sich gerade das Gewaltpotenzial von Religion, so Beyricht.
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durch diese technischen Veränderungen bedingt. Diese Entwicklungen sind Teil des Prozesses der Globalisierung, der auf die Herstellung globaler Kommunikation mit technischen Mitteln und eine Weltpolitik im Sinne eines lateinischen Verständnisses von Recht und Politik zielt, d. h. auf eine Lex Romana als Grundlage weltgesellschaftlicher Gestaltung. 129 Gleichzeitig kommt innerhalb der Religionen in vielen Teilen der Welt eine autoimmunitäre Gegenreaktion auf diese so verstandene Globalisierung in Gang, mit der das Heilige und Sakrale verteidigt werden soll. Diese Gedankenfigur der Autoimmunität ist zentral für das Denken des späten Derrida (vgl. Derrida 1996b; ders. 2001a; ders. 2003b), »der Bezug darauf scheint uns unerlässlich, will man heute das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Wissenschaft denken und die Doppeltheit und Zweideutigkeit der Quellen überhaupt begreifen« (Derrida 2001a, 72). Gemeint ist mit dieser an Freuds Todestrieb angelehnten Gedankenfigur, dass »die immunitäre Abwehrreaktion«, die »das Heile und Unbeschädigte des eigenen Körpers« (Derrida 2001a, 72) beschützt, gerade unter Bezugnahme auf die Mittel der fernwissenschaftlichen und technischen Vernunft die Religion selbst ›zerstört‹. »Heutzutage geht die Religion mit der Fernwissenschaftstechnik ein Bündnis ein, gegen das sie mit aller Kraft reagiert: Einerseits ist sie die weltweite Latinisierung; sie produziert Kapital, sie vermählt sich mit dem Kapital, sie nutzt und beutet das Kapital und das Wissen der Tele-Mediatisierung aus: die Reisen des Papstes, die weltumgreifende Verwandlung seiner Gestalt in ein Spektakel, die zwischenstaatlichen Dimensionen der ›Rushdie-Affäre‹, der planetarische Terrorismus wären anders nicht möglich, nicht in dem bekannten Ausmaß. Andererseits – gleichzeitig aber reagiert die Religion (darauf), sie erklärt jenen Kräften den Krieg, die ihr nur dadurch ihre neue Macht verleihen, dass sie sie von allen ihren angestammten Plätzen vertreiben« (Derrida 2001a, 76).
Religion latinisiert sich selbst, wird weltumspannend, nutzt die fernwissenschaftliche Vernunft und übt doch gleichzeitig heftige Kritik an 129 In dieser Hinsicht ist vor allem auch die Globalisierung eine typisch latinisierende Bewegung, was in der französischen Sprache durch den Begriff ›Mondialisierung‹ noch deutlicher als im Deutschen zum Ausdruck gebracht wird. Globalisierung als weltweite Vereinheitlichung und die Wiederkehr der (lateinischen) Religion korrelieren deshalb stark miteinander, weshalb Derrida auch von der »christliche[n] Mundialatinisierung« spricht (Derrida 2001a, 51).
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genau diesen Prozessen. »This is the autoimmunity of religion: the attempt by religion to protect itself by means of what always threatens to destroy it« (Naas 2009, 193). Religion »träumt den Traum von einer Rückkehr zu lokalen Traditionen und verkündet den Bruch mit der Weltgemeinschaft, kultiviert dazu aber den Umgang mit eben denjenigen Methoden, die diesen Traum zunichte machen« (Hoff 1999, 113). 130 Das Nachdenken über die Renaissance der Religion hat Derrida zufolge diese autoimmunitären Ausdrucksformen des Heiligen noch bei Weitem nicht eingeholt. Gerade in den Reaktionen der verschiedenen Religionen auf den Prozess der Globalisierung zeigt sich oftmals dieser autoimmunitäre Prozess. Erstens propagieren viele ein römisch geprägtes Verständnis von Politik und Recht und wollen dieses zur Grundlage des weltweiten Zusammenlebens der Religionen machen. »Jenseits Europas, unter Anwendung der gleichen juridisch-theologisch-politischen Schemen und durch die Einführung der gleichen juridisch-theologisch-politischen Kultur soll im Namen des Friedens eine weltumspannende oder weltweite Latinisierung aufgezwungen werden« (Derrida 2001a, 70).
Dazu benutzen Vertreter der Religionen die fernwissenschaftliche Vernunft, um eben diese politische Botschaft weltweit durchzusetzen. Damit wird zweitens Religion in die Immanenz hineingezogen, denn in der Nutzung der fernwissenschaftlichen Vernunft und unter Bezugnahme auf die Logik der Globalität drückt sich eine »anthropologische Zurücknahme in die Immanenz aus« (Derrida 2001a, 70). Die dritte Stufe der autoimmunitären Reaktion ist die Betonung des Glaubens als zentraler Bestandteil der Religion. Darin zeigt sich die Autoimmunität des Heiligen, denn mit der Betonung des Glaubens immunisiert sich Religion gegenüber der instrumentell-rationalen Bewegung der Globalisierung und stellt ihr den affirmativen Glaubensakt als Wahrung des Heiligen entgegen. 131 Die Rückkehr der Religion als Rück130 Die vielen unterschiedlichen Formen von Fundamentalismus sind Zeugnis solcher autoimmunitären Reaktionen, denn genau sie nutzen die fernwissenschaftliche Vernunft, um die Zerstörung des Heiligen und Sakralen zu verhindern und bedrohen es doch gerade damit in besonderer Weise (vgl. Derrida 2001a, 74). 131 In dieser Hinsicht erklärt Derrida die Aktualität des Islamismus, der besonders den performativen Akt des Glaubens und des Versprechens als Konstitutivum sozialen Lebens betont. Gerade vor diesem Hintergrund formuliert der Islamismus eine grundlegende Kritik des latinisierenden Verständnisses von Recht und Politik, weshalb er
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kehr des Glaubens ist Ausdruck dieser autoimmunitären Reaktion, die sich gegen die latinisierende Vernunft stellt und doch auf sie bezogen bleibt. »Einzig die innere und unmittelbare, immunitäre und zugleich auto-immunitäre Reaktivität kann die brandende und sich überschlagende religiöse Bewegung (…) erklären, deren doppelte und widersprüchliche Erscheinung wir zu beschreiben und zu bezeichnen suchen« (Derrida 2001a, 75).
Diese autoimmunitäre Reaktion soll das Heilige bewahren, denn ohne das Risiko »der Auto-Immunität gibt es nichts Gemeinschaftliches, nichts Geborgenes, nichts Gesundes, nichts Heiliges, nichts, was holy ist, nichts Heiles, das sich in der selbständigsten aller lebendigen Gegenwarten hält« (Derrida 2001a, 76). 3.5.2.3. Dekonstruktionen des religiösen Feldes Derridas Analysen der neuen Aufmerksamkeit für Religion, die auf dem Verständnis der Religion als Wiederholung und deren autoimmunitären Reaktionen fußen, fokussieren entsprechend seines Verständnisses philosophischer Dekonstruktion vor allem auf mehrdeutige Gegensätze, die in der Rede über Religion impliziert sind. Seiner Einschätzung nach kann Religion nicht nur auf ein Gegensatzpaar zurückgeführt werden, sondern sie ist durch ein heterogenes Zusammenspiel mehrerer Begriffspaare gekennzeichnet, die gleichzeitig für unterschiedliche Auffassungen von Religion stehen. 132 Bei der Dekonstruktion dieser Gegensätze betont er wiederum die Vielfalt von Bedeutungsverschiebungen, die in diesen Begriffspaaren impliziert sind. Diese verschiedenen Quellen, Stämme oder Namen von Religion, »die den religiösen Glauben als eine fundamentale Kritik am Westen versteht (vgl. Derrida 2001a, 74). 132 Er selbst skizziert unterschiedliche Vorgehensweisen einer philosophischen Dekonstruktion, die sich für eine kritische Analyse der in diskursiven Sprachpraktiken eingebetteten Gegensätze besonders eignen. Erstens kann man sich über eine etymologische Analyse des Begriffs ›Religion‹ den verschiedenen Facetten des Phänomens nähern; dies ist ein Weg, der in der Vergangenheit von vielen Autoren gewählt wurde. Eine zweite Möglichkeit ist eine genealogische Analyse der Geschichte oder Anthropologie der Religion, die sich in facettenreichen Sprachspielen weltweit widerspiegelt. Der dritte Weg ist eine Analyse, die sich »vor allem um pragmatische und funktionale Wirkungen [bemüht], mehr noch an der Struktur interessiert ist« (Derrida 2001a, 58). Bei dieser Variante geht es besonders um die Reflexion der normativen oder politischen Funktion von Religion in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. A
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ineinander fließen, die sich überschneiden, überkreuzen, überlappen, die sich anzapfen, aufpfropfen und anstecken, ohne darum einfach in einem Wirrwarr zu verschwinden« (Derrida 2001a, 45), gilt es mittels der Dekonstruktion aufzudecken und zu reflektieren. 133 Vier Begriffspaare spielen für Derrida beim Nachdenken über Religion und deren gesellschaftliche Funktion eine besondere Rolle: (a) Kult und Moral, (b) Khôra und Messianismus, (c) Vertrauen und Heil und schließlich (d) Glauben und Wissen. Ad (a): Ein erstes Begriffspaar identifiziert Derrida mit Rekurs auf Kant, und zwar die Gegenüberstellung der Religion als Kult und als moralisches Phänomen. Derrida spricht mit Kant in diesem Zusammenhang von zwei Quellen bzw. Stämmen der Religion. »Auf der einen Seite gibt es die Religion des ›bloßen Kultes‹, welche um die ›Gunst‹ Gottes sich bewirbt, obwohl sie im Grunde auf kein Handeln zielt und lediglich die Bitte und den Wunsch lehrt. (…) Auf der anderen Seite gibt es die ›moralische‹ Religion, die eine ›Religion des guten Lebenswandels‹ ist« (Derrida 2001a, 21).
Die erste Dimension von Religion ist also die Summe aller religiösen Praktiken, die Ausdruck der rituellen Verehrung des Absoluten sind, wozu kultische Handlungen von Ahnen- und Totenkulten bis hin zu unterschiedlichen Formen der Liturgie gehören. Die Inhalte solcher kultischen Handlungen variieren von Religion zu Religion stark und beziehen das Heilige oder Absolute in unterschiedlicher Weise auf die Mitglieder der religiösen Gemeinschaft. In allen Religionen kommt diesen Kulten soziologisch betrachtet eine zentrale Funktion zu. Durch soziale Regeln werden Kulte meist eindeutig reglementiert und damit den Mitgliedern ein bestimmter Platz in der Praxis der Religionsgemeinschaften zugewiesen. Die Fronleichnamsprozession ist genauso eine reglementierte soziale Praxis wie das gemeinsame Fasten der Moslems im Ramadan. 133 Die Re- bzw. Dekonstruktion dieser verschiedenen Begriffspaare im religiösen Feld wird im aktuellen Diskurs als eine Alternative zum Übersetzungsmodell von Habermas gedeutet. Während Habermas eine angemessene Übersetzung von religiösen Überzeugungen in säkulare Semantik für möglich und sinnvoll hält, plädiert Derrida dafür, die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz religiöser Überzeugungen als solche zu rekonstruieren und im gesellschaftlichen Diskurs zur Sprache kommen zu lassen. Hiermit setzt sich die Dekonstruktion Derridas deutlich von der habermasschen Übersetzungsarbeit ab (vgl. Bergdahl 2009; Reder 2012a).
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Die zweite von Derrida ausgewiesene Bedeutung von Religion spielt im aktuellen Diskurs eine besondere Rolle, weil von vielen Autoren vor allem auf die moralische Funktion der Religionen fokussiert wird. Das Christentum und die philosophischen Reflexionsformen christlicher Theologie sind nach Derrida Spiegelbild hiervon, denn die christliche Religion bezieht sich bis heute vor allem auf die kantische Philosophie, um Moralität aufs Engste mit dem Christentum zu verbinden. Genau damit wurde »der Gedanke der Moral im Sinne der reinen Sittlichkeit von Kant (…) aufs Engste an das christliche Evangelium zurückgebunden« (Letzkus 2005, 27). Religion kann in dieser Argumentationslinie nur als eine moralische Religion sinnvoll gedacht werden, was im Christentum exemplarisch an der Erzählung vom Leben und Sterben Jesu Christi festgemacht wird. Derrida sieht in dieser Erzählung das sittliche Gesetz »in das Innerste unseres Herzens als Gedächtnis des Leidens Christi eingezeichnet« (Derrida 2001a, 22). Gleichzeitig ist auch die kantische Philosophie in ihrem Nachdenken über Moralität immer auf Religion bezogen, denn erst das Postulat Gottes ermöglicht es Kant, den kategorischen Imperativ jenseits des Kultes als universal gültig annehmen zu können (vgl. Kap 2.3.2.). Derrida positioniert sich insofern in der kantischen Tradition, als dass auch er mit den Mitteln der Vernunft die Religion und deren moralische Aspekte thematisiert. Aber Derrida will gleichzeitig über Kant hinausgehen, indem er gegenüber diesem kritisch anfragt, ob man innerhalb der Grenzen der Vernunft das thematisieren könne, worum es der Religion sowohl in kultischer als auch moralischer Hinsicht gehe. Religion ist seiner Ansicht nach vielmehr etwas, das sich einer diskursiv-vernünftigen Erschließung grundsätzlich entzieht, weshalb er der kantischen Vernunftreligion und dessen Verhältnisbestimmung von Moral und Religion skeptisch gegenübersteht. 134 Als zentrale christliche Themen im Feld der religiösen Moral interpretiert Derrida Gabe, Liebe und Freundschaft; exemplarisch soll ein Blick auf die Überlegungen zur Gabe geworfen werden (vgl. beispielhaft Wetzel/Rabate 1993). Religiöse Sittlichkeit bezieht sich auf die »Gabe als Gabe des Todes, die grundlose Gabe des Todes: die unendliche 134 Zudem hält es Derrida im Gegensatz zu Kant nicht für möglich, das radikal Böse innerhalb der Grenzen einer solchen Vernunftreligion in den Blick nehmen zu können und diese gleichzeitig exklusiv mit einer »christlichen Axiomatik« (Derrida 2001a, 26) zu verbinden.
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Liebe (das Gute als unendlich selbstvergessene Güte)« (Derrida 1994, 377). Gabe wird in der alltagssprachlichen Verwendung allerdings oftmals in einem nichtreligiösen Sinne verwendet, wodurch das charakteristische Merkmal der Gabe verloren gehen. Gabe meint dann ein Geben im Sinne eines sich wechselseitig Erkenntlich-Zeigens und impliziert damit eine rein ökonomische Logik (vgl. Vries 1993). Dieser Ökonomie der Gabe entzieht sich nach Derrida die Religion, weil sie »nicht vom gebenden Subjekt« ausgeht, »sondern von Gaben, die dem Subjekt zuvorkommen oder dieses überschreiten« (Busch 2004, 8), was eine Umstellung von einem gerechten Ausgleich hin zu einer bedingungslosen Gabe bedeutet (vgl. Derrida 1993; vgl. exemplarisch auch Ungureanu 2013). 135 »Insbesondere die Gabe ist für Derrida von ethischer Bedeutung, wobei er hier die Unberechenbarkeit der Gabe herausstellt, die mit ihrer Undarstellbarkeit korreliert. Als solche ist sie auch unbegründbar, und das heißt: mit der Vernunft nicht erfassbar. Folglich ist auch die Moral, die auf der Unbedingtheit der Gabe basiert, weder begründbar noch darstellbar, noch berechenbar« (Wendel 2008, 279).
Damit spiegelt sich in Derridas Überlegungen zur Gabe also noch einmal seine Kritik an Kants Verständnis von praktischer Philosophie wider. Ad (b): Zwei weitere Facetten der Religion identifiziert Derrida mit dem Begriffspaar Khôra und Messianismus, wobei der zweite Begriff an die Überlegungen zur Religion als moralisches Phänomen anschließt. Messianismus ist für Derrida dezidiert auf die Zukunft bezogen und bezeichnet eine zukünftige Hoffnung der Religion auf eine bessere Welt. Am Beispiel der Gerechtigkeit zeigt Derrida auf, dass sich 135 Dazu muss nach Derrida auch der Subjektbegriff neu gedacht werden, weil dieser heute oftmals im Sinne eines rationalistischen homo oeconomicus-Modells und damit im Sinne einer ausgleichenden Ökonomie der Gabe konzeptualisiert wird. In eine ähnliche Richtung zielen Derridas Arbeiten zur Vergebung. Der Vergebung liegt in der Alltagssprache meist ebenfalls eine Ökonomie des Ausgleichs in Form einer Verrechnung zugrunde. Vergebung impliziert dagegen das Moment des Unverfügbaren und widersetzt sich damit der Ökonomie des Ausgleiches. Vgl. dazu auch den Sammelband von Caputo et al. (2001), in dem unterschiedliche Aspekte dieser Ökonomie der Vergebung thematisiert werden; in diesem Band entfaltet Derrida in einem Gespräch außerdem, welche Rolle die Vergebung in der christlichen Religion spielt: Der christliche Gott kann jederzeit vergeben und widersetzt sich damit prinzipiell einer Ökonomie der Vergebung (Kearney/Derrida 2001, 62).
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im Messianismus eine »widerfahrende Gerechtigkeit« (Derrida 2001a, 32) ausdrückt, die diese nicht planen bzw. herstellen kann oder als etwas klar Bestimmtes vorwegnehmen will. Damit setzt sich Derrida vom walzerschen Verständnis von Messianismus ab, der diesen im Kontrast zum Exodus-Motiv als gewaltvoll-planende Form politischen Handelns deutet (Walzer 1988, 146 ff.; vgl. Kap. 3.3.2.2.). Für Derrida zeigt sich dagegen Gerechtigkeit im Feld der Religion als messianisch, wenn sie überraschend auftaucht, mit dem scheinbar Erwarteten bricht und einen neuen Weg für eine gerechtere Welt eröffnet. »Das Messianische setzt sich der absoluten Überraschung aus. Diese Aussetzung mag sich in der phänomenalen Form des Friedens oder der Gerechtigkeit zu erkennen geben« (Derrida 2001a, 32). Daher ist Messianismus als unendliche Gerechtigkeit für Derrida nicht ein klar bestimmtes politisches Programm oder gesellschaftliches Idealbild, worin sich in der Sichtweise von Walzer gerade der Kern des Exodus-Motivs ausdrückt. Messianismus verweist für Derrida demgegenüber auf eine Grundstruktur menschlichen Sprechens, und zwar »auf das Kommen des Anderen als widerfahrende Gerechtigkeit, ohne Erwartungshorizont, ohne prophetisches Vorbild, ohne prophetische Vorausdeutung und Voraussicht, (…) ohne sichernde Selbstreflexion« (Derrida 2001a, 31 f.). In diesem Sinne weist die religiös verstandene Gerechtigkeit in ganz besonderer Weise einen Versprechenscharakter auf; sie kündigt sich als ein Versprechen an, das jenseits einer rechtlichen Steuerung Raum für das Ereignis der Gerechtigkeit lässt. Sie wird damit zu einem performativen Ereignis. Messianismus ist deshalb genauso wie die unendliche Gerechtigkeit immer nur als das Vielleicht denkbar (vgl. Kap. 3.5.1.). »For Derrida, the moment of anticipation before the perhaps, the coming of the other into the infinitude of the opening, can be described as ›messianic‹« (Zachary 2008, 65). »It is not a question of a messianism that one could easily translate in JudaeoChristian or Islamic terms, but rather of a messianic structure that belongs to all languages. There is no language without the performative dimension of the promise, the minute I open my mouth I am in the promise« (Derrida 1996c, 82). 136 136 In diesem Zusammenhang zeigt sich eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der politischen Philosophie Derridas und der Religion, weil beide dem Ereignis der unendlichen Gerechtigkeit einen sprachlichen Raum geben wollen (vgl. Kap. 3.5.1.). »Und
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In diesem Verständnis des Messianismus zeigen sich Spuren der jüdischen Tradition in der Philosophie Derridas, insofern er das Andere als radikale Anfrage an die eigenen Erwartungen und die Toleranz gegenüber dem Anderen konzeptualisiert (vgl. Flügel-Martinsen 2006, 81 ff.). Der Messianismus »ohne jeden bestimmten Erwartungshorizont oder zumindest mit einem prinzipiell offen gehaltenen Erwartungshorizont ist zweifellos eine alte Anfrage des jüdischen Glaubens an die christliche Eschatologie« (Beyricht 2001, 329). Das jüdische Denken, das sich als Signatur der derridaschen Argumentation zeigt, betont diese Unverfügbarkeit des Anderen, was sich wiederum auf das Religionsverständnis auswirkt. »Eine Toleranz, die nicht mehr innerhalb ihres wesentlich christlich-moralischen Horizonts über ihre Grenzen wacht, sondern die sich jener immer wieder anderen, unübertragbaren, unübersetzbaren Erfahrungen des ganz Anderen – namentlich in den anderen Religionen – auszusetzen versucht« (Beyricht 2001, 333 f.). 137
Diese Deutung des Messianismus weist auf den zweiten Namen der Religion hin, und zwar die Khôra. Diese ist für Derrida mit Verweis auf Plato ein abstrakter Raum, um jenseits des gegenständlichen und auf Gegenwart bezogenen Denkens den Anderen thematisieren zu können. 138 In der Tradition von Plato und Heidegger stehend, meint Khôra das »Denken dessen, was jenseits des Seins ist« (Derrida 2001a, 35), »kein Seiendes, nichts Gegenwärtiges oder Anwesendes«, sondern was ebenso irreduzibel auf jede Dekonstruktion, ebenso undekonstruierbar bleibt wie die Möglichkeit der Dekonstruktion selbst, das ist vielleicht eine bestimmte Erfahrung der emanzipatorischen Verheißung: das ist vielleicht sogar die Formalität eines strukturellen Messianismus, eines Messianismus ohne Religion, eines Messianischen ohne Messianismus, einer Idee der Gerechtigkeit« (Derrida, 1996b, 101). Welche Konsequenzen sich aus dem Verständnis von Messianismus für zukünftige Politik ergeben, ist momentan Gegenstand der Derrida-Forschung (vgl. Bradley/Fletcher 2010). 137 Beyricht liefert eine Rekonstruktion dieser jüdischen Signaturen im Denken von Derrida (Beyricht 2001, 122–127). Politisch betrachtet ist Derrida dabei ähnlich wie Walzer skeptisch gegenüber allen Formen der Einschränkung des Messianismus, beispielsweise auf ein politisches Gebilde oder ein Volk. »Derrida war offensichtlich von dem Gedanken der Verwirklichung des messianischen Ideals in einem einzelnen Staat (…) schockiert. Aber noch grundsätzlicher konnte er nicht akzeptieren, dass eine universelle Kategorie auf eine spezifische Geschichte beschränkt werde, und sei es die des jüdischen Volkes« (Mose 2007, 204). 138 Derrida widmet sich in einem eigenen Aufsatz den platonischen Ursprüngen, Wirkungen und Begrenzungen der Khôra (vgl. Derrida 2000b, 123–170).
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das »Unvordenkliche einer Wüste in der Wüste« (Derrida 2001a, 37). Sie ist damit transzendentalphilosophisch gesprochen die Bedingung der Möglichkeit eines messianischen Verständnisses von unendlicher Gerechtigkeit als Ereignis. Die Wüste ist dabei wiederum der bildhafte Ausdruck für die Khôra. »So wie die Stiftung der Religion Israels durch Mose in der sinaitischen Wüste stattfand, so liegt ontologisch jedem religiösen Stiftungsereignis eine Art Wüste zugrunde, d. h. eine Art von Leere und Unbestimmtheit, die zum Menschsein als solchem gehört und die folglich nicht beseitigt werden kann, sondern sich immer wieder neu bildet. Heute, wo Religion neu gesucht wird, wird diese Wüste wieder spürbar« (Haeffner 1999, 671).
Während der Messianismus im Sinne einer immanenten Unendlichkeit einen politischen oder ethischen Zielpunkt für den geschichtlichpolitischen Raum des Menschen anvisiert, bringt Khôra die transzendente Bedingung des Messianismus zum Ausdruck. »When I say khora I am not excluding anything but I am referring also to the politics of khora, the absolute indeterminacy, which is the only possible groundless ground for a universal, if not for reconciliation, at least for a universal politics beyond cosmopolitanism. (…) An empty mutual space that is not the cosmos, not the created world, not the nation, not the state, not the global dimension, but just that: khora« (Derrida in Kearney 2004, 9 ff.).
Für Derrida ist Khôra weder ein »Philosophem noch eine Art der Erzählung mythischen Typs. Als Matrix, als ›Behältnis‹ lässt sie sich von keinem Diskurs über sie ergreifen, sie überschreitet »die Grenze zwischen mythos und logos, ist sie doch selbst nicht mehr logisch erfassbar, jedoch auch nicht bloß mythisch vorgestellt« (Ruhstorfer 2004, 134). Khôra nimmt damit sprachliche Bestimmungen wie das Sein, das Gute oder Gott in sich auf und gibt ihnen einen Raum. Sie ›besitzt‹ allerdings keine dieser Bestimmungen als Eigennamen, weshalb sie jeder identifizierenden Signifikation, auch im ontologischen Sinn, vorausgeht. »It is precisely this opening which also cannot admit of a name. Hence khora becomes that which is unnamable, that which exists beyond even myth itself, beyond the restrictions of logos and techne and the grasp of metaphysics« (Zachary 2008, 65). 139 Khôra ist der Ort selbst, der sich niemals vergegenwärtigen lässt, in dem aber alle »metaphysischen Unterscheidungen und Effekte einer Gegenwart aufgenommen und referiert werden, wobei der Referent dieser Referenz nicht existiert« (Kim 2002, 251). Theologisch gewendet kommt der Khôra damit eine wichtige Bedeutung zu: »Die Theo-
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Messianismus und Khôra sind für Derrida beim Nachdenken über Religion immer schon miteinander verbunden, weil sie zwei Pole der Religion sind, zwischen denen sich religiöse Semantiken oszillierend bewegen. In diesen Bewegungen zeigt sich wieder – mit Anspielung auf Lévinas – das Andere, gegenüber dem der religiöse Mensch Verantwortung hat (vgl. Stegmaier 2007, 81; Ware 2005, 171). Weil das Heilige das Andere ist – nicht verstanden als ein spezifisch Anderer, sondern als jedes beliebige Andere –, wird Religion für Derrida zur messianischen Offenheit gegenüber dem Anderen, d. h. zu Ausdrucksformen unendlicher Gerechtigkeit. »While Derrida understands the wholly other as any other, he does not limit alterity to specific individuals« (Ware 2005, 178). Darin sieht Derrida den Aufweis der unaufgebbaren Verwiesenheit des Menschen auf den Anderen und damit auf das Unverfügbare, denn dem Messianischen entspricht letzten Endes »die Erwartung des Kommens eines/des ganz Anderen, des Unerwartbaren, das unseren Erwartungshorizont sprengt« (Schmidt 2006, 60). 140 Ad (c): Das dritte Begriffspaar, das Derridas Ansicht nach Religion charakterisiert, sind Vertrauen und Heil. Religion ist nicht nur Glaube an ein Absolutes und eine Offenheit gegenüber dem Anderen, sondern impliziert zudem ein ursprüngliches Versprechen. Derrida identifiziert zwei Grunderfahrungen, die Ausdruck dieses Versprechenscharakters der Religionen sind, und zwar Vertrauen und Heil, die beide bereits bezüglich der autoimmunitären Reaktion der Religionen auf die Moderne zur Sprache kamen (vgl. Kap. 3.5.2.2.). Auf der einen Seite der Religion steht die Erfahrung des Vertrauens, womit das Vertrauen der Gläubigen darauf gemeint ist, dass ihr Beten und ihre Bezeugung des Absoluten erhört werden. Dieses Vertrauen ist jenseits eines reflektierenden Verstandes und jenseits von logie muss sich fortwährend auf den Ort besinnen, in dem sie stattfindet. Ist chora der Ort, zu dem die Rede von Gott zurückkehrt und aus dem sie schöpft? Direkter gesagt, beschreibt chora den Ort der Offenbarung, in dem das Namenlose, das Zeitlose, das Geheime, das Göttliche sich wahrt und der dennoch offen ist für eine Wahrnehmung in begrifflicher Abstraktion und Vermittlung. Diese theologische Interpretation scheint sich zu rechtfertigen, wenn Derrida chora mit der ›Wüste in der Wüste‹ vergleicht, in der auch die jüdisch-christlichen Offenbarungen ergangen sind« (Kim 2002, 252). 140 Robert Gibbs (2005) deutet Derridas Reflexion über Religion daher auch als eine messianische Epistemologie. Das Nachdenken über die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit von Sprache, die in der Dekonstruktion zum Ausdruck gebracht werden soll, weiß sich dem Messianismus insofern verpflichtet, als es das Unverfügbare und Unvordenkliche als das Andere zur Sprache kommen lässt.
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rational begründeten Gottesbeweisen angesiedelt, und zielt auf ein bedingungsloses Vertrauen des Gläubigen als Kern der Religion. Dieses bedingungslose Vertrauen auf Gott impliziert eine Bezeugung »des ganz Anderen, dessen absolute Quelle unerreichbar bleibt« (Derrida 2001a, 56). In jedem Akt des Ansprechens eines Menschen ist eine Spur dieses Bezeugens und Versprechens impliziert, die ein Hinweis auf das Absolute bzw. den ganz Anderen ist. 141 Die zweite Erfahrung ist die des »Heilen, Unversehrten, Geborgenen, der Sakralität oder der Heiligkeit« (Derrida 2001a, 56), in der sich das Ziel des Vertrauens ausspricht, insofern das Vertrauen auf das Heile und Unversehrte hofft. Es gibt Derridas Einschätzung zufolge keine Religionsgemeinschaft, die nicht auch diesen Aspekt des Heilen impliziere und gleichfalls auf ihr eigenes Selbstverständnis bezöge (Naas 2009, 187). Das Verhältnis von Vertrauen zum Heilen und Heiligen spielt für Derrida nicht nur innerhalb der Religion, sondern allgemein in der Philosophie eine wichtige Rolle und lässt sich besonders deutlich an den Überlegungen von Heidegger und Lévinas ablesen: Das Heilige wird von Lévinas ohne Sakralität, sondern als eine ethische Grunderfahrung gedeutet, wohingegen Heidegger das Heilige als ontologische Kategorie zu denken versucht. »Während also Lévinas jede Form von Mystizismus und alles Numinose zurückweist, neigt Heidegger dazu, dieses Numinose in eine ontologische Dimension zu übersetzen und es also mit etwas Göttlichem gleichzusetzen, dessen Sakralität allerdings nichts mehr mit dem Glauben zu tun haben soll« (Letzkus 2005, 30).
Während insbesondere der späte Heidegger also die Offenbarkeit des Seins als das Heilige konzeptualisiert, fasst Lévinas das Heilige als eine ethische Erfahrung, die in einem engen Bezug zum Vertrauen steht. 142 141 An dieser Stelle spiegelt sich ein weiteres Mal der Einfluss von Lévinas und dessen Verständnis von Religion in Derridas Überlegungen wider, insofern dieser »die negative Dialektik der anwesenden Abwesenheit Gottes im Ereignis der anredenden Sprache betont, um die Spuren seiner bleibenden Transzendenz in unseren Lebenswelten nicht verlöschen zu lassen« (Enders 2003, 167). 142 In dem Band von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabate (1993) wird ausführlich analysiert, inwieweit Derrida in dieser Frage von Heidegger und Lévinas beeinflusst worden ist. In eine ähnliche Richtung arbeitet Anselm K. Min das Verhältnis von Derrida und Lévinas heraus, insbesondere was Derridas Ablehnung einer Onto-Theologie betrifft: »Derrida shares Lévinas’s rejection of ontotheology but approaches the question
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Derrida deutet beide Überlegungen als zwei notwendige Pole des Nachdenkens über Religion. Das Heilige darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht als ein eindeutiger Ausdruck des Absoluten verstanden werden, sondern es wird in der Geschichte der Religionen notwendig plural aufgefasst, was sich am eindrücklichsten an der Vielfalt der religiösen Sprachen veranschaulichen lässt. Derrida illustriert diesen Gedanken an der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel, denn die darin veranschaulichte Vielfalt religiöser Sprachspiele über das Heilige weist für ihn darauf hin, dass Menschen auf Übersetzungsprozesse angewiesen sind und diese gleichzeitig immer kontingent bleiben. Indem Gott die Babylonier verwirrt, beginnt er »mit der Dekonstruktion des Turms als Dekonstruktion der universalen Sprache« (Derrida 1997, 124), d. h., »was er damit den Menschen aufzwingt, ist die Unhintergehbarkeit der Übersetzung« (Beyricht 2001, 119). Diese Notwendigkeit zur Übersetzung ist gleichzeitig bezogen auf das Vertrauen, das diesem Prozess zugrunde liegt, denn ohne Vertrauen in die Beständigkeit Gottes wäre eine solche Übersetzung überhaupt nicht möglich. »Das Heilige und das Zu-Übersetzen-Sein lassen sich ohne einander nicht denken. Das eine erzeugt das andere am Rand derselben Grenze« (Derrida 1997, 148). 143 Ein Aufdecken des Zusammenhangs zwischen der Vielstimmigkeit religiöser Sprachen, der Notwendigkeit der Übersetzung und dem Bezug auf das Heilige kann wiederum positive Wirkungen auf einen interreligiösen Dialog haben (vgl. Smith 2006). Denn auch heilige Schriften erscheinen aus der Perspektive der Dekonstruktion als vieldeutig. Deshalb ist Derrida besonders an den Texten interessiert, die bislang marginalisiert oder ganz aus dem Prozess der Interpretation ausgeschlossen wurden (vgl. Smith 2006, 51). 144 Vielstimmigkeit im of naming the unnamable God by focusing more explicitly on the potential of negative theology as such« (Min 2006, 103). John Llewelyn legt zudem eine Einordnung der Überlegungen von Derrida in den phänomenologischen Diskurs der französischen Philosophie vor, wobei er unter anderem die Bezüge von Derrida zu Lévinas, Marion und Henry rekonstruiert (vgl. Llewelyn 2009). 143 Diese Interpretation der Religion gilt es wiederum zu dem Übersetzungsmodell von Habermas in Verhältnis zu bringen und davon abzugrenzen. »Thus, if the untranslatable holds the positive promise that languages will never become one, it also contains the hope that, by being incomplete and in need, the other language holds the very conditions needed for growth and transformation« (Bergdahl 2009, 40). 144 James Smith skizziert, welche Konsequenzen diese Einsicht in die Vielstimmigkeit religiöser Reden für das Kirchenbild christlicher Religionsgemeinschaften haben könnte
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Sinne Derridas »ist ein Verfasstsein des Denkens und Sprechens, in dem nicht mehr eine Stimme alleine spricht, sondern Bedeutung durch das In- und Gegeneinander einer Vielfalt von Sprachen und Stimmen konstituiert wird« (Schmidt 2006, 25). Vielstimmigkeit wird damit zu einer Herausforderung für Religionsphilosophie und Theologie, wenn beide sich den Einsichten der Dekonstruktion stellen (Schmidt 2006, 50). Ad (d): Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist (wie bei vielen anderen Autoren) ein Kernthema hinsichtlich der Beschäftigung mit Religion. Dabei trennen Autoren, die sich im aktuellen philosophischen Diskurs mit diesem Begriffspaar beschäftigen, Glauben und Wissen oft deutlich voneinander, um die Spezifika der beiden Modi des Geistes fassen zu können (vgl. Habermas 2008b; Kap. 3.1.2.4.). Derrida verfolgt einen anderen Weg, indem er eine scharfe Gegenüberstellung von Glauben und Wissen dekonstruiert und stattdessen ihr wechselseitiges Bedingungsverhältnis hervorhebt. »Diese Gleichzeitigkeit kann man dort erkennen, wo Glaube und Wissen immer schon ein Bündnis eingegangen sind, am Ort selbst, dort, wo das in der Entgegensetzung eingegangene Bündnis einen Knoten bildet« (Derrida 2001a, 11).
Eine strikte Entgegensetzung von Glauben und Wissen ist für ihn unplausibel, weil beide immer schon aufeinander bezogen sind. So ist Wissen, wenn es als objektives Wissen verstanden wird, der Versuchung ausgesetzt, »dass man zu wissen glaubt, was das Wissen ist, das Wissen, das strukturell vom Glauben, vom Vertrauten – vom Treuhänderischen und der Verlässlichkeit unabhängig sein soll« (Derrida 2001a, 53). Weil Wissen immer auf Vertrauen bezogen bleibt, impliziert es für Derrida auch einen Aspekt des Glaubens, weshalb das Wissen nicht ohne den Glauben auskommt. Die Vernunft hat außerdem selbst eine »religiöse Vorgeschichte, die in ihre Fundamente eingebaut« (Haeffner 1999, 681) ist – dies zeigt nicht zuletzt die Struktur der Sprache selbst, denn textuelles Geschehen kann niemals in ein eindeutiges oder objektives Wissen überführt werden. Derridas Kritik an der Aufklärung zeigt sich in dieser Hinsicht als Kritik an einem über(Smith 2006, 54 ff.). Die Vervielfältigung der Perspektiven könnte dazu beitragen, so seine Schlussfolgerung, die Mehrdimensionalität innerhalb der Religionsgemeinschaften und damit die vielfältigen Facetten des faktischen religiösen Lebens stärker zu beachten, als dies heute teilweise der Fall ist. A
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zogenen Wissensverständnis, das die Aspekte des Glaubens im Wissen missachtet. »Not only is language logos, and reason is indebted to it, but language also causes the confusion of reason with itself. Otherwise formulated: language confronts reason with a mediation from which it cannot be distracted. And when reason tries to ground itself in itself – outside language – it ends up with all the paradoxes that language introduces« (Meyere 2006, 150). 145
Allerdings ist damit nicht gemeint, dass Wissen ausschließlich auf eine bestimmte Form des Glaubens – zum Beispiel einen religiösen – bezogen ist, sondern Derrida fasst das Moment des Glaubens deutlich weiter als eine grundlegende Offenheit gegenüber dem Unverfügbaren und Anderen, das niemals gewusst, aber vertrauensvoll geglaubt werden kann. »Thus, the force of faith does not have to be religious faith; it can also be atheistic, ideological, or just a matter of feeling« (Evink 2004, 323). Gleiches gilt umgekehrt für die Religion, die nicht mit einem unvernünftigen Glauben an das Absolute gleichgesetzt werden darf, weil sie das Absolute immer auch mit der Vernunft zu thematisieren versucht. »My own understanding of faith is that whenever one gives up not only any certainty but also any determined hope. If one says that resurrection is the horizon of one’s hope then one knows what one names when one says ›resurrection‹ – faith is not pure faith. It is already knowledge« (Derrida in Kearney 2004, 10). 146 145 In einer Auseinandersetzung mit künftiger Aufklärung erklärt Derrida diese Überlegung noch von einem anderen Standpunkt aus: Das Denken der différance zielt auf das Denken des Ereignisses als Einbruch des Anderen. Indem der Mensch dieses Ereignis fassen will, thematisiert er zugleich das Unendliche unter den Bedingungen der Vernunft. Damit werden Glauben und Wissen grundsätzlich ineinander verwoben. »Einer jedes Mal unerhörten Transaktion zufolge schafft die Vernunft einen Durchgang und einen Kompromiss zwischen, einerseits, der durchdachten Forderung der Berechnung oder der Bedingtheit und, andererseits, der kompromisslosen (…) Forderung des Unbedingten« (Derrida 2003a, 39; vgl. auch Steinmann 2009, 109). 146 Diese Verschränkung von Glauben und Wissen zeigt sich auch im Rückblick auf Derridas Verständnis von unendlicher Gerechtigkeit und Messianismus. »Das abstrakt Messianistische der Gerechtigkeit als Quelle der Religion ist ebenso Sache des Glaubens und einer Glaubenserfahrung wie das Verhältnis des Menschen zum Gott der jüdischen Tradition, der sich jenseits menschenmöglicher Reflexion befindet. Dennoch kann dieser Glaube nicht in den Gegensatz zum Wissen gebracht werden. Jenseits der Unterscheidung von Vernunft und Mystik richtet sich die mit dem Glauben verbundene Hoffnung ganz auf ›eine Kultur der Singularitäten/Besonderheiten‹, eine Kultur, in der jeder An-
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3.5.2.4. Verhältnis von Dekonstruktion und negativer Theologie Derridas Philosophie ist geprägt durch die Figur der différance, die für ihn ebenfalls bezüglich der Frage nach der Religion erkenntnisleitend ist, wie anhand der verschiedenen Dekonstruktionen der Religion im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde. In diesen Überlegungen zeigt sich eine strukturelle Nähe zwischen Philosophie und Religion, denn so, wie es der Dekonstruktion um eine Negation der Vergegenständlichung des Seienden und eine grundsätzliche Kritik der logozentrischen Fixierung des Denkens geht, betont die Religion in unterschiedlichen Spielarten die Unmöglichkeit der Vergegenständlichung des Absoluten bzw. Gottes. Religion zielt – mit Luhmann gesprochen – auf das Sprechen über das Unaussprechbare, das je neu in seiner Differenz zur Immanenz zu bestimmen ist. Insbesondere die Tradition der negativen Theologie von Dionysius Areopagita über Meister Eckhart bis hin zu Nikolaus von Kues betont diese Einsicht in die Unmöglichkeit einer vergegenständlichenden Rede über Gott. Deshalb argumentieren diese Autoren der Philosophiegeschichte bei allen Differenzen im Detail für eine Rede über Gott via negationis, denn erst in der Verneinung aller endlichen Aussagen kann das zum Ausdruck gebracht werden, was transzendent ist (vgl. Kap. 4.1.1.). Auf den ersten Blick zeigen sich damit Ähnlichkeiten zwischen negativer Theologie und Dekonstruktion, weshalb Derridas Philosophie von unterschiedlichen Autoren als negative Theologie interpretiert wurde. John Caputo hat diese Interpretationslinie entscheidend geprägt, vor allem durch sein intensiv diskutiertes Werk The prayers and tears of Jacques Derrida. Religion without religion (1997), in dem er die Dekonstruktion in eine große Nähe zur negativen Theologie rückt, denn beide, so sein Argument, thematisieren das Abwesende, Unberechenbare und damit Unerreichbare. 147 Dies gilt in Bezug auf die Philosophie der Dekonstruktion sowohl für ihre sprachphilosophischen Reflexionen als auch ihre ethischen Implikationen, was Caputo exemplarisch am Messianischen aufzeigt. dere seine Andersheit ungehindert ausleben kann und doch unbedingt an die Bestimmung gebunden ist, keinem eine Bestimmung aufzuerlegen« (Ruhstorfer 2004, 137). 147 Caputos Überlegungen haben viele Arbeiten zum Verhältnis von Dekonstruktion und Religion beeinflusst (vgl. Cudney 1999; Dooley 2003a; Caputo 2007b). Harold Coward und Toby Foshay (Coward/Foshay 1992) gehen beispielsweise der Frage nach, inwieweit sich in unterschiedlichen Kulturen Spuren negativer Theologie finden lassen und was hierzu aus der Perspektive von Derrida gesagt werden kann. A
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»Far from landing us into a place of dissipation, despondency, and enervation, as its most thoughtless critics contend, différance leads us by the hand into a quasi-messianic place, a quasi-transcendental messianic no place« (Caputo 1997, 333).
Die Dekonstruktion bringt also das Unaussprechbare in den Bereich des Sprachlichen und ermöglicht damit dem Menschen, seine endlichen Grenzen zu thematisieren. Genau dies ist nach Caputo die Intention der Texte der negativen Theologie, die das Absolute in negativdialektischer Weise zum Ausdruck bringen. 148 Die Beschäftigung mit der Religion ist deshalb für ihn eine Voraussetzung für ein adäquateres Verständnis der Dekonstruktion und umgekehrt. »My hypothesis (…) is that the key to understanding deconstruction is also the key to understand religion, viz., that both are brewed from a devilish mix of ›faith and atheism‹, ›radical doubt and faith‹« (Caputo 2003a, 36). 149
Derrida selbst wehrt sich allerdings gegen eine solche Nähe seiner Philosophie zur negativen Theologie; schon in einem Vortrag aus den 1970er-Jahren zu Die Différance findet sich eine deutliche Abgrenzung.
Bezüglich des Werkes von Caputo insgesamt äußern sich einige Autoren allerdings auch skeptisch, vor allem gegenüber seinem teils ›missionarischen Ton‹. Wiederum andere Kritiker halten Caputos Fokus auf die allgemeine Struktur des Religiösen für begrenzend, weil er damit die Pluralität der konkreten religiösen Formen nicht wahrnehmen kann, die aber gerade in ethischer Hinsicht zentrale Ausgestaltungen der Religion sind. »While Caputo is rightly concerned about the drift of deconstruction, and has plotted in his own course, adjusting his sail accordingly, my hunch is that because he too sees determinate religions through the lens of religious (overarching?) structure, he is unable to pull away from Derrida’s wake« (Cudney 1999, 394). 148 Margret Grebowicz formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Instead, Caputo argues, both deconstruction and negative theology are instances of what he calls a ›general apophatics‹, whose stake is ›to keep the possibility of the impossible open, to keep the future open‹. Deconstruction’s notion of the democracy to come would be an example of such a ›completely open-ended, negative, underdetermined structure‹« (Grebowicz 2002, 75). 149 Derrida hat in dieser Hinsicht in einem Interview selbst die Arbeiten von Caputo für sein eigenes Selbstverständnis hervorgehoben. »For example, his book The Prayers and Tears of Jacques Derrida, helps me to understand how deconstruction is indebted, on the one hand, to Heidegger, and, on the other hand, to the Lutherian tradition. In so doing, it helps me understand what is Christian and what is not Christian in my own text« (Derrida in Dooley 2003b, 22).
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»Sie [die différance] gehört in keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend. Und doch ist, was derart mit différance bezeichnet wird, nicht theologisch, nicht einmal im negativsten Sinne der negativen Theologie, welche bekanntlich stets eifrig darum bemüht war, über die endlichen Kategorien von Wesen und Existenz, das heißt von Gegenwart, hinaus, eine Supraessentialität herauszustellen und daran zu erinnern, dass Gott das Prädikat der Existenz nur verweigert wird, um ihm einen Modus höheren, unbegreiflichen, unaussprechlichen Seins zuzuerkennen« (Derrida 1999, 34; vgl. Min 2006, 103 f.).
In einer ähnlichen Weise findet sich die Betonung der Differenz von Dekonstruktion und negativer Theologie in dem Jerusalemer Vortrag Wie nicht sprechen (Derrida 1989). Derrida beschäftigt sich in diesem explizit mit der Tradition der negativen Theologie, wie sie bei Dionysius Areopagita und Meister Eckhart grundgelegt ist, und stellt dabei klar, dass seine eigene Philosophie nicht als eine negative Theologie verstanden werden könne (vgl. Derrida 1989, 13 ff.). Zwar ziele auch die Dekonstruktion auf einen nicht gegenständlich fassbaren Horizont des Sprechens ab, aber die negative Theologie postuliere demgegenüber »eine Teleologie neuer Gegenständlichkeit und Kategorialität, die über dem ›normalen‹, vielheitlichen Sein angesetzt werde: eine ›Hyper-Essentialität‹, die entweder als Ziel einer progressiv-linearen Entwicklung oder als Rückkehr zu einem vollkommenen Ursprung gedacht werden könne« (Margreiter 1997, 405). Derrida lehnt also eine negative Theologie ab, »die Negation einzig als Instrument einer ›Hyper-Affirmation‹ gebraucht, sie damit jedoch intentional der positiven Setzung eines Seins jenseits allen Seienden unterordnet und so den Dualismus von Negation und Affirmation aufrechterhält« (Valentin 1997, 213). In der negativen Theologie, so lässt sich der Vorwurf von Derrida zusammenfassen, wird die negativ formulierte Aussage über Gott zu einer positiven Setzung, was er selbst beim Nachdenken über Sprache durch die différance grundsätzlich vermeiden will. »Der Name Gottes wäre dann der hyperbolische Effekt dieser Negativität beziehungsweise aller in ihrem Diskurs sich daran anschließenden Negativität. Der Name Gottes träfe auf alles zu, was einen Angang, eine Annäherung, eine Bezeichnung nur in indirekter und negativer Weise zulässt. Jeder negative Satz wäre bereits heimgesucht von Gott oder vom Namen Gottes« (Derrida 1989, 14).
Trotz dieses grundsätzlichen Unterschieds von Dekonstruktion und negativer Theologie beschäftigt sich Derrida intensiv mit dieser Form der A
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Religionsphilosophie und dabei besonders mit der Frage, inwieweit das Denken der différance und die negative Theologie zumindest strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. 150 Ihm geht es dabei weniger um eine textexegetische Analyse der Autoren negativer Theologie als um ein Zusammentragen von solchen strukturellen Ähnlichkeiten. Die Ähnlichkeit besteht vor allem darin, der Spur des Gesagten gerecht zu werden, d. h. verantwortlich das Spurhafte zu thematisieren, ohne es zu vergegenständlichen. »In effect, then, for Derrida negative theology is more than a thesis or a claim within theology; it is a movement, a passion, a desire of transcendence beyond all being, essence, identity, or anything that can be called ›some thing‹, a movement of reference without a particular referent« (Min 2006, 106).
Die Nähe von Dekonstruktion und Religion liegt also »gerade in diesem fordernden Charakter der Spur«, die »jedes Sprechen immer schon affiziert hat« (Zeillinger 2002, 173). Der Dekonstruktivismus thematisiert diese Spur in der Reflexion der Mehrdeutigkeit von Sprache, um damit (psychoanalytisch formuliert) ihr Unbewusstes aufzudecken; die negative Theologie bezeichnet diese Spur mit dem Begriff ›Gott‹. 151 »Und das ist dies, was der Name Gottes stets nennt, vor den anderen Namen oder jenseits von ihnen: die Spur dieses einzigartigen Ereignisses, welches das 150 Vgl. bezüglich des Zusammenhangs zwischen Derrida und Dionysius Areopagita die Arbeit von Bert Blans (1996) und hinsichtlich der Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zwischen dem Vorgehen von Derrida und Meister Eckhart die Studie von Ian Almond (1999). »Whereas Derrida’s project wishes to reach a new understanding of words, without considering some of them more ›originary‹ than others, Eckhart’s desire is to reach a place where one can ultimately abandon them altogether« (Almond 1999, 161). Gabriele Münnix wiederum diagnostiziert eine große Nähe der Ansätze von Derrida und Nikolaus von Kues: »Wir können nicht alles wissen, ja wir können überhaupt nichts richtig wissen. Insofern scheint mir Derrida eine große Nähe zu Nikolaus von Kues’ ›docta ignorantia‹ zu haben. Der Verzicht darauf, alles wissen und bestimmen zu wollen, ist verknüpft mit einer intellektuellen Bescheidung, die nicht nur zur Toleranz, sondern sogar zur Anerkennung des Anderen und auch anderer als eigener Denkwege führen muss, ohne dass dies in Beliebigkeit münden muss« (Münnix 2008, 223). 151 Genau darin zeigt sich wiederum die strukturelle Ähnlichkeit von Religion und Dekonstruktion, weil beide die Notwendigkeit betonen, innerhalb der Sprache zu leben, obwohl diese den Menschen immer schon transzendiert (Bauke-Ruegg 2000, 374). Dabei geht die Dekonstruktion allerdings über die negative Theologie hinaus, »in eine Wüstenei, in der die Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen nicht greift, die uns lockt wie eine Liebe, die wir stets spät geliebt haben (…), wo das Leben doch stets zu kurz gewesen ist« (Caputo 2003b, 315).
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Dekonstruktion von Religion (J. Derrida)
Sprechen möglich gemacht haben wird, noch bevor dieses sich, um darauf zu antworten, hin zu dieser ersten oder letzten Referenz zurückwendet« (Derrida 1989, 54). 152
Das Gebet ist die wichtigste religiöse Sprachform, um diese Spur zum Ausdruck zu bringen, ohne sie zu vergegenständlichen. Das Gebet »verbleibt an der Schwelle zwischen möglichem und unmöglichem Sprechen, es wahrt eine diskursiv nicht überschreitbare Distanz« (Zeillinger 2002, 212). 153 Nicht zuletzt deshalb betonen Autoren, die in der Tradition von Derrida stehen, das Gebet als spezifischen Ausdruck der Religion. »Religion begins and ends with prayer; where there is prayer, there is religion; where there is religion, there is prayer« (Caputo 2007b, 54). In vielen philosophischen Traditionen fehlt nach Derrida entweder ganz das Gespür für diese Spur, oder aber es ist »in dem Moment, wo die Frage ›Wie nicht sprechen‹ (How to avoid speaking?) sich stellt und sich in allen ihren Modalitäten artikuliert, (…) bereits, wenn man das sagen kann, zu spät« (Derrida 1989, 52). Denn damit wird schon eine Vergegenständlichung des Seins vollzogen, welche die Spur verdeckt (vgl. Bader 2006, 342). Derrida analysiert exemplarisch verschiedene Phasen der Philosophiegeschichte und ausgewählte Autoren daraufhin, inwieweit sie dieser sich versprechenden Negation überzeugend nähern oder sie missachten. Als gelungene Beispiele, die einer Vergegen152 In einem Interview formuliert Derrida die Bedingungen einer überzeugenden Gottesrede noch deutlicher: »Given this deconstructive move, God could not be he omnipotent first cause, the prime mover, absolute being, or absolute presence. God is not some thing or some being to which I could refer by using the word ›God‹. The word ›God‹ has an essential link to the possibility of being denied. (…) It is a word that I receive as a word with no visible experience or referent« (Derrida in Sherwood 2005, 37). 153 Das Gebet ist für Derrida die religiöse Sprachform, welche diese Einsicht am adäquatesten zum Ausdruck bringt. »Negative theology is possible only as an event and takes place in the course of prayer. For Derrida, it is toward this prayer of negative theology that all prayers ultimately strain themselves« (Min 2006, 105). Derrida insistiert, so Min, in diesem Zusammenhang darauf, dass das Gebet das Transzendente nicht abbilden, sondern lediglich im Modus der Wiederholung als das Andere ausdrücken kann. »To reject this distinction between pure prayer and praise, for Derrida, is to reject the essential quality of prayer to every non-Christian prayer. For Derrida, this Christian attempt to express the real transcendence of God by means of a movement of determination results (…) in the multiplication of voices and discourses, but this is precisely where the danger lies« (Min 2006, 111). Caputo interpretiert deshalb das Gebet als religiöse Sprachpraxis, in der das Wissen um das Nichtwissen Gottes zum Ausdruck kommt (vgl. Caputo 2003b, 305).
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ständlichung des Seins (zumindest teilweise) entgehen, nennt er Plato, Meister Eckhart und Heidegger. Bei Letzterem zeigt sich in seiner grundlegenden Kritik am Seinsdenken diese Einsicht unter den Vorzeichen neuzeitlicher Philosophie besonders deutlich. Aus Sicht der negativen Theologie hebt Derrida an Heideggers Seinsdenken hervor, dass damit das Sein zwar als Text lesbar bleibe, es aber nicht als Gegenstand identifiziert bzw. bezeichnet werde. »Das Wort Sein wird nicht vermieden, es bleibt lesbar. Aber diese Lesbarkeit bekundet, dass das Wort nur gelesen, nur entziffert werden kann; es kann nicht oder es darf nicht ausgesprochen, normal gebraucht werden – wie ein Sprechen ein Wort der ordinary language, der normalen Sprache« (Derrida 1989, 99 f.). 154
In eine ähnliche Richtung beschäftigt sich Derrida in dem Post-Scriptum Außer dem Namen (Derrida 2000a) noch einmal mit dem Begriff ›Gott‹. 155 Gott ist für Derrida ein sprachlicher Ausdruck des Spurhaften, das sich gleichzeitig der Sprache wieder entzieht. 156 Damit geht es Derrida wiederum nicht nur um den Gott der Religionen, sondern um das menschliche Sprechen als solches, denn der Name ›Gott‹ bringt vor allem die Begrenzung einer rein vergegenständlichenden Sprache zum Ausdruck, insbesondere in der »Kreuzung, Durchstreichung des Wortes ›Sein‹ oder des Wortes ›Gott‹« (Bader 2006, 354).
154 In diesem Zusammenhang thematisiert Derrida wiederum die Khôra als das »›dritte Geschlecht‹ – die Wirklichkeit jenseits von Gegensatzpaaren wie Sein und Nichts, Sinnlichkeit und Intelligibilität, Bejahung und Verneinung« (Margreiter 1997, 410) verortet. Sie ist »nichts Negatives und auch nichts Positives. Khora ist unempfindsam (impassible), aber sie ist weder passiv noch aktiv« (Derrida 1989, 69), sie ist »völlige Erfahrungslosigkeit, ohne Gabe, ohne Verheißung, Unort, Wüste« (Wohlmut 2007, 167). In diesem Sinne ist sie Ausdruck des Vorgängigen zur Sprache, das sich in der Spur des Gesagten ausdrückt (vgl. Ruhstorfer 2004, 132). 155 In dieser Publikation greift Derrida abermals auf die religionsphilosophische Tradition der negativen Theologie zurück, und zwar auf den Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius, der ihm als Orientierung für seinen Gedanken dient (Derrida 2000a; vgl. Wetzel 1993 und Wohlmuth 2007, 168–179). 156 Diese Einsicht drückt sich ebenfalls in der Form des Textes Außer dem Namen (Derrida 2000a) aus, der ganz bewusst keine stringente Erörterung sein will und deshalb auch »auf den Anschein einer Gliederung« (Bader 2006, 350) verzichtet. Der Text will vielmehr durch seine Form die Unmöglichkeit des gegenständlichen Denkens und damit ein »Ende des Monologismus« (Derrida 2000a, 65) zum Ausdruck bringen, weil man nur so von dem sprechen kann, der keinen Namen hat.
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»Außer dem Namen, der nichts nennt, was hielte, nicht einmal eine Gottheit, nichts, dessen Entzug nicht den Satz, jeden Satz, der sich mit ihm zu messen versucht, fortreißt. ›Gott‹ ›ist‹ der Name für diesen bodenlosen Zusammenbruch, für die unendliche Verwüstung (désertification) der Sprache« (Derrida 2000a, 85 f.).
Hier schließt sich der Kreis zu Derridas Nachdenken über Glauben und Wissen (vgl. Derrida 2001a). Derrida fragt nämlich in beiden Zusammenhängen nicht nach einem klar umrissenen Wesen der Religion, sondern thematisiert vor allem die paradoxen Formen und Funktionen von Religion. Religion ist die Trägerin eines Wissens darüber, dass sich ihr Kern immer traditionellen Grenzziehungen widersetzt – auch der von Glauben und Wissen. Von Gott bleibt dann nichts außer dem Namen, der als Begriff im ontologischen Sinne nichts bezeichnet. Die Wiederkehr der Religion ist damit eine Wiederentdeckung der Einsicht, dass Menschen nicht alles bezeichnen können. Der Begriff ›Adieu‹, den Derrida von Lévinas übernimmt, bringt diese aporetische Struktur der Religion und damit Derridas Vision einer Religion ohne Religion (Caputo 1997) zum Ausdruck. »Es [das Wort adieu] verweist sowohl auf eine Bewegung hin zu Gott (à-dieu) als auch auf die Verabschiedung eines allzu bekannten und daher allzu anthropomorphen – positiven, metaphysischen, ontotheologischen – Gottesbegriffs (adieu), aber auch auf die Heimsuchung durch einen ›Nicht-Gott‹ (a-dieu) d. h. durch das, was ganz anders als Gott oder die Kehrseite Gottes sein kann« (Letzkus 2005, 34; vgl. Wetzel 1983). 157
Die Verabschiedung eines Gottesbegriffs, der im Seinsdenken verhaftet bleibt, und die Bewegung auf einen Gott hin, der Nicht-Gott (a-dieu) ist, sind zentrale Charakteristika einer solchen Religion ohne Religion. 157 Dies bestimmt wiederum auch das Verhältnis von Religion und Philosophie: »Die Philosophie im Sinne eines verantwortlichen Denkens kann ihre universalen Ansprüche daher nur dann realisieren (…), wenn sie immer neu von der Religion ausgeht, um zu ihr zurückzukehren, d. h. wenn sie erkennt, dass sie in ihrem Ursprung schon gespalten und verdoppelt ist durch das, was im Anschluss an Derrida als eine ›Logik des Adieu‹ zu bezeichnen wäre. (…) Denn die Wende der Philosophie hin zur Religion, wie sie hier zu denken versucht wird, darf weder als Verabschiedung des philosophischen Diskurses noch im Sinne einer Säkularisierung der Religion verstanden werden. Diese Alternative verbietet die ›Logik des Adieu‹, fordert sie doch dazu auf, die Grenzen zwischen dem Säkularen und dem Religiösen, der Vernunft und der Offenbarung, dem Endlichen und dem Unendlichen in Frage zu stellen und damit den Begriff selbst in einer neuen Weise zu reformulieren und zu entfalten« (Letzkus 2002, 215).
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Dieses »ständige Oszillieren zwischen Negation und Affirmation, das nirgends zum Stillstand gebracht werden kann, kennzeichnet Derridas ›Religion ohne Religion‹« (Ruhstorfer 2004, 131). Darin drückt sich abermals aus, dass Religion nur im Plural und damit in je neuen Formen zu fassen ist.
3.5.3. Kritische Diskussion 3.5.3.1. Grenzen einer Religion ohne Religion Derridas Philosophie der Dekonstruktion ist zu einer wichtigen Strömung der gegenwärtigen Philosophie geworden. Mittlerweile wird in vielen Disziplinen seine Methode des Nachdenkens über Sprache und ihre Mehrdimensionalität angewandt. Dies gilt auch für den Diskurs über Religion, in dem sich Philosophen, Theologen und Sozialwissenschaftler mit der Argumentation von Derrida auseinandersetzen und diese für die Deutung der erneuten Wahrnehmbarkeit von Religion nutzbar machen. 158 Eine Stärke der derridaschen Konzeption einer Religion als Wiederholung und einer Religion ohne Religion ist, dass er phänomenologische, sprachphilosophische und religionsphilosophische Argumente in die Erklärung der Wiederkehr der Religion einbezieht. Dabei zeigt die vorangegangene Rekonstruktion, dass es eine strukturelle Nähe der Philosophie der Dekonstruktion mit den Grundfragen der Religion gibt. Auch wenn sich Derrida zu Recht gegen eine Gleichsetzung seiner Philosophie mit der Religion (bzw. genauer: der negativen Theologie) 158 Wie zum Beispiel eine Neuorientierung der Theologie durch die Einsichten der Dekonstruktion von Derrida aussehen könnte, skizzieren die Arbeiten von Merold Westphal (1999), Joachim Valentin (1997), Johannes Hoff (1999), Tilmann Beyricht (2001), Peter Zeillinger (2001) oder Steven Shakespeare (2009). In eine ähnliche Richtung argumentiert Richard Kearney, der Derridas Arbeiten als mögliche Basis für eine postmetaphysische Eschatologie interpretiert: »Despite his reservation on the religious front, however, and his preference for khora over God, I believe that Derrida’s approach offers crucial signposts for a new eschatology of the divine – what I term ›the God who May-Be‹. For Derrida provides a powerful reminder that the conventional metaphysical concepts of the possible (…) fail to appreciate its force as something higher rather than lower than the actual« (Kearney 2005, 304 f.). Die ethischen Überlegungen zu unendlicher Gerechtigkeit bzw. Gastfreundschaft aufnehmend, zeigt Ilsup Ahn auf, welche Impulse Derrida für ein neues, umfassenderes und auch radikaleres Verständnis von Gastfreundschaft in der christlichen Theologie haben könnte (vgl. Ahn 2010).
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wehrt, so stimmt er insgesamt selbst zu, dass es eine strukturelle Nähe gibt, die sich insbesondere in der negativ-dialektischen Reflexion auf die Grenzen der Sprache ausdrückt (vgl. Derrida 1989). 159 Von diesem Standpunkt aus deutet Derrida Religion funktional, allerdings nicht wie Habermas im Sinne einer moralischen Ressource, sondern eher im Sinne Luhmanns (vgl. Kap. 3.4.2.3.). Die Funktion der Religion besteht für ihn nämlich darin, ein implizites Wissen darüber zu haben, wie über etwas gesprochen werden kann, das letztlich unaussprechbar ist. Derrida behandelt mit der Reflexion von Religion »kein innertheologisches Spezialproblem (…), sondern das Phänomen der menschlichen Sprache überhaupt« (Wohlmuth 2007, 190). In der Weise des Nicht-Sprechens und des namenlosen Bezeichnens des Namens »versammelt sich die gesamte religiöse Energie«, sie ist nicht eine bestimmte Form des Sprechens, sondern Ausdruck »der Transzendentalität des Textes oder der Sprache« (Bader 2006, 361) insgesamt. Jedes Gesagte wird daher unweigerlich »von der Unendlichkeit des Sagens durchkreuzt und durchstrichen« (Bader 2006, 361). »To demonstrate that the apparent entanglement of Derrida’s writing in the via negativa is a being on the way (an unterwegs of sorts), not to language (Sprache), not to the essence of language, and not to writing, let alone to a science of writing, but, rather to ›God‹ (à dieu) or to what comes to substitute for this name for the totally other yet another totally other« (Vries 1999, 27).
159 An Derrida wurde in diesem Zusammenhang allerdings die berechtigte Anfrage gerichtet, ob seine Kritik der negativen Theologie diese wirklich treffe, insbesondere ob negative Theologie ausschließlich vor dem Horizont traditionellen Seinsdenkens argumentiere (vgl. Wohlmuth 2007, 180–185). Mit Hinweis auf Jean L. Marion betont Josef Wohlmuth, dass negative Theologie weder Begriffsjongliererei noch verstecktes Seinsdenken sei, sondern einen eigenständigen dritten Weg eröffnee. Marion vertrete nämlich, so Wohlmuth, die These, dass Theologie im Sinne einer negativen Theologie »nicht mehr die Funktion habe, Gott in unseren Seinshorizont zu bannen« (Wohlmuth 2007, 182). Daraus ergibt sich eine grundlegende Anfrage an Derrida: »In responding to Derrida’s argument that negative theology is a species of onto-theology, Catholic theologian Jean-Luc Marion re-affirms the value of negative theology by maintaining that the ultimative perfection of God actually yields to a third way that is beyond both positive and negative theologies, and above all affirmation and negation. Marion calls the third way dénomination and argues that Derrida betrays his ignorance of this third way that resides always beyond the binary logic that metaphysics is carried out within« (Freeman 2010, 58). In eine ähnliche Richtung fragt auch Marcus Enders an, ob Derridas Deutung der negativen Theologie dieser wirklich gerecht werde (vgl. Enders 2010, 111–146).
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Derrida interpretiert dabei Religion als symbolische Sprachhandlung, durch die auf die negative Signatur der Sprache aufmerksam gemacht und diese ausgedrückt werden kann. Entsprechend des Grundduktus der Dekonstruktion verortet Derrida dabei Religion jenseits traditioneller Gegensätze, die in vielen anderen Konzeptionen eine wichtige Rolle spielen. So ist Religion jenseits der Differenz von Moral und Kult oder Glauben und Wissen verortet. Damit wird ein weites Verständnis von Religion Grund gelegt und Engführungen vermieden. Mit seinem Religionsverständnis gelingt es Derrida somit, die Eigenheiten der Religion aus einer philosophischen Innensicht zu rekonstruieren. Mit dem Ansatz der différance kann er Transzendenz als Transzendenz innerhalb seiner Philosophie thematisieren, ohne theologisch zu argumentieren, womit ihm ein differenzierter und überzeugender Blick auf Religion möglich ist. Die Bezeichnung Religion ohne Religion charakterisiert Derridas Überlegungen treffend, denn er konzeptualisiert Religion so, »dass sie trotz der Streichung der Exklusivität als einem Konstituenten ihrer Identität (weiter)besteht« (Schmidt 2006, 56). Religion ohne Religion bedeutet in diesem Zusammenhang eine radikale Offenheit vor allem gegenüber dem Anderen. »Religion without religion would be a radical openness to the future, an endless calling for justice. It would figure faith as the credence was extended to the other person, and the holy as the singularity of the other person. This is indeed religion without religion, without priests and liturgies, without dogmas and superstitions« (Hart 2004, 61).
Für die Religion bedeutet dieses Gespräch von Philosophie und negativer Theologie wiederum eine radikale Kritik an jeglichem vergegenständlichenden Nachdenken über Gott. Auch die Religion kann daher etwas aus diesem Gespräch lernen. »›Gott‹ ist nicht mehr einfach, Gott ist die Differenz, oder genauer: ist in der Bewegung zwischen den sich aufschiebenden Differenzen. (…) Der ›Name‹ ›Gott‹ selbst ist kontingent – zugleich aber ist es notwendig, ihn in bestimmten Textkonstellationen zu gebrauchen. Im ›Gott‹ kreuzen sich Kontingenz und Notwendigkeit« (Bader 2006, 377 f.).
Jede Rede von Gott muss sich dessen bewusst sein, dass von Gott nur als dem ›Durchgekreuzten‹ gesprochen werden kann, genau diese Einsicht bringt die Formulierung Religion ohne Religion (vgl. den Untertitel von Caputo 1997) zum Ausdruck. Damit ist eine Religion gemeint, 260
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die ohne einen Wesenskern, ohne ein höchstes Seiendes oder eine letzte religiöse Erfahrung auskommen muss, wenn sie Religion sein will. Auch und gerade deshalb gilt: Ohne die »unendliche Wüstung der Sprache« können wir »das Kommen des göttlichen Namens nicht denken« (Bader 2006, 363). Trotz dieses positiven Potenzials, das durch das Religionsverständnis von Derrida für den Dialog von Philosophie und negativer Theologie eröffnet wird, impliziert genau dieses Verständnis auch einige Probleme. Eine Konsequenz ist beispielsweise, dass sich Derrida – indem er die Transzendenz ohne Gott zum Thema macht – weit von dem entfernt, was Menschen in ihrer Lebenswelt als Religion erfahren bzw. bezeichnen. »Derrida might be said to explore the paradoxical circumstance of being at once close to and at the farthest remove from the tradition called religious« (Vries 1999, 29). Dies zeigt deutlich eine Schwäche seiner Überlegungen, weil durch die Betonung der Transzendenz die faktische Semantik und Erfahrungswelt religiöser Menschen nur bedingt thematisiert werden kann. So überzeugend die Konzeptualisierung einer Religion ohne Religion in philosophischer Hinsicht ist, so sehr wird damit gleichzeitig das Selbstverständnis der Religion bzw. der religiösen Menschen aus dem Blick verloren. Im gesellschaftlichen Leben gibt es nämlich nur Religion mit Religion, d. h. in einer inhaltlich und kulturell bedingten Füllung. Gerade hierfür lassen sich religionsphilosophische Argumente anführen (vgl. Kap. 4.1.). Eine weitere Ambivalenz zeigt sich hinsichtlich der normativen Funktion von Religion, die Derrida trotz seines weiten Religionsbegriffs besonders in den Überlegungen zum Messianismus nicht aus den Augen verliert. Hintergrund dieser Überlegungen sind die unendliche Gerechtigkeit bzw. unbedingte Gastfreundschaft und die im Messianismus implizierte Verantwortung gegenüber dem Anderen. Auch in diesem Zusammenhang gelingt es Derrida, das Transzendente unter den Bedingungen der kontingenten Welt zu thematisieren und dabei die ausgewiesenen Normen weder als regulative Ideen noch als absolute Werte zu interpretieren. Unendliche Gerechtigkeit ist eine Spur des Anderen und damit der Transzendenz in der kontingenten Welt. 160 Da160 Dieses Verständnis korrespondiert mit der Konzeption der kommenden Demokratie, denn das Politische ist niemals losgelöst von anderen gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren, sodass auch kulturell-religiöse Aspekte immer Voraussetzungen und Strukturmomente des Politischen sind. Dieses Verständnis von Politik entwickelt Derrida vor
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mit wird die normative Dimension von Religion thematisiert, ohne sie für gesellschaftliche Probleme zu instrumentalisieren. Die philosophische Analyse normativer Begriffe zeigt, dass diese Begriffe immer auf ein Moment der Transzendenz verwiesen sind, was in der Religion in expliziterer Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Problematisch ist an einer solchen Konzeption der unendlichen Gerechtigkeit allerdings, dass damit die konkrete politische Praxis zumindest teilweise aus dem Blick gerät. Unendliche Gerechtigkeit oder Messianismus fungieren nämlich in Derridas Argumentation als uneinholbare Ideale. Gerechtigkeit als Bedingung der Khôra bedeutet für Derrida nicht, dass diese auch real hergestellt wird. »For (…) Derrida, however, the gap between what is and the justice to come is something other than an empirical or contingent shortfall« (Olthius 1999, 350; vgl. auch Evink 2004, 317). Einerseits beugt Derrida damit vor, Gerechtigkeit in einem technischen oder präsentischen Sinne zu verkürzen, andererseits bleibt unklar, wie das Ideal der unendlichen Gerechtigkeit in den politischen Alltag überhaupt übersetzt werden kann. Entsprechend einer negativen Dialektik bleibt der politische Prozess, der auf unendliche Gerechtigkeit zielt, immer nur eine Form der Annäherung, was beispielsweise politische Philosophen in der Tradition von Rawls eher problematisch beurteilen. 161 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Derrida – in der Tradition des Judentums stehend – auch die normative Dimension von Religion als eine dezidiert transzendente, d. h. als eine ›unendliche‹ Orientierung versteht. Einerseits findet sich diese Gedankenfigur in
allem in Agrenzung von Carl Schmitt und dessen klarer Trennung zwischen Politik und anderen kulturellen Einflüssen. Derrida »stellt die von Schmitt vehement proklamierte Autonomie der politischen Sphäre, ihre konzeptionelle Undurchlässigkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen und auch gegenüber empirischen, kulturellen oder natürlichen Differenzen, in Frage« (Wolf 2007, 83). 161 Allerdings muss eingeräumt werden, dass einige politische Schlussfolgerungen, die Derrida aus der unbedingten Gastfreundschaft ableitet, wiederum äußert konkret sind. »Derrida makes it explicit that unconditional hospitality is a categorical injunction to welcome the other without asking for a document, a name, a context, or a passport. Unconditional or absolute hospitality does not consist of an invitation that is then accompanied by the condition that the guests adapt to the laws and norms of the hosting society« (Ahn 2010, 249). Aber es wird nicht immer einsichtig, woraus sich die Reichweite der Forderung nach Toleranz oder Gastfreundschaft genau begründet und wo ihre Grenzen liegen.
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vielen religiösen Traditionen, in denen die Vorstellung eines höchsten Gutes oder absoluten Wertes mit dem Absoluten identifiziert wird. Andererseits verschreiben sich aber auch viele Religionen einer sehr konkreten Ausbuchstabierung dieses absoluten Wertes und betonen damit deutlich weniger die Unendlichkeit von Gerechtigkeit als Derrida. Walzers Überlegungen zum Propheten als Gesellschaftskritiker sind ein Beispiel hierfür (vgl. Walzer 1990). Aus der Perspektive der Religionsgemeinschaften müsste daher im Gegensatz zu Derrida betont werden, dass Religionen normativ betrachtet immer auch eine konkrete Realisierung von Gerechtigkeit intendieren, was Derrida zumindest teilweise zu wenig beachtet. 162 3.5.3.2. Dekonstruktion der Differenz von Glauben und Wissen Das Verhältnis von Glauben und Wissen erwies sich in den bisherigen Rekonstruktionen als ein zentraler Aspekt bei der Reflexion über die Wiederkehr der Religion. Autoren wie Habermas oder Rorty zeichnen sich dabei durch eine deutliche Trennung von Glauben und Wissen aus und setzen sich damit von den kantischen Überlegungen zur Vernunftreligion ab (vgl. Kap. 2.3.2. und Kap. 3.1.3.3.). Derrida wiederum plädiert für eine wechselseitige Verschränkung von Glauben und Wissen, ohne eine Vernunftreligion zu intendieren. Zwar deutet der Untertitel seines Vortrages auf Capri – Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft (vgl. Derrida 2001a) – darauf hin, »dass seine Annäherung an die Religion nicht der Binnenperspektive reiner Vernunft folgt, sondern gemäß seinem dekonstruierenden Ansatz sich an deren Grenzen bzw. Rändern zum Bereich des Außer- und in diesem Fall auch Übervernünftigen hin bewegt« (Enders 2003, 157; vgl. auch Miller 2013). Trotzdem spiegelt sich in der Betonung der wechselseitigen Verwiesenheit von Glauben und Wissen das Erbe der idealistischen
162 Graham Ward (2001) sieht darin einen wichtigen Unterschied zwischen dem Ansatz von Derrida und dem Selbstverständnis vieler Religionen bzw. religiöser Menschen. Am Beispiel von Augustinus zeigt er auf, dass dieser die Frage nach Gott als eine persönliche Bekenntnis- bzw. Lebensaufgabe interpretiert und nicht, wie Derrida, als eine ›Sisyphusarbeit‹, in der die Transzendenz Gottes als Unerreichbares betont wird. Auch in ethischer Hinsicht muss aus Sicht der Religion der unendlichen Gerechtigkeit deshalb die konkrete normative Forderung nach Nächstenliebe gegenübergestellt werden, die viele Religionen als realisierbare Handlungsorientierung verstehen (Ward 2001).
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Philosophie – sowohl in der kantischen als auch in der hegelschen Spielart. 163 »Where Kant commends a programme in which it is possible to please God without relying on dogma, Derrida affirms that which exceeds all programmes and answers to the impossible. Kant proposes an experiment: to think religion within the limits of bare reason. Derrida attends to an experience: religion at the limits of reason alone, namely messianicity without messianism. The parallel is not exact, for Derrida says nothing about pleasing God« (Hart 2004, 61).
Derridas Vorgehen bewegt sich zwar an den Rändern der Vernunft, aber letztlich innerhalb derselben. Die Vernunft, die das Ereignis als Einbruch des Anderen in die Wirklichkeit thematisiert, tut dies immer mit den Mitteln der Vernunft. Derrida interpretiert »das Ereignis zwar nicht als vernünftig, aber als auf Vernunft bezogen (…). Die Vernünftigkeit des Ereignisses liegt demzufolge darin, dass es in einen Ordnungszusammenhang einbricht und die Forderung erhebt, von diesem integriert zu werden. Es ist vernünftig, weil es vernünftig gedacht werden muss, wenn es überhaupt gedacht werden soll« (Steinmann 2009, 109). Damit ist die Vernunft einerseits auf das Transzendente und damit den Glauben bezogen, andererseits wird aber das Ereignis der Transzendenz innerhalb der Dekonstruktion als Vernünftiges in den Blick genommen. »One source that immediately divides itself. It is the source of both reason and religion. Derrida calls it faith. This seems to make the paradox even more complex: at first Derrida says that faith and reason cannot simply be put in an opposition, then he wants to start the discussion of their relation from the perspective of critical enlightened reason, articulating this starting point in terms of both certainty and cautiousness, and then he states that faith is the source of reason and religion« (Evink 2004, 316).
Der Glauben bleibt für Derrida also immer auf die rational-kritische Prüfung bezogen (vgl. Evink 2004, 324). Damit revidiert er allerdings wieder die wechselseitige Verwiesenheit von Glauben und Wissen zugunsten einer Betonung des Wissens bzw. rationalen Kritisierens. Religion wird also von Derrida nicht als unvernünftig oder als das voll163 Stegmaier sieht in diesem Zusammenhang eine deutliche Parallele zwischen Derrida und Hegel, denn »auch schon für Hegel waren Glauben und Wissen nicht zu trennen, Glauben sollte ebenso Wissen werden, wie dieses Glauben in sich aufnehmen musste, um Geist zu werden« (Stegmaier 2007, 78; vgl. Kap. 2.3.3.).
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kommen Andere der Vernunft thematisiert, sondern es wird vielmehr die Struktur des Religiösen als vernünftig ausgewiesen. Deshalb schlussfolgert Ludwig Nagl, dass »Kants universalistischer Denkimpuls (…) die Attacken einer manifest anti-universalistisch einsetzenden Dekonstruktion« (Nagl 2001b, 210) überlebt haben. Die Abgrenzung von Kant drückt sich allerdings in der fundamentalen Kritik einer Verortung der Religion im Rahmen der praktischen Vernunft aus, weshalb Derrida die ethische Argumentation Kants durch (an Heidegger und Lévinas orientierte) Überlegungen zur Verantwortung gegenüber dem Anderen ersetzt. »Diesen Begriff ›Antwort⁄›Verantwortung‹ durchdenkt Derrida an keinem Ort mit Blick auf Kants Ethik (…), sondern jederzeit sogleich mit Bezug auf – erstens – Heideggers Erwägungen zu ›Bezeugung⁄›Anruf⁄›Ruf‹ (…) und – zweitens – auf Lévinas’ kritische Überbietung des Heideggerschen Ansatzes« (Nagl 2001b, 208; vgl. auch ders. 2001a).
Derrida hat dabei im Anschluss an Heidegger eine »Überwindung oder Verwindung der Metaphysik im Auge« (Gadamer 2001, 247), die eine Religion jenseits der Religion (oder: Religion ohne Religion) zu denken versucht und die sich darin der unendlichen Gerechtigkeit verschreibt. 164 3.5.3.3. Globale Dimension der Dekonstruktion und ihre Begrenzungen Die Rückkehr der Religion wird von Derrida in die Kontexte (welt-)gesellschaftlicher Entwicklungen eingeordnet, insbesondere der fernwissenschaftstechnischen Vernunft. Damit ist nicht nur die Metaphysikkritik Derridas Hintergrund seiner Überlegungen zur Religion, sondern »vor allem die wissenschaftstechnische Modernisierung und 164 Dazu ist für Derrida eine neue Semantik notwendig, was ihm oftmals den Vorwurf eingebracht hat, seine Philosophie der Dekonstruktion gleite ins Literarische, Unverständliche oder Apokalyptische ab. Diese neue literarische Form ist nach Derrida aber notwendig, weil nur so Philosophie – der Aufklärung verpflichtet – von ihren Rändern, und das heißt im Falle der Religion: vom oszillierenden Wechselverhältnis von Glauben und Wissen her, gedacht werden kann. »Auch die Dekonstruktion, in diesem Sinne fest auf dem Boden der Aufklärung verankert, ist ein Diskurs von (…) den Grenzen oder den Rändern der Möglichkeit (…). Der Ton aber (…) ist notwendig ›apokalyptisch‹, enthüllend, offenbarend« (Zeillinger 2002, 183). Bei Peter Zeillinger findet sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie Derrida auf die Vorwürfe an seinem literarischen Stil reagiert hat (vgl. Zeillinger 2002, 179 ff.).
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Globalisierung bzw., kurz gesagt, das Maschinen- und Automatenhafte der immer universeller werdenden digitalen Kultur« (Enders 2010, 88). Im Vergleich zu anderen Ansätzen eröffnet Derrida damit eine sehr explizite globale Perspektive und thematisiert insbesondere die technischen Rahmenbedingungen, die nicht nur die Globalisierung als solche, sondern eben auch die neue Aufmerksamkeit für Religion prägen. An einigen Stellen kann man sicherlich berechtigterweise kritische Anfragen an diese Überlegungen richten, beispielsweise ob Globalisierung (verstanden als weltweite Prozesse der Vereinheitlichung) und das Christentum wirklich so eng miteinander verwoben sind (Enders 2003, 159). Nichtsdestotrotz erweist sich der Kerngedanke der Autoimmunität, den eine gewisse Nähe zur Gedankenfigur des re-entry bei Luhmann kennzeichnet (vgl. Kap. 3.4.2.3.) und mit dem Derrida die globalen Prozesse der Wiederkehr der Religion erklärt, als plausibel. Denn damit ist es ihm möglich, die grundlegende Ambivalenz der Religionen in den Blick zu nehmen, die heute oftmals gerade die kritisierten globalen Entwicklungen (Technisierung, Ökonomisierung usw.) nutzen, um das Heilige zu beschützen und es damit gerade doch angreifbar machen. Derridas Nachdenken ist dabei allerdings – wie das vieler anderer Konzeptionen – vor allem auf die Weltreligionen und insbesondere das Judentum und Christentum beschränkt; vor allem die jüdische Tradition des Nachdenkens über Religion prägt seinen Ansatz an verschiedenen Stellen sehr dezidiert (vgl. exemplarisch Siegumfeldt 2013). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er sich bei aller Betonung der kulturellen Prägungen von Religion nur bedingt diesen partikularen Formen zuwendet. 165 Dies ist besonders darin begründet, dass er ebenfalls mit einem Religionsbegriff operiert, der aus dem lateinisch-christlichen Kontext stammt. Konsequenterweise fragt Derrida deshalb selbst an, ob andere Weltreligionen überhaupt als Religion im engeren Sinne des Wortes verstanden werden können.
165 Shane R. Cudney formuliert dies in leicht polemischen Ton folgendermaßen: »In other words, if Derrida cannot have his cake and eat it too, if it is impossible to maintain his desert religion, and if we also confess that all discourses begin in faith, then instead of dismissing out of hand the viability of determinate religions in the call for justice, we would be free to bring our particular faiths to the fore in order to cultivate a religioethical vigilance that has an ear bent toward the other« (Cudney 1999, 400).
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»I am not sure that we could call them [Buddhism, Hinduism] strictly speaking ›religion‹. This is a point that I make in ›Faith and Knowledge‹ about the ›mondialationisation‹ of the word ›religion‹« (Derrida in Kearney 2004, 8).
Vom Standpunkt einer interkulturellen Philosophie aus kann dies als eine Begrenzung der Überlegungen von Derrida interpretiert werden. Mit einer fundierten interkulturellen Analyse ließe sich zeigen, dass beispielsweise auch in der Semantik des Islam oder Buddhismus ähnliche Merkmale von Religion zu finden sind, die Derrida für die jüdisch-christliche Tradition identifiziert (vgl. Binsbergen 2005, 139). »That the analysis may be extended to Islam, although this is way outside the Indo-European linguistic tradition, and largely (despite Aristotle’s influence on Islamic philosophy, which was subsequently sacrificed to theology) outside the Graeco-Roman-Christian intellectual history, demonstrates that in addition to the parochial nature of the concept of religion, also a more universal, transcultural or intercultural use for the concept, and domain of analysis and debate, may be rightfully claimed – and is in fact claimed, even by Derrida« (Binsbergen 2005, 142). 166
Für eine philosophische Reflexion, die eine umfassende Phänomenanalyse der Religion anzuzielen versucht, wäre diese Beschränkung zu überwinden, was bereits Gadamer in seiner Reaktion auf den Vortrag von Derrida auf Capri anmahnt. »Gewiss wird eine Ausweitung der Fragestellung auf andere Weltreligionen möglich und notwendig sein, wenn unsere dogmatischen Bemühungen um die religiöse Erfahrung, die das Gespräch beherrschte, in planetarische Maßstäbe übersetzt werden soll« (Gadamer 2001, 245).
Diese interkulturelle Weitung des Ansatzes ist im Grunde in den späten Schriften von Derrida (vgl. Derrida 2003b; Habermas/Derrida 2004) bereits angelegt, in denen seine Argumentationen eine dezidiert kosmopolitische Perspektive einnehmen und eine Achtung des Anderen in interkultureller Hinsicht implizieren (vgl. Kimmerle 2005b). Von diesem kosmopolitischen Standpunkt aus sollte allerdings in der weiteren Verarbeitung der Überlegungen Derridas die konkrete kultu166 Richard Kearney hat auf diese Begrenzung der Überlegungen von Derrida in Bezug auf dessen Konzeption des Messianismus hingewiesen, die einen stark universalistischen Charakter aufweist und damit die Pluralität der Religionen zu wenig beleuchtet. »But such messianic universality is only guaranteed, it seems, at the cost of particularity; it forfeits the flesh and blood singularity of everyday epiphanies« (Kearney 2009, 170).
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relle Vielfalt der Religion noch stärker in den Blick genommen werden, als dies bislang der Fall ist. 3.5.3.4. Derrida und Rorty – eine Parallele? In der Diskussion des Religionsverständnisses von Rorty wurde bereits auf mögliche Parallelen zur Philosophie Derridas hingewiesen (vgl. Kap. 3.2.3.1.; vgl. außerdem Mouffe 1996). Rorty selbst nimmt in seinen Werken mehrfach Bezug auf Derrida und deutet ihn als einen Gewährsmann für seine an den Pragmatismus angelehnte Kritik an rationalistischen Zugriffen auf Wirklichkeit, weil Derrida wie er an Heidegger orientierte Vokabulare jenseits der traditionellen Metaphysik finden will (vgl. Rorty 1989, 204 f.). »Derrida, according to Rorty, unwittingly perpetuates the same Heideggerian project: he wants to find words which get us ›beyond metaphysics‹« (Almond 1999, 161). Rorty interpretiert damit Derridas Philosophie der Dekonstruktion als Kritik philosophischer Ansätze, die zum Beispiel ein korrespondenztheoretisch begründetes Abbild von Wirklichkeit als wahr postulieren wollen. »Rorty appreciates Derrida for demonstrating the ›bankruptcy‹ of epistemology and coming up with this useful deconstructive tools which remind us that ›philosophy‹ is simply a form of writing and not a privileged discipline which dispense Truth« (Michener 2007, 127).
Derrida löst in dieser Sichtweise »Substanzen mitsamt ihrem Wesen und sonstigem Drum und Dran in Beziehungsgeflechte auf. Das Resultat seiner Deutung besteht nicht darin, dass er zum Wesen vordringt, sondern darin, dass Texte in Kontexte gestellt« (Rorty 2000b, 455 f.) werden. Rorty liest Derrida in diesem Zusammenhang vor allem von Dewey her und interpretiert seinen Ansatz als eine Dekonstruktion von universalen Wahrheitsansprüchen, die im Rahmen einer privaten Selbsterschaffung dem Konzept der Ironie folgend zurückzuweisen sind (vgl. Rorty 1996b, 14 f.). Es gibt für Rorty keinen Grund zu der Annahme, »wir müssten uns zwischen Dewey und Derrida entscheiden, zwischen der öffentlichen Problemlösung und dem privaten Ringen um Autonomie. Diese beiden Tätigkeiten können friedlich koexistieren« (Rorty 2000b, 460). Deshalb weist Rorty auch Interpreten zurück, die Derrida in Bezug auf das Theorem der kommenden Demokratie vor allem als einen politischen Denker lesen (vgl. Rorty 1996b, 17). Vor diesem Hintergrund werden Rorty und Derrida im aktuellen 268
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Dekonstruktion von Religion (J. Derrida)
Diskurs immer wieder als komplementäre Konzepte zur Verarbeitung von Pluralität in der Postmoderne gelesen, denn beide weisen in der Ablehnung eines rationalistischen Denkens einige Ähnlichkeiten auf. Der eine (Rorty) fokussiert dabei stärker auf den engagierten Einsatz für Solidarität, der andere (Derrida) plädiert für eine unbedingte Offenheit gegenüber dem Anderen. »Perhaps then we may read Rorty and Derrida as correcting and balancing each other. In a pluralistic world that lacks necessarily transcendental guidance, we need the empowerment that Rorty’s talk of agency and the ability to experiment both give us. His writing also lends a certain urgency and impetus to the task before us. Deconstruction, on the other hand, balances such fervour by urging us to be open and cautions, to respect the demands of the excluded, singular, others who call from the margins of our system-building activity« (Kuipers 1997, 88).
Gerade in dieser Hinsicht zeigen sich allerdings gravierende Unterschiede zwischen beiden philosophischen Ansätzen. Rorty äußert sich selbst skeptisch gegenüber Derrida, vor allem wegen dessen Betonung des Ereignishaften und der Offenheit gegenüber dem Anderen als ein ›quasi-transzendentaler Imperativ‹ ethischer Provenienz. »I don’t want to locate the source of this Otherness in something bigger than ourselves. (…) On my view, there is nothing more to Otherness than the random events which produce random effects on our language, and thus on poetry, politics, and philosophy« (Rorty 1991, 75 f.).
Nicht zuletzt deswegen ist Rorty auch skeptisch gegenüber Derridas Religionsbestimmung, weil darin der Aspekt der Offenheit für das Andere besonders deutlich zum Ausdruck kommt und genau diese Offenheit von Derrida als ein allgemeiner und im Grunde metaphysischer Grundzug von Wirklichkeit interpretiert wird. Derridas Ansatz erweist sich damit nicht als so metaphysikkritisch wie der Rortys, denn in Bezug auf die Gedankenfigur der différance macht Derrida sehr wohl allgemeine Aussagen über die Struktur von Wirklichkeit, die Rortys Kritik von Wahrheitsansprüchen deutlich überschreiten. Ein weiterer Unterschied zwischen Rorty und Derrida ist außerdem ihre Deutung des Verhältnisses von privat und öffentlich. Rorty plädiert für eine dezidierte Trennung der beiden Bereiche und interpretiert Derrida in diese Richtung. »Derridas Bedeutung liegt darin, dass er den Mut besaß, den Versuch zur Vereinigung des Privaten und Öffentlichen aufzugeben, dass er das Streben A
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nach privater Autonomie nicht mehr mit der Hoffnung auf Rückwirkung und Nutzen für die Allgemeinheit verband« (Rorty 1989, 208).
Derrida wehrt sich allerdings gegen eine zu strikte Unterscheidung von privat und öffentlich und damit auch gegen eine ausschließliche Verortung der Dekonstruktion im Privaten, wie Rorty sie ihm unterstellt (vgl. Kap. 3.5.1.). Derrida »insistiert mit Nachdruck darauf, dass es eine Singularität gibt, die sich der glatten (…) Dichotomie ›privat⁄›öffentlich‹ entzieht« (Nagl 2002, 173). Er hebt besonders hervor, dass jede philosophische Reflexion, und so auch die Dekonstruktion, immer in einem dynamischen Spannungsfeld zwischen beiden gesellschaftlichen Feldern steht. »Dekonstruktion ist somit für Derrida nirgendwo bloß ›privat‹, sondern interagiert mit ›Öffentlichkeit‹ in mindestens zweifacher Weise: 1), so Derrida, hängt Dekonstruktion vom publiken Diskurs, als durch ihn institutionalisiert und ermöglicht, ab, und 2) wirkt sie in den öffentlichen Diskurs (…) hinein« (Nagl 2002, 175).
Ähnlich betont Derrida während einer Konferenz 1993 in Paris (vgl. Mouffe 1996) gegenüber Rorty die politische Funktion seiner Philosophie, denn die Dekonstruktion, die sich der Reflexion der différance stellt, ist immer auch ein Ausdruck unendlicher Gerechtigkeit. »Deconstruction is hyper-politicizing in following paths and codes which are clearly not traditional, and I believe it awakens politization in the way I mentioned above that is, it permits us to think the political and think the democratic by granting us the space necessary in order not to be enclosed in the latter« (Derrida 1996c, 85). 167
167 Dieses Verständnis hat auch Auswirkungen auf den interreligiösen Dialog. Bei allen aufgezeigten interkulturellen Begrenzungen des Ansatzes von Derrida erscheint sie nämlich als Anstoß für einen interreligiösen Dialog dennoch deutlich geeigneter als Rortys Konzeption, wie Mark C. Taylor zu Recht kritisiert. Rortys Eurozentrismus lässt ihn letzten Endes unfähig werden, einen wirklichen Dialog zu führen. Stattdessen kann er nur seine Perspektive anderen Kulturen aufzwingen. »Rorty’s ›dialogue‹ actually ends in a monologue spoken/written to colonise the other« (Taylor 1991, 13; vgl. außerdem Taylor 1990). Hier bietet die Dekonstruktion Taylors Ansicht nach ein deutlich größeres Potenzial für konstruktive Formen des interkulturellen bzw. interreligiösen Dialogs. Auf diese Kritik antwortet Rorty wiederum polemisch: »Taylor calls me a ›cultural imperialist‹ for saying that ›truth and justice lie in the direction marked by the successive stages of European thought‹. ›Imperialist‹ is a fighting word, in the sense that it suggests images of Conquistadors’ horses and of Gatling guns. But I bet that Taylor too thinks that truth lies in the direction that leads away from Aristotle toward Darwin,
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Religion als Grundlage des schwachen Denkens (G. Vattimo)
Dekonstruktion ist für Derrida also nicht nur eine Form privater romantischer Ironie, sondern immer auch eine politische Haltung, die Entscheidungsprozesse im öffentlich-politischen Feld langfristig verändern kann.
3.6. Religion als Grundlage des schwachen Denkens (G. Vattimo) 3.6.1. Vattimos hermeneutische Metaphysikkritik Mit Gianni Vattimo hat sich in den vergangenen Jahren ein führender Vertreter der philosophischen Postmoderne in der Diskussion über Religion zu Wort gemeldet. Seine Publikationen zu dem Themenfeld umfassen ein weites Spektrum und suchen dabei den Dialog mit anderen Philosophen, die zu dieser Frage arbeiten. Der Band Die Religion mit Derrida als Ergebnis der Tagung auf Capri ist ebenso ein Beispiel hierfür wie das mit Rorty veröffentlichte Werk Zur Zukunft der Religion und die mit René Girard angestellten Überlegungen zu Christentum und Relativismus (vgl. Derrida/Vattimo 2001; Rorty/Vattimo 2006; Girard/Vattimo 2008). Ausgangspunkt des Nachdenkens von Vattimo über Religion ist eine Metaphysikkritik, wie er sie im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger entwickelt. Von Nietzsche übernimmt er »die Einsicht, dass der Glaube an die (objektive) Wahrheit geschwunden ist, von Heidegger die geschichtsphilosophische Idee einer Seinsgeschichte, die er als Auflösungsgeschichte versteht« (Weiß 2001, 148). Mit Nietzsche – dem geistigen Vater der Postmoderne – argumentiert Vattimo, dass sich die Grundannahmen der Moderne wie Fortschritt, Einheit der Wissenschaften oder Rationalität heute nicht mehr überzeugend begründen lassen. 168 Vattimo versteht daher sein philosophisches Schaffen als eine postmoderne Kritik an diesen Annahmen, vor allem an der nach wie vor gesellschaftlich wirkmächtigen Illusion des Fortschrittsand that justice lies in the direction that leads away from Marsilius of Padua and toward John Stuart Mill« (Rorty 1991, 77; vgl. außerdem Robbins 1992, 391). 168 Die zentrale Bedeutung von Nietzsche für die Postmoderne betont unter anderem Theo W. A. Witt folgendermaßen: »As for so many other postmodern authors today, Nietzsche is for Vattimo the key figure for grasping something of the transition from modernity to post-modernity« (Witt 2000, 400). A
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gedankens. In allen Bereichen sozialen Lebens, d. h. »von der Architektur bis hin zum Roman, zur Dichtung, zu den darstellenden Künsten, weist die Postmoderne als den ihr gemeinsamen und überragenden Grundzug das Bemühen auf, sich der Logik der Überwindung, der Entwicklung und der Innovation zu entziehen« (Vattimo 1990, 116). Auf dieser Kritik des Fortschrittsgedankens aufbauend, entfaltet er sein hermeneutisches Verständnis von Philosophie. 169 Dabei übernimmt er von Heideggers Fundamentalontologie die These, »dass alles Wissen immer nur Interpretation ist und nichts als das« (Vattimo 2004a, 18). Deshalb ist die Interpretation das Einzige, worüber sich philosophisch sprechen lässt, ohne zu einem Kern der Interpretation in einem essenzialistischen Verständnis vorstoßen zu können. Heidegger zeigt Vattimos Ansicht nach, dass jede Interpretation selbst schon wieder geschichtlich ist und aus diesem Prozess nicht herausgelöst werden kann. Deshalb muss die Suche nach objektiven Tatsachen aufgegeben werden, denn diese ist ihrerseits »nichts anderes (…) als Interpretation« (Vattimo 2004a, 20). Damit wird vor allem ein korrespondenztheoretisches Verständnis von Wahrheit zurückgewiesen, weil »Wahrheit nicht in der Übereinstimmung der Aussage mit der Sache besteht« (Vattimo 2004a, 27), sondern nur noch angesichts und innerhalb der Interpretation gedacht werden kann. Vattimo will also, ähnlich wie Rorty, allen objektiven Wahrheitsansprüchen und Wahrheitstheorien eine Absage erteilen. Nietzsche folgend will er sich stattdessen dem »Abenteuer der Differenz« (vgl. den Titel des Werkes von Vattimo 1980) als Spiel der Erscheinungen widmen. In diesem Sinn ist Vattimo ein radikaler Vertreter der Postmoderne, wie sie Lyotard vor Augen hat, wenn er vom Ende der Metaerzählungen spricht (vgl. Lyotard 1986). Vattimo betont allerdings mit Blick auf Lyotard, dass auch diese Erzählung vom Ende der großen Theorien wiederum nur als vorläufig interpretiert werden kann und sie kein letztes Wissen über die Möglichkeiten von Theoriebildung freilegt.
169 Von Nietzsche übernimmt Vattimo dabei außerdem den Gedanken, dass die herkömmliche Metaphysik ein »abergläubisches Vertrauen« (Vattimo 1986, 43) in die Kategorie des Subjektes hat. Nach dem hermeneutisch begründeten »Verzicht auf den als Einheit verstandenen Subjektbegriff« (Vattimo 1986, 61) wird der Mensch von Vattimo stattdessen als der verstanden, der sich ständig neu der Übersetzungs- und Interpretationsarbeit seines Daseins stellen muss.
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»Die Schwierigkeiten des postmodernen Denkens zeigen, dass man den Platz, den früher die ›Metaerzählungen‹ und Geschichtsphilosophie einnahmen, nicht einfach leer lassen kann. Das wäre so, als ob man eine Trauer nicht verarbeitet und sie in ihrer unmittelbaren Gestalt auf sich lasten lässt, in Gestalt des Verlustes, auf den man nur mit Verzweiflung reagiert; oder als ob man sich von einem Vorurteil leiten ließe, ohne es hermeneutisch zu hinterfragen. Habermas reagiert, indem er die Trauerarbeit verweigert, und zu einer ›Metaerzählung‹ der Vergangenheit zurückkehrt, zur Illusion, es sei möglich, die Geschichtsmetaphysik wiederaufleben zu lassen. Man kann diese impasses vermeiden, wenn man sich auf eine paradoxe Geschichtsphilosophie einlässt: das Ende der (Philosophie der) Geschichte« (Vattimo 2003a, 126 f.).
Vattimo will sich von den Denkern der Moderne absetzen und mit der These vom Ende der Philosophie der Geschichte jede Form einer geschichtlichen Rückversicherung auflösen. Im Ende des Theorems der großen Erzählungen drückt sich seiner Ansicht nach vielmehr die Grundlosigkeit des Denkens überhaupt aus, die keine geschichtlich begründete Versöhnung von Differenz und Identität mehr anzielt, sondern sich der Differenz radikal stellt. »Im Babel des spätmodernen Pluralismus und des Endes der Metaerzählungen vervielfältigen sich die Erzählungen ohne Zentrum und ohne Hierarchie. Keine leitende Metaerzählung, keine normative Metasprache ist in der Lage, sie zu legitimieren oder zu deligitimieren« (Vattimo 2004c, 27).
Diese Auflösung der Metaerzählungen bezeichnet Vattimo als postmodernen Nihilismus, womit die Tatsache gemeint ist, »dass das Sein und die Wirklichkeit Setzung und Produkt des Menschen sind« (Vattimo 1997a, 21). Seine Philosophie versteht sich als ein Leitfaden, »den wir brauchen, um innerhalb des Prozesses zu bleiben, das heißt um Interpreten zu bleiben und nicht zu angeblich neutralen ›Aufzeichnern‹ objektiver Tatsachen zu werden« (Vattimo 2004a, 21). Damit schließt Vattimo an die hermeneutische Tradition von Heidegger und Gadamer an und betont die unendliche Offenheit der Interpretationen im geschichtlichen Prozess. Im Zentrum seiner Philosophie steht deshalb das Zeitalter der Interpretation (Vattimo 2006), in dem das Sein nur noch als Geschehen interpretierbar ist. »Das Dasein ist nicht nur da und hat eine Welt aufgrund seiner Geworfenheit; diese Geworfenheit ist aber nicht die Abhängigkeit von einer Vernunftstruktur, sondern das radikal geschichtliche Bestimmtsein all der Entwürfe des Verstehens und der Interpretation von Welt« (Vattimo 1986, 138). A
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Philosophie als Hermeneutik folgt damit dem gadamerschen Diktum des Seins, das als Sprache verstanden werden kann (vgl. Gadamer 1972, 450; Vattimo 2001c). Gleichzeitig radikalisiert Vattimo diesen Gedanken, indem er Hermeneutik nicht nur als eine Methode der Philosophie neben anderen deutet, sondern er die hermeneutische Interpretation zur einzig möglichen und sinnvollen Form der Begegnung mit dem Sein erhebt. »The matter of interpretation is now configured in this way: interpretation is the idea that knowledge is not the pure, uninterested reflection of the real, but the interested approach to the world, which is itself historically mutable and culturally conditioned« (Vattimo 2007, 31).
Die hermeneutisch begründete Kritik an traditioneller Metaphysik bezeichnet Vattimo als schwaches Denken, das sich als eine Befreiung von den großen geschichtlichen Erzählungen – sei es Historismus, Marxismus oder Existenzialismus – versteht. Das schwache Denken zeigt sich als eine philosophisch begründete Haltung des Widerstands und der Verantwortung, die sich an der Aktualität des Daseins orientiert. Mit Autoren wie Hannah Arendt, Michel Foucault oder Derrida will das schwache Denken Widerstand gegen ein Verständnis von Wahrheit als Entsprechung von Denken und Sein leisten, die Vielfalt der Erscheinungen bzw. mannigfachen Erzählungen betonen und damit das Zeitalter der Interpretation einläuten. Vattimo plädiert damit für eine »wahrhaftige ›Ontologie der Aktualität‹, eine Philosophie der Spätmoderne, in der sich die Welt tatsächlich und immer umfassender in ein Spiel von Interpretationen auflöst« (Vattimo 2001c, 60). 170 Diese Kritik an der Metaphysik hat »in erster Linie nicht theoretische, sondern ethisch-politische Grundlagen« (Vattimo 1997a, 22), was Vattimo immer wieder hervorhebt. Die ethische Grundannahme des schwachen Denkens steht »im Zeichen der pietas gegenüber dem Lebendigen und seinen Spuren und weniger im Zeichen der Werte ›realisierenden Tat‹« (Vattimo 1986, 11). Vattimos Ethikkonzeption setzt sich damit von anderen Ansätzen der Moderne (beispielsweise von Rawls oder Habermas) deutlich ab. Hinsichtlich der Diskursethik spielt
170 Ein Band, der sich dem schwachen Denken bei Vattimo widmet, und die skizzierte Metaphysikkritik vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Philosophiegeschichte plausibilisiert, wurde von Santiago Zabala unter dem Titel Weakening philosophy. Essays in honour of Gianni Vattimo (Zabala 2007) herausgegeben.
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dabei das zugrundeliegende Verständnis von Kommunikation und Interpretation eine wichtige Rolle, denn das Ideal einer transparenten Kommunikationsgemeinschaft steht letztlich gegen das, was die Interpretation ausmacht: die notwendige und unhintergehbare Mehrdeutigkeit von Äußerungen und ihre mannigfaltigen Auslegungen (vgl. Vattimo 1997b, 56 f.). Innerhalb der Ethik des schwachen Denkens nehmen drei Tugenden eine zentrale Position ein, und zwar die Tugend der pietas, caritas und curiositas. Die Tugend der pietas zielt auf die Ehrfurcht vor dem Nächsten und Anderen. Sie ist damit eine notwendige Voraussetzung für das Mitleid mit den Schwachen und fordert Respekt vor den individuellen Geschichten der Menschen (Vattimo 2003a, 123 f.). Die Tugend der caritas wiederum ist das grundlegende methodische Prinzip der Hermeneutik, verstanden als wohlwollende Auslegung und Hoffnung auf Verständigung statt objektiver Erkenntnis. Caritas zielt damit im Sinne Derridas auf unbedingte Gastfreundschaft, d. h., sie fordert den tugendhaften Menschen dazu auf, »sich fast völlig darauf zu beschränken, zuzuhören und den Gästen das Wort zu lassen« (Vattimo 2004c, 139). 171 Die Tugend der curiositas schlussendlich meint die Grundhaltung der Offenheit und Neugier jedes Einzelnen, die eine notwendige Bedingung für eine unvoreingenommene Begegnung mit dem Fremden ist. Auf der Basis dieser drei ethischen Tugenden skizziert Vattimo sein Verständnis von Politik, das sich an seine postmoderne Metaphysikkritik anschließt. Metaphysik, so argumentiert Vattimo in diesem Zusammenhang zuerst, neige zu gewalttätigem Denken, weil es die Einheit gegenüber dem freien Spiel der Differenzen zu stark betone und keinen Freiraum für das Geschehen der Interpretation eröffne (vgl. Vattimo 1997b, 53). Wegen dieser grundlegenden Beziehung zwischen Metaphysik und Gewalt will Vattimo das schwache Denken von der Tradition der Metaphysik lösen. Politik ist für ihn im Zuge dessen keine Technik des Gestaltens oder Festlegens der politischen Gemeinschaft auf eine bestimmte gesellschaftliche Form, sondern ein beziehungshaftes Ereignis. Vattimo versteht schwaches Denken deshalb als 171 Die Tugenden der caritas und pietas haben in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten mit der rortyschen Hoffnung auf Solidarität. Die habermassche Interpretation von Wahrheit als Konsens wiederum deutet Vattimo ebenfalls als ein Beispiel für die Tugend der caritas (Vattimo 2004c, 115).
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eine philosophische Kritik an der modernen Utopie einer wissenschaftlich angeleiteten Politik, die sich am Ideal des Machens orientiert und damit dem beziehungshaften Geschehen der Gemeinschaft zu wenig Raum gibt. »Das ist keine Philosophie, die sich unmittelbar und direkt in politische Entscheidungen umsetzen will. (…) Auch lehnt ein schwacher Denker Gewalt als Methode des politischen Kampfes ab. Vor allem aber versucht er die Geschichte und den Fortschritt nicht mehr unter dem Zeichen des Aufstiegs, des quantitativen Wachstums der Güter und Objekte zu denken« (Vattimo 1988, 5).
Vattimos Ansicht nach gibt es keinen rationalistischen Königsweg zur politischen Verwirklichung der drei Tugenden und auch keine ideale Gerechtigkeitskonzeption, die Grundlage oder gar Begründung einer solchen politischen Technik sein könnte. Dagegen bleibt dem schwachen Denken nichts anderes übrig, als der Politik die Vorstellung der Heterotopie an die Hand zu geben, die sich weniger als eine technische denn als eine ästhetische Utopie zeigt. Eine solche ästhetische Utopie »kann nur als Entfaltung von Heterotopie erfolgen. Wir erleben die Erfahrung des Schönen als ein Wiedererkennen von Modellen, die Welt und Gemeinschaft nur dann erzeugen, wenn sich diese Welten und diese Gemeinschaften ausdrücklich als vielfältige darstellen« (Vattimo 1992, 94).
3.6.2. Religion als Ursprung des schwachen Denkens 3.6.2.1. Nähe von Hermeneutik und Religion und die kénosis Auf den ersten Blick ist Vattimos Ansicht nach die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Religion in einem gestiegenen »Bedürfnis nach Identität« (Vattimo 2004c, 119) und Moralressourcen begründet. »In sum, we see in our social and political life the renewed authority of the world religions, a renewal that has its basis in the actual importance of religion in bringing down communism, and in the emergence of broadly defined ›apocalyptic‹ issues, such as those linked to fundamental resources for life – genetic manipulation and so on« (Vattimo 2003b, 31).
Auf den zweiten Blick stellt sich die Wiederkehr der Religion für Vattimo allerdings anders dar. Sie ist auch und vor allem darin begründet, dass die Moderne an ein grundlegendes Ende gekommen ist und sich 276
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das hermeneutisch schwache Denken mehr und mehr durchsetzt. Weil Religion in ihren Grundlagen eng mit der Hermeneutik verbunden ist und deshalb Ausdruck des schwachen Denkens ist, nimmt heute auch ihre gesellschaftliche Bedeutung wieder zu, so die Kernthese seiner Argumentation. Historisch betrachtet sind »Heilsgeschichte und Interpretationsgeschichte« eng »miteinander verbunden« (Vattimo 1997a, 48) und letztlich basiert das postmoderne Verständnis der Philosophie als Hermeneutik auf der Religion, und zwar dem Christentum. Vattimo geht sogar so weit zu behaupten, »dass der post-moderne Nihilismus die aktuelle Wahrheit des Christentums darstellt« (Vattimo 2004a, 22). Die hermeneutische Kritik an der traditionellen Metaphysik und die Einsicht, dass es keine objektive Realität gibt, verdankt die Philosophie dem Christentum. Hermeneutik, so formuliert Vattimo paradigmatisch, ist im Grunde »Entwicklung und Ausreifung der christlichen Botschaft« (Vattimo 2006, 53). Was aber ist das Spezifikum des Christentums, das die Grundlage der postmodernen Hermeneutik bildet? Zweierlei hebt Vattimo diesbezüglich besonders hervor: Zum einen besteht die Besonderheit des Christentums in der Betonung der Innerlichkeit; »mit dem Christentum kam das Prinzip der Innerlichkeit in die Welt, was zur Folge hatte, dass die ›objektive‹ Wirklichkeit nach und nach ihre bestimmende Schwere verloren hat« (Vattimo 2004a, 21). Die existenzielle Analytik des Daseins bei Heidegger wäre ohne diesen religionsphilosophischen Gedanken der Innerlichkeit und der subjektiven Erschließung des Seins als Dasein nicht denkbar. Diese Verbindung von »Innerlichkeit, Wille, Gewissheit des cogito« (Vattimo 2002, 224) hatte das Christentum in die Welt gebracht und komme in Heideggers Philosophie prägnant zum Ausdruck, so Vattimo. Das Spezifikum des Christentums besteht zum anderen darin, dass Gott sich geschwächt hat, Mensch geworden und als solcher gestorben ist. Christus ist damit symbolischer Ausdruck für den schwachen und scheiternden Gott am Kreuz: Gott hat sich erniedrigt, um die Menschen zu erlösen – ein theologischer Gedanke, der paradigmatisch im Philipper-Hymnus des Neuen Testaments ausgedrückt wird und auf den Vattimo sich an vielen Stellen bezieht. »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.
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Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹ – zur Ehre Gottes, des Vaters« (Phil. 2, 5–11).
In Vattimos Deutung taucht in diesem Hymnus der für das Christentum im Besonderen und die hermeneutische Philosophie im Allgemeinen zentrale Gedanke der kénosis auf. »Die Menschwerdung, d. h. die Herablassung Gottes auf die Ebene des Menschen, das, was das Neue Testament die kénosis Gottes nennt, ist dann als Zeichen dafür zu interpretieren, dass der nicht-gewaltsame und nicht-absolute Gott der post-metaphysischen Epoche dadurch gekennzeichnet ist, zur selben Schwächung, von der die von Heidegger inspirierte Philosophie spricht, bestimmt zu sein« (Vattimo 1997a, 34). 172
Gott hat also Vattimo folgend in der Menschwerdung das Sein ›durchbrochen‹ und das Ende absoluter Gewissheiten eingeläutet. Die primäre Botschaft des Evangeliums liegt in »der Auflösung jedweder objektivistischen Ansprüche« (Vattimo 2004a, 24). Nach dem Ende der objektiven Erkenntnisgewissheiten haben Menschen Freiheit zurückgewonnen, denn erst dadurch ist ihnen (religiös gesprochen) der Weg zum Glauben möglich geworden (vgl. Deibl 2013). Paradigmatisch drückt sich diese Kritik an einem traditionellen Wirklichkeitsverständnis bei Paulus aus, und zwar in der Bibelstelle »Tod, wo ist dein Stachel!« (1 Kor. 15,55). In diesem Vers zeigt sich für Vattimo die Umkehrung des Wirklichkeitsverständnisses im Sinne 172 In diesem Gedanken der kénosis findet sich implizit ein Hinweis auf Hans Jonas und dessen religionsphilosophisches Denken über den schwachen Gott nach Auschwitz (vgl. Jonas 1984) Auf diesen Bezug zu Jonas macht Michael Hofer aufmerksam (vgl. Hofer 2001, 181 f.). Jonas betont, dass nach Auschwitz komplementär zum sorgenden Gott der leidende Gott in das Zentrum der Religionsphilosophie gestellt werden solle. »Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grunde verstehbar sein sollte (…), dann muss sein Gottsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist« (Jonas 1984, 39). Diese Integration des Leidens in die Gottesfigur deutet Jonas nicht als eine Schwächung, sondern als eine reflexiv höhere Form des Nachdenkens über Gott. »Die immer größere Schärfung von Trieb und Angst, Lust und Schmerz, Triumph und Entbehrung, Liebe und selbst Grausamkeit – das Durchdringen ihrer Intensität an sich – (…) ist ein Gewinn des göttlichen Subjekts und ihr zahllos wiederholendes, doch nie sich abstumpfendes Durchleben (…) liefert die geläuterte Existenz, aus der die Gottheit sich neu erbaut« (Jonas 1984, 21).
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einer »Verneinung des Realitätsprinzips« (Vattimo 2006, 57). Die scheinbar klar geordnete Wirklichkeit menschlichen Lebens wird durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi durchbrochen, und damit werden die Grundprinzipien der Metaphysik selbst in Frage gestellt. So wird beispielsweise das Nichtwiderspruchsprinzip als Basis metaphysischer Reflexion durch die Auferstehung aufgehoben, weil ein Mensch nicht zu gleich Gott sein kann. Die Wahrheit des Christentums, so schlussfolgert Vattimo, bestehe deshalb in der »Auflösung der Idee der (metaphysischen) Wahrheit selbst« (Vattimo 2004a, 27). Es gibt deshalb für Vattimo (wie für Rorty oder Habermas) keine wahren Aussagen über Gott im Sinne der traditionellen Metaphysik (vgl. Vattimo 2008, 203 f.). »Von einem kenotischen bzw. ›relativistischen‹ Gott zu sprechen, bedeutet zur Kenntnis zu nehmen, dass die Epoche der Bibel als Depositum an wahrem, weil durch göttliche Autorität garantiertem, ›Wissen‹ endgültig vorbei ist. Dies ist durchaus kein Übel (…), sondern Teil der Heilsgeschichte selbst« (Vattimo 2008a, 202).
Diese Einsicht will Vattimo allerdings nicht als einen kierkegaardschen Sprung in den Glauben verstanden wissen, sondern es können mittels der hermeneutischen Vernunft Gründe für diese Einsicht angeführt werden, die nicht als irrational abgetan werden dürfen. Auch sind Gedankenfiguren, die das Verhältnis von Wissen und Glauben als einen Sprung konzeptualisieren (wie beispielsweise die Pascalsche Wette), für ihn wenig überzeugend, weil sie mit einem rationalistischen, d. h. unhermeneutischen Wissensverständnis operieren. Für Vattimo macht es vom Standpunkt der Hermeneutik aus keinen »Sinn, Glauben und Vernunft einander so scharf entgegenzusetzen« (Vattimo 1997a, 99; vgl. auch Guarino 2009, 144 ff.). Das hermeneutisch-geschichtliche Wissen der Religion wird vielmehr in religiösen Symbolen, Riten und vor allem den heiligen Texten und ihren Interpretationen tradiert. Diese könnten eine je eigene Vernünftigkeit für sich in Anspruch nehmen, was allerdings nicht im Sinne eines erkenntnistheoretischen Realismus oder Objektivismus gedeutet werden dürfe, so Vattimo weiter. »Es ist kein Skandal zu sagen, dass wir nicht deshalb an das Evangelium glauben, weil wir wissen, dass Christus auferstanden ist, sondern dass wir an Christi Auferstehung glauben, weil wir von ihr im Evangelium lesen. Eine derartige Umkehrung ist unerlässlich, um nicht dem verderblichen Realismus anheimzufallen, dem Objektivismus und seinem Korollar, dem Autoritarismus, der die Geschichte der Kirche geprägt hat« (Vattimo 2006, 56). A
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Hermeneutische Philosophie des schwachen Denkens konnte sich historisch betrachtet also nur aufgrund der Botschaft des Christentums entwickeln, so die Pointe des Nachdenkens von Vattimo über Religion. In dieser Hinsicht sind auch die Philosophen, die Vattimos Ansicht nach die Grundlagen der Postmoderne bilden, letztlich zutiefst durch das religiöse Erbe geprägt. Nietzsche oder Heidegger sind ohne die Religion als Horizont ihres Denkens nicht zu verstehen, denn sie sprechen »vor allem aus der biblischen Tradition heraus« (Vattimo 2006, 52). Offensichtlich zeigt sich dieses christliche Erbe auch bei dem scheinbar unreligiösen Nietzsche, denn, so argumentiert Vattimo, »der von Nietzsche ausgerufene Tod Gottes [entspricht] in vielerlei Hinsicht dem Tod Christi am Kreuz (…), von dem die Evangelien erzählen« (Vattimo 2006, 53). 173 Die Pointe der Kritik von Nietzsche an der Religion besteht darin, dass diese an metaphysischen Annahmen festhält, die für Vattimo nicht ihren eigenen religionsphilosophischen Grundlagen entsprechen. »Der Tod des ›moralischen‹ Gottes bedeutet das Ende der Möglichkeit, die Wahrheit der Freundschaft vorzuziehen und zwar deshalb, weil dieser Tod bedeutet, dass es keine ›objektive‹, ontologische usw. Wahrheit gibt, die sich anmaßen könnte, mehr zu sein als der einfache Ausdruck einer Freundschaft, eines Willens zur Macht einer subjektiven Bindung« (Vattimo 2002, 220).
Der Nihilismus Nietzsches läutet also das Ende der europäischen Metaphysik ein und macht damit erst den Weg für eine hermeneutische Philosophie frei, die sich wieder mit dem ursprünglichen Geschehen von Religion beschäftigen kann. Diesen Schritt konnte Nietzsche selbst allerdings noch nicht vollziehen, weshalb er letztlich Gefangener »eines vergegenständlichenden Denkens« (Deibl 2008, 82) bleibt, vor al173 Bei Heidegger wiederum ist es das Verständnis des Daseins als Ereignis, in dem sich der jüdisch-christliche Hintergrund seiner Metaphysikkritik ausdrückt (vgl. Vattimo 2008a, 30 f.). In dieselbe Richtung geht Vattimos Interpretation von Heideggers Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion (vgl. Heidegger 1920–1921/ 1995), die er in dem Aufsatz Os mé. Zur Haltung des ›als ob nicht‹ bei Paulus und Heidegger vorlegt (Vattimo 2001b). Vattimo sieht in den dortigen Überlegungen Heideggers einen Hinweis darauf, »wie das Bemühen der Philosophie um Überwindung des metaphysischen Objektivismus einerseits und die Suche nach einer neuen Sichtweise des Christentums andererseits auf eine positive und fruchtbare Weise miteinander in Zusammenhang zu bringen seien; einer Sichtweise des Christentums, die auf der Ebene der Dogmen wie auf der Ebene der Ethik endlich in der Lage wäre, den eigentlichen ökumenischen Sinn auch und vor allem als Hören des Seins in der neuen – postmodernen – Epoche zu denken« (Vattimo 2001b, 182).
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lem, weil er die antimetaphysische Stoßrichtung der biblischen Botschaft nicht vollständig erkannt hat. Dieser Schritt kann nach Vattimo erst im Zeitalter der Postmoderne wirklich vollzogen und so die Bedeutung der Religion angemessen thematisiert werden. Dabei zeigt sich das Christentum als theoretische Voraussetzung dafür, dass die traditionelle Metaphysik erst durch die kantische Erkenntnistheorie und dann durch die von Nietzsche und Heidegger geformte Hermeneutik ersetzt werden konnte. 3.6.2.2. Hermeneutisches Erbe der jüdischen Religionstheorie Die Konzeption des hermeneutischen bzw. schwachen Denkens hat einige gravierende Konsequenzen für das Gottesverständnis, wie die Überlegungen zur Christusfigur bereits gezeigt haben. Diese religionsphilosophischen Schlussfolgerungen sollen im Folgenden explizit in den Blick genommen werden. Gott kann in der Sichtweise von Vattimo nicht mehr als höchstes Seiendes verstanden oder im Sinne der scholastischen Theologie bewiesen werden. Gott ist nicht mehr länger die höchste Summe aller metaphysischen Qualitäten oder jenes Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, sondern Gott, der sich in der kénosis erniedrigt, ist derjenige, der das schwache Denken ermöglicht. Gott ist für Vattimo dabei ein Geheimnis, weil er scheinbare Widersprüche in sich vereinen kann. Diese religionsphilosophische Position schließt auf den ersten Blick an die jüdische Tradition und deren Interpretation Gottes als Jahwe Elohim an, wie sie sich auch im Ansatz von Derrida widerspiegelen. Gott wird aus dieser Perspektive als radikale Transzendenz gedacht, als der Andere, der innere Widersprüche in sich integriert und nicht als der metaphysisch begründete Ankerpunkt des Seins konzeptualisiert werden kann. Um zu klären, inwieweit Vattimo tatsächlich an diese jüdische Tradition anschließt, ist zuerst ein Blick auf die Arbeiten von Lévinas zur Religion hilfreich, auf den Vattimo teils explizit, teils implizit Bezug nimmt und der damit auch in gewisser Weise als Bindeglied zwischen den Überlegungen von Vattimo und Derrida fungiert (vgl. Kap. 3.5.2.3.). Die religionsphilosophische Konzeption von Lévinas steht in der jüdsichen Tradition, die Gott als den radikal Anderen denkt (vgl. exemplarisch Lévinas 1986). Lévinas thematisiert diese Andersheit in einem ethischen Sinne als die einfallende Andersheit im Antlitz jedes beliebigen Menschen. Religion wird damit zwar nicht auf den BeA
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reich des Ethischen beschränkt, aber in diesem zeigt sich in besonderer Weise das Absolute, und zwar in der Begegnung mit dem Anderen. Vattimo greift diesen Gedanken auf und will insofern über Lévinas hinausgehen, als dieser »nur die Endlichkeit und Kreatürlichkeit des eigenen Daseinsbewußtseins unterstreicht« (Gadamer 2001, 249). Vattimo will demgegenüber mit seiner Interpretation der kénosis einen weitreichenderen Transzendenzbegriff entwickeln. Dabei setzt er sich von der jüdischen Tradition der Deutung Gottes als der radikalen Andersheit ab, insofern in der kénosis eine Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz vollzogen wird, welche die radikale Andersheit der Transzendenz durch die Menschwerdung Gottes zurücknimmt. Vattimo betont deshalb selbst den Unterschied zu den Denkern, die Gott, in der jüdischen Tradition stehend, als den Anderen verstehen, denn damit würde Religion letztlich auf dem Boden der traditionellen Metaphysik als eine sicherheitsstiftende Letztbegründung konzeptualisiert, die er gerade kritisiert. »Kurz: der ganz andere Gott, von dem so viele Richtungen der heutigen religiösen Philosophie sprechen, ist immer noch der alte Gott der Metaphysik, zumindest in dem Sinne, dass er als eine Letztbegründung aufgefasst wird, die für unsere Vernunft (bis zu dem Punkt, dass sie ihr absurd erscheint) unzugänglich, aber grade deshalb in ihrer höchsten Unveränderlichkeit und Endgültigkeit garantiert – das heißt, mit dem Kennzeichen des platonischen ontos on versehen – ist« (Vattimo 2004c, 57).
Diese Kritik bezieht Vattimo auch explizit auf Derrida (vgl. Vattimo 2004c, 56), denn wenn dieser in der jüdischen Tradition stehend die Negativität und Unaussprechbarkeit Gottes betont, so konzeptualisiert er gerade damit den Gottesbegriff auf einer ontologischen Ebene und vermag deshalb die Geschichtlichkeit des Menschen und der Religion nicht radikal genug zu denken. Vattimo will im Gegensatz dazu Gott nicht als den Anderen zum Thema machen, sondern als den konkreten geschichtlichen Ort des schwachen Denkens. 174 174 Der Unterschied zwischen Derrida und Vattimo zeigt sich auch an ihren Interpretationen des Messianismus. Während Derridas Konzeption auf einen Messianismus ohne Messias abzielt, zeigt sich nach Vattimo die Bedeutung des Christentums erst in der konkreten Gestalt des Messias, der zur Grundlage des schwachen Denkens geworden ist. »Whereas Lévinas’ ›relation to others‹ as justice remains focused on the ethical dyad, Derrida’s ›ex-position‹ opens out on to the messianic itself. Vattimo cannot be pleased, however, as Derrida’s ›messianic without messianism‹ cannot eventuate in the actual arrival of a real Messiah whose kénosis we could then posit as the ›founding‹ impetus
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»Derrida is still too metaphysical for Vattimo, since he sees the ›différance‹ as something that is in some sense beyond us, in a sort of negative theology. (…) [Vattimo] showed that Derrida has remained an existentialist philosopher because he does not have a philosophical ›philosophy of history‹. (…) For Derrida there is always a vertical relationship with God but not a horizontal one, since he is Jewish and not Christian. The Messiah for Derrida has not only still to come but has also to be something completely ›different‹, radicals ›different‹« (Zabala 2007, 20). 175
Im aktuellen philosophischen Diskurs über Religion nimmt nach Ansicht von Vattimo allerdings die jüdische Tradition des Nachdenkens über Gott einen deutlich größeren Raum ein, was sich unter anderem anhand von Derrida belegen lässt. »Vattimo accuses (…) Derrida of embracing a ›wholly other‹ God who has undergone no kénosis, thus adhering to an Old Testament model. This God has – also paradoxically – regained traditional metaphysical status in their thought because God remains the ultimate in stable unchangeability given our rational inability to attain to a God who is by definition conceptually unreachable« (Baird 2007, 423).
Es gibt daher »eine gewisse Vorherrschaft der jüdischen Religion bei der Wiederkehr der Religion im Gegenwartsdenken« (Vattimo 1997a, 95), was vor allem daran liegt, dass sich das Christentum bei der Explikation und Interpretation der kénosis enorm schwertut und oftmals in traditionelle Metaphysik und damit in starkes Denken zurückfällt. Das Christentum erfasst die Verkündigung der kénosis bislang »nicht in of the West’s cultural progression toward secularization. (…) [Derrida does] not ignore incarnation but rather deflect and displace it in an at least twofold manner: away from God and onto the ethical subject on the one hand, and outside of a material realization in the real time of history on the other. One may agree with Vattimo that such treatments of incarnation are deeply insufficient from the perspective of Christianity’s event of the Incarnation in all its unrepeatable singularity, but it is inaccurate to claim that they ignore incarnation altogether, as Vattimo clearly does« (Baird 2007, 430 ff.). 175 Dieser Ansatz ist letztlich eine Anfrage, die auch Heideggers Nachdenken über Religion betrifft. Dieser, so könnte man von Vattimo aus formulieren, stellt sich trotz der Betonung der Geschichtlichkeit des Seins in letzter Konsequenz nicht der Geschichtlichkeit der Religion, die für Vattimo ein notwendiges Element der Religion ist. Vattimo will in Absetzung von Heidegger die konkrete Form des Christentums in ihrer geschichtlichen Bedeutung für das hermeneutische Denken explizit thematisieren. Er weicht daher von Heidegger ab, indem »er die jüdisch-christliche Tradition – und das heißt die konkrete Geschichte, in welcher sich sein und auch Heideggers Denken generieren konnte, wesentlich stärker macht, als es Heideggers Mystik tut« (Deibl 2008, 128). A
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ihrer vollen Bedeutung und kehrt zwangsläufig zu einer Gottesvorstellung zurück, die alle Züge des metaphysischen Gottes – als des ›letzten‹, endgültigen, unübersteigbaren Grundes – trägt« (Vattimo 1997a, 95 f.). 3.6.2.3. Religion und Moral Religion betritt heute in nicht wenigen europäischen Gesellschaften dann die Bühne des öffentlichen Diskurses, wenn es um strittige moralische Fragen geht. Die Diskussionen über bioethische Themen, die in vielen Gesellschaften enorm emotional geführt werden, sind paradigmatische Beispiele hierfür. Religionen (beispielsweise christliche Kirchen) spielen dabei eine wichtige Rolle, vor allem als Vertreter traditioneller Werte. 176 Vattimo ist vor dem Hintergrund seines hermeneutischen Ansatzes skeptisch gegenüber einer solchen autoritär ausgerichteten ›Hüterschaft‹ von metaphysisch begründbaren Werten und stellt demgegenüber einen anderen ethischen Imperativ, und zwar das christliche Liebesgebot, das der Apostel Paulus im Korinther-Brief formuliert. Diese christliche Tradition der Ethik, die »im schwachen Denken wiederkehrt, ist auch und vor allem Erbe des christlichen Liebesgebots und der Ablehnung der Gewalt« (Vattimo 1997a, 40). Wahrheit bedeutet im Christentum für Vattimo die Ablehnung eines objektiven Zugangs zur Wirklichkeit und gleichzeitig einen moralischen Appell zur Nächstenliebe, die sich in der Gedankenfigur der caritas manifestiert. »Vielmehr besteht die einzige Wahrheit, die uns die Schrift offenbart, in der Wahrheit der Liebe und der caritas, die keiner Entmythologisierung unterzogen werden kann, da es sich bei ihr nicht um eine logische oder metaphysische Aussage, sondern um einen praktischen Appell handelt« (Vattimo 2004a, 26).
Dieser ethischen Grundhaltung sollte Vattimo zufolge ein zentraler Stellenwert zukommen – sowohl innerhalb der normativen Forderungen der Religion als auch innerhalb des philosophischen Diskurses insgesamt. Die Tugend der caritas fungiert dabei in Vattimos Argumentation als ein übergreifender Sinnhorizont, ohne ein letztbegründendes 176 Darin sieht Vattimo insbesondere ein Problem der katholischen Kirche. Problematisch ist für ihn vor allem die Engführung auf einige wenige normative Prinzipien. Für ihn ist evident, dass für viele Menschen heute »das Problem der religiösen Praxis nicht so sehr in der rationalen Unannehmbarkeit der christlichen Dogmen [besteht], sondern in der Ablehnung der von der Kirche gepredigten Ethik« (Vattimo 1997a, 77).
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Prinzip zu sein. Gewaltlosigkeit und Freundschaft sind die beiden zentralen Merkmale der caritas Gottes, die in der kénosis besonders zum Ausdruck kommen. »Now, violence occurs in all human relations and institutions, including friendship and the church. Vattimo apparently sees in friendship a violence free zone. This image of friendship is then projected onto the image of God. The love of God is love as friendship; He is called friend« (Vossmann 2000, 417).
Der ständig fortlaufende Prozess der Interpretation, den das schwache Denken intendiert, »ist vielleicht nur dadurch begründet, dass die Liebe als ›letzter‹ Sinn der Offenbarung keine wahre Letztheit« (Vattimo 1997a, 69) impliziert und deswegen immer weitere Interpretationen als geschichtliche Ereignisse zur Folge hat. Viele nachmetaphysische Philosophen wie beispielsweise Habermas, Lévinas oder Rorty haben deshalb die Idee der (Nächsten-)Liebe zumindest indirekt aufgegriffen. Dabei kann Freundschaft »erst dann zum Prinzip der Wahrheit werden, wenn das Denken alle Anmaßungen fahren lässt, eine objektive, universelle und apodiktische Begründung geben zu können« (Vattimo 2002, 227). Es ist in den Augen von Vattimo wiederum das Verdienst von Nietzsche und Heidegger, diese Einsicht in die Philosophie eingeführt zu haben, denn erst mit ihnen wurde die philosophische Grundlage geschaffen, um die Ideen der Freundschaft und caritas in anderen Theorien entfalten zu können. In der Theorie des kommunikativen Handelns beispielsweise führt dies dazu, dass »die Wahrheit eher als Konsens – aber wir können auch sagen, als caritas – denn als ›Objektivität‹« (Vattimo 2004c, 115) aufgefasst wird. An dieser Stelle zeigt sich eine gewisse Nähe des postmodernen Religionsverständnisses von Vattimo zur pragmatistischen Wahrheitstheorie, wie sie von Rorty vertreten wird. Denn auch dieser hatte neben die radikale Kritik metaphysisch begründeter Wahrheitstheorien den (der caritas ähnlichen) Imperativ zur Solidarität gestellt, auch wenn Rorty beides nicht in der Religion begründet wissen will. Allerdings betont Vattimo gegenüber Rorty, dass die in der christlichen Religionsgeschichte verwurzelte Skepsis gegenüber überzogenen Wahrheitsansprüchen und das in ihr verankerte Gebot der caritas mehr als die bloße »Vorliebe für eine bestimmte Weltsicht« (Vattimo 2004a, 28) ist, und zwar die philosophische Grundlage der hermeneutischen VerA
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nunft selbst. Sobald Menschen diese Geschichte ernst nehmen und sie auszulegen beginnen, stellen sie fest, dass sie sich »nicht außerhalb der durch Christi Verkündigung eröffneten Tradition ansiedeln können« (Vattimo 2006, 62). »Wir können nicht anders als uns Christen zu nennen, weil in der Welt, in der Gott tot ist, das heißt in der Welt, in der sich die Metaerzählungen aufgelöst haben und mit ihnen glücklicherweise jegliche Autorität, auch die des angeblich ›objektiven‹ Wissens, unsere einzige Überlebenschance als Menschen im christlichen Gebot der caritas beschlossen liegt« (Vattimo 2004a, 31).
Vattimo schlägt also als Alternative zum Pragmatismus von Rorty vor, die christliche Herkunft der europäischen Kultur als solche anzunehmen, ihr eine zentrale Rolle im Rahmen der Interpretation von Gesellschaft zuzugestehen und damit einen hermeneutischen Zugang zum Liebesgebot zu eröffnen. 3.6.2.4. Säkularisierung und die Wiederkehr der Religion Mit der Säkularisierung der letzten zwei Jahrhunderte in der westlichen Hemisphäre hat sich scheinbar eine radikale Trennung von Religion und säkularer Welt vollzogen. Die skizzierte Deutung der Religion von Vattimo zeigt allerdings, dass diese These nur bedingt zutrifft und stattdessen Säkularisierung und Religion (gemeint ist: das Christentum) in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. »Vattimos provokante These lautet, dass jener Übergang zur Post- oder Spätmoderne spätes Echo der subversiven biblischen Botschaft von Geschichte als Heilsgeschichte, von Heilsgeschichte als Säkularisierung und Entmystifizierung starker Strukturen, von Erlösung und Offenbarung als kénosis ist« (Deibl 2008, 53).
Säkularisierung ist deshalb für Vattimo keine Schwächung der Religion, sondern – verstanden als hermeneutische Säkularisierung – die Radikalisierung der antiautoritären Botschaft des Christentums. 177 Die Lehre von der Inkarnation (›Gott schwächt sich für die Menschheit durch Christus‹) deutet Vattimo als Abwehr gegenüber erstarrten Deutungsstrukturen eines metaphysischen Denkens. Demokratie, verstan177 In dieser Hinsicht zeigt sich deutlich eine positive Interpretation des Säkularisierungsprozesses. Vattimo »has an alternative reading of postmodernism that rests on a very different, more positive understanding of the modern processes of secularization« (Robbins 2007, 21).
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den als Toleranz gegenüber dem Fremden und weltoffener Pluralismus, interpretiert Vattimo infolgedessen als Verwirklichung der christlichen Wahrheit. Säkularisierung, die mit dem Bedeutungszuwachs des Liberalismus einherging, ist deshalb seiner Argumentation nach keine antireligiöse Entwicklung, sondern die eigentliche »Essenz des Christentums« (Vattimo 1997a, 49). Vattimo »interprets secularisation as the desecralisation of the world (…) and more specifically the desecration of the nature religions and the violence hidden in them« (Vossmann 2000, 412; vgl. Ebneter 2013). Dass sich Religionsgemeinschaften bzw. religiöse Bürger mit dieser Einsicht schwertun, diagnostiziert Vattimo im Kontext seiner Überlegungen zur Säkularisierung in verschiedenen Zusammenhängen. Allen voran ist das Christentum in seinen verschiedenen Spielarten Vattimo zufolge ängstlich gegenüber dieser Deutung der Säkularisierung. Es verfällt oftmals in eine anti-hermeneutische Grundhaltung, die sich an einer korrespondenztheoretischen Konzeption von Wahrheit oder Substanzontologie orientiert. Wenn Religionen diese Angst weiter schürten und sich dem Zeitalter der Interpretation nicht stellten, werde ihre gesellschaftliche Bedeutung weiter abnehmen, nicht zuletzt weil sie in einer pluralen Welt keine Gesprächspartner mehr fänden, so seine Schlussfolgerung. »Solange die Kirche die Gefangene ihrer ›natürlichen Metaphysik‹ und ihrer Buchstabentreue bleibt (nach welcher Gott zum Beispiel ›Vater‹ und nicht Mutter ist), wird es der Kirche nie gelingen, frei und geschwisterlich nicht nur mit den anderen christlichen Konfessionen, sondern vor allem mit den anderen großen Religionen der Welt in einen Dialog zu treten« (Vattimo 2004a, 24).
Wenn Religionen also nicht beginnen, ihre metaphysischen Annahmen einer Kritik zu unterziehen, wird dies erhebliche Auswirkungen auf den interreligiösen Dialog haben. Die Wiederkehr der Religion muss sich daher postmoderner Kritik stellen, »wenn sie die für sie konstitutive antimetaphysische Inspiration verrät« (Vattimo 2004c, 37) – beispielsweise wenn Religion nicht eine »buchstäbliche und autoritäre Interpretation der Bibel aufgibt« (Vattimo 2004c, 67). Eine weitere anti-hermeneutische Engführung der Religion ist die weltweit immer häufiger auftretende Betonung der Exklusivität der eigenen Religionsgemeinschaft. Nicht selten setzen heute religiöse Gemeinschaften dem durch den Eurozentrismus des modernen westlichen A
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Denkens »kompromittierten Universalismus Formen der Abschließung« entgegen, »die von verschiedenen Arten des Kommunitarismus (…) bis hin zu regelrechtem Fundamentalismus reichen, der nicht selten für gewaltsame Konsequenzen offen ist« (Vattimo 2004c, 134). 178 Damit verzichtet die Religion, und Vattimo denkt hier abermals vor allem an das Christentum, auf ihre »zivilisatorische Mission« (Vattimo 2004c, 134), die gerade darin besteht, schwaches Denken als wesentlichen Bestandteil der eigenen kulturellen Geschichte aufzufassen und caritas als Gastfreundschaft zu leben. 179 Wenn Religionen allerdings ihre exklusivistische und teils autoritäre Selbstauslegung aufgeben und ihre hermeneutische Botschaft anerkennen, werden sie weiterhin eine wichtige Rolle in postmodernen Gesellschaften spielen können (Vattimo 2004c, 13). Auf den ›Ruinen des alten Christentums‹ könnte dann nach Vattimo ein ›Post-Christentum‹ aufgebaut werden – gerade in Zeiten, in denen Menschen angesichts gravierender moralischer Konflikte und einem tiefen »Bedürfnis nach Identität« (Vattimo 2004c, 119) wieder die Frage nach der Religion stellen. Insbesondere das Christentum hat die Möglichkeit, in dem Wissen um die kénosis sowohl das hermeneutisch-schwache Denken als auch das Liebesgebot in die Diskussionen postmoderner Gesellschaften einzuspeisen. 180 178 In dieser Hinsicht deutet Vattimo auch die Tradition der natürlichen Theologie. Die natürliche Theologie sieht er »als Produkt einer menschlichen Projektion, die Allmachts- und Gewaltphantasien enthält: Man unterwirft sich dem Allmächtigen, um an seiner Macht Anteil zu haben und um sich andere Menschen zu unterwerfen« (Haeffner 1999, 678). 179 Die Herausbildung eines postmodernen Religionsverständnisses steht auch in einem engen Wechselverhältnis zu anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese können entweder Religionen helfen, einen postmodernen Glauben entlang der caritas und kénosis zu entwickeln, oder sie können auch das Gegenteil bewirken und die Öffnung der Religionen hin zu einem schwachen Denken massiv behindern (vgl. Vanheeswijck 2000, 369). »As external factors, the current political-social developments could very well favor a (return to a) ›threatening transcendence‹ – Vattimo refers to the political role of the present pope, and the increasing significance of religious hierarchies in the Islamic world – as much as it could inspire a different, postmodern form of belief« (Witt 2000, 396). 180 In eine ähnliche Richtung argumentiert Slavoj Z ˇ izˇek (vgl. Zˇizˇek 2000). In der Kreuzigung Jesu Christi kommt seiner Ansicht nach letztlich der ›Atheismus Gottes‹ zum Ausdruck. Dieser Begriff weist eine Ähnlichkeit zum kénosis-Gedanken von Vattimo auf, denn das Kreuz ist für Zˇizˇek ebenfalls Ausdruck der Ohnmacht Gottes. »Kurz, mit diesem ›Vater, warum hast du mich verlassen?‹ stirbt in Wirklichkeit Gottvater und
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Im aktuellen Diskurs über Religion vertreten allerdings einige Autoren die entgegengesetzte Position, und zwar die Ansicht, dass die Wiederkehr des Religiösen gerade ein Zeichen für eine Rückbindung an traditionelle metaphysische Einsichten angesichts der Postmoderne sei. Dort, wo die Philosophie im Anschluss an Autoren wie Nietzsche oder Heidegger die herkömmlichen Fundamente des Denkens ins Wanken gebracht habe, wolle die neue Aufmerksamkeit für Religion einen Weg eröffnen, diese Grundfesten wieder zu retten, so die Argumentation (vgl. Vattimo 2001a, 112). Vattimos Ansicht nach greift diese Deutung der Wiederkehr der Religion zu kurz, weil sie sich implizit gegen die notwendige Lösung philosophischen Denkens von der traditionellen Metaphysik stellt. 181 Religion ist keine Überwindung des Endes der Metaerzählungen und auch keine »Flucht und polemische Alternative« (Vattimo 2001a, 113), sondern eine sprachliche und
offenbart so seine absolute Ohnmacht« (Zˇizˇek 2003, 85). In der Ohnmacht Gottes zeigt sich, dass Gott in der Gestalt Jesu Christi nicht nur Todesangst durchlebt, sondern auch einen tiefen Zweifel. Sein Tod ist dabei letztlich vollkommen bedingungslos. »Das Opfer Christi ist daher in einem radikalen Sinne sinnlos: kein Tauschakt, sondern eine überflüssige, exzessive, ungerechtfertigte Geste, die seine Liebe zu uns, zur sündigen Menschheit beweisen soll« (Zˇizˇek 2001, 27). In dieser Bedingungslosigkeit und gleichzeitigen Ohnmacht zeigt sich das, was wirklich göttlich ist, und zwar nicht mehr göttlich zu sein. »Und der einzige Weg, den radikalen Kern des christlichen Erbes in unserer nachchristlichen Zeit am Leben zu erhalten, besteht darin, die Kraft zusammenzunehmen, sich diesem äußersten Mysterium zu stellen, das man nicht anders nennen kann als den Atheismus Gottes« (Zˇizˇek 2003, 90). Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem Zˇizˇeks Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Judith Butlers Kritik der ethischen Gewalt (Zˇizˇek 2005). 181 Einige andere postmoderne Autoren sind wie Vattimo kritisch gegenüber dieser Argumentation. Sie betonen zudem, dass diese Rückbindung an eine auf Einheit abzielende Metaphysik der Religionen ein gefährliches Gewaltpotenzial für moderne Gesellschaften freisetzen kann (vgl. Kap. 1.2.). Sloterdijk identifiziert in seiner Analyse der Religion beispielsweise ein vorherrschendes Muster des Eingottglaubens, und zwar einen ontologischen Monarchismus, der in einer suprematistischen Bewegung einen Aufstieg zum Höchsten vollzieht (vgl. Sloterdijk 2007b, 118–147). Das Christentum deutet er als eine Verschmelzung eines ontologischen wie personalen Suprematismus, wodurch Mehrdeutigkeiten durch eine eindeutige Logik ersetzt werden (beispielsweise durch das Bilderverbot). Monotheistische Religionen sind »durch ihren universalistischen Anspruch gefährdet (…), ein hohes polemogenes, also Streit schürendes, Potenzial freizusetzen. (…) Die Sorge, die wir uns vor dem Hintergrund der erlebten Geschichte jetzt machen, ist aber, ob wir so etwas wie die ›friedliche Nutzung der monotheistischen Energien‹ erlernen können« (Kasper/Sloterdijk 2007). A
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symbolhafte Ausdrucksform für die Notwendigkeit hermeneutischen Denkens. Der Begriff ›Säkularisierung‹ markiert für Vattimo also die Einsicht, so lassen sich die vorangegangenen Reflexionen zusammenfassen, dass die am starken Denken orientierte Interpretation von Religion an ein Ende gekommen ist und sich deshalb postmoderne Ansätze wieder auf die ursprünglichen Wurzeln der Religion (kénosis und caritas) berufen sollten. 182 »Dass unsere Kultur sich nicht mehr ausdrücklich zum Christentum bekennt und sich vielmehr im Gegenteil als eine laizistische, entchristianisierte, nachchristliche Kultur versteht, und dass sie dennoch in ihren Wurzeln zutiefst durch dieses Erbe geformt ist – dies ist der Grund, von ›positiver‹ Säkularisierung als Merkmal der Moderne zu sprechen« (Vattimo 1997a, 39).
Noch mehr: Nachdem sich die europäischen Gesellschaften von der Autorität des Christentums befreit haben, konnte die Philosophie den für die Neuzeit so eminent wichtigen Gedanken der Freiheit in den Blick nehmen, der von Kant und Hegel über Nietzsche bis zu Heidegger führte und der auch im aktuellen Diskurs der Postmoderne bei Autoren wie Foucault, Derrida oder Lévinas eine große Bedeutung erfährt, so Vattimo. Diese Entwicklung der Säkularisierung verstanden als Freiheitsgeschehen hat es erst möglich gemacht, den ursprünglichen Sinn des Christentums – kénosis und caritas – wieder offenzulegen. »Säkularisierung als positive Gegebenheit heißt, dass die Auflösung der sakralen Strukturen der christlichen Gesellschaft – der Übergang zu einer Ethik der Autonomie, zur Weltlichkeit des Staates, zu einer weniger starren Wörtlichkeit der Interpretation der Dogmen und Vorschriften – nicht als Schwinden oder als Verabschiedung des Christentums zu verstehen ist, sondern als eine vollkommenere Erfüllung seiner Wahrheit, die (…) die kénosis ist« (Vattimo 1997a, 45). 183 182 Wenn sich Religionsgemeinschaften dem schwachen Denken stellen, dann können sie deshalb eine deutlich wichtigere Rolle spielen, als dies beispielsweise in der Konzeption von Habermas der Fall ist. Das Kriterium, das Vattimo für den Zugang zum öffentlichen Raum angibt, ist nicht das von vernünftigen Argumenten, sondern das von der Anerkenntnis des schwachen Denkens (vgl. Guarino 2009, 70). 183 Dieser Zugang zur Religion verhilft sowohl der Religionsgemeinschaft als auch dem religiösen Menschen zu einem der Postmoderne angemessenen Selbstverständnis. Deshalb trägt die Schrift Glauben – Philosophieren (Vattimo 1997a) fast schon einen persönlichen Bekenntnischarakter, denn in ihr beschreibt Vattimo mit Rekurs auf biografische Entwicklungsschritte, warum er als ein von Nietzsche und Heidegger inspirierter
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3.6.3. Kritische Diskussion 3.6.3.1. Parallelen zwischen Vattimos und Rortys Metaphysikkritik Um die Impulse der Reflexion von Vattimo über die Rolle von Religion in postmodernen Gesellschaften für den gesamten Diskurs kritisch diskutieren zu können, ist zuerst ein Blick auf den Band Die Zukunft der Religion aufschlussreich (Rorty/Vattimo 2006), in dem Rorty und Vattimo ihre Positionen in ein Gespräch bringen. Die skeptische Haltung gegenüber Religionsgemeinschaften, die als Institutionen die Tugend der caritas bzw. die Forderung nach Solidarität vergessen haben oder bewusst missachten, zeichnet beide genauso aus wie die Hoffnung, dass pragmatistische bzw. hermeneutische Kritik überzogene Wahrheitsansprüche zurückweisen und auf die Kontextgebundenheit unterschiedlichen Vokabulars aufmerksam machen kann. Auch wenn Pragmatismus und Hermeneutik in einigen Punkten sicherlich divergieren (beispielsweise was die Bedeutung von Geschichte als Dimension philosophischer Reflexion angeht), so sind die Argumentationen der beiden nachmetaphysischen Denker bezüglich der Religion doch offensichtlich strukturell ähnlich (vgl. Rorty et al. 2011). So sind sich beide Philosophen einig, dass metaphysische Aussagen über Gott nicht mehr möglich sind und gerade diese Einsicht Ausgangspunkt des Nachdenkens über die neue Aufmerksamkeit für Religion sein sollte. »In den Augen von Rorty und Vattimo ist die Säkularisierung nichts anderes als die Geschichte des schwachen Denkens. Es ist tatsächlich die Säkularisierung, die uns lehrt, dass Fragen nach der Natur Gottes angesichts der Schwäche unserer Vernunft sinnlos sind« (Zabala 2006, 23). 184 Philosoph die Religion wiederentdeckt und was er an ihr für philosophisch wichtig hält – auch und gerade zur Erklärung der postmodernen Gesellschaft und Kultur. Darin zeigt sich, dass Vattimos Glaubensverständnis einen hermeneutisch-biografisch geprägten Zug impliziert. »Belief is, first and foremost, a fascinating and eloquent religious and philosophical autobiography. Vattimo – a prominent philosopher of post-modernity in Italy and beyond – describes how at a more advanced age he is returning to the (Catholic) belief of his youth« (Witt 2000, 394). 184 Bei aller inhaltlichen Nähe hat Michael Theunissen auf einen wichtigen Unterschied zwischen Hermeneutik und Pragmatismus aufmerksam gemacht, den Zabala folgendermaßen formuliert: »When he [Theunissen] stated in his lecture at the Gadamer celebration [2000] that the reception of philosophical Hermeneutics has for several decades shown two dominant tendencies: one is expansive, opening it up to other current of thought, while the other is reflexive, orienting it toward the tradition. Rorty and Vattimo well exemplify these two trends« (Zabala 2007, 25). A
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Hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung der Religion für postmoderne Gesellschaften ist Rorty allerdings deutlich skeptischer als Vattimo, denn er will diese nur sehr bedingt aus dem Privaten entlassen, und als Liberaler will er sie möglichst eng gefassten Regeln in öffentlichen Diskursen unterwerfen. Vattimo ist in diesem Zusammenhang deutlich weniger skeptisch, was nicht zuletzt daran liegt, dass er der Religion, insbesondere dem Christentum, für die Entstehung der Postmoderne einen wesentlichen Beitrag zuschreibt. Deshalb kann er historisch betrachtet religiöse Ereignisse als solche ernst nehmen (beispielsweise die Menschwerdung Christi), wohingegen Rorty die religiöse Hoffnung auf Solidarität nur für die Zukunft als berechtigt ansieht. »Unter dem Strich läuft der Unterschied zwischen Vattimo und mir darauf hinaus, dass er in der Lage ist, ein vergangenes Ereignis als heilig anzusehen, während ich das Gefühl habe, dass Heiligkeit allein einer idealen Zukunft innewohnt« (Rorty 2006, 46).
Vattimos Stärke liegt in diesem Zusammenhang darin, einen Religionsbegriff zu entwickeln, der einerseits problematische Annahmen der Moderne reflexiv einholt und andererseits an die Postmoderne anschlussfähig ist. Rorty hebt in diesem Zusammenhang anerkennend hervor, dass Vattimo »beide unglücklichen postkantischen Vorhaben« – nämlich Schleiermachers symbolische Theologie und den lévinasschen Versuch, Gott als den Anderen jedem diskursiven Zugriff zu entziehen – zurückgewiesen hat. Vattimo, so Rorty weiter, »wischt den Versuch, Religion mit Wahrheit zu verbinden, vom Tisch und hat folglich keine Verwendung für Begriffe wie ›symbolische‹ oder ›emotionale‹ oder ›metaphorische‹ oder ›moralische‹ Wahrheit. (…) Seine Theologie ist explizit auf die ›Halbgläubigen‹ zugeschnitten« (Rorty 2006, 40). Auf dieser Basis entfaltet Vattimo ein hermeneutisches Verständnis von Religion, das sich deutlich von der metaphysischen Tradition absetzt. Im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen betrachtet Vattimo dabei vor allem die konkrete geschichtliche Gestalt der Religion, vor allem des Christentums (vgl. Deibl 2008, 131). Hervorzuheben ist zudem, dass Vattimo im Vergleich zu Rorty eine überzeugendere Verbindung von Religion und Philosophie aufzeigt, die Rorty fast ganz aufzulösen versucht. Für Vattimo kommt der Religion eine wichtige Aufgabe für die Philosophie zu, indem sie der Philosophie helfen kann, »die noch verbliebenen Reste von Sub292
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stanzmetaphysik, zu der als ihr Korrelat auch die Subjektmetaphysik gehört, endgültig aufzulösen zugunsten einer hermeneutischen Philosophie, die Geschichtlichkeit ernst nimmt« (Weiß 2001, 166). Damit wehrt sich Vattimo gegen ein Auseinanderfallen von Religion und Philosophie. Indem die Philosophie sich ihrer metaphysischen Prämissen bewusst wird und diese reflexiv bearbeitet, kann sie ihre ursprüngliche Verbindung zur Religion wieder zum Thema machen. »Die Philosophie hält sich zurück und wird frei für Gott« (Haeffner 1999, 676), so lässt sich diese Argumentation Vattimos pointiert zusammenfassen. 185 3.6.3.2. Interpretationen von Nietzsche und Heidegger Im aktuellen Diskurs werden an das Religionsverständnis von Vattimo einige kritische Anfragen gestellt, die sich vor allem auf seine philosophiegeschichtliche Rezeption einzelner Autoren richtet. Einzelne Beiträge verstehen sich im Zuge dessen auch als systematische Kritikpunkte, die sein Vorhaben insgesamt in Frage stellen. In der zuerst genannten Hinsicht wird von einigen Autoren angefragt, ob Vattimos Interpretation von Nietzsche und Heidegger diesen gerecht werde. Hofer merkt beispielsweise kritisch an, dass die Deutung von Nietzsche zumindest ambivalent sei, insofern sie zwei Auslegungen unverbunden nebeneinander stehen lasse, und zwar eine nominalistische und eine idealistische (vgl. Hofer 2001, 172 ff.). Nietzsche wird von Vattimo als zentraler Referenzautor zur Grundlegung der Hermeneutik herangezogen, ohne dass geklärt wird, welche dieser beiden Interpretationslinien den Vorrang erhält und wie damit sprachliche Aussagen in hermeneutischen Prozessen interpretiert werden. Haben sprachliche Aussagen einen nominalistischen Kern, der als solcher hinzunehmen ist, oder sind sie lediglich Konstruktionen in Interpretationsprozessen? Vattimo lässt diese Frage unbeantwortet und wird damit der Ambivalenz der Schriften Nietzsches selbst nur teilweise gerecht. 186 In eine 185 Hofer bezeichnet dies als hermeneutischen Zirkel, insofern »durch das bessere Selbstverständnis der Philosophie mittels Bewusstwerden ihrer Herkunft auf der einen Seite (…) zugleich auch das Christentum besser verstanden« (Hofer 2001, 177) werden kann, das als Ursprung der Postmoderne gedeutet wird. 186 In Bezug auf das Verhältnis von Nietzsche zu Vattimo ist es wichtig, noch einen weiteren Aspekt in den Blick zu nehmen. Bei aller Metaphysik- und damit verbundenen Vernunftkritik positionieren sich nämlich beide nicht vollkommen außerhalb der Tradition der Vernunftkritik. Sowohl bei Nietzsche als auch bei Vattimo nimmt die hermeneutische Betonung des Spiels der Differenzen letztlich immer Bezug auf die eine
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ähnliche Richtung wird angefragt, ob die Auslegung von Heidegger als Hermeneutiker diesem vollständig gerecht wird, denn damit verbunden ist eine »allzu ›subjektive‹ Sicht des späten heideggerschen Projekts, das Seinsgeschick zu denken« (Hofer 2001, 176). Damit werden, so die Kritik, insbesondere die fundamentalontologischen Überlegungen der frühen Schriften Heideggers vernachlässigt. Diese Anfragen sind textexegetisch berechtigt, doch sie stellen letzten Endes keinen grundlegenden Einwand gegen Vattimos Ansatz dar. Denn von seinem hermeneutischen Standpunkt aus gibt es auch philosophiegeschichtlich betrachtet keine eindeutigen Auslegungen philosophischer Texte, sondern diese sind immer Teil eines geschichtlichen Interpretationsprozesses, der im hermeneutischen Sinne unabschließbar ist. Dies verdeutlicht auch Vattimos grundsätzliche Kritik am aktuellen philosophischen Wissenschaftsbetrieb, der seiner Einschätzung nach oftmals davon auszugehen scheint, dass man die Intention von Texten in einem essenzialistischen Sinne freilegen könne. 187 Trotzdem bleibt die berechtigte Anfrage bestehen, ob es sich Vattimo nicht an manchen Stellen zu leicht macht und bestimmte Traditionen bzw. Gedankenfiguren zu sehr zuspitzt und damit verkürzt. Aus einer theologischen Perspektive wird beispielsweise zu Recht angefragt, ob die Gedankenfigur der kénosis, die Vattimo entwickelt, dem christlichen Verständnis der Menschwerdung überhaupt noch gerecht wird, denn in seinen Überlegungen scheint Jesus Christus losgelöst von den beiden anderen Personen Gottes zu sein (vgl. Harris 2013). »Obwohl Vattimo von der Theologie der Trinität spricht, scheint er die trinitarische Dimension zu verfehlen. In der trinitarischen Theologie ist Jesus, der Sohn Gottes, immer, wie dieser Titel anzeigt, in Beziehung zu Gott. Vattimos Art und Weise der Paraphrasierung der Inkarnation erweckt den Eindruck, als ob Gott – ohne jegliche Differenzierung göttlicher Personen – Mensch geworden wäre« (Hofer 2001, 185). 188
Vernunft, die überzogenes Einheitsdenken oder zu weitreichende Moralansprüche kritisieren will (vgl. bezüglich Nietzsche die Überlegungen von Hutter 2001, 328). 187 In diesem Sinne würde Vattimo wohl auch auf die Anfrage von Theologen reagieren, ob eine Rekonstruktion des Christentums als Basis der Philosophie Nietzsches überzeugen kann (vgl. Enders 2003, 169). 188 Enders kritisiert in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Trinitätstheologie und Philosophie. »Denn in Wahrheit verhält es sich (…) genau umgekehrt: Ohne die metaphysische Begrifflichkeit des antiken Aristotelismus, Platonismus und Neuplatonismus hätte sich die christliche Trinitätstheologie (…) überhaupt nicht artikulieren und
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Hofer weist allerdings selbst entlastend darauf hin, dass Vattimo keine theologisch korrekte Interpretation vorlegen will; er versteht sich selbst nicht als Theologen, der eine Trinitätstheologie entwirft, sondern er zieht theologische Texte als Interpretationsfolien heran, die in einem hermeneutischen Prozess ausgeleuchtet werden. Auch wenn dieses Vorgehen aus Sicht der Hermeneutik berechtigt ist, so bleibt allerdings die kritische Anfrage, ob sich Vattimo mit seiner oft weitreichenden und unkonventionellen Auslegung religiöser Texte von seinem eigenen Hermeneutikverständnis entfernt, weil er mit diesem ja gerade eine Nähe zu den historisch gegebenen Texten reklamiert. »First of all, it seems unlikely that the transmission of texts and interpretations can be separated from authoritative exegesis. In my view that is precisely what Vattimo does, but then in direct opposition to his own view that interpretation must always proceed from a factual, material position in time« (Vossmann 2000, 429).
3.6.3.3. Postmoderne Interpretation der Religion In religionsphilosophischer wie soziologischer Hinsicht kritisiert Vattimo unreflektierte Gegensätze im Diskurs über Religion, die seiner Ansicht nach nicht zu einem angemessenen Verständnis der gesellschaftlichen Rolle von Religion führen. So wird eine starke Entgegensetzung von privat und öffentlich bei ihm genauso kritisiert wie eine klare Differenz von Glauben und Wissen. Hermeneutisch betrachtet lassen sich sowohl gesellschaftliche Bereiche (privat/öffentlich) wie Modi des Geistes (Glauben/Wissen) nicht als sich ausschließende Gegensätze verstehen, sondern sie sind in wechselseitigen Interpretationsprozessen immer aufeinander bezogen. Privates ist damit immer auch öffentlich und umgekehrt, weil in beiden Bereichen bei der Deutung von Wirklichkeit auf den anderen Bereich Bezug genommen wird. Religion ist deshalb in säkularen Gesellschaften nicht per se eine private Form der Selbstauslegung, sondern sie hat sowohl in historischer wie funktionaler Perspektive eine wichtige öffentliche Aufgabe. Auch das Wechselverhältnis von Religion und Kultur, das in vielen anderen Ansätzen eine eher untergeordnete Rolle spielt, wird von
die orthodoxe christliche Trinitätslehre gar nicht entwickeln können« (Enders 2010, 108 f.). A
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Vattimo in diesem Zusammenhang dezidiert in den Blick genommen. Weil das Christentum ein prägender Teil der europäischen Geschichte und Kultur ist, können auf der Theorieebene Religion und Kultur nicht auseinanderdividiert werden, sondern müssen als wechselseitig aufeinander bezogene Prozesse interpretiert werden. Allerdings muss festgehalten werden, dass Vattimo mit seinem hermeneutischen Denken zwar auf einer grundlegenden Ebene dieses Verhältnis thematisiert, er aber seine Studien so stark auf das Christentum und dessen Rolle in der europäischen Kulturgeschichte lenkt (vgl. Caputo 2007a, 77 f.), dass unklar bleibt, inwieweit dieser Zugang auf andere Kulturen und Religionen übertragen werden kann. Diesbezüglich ist eine Weiterentwicklung des Ansatzes von Vattimo insbesondere auf die globale Renaissance der Religionen notwendig. In dieser Hinsicht verdient die in vielen Ländern vorherrschende multireligiöse bzw. multikulturelle Situation besondere Beachtung. Problematisch am Ansatz von Vattimo ist außerdem, dass er die Religion, insbesondere das Christentum, auf ein bestimmtes Selbstverständnis festlegt und nur skizzenhaft überprüft, ob es dafür aus Sicht der Religion selbst genügend Gründe gibt. Die Anfrage der Theologie an einzelne Gedankenfiguren Vattimos war bereits ein Indiz hierfür (vgl. Kap. 3.6.3.2.) Viele ideengeschichtlich relevante Transformationen der Religionen (beispielsweise ihre Rezeption traditioneller Metaphysik) werden von Vattimo als Fehlentwicklungen interpretiert, welche die Religionen von ihrem ursprünglichen Kern entfernt haben – eine These, die mit dem theologisch begründeten Selbstverständnis der Religionen zu konfrontieren wäre, was Vattimo allerdings nicht tut. Religionen – so lässt sich demgegenüber aus einer religionsphilosophischen Innensicht formulieren – deuten ihre metaphysisch orientierte Reflexion über das Transzendente oder Absolute als einen wichtigen Bestandteil ihrer Wirklichkeitsinterpretation, was gleichfalls für das Judentum, den Islam oder das Christentum gilt. Auch der Wahrheitsbegriff spielt in vielen Religionen eine wichtige Rolle. Sicherlich ist die Anfrage berechtigt, inwieweit sich ein überzogener Wahrheitsmonismus der Religionen in postmodernen Gesellschaften noch begründen lässt, aber deswegen die Schlussfolgerungen zu ziehen, die ›Mission der Religionen‹ bestehe ausschließlich in der Ausbuchstabierung eines schwachen Denkens und damit einer Absage an jeden Wahrheitsbegriff, erscheint religionsphilosophisch als eine zu weitreichende These, die zudem das theologische Selbstverständnis 296
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vieler Religionen missachtet. Diese Anfrage formuliert Matthias Riedel in einer leicht ironischen Wendung. »In the end, of course, everything is interpretation. There is no reality in se, only quoad nos. When God speaks to us, we are actually speaking to ourselves in joyful and productive dialogues, unless we are interrupted by a fundamentalist who does not play by the rules. From there, however, we can build up any kind of eschaton, any ›Lightening of the real‹, and reconnect it to a vague tradition which, in its turn, is also subject to our interpretation« (Riedl 2010, 125).
Die Metaphysikkritik Vattimos impliziert darüber hinaus, wie Luhmann, die Verabschiedung eines inhaltlich bestimmten Gottesbegriffs, was wiederum Probleme mit sich bringt (vgl. Kap. 3.4.3.2.). Dies spricht auch gegen die Argumentation von Vattimo selbst, wenn er in seiner Auseinandersetzung mit Habermas betont, dass das Nachdenken über Religion immer geschichtlich-konkret sein sollte. Seine vielfältigen Hinweise auf die aktuelle Gestalt des Christentums belegen dies, widersprechen damit aber genau dem metaphysisch fast vollständig entleerten Gottesbegriff. »Of course, Vattimo wants us to think about religious disclosure in history, rather than regarding it as an essentialist, reified block of unchanging truth. (…) Ironically, however, while Vattimo wants to live an authentically religious life in a world profoundly marked by temporality, his philosophy tends to sublate the specific and determinately historical dimension of Christianity in service to the philosophical idea of an overarching ›weak thought‹, which religion now emptied of its historical specificity for the sake of the secularized philosophy of hermeneutical nihilism« (Guarino 2009, 147). 189
Diese philosophisch begründete ›Entleerung‹ der Religion widerspricht der faktischen Gestalt vieler Religionen, in der ein inhaltlich bestimmtesVerständnis des Absoluten eine wichtige Rolle spielt. Es findet in den Überlegungen von Vattimo also eine »eine Menschwerdung als Schwächung des Gottesbegriffs [statt]. Vattimo stellt nicht nur die Kontingenz ins Zentrum. Der entscheidende Punkt ist vielmehr die Auffassung, dass es dazu keine Alternative gebe« (Rust 2000, 347). Diese Deutung lässt sich aus der hermeneutischen Postmoderne heraus begründen, aber sie liegt im offensichtlichen Widerspruch zu den Ge189 Vattimo nennt diese Auffassung von Religion auch eine nichtreligiöse Form des Christentums. Diese Konzeption weist Parallelen zu Derridas Verständnis einer Religion ohne Religion auf (vgl. Kap. 3.5.2.4.).
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staltformen vieler Religionsgemeinschaften und auch dem Selbstverständnis vieler religiöser Bürger. Noch in einer anderen Hinsicht kann Vattimos Religionsverständnis kritisiert werden, und zwar was das Verhältnis von Religion und Moral anbelangt. Einerseits entgeht er zwar mit dem hermeneutischen Ansatz einer Gleichsetzung von Religion und Moral bzw. einem moralischen Reduktionismus von Religion. Andererseits erscheint die Bestimmung der caritas als zentrale moralische Leitidee der Religion nicht unproblematisch. Religionen wie das Christentum implizieren zwar die Forderung nach caritas und damit eine liebende Anerkennung des Anderen, hier ist Vattimo zuzustimmen. Diese Forderung wird allerdings meistens als universal verstanden, d. h., sie ist nicht Teil einer historisch-kontingenten Auslegungspraxis, sondern begründet sich aus einem universalen Anspruch des Absoluten selbst. Auch wenn diese Aussagen erkenntnistheoretisch begrenzt sein mögen (worauf beispielsweise die jüdische Tradition aufmerksam macht), so ändert dies nichts an diesem Anspruch, der in den moralischen Aussagen der Religion impliziert ist. 190 Religionen können auch in postmodern-pluralen Kontexten, so kann gegen Vattimo eingewendet werden, ihren universalen Charakter aufrechterhalten, ohne dass sie damit notwendigerweise gewalttätig werden müssen, wie dieser suggeriert. Dies kann erkenntnistheoretisch wie folgt begründet werden: Weder lässt sich eine als universell verstandene Wahrheit von ihren partikularen (kulturell bedingten) Inter190 Sowohl exegetisch als auch systematisch-theologisch ließe sich außerdem zeigen, dass eine Überhöhung der caritas im Sinne einer Ausblendung aller konflikthaften Elemente unplausibel ist. »My criticism would be that an individual exegesis of what caritas amounts to in Scripture functions here, for all intents and purposes, as a final criterion. Those who read Scripture with a criterion of caritas and, on the basis of their own understanding of caritas, prune away all unintelligible or disturbing parts of, or movements in, the text, rather than viewing them as movements in the text (the Lord God who entertains vengeful thoughts when His beloved is unfaithful to Him; the same applies to demons entering and leaving people), are in my view contravening the ground-rule of hermeneutics« (Vossmann 2000, 430). In eine ganz ähnliche Richtung weist die Kritik von Witt, der die Dimension der Gewalt als wesentlichen Aspekt von Freundschaft in den Texten des Neuen Testaments hervorhebt, was Vattimo bei seiner Reflexion religiöser Tugenden ebenfalls ausblendet. »That is also a form of violence in friendship, and certainly the ultimate violence, namely the betrayal of friendship. Given this background, the most problematic aspect of Vattimo’s appeal to the evangelical notion of friendship is that he disregards the context of the quotation from John’s Gospel to which he accords such a central place« (Witt 2000, 403).
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pretationen vollständig losgelöst betrachten, noch sind die jeweils in einer Kultur formulierten religiösen Wahrheiten so abgeschlossen, dass sie in einer anderen Kultur nicht vermittelbar wären. Nehmen Religionen einen ideologisch überzogenen objektivistischen Wahrheitsmonismus für sich in Anspruch, stehen sie – hier ist Vattimo zuzustimmen – in der Tat leicht in der Gefahr, kulturelle Pluralität zu missachten. Umgekehrt führt ein postmoderner Wahrheitspluralismus allerdings zu einer Nivellierung faktischer Differenzen religiöser Grundüberzeugungen. Zentrale Differenzen im Selbst- und Fremdverständnis der Religionen werden damit eher zugedeckt als in ein konstruktives Gespräch miteinander gebracht. Statt die Religion auf ein postmodernes schwaches Denken festlegen zu wollen, wäre es daher sinnvoll, die erkenntnistheoretischen Implikationen der jeweiligen religiösen Traditionen zu reflektieren. Damit würden diese Traditionen ernster genommen, als dies bei Vattimo der Fall zu sein scheint. Nicht zuletzt muss kritisch angefragt werden, ob aus einer historischen Perspektive die Rolle von Religion bei der Entstehung der geistigen Grundlagen der Postmoderne und des schwachen Denkens von Vattimo nicht überschätzt wird. Sicherlich hat das Christentum wichtige Impulse für die Philosophie gegeben, aber ihm einen so zentralen Stellenwert sowohl für Moderne als auch Postmoderne zuzuweisen, scheint nur bedingt plausibel. Die Moderne als Hinwendung zum Subjekt und als kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie ist nicht zuletzt durch eine Philosophie befördert worden, die sich von der Theologie und der Religion abgelöst hat. Die Aufklärung mit ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Prozessen hat sich dezidiert als eine säkulare Entwicklung und Religionskritik verstanden, Gleiches gilt für die Postmoderne. Die Religion als Basis der Postmoderne zu interpretieren ist daher eine zu weitreichende These, die sich gerade historisch nur bedingt erklären lässt. Die verschiedenen skizzierten Anfragen an Vattimos Überlegungen laufen formal betrachtet letztlich auf einen Aspekt zu, und zwar auf die Kritik an den voraussetzungsreichen Annahmen, die seiner Argumentation zugrunde liegen. Nur wer die Grundannahmen seiner Metaphysikkritik, die Konzeption des schwachen Denkens und seine historischen Rekonstruktionen vollständig teilt, wird den Schlussfolgerungen seiner Argumentation zustimmen können. Damit zeigt sich der Gedankengang als relativ geschlossen. Vattimo neigt außerdem dazu, sich gegen jede Kritik zu immunisieren und stattdessen die eigenen A
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Grundannahmen gebetsmühlenartig zu postulieren; »entweder man schließt sich diesem Weltbild an, oder es bleibt einem verschlossen« (Rust 2000, 347). Dass diese Position für einen philosophischen Diskurs nicht immer förderlich ist, liegt auf der Hand.
3.7. Schnittflächen und Kritikpunkte im Diskurs über Religion Die rekonstruierten Ansätze spiegeln in ihrer Bandbreite die aktuelle Debatte der politischen Philosophie über die gesellschaftliche Rolle von Religion wider. Die Überlegungen stehen paradigmatisch für die Eckpunkte des Diskursfeldes, zwischen denen weitere Ansätze ergänzend eingepasst werden könnten (vgl. Kap. 1.4.). Die Ansätze aller sechs Autoren sind ein Indiz für die neue Aufmerksamkeit für Religion, die von der politischen Philosophie mit unterschiedlichen Akzentuierungen und mit Rückgriff auf verschiedene Religions- und Gesellschaftstheorien verarbeitet wird. Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktionen werden im Folgenden die zentralen Argumente der Konzeptionen systematisch in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Damit kann erstens das Diskursfeld insgesamt präziser gefasst werden. Zweitens können kritische Aspekte herausgearbeitet werden, denn die Diskussionen zeigten bereits, dass die Ansätze mit unterschiedlichen Problemen behaftet sind, die es zu reflektieren gilt. Um diese Probleme und Leerstellen des Diskurses in den Blick nehmen zu können, wird in einem ersten Schritt ein zentraler Aspekt des Gesamtdiskurses herausgearbeitet, und zwar die Metaphysikkritik der modernen (politischen) Philosophie, die der Ausgangspunkt fast aller Reflexionen über die gesellschaftliche Funktion von Religion ist. Metaphysikkritik wird dabei von den sechs ausgewählten Autoren unterschiedlich verstanden; bei allen sechs Konzeptionen nimmt in diesem Zusammenhang allerdings die Kritik an einem überzogenen Einheitsdenken einen zentralen Stellenwert ein. Metaphysikkritik bedeutet bei unterschiedlicher Begründung und Reichweite vor allem eine Anerkennung von Differenz und damit gesellschaftstheoretisch von Pluralität. Dabei wird gleichzeitig einem zu starken Einheitsdenken und einer Verankerung dieser Einheit im Transzendenten eine Absage erteilt. Diese Verhältnisbestimmung von Einheit und Differenz ist Ausgangspunkt der verschiedenen Erklärungen der gesellschaftlichen Bedeutung und Funktion von Religion. 300
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Im folgenden Kapitel werden deshalb in einem ersten Teilschritt die sechs Ansätze unter dem Gesichtspunkt zueinander in Bezug gesetzt, was sie unter Metaphysikkritik verstehen und welchen Stellenwert Differenz bzw. Einheit in ihren Konzeptionen haben (Kap. 3.7.1.). Diese unterschiedlichen Interpretationen haben wesentliche Konsequenzen für die Bestimmung der gesellschaftlichen Rolle von Religion. Diese Konsequenzen werden im zweiten Teilschritt vor dem Hintergrund der jeweils implizierten Gesellschafts- und Säkularisierungstheorien herausgearbeitet (Kap. 3.7.2.). Im dritten Teilkapitel werden die zentralen Problemstellen des Diskurses zusammengefasst, so wie sie sich aus der Reflexion der Rekonstruktionen insgesamt ergeben (Kap. 3.7.3.).
3.7.1. Metaphysikkritik als Thema der politischen Philosophie Die Interpretationen des Verhältnisses von Einheit und Differenz unterscheiden die sechs rekonstruierten Ansätze. Eine Fragestellung, an der sich dies besonders gut ablesen lässt, ist ihre Kritik an der Metaphysik. Alle sechs Autoren wollen sich von traditionellen metaphysischen Konzeptionen absetzen (vgl. Habermas 1988; Rorty 1989; Vattimo 1997b; Luhmann 1997); die Form, Begründung und Reichweite ihrer Kritik fällt allerdings verschieden aus und markiert wesentliche Unterschiede der Konzeptionen. Habermas will sich mit dem Begriff ›nachmetaphysisches Denken‹ von allen Formen neuzeitlicher Identitäts- und Bewusstseinsphilosophie absetzen (vgl. besonders Habermas 1988). Im Zuge zentraler philosophischer Entwicklungsschritte der Moderne wie beispielsweise der Hermeneutik, der sprachphilosophischen Wende oder der kritischen Theorie ist es für Habermas heute nicht mehr möglich, metaphysische Aussagen über Wirklichkeit zu treffen. Die Metaphysik ist »als die Wissenschaft des Allgemeinen, Unveränderlichen und Notwendigen« (Habermas 1988, 21) für ihn unmöglich geworden. Philosophie hat daher nicht mehr einen exklusiven Zugang zur Wirklichkeit, sondern sie muss bei der lebensweltlich verankerten Pluralität sprachlicher Handlungen ansetzen. Die Philosophie kann keine endgültigen Antworten mehr auf die Fragen nach Wirklichkeit oder Menschsein geben, sondern sie stellt lediglich eine Interpretation zur Verfügung, die »zwischen den Expertenkulturen von Wissenschaft und Technik, Recht A
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und Moral einerseits, der kommunikativen Alltagspraxis andererseits vermittelt« (Habermas 1988, 45 f.). Mit dem Begriff ›nachmetaphysisch‹ soll also »der Ausdifferenzierung und Pluralisierung der lebensweltlichen Orientierungen entsprochen werden, ohne zwischen die Extreme eines radikalen Kontextualismus – der die Allgemeinheit der Vernunft um ihrer Situierung willen relativierte – und eines totalitär gewordenen Funktionalismus – der die subjektiven Sinndimensionen der Vernunft um ihrer Allgemeinheit willen aufhöbe – zu geraten« (Schmidt 1994, 82). Habermas achtet deshalb mit diesem nachmetaphysischen Ansatz vor allem auf kommunikative Vielfalt in modernen Gesellschaften, die er gegenüber einem starken Einheitsdenken, das im Transzendenten verankert ist bzw. sich aus diesem begründet, schützen will. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die deliberative Diskurstheorie keinen Ankerpunkt mehr aufweist. »Auch die kommunikative Vernunft setzt fast alles kontingent, selbst die Entstehungsbedingungen ihres eigenen sprachlichen Mediums. Aber für alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares. (…) Auch die dezentrierte Gesellschaft braucht des Bezugspunktes der projektierten Einheit eines intersubjektiv gebildeten gemeinsamen Willens nicht zu entraten« (Habermas 1988, 179 ff.).
Trotz der Betonung der Pluralität von sprachlichen Äußerungen in gesellschaftlichen Diskursen geht Habermas also von einer Einheit der kommunikativen Rationalität aus. Diese Einheit drückt sich im Ideal des Konsenses aus, durch den ein übergeordnetes und auf Einheit abzielendes Rationalitätskriterium in die Theorie kommunikativen Handelns eingeführt wird. 191 Deshalb hält Habermas an einem (wenn auch formalen) Wahrheitsverständnis fest und will damit die Vielheit 191 In diesem Zusammenhang zeigt sich eine deutliche Parallele zwischen den Überlegungen von Rawls und Habermas: »Diese Strategie [von Rawls und Habermas] tendiert insgesamt dazu, das in den Vollzügen konkreter Handlungspraxis ursprüngliche und deshalb kaum zu entkoppelnde Schon-Vermitteltsein universaler und partikularer Gesichtspunkte zu unterschätzen. (…) Diese Unterschätzung führt in letzter Konsequenz zu dem Versuch, die zuvor als partikular charakterisierten Gehalte in der Maske eines einheitlichen, formalen Verfahrens bewahren zu wollen, was allerdings nicht gelingen kann, sondern eher einen gegenteiligen Effekt begünstigt: die sozialethische Marginalisierung von formal nicht vermittelbarer Partikularität. Vor dieser letzten Konsequenz scheint mir weder Rawls’ noch Habermas’ Modell hinreichend gesichert zu sein« (Seibert 2009, 50 f.).
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sprachlicher Äußerungen in die Einheit kommunikativer Rationalität integrieren; es geht ihm damit also um die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen (Habermas 1988, 153–186). »Habermas erkennt die Pluralität der Vernunft, und er erkennt sie auch an, aber er sucht sie noch einmal im Sinne traditioneller Einheitspflichten zu therapieren. Er will die Pluralität wieder an Einheit zurückbinden, obwohl er nicht mehr zeigen kann, wie eine solche Einheit noch gedacht werden kann« (Welsch 1996, 139).
Rortys Kritik an der traditionellen Metaphysik reicht von den vorgestellten Ansätzen am weitesten. Metaphysik ist für ihn jede Form von Philosophie, die mit einem Wahrheitsverständnis operiert und damit Scheinsicherheiten bereitzustellen versucht (vgl. Rorty 1989, 34 ff.). Aus den skizzierten Gründen lehnt Rorty diese Suche nach einer übergreifenden Wahrheitstheorie ab und argumentiert für einen am Pragmatismus orientierten Zugang zur Wahrheit, der allerdings keine neue Wahrheitstheorie sein will, sondern eine ironische Verarbeitung von Kontingenz (vgl. Rorty 1989, 21 ff.). Rortys liberaler Pragmatismus versteht sich als radikal anti-metaphysisch, weil er nicht nur eine neue Phase des Philosophierens einläuten will, sondern metaphysisches Philosophieren als solches ablehnt. In der Konzeption der Ironikerin spiegelt sich einerseits Rortys grundlegende Anerkennung der Pluralität von Wahrheiten wider (vgl. Rorty 1989, 127 ff.), andererseits kommt in dem Verständnis der liberalen Ironikerin ein eindeutiges Votum für einen politischen Liberalismus zum Ausdruck, der letzten Endes eine ethisch-politische Position absolut setzt. Deswegen argumentiert Rorty so leidenschaftlich gegen die ›Feinde des Liberalismus‹ (Rorty 2001b), deren politische Argumente er meint nicht ernst nehmen zu müssen. Im Zuge dessen weist er nicht-liberale Positionen der politischen Philosophie als unplausibel zurück. Pluralität politischer Positionen wird damit bei Rorty immer an diese Einheit des liberalen Standpunktes rückgekoppelt. Auch wenn sich der kommunitaristische Ansatz von Walzer in vielerlei Hinsicht von der deliberativen Theorie Habermas’ absetzt (vgl. Walzer 1999, 26 ff.), so stimmen beide doch darin überein, dass Philosophie vor allem Vielheit in den Blick nehmen sollte. Bei Walzer verschiebt sich der theoretische Fokus allerdings von der Vielfalt sprachlicher Äußerungen auf die Vielfalt gesellschaftlich-kultureller Traditionen. Nachmetaphysisches Denken im Kontext des KommuniA
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tarismus bedeutet für ihn, diese Pluralität nicht in eine übergeordnete Einheit aufzuheben, was in der Konzeption des wiederholenden Universalismus besonders zum Ausdruck kommt (vgl. Walzer 1996, 168). Ähnlich wie Rorty plädiert Walzer angesichts der politischen Debatten über die gesellschaftliche Rolle von Religion und Globalisierung allerdings ebenfalls für eine dezidiert liberale Position (vgl. Walzer 1996a). Die Grundsätze des US-amerikanischen Liberalismus stellen dabei aus seiner kommunitaristischen Sicht die eigene kulturelle Basis für eine überzeugende politische Philosophie angesichts globaler Herausforderungen dar (vgl. Walzer 2003). So zeigt sich bei Rorty wie Walzer, dass beide zwar Pluralität auf der Ebene der Erkenntnis- und Wahrheitstheorie betonen, auf der Ebene der politischen Philosophie den Liberalismus als das Erbe der Moderne allerdings so stark machen, dass politische Pluralität innerhalb dieses Paradigmas nur bedingt anerkannt wird. Allerdings plädiert Walzer im Vergleich zu Rorty mit Rekurs auf die Gedankenfigur der Kunst der Trennung stärker für eine Offenheit dieses liberalen Paradigmas. Eine zentrale Grundannahme der Systemtheorie von Luhmann ist, dass Philosophen – die er gerade mit Blick auf Ethiker als ›schlichte Gemüter‹ bezeichnet – als auch Soziologen notwendigerweise die Vielfalt von Systemkommunikationen anerkennen müssen, um überhaupt gesellschaftliche Realität erklären zu können (vgl. Luhmann 1990). Systemtheoretisch betrachtet gibt es weder einen gemeinsamen Ursprung der Teilsysteme, der als eine grundlegende Einheit interpretiert werden könnte, noch streben die Systemkommunikationen in einem historisch-teleologischen Sinne auf eine letzte Synthese hin. Deshalb zeigt sich die Systemtheorie als ein differenztheoretischer Ansatz, was gleichzusetzen ist mit der Einsicht, dass im nachmetaphysischen Zeitalter das Theoriedesign notwendig von Einheit auf Differenz umgestellt werden muss (vgl. Kap. 3.4.1.). Der differenztheoretische Ansatz wird allerdings, zumindest indirekt, von Luhmann selbst wieder relativiert, was vor allem an der erkenntnistheoretischen Fundierung der Systemtheorie liegt. Luhmann betont zwar, dass Systemtheorie eine konstruktivistische Erkenntnistheorie impliziert und Beobachtungen deswegen lediglich Setzungen von Differenzen sind, die nicht mehr in einer übergeordneten Einheit aufgehoben werden können. Dabei konstituiert gesellschaftliche Kommunikation allerdings notwendig einheitliche Systeme, weshalb die Konstruktion von Wirklichkeit aus304
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schließlich in bestimmten Formen von Systemkommunikation stattfindet. »Das Problematische dieses Ansatzes ist, dass die erkenntnistheoretisch unvermeidliche Konstruktion der Wirklichkeit am Ende als eine neue objektive Wirklichkeit verstanden wird. Darin besteht das Letztbegründungspotenzial der Systemtheorie und darin liegt zugleich ihre Tendenz zur Ontologisierung« (Lepsius 1999, 67).
Damit wird letzten Endes gesellschaftliche Heterogenität auf eine bestimmte Systemrationalität beschränkt. Diese Reduktion von Pluralität ist im Verständnis der Systeme angelegt, denn diese werden von Luhmann als geschlossene Einheiten interpretiert, die in einem ontologischen Sinne die Grundeinheiten sozialer Wirklichkeit sind. 192 Die beiden Positionen von Derrida und Vattimo argumentieren von den rekonstruierten Modellen am explizitesten differenztheoretisch. Das Charakteristikum des dekonstruktivistischen Denkens der différance bei Derrida ist es, Differenzen aufzudecken und zu reflektieren. Auch in der politischen Philosophie arbeitet Derrida die Unmöglichkeit eindeutiger moralischer Prinzipien heraus und betont stattdessen die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit solcher Maßstäbe, was sich sowohl an seinen Überlegungen zur unendlichen Gerechtigkeit als auch zur kommenden Demokratie zeigen lässt (vgl. Derrida 1991; ders. 2003b). Durch diese fundamentalontologisch inspirierte Kritik der Metaphysik will Derrida einer Verdinglichung des Seins entgegenwirken und stattdessen der ambivalenten Struktur von Wirklichkeit – verstanden als textuelles Geschehen – Ausdruck verleihen. Dabei ist Derridas Philosophie nicht anti-metaphysisch, weil Differenzen als grundlegende Struktur von Wirklichkeit und damit innerhalb eines metaphysischen Denkrahmens thematisiert werden, was sowohl seine ethischen als auch religionsphilosophischen Reflexionen zum Anderen zeigen. Metaphysik wird durch die Dekonstruktion also nicht aufgehoben, sondern transformiert, weshalb Derrida ein zwar »instabiles Verhältnis zwischen Metaphysik und Dekonstruktivismus« annimmt, das aber durch »die ständige Möglichkeit ihrer wechselseitigen Aneignung« (Margreiter 1997, 411) gekennzeichnet ist. 192 Aus Sicht der Systemtheorie selbst kann daher die Anfrage gestellt werden, ob das differenztheoretische Anliegen von Luhmann nicht letztlich unterlaufen wird, indem die Differenz immer auf die Einheit von Systemen zurückgeführt wird (vgl. Kap. 3.4.3.3.).
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»For Derrida we are stuck in a ›no-exit‹ situation, and he repeatedly stresses both the impossibility and the necessity of metaphysical thinking, a type of discourse he recognizes as both utterly implausible and absolutely unavoidable« (Freeman 2010, 65).
Vattimos hermeneutischer Zugang zur Pluralität ist Teil seiner Konzeption des schwachen Denkens (vgl. Vattimo 1997b). Er zieht in erkenntnistheoretischer wie politisch-philosophischer Hinsicht aus seiner Beschäftigung mit der Moderne die Schlussfolgerung, dass es keinen direkten (beispielsweise korrespondenztheoretisch begründeten) Zugang zur Wirklichkeit geben kann, sondern Wirklichkeit nur in Form von vielfältigen Interpretationen vorliegt. »This pluralism is more the result of fatigue than of vitality; it is lenient because it doesn’t really want anything, and it is proud of its incapacity to keep anything at a distance. It puts everything on the same level because it does not have the courage itself to exhibit any contours any longer« (Witt 2000, 401). 193
Vattimo hebt diese Betonung der Differenz nicht mehr in eine übergeordnete Einheit auf, sondern überwindet seiner Ansicht nach mit Rekurs auf Nietzsche und Heidegger die traditionelle Metaphysik und erklärt das Sein in seinen historischen Zusammenhängen (vgl. Kap. 3.6.1.). Diese hermeneutische Kritik der Metaphysik weist ähnliche Züge wie der kommunitaristische Ansatz auf, in dem ebenfalls die historisch-kulturellen Kontexte eine große Rolle spielen. Vattimo versteht diese allerdings nicht als neue kulturelle Einheiten, wie Walzer dies zumindest teilweise tut, sondern betont deren Mehrdimensionalität, die durch den facettenreichen und unabschließbaren Interpretationsprozess bedingt ist. 194 193 Ein solches Verständnis von postmodernem Pluralismus steht in einem engen Zusammenhang zu dem, was Vattimo als schwaches Denken bezeichnet: »Vattimo’s ›weakening of the strong structures‹ (of metaphysics and the authority structured grafted onto it) would then amount to what I would call neutralization through pluralisation: everything becomes innocuous because it is made ›equal‹ by the equalising power of diversity in a culture that has lost the capacity for discernment« (Witt 2000, 401). 194 Vattimo ist damit ein Vertreter der sogenannten Postmoderne, die das Verhältnis von Einheit und Differenz im Gegensatz zur Moderne zugunsten des Moments der Differenz bzw. Pluralität auflösen möchte (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007). Mit Rekurs auf Autoren wie Nietzsche, Husserl oder Heidegger positioniert sich die Postmoderne dabei kritisch gegenüber dem Einheitsdenken der Moderne (vgl. Husserl 1936/1962; Nietzsche 1886/1999). Aus Sicht einer postmodernen Soziologie wird an der Moderne
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Vattimo und Derrida stimmen wiederum darin überein, dass metaphysischem Denken eine Tendenz zur Gewalt inhärent ist, indem aufgrund eines bestimmten, auf Einheit fokussierenden Seinsverständnisses gesellschaftliche und kulturelle Kontexte zu wenig beleuchtet, wenn nicht sogar missachtet werden und stattdessen das Sein in eine bestimmte Deutung eingepasst wird (vgl. Kap. 3.5.1. und Kap. 3.6.1.). Kritik an der traditionellen Metaphysik verstehen daher beide primär als philosophischen Ausdruck eines gewaltfreien Denkens, was sich in der Tugend der caritas und der unbedingten Gastfreundschaft widerspiegelt (vgl. Vattimo 2004c, 139; Habermas/Derrida 2004, 170). Vergleicht man die Kritik der sechs Philosophen an der traditionellen Metaphysik, so kristallisieren sich bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen einige Überschneidungen heraus, die als zentrale Merkmale des aktuellen Diskurses der politischen Philosophie und ihrer Beschäftigung mit der Religion interpretiert werden können. Die Kritik an der Metaphysik führt die Ansätze erstens dazu, politische Philosophie stärker von Differenzen als von Einheit aus zu konzeptualisieren. Differenzen können dabei auf unterschiedlichen Ebenen liegen, beispielsweise sprachliche, kulturelle, religiöse, gesellschaftliche usw. Differenzen. Die Ansätze unterscheiden sich darin, inwieweit diese Differenzen an eine formale Einheit zurückgebunden werden. 195 unter anderem kritisiert, dass diese ihre eigenen Prinzipien nicht vollständig realisiere, sondern zu stark an ein zugrunde liegendes Einheitsdenken rückkoppele, weshalb auch von der halbierten Moderne gesprochen wird (vgl. Beck et al. 1996). Differenz wird von den Vertretern der Postmoderne nicht als sekundär im Vergleich zur Einheit verstanden, sondern als Ausgangspunkt und notwendiger Ausdruck sprachlicher und sozialer Prozesse. »Aus dem Bewusstsein des unhintergehbaren Wertes der verschiedenen Konzeptionen und Entwürfe« zeigt sich diese philosophische Transformation der Moderne als »radikal pluralistisch. Ihre Vision ist eine Vision der Pluralität« (Welsch 1987, 39; vgl. Dethloff et al. 2002). Lyotards Schrift Das postmoderne Wissen (1986) gilt als Ankerpunkt dieses differenztheoretischen Plädoyers für die Heterogenität von Erklärungsweisen. 195 Dass diese Betonung von Pluralität nicht notwendig eine Absage an jegliches Einheitssdenken bedeutet, zeigt exemplarisch Vossenkuhl an der Diskussion um Menschenbilder auf. Er skizziert in philosophiehistorischer Hinsicht die verschiedenen »Arten des Scheiterns ganzheitlicher Menschenbilder« (Vossenkuhl 2009, 265) – wie das Scheitern der Perfektionierung des Menschen – und argumentiert, dass angesichts globaler Problemfelder die Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit nach wie vor lebendig ist (vgl. Vossenkuhl 2009, 267 ff.). Angesichts der Transformationen der Moderne sind deshalb neue paradoxe Formen der Ganzheit zu suchen, wie sie beispielsweise die moderne Kunst bereitstellt. A
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Habermas tut dies zum Beispiel mit dem Konsensideal deutlich mehr als Vattimo vom Standpunkt einer radikal hermeneutischen Konzeption aus. Zweitens implizierten alle sechs Autoren ein Philosophieverständnis, das auf der Basis einer Kritik an traditioneller Metaphysik skeptisch gegenüber universalen Aussagen über Wirklichkeit ist. Die Kritik an korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeptionen dient in allen Zugängen als Beispiel hierfür. Die Autoren hinterfragen in unterschiedlichen Formen solche universalen Wahrheits- und Geltungsansprüche, vor allem auch, wenn sie in einer transzendenten Dimension begründet werden. In allen Ansätzen wird drittens in diesem Zusammenhang auf Sprache fokussiert, wobei besonders die Grenzen sprachlicher Kommunikation betont werden. Die Ansätze implizieren in unterschiedlicher Reichweite die These, dass sprachliche Äußerungen nicht auf eine Bedeutung festgelegt werden können und deshalb die Beachtung der unhintergehbaren Pluralität sprachlicher Äußerungen innerhalb der politischen Philosophie wichtig wird. Kritik an der traditionellen Metaphysik bedeutet viertens eine grundlegende Absage an jede Form von sprachlicher Gewalt, die leichter mit metaphysischen Zugängen verbunden werden kann, so vor allem das Argument von Derrida und Vattimo. Daraus ergibt sich eine fundamentale Kritik an der Religion überall dort, wo sie im Rekurs auf metaphysische Argumente gewalttätig handelt, wie bei der Analyse von Rorty exemplarisch gezeigt werden konnte. Bevor die Konsequenzen, die diese unterschiedlich akzentuierten Kritiken an der Metaphysik für die Interpretation der Religion haben, ausbuchstabiert werden, soll noch auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen werden, der den Diskurs über Religion und die Metaphysik als philosophische Teildisziplin betrifft. Es muss angefragt werden, ob die Kritik an der Metaphysik in den unterschiedlichen Spielarten wirklich zu einer Überwindung bzw. notwendig zu einem nachmetaphysischen Zeitalter führt, wie es von Autoren wie Habermas, Rorty oder Vattimo hervorgehoben wird. Dies erscheint nur bedingt möglich, weil alle skizzierten Konzeptionen in verschiedenen Formen selbst auf grundlegende und als allgemeingültig angesehene Deutungen von Wirklichkeit und Menschsein zurückgreifen und damit letzten Endes in einem weit gefassten Denkrahmen der Metaphysik verbleiben. Auf solche Grundannahmen ist jeder philosophische Ansatz verwiesen; sie sollten allerdings offengelegt und kritisch reflektiert werden.
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»Ein auf sich selbst fixiertes, endliches Denken übersieht in seiner universalen Metaphysikkritik stets von Neuem, dass sein eigener Standpunkt ebenfalls ein unendlicher und metaphysischer, wenn auch ein auf denkbar schlechte Weise unendlicher und metaphysischer Standpunkt ist. Denn der Mensch ist immer schon, weil er Mensch und damit Geist ist, in metaphysische Überzeugungen verstrickt. Die Frage ist also nie, ob er eine Metaphysik besitzt oder nicht, sondern stets, ob er eine schlechtere oder bessere Metaphysik besitzt« (Hutter 2007, 97).
Die Argumentation von Derrida reflektiert diesen Vorbehalt am explizitesten und integriert diese Einsicht in die Gedankenfigur der Dekonstruktion, worin sich das hegelsche Erbe seines Gedankenganges widerspiegelt. »Es ist kein Zufall, dass ich seit der Grammatologie (…) ausdrücklich erklärt habe, dass es nicht um das Ende der Metaphysik gehe und dass die Schließung (clôture) nicht gleichzusetzen sei mit dem Ende. Eine Schließung, die ich sehr schnell dahingehend präzisierte, dass sie nicht etwas wie DIE Metaphysik im allgemeinen und im besonderen einschließe, sondern ihren heterogenen Raum nach einem Raster komplexer und nicht zirkulärer Grenzlinien durchschreite« (Derrida 2003a, 3).
Mit dem Verweis auf Derrida lässt sich also hervorheben, »dass die Idee einer gänzlichen Überwindung der Metaphysik selbst eine metaphysische Ansicht ist und zusammen mit der Metaphysik einer Kritik unterzogen werden muss« (Steinmann 2009, 96). Ob die Bezeichnungen anti- oder nachmetaphysisch daher überzeugen können, bleibt fraglich, unabhängig von der innerhalb dieses begrifflichen Rahmens zumindest teilweise überzeugenden Argumentation.
3.7.2. Neufassung des Säkularisierungsparadigmas Von den unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen der Metaphysikkritik ausgehend, entwickeln die skizzierten Ansätze verschiedene Sichtweisen auf die Funktion von Religion in aktuellen gesellschaftlichen Konstellationen. Diese Interpretationen stehen dabei in einem engen Bezug zu den gesellschaftstheoretischen Grundannahmen der Autoren. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen schlagen sie verschiedene Transformationen des Säkularisierungsparadigmas vor. Überblickt man die Ansätze insgesamt, so kann man festhalten, dass die politische Philosophie in der Moderne nicht – wie das traditionelle A
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Säkularisierungsparadigma impliziert – zu einem Ende der Religion geführt hat, sondern dieses Paradigma vielmehr transformiert und damit die gesellschaftliche Rolle von Religion neu ausgelotet wird. Die Kritik an der traditionellen Metaphysik bedeutet heute für die meisten Philosophen also nicht notwendig eine Überwindung oder gar Negation der Religion – dies konnten die Rekonstruktionen deutlich belegen. Allerdings wird Religion dort kritisch in den Blick genommen, wo sie auf weitreichende metaphysische Annahmen rekurriert und diese als universal gültig in den öffentlichen Diskurs einspeist. Kritik an der Metaphysik bedeutet also für die genannten Philosophen mit Ausnahme von Rorty nicht notwendig, dass Religion mit ihrer Deutung von Wirklichkeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern funktional als eine Weltdeutung (kultureller Faktor, Systemkommunikation usw.) unter vielen interpretiert werden sollte. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus nun für die Transformation des Säkularisierungsparadigmas und die gesellschaftliche Funktion von Religion? Hierzu ist noch einmal ein vergleichender Blick auf die sechs Konzeptionen hilfreich. Rorty ist sicherlich derjenige, der am stärksten von der herkömmlichen Säkularisierungsthese geprägt ist. In den öffentlichen Arenen demokratischer Gesellschaften sollten seiner Ansicht nach weltanschauliche Überzeugungen keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung spielen, weshalb Religion aus Sicht des politischen Liberalismus im Privaten angesiedelt wird. Rorty hält Religionen im Extremfall sogar für eine Gefährdung liberaler Gesellschaften, weil Religionen ihre eigenen Wahrheiten verabsolutieren und Grundfragen der privaten Weltdeutung in die politische Öffentlichkeit tragen (vgl. Rorty 1994b). Rorty stellt sich dabei weniger die Frage, wieso Religion heute wieder vermehrt zum gesellschaftlichen Thema wird, sondern betont stattdessen von der Perspektive eines Liberalen aus die Notwendigkeit einer Beschränkung der Religion auf das Private. Die Position des Antiklerikalismus verdeutlicht diese Haltung besonders eindrücklich (vgl. Rorty 2006), indem sie zum Ausdruck bringt, dass Rorty vermutet, Religion wolle mit ihrem Wahrheitsanspruch Sicherheiten etablieren, die für die liberale Ironikerin unannehmbar sind. Liberale Ironikerinnen plädieren im Vergleich dazu für ein ausschließlich säkulares Modell von Öffentlichkeit. Zentral für die Gesellschaftstheorie von Habermas ist die Annahme, dass Menschen in ihrer Lebenswelt kommunikativ handeln 310
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und von dieser Erfahrung ausgehend und vermittelt über die Sphäre der Öffentlichkeit verständigungsorientiert nach kooperativen Lösungen für gesellschaftliche Probleme suchen. In der Tradition der kritischen Theorie stehend, ist seine Gesellschaftsanalyse dabei skeptisch gegenüber allen Formen der Entfremdung, Technisierung und Ökonomisierung (vgl. Habermas 1981b). Habermas setzt sich in Bezug auf die Deutung der Funktion von Religion insofern von Rorty ab, als er eine Transformation des Säkularisierungsparadigmas vornimmt, das in der Theorie des kommunikativen Handelns noch eine wichtige Rolle spielte (vgl. Habermas 2001; ders. 2005). Habermas verlässt dabei allerdings nicht den Boden der deliberativen Theorie und hält deshalb an der Notwendigkeit einer Übersetzung weltanschaulicher Argumente in öffentlichen Diskursen fest. Trotzdem wird den Religionen heute zugestanden, sich nach dieser Übersetzungsleistung aktiv in öffentliche Debatten einzubringen (vgl. Habermas 2008b). Diese neue Aufmerksamkeit für Religion muss vor dem Hintergrund seiner Gesellschaftsanalyse verstanden werden, die in der Tradition der kritischen Theorie steht und die besonders sensibel für gesellschaftliche Pathologien in modernen Gesellschaften und schwindende Solidarität im Zeitalter der Globalisierung ist. Religion wird deshalb wieder zum Thema, weil moderne Gesellschaften angesichts dieser komplexen Problemlage auf moralische Ressourcen angewiesen sind. Religionen stellen solche Ressourcen dar und motivieren Bürger, an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen und kooperative Problemlösungen zu suchen. Die neue Aufmerksamkeit für Religion erklärt sich also aus einer funktionalen Betrachtungsweise, die der Religion gerade in modernen Gesellschaften eine gesellschaftliche Rolle zuerkennt. Damit wird die Säkularisierungsthese von Habermas zwar nach wie vor anerkannt, aber als Postsäkularität transformiert und neu ausbuchstabiert; er spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Dialektik der Säkularisierung. »Zum einen müssen sich Personen, die weder willens noch fähig sind, ihre moralischen Überzeugungen und ihren Wortschatz in profane und sakrale Anteile aufzuspalten, auch in religiöser Sprache an der politischen Meinungsbildung beteiligen dürfen. Zum anderen sollte der demokratische Staat die polyphone Komplexität der öffentlichen Stimmenvielfalt nicht vorschnell reduzieren, weil er nicht wissen kann, ob er die Gesellschaft sonst nicht von knappen Ressourcen der Sinn- und Identitätsstiftung abschneidet« (Habermas 2008a, 45 f.). A
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Der kommunitaristische Zugang von Walzer betont im Gegensatz zu Rorty und Habermas Geschichte und Kultur als soziale Faktoren in Vergemeinschaftungsprozessen. Gesellschaftliche Interaktionen können nicht ohne diese kulturellen Prägungen verstanden werden, denn es gibt keine soziale Kommunikation, die vollständig von den kulturellen oder weltanschaulichen Prägungen der Bürger losgelöst werden kann. Die Wiederkehr der Religion wird bei Walzer vor diesem Hintergrund in zweierlei Hinsicht zum Thema. Auf der einen Seite interpretiert Walzer – in der kommunitaristischen Traditionen stehend – Religion als einen integralen Bestandteil der Kultur und damit gesellschaftlicher Prozesse, was exemplarisch an seinen Arbeiten zum Judentum und zur Gedankenfigur des Exodus zum Ausdruck kommt (vgl. Walzer 1988). Somit wird die neue Aufmerksamkeit für Religion als Spiegelbild der historisch-kulturellen Spuren von Religion erklärt. Der kommunitaristische Ansatz von Walzer trägt auf der anderen Seite Züge des Liberalismus, wodurch die Säkularisierungsthese wieder stärker hervorgehoben wird als in den kommunitaristischen Arbeiten zum Judentum oder Exodus (vgl. Walzer 1998a). Heute betont Walzer in dieser Hinsicht deshalb, dass der liberale Staat den öffentlichen Raum nicht von einzelnen Weltanschauungen dominieren lassen dürfe, sondern für die Integration aller Weltdeutungen und politischen Überzeugungen verantwortlich sei (vgl. Walzer 1998a). Wenn Religionen diese Pluralität im säkular-öffentlichen Raum missachten und stattdessen einzelne Meinungen absolut setzen, ist dies für den politischen Liberalismus problematisch. Walzer hält den liberalen Staat für die bestmögliche Form der Sicherung von Pluralität, womit der Liberalismus als politischer Ausdruck einer dünnen Moral interpretiert wird. Allerdings wurde bereits darauf hingewiesen, dass Walzer mit der – wiederum kulturell bedingten – Kunst der Trennung die inhaltliche Bestimmung des Liberalismus deliberativ ausbuchstabieren will (vgl. Kap. 3.3.2.3.). Das soziologisch ausgerichtete Modell von Luhmann geht von der Annahme aus, dass sich Gesellschaft in unabhängige und operativ geschlossene Teilsysteme ausdifferenziert. So wenig ein System eine Vorrangstellung beanspruchen kann, so wenig kann eine Form der Systemkommunikation ganz aus dem Spiel der Teilsysteme ausgeschlossen werden. Schon aus dieser Grundannahme heraus übernimmt die Religion als gesellschaftliche Kommunikation eine nicht eliminierbare Funktion für moderne Gesellschaften. Daraus wird erklärbar, dass sich 312
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Luhmann schon relativ früh – d. h. zu einer Zeit, in der die Säkularisierungsthese unter Soziologen sehr beliebt war – mit dem Thema Religion beschäftigt hat (vgl. Luhmann 1974; ders. 1977). Die Systemtheorie interpretiert Religion dabei als einheitliches System mit einem binären Code, wodurch allerdings gleichzeitig die kulturelle Ausdifferenzierung von Religion als Teil gesellschaftlicher Prozesse unterminiert bleibt (vgl. Kap. 3.4.3.3.). Die Säkularisierungsthese hat für Luhmann vor diesem Hintergrund eine zweifache Bedeutung. In einer ersten Hinsicht stimmt er der These zu, wenn mit ihr zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Religion keinerlei Vorherrschaft gegenüber anderen Kommunikationssystemen beanspruchen kann (vgl. Luhmann 1981a). In einer zweiten Hinsicht befürwortet Luhmann die Säkularisierungsthese allerdings nicht: Als Systemkommunikation darf Religion nämlich weder systematisch noch historisch aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt werden. Sie ist eine Kommunikationsform unter vielen, und als solche übernimmt sie eine wichtige Funktion in ausdifferenzierten Gesellschaften, die darin besteht, Transzendenz unter den Vorzeichen der Immanenz kommunikativ einzuholen. Damit ermöglicht Religion eine gesellschaftliche Kommunikation über Kontingenz (vgl. Luhmann 2000, 127 ff.). Deshalb räumt Luhmann im Vergleich zu Habermas oder Rorty der Religion einen deutlich größeren Stellenwert innerhalb gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse ein, denn sie übernimmt gerade in ausdifferenzierten Gesellschaften eine wichtige Funktion. Vattimo wiederum betont unter Voraussetzung eines hermeneutischen Verständnisses von Gesellschaft, dass soziale Interaktion und Kommunikation immer von geschichtlichen und kulturellen Kontexten geprägt seien und nicht von diesen losgelöst werden könnten. Dabei spielt für ihn die christliche Religion als elementarer Bestandteil der europäischen Kultur zur Erklärung der gegenwärtigen Struktur dieser Gesellschaften eine wichtige Rolle (vgl. Vattimo 2004c). Die Beschäftigung mit der Religion ist deshalb eine Auseinandersetzung mit den historischen Grundlagen modernen Denkens und daher auf einer zentralen Ebene seines Ansatzes verankert. Diese historisch-kontextuell orientierte Gesellschaftstheorie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem kommunitaristischen Zugang von Walzer. Der Unterschied besteht darin, dass Vattimo die antiautoritäre Botschaft des Christentums als Grundlage der europäischen Moderne und damit die SäkularisieA
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rung als eine Vollendung der christlichen Religion interpretiert. In säkularen Gesellschaften kann Religion deshalb wieder zum philosophischen Thema werden (vgl. Vattimo 1997a). In der Betonung von Sprache und Text teilt Derridas gesellschaftstheoretischer Zugang mit den anderen Autoren die sprachphilosophische Wende der Philosophie und geht gleichzeitig über diese hinaus. Gesellschaft wird von ihm weniger als eine Kooperation autonomer oder sprachlich handelnder Individuen verstanden, sondern als ein textuelles Geschehen. Man könnte diese These zuspitzen auf die Formulierung: Die Gesellschaft ist ein Text (vgl. Derrida 1999, 51). Die Dekonstruktion von Bedeutungen innerhalb dieses textuellen Gewebes konzeptualisiert Derrida als philosophische Form der Gesellschaftskritik. Religion hat gesellschaftlich betrachtet vor allem die Funktion, das Unaussprechbare zur Sprache zu bringen, worin sich eine Nähe zur systemtheoretischen Deutung der Funktion von Religion in modernen Gesellschaften ausdrückt (vgl. Derrida 2001a). Säkularisierung bedeutet deshalb auch für Derrida nicht das Ende der Religion. Zudem kann die Philosophie als Reflexion der différance die strukturelle Ähnlichkeit von Philosophie und Religion erkennen, die darin besteht, das Unaussprechbare sprachlich auszudrücken und dieses gleichzeitig als Leerstelle zu markieren (vgl. Derrida 1989). Die Auffassung von Säkularisierung von Derrida wie Vattimo fokussiert also auf die Erfahrung des Anderen in säkularen Kontexten. Säkularisierung ist ein »Prozess, in dem sich das wahre Religiöse, nämlich die Heiligkeit der Liebe, durchsetzt gegen die verderblichen oder doch archaischen Tendenzen ›Natur‹ [und] ›Macht‹« (Haeffner 1999, 680). Vergleich man die sechs Ansätze, dann zeigt sich in allen mehr oder weniger eine Transformation des herkömmlichen Säkularisierungsparadigmas. Autoren wie Luhmann, Derrida oder Vattimo vollziehen in dieser Hinsicht eine größere Transformation als die liberal und deliberativ orientierten Gesellschaftstheorien. Die grundlegende These des Säkularisierungsparadigmas, dass nämlich moderne Gesellschaften mit fortschreitender Individualisierung, Ausdifferenzierung und Demokratisierung Religion als ein historisches Phänomen ab einem bestimmten Zeitpunkt überwinden werden (vgl. Kap. 1.1.), halten allerdings alle Autoren (mit Ausnahme von Rorty) gleichermaßen für nicht mehr plausibel. Religion wird nicht länger als eine historische Entwicklungsphase verstanden, sondern als ein integraler Bestandteil von Gesellschaft, wobei sich die Form und Bedeutung von Religion na314
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türlich gewandelt hat und auch in Zukunft weiter verändern wird. Der Begriff ›postsäkular‹ von Habermas bringt in diesem Zusammenhang paradigmatisch die Einsicht zum Ausdruck, dass sich auch moderne Gesellschaften nicht nur auf das Überleben der Religionen einstellen sollten, sondern dass diese gesellschaftliches Leben auf unterschiedlichen Ebenen und in vielfältigen Formen prägen werden (Habermas 2001, 24). In der kritischen Diskussion von Habermas wurde allerdings bereits deutlich, dass Begriffe wie ›postsäkulare Gesellschaft‹ Probleme aufwerfen. Denn die aktuelle Phase der Aufmerksamkeit für Religion ist keine neue Phase in einer linearen gesellschaftlichen Entwicklung, sondern Religion hat immer schon in unterschiedlichsten Formen die Gesellschaft geprägt (vgl. Kap. 3.1.3.2.), wie Religionssoziologen wie Casanova oder Joas argumentieren (vgl. Casanova 2009; Joas 2007). Wenn von Säkularisierung oder Postsäkularisierung die Rede ist, sollten deshalb solche Transformationen genügend Beachtung finden, was auch für regional unterschiedlich strukturierte Säkularisierungsprozesse gilt (vgl. Joas/Wiegandt 2007). 196 Es ist daher wichtig, keine einfachen Generalisierungen des Verhältnisses von Religion und gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu postulieren, sondern stattdessen (Post-)Säkularisierung als einen komplexen Prozess zu verstehen, der sich je nach kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten anders vollzieht. Dazu gilt es, religiöse und politische Strukturen in ein Verhältnis zueinander zu setzen, Mythen von Säkularisierung aufzuschlüsseln oder kulturelle Formen wie Kunst oder Architektur auf ihre Rezeption von Säkularisierung hin zu untersuchen (vgl. Martin 1979). »Like most important concepts, such as God and religion, secularisation is semantically rich, contradictory and paradoxical, as well as saturated in resonances, many of them to do with the immanent direction of history. A theory of secularisation therefore has to delimit its meaning and reduce the resonances« (Martin 2005, 58).
196 In die Sprache der Postmoderne übersetzt bedeutet dies: Säkularisierung kann heute nicht mehr den Status einer ›großen Erzählung‹ beanspruchen (vgl. Treml/Weidner 2007), sondern muss deskriptiv und normativ je nach historischen, gesellschaftlichen sowie kulturellen Kontexten erklärt und in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen kritisch diskutiert werden.
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Vor diesem Hintergrund kann Säkularisierung auch nicht mehr als Gegensatz zur Religion verstanden werden, sondern religiöse und säkulare Prozesse laufen gleichzeitig in Gesellschaften ab und sind ineinander verwoben. Daher »sollten Prozesse der Säkularisierung, der religiösen Transformation und Erweckung sowie der Aktualisierung als fortlaufende, sich wechselseitig konstituierende, globale Prozesse statt als sich gegenseitig ausschließende Entwicklungen« (Casanova 2009, 94) betrachtet werden. 197 Mit einer solchen Auffassung von Säkularisierung ist es möglich, die Vielfalt religiöser Formen und Prozesse zu erfassen. Wahrscheinlich, so ließe sich mit Rekurs auf Derrida anmerken, ist es gerade das westliche Verständnis von Religion, das stark am Einheitsdenken des Christentums orientiert ist und damit oftmals die Anerkennung einer solchen Ausdifferenzierung von Säkularisierungsprozessen und religiösen Feldern verhindert. »Aus einer westlichen, monotheistischen Perspektive mag eine polytheistische und pluriforme individuelle Freiheit als ein hochgradig neuartiger und postmoderner Zustand erscheinen. Aus nicht-westlicher Perspektive, insbesondere für asiatische, pantheistische religiöse Traditionen gleicht dieser Zustand ziemlich dem altbekannten Stand der Dinge« (Casanova 2009, 106).
Das, was sich dann als normativer Kern von Säkularisierung zeigt, ist die Anerkennung dieser Vielfalt und die Forderung nach Toleranz, die durch positive wie negative Religionsfreiheit politisch abgesichert werden sollte – diese Forderung findet sich in unterschiedlichen Spielarten bei allen rekonstruierten Konzeptionen wieder. 198 »Will man eine Essenz von Säkularisierung benennen, dann liegt diese weniger im Verhältnis Religion und Politik als in der Anerkennung pluralistischer Gesellschafts- und Religionsverhältnisse, konkret: in der Akzeptanz negati197 Diese Verschränkung religiöser und säkularer Prozesse gilt auch für die Religionsgemeinschaften selbst, denn in diesen gehen religiöse und säkulare Überzeugungen in einem fließenden Prozess ineinander über (vgl. Kap. 3.1.3.3.). So spricht auch die Mehrdimensionalität sozialer Gebilde für eine komplexe Verschränkung von religiösen und säkularen Überzeugungen und Argumenten (vgl. Reder 2009c). Dabei spielt eine entscheidende Rolle, dass die vermeintlich säkular-rationalen Absichten oftmals einen hybriden Charakter aufweisen, was Vossenkuhl mit Blick auf Kant und Hume auf der Basis einer Verknüpfung empirisch-psychologischer, entscheidungs- und handlungstheoretischer Überlegungen aufzeigt (vgl. Vossenkuhl 2005). 198 Dabei gilt es, für die unterschiedlichen Kontexte die je eigenen Bedingungen einer politisch gelungenen Religionsfreiheit in den Blick zu nehmen (vgl. Heimbach-Steins et al. 2006).
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ver Religionsfreiheit und im Postulat individueller Religionswahl. (…) Anders gesagt: der Indikator für das Gelingen religiöser Globalisierung und multireligiöser Gemeinwesen ist die Fähigkeit, Glaubenszweifel, Kritik und Beleidigungen auszuhalten« (Leggewie 2007, 21).
Auffällig an den rekonstruierten Transformation des Säkularisierungsparadigmas ist dabei, dass die Ansätze, die stärker differenztheoretisch argumentieren, Religion meist unvoreingenommer in den Blick nehmen, ohne schon von Beginn an – sei es durch begriffliche Engführung oder normative Forderungen – deren Handlungsspielraum oder Geltungsanspruch einzuschränken. Während sich Habermas und Rorty zögerlich und teilweise einschränkend der Religion nähern, fällt es Derrida und Vattimo offensichtlich leichter, Religion als Religion zum Thema der politischen Philosophie zu machen (vgl. exemplarisch Gschwandtner 2013). Die Ansätze, die in der politischen Philosophie also stärker von der Differenz als von der Einheit her argumentieren, gehen oft, so die Schlussfolgerung, unvoreingenommener mit der Wiederkehr der Religion um und fassen die gesellschaftliche Funktion der Religion weiter, als dies klassische Ansätze der Moderne tun. 199
3.7.3. Leerstellen des Diskurses Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, was die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der analysierten Ansätze hinsichtlich ihrer Kritik an der Metaphysik, den gesellschaftstheoretischen Grundlagen und ihres Verständnisses von Säkularisierung sind. Vergleicht man vor diesem Hintergrund die Rekonstruktionen und Diskussionen der Ansätze, dann kristallisieren sich einige 199 Einige Autoren sprechen deshalb sogar von einem »Postmodern Return of Religion« (Robbins 2007, 10), weil Religion in postmodernen Ansätzen meist eine erkennbar größere Bedeutung spielt als in der politischen Philosophie der Moderne. Vattimo, Derrida oder Caputo stehen stellvertretend hierfür. »This transition from the death of God to postmodern faith (or, if you will, from secularism to postsecularism) is one of the definitive chapters in contemporary religious thought« (Robbins 2007, 13). Vattimo selbst weist zu Recht darauf hin, dass dieses Interesse an religiösen Fragen unter anderem auch in den Ansätzen der philosophischen Lehrer der Postmoderne begründet liegt, denn sowohl Heidegger als auch Gadamer haben gerade mit ihren hermeneutischen Zugängen die Frage nach Gott und dem Absoluten wieder philosophisch salonfähig gemacht (vgl. Vattimo 2007, 44 f.).
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Problemfelder heraus, die bei einer Weiterentwicklung des Diskurses besonders zu beachten sind. Ein erstes Problem besteht darin, dass einige Ansätze zwar implizit einen bestimmten Religionsbegriff verwenden, diesen aber nicht eigens reflektieren und damit Vorentscheidungen nicht explizit thematisieren. Begründet wird dies meist mit dem Hinweis darauf, dass sich die politische Philosophie mit einem äußeren Blick auf die Religion zufriedengeben sollte und sich nicht auf religionsphilosophische Spekulationen einlassen darf, weil sonst die Grenze zwischen Philosophie und Religion durchlässig zu werden droht (vgl. Habermas 2005, 252; ders. 2008b). Diese Einschätzung greift jedoch zu kurz, weil auch in einer ausschließlichen Außenansicht auf die gesellschaftliche Funktion von Religion ein bestimmtes Verständnis von Religion impliziert ist, das es zu thematisieren gilt (vgl. Ollig 1998, 573; Thomalla 2007, 131). Deshalb wird es in der Weiterführung des Diskurses vor allem auch darum gehen, die Religionsauffassungen kritisch zu diskutieren und Möglichkeiten für ein plausibles Verständnis von Religion zu eröffnen. Mögliche Ansatzpunkte hierfür bieten Autoren wie Derrida, Vattimo oder Luhmann, die Religion vor dem Hintergrund der Rezeption eines an der negativen Theologie bzw. der jüdischen Tradition orientierten Verständnisses als Einbruch der Transzendenz in die Immanenz philosophisch konzeptualisieren und mögliche Konsequenzen für den gesellschaftlichen Umgang mit der Religion thematisieren. Gleichzeitig bleibt allerdings auch bei diesen drei Autoren der Religionsbegriff zu unbestimmt, was sich exemplarisch an der philosophischen ›Entleerung‹ zentraler Begriffe der Religion, wie beispielsweise des Gottesbegriffs, zeigen lässt (vgl. Kap. 3.4.3.2., Kap. 3.5.3.1. und Kap. 3.6.3.3.). Dies wird bei der Weiterentwicklung des Diskurses besonders zu beachten sein. Die Rezeption der negativen Theologie, die in vielen Religionen eine gleichermaßen wichtige Rolle spielt, ist hierfür ein hilfreicher Ansatzpunkt – gerade auch für einen interreligiösen und interkulturellen Dialog. In der Weiterführung des Diskurses wird zweitens die Diskussion des Verhältnisses von Glauben und Wissen eine zentrale Rolle spielen. Es ist in der aktuellen Debatte über Religion gewissermaßen zu einer Gretchenfrage bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion von Religion geworden. Dass das »Verhältnis von Glaube und Vernunft nicht allein für den akademisch-philosophischen Bereich relevant ist, zeigt das öffentliche Interesse, das dieser Auseinandersetzung in Euro318
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Schnittflächen und Kritikpunkte im Diskurs über Religion
pa wie auch in den USA gezollt wird. Wer meint, es ginge hier bloß um ein intellektuelles Glasperlenspiel, der irrt. Es geht um viel mehr! Zum Beispiel um die Frage, welche Rolle der Religion und mit ihr den verfassten Formen der Kirchen in einer pluralen Gesellschaft zukommen sollen« (Engel 2006, 12). Die verschiedenen Bestimmungen des Verhältnisses von Glauben und Wissen sind (wie aufzeigt) mit unterschiedlichen Problemen behaftet. Deshalb wird es auch darum gehen, eine überzeugende Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen zu entwickeln, mit der die gesellschaftliche Funktion von Religion erklärt werden kann. In der weiteren kritischen Reflexion wird drittens die Funktion der Religion näher zu analysieren sein. Das Religionsverständnis, das von den meisten Ansätzen verwendet wird, ist ein funktionales. Die Ansätze unterscheiden sich allerdings hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dieser Funktion und in ihrer normativen Bewertung. Habermas fokussiert vor allem auf die normative Funktion, Vattimo auf die hermeneutische im Sinne einer Stärkung schwachen Denkens und Luhmann auf die Bereitstellung einer Kommunikation über das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz. Damit vermeiden die Autoren meist ein substanzialistisches Verständnis und interpretieren Religion als ein soziales Phänomen mit einer bestimmten Funktionalität. Die liberal geprägten Autoren richten dabei einen stärkeren Fokus auf den einzelnen Gläubigen, für den Religion eine individuelle Funktion übernehmen kann; an Pragmatismus und Hermeneutik orientierte Ansätze legen dagegen den Schwerpunkt auf die soziale Dimension der Religion. Die Diskussion der Konzeptionen zeigte in diesem Zusammenhang bereits, dass einzelne Bestimmungen der gesellschaftlichen Funktion von Religion einseitig sind und an einigen Stellen nur bedingt dem Phänomen der Religion entsprechen. Oftmals scheint zudem ausschließlich der christliche Religionsbegriff den Überlegungen zugrunde gelegt zu werden. Damit sind weitreichende Begrenzungen verbunden, wie zum Beispiel die Übertragung der Funktionsbestimmungen auf andere Kulturen und die Weltgesellschaft als Ganzes. Die Frage nach der Funktion der Religion in der Weltgesellschaft wird durch den »›christlichen Glauben‹ eng geführt (…). Ähnliches ist ja aus der Globalisierungsdiskussion vertraut, die wir (wir!) aus der Perspektive des ›okzidentalen Rationalismus‹ führen« (Bolz 2008, 13). Die aktuellen Ansätze implizieren außerdem unterschiedlich stark A
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einen moralischen Reduktionismus, wodurch die Funktionalität der Religion deutlich zu eng bestimmt wird (vgl. exemplarisch Kap. 3.1.3.2.). Diesen Reduktionismus gilt es zu vermeiden und ein weites funktionales Religionsverständnis zugrunde zu legen. Die normative Funktion von Religion kann in diesem Zusammenhang außerdem nur dann überzeugend bestimmt werden, wenn in der politischen Philosophie die Fragen nach dem Guten und dem Gerechten nicht voneinander geschieden werden. Dies ist allerdings in der politischen Philosophie oftmals der Fall, weshalb im Folgenden mit Rekurs auf die hegelsche Tradition politischer Philosophie für eine Verschränkung von Moralität und Sittlichkeit argumentiert wird (vgl. Kap. 2.3.3.). Damit wird die philosophische Reflexion über das Gute und Gerechte verbunden, und vor diesem Hintergrund die Bedeutung der normativen Funktion der Religion erklärt. In der politischen Philosophie spielt viertens die Frage nach der Kultur bislang eine untergeordnete Rolle, was sich wiederum in der Vernachlässigung kultureller Einflüsse beim Nachdenken über die gesellschaftliche Funktion von Religion niederschlägt (vgl. exemplarisch Kap. 3.4.3.3.). Mit Rekurs auf die Forschungen der Kulturphilosophie sowie der interkulturellen Philosophie kann diese Leerstelle gefüllt werden. Mit dieser Vernetzung verschiedener philosophischer Persektiven kann Religionen in ihrem Wechselverhältnis zu anderen kulturellen Einflussfaktoren thematisiert werden. Dieser Zusammenhang wird im aktuellen Diskurs zwar immer wieder angedeutet, bedarf aber einer systematischen Reflexion – vor allem auch, um die interne wie externe kulturelle Ausdifferenzierung der Religionen gesellschaftstheoretisch erklären zu können. Als Fünftes gilt es abschließend, die Funktion von Religion im politischen Feld zu diskutieren. In diesem Zusammenhang sind auch die Grundlagen der politischen Philosophie selbst in den Blick zu nehmen. Ob Religionen als Teil der politischen Öffentlichkeit beachtet werden, hängt nämlich auch davon ab, wie Pluralität auf einer grundlegenden theoretischen Ebene verarbeitet wird. Dass die Ansätze, die stärker in der liberalen Tradition der politischen Philosophie stehen, Religionen nur bedingt als Teil eines gesellschaftlichen Pluralismus wahnehmen, belegen die vorangegangenen Überlegungen (vgl. Kap. 3.7.1.). Es wird deshalb zu diskutieren sein, welche Alternativen es zum vorherrschenden liberalen Paradigma innerhalb der politischen Philosophie gibt und welche Konsequenzen sich daraus für neue vielstimmige Reden über Religion ergeben. 320
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4. Transformationen für den Diskurs über Religion
Die vorangegangenen Rekonstruktionen haben einen differenzierten Blick auf den Diskurs über die gesellschaftliche Rolle von Religion ermöglicht. Dabei wurde deutlich, dass Religion als Thema der politischen Philosophie wieder ernst genommen wird und dass in unterschiedlicher Richtung ihre Funktion in demokratischen Gesellschaften neu ausgelotet wird. Die kritischen Anmerkungen zu den einzelnen Zugängen haben gleichzeitig auch die Begrenzungen dieses Diskurses markiert. Im folgenden Kapitel werden deshalb Möglichkeiten aufgezeigt, den Diskurs insgesamt weiterzuentwickeln. Dabei geht es zuerst um die Reflexion auf ein überzeugendes Religionsverständnis selbst (Kap. 4.1.). In den meisten Ansätzen wird nämlich ein Religionsverständnis implizit vorausgesetzt, ohne dass dieses offengelegt und dessen Begrenzungen reflektiert werden. Mit Blick auf drei Konzeptionen der Philosophiegeschichte soll diese Lücke geschlossen und ein Religionsverständnis entfaltet werden, das zur Erklärung der Bedeutung von Religion in gesellschaftlichen Prozessen hilfreich sein kann. Von den philosophiehistorischen Impulsen ausgehend, wird Religion als eine soziale und kulturelle Praxis konzeptualisiert, die Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens ist und als solche den Menschen in seiner ganzen Lebenswirklichkeit betrifft (Kap. 4.2.). Dabei wird aufgezeigt, wie auf der Basis der philosophiehistorischen Impulse das Verhältnis von Glauben und Wissen, das sich als eine Querschnittsfrage erwiesen hat, gefasst werden kann (Kap. 4.3.). Des Weiteren wird ein weites funktionales Religionsverständnis entworfen, das insbesondere einen moralischen Reduktionismus vermeidet. Dabei wird außerdem diskutiert, welche Konsequenzen sich in ethischer Hinsicht für die politische Philosophie insgesamt aus der Beschäftigung mit der Religion ergeben können (Kap. 4.4.). Das bislang zu wenig beleuchtete Verhältnis von Religion und Kultur (Kap. 4.5.) und die Konsequenzen, die sich A
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aus den identifizierten Kritikpunkten für das Verständnis der Religion als Teil politischer Prozesse ergeben (Kap. 4.6.), werden in den beiden letzten Teilen aufgezeigt. Dabei erweist sich die Frage nach der Religion für die aktuelle Debatte der politischen Philosophie vor allem als ein Präzedenzfall des Pluralismus, an dem sich demokratische Gesellschaften zu bewähren haben.
4.1. Philosophiehistorische Impulse In einem ersten Schritt wird im Folgenden ein philosophiegeschichtlicher Blick eröffnet, von dem konstruktive Impulse für die Weiterführung des aktuellen Diskurses ausgehen können – insbesondere mit Blick auf die identifizierten Leerstellen (vgl. Kap. 3.7.3.). Dabei handelt es sich um das Religionsverständnis von Nikolaus von Kues, Friedrich Schleiermacher und John Dewey. Für die Auswahl dieser drei Autoren sprechen mehrere Gründe: Erstens sind alle drei Konzeptionen in Zeiten entworfen worden, in denen sich Gesellschaften im Umbruch befunden haben und in denen die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Religion innerhalb der Philosophie umstritten war. Die Analyse dieser Konzeptionen ist deswegen ein Spiegelbild dafür, wie Autoren auf gesellschaftliche Umbrüche reagiert haben. Daraus lassen sich Anregungen für die aktuellen Veränderungen einer ›postsäkularen‹ Gesellschaft gewinnen. Zweitens werden die drei Ansätze in den skizzierten Konzeptionen der Gegenwartsphilosophie bereits an unterschiedlichen Stellen rezipiert (vgl. Habermas 2005; Derrida 1989; Luhmann 1997; Rorty 1989), weshalb es für die weitere Reflexion der kritischen Aspekte des Diskurses hilfreich ist, diese Grundlagen noch einmal genauer in den Blick zu nehmen. Allerdings werden im Diskurs über Religion insgesamt diese drei philosophiehistorischen Ansätze nicht ausreichend wahrgenommen, was ein weiteres Argument für die Auswahl ist. Dies gilt ganz besonders für Nikolaus von Kues, der zwar in theologischen Kreisen intensiv rezipiert wird, dessen philosophische Anregungen für das Verständnis von Religion jedoch – gerade in pluralen interreligiösen Konstellationen – erst langsam Beachtung finden. Dies gilt in gewisser Weise auch für Schleiermacher, der das Religionsverständnis moderner Gesellschaften entscheidend geprägt hat, aber im philosophischen Diskurs, zum Beispiel im Vergleich zu Kant, weiterhin nur ansatzweise thema322
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tisiert wird (vgl. dazu Habermas 2005, 216–257). Der Ansatz von Dewey kann schlussendlich helfen, die vor allem bei der Rekonstruktion des rortyschen Ansatzes identifizierten Probleme einer pragmatistischen Religionstheorie weiterzudenken. Das kritische Potenzial der drei philosophiegeschichtlichen Konzeptionen für ein überzeugendes Verständnis von Religion in modernen Gesellschaften wird also, so lässt sich resümieren, im aktuellen Diskurs zu wenig beachtet, obwohl die drei Ansätze überzeugende Alternativen bieten, um die aufgezeigten Leerstellen schließen zu können. Deshalb werden im Folgenden diese drei Ansätze pointiert vorgestellt.
4.1.1. Wissendes Nichtwissen über das Absolute (Nikolaus von Kues) Die Renaissance ist sowohl in politischer, ökonomischer, geistesgeschichtlicher als auch religiöser Hinsicht eine gravierende Umbruchzeit. Philosophisch betrachtet werden die Fundamente des theologischen Denkens der Scholastik Stück für Stück aufgelöst, wodurch sich das philosophische Verständnis von Religion radikal verändert. Gesellschaftlich betrachtet verliert im Zuge dessen die Religion ihre politische Vormachtstellung, worin sich vor allem die Trennung von Staat und Religion in der Neuzeit ankündigt. 1 Das Nachdenken der Renaissance über Religion fußt dabei auf einigen philosophischen Theoremen wie der Aufwertung des Individuums (vgl. Pico della Mirandola 1496/1990), der Betonung des freien Willens und der selbstständigen Gestaltung des Politischen (vgl. Morus 1516/1990) oder der besonderen Hinwendung zu naturwissenschaftlicher Forschung (vgl. Bacon 1620/1990). Mit all diesen Entwicklungen geht eine Neubestimmung der Erkenntnis einher, indem diese relational, d. h. in Bezug auf das Individuum verstanden wird. Dadurch werden das scholastische Rationalitätsverständnis begrenzt und das Erkenntnisvermögen auf seine Grenzen hin befragt, was bei
Die Ähnlichkeit der Umbruchsituation der Renaissance mit der heutigen Zeit betont beispielsweise Markus Riedenauer (2009, 23 f.); vgl. auch die entwicklungshistorischen Rekonstruktionen von David S. Landes zu Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind (1999).
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einigen Autoren wie Montaigne so weit führt (vgl. Montaigne 1580– 1588/1992), dass dieser die Skepsis zum zentralen Movens der Philosophie im Sinne einer ständigen Reflexion auf die Erkenntnisgrenzen erhebt. »Ich finde diese Auffassung – dass also unser geistiges Vermögen zu manche Erkenntnis führen könne, seiner Macht aber bestimmte Grenzen gesetzt seien, über die hinaus es in Anspruch zu nehmen unvernünftig wäre – maßvoll und wohltuend bescheiden« (Montaigne 1580–1588/1992, 359).
Paradigmatisch kommen diese Einsichten der Renaissance in den philosophisch-theologischen Arbeiten von Nikolaus von Kues zum Ausdruck. Auf die skizzierten Transformationsprozesse reagierend, entwickelt er einen Religionsbegriff, der bis heute wichtige Anregungen für den aktuellen Diskurs geben kann. Für die Illustration seiner Überlegungen ist sein Werk De docta ignorantia (Nikolaus von Kues 1440/ 1994) besonders geeignet. In den ersten Kapiteln dieses Buches entfaltet er in pointierter Weise seine Auffassung von menschlicher Erkenntnis. Dazu greift er auf die Unterscheidung von ratio (Verstand) und intellectus (Vernunft) zurück. Menschliche Erkenntnis geht seiner Argumentation zufolge von den Sinneswahrnehmungen aus; im Verstand werden diese miteinander verglichen, Schlussfolgerungen gezogen und Begriffe gebildet. Die Tätigkeit des Verstandes besteht »also im Setzen von Beziehungen und Vergleichen« (Nikolaus von Kues 1440/1994, 7). Die Art und Weise, wie verglichen wird, erläutert Nikolaus von Kues mit dem Hinweis auf Zahlen, denn Vergleichen ist seiner Interpretation nach ein Akt des Zählens, weshalb er Ähnlichkeitsbeziehungen als quantitative Proportionalitäten deutet (vgl. Nikolaus von Kues 1440/1994, 9). Der Verstand kann allerdings die Gegenstände durch solche zahlenmäßigen Vergleiche nicht vollständig abbilden, sondern sich ihnen nur annähern. Für die Erkenntnis quantitativer als auch qualitativer Eigenschaften gilt deshalb, dass sie jeweils nur in Annäherung an den Erkenntnisgegenstand erfolgen kann. Kantisch gesprochen kann daher das Sein an sich niemals vollständig erkannt werden, worin sich ein zentrales strukturelles Merkmal des menschlichen Erkenntnisvermögens zeigt, denn der Geist »erfasst die Wahrheit niemals so genau, dass sie nicht ins Unendliche immer genauer erfasst werden könnte« (Nikolaus von Kues 1440/1994, 15). Diese Einsicht in die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens bezeichnet Nikolaus von Kues 324
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als belehrtes Nichtwissen, wobei diese Einsicht nur mit der Vernunft möglich ist. 2 Besonders deutlich wird die Struktur und Begrenzung menschlicher Erkenntnis beim Nachdenken über Gott als dem schlechthin Größten. Wenn Nikolaus von Kues endliche Erkenntnis als Annäherung an den Erkenntnisgegenstand bestimmt und das wissende Nichtwissen zum Erkenntnisideal erhebt, so gilt dies besonders für die Erkenntnis des Absoluten. Zentrale Gedankenfigur ist für Nikolaus von Kues hierbei das Ineinsfallen der Gegensätze: weil das Absolute »sich aller Vergleichbarkeit entzieht« (Nikolaus von Kues 1440/1994, 9) und damit alle endlichen Gegensätze übersteigt, kann sich die Vernunft ihm nur nähern, indem sie es als den Zusammenfall der Gegensätze denkt. Deshalb ist das Absolute »erhaben über alle bejahenden und verneinenden Aussagen« (Nikolaus von Kues 1440/1994, 19). Diese Koinzidenz der Gegensätze ist ebenfalls mit dem Verstand nicht erkennbar, sondern nur mittels der Vernunft einsehbar (vgl. Haubst 1991). Die Koinzidenz der Gegensätze ist die grundlegende Denkfigur von Nikolaus von Kues beim Nachdenken über Gott und als solches kein ontologisches Moment der Wirklichkeit bzw. des Absoluten, sondern eine formale Vernunftoperation, um über das Absolute überhaupt sprechen zu können. Das Maximum als mathematischer Ausdruck des Absoluten wird nicht als höchstes Seiendes interpretiert, sondern als ein alle Gegensätze Übersteigendes und damit allen Verstandesüberlegungen immer schon Vorausgesetztes (vgl. Flasch 1990; Inthorn/Reder 2005). Nikolaus von Kues will mit diesen Überlegungen also keinen Gottesbeweis liefern, sondern es geht ihm um ein angemessenes Sprechen über das Absolute, in dem die Grenzen des Verstandes mitbedacht werden. 3 Auch wenn Erkenntnis als Annäherung an den Erkenntnisgegenstand charakterisiert wird, so gibt Nikolaus von Kues damit allerdings nicht den Wahrheitsbegriff der Scholastik auf. Platonisch gesprochen kann für ihn die sich ständig präzisierende Verstandeserkenntnis vielmehr an der absoluten Wahrheit teilhaben. Indem jedoch die Grenzen eines objektiven Wissens anerkannt werden, ist dem Menschen gleichermaßen eine Einsicht in grundlegende Wirklichkeits- und Erkenntnisstrukturen möglich. Das belehrte Nichtwissen als Einsicht in diese Grenzen menschlichen Erkennens wird zum Ideal, weil es dem Menschen eine umfassende Kenntnis über sich und die Wirklichkeit ermöglicht: »Je gründlicher wir in dieser Unwissenheit belehrt sind, desto näher kommen wir an die Wahrheit selbst heran« (Nikolaus von Kues 1440/1994, 15). 3 Parallelen zu dieser negativ dialektischen Gedankenfigur beim Nachdenken über das Absolute finden sich in der Geschichte des Islam, unter anderem bei dem mittelalterli2
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Damit transformiert Nikolaus von Kues erkenntnistheoretisch betrachtet das aristotelische Nichtwiderspruchsprinzip, das besagt, dass etwas nicht unter der gleichen Rücksicht sein und nicht sein kann. Dieses Prinzip sicherte in der scholastischen Tradition die Evidenz der Erkenntnis und war damit notwendige Erkenntnisbedingung. Die Gedankenfigur der Koinzidenz der Gegensätze muss als Kritik dieser philosophischen Tradition verstanden werden, vor allem, weil Nikolaus von Kues betont, dass nicht nur konträre Gegensätze in Gott zusammenfallen, sondern auch kontradiktorische. Er hebt damit zwar das Nichtwiderspruchsprinzip nicht auf, will aber sehr wohl seine Reichweite auf den Verstand begrenzen (vgl. Aertsen 1993), denn die Verabsolutierung des Prinzips ist für ihn eine unbegründete Setzung jenseits des Prinzips. Die Gedankenfigur der Koinzidenz der Gegensätze ist demgegenüber für Nikolaus von Kues eine adäquatere Form, um über das Absolute zu sprechen. 4 chen Theologen und Religionsphilosophen Al Ghazzali. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass beide die Grenzen rationaler Aussagen über Gott philosophisch begründen. Al Ghazzali argumentiert, dass alles, was über Gott ausgesagt werden kann, durch die Logik der Sprache selbst bedingt ist (vgl. Al Ghazzali 1095–1105/2002). Deshalb kritisiert er kausal-logische Bemühungen, Gott zu erfassen und betont stattdessen, dass die göttliche Offenbarung (insbesondere der Koran) die zentrale Möglichkeit zur Gotteserkenntnis eröffnet – allerdings nicht im Sinne einer absoluten Erkenntnis, sondern im Sinne eines Sich-Einlassens auf den im Geheimnis verborgenen Gott. Sieht man einerseits deutlich die Unterschiede zwischen Al Ghazzali und Nikolaus von Kues (beispielsweise in der stärkeren Betonung der Offenbarung durch heilige Schriften bei Al Ghazzali), so wird andererseits auch deutlich, dass die Reflexion auf die Grenzen rationaler Aussagen über Gott ein gemeinsames Kennzeichen der christlichen wie islamischen Tradition ist. Diese These kann auch mit einem Blick auf die Religionsgespräche im Mittelalter und in der Renaissance belegt werden (vgl. Lutz-Bachmann/Fidora 2004). 4 Der Gedanke der Koinzidenz findet sich bereits bei einigen mittelalterlichen Philosophen, beispielsweise bei Meister Eckhart, Gerson oder Raimundus Lullus (vgl. hierzu Meier 1988). Meister Eckhart spricht von der Koinzidenz von Anfang und Ende. Gerson will neben der aristotelischen Logik eine logic fidei etablieren, die nicht mit dem Widerspruchsprinzip operiert und deshalb eine geeignete Möglichkeit ist, über den Glauben an Gott zu sprechen. Bei Heymericus de Campo, dessen Schüler Nikolaus von Kues ist, finden sich wiederum die deutlichsten Hinweise auf die Gedankenfigur der Koinzidenz der Gegensätze. In seiner spekulativen Symboltheologie ersetzt er die lullsche Konvertibilität der neun Grundwürden Gottes durch den Gedanken der Koinzidenz und argumentiert, dass in Gott die drei aristotelischen Ursachen koinzidieren. Die Koinzidenz der Gegensätze war als Gedankenfigur im Mittelalter also bereits bekannt, wurde allerdings von Nikolaus von Kues zugespitzt und als grundlegende religionsphilosophische Gedankenfigur eingeführt.
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Die Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen ermöglicht Nikolaus von Kues damit ein Nachdenken über Religion in Form einer negativen Theologie, an die beispielsweise Autoren wie Derrida oder Luhmann anschließen (vgl. Reder 2012c). Die Frage nach Gott ist für Nikolaus von Kues keine Frage nach dessen Wesen, sondern nach den Voraussetzungen menschlichen Denkens überhaupt. Das Absolute ist Nikolaus von Kues zufolge das, was allen endlichen Gegensätzen vorausgeht (vgl. Stallmach 1979) und damit alle Formen der Bejahung und Verneinung übersteigt. Wie für die Mystik ist für Nikolaus von Kues damit keine vollkomme Gotteserkenntnis des Verstandes möglich, sondern nur eine Schau Gottes jenseits aller endlichen Gegensätze mit der Vernunft. 5 Typisch ist für dieses, in der Tradition der negativen Theologie stehende, Religionsverständnis eine paradoxale Bildsprache, die sich unter anderem in der an Dionysius angelehnten Rede über Gott als nonaliud (als Nicht-Anderen) ausdrückt. »Da nämlich das Andere nichts anderes ist als eben das Andere, so hat es unbedingt das ›Nichtandere‹ zur Voraussetzung, ohne das es nicht das Andere wäre. Folglich gilt jede andere Bezeichnung als die des ›Nichtanderen‹ als etwas anderes als der Ursprung. (…) Sie [die Gewandtheit des Geistes] vermittelt dir jetzt die klarste Erkenntnis, dass die Bezeichnung des ›Nichtanderen‹ uns nicht nur als Weg zum Ursprung dient, sondern den unaussprechlichen Namen Gottes näher umschreibt« (Nikolaus von Kues 1462/1987, 35 f.).
Natürlich bedient sich die negative Theologie ebenfalls affirmativer Aussagen beim Nachdenken über Gott 6 , um – wie Nikolaus von Kues sagt – sich an die Mauer des Paradieses vorzuarbeiten. Eine adäquate Einsicht in die Existenz Gottes ist aber auch in diesem Zusammenhang nur mit der Vernunft möglich. »So habe ich den Ort gefunden, an dem Du unverhüllt gefunden werden kannst. Er ist vom Ineinsfall der Gegensätze umgeben. Er ist die Mauer des Paradieses, in dem Du wohnst. Seine Pforte bewacht der höchste Geist des Verstandes. Wird dieser nicht besiegt, wird der Zugang nicht offen sein« (Nikolaus von Kues 1453/2000, 67).
Vgl. beispielsweise die Auseinandersetzung, die Nikolaus von Kues mit den Tegernseer Mönchen über die mystische Theologie führt und die sich in dem Band De visione dei widerspiegelt (vgl. Nikolaus von Kues 1453/2000). 6 In diesem Zusammenhang dienen beispielsweise affirmative Überlegungen des Verstandes zur Trinität als ein Weg zur Annäherung an die Gedankenfigur der Koinzidenz (Nikolaus von Kues 1440/1994, 73 ff.). 5
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In der Renaissance war eine solche Form des Nachdenkens über Religion alles andere als unumstritten. So kritisiert beispielsweise der Heidelberger Theologe Johannes Wenck mit seiner Schrift De ignota litteratura (Wenck 1442/1910) die Überlegungen des Nikolaus von Kues zur Religion scharf und wirft ihm sogar Häresie vor, weil er Gott verendliche, eine trinitarische Gottesrede unmöglich mache und vor allem keine adäquate Form der Idee der Menschwerdung Gottes zulasse. 7 Kurt Flasch fasst die Kritik von Wenck pointiert zusammen: »Diese Schrift des Cusanus widerspreche dem christlichen Glauben; sie führe die Geister vom Gehorsam gegen Gott ab; sie verhindere die wahre christlich hingegebene Meditation und setze an ihre Stelle eine wissenschaftliche Sehweise, eine visio scientalis, die den Geist nur aufblähe« (Flasch 1998, 181).
Wencks philosophische Kritik richtet sich an die Transformation der Überlegungen von Aristoteles durch Nikolaus von Kues und dabei insbesondere an seine Interpretation des Nichtwiderspruchsprinzips, das Grundlage jedes vernünftigen Argumentierens sei. »Cusanus zerstöre jede wissenschaftliche Diskussion, indem er das Verbot aufhebe, widersprechende Sätze sogleich für wahr zu halten« (Flasch 1998, 183). Wenck will die Möglichkeit von Wissen mit philosophischen Mitteln sichern und plädiert im Sinne von Aristoteles für eine Einordnung der sinnlich wahrnehmbaren Vielheit in ein Kategorienschema. Die Methode der erkenntnistheoretischen Annäherung des Nikolaus von Kues zerstöre gerade ein solches Ordnungsschema, wodurch nicht nur die Philosophie, sondern auch das Nachdenken über die Natur unmöglich werde. Nikolaus von Kues legt nur einige Jahre später (1449) eine Verteidigung seiner Überlegungen unter dem Titel Apologia de docta ignorantia vor, nicht zuletzt deshalb, weil der Pantheismusvorwurf in der Renaissance kirchenpolitisch gefährlich war (vgl. Nikolaus von Kues 1449/1932). Dabei verteidigt er die Reflexion auf die Grenzen menschlicher Erkenntnis gegenüber einem nur scheinbar objektiven Wissen über das Wesen der Dinge und betont abermals, dass es sich bei dem aristotelischen Wissenskonzept im Grunde um eine rationale Selbstbehauptung handele, die insbesondere das Individuelle zu wenig beleuchte. Der ›aristotelischen Sekte‹ fehle jede Kritikfähigkeit der eigeVgl. bezüglich einer kritischen Rekonstruktion der Hintergründe und Motive von Wenck in dieser Auseinandersetzung die Arbeit von Rudolf Haubst (1955, 83–136).
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nen Erkenntnismöglichkeiten – so die zugespitzte These von Nikolaus von Kues. Damit liefert Nikolaus von Kues auch eine Antwort auf die Frage, wie der Wahrheitsanspruch der Religionen zu interpretieren sei, denn dieser spielt bei den meisten Religionen eine zentrale Rolle. Dieser Wahrheitsanspruch der Religionen wird einerseits von ihm anerkannt, weil er argumentiert, dass auf der Basis der Trennung von Vernunft und Verstand sehr wohl vernünftige, d. h. universale Aussagen über das Absolute bzw. Unendliche möglich seien. Gleichzeitig kann dieser Wahrheitsanspruch aber nur sinnvoll begründet werden, wenn die Religionen gleichzeitig eine entsprechende erkenntnistheoretische Reflexion auf den Status dieser Aussagen machen. Die Einsicht in die grundsätzlichen – nicht nur rein sprachlichen – Grenzen dieser Aussagen untergräbt für Nikolaus von Kues keineswegs den Wahrheitsanspruch der Religionen, sondern ermöglicht in einem positiven Sinne ein immer differenzierteres und angemesseneres Sprechen von Gott. »Der grundsätzliche Entwurfscharakter jeglicher menschlicher Behauptung wird (…) mit der erfahrenen Vorläufigkeit und Steigerbarkeit der Wahrheitserkenntnis begründet, was erweist, dass es sich nicht um ein Problem der Sprache handelt, nicht (allein) um unzureichende Ausdrucksfähigkeit des Gedankens, sondern dass der menschliche Bezug zum Wahren an sich im Bereich komparativer Näherung steht. (…) Diese anscheinende Schwäche endlichen Erkennens wertet Cusanus nicht negativ, sondern folgert daraus die positive Möglichkeit eines Erkenntnisfortschritts« (Riedenauer 2007, 273).
Der religionsphilosophische Gedankengang von Nikolaus von Kues beinhaltet noch eine letzte wichtige Schlussfolgerung, die mit Blick auf eine andere Schrift deutlich wird. Sein Religionsverständnis impliziert nämlich konsequent zu Ende gedacht die Annahme, dass alle Religionen im Sinne eines wissenden Nichtswissens vernünftig über Gott reden können. In der Schrift De pace fidei hat Nikolaus von Kues dieses Spannungsverhältnis zwischen Universalität der Religion und der Pluralität kulturell-religiöser Formen thematisiert (vgl. Nikolaus von Kues 1453/2003). Religion, so seine Kernthese, differenziert sich immer in unterschiedliche kulturelle Formen aus. Die Formel religio una in rituum varietate zielt dabei auf eine Annäherung aller religiösen Formen an die eine, mit dem Verstand nicht fassbare Erkenntnis Gottes – bei gleichzeitiger Akzeptanz der kulturell bedingten Formen (Riedenauer 2007, 121 ff.; vgl. außerdem Haubst 1984).
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»Dahinter steht ein Bewusstwerden der kulturellen Dimension jeder Religion, was eine Ausdifferenzierung ihrer moralischen und rituellen Regeln, die Unterscheidung von Lehre, Ethos und Kult, erlaubt« (Riedenauer 2009, 26).
Mit dem Religionsverständnis des Nikolaus von Kues werden also überzogene religiöse Absolutheitsansprüche relativiert: Weil menschliches Sprechen über das Absolute erkenntnistheoretisch betrachtet notwendig an Grenzen stößt, sind solche Aussagen immer kontingent, weshalb er paradoxe Aussagen zur Reflexion der Gottesfrage verwendet. Damit wird eine rationale Vergegenständlichung des Glaubens abgewehrt und gleichzeitig (in der Semantik des aktuellen Diskurses formuliert) aufgezeigt, dass Religion und Kultur immer schon in einem unauflösbaren Wechselverhältnis zueinander stehen, wodurch ein interreligiöser Dialog erleichtert werden kann (vgl. Hoff 2006). 8
4.1.2. Abhängigkeitsgefühl und kulturelle Ausdifferenzierung (F. Schleiermacher) Die Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Schleiermacher 1799/1984), auf die bereits zu Beginn dieser Arbeit verwiesen wurde (vgl. Kap. 1.1.), ist in einer zweiten wichtigen Umbruchphase der europäischen Geistesgeschichte entstanden und prägt bis heute den aktuellen philosophischen wie gesellschaftlichen Diskurs über Religion. Am Ende des 18. Jahrhunderts verfasst Schleiermacher sie als eine Kampfschrift gegen aufklärerische Eliten, die seiner Ansicht nach einen ungenügenden Religionsbegriff etablieren oder Religion vollkommen elminieren wollen. Geistesgeschichtlicher Hintergrund dieser Schrift ist dabei vor allem die Philosophie der Aufklärung, in deren Zentrum die Betonung des Verstandes steht, Aus der Anerkennung der erkenntnistheoretischen Grenzen religiöser Aussagen ergibt sich für viele Renaissancedenker eine moralische Grundhaltung, die letztlich an den neuzeitlichen Prinzipien der Toleranz und Religionsfreiheit orientiert ist (vgl. zum Beispiel Morus 1516/1990). Dabei wird die Würde des Menschen als normatives Ideal in den Mittelpunkt gestellt und zur Begründung von politischen Handlungsnormen heranzogen (zum Beispiel Gewaltverzicht). Diese Normen stehen wiederum in einem engen Zusammenhang mit der negativ dialektischen Struktur von Religion. Montaignes erkenntnistheoretisch begründete Skepsis gegenüber religiösen Aussagen ist in dieser Sichtweise als eine ethisch begründete Strategie gegen religiösen Fanatismus und für Toleranz zu interpretieren (vgl. Montaigne 1580–1588/1992).
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mit dem sich der Mensch sowohl von seiner natürlichen Umwelt als auch von gesellschaftlichen Zwängen emanzipieren kann, was Kant in seiner Schrift zur Aufklärung paradigmatisch formuliert hat. »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant 1784/1999, 20).
Die naturwissenschaftlichen und technologischen Neuerungen dieser Zeit sind Spiegelbild dieser Betonung des Verstandes und haben nicht nur das Weltbild, sondern auch den gesellschaftlichen Alltag der Menschen stark verändert. Die Grundhaltung der Aufklärung hat außerdem gleichzeitig weitreichende Folgen für das Verständnis von Religion. Auf der einen Seite entstehen viele religionskritische Schriften, auf der anderen Seite entwickeln Autoren wie Kant philosophisch begründete Religionstheorien, die eine Versöhnung des Gottesglauben mit den Prämissen der Aufklärung intendieren (vgl. Kap. 2.3.2.). Schleiermacher integriert in sein Religionsverständnis verschiedene Aspekte der Aufklärung und setzt sich gleichzeitig von dieser ab. Er geht dabei wie Nikolaus von Kues von der Annahme aus, dass in der menschlichen Natur das religiöse Streben des Menschen immer schon vorausgesetzt sei und es menschliche Grunderfahrungen gebe, die nur innerhalb eines religiösen Deutungsrahmens verstanden werden könnten. Um aus diesen individuell zugänglichen Erfahrungen ein allgemeines Religionsverständnis zu begründen, fordert er seine Leser auf, von allen einzelnen gesellschaftlich bekannten religiösen Gestaltformen erst einmal abzusehen, um zum zentralen Merkmal von Religion vorzustoßen. »Ich fordere also, dass ihr von allem, was sonst Religion genannt wird, absehend Euer Augenmerk nur auf diese einzelnen Andeutungen und Stimmungen richtet, die Ihr in allen Äußerungen und edlen Thaten Gottbegeisterter Menschen finden werdet« (Schleiermacher 1799/1984, 201 f.).
Die beiden zentralen Kritikpunkte der Reden über Religion sind, dass Religion entweder als moralische Lehre oder als ausschließliches metaphysisches Gedankengebäude interpretiert wird. Schleiermacher richtet daher seine Kritik an all jene, die Religion rein innerweltlich orienA
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tieren oder metaphysische Ideale absolut setzen, ohne damit etwas über Religion aussagen zu können. Religion ist demgegenüber seiner Ansicht nach weder Metaphysik noch Moral, sondern vielmehr Anschauung und Gefühl. »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen lassen« (Schleiermacher 1799/1984, 211).
Anschauung und Gefühl als Spezifika der Religion bedeuten, so formuliert Schleiermacher weiter, Sinn und Geschmack für das Unendliche zu haben oder das Universum anzuschauen. Anschauung ist dabei nur möglich, weil das Angeschaute einen Einfluss auf den Anschauenden ausübt. Dabei kommt Anschauung einer nichtrationalen Einsicht in die Struktur von Wirklichkeit gleich. Das Gefühl wiederum ist für Schleiermacher eine umfassende Einheitserfahrung, die Sinnlichkeit und Verstand verbindet, womit er den Gefühlsbegriff von einer rein subjektiven Empfindung absetzt. Im Universum offenbart sich schlussendlich das Absolute kontinuierlich in jedem Augenblick. Deshalb ist jede konkrete Religiosität nur eine Facette der Anschauung des ganzen Universums, weshalb Schleiermacher schlussfolgert, dass die religiöse Anschauungsart (beispielsweise das Gottesbild) auch von der jeweiligen Fantasie des Gläubigen abhängt. Religion als Gefühl für das Unendliche bezieht sich für Schleiermacher also auf eine unmittelbare Erfahrung und weniger auf ein rationales Aussagensystem. Indem der Mensch das Universum anschaut, übersteigt er seine Endlichkeit und kann sich des Universums, d. h. Gottes bewusst werden. Anschauung meint dabei nicht nur sinnliche Wahrnehmung, sondern eine Einsicht im Sinne eines sokratischen Staunens über die unaussprechbare Einheit von Wirklichkeit. 9 Hegel kritisiert an diesem Religionsverständnis, dass das Gefühl – verstanden als eine subjektive Empfindung – nicht Grundlage der Religion sein könne (vgl. Kap. 2.3.3.). Religion als Gefühl ist für Hegel nichts weiter als eine zufällige Affirmation, die keine philosophische Fundierung der Religion leisten kann, sondern die eine rein subjektive Regung ist, so wie der Knochen einem Hund Befriedigung verschafft, so die polemische Kritik von Hegel (vgl. Hegel 1818–1831/1986). Einige Interpreten haben deshalb betont, dass, wenn das Gefühl zur Grundlage der Religion werde, diese leicht zur Projektionsfläche für individuelle Vorstellungen, Sehnsüchte und Ängste werden könne. »Es scheint, als sei ihm [Schleiermacher] nicht einmal der Gedanke gekommen, im (…) Ge-
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In der Dialektik (Schleiermacher 1811–1831/2002a und b) buchstabiert Schleiermacher sein Verständnis von Religion aus den Reden über Religion erkenntnistheoretisch aus (vgl. Knudsen 1987, 379). Dazu diskutiert er zuerst die Bedingungen und Strukturen menschlichen Wissens. Basis von Wissen ist die menschliche Tätigkeit des Denkens, die gefasst werden kann als die Weise, in der »das Sein der Dinge in uns gesetzt« ist, und zwar »auf unsere Weise« (Schleiermacher 1811–1831/ 2002b, 576). Das Denken vergegenständlicht also die Welt, wobei analog zu Nikolaus von Kues das Wissen als eine Annäherung an das Sein interpretiert wird. Schleiermacher betont damit einerseits, dass das Wissen sich »als glücklich beendigte Operation der denkenden Tätigkeit (…) im Selbstbewusstsein als eine zuversichtliche Gewißheit« (Schleiermacher 1830–1831/2003, 30) ausspricht. Doch steht für ihn andererseits außer Frage, dass es kein absolutes Wissen geben kann, denn Wissen realisiert sich »nur in Verschmelzung mit individuellen, lokal und historisch gebundenen Wahrnehmungen bestimmter Subjekte« und findet somit »an der Individualität ihre Konkretion und Schranke« (Scholtz 1984, 110). Der Mensch kann als Erkenntnissubjekt allerdings über diese Grenze hinaus nach den grundlegenden Bedingungen des Denkens fragen und stößt dabei auf den transzendenten Grund. »Mit dem wirklichen Denken ist in uns stets verbunden das Zurückgehen wollen auf den transcendentalen Grund des wirklichen Seins. Diese Idee von der transcendentalen Voraussetzung unseres Denkens als alleiniger Bedingung davon, daß unser Denken ein Wissen sei, in ihrer Identität mit dem transcendentalen Grund allen wirklichen Seyns, ist ein unser Bewusstsein gestaltendes Princip« (Schleiermacher 1811–1831/2002b, 553 f.).
Der transzendente Grund bleibt »immer außerhalb des Denkens und wirklichen Seins«, aber er ist »immer die transcendentale Begleitung und der Grund beider« (Schleiermacher 1811–1831/2002b, 582). 10 fühl könnten sich Verfälschungen und Täuschungen einschleichen. In diesem naiven Vertrauen auf die unmittelbare Erfahrung im Felde des Religiösen (…) liegt der letzte Grund des Scheiterns dieses religionsphilosophischen Ansatzes« (Weischedel 1994, 220). 10 Der Begriff ›transzendental‹ ist in diesem Zusammenhang in zweierlei Sinn zu verstehen. Zum einen übersteigt der transzendente Grund die Möglichkeiten des Denkens und ist insofern transzendental. Zum anderen ist er die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Denkens und in dieser Hinsicht als transzendental zu deuten. Der Ausdruck ›transzendental‹ ist also nicht vollständig in der Traditionslinie der Philosophie Kants zu A
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Dieser Grund wird vom Denken in der Struktur des Wissens aufgespürt, kann allerdings nicht vollständig reflexiv eingeholt werden und liegt daher dem endlichen, in Gegensätzen operierenden Wissen als das treibende Prinzip des Bewusstsein voraus. Dieser transzendente Grund zeigt sich in analoger Weise bei der Selbstreflexion des menschlichen Subjektes, denn das reflektierende Bewusstsein stellt fest, dass die Existenz seiner selbst nicht voraussetzungslos ist, insofern es »das Dass seines eigenen Seins schon voraussetzen« (Eckert 1984, 285) muss, um überhaupt eine Reflexion über sich selbst beginnen zu können. Deshalb ist dem Subjekt eine reflexive Selbstbegründung aus sich selbst heraus unmöglich. Dennoch kann das Subjekt sich seiner selbst bewusst sein; es bleibt dabei aber immer auf etwas Vorlausliegendes bezogen. Schleiermacher stellt daher fest, dass »wir den transcentenalen Grund in uns haben durch das unmittelbare Selbstbewusstsein« (Schleiermacher 1811–1831/2002b, 576). In diesem abstrahiert der Mensch sowohl von einem zeitlichen Nacheinander gegenständlicher Reflexion als auch von der spontanen Regung einer bloßen Empfindung. Es »meint das einheitliche Sich-gegenwärtig-Haben des Selbst. Es bedeutet die zeitliche Einheit (…) eines Jetztpunktes auf dem als Reihe betrachteten Leben« (Reuter 1979, 219) und ist für das Subjekt nur im ursprünglichen Vollzug erfahrbar (vgl. Eckert 1984, 286). Das unmittelbare Selbstbewusstsein kann deshalb genauso wie der transzendente Grund nicht durch den Verstand verobjektiviert werden. Das unmittelbare Selbstbewusstsein bezeichnet Schleiermacher in der Dialektik auch als Gefühl, wobei dieses nicht im Sinne einer passiven Empfindung verstanden werden darf. 11 Das Gefühl ist nichts rein Subjektives im Sinne einer nur privat erlebbaren Empfindung (vgl. begreifen. »›Transzendental‹ ist demgemäß dasjenige, was als Grund der Erfahrung dieser nicht nur im Sinne Kants vorausgeht, sondern ihr in der Weise vorausliegt, dass es als bewusstseinstranszendent anzusetzen ist. Entsprechend verschleift Schleiermacher die kantische Unterscheidung von ›transzendent‹ und ›transzendental‹ gerade dort, wo er von diesem Grund redet« (Arndt 1993, 107). 11 Die beiden Begriffe ›Gefühl‹ und ›unmittelbares Selbstbewusstsein‹ werden von Schleiermacher nicht trennscharf verwendet. Mit Michael Eckert (1997, 112) kann festgehalten werden, dass unmittelbares Selbstbewusstsein die Unmittelbarkeit der Einheitserfahrung aus philosophischer Sicht betont, wohingegen Gefühl vor allem die theologische Erfahrung des Nicht-Grund-seiner-selbst-Sein starkmacht. Da Schleiermacher (und seine Interpreten) beide Begriffe oftmals synonym verwenden, ist eine exakte Trennung allerdings nur bedingt möglich.
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Schleiermacher 1811–1831/2002a, 266), sondern es vereinigt sowohl Aspekte des Allgemeinen wie auch des Individuellen. Der nach Wissen strebende Mensch sieht im Gefühl bzw. im unmittelbaren Selbstbewusstsein den Grund seines Selbst ein, den er allerdings nicht vollständig versprachlichen oder reflexiv einholen kann. Insbesondere die Unmöglichkeit der reflexiven Selbstbegründung führt das Subjekt letztlich in die Krise, denn es weiß sich immer bezogen auf etwas Vorausliegendes, ohne dieses vollständig benennen zu können. 12 Diese Krise und die gleichzeitige Verwiesenheit lassen das Subjekt aber nicht resignieren, sondern Schleiermacher »lässt das Subjekt seine Krise reflektieren, ohne es abdanken zu lassen« (Frank 1985, 111). Denn die Unmöglichkeit der Verabsolutierung des Selbst zeigt seine Angewiesenheit auf die Welt, weshalb dieser Mangel des Subjekts als »Grund für die Weltoffenheit des Subjekts überhaupt« (Potera 1988, 132) interpretiert werden kann. In dieser Begrenztheit menschlicher Selbstreflexion zeigt sich wiederum ein Hinweis auf die Religion, denn Gott ist in diesem Prozess mitgesetzt, insofern das hinsichtlich einer autonomen Selbstbegründung »scheiternde Subjekt in diesem Ausdruck die Erfahrung einer Reflexion auf sein eigenes Nichtwissen und Nichtkönnen niederlegt. ›Gott‹ ist Resultat einer Reflexion auf dies doppelte ›Nicht‹ im Herzen des Bewusstseins« (Frank 1977, 114). In der Glaubenslehre buchstabiert Schleiermacher diese erkenntnis- und subjekttheoretisch gewonnene Einsicht theologisch aus (Schleiermacher 1830–1831/2003). Dabei entwickelt er das Verständnis von Religion wiederum nicht aus einer metaphysischen Deduktion, sondern diese fußt analog zur Dialektik auf den menschlichen Erfahrungen. Das unmittelbare Selbstbewusstsein deutet Schleiermacher nun dezidiert religionsphilosophisch und argumentiert, dass »eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins durch den Ausdrukk Gott bezeichnet werden soll« (Schleiermacher 1830–1831/2003, 39). Wissen sich die Menschen in der Idee von Welt und Endlichkeit miteinander verbunden, so sehen sie sich in der Idee Gottes abhängig vom ›Woher‹ ihres Daseins. Ausgangsbasis dieser Krise ist die Erfahrung der Bedingtheit menschlicher Existenz. »Das Gefühl weiß sich unmittelbar als das, was es ist (…), aber in dieser Bestimmtheit des Sich-wissens als ein Wesen, das nicht abermals Urheber seiner Seinsweise ist« (Frank 1985, 102). Insofern ist das Subjekt im Gefühl auf einen aller Erfahrung und Reflexion vorausliegenden Grund verwiesen.
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»Wir sind uns der Welt als einer in sich selbst geteilten und zerspaltenen Einheit in der Weise unseres eigenen In-der-Welt-Seins bewusst (…). Gott dagegen ist in unserem Selbstbewusstsein als absolute ungeteilte Einheit mitgesetzt« (Ebeling 1969, 120).
Das religiöse Gefühl ist von diesem Standpunkt aus dann eine Form des unmittelbaren Selbstbewusstseins und damit Ausdruck des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. 13 »Das Abhängigkeitsgefühl ist aber nicht durch ein vorhergehendes Wissen von Gott bedingt, vielmehr ist Gott uns im Gefühl auf eine ursprüngliche, nicht intentionale Weise gegeben. Der Mensch ist sich seiner Kontingenz, d. h. der Abhängigkeit von der Ursache seines Seins bewusst« (Ricken 2003, 183).
Dieses Bewusstsein deutet Schleiermacher als Einheitserfahrung, in der das Subjekt die Aufhebung der Gegensätzlichkeit von Welt erfährt. Die Rückkehr von »diesem Getheilten zur Einheit und Wechsellosigkeit ist der eigentliche Ausdruck der zeitlosen Begleitung des transcendentalen Grundes in unserem Sein« (Schleiermacher 1811–1831/ 2002b, 570). Diese Einheit mit sich selbst wie mit der Welt erfährt das unmittelbare Selbstbewusstsein im religiösen Gefühl. Als ein wissendes Nichtwissen um die Struktur und Bedingtheit von Subjekthaftigkeit und damit von Wirklichkeit steht dieses Verständnis von Religion in einem engen Bezug zur Tradition der negativen Theologie, wie sie von Nikolaus von Kues entworfen wurde. Deshalb kann Schleiermachers Philosophie in Anspielung auf dessen Hauptwerk »eine docta ignorantia des Absoluten« (Reuter 1979, 263) genannt werden. Dass es dem Selbstbewusstsein an einer Erkenntnis seines Grundes mangelt und diesen doch als Woher im Gefühl schaut, weist auf die Tradition der negativen Theologie im Sinne einer »konjekturalen Möglichkeit der Gotteserkenntnis«, welche den Vorzug hat, »in nicht-kausaler Begrifflichkeit das Woher menschlichen Daseins zu denken« (Eckert 1997, 119). Dadurch wird einer Vergegenständlichung und Rationalisierung der Gottesrede Einhalt geboten und Gott als der Abhängigkeitsgefühl wird von Schleiermacher nicht in einem alltagssprachlichen Verständnis als Abwertung der Selbstständigkeit des Menschen interpretiert, sondern er streicht im Gegenteil heraus, dass sich der Mensch darin als selbstständige und frei handelnde Person erfährt. Die Abhängigkeit meint eine strukturelle Bezogenheit des Subjekts auf etwas, das ihn selbst übersteigt. Erst im Bewusstsein dieser Bezogenheit kann der Mensch sich als freies Individuum verstehen und entfalten.
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undenkbare, jedoch vorrangige Grund menschlicher Existenz verstanden. 14 Im Gefühl erfährt der Mensch also den Zusammenhang der Begrenztheit des Selbstbewusstseins und seiner Verwiesenheit auf Gott. Im konkreten Gottesbewusstsein ist dieses Abhängigkeitsgefühl fassbar, jedoch wiederum auf keine gegenständliche Weise, denn auch das Gottesbewusstsein ist nur im Gefühl erfahrbar. Trotzdem ist der Mensch darauf angewiesen, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl sprachlich zu fassen. Im Wissen um die Unvollständigkeit dieser sprachlichen Ausdrücke ist dieses Vorgehen sinnvoll, denn »ist doch dieses Eingehen in die Sprache Ausdruck der entscheidenden Bewegung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls in das konkrete Gottesbewusstsein hinein« (Ebeling 1969, 134). 15 Religion und Kultur sind deshalb für Schleiermacher wie für Nikolaus von Kues notwendig aufeinander bezogen, weil erst in der konkreten sprachlich-kulturellen Vgl. außerdem die Hinweise zur gedanklichen Verbindung von Schleiermacher und Nikolaus von Kues in den Studien von Eckert (1991) und Gunter Scholtz (1984, 139 f.). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Schleiermacher, in der Tradition der protestantischen Theologie stehend, keine klassische negative Theologie im Sinne des Nikolaus von Kues intendiert. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens beinhaltet die Erfahrung des unmittelbaren Selbstbewusstseins nicht nur eine negative Verwiesenheit auf die dem Subjekt zugrunde liegende Einheit, sondern sie impliziert gerade die positive Erfahrung dieser so gestalteten Verfasstheit des Subjekts, d. h., der Mensch muss den transzendenten Grund im Gefühl »im positiven Sinne ›haben‹, ohne ihn in der Weise der Reflexion ›haben‹ zu können« (Arndt 1993, 109). Weil das Denken bei der Beschreibung dieses Gefühls an seine Grenzen stößt, versucht Schleiermacher diesen Sachverhalt mit Umschreibungen zu fassen. »Im Gefühl sind wir uns die Einheit des denkend wollenden und wollend denkenden Seins irgendwie, aber gleichviel Wie, bestimmt« (Schleiermacher 1811–1831/2002a, 266). Dies beinhaltet zweitens, dass Schleiermacher sich nicht explizit der typisch negativ dialektischen Denkfigur bedient, um diesen Mangel des Subjektes und die darin begründete Einheitserfahrung zu beschreiben (Arndt 1993, 109). 15 Die sprachlich gefassten Formen des religiösen Gefühls bezeichnet Schleiermacher als Frömmigkeit, die als Entfaltung des religiösen Subjekts in der Vielfalt der Lebensmomente »eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins« (Schleiermacher 1830–1831/2003, 20) darstellt. »Frömmigkeit heißt, als in die Endlichkeit eingebundener Mensch sich des Von-Gott-her-seins bewusst werden« (Eckert 1987, 165). Der religiöse Mensch »kann sich nach Schleiermacher deshalb nicht denkend-spekulativ zum Begriff absoluter Subjektivität erheben und im absoluten Wissen vollenden, er erlangt seine Identität vielmehr nur im religiösen Lebensvollzug, in welchem der Annahme eigener Endlichkeit die Anerkennung des endlich anderen korrespondiert« (Wenz 1988, 138). 14
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Gestalt das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl seinen adäquaten Ausdruck findet.
4.1.3. Religion als Selbsttranszendenz (J. Dewey) Als ein dritter philosophiegeschichtlicher Impuls soll ein Blick auf das frühe 20. Jahrhundert geworfen werden. Diese Zeit ist geistesgeschichtlich – ähnlich wie die Zeit der Aufklärung – durch rationalistische Deutungen von Welt und Menschsein geprägt. Im Zuge dessen erlangen sowohl naturwissenschaftliche Forschungen als auch eine gesellschaftliche Technikgläubigkeit eine große Popularität, worauf Autoren wie Husserl oder Heidegger kritisch reagiert haben (vgl. exemplarisch Husserl 1936/1962). Die neuzeitliche Skepsis gegenüber der Religion hat sich in dieser Zeit ebenfalls weiter ausgebreitet, was infolge der Arbeiten von Autoren wie Feuerbach (vgl. Feuerbach 1841/ 1973) oder auch Nietzsche (vgl. Nietzsche 1888/1999) zu unterschiedlichen Formen eines philosophisch begründeten Atheismus führte. Eine philosophische Strömung, die sowohl gegen rationalistische Erklärungsmodelle von Wirklichkeit als auch gegen die Religionskritik argumentiert, ist der Pragmatismus, wie er von James oder Dewey begründet wurde. Rorty greift diese Tradition auf; gleichzeitig betont er allerdings innerhalb seines (Neo-)Pragmatismus eine bestimmte Variante des politischen Liberalismus so stark, dass er letzten Endes zentrale Grundeinsichten des Pragmatismus wieder zurücknimmt (vgl. Kap. 3.2.3.3.). Insbesondere Deweys Überlegungen können an dieser Stelle deshalb als eine Ergänzung bzw. Korrektur der Argumentation von Rorty fungieren und gleichzeitig wichtige Impulse für die aktuelle Debatte liefern. Die Pointe der deweyschen Deutung von Religion und ihrer gesellschaftlichen Funktion besteht darin, dass er vor dem Hintergrund eines pragmatistischen Wahrheitsverständnisses (inklusive der epistemologischen Implikationen, auf die Rorty Bezug nimmt) Religion als eine fundamentale Erfahrung des Menschen interpretiert, die ihn auf ein Mehr verweist. Die Konsequenzen, die solche Erfahrungen für den Menschen haben, dürfen für Dewey nicht automatisch auf den privaten Bereich der individuellen Selbsterschaffung begrenzt werden, weil sie eine wichtige und darüber hinaus konstruktive Funktion für die demokratische Praxis implizieren. Gerade deswegen sollten sie auch in öffentlichen Diskursen besondere Beachtung finden. 338
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Um Deweys Argumentation in den Pragmatismus einordnen zu können, ist zuerst ein kurzer Rückblick auf James und seine Arbeiten über die Vielfalt religiöser Erfahrungen sinnvoll (James 1902/1997; vgl. Kap. 2.1.1.). 16 Dieser betont vor dem Hintergrund seines pragmatistischen Wahrheitsverständnisses den Erfahrungscharakter von Religion. In der religiösen Erfahrung wird dem Menschen einsichtig, dass es ein Mehr gibt, das über ihn selbst und die kontingente Wirklichkeit insgesamt hinausreicht. In dieser Erfahrung eines Mehr geht der Mensch in einem höheren Selbst auf, was er als eine Form der Rettung bzw. Heilung erlebt. Religion basiert auf dieser religiösen Erfahrung und wird durch reflexive Verarbeitungsprozesse zu einem Glaubenssystem, in das auch normative Forderungen integriert werden. Dewey teilt mit James nicht nur die Kritik an herkömmlichen Wahrheitstheorien, sondern auch die These von der Struktur und Bedeutung religiöser Erfahrung. 17 Diese ist als Grundmoment menschlicher Wirklichkeit für Dewey deshalb von so zentraler Bedeutung, weil sie dem Menschen nützlich dafür ist, sich in seinem Leben zu orientieren und individuelle wie gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die »religiöse Qualität in der beschriebenen Erfahrung besteht in der erIn dieser Hinsicht weisen die pragmatistischen Überlegungen eine gewisse Ähnlichkeit zu der Grundlegung von Religion bei Schleiermacher auf, weil auch James religiöse Erfahrung nicht als ein sekundäres Additivum menschlicher Existenz deutet (vgl. James 1902/1997, 63 f.). 17 Dahinter steht ein Philosophieverständnis, in dem Dewey der Erfahrung insgesamt einen deutlich größeren Stellenwert einräumt, als dies seiner Ansicht nach in der Philosophie nach Kant der Fall gewesen ist. Die Betonung der menschlichen Erfahrung in anthropologischer, erkenntnis- und wahrheitstheoretischer Hinsicht durchzieht sein gesamtes Werk. Die damit einhergehende Neuordnung des Verhältnisses von Rationalität und Erfahrung hat Deweys Argumentation nach immense Folgen für die politische Philosophie: »Eine Neugestaltung der Philosophie, die die Menschen davon befreit, zwischen einer verarmten und verstümmelten Erfahrung auf der einen Seite und einer künstlichen und impotenten Vernunft auf der anderen Seite wählen zu müssen, würde das menschliche Leben von der schwersten intellektuellen Bürde befreien, die es zu tragen hat. (…) Sie würde die Kooperation zwischen denen möglich machen, die die Vergangenheit und die etablierten Institutionen respektieren, und denen, die daran interessiert sind, eine freiere und glücklichere Zukunft einzurichten. Denn sie würde die Bedingungen bestimmen, unter denen die fundierte Erfahrung der Vergangenheit und die planende Intelligenz, die in die Zukunft blickt, wirksam miteinander interagieren können. Sie würde die Menschen befähigen, die Ansprüche der Vernunft anzuerkennen, ohne gleichzeitig in die lähmende Anbetung einer über-empirischen Autorität oder eine offensive ›Rationalisierung‹ der Dinge, wie sie sind, zu verfallen« (Dewey 1920/1989, 146 f.). 16
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zeugten Wirkung, der besseren Anpassung im Leben und deren Bedingungen« (Dewey 1934/2004, 238). Die Funktion der Religion besteht also darin, dass sie religiösen Menschen eine Anpassung an ein besseres Leben ermöglicht und eine Integration der verschiedenen Lebensbereiche in einen individuellen Lebensentwurf zu leisten vermag. Das spezifische Merkmal der Religion besteht in diesem Zusammenhang darin, eine Vorstellung des Idealen als Orientierungsrahmen für den eigenen Lebensentwurf bereitzustellen. Die Integrationsleistung, die sich in der »religiösen Dimension menschlicher Erfahrung vollzieht«, artikuliert sich Dewey zufolge in der »Vorstellung des Ideals eines ganzheitlichen Selbst« (Schmidt 2008a, 53). Der entscheidende argumentative Schritt Deweys »besteht darin, die religiöse Erfahrung mit dem imaginären Bezug zu einem ganzheitlichen Selbst in Verbindung zu bringen« (Joas 2000b, 144 f.). Dieses Selbst ist »ein Ideal, ein imaginativer Entwurf« (Dewey 1934/2004, 242). 18 Gott wird zum Symbol dieses Ideals, das diesen Integrationsprozess des Selbst entscheidend fördert (vgl. Dewey 1934/2004, 259 f.). »Gott ist weder übernatürlich noch personhaft; Gott ist vielmehr der Inbegriff aller Ideale und Werte, die wir in unserem Handeln zu realisieren suchen. Insofern bleibt Gott der Maßstab menschlichen Handelns« (Hohr/Retter 2009, 114).
Dewey beschreibt Gott deshalb auch »als die funktionierende Vorstellung einer Einheit von Idealem und Realen, als eine Kraft, die so aufgefasst, nach ihm in allen Religionen angenommen wird« (Müller K. P. 2006, 16). Dabei ist für Dewey die Frage, ob Gott im Sinne einer naturwissenschaftlichen Tatsache existiert, genauso wie für Rorty irrelevant; sie kann sich sogar negativ für den Menschen auswirken (vgl. Dewey 1934/2004, 290). Ein solches Religionsverständnis »bedeutet, dass eine religiöse Einstellung ihre Bindung an Überzeugungen in TatsachenfraInnerhalb dieses Prozesses der Bildung des Selbst, der letztlich auf dem Trieb zur Selbsterhaltung aufbaut, spielt für Dewey die Erziehung eine enorm wichtige Rolle, was sich in der facettenreichen Rezeption seiner Überlegungen innerhalb der pädagogischen Forschung widerspiegelt. »Das Streben nach Selbsterhaltung liegt im Wesen des Menschen. Da die Selbsterhaltung nur durch beständige Erneuerung gesichert werden kann, ist das Leben ein Prozess der Selbsterneuerung. Was Ernährung und Fortpflanzung für das physische Leben sind, ist Erziehung für das soziale Leben. (…) In dem Maße, wie die menschlichen Gesellschaften verwickelter in ihrem Aufbau und reicher in ihren Hilfsquellen werden, wächst das Bedürfnis nach geordneter und absichtlicher Belehrung und ebensolchem Lernen« (Dewey 1916/1964, 25 f.).
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gen, seien sie physikalische, soziale oder metaphysische, ein für allemal aufgibt« (Dewey 1929/1998, 303). Auch bei Autoren des (Neo-)Pragmatismus finden sich im aktuellen Diskurs Züge einer solchen Bestimmung der Funktion von Religion. Joas deutet beispielsweise die Funktion der Religion als Ausdrucksform von Selbsttranszendenz und argumentiert mit Rekurs auf Dewey, dass Menschen in ihrem Alltag unterschiedliche Erfahrungen von Selbsttranszendenz machen, beispielsweise die Erfahrungen des Einsatzes für andere Menschen oder die Angst in Krisensituationen. Selbsttranszendenz trägt zur Entwicklung des Menschen und seines Selbst bei, wobei diese Erfahrungen jeweils einer kulturell angepassten Interpretation bedürfen. Religion vollzieht solche Interpretationen deshalb immer in einer kulturell ausdifferenzierten Art und Weise (vgl. Joas 2004, 22). Die Religion, verstanden als Deutungsraum von Selbsttranszendenz, »ist ein besonderer Modus der Realisierung dieser Struktur einer nicht-egomanen Selbstbestimmung« (Seel 2008, 70). 19 In der Weise, in der Religionen eine Deutungsfolie für Selbsttranszendenz sind und damit zur Bereicherung menschlichen Lebens beitragen, üben sie nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Gemeinschaft als Ganzes eine positive Funktion aus. Religiöse Überzeugungen, die auf solchen Erfahrungen von Selbsttranszendenz fußen, sind für Dewey eingebettet in soziale Praktiken, in denen diese Erfahrungen gedeutet werden. Religiöse Überzeugungen »sind weder psychische Naturtatsachen noch metaphysisch abgestützte Wahrheiten, die unabhängig von dem natürlichen und sozialen Erfahrungskontinuum, in dem religiöse Personen stehen, begründet werden können« (Schmidt 2008a, 57). Daraus ergibt sich ein Wechselverhältnis: Religiöse Erfahrungen sind notwendig auf soziale und kulturelle Praktiken angewiesen, innerhalb derer sie ausgelegt und lebensweltlich verankert werden (vgl. Dewey 1934/2004, 271 ff.). Für Seel ist dies wiederum eine Begründung, warum Religion auch in modernen Gesellschaften eine wichtige Bedeutung für den Menschen als grundlegende Lebenspraxis hat. »Da aber die Menschen im Interesse eines für sie gedeihlichen Lebens auf Praktiken der Selbstrelativierung angewiesen sind, die es ihnen ermöglichen, mit anderen auf dem wie immer brüchigen Boden von Verlässlichkeit und Vertrauen zu leben, haben sie alle ein elementares Motiv, es zu einer Transzendierung der Beharrung nur auf sich selbst kommen zu lassen. (…) Das bedeutet, dass wir auf absehbare Zeit weiterhin mit einer Koexistenz religiöser und nicht-religiöser Gestalt von Lebenspraxis zu rechnen haben« (Seel 2008, 78 f.; vgl. außerdem Kaufmann 1989, 30).
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Dewey betont dabei ähnlich wie Schleiermacher, dass die inhaltlichen Deutungen der Transzendenzerfahrungen in religiöse Überzeugungen münden, die sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen Ebene unterschiedlich sein können. Dewey versteht also »den religiösen Glauben von der Kultur« (Ricken 2006, 66) her. Das Religiöse als Teil einer umfassenden sozialen Praxis ist deshalb immer auf die kulturelle Dimension verwiesen (vgl. Ricken 2006, 65). 20 In der religiösen Funktion der Lebensdienlichkeit erweist sich für Dewey der Wert von Religion für Demokratien. Damit verknüpft er religionsphilosophische Überlegungen mit der Demokratietheorie. 21 Weil Religionen umfassende Deutungen von grundlegenden Erfahrungen ermöglichen und diese gleichzeitig konstruktiv in die gesellschaftliche Praxis integrieren, können sie eine wichtige Funktion für Demokratien eröffnen. In dieser Hinsicht zeigt sich in Deweys Argumentation sogar eine strukturelle Ähnlichkeit von religiösem Glauben und demokratischer Praxis, denn beide sind auf grundlegende Ideale verwiesen, die den Menschen zum einen durch Erfahrung und Reflexion zugänglich sind und zum anderen auch durch Einübung und Erziehung gestärkt werden können. Beide zielen dabei auf die Bildung selbstständiger Menschen, die – in der gegenwärtigen Semantik formuliert – in einem ausgeglichenen Verhältnis zu sich und der Gemeinschaft stehen. Dewey spricht deshalb auch von einem »demokratischen Glauben« (Dewey 1899–1944/2002, 283 ff.), wodurch diese strukturelle Nähe besonders deutlich zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang kommt der Philosophie nach Dewey eine wichtig Funktion zu, denn auch sie steht in einem Wechselverhältnis zur Kultur, insofern Philosophie durch kulturelle Kontexte bedingt ist und diese gleichzeitig beeinflusst: »Auf diese Weise bezeichnet Philosophie einen Wandel der Kultur. Weil sie Strukturen bildet, denen sich zukünftiges Denken und Handeln anzupassen hat, besteht ihre Rolle in der Geschichte der Zivilisation darin, die Kultur zu erweitern und umzuformen« (Dewey 1931/2003, 12). 21 Ähnlich wie Habermas hat Dewey ein grundlegendes Vertrauen in die Möglichkeiten kommunikativer Verfahren und das Projekt der Demokratie, die solche Prozesse der Selbstwerdung befördern können. »Kommunikation als Kernbestandteil demokratischer Kultur« (Kloppenberg 2000, 70) wird nicht zuletzt durch die Religion gefördert, worin sich ihre demokratische Funktion zeigt. Kommunikation ist für Dewey dabei das zentrale Merkmal der Öffentlichkeit, in der sich Gemeinschaften über soziale Probleme austauschen und demokratische Lösungen suchen (vgl. insbesondere Dewey 1927/2001, 131–155). Dieser Öffentlichkeitsbegriff weist eine strukturelle Nähe zu dem von Habermas auf, der ebenfalls die Bedeutung kommunikativer Verfahren in öffentlich-deliberativen Strukturen herausstellt (vgl. Habermas 1992b). 20
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»Religion ist Dewey zufolge eine allgemeine und irreduzible Dimension menschlicher Erfahrung, deren Authentizität sich an der Beförderung wahrer demokratischer und humaner Lebensverhältnisse bemisst, die ein geglücktes Verhältnis zur inneren und äußeren Natur einschließen. Eine Begründung durch Erfahrung erhalten religiöse Überzeugungen nach Dewey dadurch, dass sie in öffentlichen und falliblen Prozessen der Bildung und Rechtfertigung an das kohärente Überzeugungssystem einer Person ›angepasst‹ werden können. So trägt Religion zu einer Bereicherung und tieferen Integration unterschiedlicher menschlicher Erfahrungsweisen und Einstellungen bei und führt nicht zu einer isolierenden Trennung und Spaltung von Geist und Materie, Gefühl und Verstand, Glauben und Wissen« (Schmidt 2008a, 59).
In der demokratischen Praxis, die besonders auf die Pluralität von Weltanschauungen als Deutungen basaler menschlicher Erfahrungen und die verschiedenen Praktiken der Sittlichkeit verwiesen ist (vgl. Dewey 1922/2004, 199–237), kann also die Religion einen konstruktiven Beitrag zur Bereicherung des individuellen wie sozialen Lebens leisten (vgl. Rogers 2009, 126 ff.). Allerdings wird diese Bedeutung des Religiösen dort eingeschränkt, wo religiöse Erfahrungen durch die institutionellen Vorgaben von Religionsgemeinschaften dogmatisch gefasst und damit letztlich eingeengt oder sogar sinnentleert werden. Deswegen plädiert Dewey für eine Trennung des Religiösen – verstanden als religiöse Erfahrung im Kontext demokratischer Praxis – von der Religion – verstanden als institutionalisierte Religionsgemeinschaft (vgl. Dewey 1934/2004, 229 ff.), worauf Rortys Kritik des Antiklerikalismus explizit Bezug nimmt (vgl. Rorty 2006). In demokratischen Gesellschaften bekommt der religiöse Glaube dort für Dewey eine besondere Bedeutung, wo er seine konstruktive Wirkung unabhängig von institutionellen Rahmenbedingungen der Religionsgemeinschaften entfaltet – allerdings nicht nur im Privaten, sondern auch im Öffentlichen. Dadurch wird das Religiöse »aus seiner Isolation und Tabuisierung im Dunst des Privaten befreit und wieder Bestandteil öffentlich gemachter Erfahrung« (Hohr/Retter 2009, 112). 22 Säkularisierung wird deshalb Darin zeigt sich allerdings ein zentrales Problem der deweyschen Überlegungen. Bei aller Betonung der kulturellen Fassung der religiösen Praxis hat Dewey letzten Endes, ähnlich wie der Systemtheoretiker Luhmann, nämlich kein Interesse an den konkreten religiösen Gestaltungen. Im Gegensatz »zu seiner kontinuierlichen Umgehung aller schroffen Dualismen setzt er die institutionalisierte Religion ohne Vermittlung dem frei flottierenden Religiösen in der Erfahrung der Demokratie entgegen« (Joas 2000b, 158). Seine Kritik an der institutionalisierten Religion bleibt dabei apodiktisch. Dies hat zur Folge, dass der konkrete Glaube unbestimmt bleibt, denn Dewey »überspringt den Par-
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von Dewey »nicht als Symptom eines moralischen und kulturellen Verfalls gedeutet, sondern im Sinne eines Formwandels religiöser Motive als deren Befreiung von dogmatischen Formen der Lehre und engen Gestalt der Institutionalisierung (…). Wenn es möglich ist, (…) durch eine neue Deutung von Erfahrung und Handeln einen rationalen Kern des Religiösen zu bewahren und doch gleichzeitig alles Mythologische und Dogmatische, das die überbrachten Religionen belastete, abzulegen, dann ist der Weg frei für eine Säkularisierung der alltäglichen sozialen Beziehungen der Menschen und ihres Handelns in der Natur« (Joas 2000b, 154 ff.).
4.2. Merkmale eines Religionsverständnisses für den aktuellen Diskurs 4.2.1. Philosophiehistorische Impulse Bei allen Differenzen zwischen den drei skizzierten Konzeptionen zeigen sich einige wichtige Überschneidungen, von denen konstruktive Impulse für die aktuelle Debatte ausgehen können. Ein erster zentraler Beitrag besteht darin, eine explizite und differenzierte Innenperspektive auf Religion zu eröffnen. Das zentrale Merkmal von Religion – so lässt sich nach der Analyse der drei Philosophen festhalten – besteht darin, das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz aus erkenntnistheoretischer (wissendes Nichtwissen) und anthropologischer Sichtweise (religiöse Erfahrung) zum Thema zu machen. Alle drei Autoren argumentieren dabei, dass es Religion im Kern darum geht, das Verhältnis zwischen der endlichen bzw. kontingenten Welt zu der sie übersteigenden bzw. ihr vorausliegenden Dimension zum Ausdruck zu bringen. tikularismus der je einzelnen Erfahrung und landet mit seinem gemeinsamen Glauben der Menschheit in einem leeren Universalismus des Demokratischen, dessen Motivationskraft unerfindlich bleibt« (Joas 2000b, 159). In eine ähnliche Richtung kritisiert Nagl die Vernachlässigung einer systematischen Erklärung der Religion bei Dewey zugunsten einer empirischen Hinwendung zur religiösen Erfahrung (vgl. Nagl 2010, 109–220). »An die Stelle einer genauen philosophischen Kritik und Erkundung der Religionen tritt somit ein entgrenztes ›Religiöses‹ : jene adjektivische Transformationsgestalt von Religion, die Dewey als ein Phänomen, das all unsere hingebungsvollen und ernsthaften Handlungen der Wissenschaft, der Kunst und im öffentlichen Leben begleiten kann, beschreibt« (Nagl 2010, 149 f.).
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Nikolaus von Kues thematisiert die erkenntnistheoretische Dimension dieses Verhältnisses und illustriert an der Gottesfrage, dass Religion besonders durch eine negativ-dialektische Argumentation gekennzeichnet ist. Die Gedankenfigur der Koinzidenz der Gegensätze ist das paradigmatische Beispiel hierfür. Bei Schleiermacher wiederum zeigt sich das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz nicht nur im Prozess des Wissens und dem transzendenten Grund, sondern ganz besonders in der Reflexion des Subjekts auf die Grenzen seines Bewusstseins, das religiös gesprochen im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl zum Ausdruck kommt. Bei Dewey zeigt sich das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in der Erfahrung von Selbsttranszendenz. Religionen können in der erfahrungsmäßigen und reflexiven Verarbeitung von Selbsttranszendenz in Form einer demokratischen Praxis eine konstruktive gesellschaftliche Funktion ausüben, so seine Schlussfolgerung. Religion ist also ein sprachlicher und symbolhafter Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz, so lassen sich die drei Ansätze zusammenfassen. In die Sprache des aktuellen Diskurses (und zwar der systemtheoretischen Variante) übertragen bedeutet dies: Religion arbeitet mit der »Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. (…) Mit der Einführung der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz schließt Religion die Horizonte der Welt und überführt das Unbestimmbare der Welt in Bestimmbares« (Pollack 2007, 25). Dieses Merkmal charakterisiert nicht nur das Christentum, sondern Religionen weltweit, beispielsweise den Islam, in dem ebenfalls der Gegensatz von »Immanenz und Transzendenz bzw. Einheit und Vielheit Gottes« (Akasoy 2007, 15) von zentraler Bedeutung ist. Schleiermachers und Deweys Ausgangspunkt (religiöses Gefühl und Erfahrung der Selbsttranszendenz) machen außerdem deutlich, dass die Frage nach dem Verhältnis von Immanenz und Transzendenz auf einer grundlegenden Erfahrungsebene des Menschen verankert ist und dort ein strukturelles Moment des Menschseins in einem anthropologischen Sinne darstellt. Diese Erfahrung betrifft dabei den Menschen als Ganzen, beispielsweise wenn er auf die Grenzen des Wissens oder seines eigenen Selbst reflektiert. Nikolaus von Kues und Schleiermacher betonen dabei, von unterschiedlichen erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Positionen ausgehend, die negativ-dialektische Struktur von Religion. Damit wird betont, dass es bei der Rede über Religion immer um ein wissendes A
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Nichtwissen geht. Religiöse Aussagen und Überzeugungen sind somit Ausdrucksformen des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz, die mit dem Verstand niemals vollständig reflexiv eingeholt, aber mit der Vernunft im Sinne eines wissenden Nichtwissens eingesehen werden können. Religion darf deshalb nicht auf eine Form des unvernünftigen Glaubens reduziert werden, sondern sie impliziert ein Moment des Vernünftigen, mit dem der Mensch grundlegende Erfahrungen bzw. die Wirklichkeit als Ganzes deutet und erklärt. Deswegen können auch Theologie und Religionsphilosophie sowohl die materialen Gehalte als auch die formalen Strukturen von Religion innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses thematisieren. Mit diesen drei philosophiehistorischen Anregungen kann also auf die dialektische Signatur des Nachdenkens über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz als zentrales Merkmal von Religion aufmerksam gemacht werden. Damit kann außerdem ein Kriterium formuliert werden, wann Religionen in gesellschaftlichen Prozessen und Diskursen zu problematisieren sind: Dies ist immer dann notwendig, wenn Religionen ihre erkenntnistheoretischen Grenzen missachten und die Rede über das Transzendente absolut setzen, denn dies widerspricht der Einsicht, dass – bei aller Berechtigung positiver Rede über das Transzendente – dieses überzeugend nur im Sinne eines wissenden Nichtwissens thematisiert werden kann (vgl. Kallscheuer 2006; Habermas 1992c, 34). Ein weiterer Aspekt kann mit Schleiermacher festgehalten werden. Er insistiert zu Recht darauf, dass Religion nicht auf ihre moralische Dimension verkürzt werden darf. Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz hat vielmehr eine weitergefasste Bedeutung für die Erfahrungswelt und das soziale Leben der Menschen, als dass es alleine auf moralische Anteile reduziert werden könnte. Dies zeigen insbesondere die frühen Schriften Schleiermachers, aber auch die Glaubenslehre (Schleiermacher 1830–1831/2003), in der er Religion als Einheit von Denken und Handeln bzw. Fühlen und Wollen beschreibt, weshalb Religion nicht nur auf den moralischen Aspekt beschränkt werden darf. Die Thematisierung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz wird zudem weder bei Nikolaus von Kues, Schleiermacher oder Dewey exklusiv auf eine Religion beschränkt, sondern die Ausgestaltungen dieses Verhältnisses sind immer kulturell bedingt. Mit Blick auf die drei Zugänge kann damit die Bedeutung der kulturellen 346
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Merkmale eines Religionsverständnisses für den aktuellen Diskurs
Ausdifferenzierung von Religion hervorgehoben werden. Nikolaus von Kues argumentiert, dass es aufgrund der negativen Signatur der Gottesrede notwendigerweise vielfältige Wege zu Gott gibt, die je nach kulturellem Kontext unterschiedlich sind. In De pace fidei (Nikolaus von Kues 1453/2003) argumentiert er, dass es für Religionen unumgänglich ist, diese Vielfalt zu achten und einen besonnenen und friedvollen Umgang miteinander zu pflegen. Derselbe Gedanke findet sich bei Schleiermacher: Weil das religiöse Gefühl niemals vollständig reflexiv eingeholt werden kann, ist es notwendig auf die Vielfalt seiner konkreten sprachlich-kulturellen Fassungen angewiesen. In Schleiermachers Semantik heißt das, dass die Frömmigkeitsformen als konkrete Fassungen des Abhängigkeitsgefühls notwendig plural sind (vgl. Schleiermacher 1830–1831/2003, 19 ff.). 23 Eine ähnliche Betonung der kulturellen Ausdifferenzierung religiöser Formen findet sich in der Interpretation der religiösen Praxis von Dewey. »Die ganze Religion kann daher nur gegeben sein in den unendlich vielen möglichen voneinander verschiedenen Perspektiven auf das Universum, also nicht anders ›als in einer unendlichen Menge verschiedener Formen‹« (Ricken 2003, 186).
Diese interne wie externe Ausdifferenzierung der Religion ist nicht nur ein sekundäres Anhängsel, sondern ein grundlegendes Merkmal von Religion, das sich aus ihrer negativ-dialektischen Struktur heraus
Gegen Schleiermacher (und damit in gewisser Weise auch gegen Nikolaus von Kues und Dewey) wird im aktuellen Diskurs eingewendet, dass diese Betonung der pluralen Ausdifferenzierung der Religion zwar eine Anerkennung gesellschaftlicher Pluralität zur Folge hat, genau damit aber die politische Sprengkraft der Religion verloren geht. Ist die Religion nämlich nur noch eine öffentliche Kraft unter vielen, verliert sie notwendigerweise auch an gesellschaftlicher Gestaltungskraft, so der Vorwurf. Dieses Argument bringt unter anderem Habermas bei seinen Überlegungen zu Schleiermacher vor (vgl. Habermas 2005, 243). Reinhold Esterbauer formuliert dies folgendermaßen: »Die Versöhnung, die auf diesem Weg mit der Moderne, ihren Wissenschaften und dem liberalen Staat möglich geworden ist, hat jedoch auch ihren Preis. (…) Ist Religion nur eine Formation des Bewusstseins, verliert sie ihre normative Kraft und gelangt an den gesellschaftlichen Rand, insofern es ihr schwer fällt, die Gesellschaft zu formen und auf sie Einfluss auszuüben« (Esterbauer 2007, 309 f.). Dieses Argument ist allerdings nur überzeugend, wenn angenommen wird, dass es erstens Religion als kulturell unausdifferenziertes Gebilde gibt und zweitens eine Anerkennung der Pluralität notwendig zu einem Rückgang gesellschaftlichen Einflusses führt, was beides fraglich erscheint (vgl. Kap. 4.5.).
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begründet. 24 Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass Religion nach Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey kulturell vielfältige Ausdrucksformen des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz sind, die als wissendes Nichtwissen gefasst werden können. Dabei ist Religion nicht ausschließlich ein theoretisches System von Aussagen, sondern sie impliziert sowohl Erfahrungen als auch reflexiv gewonnene Überzeugungen, die beide den ganzen Menschen und seine Lebenswirklichkeit betreffen. Sie ist deshalb aus der Außenperspektive eine umfassende soziale und kulturelle Praxis, die mit Dewey gesprochen dem Menschen einen Deutungsraum für religiöse Erfahrungen bietet und eine Orientierung für die Gestaltung der Lebenswelt bzw. öffentlicher Prozesse eröffnet. Ein letzter Aspekt soll mit Blick auf die drei Autoren benannt werden: Selbst wenn Religion in der skizzierten Weise auch für NichtGläubige als wissendes Nichtwissen, d. h. als eine Vernunfteinsicht über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, möglich ist, so lässt sich für alle drei Autoren der religiöse Standpunkt im Letzten nur aus der Mitte der Religion heraus verstehen, weil es sich bei der Religion nicht nur um ein äußerliches Wissen, sondern immer auch um eine tiefere Erfahrungsdimension in individueller wie sozialer Hinsicht handelt, die sich erst im Vollzug vollständig erschließt. »Nur wer sich für einen solchen Mittelpunkt entscheidet, hat Religion. Es gibt keinen religiösen Standpunkt über den Religionen; ein religiöser Standpunkt ist nur innerhalb einer Religion möglich, wenn auch in dem vollen Wissen, dass es nur einer unter vielen anderen möglichen Standpunkt ist, und in voller Achtung vor denen, die eine andere Mitte und einen anderen Standpunkt gewählt haben« (Ricken 2003, 187).
Für die Fragestellung dieser Arbeit impliziert dies eine wichtige Konsequenz, weil für die Erklärung der gesellschaftlichen Rolle von Religion nicht nur die kulturellen Kontexte eine wichtige Bedeutung haben, sondern auch die persönlichen Kontexte der jeweiligen Autoren selbst. 25 Diese Bedeutung der kulturellen Formen von Religion kann auch mit Rekurs auf andere Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts aufgewiesen werden. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer 1923–1929/1953–1987), in der sich einige Anleihen aus der schleiermacherschen Religionstheorie widerspiegeln, ist ein paradigmatisches Beispiel hierfür (vgl. hierzu auch Cassirer 1932/2007; Korsch/Rudolph 2000; Richter 2004). 25 Auf die Beachtung des persönlichen Hintergrunds der Wissenschaftler, die sich mit Religion beschäftigen, macht beispielsweise auch Graf aufmerksam. »Was auch immer 24
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Merkmale eines Religionsverständnisses für den aktuellen Diskurs
Je nachdem, ob und in welchem kulturell-religiösen Kontext diese verankert sind, fällt die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit verschieden aus. Die Affinität von Derrida zur jüdischen Interpretation der Transzendenz erklärt sich in dieser Hinsicht genauso wie Rortys liberale Skepsis gegenüber der Religion oder Vattimos katholisch inspirierte Deutung der kénosis.
4.2.2. Religion als soziale Praxis und das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz Mit Rekurs auf die drei philosophiegeschichtlichen Impulse kann nun im Folgenden ein Verständnis von Religion gewonnen werden, das eine Leerstelle im aktuellen Diskurs füllt. Religion wird damit nicht mehr länger als eine Blackbox oder als letztlich unvernünftige Entscheidung eines isolierten Gläubigen verstanden, sondern als Teil einer umfassenden, den ganzen Menschen und seine Lebenswirklichkeit betreffenden sozialen Praxis. Religionen, so lässt sich in Rückgriff auf Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey formulieren, sind sprachliche und symbolhafte Ausdrucksformen, die das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens thematisieren und damit soziale Praktiken konstituieren, die einen umfassenden Anspruch an die religiösen Menschen stellen. Die Interpretationen des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz, die in der Religion zum Ausdruck kommen, haben eine große Bedeutung sowohl für die individuelle Alltagswelt der Gläubigen als auch für die Gesellschaft, in der sie leben. Denn aus dem Bezug zur Transzendenz wird ein umfassender Anspruch für die Deutung menschlicher Erfahrungen und normativer Orientierungen für menschliches Handeln abgeleitet. Diese Ansprüche sind oft mit einem hohen Motivationspotenzial verbunden. Gesamtgesellschaftlich betrachtet übernimmt Religion vor dem Hintergrund dieses Verständnisses wichtige gesellschaftliche Funktionen. Denn sie ermöglicht eine sprachliche und symbolhafte Interpretation grundlegender menschlicher Erfahrungen, konstituiert innerreReligion sein mag – sie ist für akademische Religionsdeuter kein neutrales Untersuchungsfeld. Vielmehr erfährt sich jeder Religionsanalytiker als immer schon in Glaubensgeschichten verstrickt. In Sachen Religion gibt es weder einen external observer noch irgendeinen religionskulturtranszendenten neutralen Ort« (Graf 2008, 193). A
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ligiöse Verhaltensformen bzw. Weltdeutungen und stellt schlussendlich der Gesellschaft als Ganzer eine kulturell verankerte Kommunikationsform zur Ausdeutung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz zur Verfügung. 26 Aus einem solchen Verständnis von Religion ergeben sich sechs Schlussfolgerungen, wodurch die identifizierten Problemstellen des aktuellen Diskurses (vgl. Kap. 3.7.3.) bearbeitet und konstruktive Weiterentwicklungen angestoßen werden können. Ein Verständnis der Religion als sozialer Praxis bedeutet erstens, dass Religion ein soziales Phänomen ist, das nicht auf individuelle Entscheidungen des Einzelnen beschränkt werden darf. Diese Deutung von Religion zeichnet sich durch die Einsicht aus, »dass religiöse Glaubensvorstellungen und spirituelle Erfahrungen von Begriffen und Praktiken abhängen, die wiederum nicht von bestimmten Lebensformen getrennt werden können« (Arenhövel 2008, 178; vgl. auch Hamilton 2007, 218). Damit können fideistisch orientierte Religionsbegriffe zurückgewiesen werden (vgl. Kap. 3.1.3.3. und Kap. 3.2.3.1.). 27 Gleichzeitig werden zweitens religiöse Erfahrungen, die innerhalb der Religion gedeutet und verarbeitet werden, mit Schleiermacher und Dewey nicht ausgeblendet, wie das beispielsweise in der Systemtheorie der Fall ist. Diese werden vielmehr als grundlegend für die Religion interpretiert. Sie betreffen den ganzen Menschen und intendieren eine umfassende Haltung gegenüber den Mitmenschen und der Welt. Religiöse Erfahrung zielt »charakteristischerweise und zunächst auf das Ganze der Ordnung ab« (Sellmann 2007, 65). Religiöse Überzeugungen, die sich aus solchen Erfahrungen herausbilden, wollen eine umfassende Orientierung für den Gläubigen und dessen Lebensentwurf geben. Transzendenz meint dabei nicht jedwede Überschreitung menschlicher Wirklichkeit, sondern in der Religion geht es um das Transzendente im Sinne des Unendlichen, Absoluten oder philosophisch-theologisch gesprochen: um das Göttliche. Die Interpretationen und Grenzziehungen zwischen den verschiedenen Interpretationen des Transzendenten sind dabei allerdings fließend (Knoblauch 2002; vgl. hierzu auch Kap. 4.3.1.). 27 Arens (1998) diagnostiziert die Ausblendung der sozialen Dimension von Religion als ein Problem des habermasschen Verständnisses (vgl. Kap. 3.1.3.2.). »In Habermas’ eigener Konzeption wird ein kommunikativ-handlungstheoretisches Religionsverständnis m. E. nicht zuletzt deswegen verfehlt, weil er entgegen den Grundeinsichten seiner kommunikativen Handlungstheorie Religion nicht als eine auch gegenwärtig in vielfältigen Formen und Vollzügen geschehende Praxis wahrnimmt, sondern sie auf ihren semantischen Gehalt bzw. ihre rhetorische Funktion und somit auf allenfalls zwei ihrer Dimensionen engführt« (Arens 1998, 263). 26
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»Religiöse Überzeugungen sind eben zumindest auch – vielleicht sogar primär – Ausdruck einer bestimmten Haltung der Welt gegenüber. Sie verändern meine Einstellung zur und Wahrnehmung der gesamten Wirklichkeit. Sie haben regulative Bedeutung für die Art, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe und wie ich mich in meinem Alltag verhalte« (Stosch 2003, 109).
Die Deutung religiöser Erfahrungen vollzieht sich dabei immer innerhalb einer sozialen Praxis, die erst ihre sprachliche und symbolhafte Verarbeitung ermöglicht. Religion kann deshalb drittens in politisch-philosophischer Hinsicht weder auf den Bereich der privaten Selbsterschaffung noch auf die praktische Vernunft beschränkt werden (vgl. Werbick 2000, 99). Sie wird stattdessen als eine Praxis verstanden, die sowohl privates als auch öffentliches Leben prägt. Religion »should be placed in more of an intermediate position in modern society. As a social form it is not totally outside the public realm in that it still has some influence, both nationally and internationally« (Wallace 1985, 29). Die Argumentationslinie klassischer Religionstheorien von Durkheim und Troeltsch wird in dieser Hinsicht in den aktuellen Diskurs übertragen (vgl. Kap. 2.1.1.). Religion ist viertens mit Blick auf Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey eine soziale Praxis, die in einem Netz von Überzeugungen mit säkularen Argumenten verwoben ist und als ein wissendes Nichtwissen über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz gefasst werden kann. Glauben und Wissen können mit Rekurs auf diese Autoren deshalb nicht radikal geschieden werden, sondern sie sind immer wechselseitig aufeinander bezogen. Die philosophiehistorischen Impulse erfordern deshalb eine neue, kritische Reflexion auf das Verhältnis von Glauben und Wissen (vgl. Kap. 4.3.). Eine so verstandene Religion lässt sich fünftens von einem radikal post- bzw. antimetaphysischen Ansatz aus nicht verstehen. Es sind vielmehr eine »Bereitschaft zur Relativierung säkular-laizistischer Grundüberzeugungen« und eine »Anerkennung religiöser Sprachspiele« (Arenhövel 2008, 177) gefordert. Die Überlegungen zur Metaphysik im aktuellen Diskurs der politischen Philosophie (vgl. Kap. 3.7.1.) sind deshalb vor allem dann zu diskutieren, wenn Metaphysikkritik eine Verabschiedung der Religion in den Bereich des Privaten oder des Unvernünftigen bedeutet. In Anlehung an die Systemtheorie kann man schlussfolgern, dass Religion als soziale Praxis eine umfassende Form gesellschaftlicher A
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Transformationen für den Diskurs über Religion
Kommunikation darstellt, d. h. ein kommunikatives Sozialgeschehen (vgl. Tyrell 1988), weshalb religiöse Kommunikation nicht im Sinne eines Sender-Empfänger-Modells konzeptualisiert werden kann. Religion als kommunikative Praxis eröffnet der Gesellschaft die Möglichkeit, sich zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz sprachlich zu verhalten. Gegen Luhmann kann man allerdings mit Verweis auf die drei philosophiegeschichtlichen Impulse einwenden, dass Religion kein einheitliches Kommunikationssystem konstituiert, sondern im gesellschaftlichen Alltag der Menschen mit anderen Praktiken und Kommunikationen verschränkt ist. Deswegen gibt es Religion sechstens nur in ausdifferenzierten kulturellen Formen; dies gilt es im aktuellen Diskurs noch deutlicher in den Blick zu nehmen (vgl. Kap. 4.5.). Damit sind zentrale Aspekte benannt, die sich aus dem Verständnis von Religion als einer sozialen Praxis in Anlehnung an die skizzierten philosophiehistorischen Impulse ergeben und die im zukünftigen Diskurs über Religion und ihre gesellschaftliche Rolle besondere Beachtung finden sollten. In den folgenden Schritten werden diese Überlegungen in vier Themenkreise zusammengefasst: eine Neufassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen (Kap. 4.3.), ein weites funktionales Religionsverständnis (Kap. 4.4.), das Verhältnis von Religion und Kultur (Kap. 4.5.) und die politische Rolle von Religion in demokratischen Gesellschaften (Kap. 4.6.).
4.3. Neufassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen 4.3.1. Wechselseitige Verwiesenheit von Glauben und Wissen Das Verhältnis von Glauben und Wissen, so zeigen die Rekonstruktionen deutlich, stellt eines der zentralen Themen aller Ansätze des aktuellen Diskurses dar. Im Kern dieser Debatte steht die Frage, welchen erkenntnistheoretischen Status religiöse Aussagen haben und wie mit dem Wahrheitsanspruch der Religionen gesellschaftlich umgegangen werden soll. Deshalb wird im folgenden Teilkapitel untersucht, welche Schlussfolgerungen sich aus dem an Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey orientierten Religionsverständnis für die Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen im aktuellen Diskurs ziehen lassen. Damit kann nicht nur Religion selbst, sondern infolgedessen auch ihre gesellschaftliche Funktion noch präziser bestimmt werden. 352
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Neufassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen
Habermas hatte – bei aller eingeforderten Notwendigkeit der Übersetzung – Glauben und Wissen als inkommensurable bzw. opake Modi des Geistes bestimmt (vgl. Habermas 2008b, 29). Die Philosophie kann deshalb seiner Ansicht nach lediglich in einer allgemein zugänglichen Sprache die Inhalte der Religion formal rekonstruieren und ihre normativen bzw. politischen Äußerungen unter den Bedingungen des liberalen Staates diskutieren (vgl. Habermas 2005). Sein Plädoyer für eine deutliche Abgrenzung von Glauben und Wissen wendet sich gegen eine Überstrapazierung des Glaubensbegriffs und gegen jede ›Übernahme‹ der Philosophie durch die Religion. Mit den philosophiegeschichtlich gewonnenen Impulsen lässt sich diese Position einer kritischen Reflexion unterziehen und argumentieren, dass Glauben und Wissen nicht eindeutig unterschieden werden können, sondern in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Die Vernunft, die beispielsweise für Schleiermacher beim Nachdenken über das Selbstbewusstsein über ihre Grenzen reflektiert, stößt auf Unverfügbares (Transzendentes), das nur als wissendes Nichtwissen thematisiert werden kann (vgl. Nikolaus von Kues 1440/1994, 15). »Wir dürfen die Grenzen unserer Vernunft nicht ausgrenzen, sondern müssen sie begreifen und in unser Vernunftverständnis konstitutiv produktiv mit einbeziehen. (…) Konstitutiv für unsere vernünftige Lebenspraxis ist, anders gesagt, der bewusste Einbezug der transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Vernunft. Eben darin, an den lebenssinnkonstitutiven Zusammenhang von Negativität und Vernunft nicht nur zu erinnern, sondern diesen Zusammenhang in kulturellen Lebensformen aktiv zu transformieren, normativ zu institutionalisieren und so bewusst zu gestalten, bestehen im Kern die irreduziblen Wahrheitsansprüche von Religion« (Rentsch 2008, 169).
Religion bietet in dieser Hinsicht eine sprachliche Ausdrucksform des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz als ein wissendes Nichtwissen. Sie thematisiert dabei in vernünftiger Weise die Grenzen der Vernunft, weshalb religiöser Glaube nicht als opak interpretiert werden kann. Aus den erkenntnistheoretischen Reflexionen auf die Grenzen der Vernunft resultiert die Schlussfolgerung einer wechselseitigen Verwiesenheit von Glauben und Wissen. Für die Vernünftigkeit der Religion spricht beispielsweise ihre normative oder hermeneutische Funktion (vgl. Vattimo 1997a), denn religiöse Überzeugungen werden in beiderlei Hinsicht von Gläubigen als vernünftig interpretiert. Der religiöse Glaube ist vernünftig, weil er eine integrierende A
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Transformationen für den Diskurs über Religion
Sinnstiftung für den Menschen bietet (vgl. Ricken 2007). Dies lässt sich beispielsweise mit Blick auf die Religionsdeutung von Dewey herausstellen. In einem hermeneutischen Sinne ermöglicht der Glaube dem Menschen eine vernünftige Deutung existenzieller Erfahrungen, so Deweys These. Damit beinhaltet der religiöse Glaube ein Potenzial zur humanen Gestaltung individueller wie gesellschaftlicher Praktiken, die ebenfalls für den säkularen Menschen vernünftig sind (vgl. Ricken 2007, 24 f.). 28 Ausdifferenzierte Gesellschaften haben neben der Religion viele weitere soziale Praktiken entwickelt, innerhalb derer Menschen ihren Alltag strukturieren und Wirklichkeit deuten. Die Moderne ist also durch eine Vielzahl von Praktiken gekennzeichnet, die alle eine je eigene Vernünftigkeit für ihre Argumentationsweisen in Anspruch nehmen. Julian Nida-Rümelin expliziert diese Pluralität der verschiedenen, jeweils als vernünftig angesehenen Argumentationsspiele und Begründungsformen mit Rekurs auf Wittgensteins Sprachspieltheorie. In der menschlichen Lebenswelt sind – seiner Argumentation zufolge – verschiedene Formen des Begründens eingebettet, die nicht vollständig explizierbar, aber im Letzten unhintergehbar sind. Es gibt »eine Vielfalt miteinander vernetzter und voneinander abhängiger Begründungsspiele« (Nida-Rümelin 2006, 31), die Menschen in ihren Argumentationsweisen miteinander in Beziehung setzen. Nida-Rümelin spricht deshalb auch von einer »kohärentistische[n] Struktur unserer Gründe« (Nida-Rümelin 2009, 108; vgl. auch Nida-Rümelin 1997). 29 Ricken erklärt diese Überlegungen mit Rekurs auf eine an dem Pragmatismus angelehnte Interpretation der Mystik. »Die Hypothesen, welche die Mystik unterbreitet, zwingen nicht zum Glauben; sie sind lediglich ein Angebot, den Sinn des Lebens zu sehen. Aber sie zeigen durch ihren epistemischen Charakter, dass der religiöse Glaube sittlich berechtigt« (Ricken 2003, 76) und vernünftig ist. Eine so verstandene wechselseitige Verwiesenheit von Glauben und Wissen lässt sich philosophiegeschichtlich bei vielen Autoren aufweisen, wenn auch in unterschiedlicher Form und Reichweite (vgl. die Überlegungen zu Kant und Hegel in Kap. 2.3.). Religion ist beispielsweise aus der Perspektive Kants auf Vernunft verwiesen, und gleichzeitig wird »keine Vernunft, die der Religion unbedenklich den Krieg ankündigt, (…) es auf die Dauer gegen sie aushalten« (Hutter 2005, 136). Ähnliches gilt in dieser Hinsicht für die hegelsche Tradition, die sich in den Überlegungen von Derrida widerspiegelt (vgl. Stegmaier 2007, 78). 29 Die Einheit der Lebenswelt steht dabei für Nida-Rümelin der gesellschaftlich-kulturellen Partikularität dieser Begründungsspiele gegenüber, weshalb Gesellschaft nicht in unverbundene Teile zerfällt. »Das große Spektrum unterschiedlicher Lebensformen darf 28
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Neufassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen
Von zentraler Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit ist dabei, dass religiöse Begründungsspiele nicht isoliert betrachtet werden können, sondern immer in dieses komplexe Netz von Argumentationsspielen eingebunden sind. Menschen verbinden in ihrem Leben verschiedene, teilweise sehr unterschiedliche oder sich gar wiedersprechende Aussagen zu einem kohärenten Netzwerk von Überzeugungen (vgl. Nida-Rümelin 1997, 183). Überzeugungen oszillieren dabei immer »zwischen den Operatoren des ›Glaubens‹ und des ›Wissens‹« (Schärtl 2003, 28); dies gilt auch für religiöse Überzeugungen, die »auf eine sinnstiftende Einheit aus[greifen]« (Schärtl 2003, 36) und einen umfassenden Anspruch für den religiösen Menschen darstellen, der nicht ausschließlich auf der Seite des Glaubens oder Wissens verortet werden kann. Religiöse Aussagen können deshalb nicht per se als unvernünftig bezeichnet werden, sondern ihnen kommt vielmehr ein eigener erkenntnistheoretischer Status im Kontext der pluralen Praktiken und der mit ihnen verbundenen Begründungsspiele zu. Mit Nikolaus von Kues, aber auch mit Schleiermacher und Dewey kann vor dem Hintergrund dreier unterschiedlicher philosophischer Modelle dahingehend argumentiert werden, dass religiöse Aussagen vernünftig sein können, weil mittels der Vernunft eine Annäherung an das Unendliche und das in religiösen Erfahrungen zugängliche Absolute möglich ist. Diese Vernünftigkeit darf nicht als eine objektive Verstandeserkenntnis oder als eine naturwissenschaftliche Erkenntnis interpretiert werden (vgl. Kap. 2.2.), sondern die Aussagen sind eine unendliche Annäherung an das Transzendente. Im Sinne einer negativen Dialektik geht es um ein wissendes Nichtwissen über das Absolute. Erst wenn diese erkenntnistheoretischen Grenzen von der Religion selbst reflexiv eingeholt werden, kann sie überzeugend über das Transzendente sprechen und einen Wahrheitsanspruch für ihre Aussagen erheben. In dieser Argumentationsrichtung haben bereits vor der gegendabei nicht den Blick auf das hohe Maß an Übereinstimmungen verstellen. Die je gewählte Lebensform ist durch deskriptives wie normatives Orientierungswissen nicht festgelegt. Die Möglichkeit, sich über unterschiedliche Einstellungen auszutauschen, das je individuell gestaltete Leben gegenüber anderen zu begründen, zeigt, wie groß die Übereinstimmung tatsächlich ist« (Nida-Rümelin 2009, 182). In gesellschaftlicher Kommunikation tauschen Menschen also Gründe aus und akzeptieren, dass sich für bestimmte Probleme einige Gründe als besonders plausibel erweisen, ohne dass damit ein letztgültiger Wahrheitsanspruch verbunden wäre (vgl. Nida-Rümelin 2006, 72 ff.). A
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wärtigen Aufmerksamkeit für Religion Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts über Religion nachgedacht. Ein Autor soll exemplarisch benannt werden: Franz Rosenzweig. Auch er votiert für eine Interpretation religiöser Aussagen im Sinne eines wissenden Nichtwissens, womit er sich in die Tradition der negativen Theologie stellt. Dieses wissende Nichtwissen ist für ihn aber keine Form der »destruierenden Auflösung« (Deuser 2009, 330) der Gottesrede, sondern ein positiver Zugang zur Transzendenz selbst. Als solches ist das Nichtwissen »der Anfang unseres Wissens von ihm. Der Anfang, nicht das Ende« (Rosenzweig 1921/1976, 25). Das Nachdenken über Religion führt deshalb für Rosenzweig zu einer positiven Bejahung der Transzendenz in Form eines konstruktiven Umgangs mit dem Nichtwissen. »Es wird ein Unendliches bejaht: Gottes unendliches Wesen, seine unendliche Tatsächlichkeit, seine Physis« (Rosenzweig 1921/1976, 29). Damit ist eine neue Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen im Sinne eines Wechselverhältnisses als auch eine Reflexion über den Wahrheitsanspruch der Religion möglich. Die Wahrheit religiöser Überzeugungen wird in dieser Hinsicht weniger auf der Verstandes- als auf der Vernunftebene angesiedelt und zeigt sich als ein wissendes Nichtwissen über das Absolute (vgl. Kohr 2008, 312). 30 In der gegenwärtigen philosophischen Debatte machen einige Philosophen bereits dezidiert auf ein so verstandenes Wechselverhältnis von Glauben und Wissen aufmerksam. Ein Beispiel hierfür ist Derrida, für den vor dem Hintergrund seines Nachdenkens über Dekonstruktion und différance die aktuelle Wiederkehr der Religion nur verstehbar ist, wenn auf das Wechselverhältnis von Glauben und Wissen geachtet wird, weil beide historisch wie systematisch in einer großen Nähe zueinander stehen (vgl. Kap. 3.5.2.3.). Um die gesellschaftliche Bedeutung von Religion erklären zu können, ist »jenseits des Gegensatzes zwischen Religion und Vernunft« (Derrida 2001a, 49) nach deren Wechselverhältnis und ihren gemeinsamen Quellen zu fragen. Beide gehen ein Bündnis ein, das Derrida als ›Knoten‹ bezeichnet (vgl. DerriIn diesem Zusammenhang sei auf die Debatte über den Wahrheitsanspruch der Religion verwiesen, die im Zuge der Diskussion über pluralistische Religionstheorien in den vergangenen 15 Jahren intensiv geführt wurde (vgl. besonders Hick 2002). Dabei haben sich vor allem drei Theoriestränge herauskristallisiert, und zwar Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus. Mit jeder dieser drei Positionen sind unterschiedliche Wahrheitskonzepte verbunden (vgl. exemplarisch Schmidt-Leukel 2005; Danz/Hermanni 2006; aber auch schon früher grundlegend Oelmüller 1986; Kerber 1994).
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da 2001a, 11). Wenn Wissen ausschließlich als ein säkular-objektives verstanden wird, besteht seiner Ansicht nach eine große Versuchung darin, dieses zu verabsolutieren, und auszublenden, dass darin immer schon Anteile des Glaubens – beispielsweise des Vertrauens oder ›Treuhänderischen‹ (vgl. Derrida 2001a, 53) – impliziert sind. Wissen ist deshalb grundsätzlich auf Aspekte des Glaubens bezogen. Gleiches gilt umgekehrt für die Religion, die Glauben immer auch mit den Mitteln der Vernunft zu thematisieren versucht. Damit sind Glauben und Wissen – ganz in der Argumentationslinie von Nikolaus von Kues oder Schleiermacher – wechselseitig aufeinander verwiesen. Dies betont zum Beispiel auch die Systemtheorie Luhmanns, weil der spezifische Code der Religion (Verhältnis von Transzendenz und Immanenz) für den Menschen vernünftig ist – Luhmann spricht von kommunizierbar (vgl. Kap. 3.4.3.2.). Diese Betonung der wechselseitigen Bezogenheit von Glauben und Wissen hat aber nicht nur erkenntnistheoretische Implikationen, sondern beinhaltet auch einige wichtige Schlussfolgerungen für die politisch-philosophische Reflexion über Religion. Bei Habermas und vor allem Rorty ist die vom Liberalismus motivierte Trennung von Glauben und Wissen am deutlichsten ausgebildet, was sie in politisch-philosophischer Hinsicht zu der Schlussfolgerung führt, der Religion in der Öffentlichkeit nur eine bedingte (wenn auch unterschiedlich weitreichende) Rolle zuzugestehen. Deswegen müssen Religionen aus einer liberalen bzw. deliberativen Perspektive erst ihre Glaubensüberzeugungen in eine säkulare Semantik übersetzen, bevor sie diese in öffentliche Diskurse einspeisen dürfen. 31 Mit der Zurücknahme einer An Rortys Überlegungen wird dies noch offensichtlicher, weil er Religion nur noch als Kandidatin in der Öffentlichkeit zulassen will, wenn sie den Wahrheitsanspruch ihrer religiösen Überzeugungen insgesamt aufgibt und sich ausschließlich als eine Form romantischer Hoffnung zeigt (vgl. Rorty 2008b). Vor dem Hintergrund eines an Dewey angelehnten Erkenntnis- und Religionsverständnisses müsste Rorty allerdings eine solche strikte Trennung von Glauben und Wissen sowie eine Abschiebung des Glaubens ins Private gar nicht annehmen, denn in der pragmatistisch begründeten Zurückweisung jeder Form von Wahrheitstheorie können sich sowohl religiöse als auch säkulare Praktiken als vernünftig erweisen (vgl. Kap. 3.2.3.3.). Gegenüber Rorty ist Habermas offener in Bezug auf die Religion und deren gesellschaftliche Bedeutung, was sich auf erkenntnistheoretischer Ebene darin zeigt, dass er trotz aller Opazität des Glaubens religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens einen epistemischen Status zugesteht, »der nicht schlechthin irrational ist« (Habermas/Ratzinger 2005, 35). Gegenüber Rorty betont er außerdem deutlich
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scharfen Trennung von Glauben und Wissen kann nun Religion in einer Doppelfunktion als private Selbsterschaffung im Sinne einer Verarbeitung der Selbsttranszendenz für das eigene Leben und als öffentlich-politische Kraft verstanden werden. In dieser Hinsicht ist Religion als wissendes Nichtwissen über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz jenseits der Differenzsetzung von privatem Glauben und öffentlichem Wissen angesiedelt. Daraus folgt, dass öffentliche und private Religion in einem unauflösbaren Wechselverhältnis stehen, das je nach kulturellem Kontext neu ausgelotet werden muss (vgl. Anselm 2007). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Forderung von Habermas nach einer wechselseitigen Übersetzung weltanschaulicher Semantiken hinfällig wäre (vgl. Kap. 3.1.2.3.). So dürfen auch religiöse Bürger nach wie vor nicht einfach auf ihren Überzeugungen insistieren, wenn sie für säkulare Bürger überhaupt nicht verständlich sind. Aus Sicht der demokratischen Deliberation sind hier Erklärungs- und Übersetzungsprozesse wichtige Instrumente. Im gesellschaftlichen Diskurs, in dem weltanschauliche Aussagen wechselseitig übersetzt werden, geht es dann allerdings weniger um den Wahrheitsanspruch der jeweiligen Religion als um die Rechtfertigung religiöser Überzeugungen. 32 Aus demokratietheoretischen Gründen sind Religionen in solchen Diskursprozessen zu einer Toleranz gegenüber anderen sozialen Praktiken aufgefordert, in diesem Punkt ist Habermas vollständig zuzustimmen (vgl. Habermas/Derrida 2004). Eine Verschränkung von Glauben und Wissen findet sich nicht nur im Christentum, sondern in vielen Religionen weltweit, beispielsweise auch im Islam. Die Hinweise auf den mittelalterlichen Islam bei Al Ghazzali im Zusammenhang mit den Analysen des Ansatzes von Nikolaus von Kues zeigten dies bereits in religionsphilosophischer Hinsicht (vgl. Kap. 4.1.1.). Gleiches gilt für viele andere Autoren des stärker die Möglichkeiten einer wechselseitigen Übersetzung von säkularen und religiösen Überzeugungen. 32 In der Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Habermas (vgl. Kap. 3.1.3.5.) wurde bereits herausgestellt, dass in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Religion oftmals von Wahrheits- auf Rechtfertigungsfragen umgestellt wird (vgl. Forst 2007). Damit wird anerkannt, dass der Streit über material gefasste Wahrheitsansprüche von Religionen heute philosophisch nicht mehr entschieden werden kann, dass es aber sehr wohl plausible Rechtfertigungen für bestimmte religiöse Überzeugungen gibt. »Anders als unter wahrheitstheoretisch orientierten Parametern kann unter rechtfertigungsorientierten Parametern eine Vielheit religiöser Ansprüche im Prinzip toleriert werden« (Grube 2006, 61; vgl. Schmidt 2008b).
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klassischen Islam, die »der Vernunft bzw. dem rationalen Wissen in der Religion eine große Bedeutung beimaßen. Die Vernunft (…) wurde dem Menschen von Gott mit der Maßgabe gegeben, sie zu verwenden« (Akasoy 2007, 11). 33 Eine solche Verschränkung von Glauben und Wissen wird vor allem in zweierlei Hinsicht betont, und zwar erstens für die theologischen Deutungen des Islam und zweitens für seine moralische bzw. politische Praxis. Gerade in Bezug auf das Handeln des religiösen Menschen, das im Islam einen wichtigen Stellenwert einnimmt, ermöglicht der Rekurs auf die Vernunft dem Gläubigen eine Handlungsorientierung. In interkultureller Hinsicht findet sich im indonesischen Islam auf Java ein Religionsverständnis, in dem ebenfalls Glauben und Wissen im Sinne von Nikolaus von Kues oder Schleiermacher miteinander verschränkt werden. Basis der religiösen Weltanschauung Javas sind die Einheitsvorstellungen von Gesellschaft und Natur bzw. von Numinosem und Menschen. Diese beiden Einheiten können nicht reflexiv eingeholt werden, sondern sind nur mittels einer mystischen Erfahrung zugänglich (vgl. Mulder 1990). Damit kann auch diese religiöse Tradition als eine Form der negativen Theologie interpretiert werden, die Glauben und Wissen nicht einander entgegengesetzt, sondern in der Gedankenfigur eines wissenden Nichtwissens miteinander verbindet (vgl. Magnis-Suseno 1981). Ein wechselseitiges Verhältnis von Glauben und Wissen ist also nicht eine ausschließlich christliche Gedankenfigur, sondern sie zeigt sich in einem interreligiösen wie interkulturellen Dialog als ein zentrales Merkmal vieler Religionen weltweit. In der politischen Philosophie kann eine zu starke Trennung von Glauben und Wissen noch einen anderen problematischen Effekt haben. Wird deren Wechselverhältnis nämlich zu wenig beachtet, entsteht in der politischen Praxis schnell die Tendenz, Religionen als priIn eine ähnliche Richtung argumentieren islamische Gelehrte in einem offenen Brief an Papst Benedikt als Reaktion auf dessen Regensburger Rede (vgl. Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch. Ein offener Brief und Aufruf von muslimischen religiösen Führern an Papst Benedikt XVI. vom 13. 10. 2007). Vgl. diesbezüglich auch den Band von Haider Ali Zafar (2007), in dem islamische Gelehrte auf den Zusammenhang von Glauben und Wissen im Islam aufmerksam machen. Betont wird in diesem Zusammenhang unter anderem, dass der Mensch die Vernünftigkeit der Handlungen Gottes einsehen kann (vgl. Hameed 2007, 208–212). Auch einige der Beiträge aus dem Band von Görge K. Hasselhoff und Michael Meyer-Blanck (2008) heben die wechselseitige Verschränkung von Glauben und Wissen im Islam – sowohl in historischer wie auch in systematischer Hinsicht – hervor.
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vate Phänomene in ihrer politischen Bedeutung zu vernachlässigen. Dies kann das Abgrenzungspotenzial von Religion fördern: Weil Religion in den Bereich des Privaten und Unvernünftigen abgeschoben wird, konzeptualisiert sich diese dann vor allem in Abgrenzung zur Gesellschaft, was für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben hinderlich ist und im Extremfall zu gewalttätigen Abgrenzungen gegenüber Nichthläubigen führen kann (Höhn 2007, 192 f.). Wenn dagegen die Vernünftigkeit des Glaubens als ein wissendes Nichtwissen hervorgehoben wird, ist ein konstruktiver Dialog der weltanschaulich geprägten sozialen Praktiken leichter möglich, als wenn der Glaube als letzte und höchste Ausdrucksform einer abgrenzenden Identität interpretiert wird (vgl. hierzu Oberdorfer/Waldmann 2004; Brocker/Hildebrandt 2008).
4.3.2. Religion als Kritik des (vernünftigen) Common Sense Das Plädoyer für eine Verschränkung von Glauben und Wissen und die Deutung religiöser Aussagen als vernünftig im Sinne eines wissenden Nichtwissens darf aber auch nicht dazu führen, die Unterschiede zwischen beiden gänzlich zu verwischen oder Glauben und Wissen gleichzusetzen 34 , denn religiöse Überzeugungen wollen sich immer auch vom vermeintlich Vernünftigen abgrenzen. So eröffnen Religionen immer auch eine anders ausgerichtete Sichtweise auf die Wirklichkeit und den Menschen im Vergleich zum gesellschaftlich als vernünftig anerkannten Common Sense. Sie sind dabei vom Standpunkt Hegels aus eine kritische Gegenfolie zur Gesellschaft (vgl. Kap. 2.3.3.), mit welcher die Reichweite der in der Gesellschaft als vernünftig anerkannDie katholische Tradition des Christentums plädiert tendenziell für eine solche große Nähe von Glauben und Wissen, wofür die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006 ein Beispiel ist (vgl. Kap. 3.1.3.3.). Vor dem Hintergrund der Logos-Philosophie des Johannes-Evangeliums argumentiert er für eine Nähe von Glauben und Wissen. »Gott handelt mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft« (Benedikt XVI. 2006, 15). Diese Deutung der Vermittlung von Glauben und Wissen fußt auf der augustinisch-bonaventurischen Tradition, welche die von Nikolaus von Kues betonte negative Dialektik des Verhältnisses tendenziell zu wenig beachtet. Gerade die Reflexion auf die Grenzen des Wissens ermöglicht es aber erst, das Verhältnis überzeugend in den Blick nehmen zu können, weshalb Habermas zuzustimmen ist, wenn er dem Papst in diesem Zusammenhang Vernunftstolz attestiert (vgl. Wenzel 2007).
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ten Argumente kritisch hintergefragt wird. Religiöse Aussagen wollen provozieren, (ver-)stören und in einem prophetischen Sinne Menschen zu einer radikalen Umkehr aufrufen, wie Walzer aufzeigt (vgl. Kap. 3.3.2.1.). 35 Religiöse Bürger dürfen deshalb nicht gezwungen werden, die Plausibilität ihrer religiösen Überzeugungen von dem säkularen Diskurs, in den sie ihre Überzeugungen einbringen, abhängig zu machen, denn es gibt immer auch einen Anteil religiöser Überzeugungen, der sich dezidiert außerhalb dieses Raumes verortet (vgl. Schmidt 2006, 51). Einige Philosophen und Theologen haben deshalb explizit gegen einen gesellschaftlich angepassten Religionsbegriff argumentiert, um den Bruch zwischen dem vermeintlich vernünftigen Common Sense und dem religiösen Glauben zu markieren. Rosenzweigs Religionsphilosophie ist ein Beispiel hierfür (vgl. Rosenzweig 1921/1976). Von theologisch-philosophischer Seite aus hat der evangelische Theologe Karl Barth vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ereignisse seiner Zeit für eine Betonung der Eigenheiten der Religion gegenüber dem Common Sense und im Zuge dessen für eine Absetzung von der protestantischen Religionstheorie Schleiermachers plädiert. Der Protestantismus hat sich seiner Ansicht nach auf eine rein formale Analyse der faktischen Religiosität bzw. der subjektiven Erfahrungen des Absoluten zurückgezogen. »Was Barth dabei kritisch anmerkt, ist die Desavouierung der göttlichen Offenbarung in Christus zugunsten der religiösen Frömmigkeit des Menschen« (Heber 2001, 19). In der damit vollzogenen Versöhnung von Religion und moderner Gesellschaft sieht Barth eine Gefahr, denn Religion büßt damit ihr kritisches Potenzial gegenüber dem gesellschaftlichen Common Sense ein. Wird im Nachdenken über Religion zu sehr auf die Vernünftigkeit des Glaubens fokussiert, geht das Spezifikum der Religion verloren, so Barth (vgl. Habermas 2005, 243; Kap. 3.1.2.4.). Religiöser Glaube ist in Barths Sichtweise also weniger eine vernünftige Deutung von Wirklichkeit, sondern Ausdruck der menschliche In der Rekonstruktion der analytischen Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts (vgl. Braithwaite 1955; Ramsey 1957; Wisdom 1974) wurde bereits herausgestellt, dass religiöse Aussagen mit dem Bezug auf die Transzendenz eine umfassende Wirklichkeitsinterpretation bzw. einen ganzheitlichen Anspruch an den Menschen darstellen (vgl. Kap. 2.2.). Daher setzen sich religiöse Aussagen von Tatsachenaussagen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ab, die im öffentlichen Diskurs oft als Common Sense interpretiert werden.
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Vernunft übersteigenden Offenbarung Gottes in der Geschichte. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus werde, so der Vorwurf Barths an die Theologie seiner Zeit, in keinster Weise mehr angemessen gedacht. Jesus Christus ist seiner Deutung nach gerade ein Zeichen der Unmöglichkeit, mit endlichen Mitteln über das Unendliche zu sprechen. »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben« (Barth 1922/1995, 199).
In der sogenannten dialektischen Theologie wird diese radikale Verschiedenheit von Gott und Mensch reflexiv eingeholt. Die Religion vergisst, »dass sie nur dann Daseinsberechtigung hat, wenn sie sich selbst fortwährend aufhebt. Sie freut sich stattdessen ihres Daseins und hält sich selbst für unentbehrlich« (Barth 1924, 59). Genau damit, so ließe sich von Barth die Kritik am aktuellen Diskurs über Religion reformulieren, verliert die Religion ihr Spezifikum, und zwar ihre radikale Kritik an der kontingenten Welt, die sie mit dem Verweis auf die grundsätzliche Verschiedenheit Gottes begründet. Dass Barth die Propheten als besonderen Ausdruck dieser Kritik der endlichen Welt mit Bezug auf den unendlichen Gott interpretiert, überrascht nicht und zeigt wiederum einige Parallelen zu den Überlegungen von Walzer (vgl. Kap. 3.3.2.1.). »In der Schärfe des prophetischen Angriffs auf den Menschen, die im israelitischen ›Gesetz‹ erreicht ist, scheint darum das religiöse Phänomen, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, seine höchste und reinste Stufe erreicht zu haben« (Barth 1922, 225; vgl. hierzu auch Kraus 1982, 7 ff.).
Die Überlegungen dieses Teilkapitels führen zu der Schlussfolgerung, dass Glauben und Wissen zwar als wechselseitig verbunden interpretiert werden sollten, dass dies aber nicht zu einer Vereinnahmung des Glaubens durch das Wissen und damit einer Sinnentleerung religiöser Überzeugungen führen darf. Religiöse Aussagen sind vielmehr eine kritische Gegenfolie, die gerade als ein wissendes Nichtwissen alternative Sichtweisen auf bestehende gesellschaftliche Verhältnisse eröffnen können. Religion ist zwar vernünftig im Sinne eines wissenden Nichtwissens. Sie will gerade deshalb mit Bezug auf die Transzendenz die anerkannten Wissensbestände einer Gesellschaft immer auch kritisch hinterfragen. Vor dem Hintergrund der philosophiegeschichtlichen Anmerkungen bedeutet dies allerdings wiederum nicht, dass 362
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Religion mit den Mitteln der Vernunft überhaupt nicht thematisierbar wäre; in dieser Hinsicht wird mit den skizzierten Überlegungen auf die Grenzen der barthschen Argumentation hingewiesen und stattdessen dafür plädiert, Religion als ein wissendes Nichtwissen über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz zu verstehen. Deshalb ist auch eine vernunftgeleitete, wissenschaftliche Reflexion über Religion möglich.
4.4. Funktionales Religionsverständnis 4.4.1. Grundlagen und Begrenzungen eines funktionalen Zugangs Das charakteristische Merkmal der Religion ist aus Sicht der politischen Philosophie ihre gesellschaftliche Funktion. Eine solche funktionale Religionstheorie wird im aktuellen Diskurs von den meisten zeitgenössischen Ansätzen vertreten (dezidiert unter anderem von Habermas, Luhmann oder Derrida) und erscheint – trotz aller skizzierten Verkürzungen – als die plausibelste Form der Thematisierung von Religion in der politischen Philosophie. Allerdings kann vor dem Hintergrund der verschiedenen Rekonstruktionen und des philosophiegeschichtlichen Impulses diese Funktionalität der Religion nun noch differenzierter erklärt werden. Gewährsmann der politisch-philosophischen Reflexion über Religion ist mit Blick auf den gesamten Diskurs bis heute für viele Philosophen Kant (vgl. Kap. 2.3.2. und Kap. 3.1.2.4.). Auch wenn sich Autoren wie Habermas, Rorty oder Derrida von seinem Ansatz einer Vernunftreligion dezidiert absetzen, so wird doch von ihnen mit Kant die Frage nach der Religion vor allem im Rahmen der praktischen Vernunft gestellt. Eine damit angelegte Reduktion der Religion auf ihre moralische Funktion ist symptomatisch für viele Ansätze der politischen Philosophie, weshalb die Bedeutung der Religion oft dann besonders herausgestellt wird, wenn es darum geht, die drängenden gesellschaftlichen und strittigen moralischen Themen der Zeit zu diskutieren. Religion wird damit allerdings nicht als soziale Praxis konzeptualisiert, sondern in einem engeren Sinne als eine moralische Ressource, die ein Begründungspotenzial für normative Konflikte in gesellschaftlichen Debatten zur Verfügung stellen kann (vgl. Habermas 2001). In der Argumentationslinie des Pragmatismus von Dewey und A
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mit Rekurs auf das Religionsverständnis von Nikolaus von Kues und Schleiermacher kann ein solcher moralischer Reduktionismus zurückgewiesen werden, denn die Funktion der Religion kann mit diesen Autoren deutlich weiter gefasst werden. Sie besteht vor allem darin, eine Kommunikationsform und Lebenspraxis anzubieten, um das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz sprachlich wie symbolhaft zu thematisieren. Die Kernfrage der Religion nach dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz darf deshalb nicht auf den Bereich des Normativen reduziert werden, ganz im Gegenteil: Luhmann warnt aus Sicht der Systemtheorie zu Recht vor einer Koppelung des religiösen und moralischen Codes (Luhmann 1997, 230–249). Religionen übernehmen, so zeigen die Rekonstruktionen und kritischen Diskussionen der verschiedenen Ansätze, vielfältige gesellschaftliche Funktionen, von denen die Bereitstellung einer moralischen Ressource nur eine ist. Die Gestaltung kulturellen Lebens (vgl. Geertz 1983) oder die Verarbeitung von Kontingenz (vgl. Lübbe 1986) sind ebenfalls Funktionen von Religion, auf die Soziologen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu Recht aufmerksam gemacht haben. 36 Erst in der Zusammenschau dieser verschiedenen Funktionen, die sich auf die Kernfunktion der Thematisierung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz zurückführen lassen, ergibt sich ein detailliertes Bild ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Moral – hier könnte man ganz der Ansicht von Schleiermacher folgen – ist nur ein Aspekt, auf den man Religionen nicht verkürzen darf (vgl. Schleiermacher 1799/1984, 201 ff.). 37 Damit werden außerdem moralische oder politische Instrumentalisierungen von Religion eher umgangen, als dies in reduktionistischen Auffasungen der Fall ist.
Kaufmann identifiziert beispielsweise in seinem Plädoyer für ein multifunktionales Verständnis von Religion die Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontingenzbewältigung, Sozialintegration und Weltdistanzierung als zentrale religiöse Funktionen (Kaufmann 1989, 82 ff.). 37 Außerdem zeigt auch die philosophische Analyse religiöser Überzeugungen, dass diese nicht notwendig moralischer Natur sind, weshalb aus den Deutungen des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz nicht bestimmte moralische Prinzipien oder Pflichten deduziert werden können. »Nicht einmal sämtliche bewussten religiösen Überzeugungen sind in einem engeren Sinne moralischer Natur. Der Glaube, dass es Gott gibt, beeinflusst z. B. unmittelbar keine moralischen Urteile. Dies tut er nur indirekt, wenn er mit einer bestimmten Religion und deren Geboten und Glaubensartikeln verbunden ist« (Vossenkuhl 2006, 237). 36
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Ein weiterer Vorteil einer solchen weiten, funktionalen Auffassung von Religion besteht darin, dass in interkultureller Hinsicht nicht automatisch ein inhaltlich bestimmter Religionsbegriff auf andere Kulturen und Religionen übertragen wird. Damit wird der Kritik von Autoren wie Luhmann oder Derrida der Wind aus den Segeln genommen, die eine solche Begrenzung als grundsätzliches Problem des aktuellen Diskurses über Religion ansehen. »Der funktionalistische Religionsbegriff ist (…) nützlich, weil er es vermeidet, spezifische Inhalte von Religion festzulegen bzw. besonderen kulturellen Vorstellungen von Religion aufzusitzen. (…) [Er] legt nicht apriori Inhalte der Religion fest, sondern eruiert, was Menschen glauben, was sie für religiös halten und was in seinen Folgen und Funktionen dann als Religion zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird« (Hildebrandt/Brocker 2008, 26).
Natürlich kann eingewendet werden, dass gerade mit dieser funktionalen Perspektive ebenfalls ein typisch westliches, rein formales Verständnis von Religion universalisiert und interkulturell übertragen wird. Trotz dieses sicherlich berechtigten Einwands kann man allerdings festhalten, dass die interkulturellen Probleme mit einem solchen Religionsverständnis deutlich geringer als unter Anwendung eines substanzialistischen Ansatzes ausfallen und das Phänomen Religion angemessener erfasst werden kann. Ein weiter funktionaler Religionsbegriff impliziert allerdings drei Probleme, auf die es ebenfalls hinzuweisen gilt und die teilweise direkt mit den skizzierten Vorzügen (gewissermaßen als Kehrseite der Medaille) korrespondieren: Erstens besteht die Gefahr, dass mit einem weiten funktionalen Religionsverständnis sehr viele menschliche Erfahrungen, sprachliche Äußerungen oder Praktiken als religiös bezeichnet werden und damit der Religionsbegriff selbst unscharf wird. Denn in vielen Erfahrungen stößt der Mensch auf etwas, das über ihn hinausweist, worin sich das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz widerspiegelt. Sind deshalb alle Phänomene als religiös zu deuten, in denen in irgendeiner Form das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz zum Thema wird? Ist beispielsweise die unbedingte Forderung nach Wahrhaftigkeit im Diskurs bei Habermas schon ein Moment der Transzendenz und damit Ausdruck von Religion (vgl. Schmidt 2008)? Habermas selbst würde sich sicherlich – berechtigterweise – gegen eine solche Vereinnahmung wehren, denn nicht jede Form der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Immanenz und TranszenA
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denz ist automatisch eine Form der Religion, auch wenn im Grenzfall sicherlich Signaturen des Religiösen zum Ausdruck kommen können. »Die weite rein funktionale Religionsbestimmung macht so zugleich ihre Schwäche aus. Das Religionsverständnis wird derart entgrenzt, dass alles religiös erfassbar wird, ohne Rücksicht darauf, ob wirklich eine genuine religiöse Erfahrung vorliegt. Damit erweisen sich die funktionalen Religionsbestimmungen als anfällig für eine Beliebigkeit, die einer Religionsinflation Tür und Tor öffnet« (Hurth 2008, 18).
Um derartige Ungenauigkeiten zu vermeiden, ist es wichtig, religiöse von quasi-religiösen Phänomenen zu unterscheiden (vgl. Kap. 1.2.). In solchen quasi-religiösen Phänomenen kommt zwar eine den Menschen übersteigende Dimension zum Ausdruck, aber die Transzendenz, um welche die Religion kreist, muss verstanden werden als eine umfassende Transzendenz im Sinne des Unendlichen oder Absoluten. 38 Zwar spiegelt sich diese umfassende Transzendenz immer auch in der kontingenten Erfahrungswelt der Menschen wider. Dies bedeutet allerdings nicht im Umkehrschluss, dass alle Erfahrungen, in denen der Mensch die kontingente Welt überschreitet, als genuin religiös verstanden werden können. Im wechselseitigen Vertrauen, das jedem Gespräch zugrunde liegt, kann deshalb beispielsweise eine Signatur der umfassenden Transzendenz zum Ausdruck kommen (vgl. Schmidt 2008, 80 ff.); dies bedeutet allerdings nicht, dass jedes Gespräch schon eine Vergegenwärtigung dieser umfassenden Transzendenz und damit Religion ist. Auch wenn die Grenzen manchmal fließend und schwer eindeutig zu bestimmen sind, dürfen diese beiden unterschiedlichen Verständnisse von Transzendenz nicht gleichgesetzt werden, weil damit die Religionskonzeption selbst unscharf oder sogar missverständlich werden würde. 39 Eine zweite Gefahr des funktionalen Zugangs zur Religion kann mit dem bereits erwähnten Franz Rosenzweig und mit Bezug auf die religionskritischen Überlegungen von Barth formuliert werden (vgl.
Knoblauch unterscheidet in religionssoziologischer Hinsicht in diesem Zusammenhang große und kleine Transzendenzerfahrungen (vgl. Knoblauch 1991, 13 f.). 39 Als ein ergänzendes Kriterium kann hinzugezogen werden, ob die jeweiligen Personen oder Gruppen selbst diese sie übersteigende Dimension als umfassende Transzendenz interpretieren und sich als religiös bezeichnen. Auch wenn diese Selbstdeutung keinen objektiven Maßstab darstellt, so kann sie doch dazu dienen dienen, den weiten Religionsbegriff gegen nichtreligiöse gesellschaftliche Praktiken abzugrenzen. 38
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Kap. 4.3.2.). Mit einem funktionalen Verständnis sieht Rosenzweig nämlich die Gefahr verbunden, dass Religion zu einem abgegrenzten Teilsystem der Gesellschaft degradiert wird und damit gerade ihr umfassender Anspruch an den Menschen verloren geht. Rosenzweig wendet sich deshalb gegen eine »Auffassung von der Religion als einem Schubfach in der Kommode der Kultur« (Rosenzweig 1910–1918/ 1979, 966), weil die »Einschränkung des Offenbarungsglaubens auf eine ›religiöse Sphäre‹« die Religion ihres »messianischen und auf Erlösung zielenden Charakters« (Kohr 2008, 265) beraubt (vgl. Rosenzweig 1921/1976). Religion im Sinne Rosenzweigs ist zwar immer auch öffentliche Religion, aber keine die sich als funktionales Teilsystem an die gesellschaftlich vorherrschende Argumentationsweise anpasst, sondern diese ganz bewusst kritisch in Frage stellt, ja vielleicht sogar zu sprengen versucht (vgl. Kohr 2008, 280). Deswegen geht Rosenzweig sogar so weit, lieber ganz auf den Religionsbegriff zu verzichten, um den kritischen Charakter der Gottesrede vor gesellschaftlichen und anthropogenen Verkürzungen zu bewahren, die sich in einem funktionalen Religionsverständnis widerspiegeln. 40 Funktionale Bestimmungen von Religion, dies ist ein drittes Problem, laufen oftmals Gefahr, ein zu abstraktes Verständnis von Religion zu entwickeln, das philosophisch zwar gut begründet sein mag, das aber nicht mehr in der Lage ist, konkrete Formen von Religion in den Blick zu nehmen. Der funktionale Religionsbegriff, der sich gerade in interkultureller und interreligiöser Hinsicht aufgrund seines formalen Charakters als Vorteil erweist, erscheint aus dieser umgekehrten Sichtweise also wiederum als Begrenzung. Funktionale Religionstheorien stehen nämlich in der Gefahr, »es mit konkreten Religionen überhaupt nicht zu tun zu bekommen. Das von ihnen behauptete Religiöse ist dann ebenso universal wie sozial ungreifbar« (Pollack 2003, 9) und deshalb unscharf. Ist die Bestimmung von Religion als Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz also zu allgemein angesetzt und unterminiert damit die partikulare Gestalt von Religion? Diese Anfrage erscheint berechtigt, allerdings nur dann, wenn die konkreten kulturellen Gestaltformen von Religion als etwas Sekundäres interpretiert werden, das nicht mehr zu den Kernmerkmalen der ReliMan kann den Begriff ›Religion‹ »immer entbehren, wenn man einen ›angerufenen‹ Namen nennt«; weiter vergleicht Rosenzweig: »Wer seine Liebe beim Namen nennt, der braucht das Wort ›Geliebte‹ nicht mehr« (Rosenzweig 1910–1918/1979, 899).
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gion selbst gehört. Mit Schleiermacher und Dewey kann jedoch argumentiert werden, dass es Religion niemals in einer solchen Rein- oder Urform gibt, sondern immer nur als partikulare, kulturell ausdifferenzierte Gestalt, worauf bereits Troeltsch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachdrücklich hinweist (vgl. Kap. 2.1.1.). ›Religion an sich‹ hatte nie »irgendeine historische Wirkmächtigkeit besessen, sondern nur eine Vielzahl sehr unterschiedlich strukturierter Sozialphänomene, die wir selbst uns mit dem schillernden Begriff ›Religion‹ zu klassifizieren angewöhnt haben« (Kaufmann 1989, 65). Religion und Kultur stehen deshalb schon immer in einem engen Wechselverhältnis, worauf Religionssoziologen (vgl. Geertz, Luckmann), Theologen (vgl. Graf, Höhn) oder Philosophen (vgl. Schleiermacher, Dewey) gleichermaßen aufmerksam machen. Erst ein Verständnis von Religion als soziale Praxis, das deren kulturelle Verankerung und Ausdifferenzierung beachtet, wird deshalb auch im aktuellen Diskurs überzeugen können. Deshalb wird das Verhältnis von Religion und Kultur noch einmal eigens zu thematisieren sein, und zwar als ein Kernelement einer zeitgenössischen Rede über Religion (vgl. Kap. 4.5.). Davor soll allerdings die moralische Funktion der Religion noch einmal genauer untersucht werden, weil diese im aktuellen Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Durch diese Analyse der moralischen Funktion von Religion können außerdem wichtige Rückschlüsse auf ein überzeugendes Selbstverständnis der politischen Philosophie insgesamt gezogen werden.
4.4.2. Moralische Funktion von Religion Auch wenn Religion nicht auf ihre moralische Funktion reduziert werden darf, so spielt sie natürlich innerhalb der politischen Philosophie doch eine wichtige Rolle – darauf machen im Grunde alle diskutierten Autoren gleichermaßen aufmerksam. Das Plädoyer für eine Beachtung der vielfältigen Funktionen von Religion bedeutet deshalb nicht, ihre moralische Dimension zu missachten. Wenn Religion als soziale Praxis verstanden wird, dann ist darin auch immer impliziert, dass sie den religiösen Menschen bestimmte normative Orientierungen bereitstellt (vgl. Habermas 2005; Derrida 2001a; Vattimo 2004a). Religionen beinhalten für Gläubige insbesondere eine ethische Sinnstiftungsfunktion, indem sie Vorstellungen von einem guten Leben und einer gerechten Gestaltung der Gesellschaft transportieren. Dabei motivieren 368
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sie die Anhänger der jeweiligen Gemeinschaft in besonderer Weise, nicht zuletzt weil die entsprechenden Werte mit Verweis auf eine umfassende Wirklichkeitsdeutung bzw. ein Absolutes begründet werden (vgl. Müller/Reder 2009, 95). An genau dieser Funktion ist Habermas interessiert, wenn er von der postsäkularen Gesellschaft und dem Potenzial religiöser Semantik für aktuelle gesellschaftliche Diskurse spricht (vgl. Habermas 2001). Die religiöse Überzeugung, dass die Welt von Gott erschaffen wurde und deshalb schützenswert ist, führt beispielsweise gläubige Menschen dazu, sich verstärkt für die Bewahrung der Schöpfung im Sinne einer nachhaltigen Umweltpolitik und einer solidarischen Bekämpfung von Armut einzusetzen. Das politische Engagement vieler Religionen in den vergangenen Jahren ist ein eindrückliches und positives Beispiel hierfür (vgl. Reder 2008a; Gardner 2006). Vor diesem Hintergrund sind zwei Fragen für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse: Erstens ist zu fragen, mit welchem Verständnis von politischer Philosophie diese moralische Funktion von Religion angemessen erklärt werden kann und welche Rückwirkung diese Erklärung wiederum auf das Verständnis von politischer Philosophie selbst hat (a). Zweitens gilt es, die Spannung zwischen einheitlicher Moral der Religion und ihrer kultureller Prägungen eigens zu reflektieren (b). Ad (a): Moralische Aspekte der Religion spielen insbesondere vor dem Hintergrund einer politischen Philosophie eine wichtige Rolle, in der – Hegels Semantik aufgreifend – Moralität und Sittlichkeit nicht eindeutig voneinander getrennt, sondern beide als aufeinander verwiesen interpretiert werden (vgl. Kap. 2.3.3.). Darin zeigt sich eine Auffasung von politischer Philosophie, die in der Einleitung dieser Arbeit mit Blick auf die Tradition der hegelschen Rechtsphilosophie skizziert wurde (vgl. Honneth 2008) und womit sittliche Praktiken einer Gesellschaft als Basis der politischen Philosophie interpretiert werden (vgl. Reder 2010a). Nur mit Rekurs auf die Sittlichkeit als zentrales Element normativer Diskurse und Begründungen ist überhaupt erst ein überzeugendes Verständnis politischer Philosophie in pluralen Kontexten möglich. »Sie [die Ethik bzw. politische Philosophie] kann ihre Urteile nur rechtfertigen, wenn sie auf geltende Grundnormen zurückgreifen kann. Normen dieser Art sind z. B. das Tötungsverbot und die Menschenwürde. Sie lassen sich als sittliche Tatsachen begreifen, die anerkannt sind und nicht weiter begründet oder gerechtfertigt werden können. Solche Tatsachen liegen ethischen A
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Rechtfertigungen zugrunde und sind durch nichts anderes zu ersetzen« (Vossenkuhl 2006, 33). 41
Dabei können unter dem Begriff ›Sitte‹ all diejenigen gesellschaftlichen Vorstellungen und Werte verstanden werden, »welche das Bewusstsein, die Gefühle und das Verhalten der Menschen positiv oder negativ bestimmen und ihnen im Alltag Orientierung geben« (Vossenkuhl 2006, 36). Religion ist ein wichtiger Faktor im Feld der Sittlichkeit, denn »alle sittlichen Ordnungen haben oder hatten religiöse Wurzeln« (Vossenkuhl 2006, 37) und sind damit auch in ihren säkularisierten Varianten auf Religion bezogen. Sittliche Orientierungen haben außerdem oftmals eine hohe motivierende Wirkung im gesellschaftlichen Alltag, denn »das Moralgesetz allein ist (…) bei Licht betrachtet ebenso wenig ein Antrieb wie die Vernunft« (Vossenkuhl 2005, 179), weshalb sittlichen Vorstellungen bei der Realisierung eines gelungenen Lebens und einer gerechten Gesellschaftsordnung eine wichtige Bedeutung zukommt. 42 Religionen können genau deshalb Teil dieser sittlichen Funktion innerhalb von Gesellschaften sein, weil sie ein grundlegender Bestandteil der Geschichte sowie der aktuellen Gestalt der Sittlichkeit und der daraus erwachsenen sozialen Praktiken sind, wie beispielsweise Walzer im Rahmen seiner kommunitaristischen Interpretation der Religion herausarbeitet (vgl. Kap. 3.3.). 43 Nida-Rümelin formuliert diese Einsicht als die Notwendigkeit, dass sich ethische Theoriebildung nicht zu sehr von der Lebenswirklichkeit der Menschen und ihrer Lebenswelten entfernen darf: »Die ethische Theorie kann sich von der lebensweltlichen Erfahrung, von der Sinnstiftung unseres jeweiligen Lebens, von der Praxis der alltäglichen Interaktion nicht allzu weit entfernen, wenn sie ernst genommen werden will« (Nida-Rümelin 2009, 221). 42 Sicherlich verändern sich Sitten und damit auch die Vorstellungen vom Guten und dem gelungenen Leben im Laufe der Zeit, weshalb »das Gute einen unbeständigen und vagen Charakter« hat, was »einerseits am Guten selbst, andererseits aber an der Art und dem Umfang dessen, worauf sich das Gute als Maßstab bezieht« (Vossenkuhl 2006, 247), liegt. Dies spricht aber nicht grundsätzlich gegen eine Beachtung der Vorstellungen vom Guten, die in der Sphäre der Sittlichkeit integriert sind, sondern lediglich für eine je neue Rekonstruktion und kritische Diskussion dieser sittlichen Vorstellungen (vgl. Honneth 2008). 43 Die gegenwärtigen Konzeptionen der Menschenwürde oder sozialen Gerechtigkeit sind in Europa beispielsweise durch die christliche Religion entscheidend beeinflusst worden (vgl. exemplarisch Graf 2004), weshalb es historisch betrachtet unplausibel ist, eine eindeutige Trennung von säkularer Moral und religiöser Ethik vorzunehmen; vgl. zudem exemplarisch die Studie von Charles Andrain (2008), der aufzeigt, inwiefern bis heute religiöse Ideen das aktuelle Verständnis von sozialer Gerechtigkeit auf der Mikro41
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Mit Blick auf Habermas zeigt sich in diesem Zusammenhang nun noch einmal deutlich, dass eine scharfe Trennung zwischen Moral und Ethik als Grundlage der Reflexion der gesellschaftlichen Funktion von Religion nicht überzeugen kann (vgl. Kap. 3.1.3.4.). Rainer Forst betont in seinen Studien zur Toleranz (vgl. Forst 2003; ders. 2000) in dieser Argumentationslinie die intersubjektive Dimension des Sittlichen, womit er die habermassche Unterscheidung von Moral und Ethik relativiert. Werte als Kern sittlicher Vorstellungen sind deshalb nicht einfach nur privat oder rein subjektiv, sondern sie übernehmen innerhalb sozialer Praktiken eine moralische Funktion, insofern sie eine Orientierung für die Gestaltung der Gemeinschaft und deren Normen bieten. »Sie [Werte] können vielmehr – man denke an religiöse Überzeugungen – Gemeinschaften verbinden und Kulturen übergreifen, und sie beschränken sich keinesfalls nur darauf, Antworten auf ›existenzielle‹ Fragen zu liefern. Sie bilden häufig ganze Weltanschauungen, die nicht nur das subjektive und das intersubjektive Leben betreffen, sondern auch ›höchste‹ Werte umfassen, welche sich auf die gesellschaftliche Ordnung insgesamt und letzte Fragen beziehen« (Forst 2003, 602).
Religionen implizieren Werte verstanden als sittliche Idealvorstellungen des Guten, die als Teil einer umfassenden sozialen Praxis nicht nur Orientierung für das Individuum, sondern auch Bezugspunkt für die Gestaltung von Gemeinschaften sind. Die Überlegungen von Derrida, Walzer oder Vattimo zum Messianismus, zur Freundschaft und Liebe machen dies deutlich (vgl. Derrida 1996b; Vattimo 2004a; Walzer 1988): Religiös begründete Werte sind ideale Vorstellungen von einer friedvollen Welt, in der ein gastfreundliches und liebendes Miteinander anvisiert wird. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich also ein Moment der Transzendenz, weil religiös begründete Werte als Ideale konzeptualisiert werden, die im gesellschaftlichen Leben im Sinne einer unendlichen Annäherung umgesetzt werden (vgl. Dewey 1934/2004). Dieses Oszillieren der Religion als einer sozialen Praxis zwischen gesellschaftlicher Realität und idealen Werten ist das Spezifikum der Religion im Bereich des Normativen. 44 Ebene individueller Verhaltenseinstellungen und der Makro-Ebene politischer Rahmenbedingungen prägen. 44 Mit Blick auf die Kritik an Derrida kann allerdings betont werden, dass es der Religion immer auch um eine konkrete bessere Welt geht, in der es kein Leiden, keine DisA
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Entsprechend einer Zurückweisung der strikten habermasschen Trennung von Moral und Ethik betrifft die moralische Dimension der Religionen gleichermaßen das Individuum wie die Gesellschaft als Ganzes. Individual- und Institutionenethik sind mit Blick auf die Religion deshalb nicht voneinander zu trennen, weil ihre moralischen Vorstellungen sowohl auf das Individuum als auch auf die gesellschaftlichen Institutionen zielen. Rortys ausschließliche Verankerung der Religion im Privaten und seine Fundamentalkritik an jeder Institutionalisierung der Religion können deshalb als wenig überzeugend zurückgewiesen werden. Religionen stellen nämlich einerseits ethische Reflexionen zur Ausgestaltung von Strukturen und Institutionen an und beinhalten andererseits Vorschläge zur Ausbuchstabierung des individuellen Lebensstiles für ihre Anhänger bzw. Mitglieder. Erst in der Umsetzung der moralischen Grundhaltung in beiden Feldern zeigt sich die moralische Funktion der Religion als Ganzes. Die ethischen Fragen nach der Tugend und der Gestaltung öffentlicher Institutionen – d. h. die Frage nach dem Guten und nach dem Gerechten – dürfen deshalb mit Blick auf die Religion nicht voneinander getrennt oder gegeneinander ausgespielt werden – dies kann die Philosophie bei ihrem Nachdenken über das Verhältnis von Gerechtigkeit und dem guten Leben von der Religion lernen. Ad (b): Auch hinsichtlich der moralischen Funktion zeigt sich die im vorangegangenen Teilkapitel ausgewiesene Spannung zwischen der allgemein-religiösen Funktionalität und ihrer Umsetzung in konkreten kulturellen Kontexten (vgl. Kap. 4.4.1.). Denn Religionen sehen sich in allen Regionen der Welt mit der Herausforderung konfrontiert, ihre universal ausgerichtete Moral in partikularen Kulturen umzusetzen. 45 kriminierung und keine Gewalt mehr gibt. Religionen rechnen damit, dass ihre normativen Forderungen nicht nur eine unendliche Annäherung an absolute Werte sind, sondern in einer politischen Hinsicht zur konkreten Verbesserung der Lebensumstände der Menschen beitragen können (vgl. Kap. 3.5.3.1.). 45 Wenn man empirisch auf verschiedene Religionsgemeinschaften blickt, zeigt sich wiederum, dass Religionen unterschiedlich mit dieser Spannung umgehen. In der Tradition Schleiermachers wird in der protestantischen Religionsgemeinschaft die Anerkennung der Pluralität sehr stark betont. »Die Freiheit zum eigenen Standpunkt ist ein Kennzeichen des Protestantismus. Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit hat die protestantische Tradition nur selten verlangt« (Anselm 2003, 197). Demgegenüber wird in der katholischen Argumentationslinie bei allen Formen der Inkulturation stärker die Einheit der religiös begründeten Moral hervorgehoben. Wiederum andere Deutungen der Spannung finden sich in der islamischen Tradition, beispielsweise auf Java. Die Zü-
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Zur Erklärung dieser Spannung ist wiederum ein Blick auf die philosophiegeschichtlichen Überlegungen hilfreich. Aus einer Anerkennung der Grenzen des Wissens über das Absolute lässt sich auch hinsichtlich des Geltungsanspruchs religiöser Werte im Sinne einer docta ignorantia eine moralische Grundhaltung begründen, welche diese unhintergehbare Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus akzeptiert und Toleranz gegenüber kulturell unterschiedlichen Ausbuchstabierungen der universalen Werte einer Religion betont. Allerdings kann genau diese Spannung von Religionen auch missachtet werden, wenn religiöse Überzeugungen verabsolutiert werden. Darin zeigt sich die unhintergehbare Ambivalenz der Religionen, die insbesondere im idealen Charakter religiöser Werte und deren Rekurs auf ein Absolutes begründet ist. Negativ kann sich eine Religion immer dann gesellschaftlich auswirken, wenn Menschen diese idealen Werte absolut setzen und damit ihre Religion (teils fanatisch) betonen und andere Religionen bzw. Weltanschauungen nicht tolerieren (vgl. Müller 2007). Religionen schädigen dann »den moralischen Sinn und die Fähigkeit der Menschen, zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹ zu unterscheiden, wenn sie ihre Gläubigen zum Hass auf Andersgläubige aufrufen« (Vossenkuhl 2006, 37). Das hohe Motivationspotenzial, das in dem Verweis auf das Transzendente begründet ist, kann diese negative Wirkung noch verstärken. Nicht zuletzt deswegen will Rorty Religion auf das Private beschränken, weil er vermutet, dass sie fast immer in eine solche Verabsolutierung ihrer eigenen Moral umschlagen (vgl. Rorty 1994b). Stout kritisiert allerdings zu Recht die problematische Annahme Rortys, dass Religionen per se zu einer solchen Absolutsetzung neigen (vgl. Stout 2008; Kap. 3.2.3.3.). Religionen können sich nämlich genau dieser Ambivalenz bewusst sein. Wenn sie anerkennen, dass auch ihre Rede über gelung der Emotionen und die Suche nach der Ordnung von Gesellschaft sind die Kernelemente der religiös begründeten Moral des drtigen Islam. Die darin implizierte Toleranz betont einerseits die Würde des Einzelnen und ermöglicht andererseits eine wechselseitige Anerkennung der kulturell-religiösen Differenzen. Daraus ergibt sich zwar kein strikter Relativismus, aber sehr wohl die Ablehnung einer gesinnungsethischen Ausrichtung, wie er dem Islam oftmals unterstellt wird. Franz Magnis-Suseno spricht daher im Zusammenhang mit dem javanischen Islam von einem ›kontextuellen Relativismus‹ (vgl. Magnis-Suseno 1981). Diese moralische Grundhaltung zeigt sich in vielen kulturellen Symbolen Javas; ein besonders anschauliches Beispiel hierfür sind die Wayang genannt, javanischen Schattenspiele (vgl. Anderson 1965). A
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religiöse Werte – analog zur Rede über Gott – epistemologisch begrenzt und deshalb als eine Form der Annäherung zu deuten ist, dann können Religionen die Gefahr eines religiösen Fanatismus umgehen und einen wichtigen Beitrag für moderne Gesellschaften in moralischer Hinsicht leisten – hier ist Habermas wiederum vollkommen zuzustimmen. Die vorangegangenen Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Religionen haben eine nicht zu vernachlässigende moralische Funktion für heutige Gesellschaften, auf welche sie allerdings nicht reduziert werden dürfen – vor allem auch um einer Instrumentalisierung vorzubeugen. Wichtige Facetten, die Religionen in moralische Diskurse einbringen können, sind unter anderem normative Impulse in kontroversen Streitthemen (beispielsweise der Bioethik), Anregungen zur Weiterentwicklung des Verständnisses von Gemeinwohl und Gerechtigkeit (beispielsweise hinsichtlich der Ausgestaltung gerechter weltpolitischer Institutionen) oder die Stärkung von Solidarität im Sinne einer Stärkung des Sozialkapitals (vgl. Casanova 2004). 46 Das zentrale Kriterium dieser moralischen Funktion der Religion ist aus Sicht des Pragmatisten Dewey ihre Lebensdienlichkeit (vgl. Dewey 1934/2004). Dem Leben dienlich sind Religionen genau dann, wenn sie dem Menschen eine Integration grundlegender Erfahrungen in seinen Lebensentwurf und damit ein menschenwürdiges Leben auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene ermöglichen. Gleichzeitig darf Religion aber nicht auf diese moralische Funktion reduziert werden, dies zeigen die Diskussionen der Ansätze eindrücklich. Religion ist vielmehr eine umfassende soziale Praxis, die vielfältige kulturelle Funktionen ausübt. Dies ergibt sich gerade auch vor dem Hintergrund des Religionsverständnisses von Dewey, weil die Erfahrung der Selbsttranszendenz immer mehr ist als eine Werteressource für gesellschaftliche Probleme. Religion kann und darf nicht auf »eine Wertagentur (…) reduziert werden. Vielmehr ist eine konstrukWeil Religionen vielfältige soziale Beziehungen und Kooperation aufweisen, sind sie mit die wichtigsten Träger und Förderer von Sozialkapital (vgl. Wallacher 2001). Innerhalb der Religionsgemeinschaften bilden sich soziale Netzwerke, die einen wechselseitigen Kontakt und Austausch zwischen den verschiedenen lokalen religiösen Gemeinschaften ermöglichen und für den Einzelnen Zugang zu Anerkennung, Kontakten und Wissen sowie zu solidarischen Hilfeleistungen bieten (vgl. Müller 2002). Damit können sie ihre moralischen Vorstellungen effektiv transportieren und basisnah realisieren (vgl. Edenhofer et al. 2010, 91 f.).
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tive gesellschaftliche und politische Wirkung der Religion gerade von den ihr eigenen Erfahrungen der Selbsttranszendenz zu erwarten, und diese sind gerade nicht kollektivistisch im Dienst der Politik oder von gesellschaftlichen Interessen zu verstehen« (Fischer 2009, 231). Darin spiegelt sich wiederum die Grenze einer Konzeption von Religion, die Glauben und Wissen zu stark aneinander annähert und damit – im Sinne von Rosenzweig oder Barth – die provokativen Eigenheiten der Religion ausblendet. Religionen dürfen deshalb nicht als ein instrumentalisierbares Wertereservoir verstanden werden.
4.5. Das Verhältnis von Religion und Kultur 4.5.1. Kultur und Interkulturalität als wissenschaftliche Paradigmen Nach dem linguistic turn vollziehen viele Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1970er-Jahren einen cultural turn, der auf die kulturphilosophischen Arbeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bezug nimmt. Autoren wie Georg Simmel (1911/1983), Ernst Cassirer (1923– 1929/1953–1987) oder Norbert Elias (1939/2005) sind Referenzpunkte hierfür. Die aktuelle Hinwendung zu Fragen der Kultur ist vor dem Hintergrund der Kritik an der Moderne zu sehen, mit der eine einheitliche Rationalität hinterfragt und erkenntnis- wie wahrheitstheoretisch Pluralität betont wird (vgl. Kap. 3.7.1.). Kultur wird zu einem Analyseraster, mit dem Pluralität gesellschaftstheoretisch analysiert und erklärt werden soll. Außerdem soll durch den cultural turn eine ethnozentrische Verengung vermieden werden: Weil jede Kultur ihre eigene Struktur hat, der ein Eigenwert beigemessen wird, ist die Vielfalt der Kulturen als solche anzuerkennen, so die implizite These des cultural turn. Bevor im Folgenden das Verhältnis von Religion und Kultur und dessen Bedeutung für den aktuellen Diskurs analysiert wird, ist zuerst zu klären, was unter Kultur bzw. Interkulturalität überhaupt verstanden werden kann. Ausgangspunkt des aktuellen Diskurses über Kultur sind kulturphilosophische Studien der vergangenen 250 Jahre, in denen Autoren wie Giovanni Vico, Johann Gottfried Herder oder JeanJacques Rousseau (vgl. exemplarisch Rousseau 1750–1755/1955) den Begriff von Kultur sukzessive erweitert haben. Kultur bezeichnet heute deshalb nicht mehr nur eine exklusive geistig-künstlerische A
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Deutung der Welt, sie ist »nicht eine geheimnisvolle und erhabene Substanz in den Köpfen der Menschen, in die man sich mühsam einfühlen muss, sondern öffentliches Ereignis. Sie umfasst sowohl immaterielle (ideelle) Elemente, wie Religion, Werte oder Einstellungen, als auch technisch-materielle Elemente, wie Kunst, Handwerk oder Werkzeuge, die Produkte organisierter menschlicher Tätigkeit sind« (Müller 1997, 130). Nicht zuletzt durch die cultural studies angelsächsischer Prägung werden unter Kultur heute nicht nur exklusive Kunstprodukte verstanden, sondern genauso TV-Serien, Sportberichterstattungen oder Liedtexte (vgl. Bromley et al. 1999). 47 Die Diskursanalyse von Foucault ist dabei oftmals der theoretische Referenzrahmen, weil damit die sozialphilosophische Konstruktion kultureller Produkte differenziert analysiert und erklärt werden kann (vgl. Bratich et al. 2003). Ein solches weites Verständnis von Kultur ist durch zwei Merkmale besonders gekennzeichnet: Erstens impliziert es im Sinne Walzers oder Cassirer die Annahme, dass menschliches Handeln immer durch kulturelle Kontexte geprägt ist. »Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr bloß in einem natürlichen Universum. Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien« (Cassirer 1944/1960, 39).
Zweitens zielt der weite Kulturbegriff meist in einem normativen Sinn auf eine »Humanisierung der Welt« (Konersmann 2003, 15), d. h., die Beschäftigung mit Kultur ist immer auch eine Kritik an bestehenden negativen Aspekten von Kultur und damit Kulturkritik. Mit Simmel zielt das Nachdenken über Kultur deshalb auf ihre Humanisierung (vgl. Simmel 1911/1983). Die Kulturkritik, welche sich die kritische Theorie Adornos angesichts der massiven Leiderfahrungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts in einem emanzipatorischen Interesse zum Ziel gesetzt hat, ist ein eindrückliches Beispiel hierfür (vgl. Adorno 1975). Kultur kann also in einem weiten – an Herder angelehnten – Sinn als kritischer Horizont für alle gesellschaftlichen Handlungen und ProVgl. Raymond Williams, der als einer der Begründer der Kulturwissenschaften gilt. Dieser plädiert bereits in den 1950er-Jahren für einen weiten Kulturbegriff und konzeptualisiert in dieser Hinsicht Kultur – zu der zum Beispiel auch Populärkultur gezählt wird – als eine umfassende Lebensweise (vgl. Williams 1958).
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zesse interpretiert werden. Dieser Horizont ist keine klar strukturierte Einheit, denn Kultur ist eine heterogene Verschmelzung unterschiedlicher kultureller Faktoren (vgl. Reder 2010b). Am Beispiel Europas kann dies leicht einsichtig gemacht werden, denn das, was europäische Kultur ausmacht, ist eine Verschmelzung kultureller Traditionen, in deren Entwicklung sich erst der europäische Kulturhorizont herausgebildet hat. Gleichzeitig sind auch die einzelnen kulturellen Einflüsse (beispielsweise die deutsche Kultur als Teil des europäischen Zivilisationsprozesses) äußerst heterogen, denn die einzelnen Kulturen sind ihrerseits geprägt durch vielfältige regionale oder lokale Kulturen. Dies gilt nicht nur für Europa, sondern für alle Kulturen weltweit, denn auch der ostasiatische Kulturkreis ist beispielsweise ein komplexes Gebilde, das durch viele nationale, regionale und lokale Faktoren geprägt ist. Mit diesem (an Vattimo orientierten) hermeneutischen Verständnis wird ein Kulturessenzialismus zurückgewiesen, der Kulturen als Entitäten mit einem festen Wesenskern deutet (vgl. Vattimo 2004b). 48 Außerdem folgt aus diesem Verständnis, dass Kulturen nichts Statisches sind, sondern dass sie sich dynamisch entwickeln; Kultur wird »gleichsam von Augenblick zu Augenblick gemacht« (Konersmann 2003, 9), weshalb sich das, was eine Kultur kennzeichnet, ständig verändert. Gerade in Zeiten der Globalisierung, in denen Gesellschaften viel stärker miteinander in Kontakt treten als in früheren Zeiten, und in denen die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten der Kulturen für breite Bevölkerungsschichten konkret erfahrbar werden (zum Beispiel durch Vgl. beispielsweise die Konzeptualisierung der Welt in einige wenige große Kulturblöcke bei Huntington (1997). Dieser betont mit einer theoretisch vereinfachenden Konzeption des clash of civilisations, dass weltweit Kulturkreise gegeneinanderstünden und deren Aufeinandertreffen notwendig zu einem Konflikt führen werde. Im Gegensatz dazu zeigt Amartya Sen (2007) auf, dass Huntingtons Ansatz überzogene Annahmen von statischen Identitäten impliziert, wobei es für diese essenzialistische Deutung weder theoretisch noch empirisch überzeugende Hinweise gibt (vgl. außerdem Müller 2001). Robert N. Bellah argumentiert in eine ähnliche Richtung, dass der Kontakt kulturell-religiöser Weltdeutungen nicht notwendig zum Konflikt führen müsse, sondern vielmehr zu einem friedvolleren Zusammenleben beitragen könne. »I believe the modern religious situation is one in which we can be open to all the great traditions, including the tribal traditions, without falling into eclecticism or relativism. The better we understand other traditions, the better we understand our own. The better we understand other traditions, the better we see that we are engaged in a common struggle to create a more human world« (Bellah 2001, 103).
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Migration, Internet oder Tourismus), rückt neben der Thematisierung von Kultur vor allem die Interkulturalität ins Zentrum des philosophischen Interesses. Interkulturalität bedeutet vor dem skizzierten Kulturverständnis weder, dass zwei Kulturen sich als ›reine‹ Kulturen begegnen, noch dass auf einer abstrakten Ebene Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen eindeutig bestimmt werden können. Interkulturalität ist ein prozesshaftes Geschehen, in dem verschiedene Kulturen, die selbst heterogene Gebilde sind, miteinander dynamisch interagieren. Die Ebene der Interaktion ist dabei die der einzelnen Vergesellschaftungsformen, d. h., innerhalb eines politischen, wirtschaftlichen usw. Handlungsfeldes werden die unterschiedlichen kulturellen Horizonte erfahrbar. Interkulturelle Prozesse laufen also niemals abstrakt ab, sondern sind auf gesellschaftliche Handlungsfelder bezogen (vgl. Reder 2009b, 33 ff.). Die interkulturelle Philosophie, die sich besonders in den vergangenen zwei Jahrzehnten als philosophischer Forschungszweig etabliert hat, will zu einer Klärung der so verstandenen Interkulturalität beitragen (vgl. Mall/Lohmar 1993; Fornet-Betancourt 1998; Mall 2003; Wimmer 2003; ders. 2004; Stenger 2006). Dabei werden kulturelle Traditionen nicht einfach nebeneinandergestellt, sondern es geht entsprechend dem Grundduktus philosophischen Fragens um die Bedingungen der Möglichkeit von kulturellen Interaktionen und die Konsequenzen für ein interkulturelles Verstehen. Die Themen der interkulturellen Philosophie decken deshalb die gesamte Bandbreite des Philosophierens ab. Ein interkulturelles Verständnis von Wahrheit oder Erkenntnis (vgl. Kimmerle 1993) spielt ebenso eine Rolle wie Kunst oder Ethik in interkulturellen Prozessen (vgl. Hernández 2008). Ein zentrales Thema, das für die Frage nach der Religion, insbesondere für das Verhältnis von Glauben und Wissen, wichtig ist, ist das Nachdenken über Rationalität im interkulturellen Erfahrungskontext einer globalisierten Welt (vgl. Riedenauer 2007, 437–461). Das Ziel ist in diesem Zusammenhang vor allem, ein rein westliches Vernunftverständnis aufzubrechen, um kulturelle Pluralität als Strukturmerkmal von Vernunft in den Blick nehmen zu können. Ram Adhar Mall spricht deshalb von einer ›überlappenden Vernunft‹, in der sich verschiedene Rationalitäten kreuzen oder ineinander verweben (vgl. Mall 2003, 92 f.). 49 Eine so verstandene überlappende Vernunft »ereignet sich in der Gestalt von Vermischungen, Kreuzungen, Verwebungen, Teilungen und dem ständigen Austausch«
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In ethischer Sicht verfolgt die interkulturelle Philosophie meist ein emanzipatorisches Interesse, das sich aus der skizzierten humanistischen Tradition der Kulturphilosophie speist. Gerade angesichts des Scheiterns interkultureller Kommunikation in Zeiten des internationalen Terrorismus und vermeintlich gerechter Kriege (vgl. Habermas/ Derrida 2004) ist eine solche Kultivierung interkultureller Interaktionen mehr denn je gefordert, so die implizite These der interkulturellen Philosophie (vgl. Fornet-Betancourt 1998). 50 In paradigmatischer Weise drückt sich dieses Verständnis in der Zielsetzung des Polylogs, eines Zusammenschlusses interkultureller Philosophen, aus. »Wir verstehen interkulturelles Philosophieren als die Bemühung, die vielen philosophierenden Stimmen im Kontext ihrer jeweiligen Kulturen vernehmbar und in einer gemeinsamen und gleichberechtigten Auseinandersetzung füreinander fruchtbar zu machen. Im interkulturellen Philosophieren sehen wir also vor allem eine neue Orientierung und Praxis des Philosophierens, eines Philosophierens, das eine Haltung der gegenseitigen Achtung, des Zuhörens und Lernens erfordert« (Polylog 2010).
Dabei mahnen Autoren der interkulturellen Philosophie oft eine erkenntnistheoretische Selbstbegrenzung als Bedingung für einen interkulturellen Dialog an (vgl. Wimmer 2003). Weil die Analyse der vielfältigen Kulturen zeigt, dass diese jeweils unterschiedliche Blickwinkel auf Wirklichkeit implizieren, ist Vorsicht geboten hinsichtlich der Verabsolutierung eines erkenntnistheoretischen Standpunktes. Einige Autoren schließen in diesem Zusammenhang an die Gedankenfigur der docta ignorantia des Nikolaus von Kues an. (Mall 2003, 92). Mit einem solchen Vernunftverständnis will sich Mall von der liberalen und deliberativen Tradition politischer Philosophie absetzen. »Im Gegensatz zu den Konsenstheoretikern, gemeint sind Apel und Habermas, vor allem zu den Kontextualisten Rorty und MacIntyre und zu den Kontraktualisten wie Rawls nimmt die Überlappungstheorie den weltanschaulichen Pluralismus und den vernünftigerweise zu erwartenden Dissens ernst und befürwortet eine interkulturelle Verständigung im Geiste reziproker Einwilligung« (Mall 2003, 138). 50 Interkulturelle Philosophie fokussiert auf Kultur, vor allem weil diese in Zeiten der Globalisierung im Sinne eines emanzipatorischen Interesses ein wichtiger Faktor in Prozessen der Humanisierung ist. »Der Rückgriff auf die kulturelle Diversität setzt auf die Kulturen, weil diese (…) ›Reserven an Humanität‹ horten, die aktiviert werden können, um der defizitären Situation unserer Gegenwart abzuhelfen« (Fornet-Betancourt 1998, 151). Dieser Rückgriff auf Kultur als Ressource von Humanität erinnert – inhaltlich wie semantisch – an den Verweis von Habermas auf die humanitätsverbürgenden Potenziale der Religion angesichts einer entgleisenden Moderne (vgl. Kap. 3.1.2.). A
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»Zum Wesen der interkulturellen Philosophie gehört das Kultivieren der Einsicht in die erkenntnistheoretische, methodische, metaphysische, ethischpolitische und religiöse Bescheidenheit des je eigenen Zugangs zum regulativen Einen mit vielen Namen« (Mall 2003, 42).
Diese erkenntnistheoretische Vorsicht drückt sich auch darin aus, dass multikulturelle Erklärungen betont werden, die sich auf mehrere kulturelle Traditionen der Philosophie stützen. Interkulturelle Philosophie ist deshalb skeptisch gegenüber den philosophischen Thesen, an deren Entstehung nur eine Kultur beteiligt ist und die diese zum alleinigen Bewertungsmaßstab erhebt. »Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren. Positiv formuliert lautet sie: Suche wo immer möglich nach transkulturellen ›Überlappungen‹ von philosophischen Begriffen, da es wahrscheinlich ist, dass gut begründete Thesen in mehr als nur einer kulturellen Tradition entwickelt worden sind« (vgl. Wimmer 1998, 9).
Interkulturelle Philosophie will kulturelle Differenzen anerkennen und gleichzeitig nach Überschneidungen suchen. Ganz im Sinne Herders oder Vattimos geht es ihr um ein hermeneutisches Verstehen anderer Kulturen und die Anregung eines wechselseitigen Übersetzungsprozesses. Ein Kulturrelativist, der sich gegenüber anderen Kulturen abschottet, macht aus der Sicht der interkulturellen Philosophie dagegen den gleichen Fehler wie der Globalist, der die Einheit einer Weltkultur betont: In dem einen Fall wird die Einheit der Kulturen absolut gesetzt, in dem anderen die Welt als Ganzes. In beiden Fällen wird allerdings Vielfalt nur als sekundäres Anhängsel gedeutet (vgl. Kap. 3.7.1.). Sowohl kulturphilosophische Überlegungen als auch Impulse aus der interkulturellen Philosophie spielen in den aktuellen Debatten der politischen Philosophie – mit Ausnahme der kommunitaristischen und hermeneutischen Tradition – nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Autoren wie Rawls, Habermas oder Höffe sind mehr an einer gerechten Strukturierung des Politischen interessiert als daran, die vielfältigen kulturellen Einflussfaktoren zu beachten. 51 Um die kulturelle PerEine Ausnahme bildet der Diskurs über die Geltung der Menschenrechte, in dem Kultur eine Rolle spielt (vgl. Brieskorn 1997): Menschenrechte fungieren einerseits in politischer, juristischer und moralischer Hinsicht als globale Vereinheitlichung, weil sie als Basis eines moralischen Universalismus interpretiert werden, der kulturübergrei-
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spektive innerhalb der politischen Philosophie zu stärken, ist deshalb die Integration von kommunitaristischen und hermeneutischen Überlegungen, wie sie Walzer oder Vattimo vorlegen, wichtig und sinnvoll. Damit kann nicht nur gesellschaftliche Pluralität stärker in den Blick genommen werden, sondern auch Religionen, die in engen Wechselverhältnissen zu kulturellen Entwicklungsprozessen stehen.
4.5.2. Konsequenzen des cultural turn für die Frage nach der Religion Kulturen können als Verschmelzungen unterschiedlicher Einflüsse gedeutet werden, weshalb sie ein komplexes und dynamisches Interaktionsgeflecht bilden. Religion ist ein Faktor kultureller Prozesse, der in vielen Regionen der Welt eine wichtige Rolle spielt. Religionen sind dabei eigenständige Bereiche menschlicher Vergesellschaftung, die immer in einem Wechselverhältnis zur Kultur stehen, weshalb sie auch als kulturelle Systeme gedeutet werden können (vgl. Geertz 1983, 44–95). Sie prägen die jeweiligen Kulturen, beispielsweise deren Verständnis von Wirklichkeit, Zeit oder Sittlichkeit, und sind gleichzeitig beeinflusst von den Kulturen, in denen sie eine Rolle spielen. Die einzelnen Gestaltformen von Religion stehen deshalb in einem Wechselverhältnis zu den kulturellen Traditionen. Dabei darf weder Religion auf Kultur (oder Kultur auf Religion) reduziert, noch dürfen beide aus der Analyse weltgesellschaftlicher Strukturen ausgeschlossen werden (vgl. Wimmer 1997). 52 In der Debatte der politischen Philosophie wird dieses Verhältnis fend gültig ist. Andererseits entzündet sich gerade an den Menschenrechten die Diskussion über die notwendige Beachtung kultureller und religiöser Differenzen, was sich exemplarisch an der Debatte über asiatische Werte im Kontext der Menschenrechte ablesen lässt (vgl. Sen 2005). 52 Dieses Verhältnis von Religion und Kultur kann an vielen Facetten des Gesellschaftslebens demonstriert werden. Christel Gärtner (2008) untersucht exemplarisch in einer empirischen Studie, inwieweit der kulturell bedingte Habitus von Journalisten ihre Berichterstattung über Religion in modernen Gesellschaften beeinflusst. Sie schlussfolgert, dass Religion die kulturellen Wahrnehmungsmuster von Journalisten dahingehend geprägt habe, dass diese sie von vornherein als eine wichtige Basis moderner Gesellschaften interpretierten: »Unabhängig von den fallspezifischen Differenzen aufgrund des religiösen Habitus, begreifen Kommentatoren Religion generell als kulturelles Fundament unserer Gesellschaft. In dieser Hinsicht gestalten sie den öffentlich-medialen Diskurs« (Gärtner 2008, 107). Diese Studie ist ein Beispiel, an dem sich das A
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von Religion und Kultur allerdings oftmals zu wenig beachtet, gleichwohl die Kulturwissenschaften dies in den vergangenen Jahren immer wieder eingefordert haben (vgl. Bergmann et al. 1993; Stegemann 2003b; Gantke 2005). Religion scheint bei einigen der rekonstruierten Ansätzen nach wie vor oft als ein kulturloses Gebilde, das – losgelöst von anderen kulturellen Prozessen – entweder als individuelle Entscheidung eines religiösen Menschen oder als abstraktes System theoretischer Sätze interpretiert wird (vgl. Boelderl et al. 2005). Mit dem an Nikolaus von Kues und Schleiermacher angelehnten und mit Rekurs auf den Pragmatismus präzisierten Religionsverständnis kann dieses Verhältnis von Religion und Kultur nun explizit in den Blick genommen werden. Dieses Vorgehen liegt in dem skizzierten Religionsverständnis selbst begründet, denn weil menschliches Sprechen über das Transzendente notwendig an Grenzen stößt, sind Aussagen darüber kontingent, darauf haben Nikolaus von Kues und Schleiermacher gleichermaßen hingewiesen. Daraus folgt, dass Äußerungen der Religion immer auf kulturell plurale Formen bezogen sind, weshalb Schleiermacher argumentiert, dass das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl individuell wie kulturell geprägt ist (vgl. Kap. 4.1.2.). Religion und Kultur stehen »in einem sehr engen Zusammenhang. Religionen gibt es nämlich nie in Reinform, sondern nur in bestimmter soziokultureller Gestalt, da Menschen nur auf diese Weise denken und miteinander sprechen können« (Müller 2007, 128). Das Nachdenken über Religion ist in dieser Hinsicht immer auch eine Beschäftigung mit dem Denken und Fühlen der Menschen in ihren kulturellen Kontexten und damit Kulturphilosophie. So betont Derrida zu Recht, dass das aktuelle philosophische Nachdenken über Religion schon immer in einem bestimmten kulturellen Rahmen stattfindet – heute vor allem in dem der Globalisierung und der Ausbreitung von Massenmedien (vgl. Derrida 2001a). Seine Analysen der fernwissenschaftlichen Formen von Religion illustrieren diese moderne kulturelle Gestalt der Religion. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Walzer aus der Richtung des Kommunitarismus, denn in seiner Sicht ist die Kultur der Raum, in dem Weltsichten und Moralvorstellungen sich notwendig ausdifferenzieren. Seine Analysen des Judentums – sowohl in der biblischen Fassung als auch in der historischen AusgestalVerhältnis von Religion und Kultur in seiner gesellschaftlich-politischen Bedeutung ablesen lässt.
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tung – verdeutlichen die Verwobenheit dieser Religion mit unterschiedlichen kulturellen Prozessen (vgl. Walzer 1998; ders. 2008). 53 Die kulturelle Offenheit der Religion steht religionsphilosophisch betrachtet allerdings wiederum in einem Spannungsverhältnis zum absoluten Geltungsanspruch, den Religionen meist erheben. Auch die Tatsache, dass religiöse Botschaften Menschen über Kulturen und Zeiten hinweg ansprechen, ist ein Hinweis darauf, dass Religionen nicht nur kulturgebunden sind, sondern auch einen universalen Anspruch implizieren. Weder lässt sich also eine als universell verstandene Wahrheit von ihren kulturell partikularen Darstellungsformen vollständig losgelöst betrachten, noch sind die jeweils in einer Kultur formulierten religiösen Wahrheiten so abgeschlossen, dass sie in einer anderen Kultur nicht vermittelbar wären. Diese Einsicht spricht sowohl gegen einen falsch verstandenen Universalismus als auch gegen die Auffassung, dass Religionen oder Kulturen einander nicht verstehen könnten. Der philosophiehistorisch begründete Religionsbegriff bietet einen Ansatzpunkt, um diese Spannung, die im Wechselverhältnis von Religion und Kultur impliziert ist, philosophisch auszubuchstabieren, und zwar entsprechend dem ausgewiesenen Wahrheits- und Vernunftverständnis, das auf einem Wechselverhältnis von Glauben und Wissen fußt. Mit Nikolaus von Kues und Schleiermacher kann argumentiert werden, dass Religionen für sich keinen objektivistischen Wahrheitsmonismus in Anspruch nehmen können, weil sie damit ihre kulturelle Ausdifferenzierung missachten würden (vgl. Kap. 4.1.1. und Kap. 4.1.2.). Umgekehrt darf allerdings der Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen nicht im Sinne Rortys vollständig aufgelöst werden, denn damit würden Differenzen religiöser Grundüberzeugungen nivelliert. Das entfaltete Religionsverständnis impliziert vielmehr die Annahme, dass Religionen eine soziale Praxis darstellen, die im Sinne Mit dieser Reflexion auf das Wechselverhältnis von Religion und Kultur ist außerdem methodisch einmal mehr die Notwendigkeit eines multidisziplinären Dialogs über die gesellschaftliche Funktion von Religion angezeigt. Denn während zum Beispiel eine rein theologische Rekonstruktion des Verhältnisses von Religion und Kultur in der Gefahr steht, zu einem Binnendiskurs für die jeweilige Religionsgemeinschaft zu werden, weist eine rein kulturwissenschaftliche Außenperspektive die Tendenz auf, das Spezifikum des Anspruchs der Religion nicht in den Blick zu nehmen und damit einem philosophisch inhaltsleeren Religionsverständnis Vorschub zu leisten. Deswegen plädiert Wolfgang Gantke (2005) zu Recht für eine ›transzendenzoffene Kulturwissenschaft‹, die auf einer Zusammenarbeit von Religionsphilosophie, politischer Philosophie, Kulturwissenschaft und Theologie fußt (vgl. Gantke 2005).
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eines wissenden Nichtwissens sehr wohl als vernünftig angesehen werden können. Mit diesem Zugang zur Religion ist ein nicht mehr exklusivistisches Wahrheitsverständnis verbunden, das es Religionen ermöglicht, einen Weg zu finden, am eigenen Wahrheitsanspruch festzuhalten, ohne dadurch andere religiöse oder säkulare Geltungsansprüche abzuwerten. In dieser Hinsicht gilt es für jede Religion, »die Andersheit einer anderen Religion wahrzunehmen und nach Möglichkeiten ihrer religiösen Wertschätzung zu fragen, die das Moment der Differenz, an der gerade die Identität des Anderen hängt, nicht tilgt« (Höhn 2007, 166). Der bisherige Gedankengang lässt sich wie folgt zusammenfassen: Religion kann erstens als eine soziale Praxis interpretiert werden, die immer in einem engen Wechselverhältnis zu kulturellen Einflüssen steht, diese intern verarbeitet und extern mitgestaltet. Deshalb wird das in der Religion ausgedrückte Verhältnis von Transzendenz und Immanenz kulturell je eigens ausbuchstabiert. Mit Luhmann gesprochen bleibt der Code der Kommunikation der Religion zwar der gleiche, aber die Ausgestaltung dieses Codes in religiöser Sprache, Symbolik oder in religiösen Ritualen differenziert sich notwendig aus. Gerade auf diese konkrete kulturelle Gestalt von Religion achten Autoren wie Luhmann oder Vattimo dann allerdings in ihren Ausführungen zu wenig (vgl. Kap. 3.4.3.4. und Kap. 3.6.3.3.). Religionen stehen zweitens immer in einem engen Wechselverhältnis zu anderen kulturellen Prozessen (beispielsweise Wirtschaft, Politik oder Kunst), was in aktuellen Religionstheorien und Ansätzen der politischen Philosophie ebenfalls zu wenig beachtet wird, weil sie die kulturelle Ausdifferenzierung sozialer Praktiken zu wenig beleuchten. 54
4.5.3. Ambivalenzen der ausdifferenzierten Religion Die Verwobenheit der Religion mit den kulturellen Horizonten hat also zur Folge, dass Religionen intern als kulturell ausdifferenzierte Gebilde beschrieben werden müssen – dies gilt nicht nur für das europäiTraditionelle Theorien des Zusammenhangs von Religion und Kultur »tendieren dazu, die hohe historische Variantenvielfalt möglicher Vermittlungszusammenhänge zwischen Religionen und nicht-religiösen kulturellen oder sozialen Kräften auszublenden« (Graf 2007, 8).
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sche Christentum (vgl. Bergmann et al. 1993), sondern auch für andere Religionen wie den Islam. 55 Eine solche Ausdifferenzierung kann natürlich zu innerreligiösen Diskussionen und auch Spannungen führen, die heute bereits in vielen Regionen der Welt deutlich zutage treten. In Indonesien findet zurzeit beispielsweise eine höchst kontroverse Debatte unter Muslimen darüber statt, inwieweit die arabisch-kulturelle Form des Islam maßgeblich ist und wie viel indonesischen Islam es geben darf und soll (vgl. Müller 2006; ders. 2007, 129). Im Rahmen dieser Auseinandersetzung über das Verhältnis von islamischer Religion und Kultur wird – auch in der Türkei oder in einigen afrikanischen Ländern – harsche Kritik am arabischen Imperialismus geübt. Spannungen können aber nicht nur in einer Religion, sondern auch zwischen Religionen oder zwischen Religionen und dem säkularen Staat auftreten. Solche Konflikte haben dabei immer zwei Facetten. Erstens zeigen bereits die Überlegungen zum Fundamentalismus (vgl. Kap. 1.2.) als auch zum Status religiöser Aussagen (vgl. Kap. 4.2.2.), dass Religionen immer auch eine kritische Gegenfolie zum Common Sense darstellen und beispielsweise durch eine prophetische Rede Menschen zu einer – teils radikalen – Umkehr bewegen wollen (vgl. Kap. 3.3.2.1.). Insofern stehen Religionen bestehenden Gesellschaftsverhältnissen oft dezidiert kritisch gegenüber und wollen sich nicht in den Kanon der als gültig anerkannten Argumente im säkularen politischen Raum integrieren. Gerade deswegen suchen Religionen den Beispielhaft kann noch einmal auf die indonesische Region Java verwiesen werden, denn die religiösen Traditionen dort zeigen, dass sich auch der Islam in unterschiedliche kulturelle Formen ausdifferenziert (vgl. Geertz 1960), was für ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Religion und Kultur in dieser Religion und Region spricht. Eine Deutung des Islam als global-einheitliches Gebilde erscheint vor diesem Hintergrund eher die Perspektive einzelner Gruppierungen zu sein als der Realität zu entsprechen. »Das Bild von einer muslimischen Welt, die unter dem Banner des Islam geeint ist und sich anschickt, den Westen anzugreifen, ergibt keinen Sinn« (Roy 2008, 180). Demgegenüber steht in westlichen Ländern eine meist einseitige Sichtweise auf den Islam, welche genau diese internen Differenzierungen kaum beachtet. »In public discussions and the media Islam is mostly portrayed as a monolithic bloc, a closed and united group of people who are totally different from or even intimidating and hostile to a likewise closed ›West‹, which is Christian, secular, liberal, and democratic. Without doubt, the description of the Muslim and Western worlds as two contrasting, opposing, and contradictory poles leads to a dualistic interpretation of relations, disregarding many nuances and exceptions, and the internal heterogeneity of both parties. It ignores the fact that cultures and societies are not solid and durable, but in a condition of permanent change« (Gündüz 2007, 2).
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Konflikt mit herrschenden Gruppierungen oder auch der Gesellschaft und ihrem Zivilisationsmodell als Ganzem. Die Option für die Armen der christlichen Kirchen wie die islamische Kritik am kapitalistischen Zivilisationsmodell sind Spiegelbilder hierfür. Weil diese Kritiken mit Verweis auf eine umfassende Transzendenz begründet werden und deshalb ein großes Motivationspotenzial freisetzen können, implizieren Religionen auch einen gewissen Hang zu Konflikten. Diese Konflikte werden gesellschaftlich immer dann problematisch, wenn Religionen nicht auf die erkenntnistheoretischen Grenzen ihrer Aussagen reflektieren und stattdessen ihre Überzeugungen absolut setzen. 56 Religiöser Fanatismus entwickelt sich meist dann, wenn sich Religionen von ihren kulturellen Grundlagen lösen und eine Religion in Reinform anvisieren. Eine solche »tabula rasa machen zu wollen, ist [aber] eine Form der heiligen Einfalt« (Roy 2010, 13). Zweitens impliziert gerade die Offenheit der Religionen für radikale Kritik und ihr Mobilisierungspotenzial die Gefahr, dass sie für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Soziologische und politologische Studien zeigen deutlich, dass in vielen Regionen der Welt politische, ökonomische oder soziale Konflikte von einzelnen Konfliktparteien religiös aufgeladen werden, obwohl die Konflikte selbst gar nicht religiöser Natur sind (vgl. Hasenclever/De Juan 2007; Müller 2007). Für ein differenziertes Bild der Funktion von Religion in modernen Gesellschaften ist diese Gefahr ihrer Instrumentalisierung deshalb ebenfalls mit zu bedenken (vgl. Kap. 4.6.3.). Ein angemessener Umgang mit Konflikten zwischen Religionen und zwischen Religion und säkularer Gesellschaft ist wiederum im Anschluss an das entworfene Religionsverständnis leichter zu führen, weil Wahrheitsansprüche der Religionen immer in einem Wechselverhältnis zu ihren kulturellen Fassungen gedeutet werden, wie beispielhaft die Überlegungen von Nikolaus von Kues in De pace fidei belegen (vgl. Nikolaus von Kues 1453/2003). Religionen besitzen ein internes Wissen darüber, dass die Rede über das Verhältnis von Transzendenz und Rosenzweig zufolge neigen Religionen zu Fanatismus, wenn religiöse Menschen – er spricht in diesem Fall von Mystikern und Eiferern – die Rede über Gott verendlichen und als anthropologische Projektionsfläche benutzen (vgl. Rosenzweig 1921/1976). »Der Begriff Religion ist in diesem Verständnis recht nah am Wortsinn des lateinischen Verbums religo, das mit zurück oder anbinden ins Deutsche übersetzt werden kann. Der Mystiker wie der Eiferer binden sich total an das, was sie für göttlich halten« (Kohr 2008, 261). 56
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Immanenz kontingent ist und sich deswegen kulturell ausdifferenziert. Religionen können gerade im interreligiösen Kontakt allerdings genau diese Einsicht unterlaufen und so tun, als wüssten nur sie, wie über das Absolute adäquat zu sprechen sei. Dann erscheinen andere Religionen schnell als Gegner oder sogar als Feinde (vgl. Reder 2009c). Diese Gefahr wird dadurch verstärkt, dass im Zentrum der Religion oft heilige Schriften stehen, die systematisch betrachtet entsprechend einer hermeneutischen Logik kulturoffen sind, weshalb man in religiösen Quellen »sowohl für ein positives wie für ein negatives Urteil Belege wie Gegenbelege finden [kann]. Insofern ist die Bezugnahme auf solche Quellen nur sehr bedingt hilfreich, da sie für höchst unterschiedliche Interpretationen offen sind« (Müller 2007, 123). In interreligiösen Kontexten ist deshalb ein hermeneutisches Verständnis heiliger Quellen nicht nur aus systematischen Gründen plausibel, sondern oftmals pragmatisch hilfreich; in diesem Punkt ist Vattimo zuzustimmen. 57 Gerade eine interne Verarbeitung des Verhältnisses von Religion und Kultur kann also für Religionen und ihr Verhältnis zu anderen Religionen eine konstruktive Wirkung haben. Eine Anerkennung dieses Wechselverhältnisses ist auch ein nicht zu unterschätzender Faktor für Selbstkritik und Anpassungsfähigkeit, der es den Religionen ermöglicht, über die Zeit hinweg Bestand zu haben. In der Auseinandersetzung mit der je partikularen Kultur einerseits, in welcher die Religionen verankert sind, und dem kulturübergreifenden religiösen oder ethischen Anspruch der Religionen andererseits liegt eine wichtige Kraft zur soziokulturellen Innovation sowie zur inneren Reform im Sinne einer Stärkung des eigenen Kritik- und Aufklärungspotenzials (vgl. Schmidt/Lutz-Bachmann 2006). »Das Bemühen um Verständigung und Konkordanz wird vor allem von innen heraus begründet, aus dem vernünftigen Selbstverständnis der Religion, mit allen ihren Vollzügen auf einen (…) erfahrenen Absolutheitsanspruch (…) zu antworten, in konsequenter Anerkennung der epistemologischen Grundsituation perspektivischer Einschränkung. Durch die Konfrontation mit konIn diesem Zusammenhang sei noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen, auf den die interreligiöse Entwicklungszusammenarbeit aufmerksam macht. Dort, wo in einem solchen Dialog beispielsweise über heilige Schriften auf einer abstrakten Ebene diskutiert wird, verschärfen sich oft Abgrenzungstendenzen zwischen den Religionen. Wenn der interreligiöse Dialog allerdings an den pluralen Lebenswelten der Menschen ansetzt, fällt er oft leichter, weil diese konkreten Lebenswelten eine konstruktive Basis für Verständigung sein können (vgl. Müller 2007, 134 f.; Dietrich 2005).
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kurrierenden Weltdeutungen wird eine Religion zu einer Reifung herausgefordert, die ihre Identität zu vertiefen und zu erweitern geeignet ist« (Riedenauer 2009, 30).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich eine letzte methodische Anmerkung anschließen. Es wurde im Laufe des Gedankengangs dieser Arbeit mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass der aktuelle Diskurs über die Wiederkehr der Religion durch ein kulturell geprägtes Verständnis von Religion – nämlich das des Christentums – bestimmt ist (vgl. exemplarisch Kap. 3.5.2.1.). 58 Religion, so lässt sich nun schlussfolgern, ist immer selbst ein kulturelles Produkt, weshalb auch mit dem im aktuellen Diskurs vorherrschenden Begriff von Religion ein partikulares Konzept verbunden ist, und zwar in diesem Fall ein westlich bzw. christlich geprägtes Religionsverständnis (Stegemann 2003a, 55; vgl. auch Derrida 2001a; Vattimo 2004c). Diese Begrenzung stellt vor dem entfalteten Gedankengang allerdings nicht automatisch ein Defizit dar, weil Religion immer eine kulturelle Gestalt annimmt. Es kommt vielmehr darauf an, die kulturellen Implikationen des eigenen Ansatzes offenzulegen, um in einem interkulturellen bzw. interreligiösen Dialog die Ausdifferenzierung bzw. Mehrdimensionalität des Religiösen zu beachten. Wenn allerdings im aktuellen Diskurs der politischen Philosophie mit dem impliziten Religionsverständnis ausschließlich auf Weltreligionen bzw. das Christentum abgestellt wird und diese Vorannahme nicht mehr ausreichend reflexiv eingeholt wird, so ist dies angesichts der kulturellen Mehrdimensionalität von Religion und der globalen Vielfalt religiöser Mischformen eine Verkürzung, die aufgrund einer begrifflichen Engführung die Bedeutung anderer religiöser Formen vernachlässigt, ohne sich diese Reduktion bewusst zu machen. In diesem Zusammenhang ist eine Erweiterung bzw. Korrektur des Religionsverständnisses wichtig und sinnvoll. Nachdem das Wechselverhältnis von Religion und Kultur als ein weiteres Querschnittsthema für den aktuellen Diskurs ausgewiesen wurde, soll nun abschließend die Frage gestellt werden, welche Rolle der Religion in politischer Hinsicht in modernen Gesellschaften zuDieses Problem zeigt sich beispielsweise in folgendem Sachverhalt: »Die Übertragung des Begriffs auf andere Zivilisationskomplexe trifft auf das Problem, dass diese Zivilisationen in ihrem Selbstverständnis über keinen eigenständigen Religionsbegriff verfügen, der dem europäischen Religionsbegriff äquivalent wäre« (Hildebrandt/Brocker 2008, 10).
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kommt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Ansätze soll noch einmal dezidiert nach der momentan vorherrschenden, liberal geprägten Fassung des Diskurses gefragt werden und daran anschließend eine mögliche Rolle von Religion im politischen Diskurs bestimmt werden, die sich an das mit Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey entworfene Verständnis von Religion und ihrer weiten gesellschaftlichen Funktion anschließt. Dabei erweist sich die Frage nach Religion für die Demokratie aus Sicht der politischen Philosophie als ein Präzedenzfall für den Umgang mit Pluralität (vgl. Kap. 3.7.1.).
4.6. Religion in der politischen Öffentlichkeit 4.6.1. Chancen und Grenzen der liberalen Deutung von Religion Nachdem in den vorangegangenen Überlegungen ein Religionsverständnis entworfen und gezeigt wurde, inwiefern von diesem Verständnis ausgehend die identifizierten Problemstellen im aktuellen Diskurs weitergedacht werden können, soll zum Abschluss noch einmal dezidiert der Fokus auf die Religionsgemeinschaft als ein politischer Akteur in demokratischen Gesellschaften gelenkt werden (vgl. Werkner et al. 2009). Die kritische Diskussion der verschiedenen Konzeptionen von Religion in modernen Gesellschaften hat in diesem Zusammenhang bereits deutlich gemacht, dass die liberale Trennung von öffentlicher Vernunft und privatem Glauben erhebliche Probleme mit sich bringt. Die striken Trennungen von privat und öffentlich (Rorty) und von Moral und Ethik (Habermas) sind zwei Beispiele hierfür. Diese Unterscheidungen hängen in liberalen bzw. deliberativen Theorien eng mit der Funktionsbestimmung von Religion in öffentlichen Debatten zusammen. »Liberals tend to tackle the presence of religion in the public sphere by appeal to a polarised distinction between the ›public‹ and the ›private‹« (González et al. 2009, 254). Paradigmatisch zeigt sich diese Problematik in der politischen Philosophie von Rawls (vgl. Kap. 3.1.2.3.). Dieser hatte zwar das Faktum des Pluralismus als Ausgangspunkt der politischen Philosophie bestimmt, dann aber selbst für den Vorrang des Rechten und Gerechten vor dem Guten plädiert und damit die pluralen Vorstellungen vom Guten bzw. gelungenem Leben zu wenig berücksichtigt. Zentrale Merkmale des öffentlichen Vernunftgebrauchs sind für Rawls die ReA
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ziprozität und eine allgemeine Verständlichkeit der vorgetragenen Überzeugungen. Umfassende Lehren bzw. Weltanschauungen sind für ihn Anleitungen zum guten Leben, von denen nur dann öffentlich Gebrauch gemacht werden darf, wenn sie den Filter der praktischen Vernunft durchlaufen haben (vgl. Rawls 1998, 133 ff.) und den »Vorrang des Rechten vor dem Guten im Bereich des Politischen akzeptieren« (Wallner 2003, 569). Umfassende (beispielsweise religiöse) Lehren können also nur dann etwas zum politischen Diskurs beitragen, wenn sie entsprechende reflexive Übersetzungsprozesse durchlaufen haben. Weltanschauungen, welche nicht die Grenze des öffentlichen Vernunftgebrauchs »wahr haben wollen oder mit ihr nicht umgehen können, sind unfähig, eine aktive Rolle innerhalb einer wohlgeordneten Gesellschaft zu spielen« (Wallner 2003, 559). Rawls sieht zwar, dass auch gesellschaftliche Vorstellungen von Gerechtigkeit von umfassenden Lehren beeinflusst werden, aber in öffentlichen Diskursen sollte von ihnen dennoch abstrahiert werden. 59 Rawls will Religion damit aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch herausfiltern (vgl. Dombrowski 2001; Wolbert 2008), weil sie erstens Gesellschaften mit dem ihr eigenen Potenzial an Leidenschaft entzweien kann. Zweitens verlangt die Verbindlichkeit eines hypothetischen Vertrages einen überparteilichen Standpunkt, und drittens impliziert schließlich die Forderung nach wechselseitigem Respekt im öffentlichen Diskurs, dass Bürger sich allgemeinverständliche Gründe für ihre Überzeugungen schulden. 60 Vor dem Hintergrund der rekonstruierten Ansätze von Walzer, Derrida und Vattimo und der bisherigen systematischen Schlussfolgerungen kann diese liberale Position nun auf einer grundsätzlichen Ebene kritisiert werden. Erstens reicht die Lösungskompetenz einer rein säkular-öffentlichen Vernunft oftmals nicht aus, um alle Probleme moderner Gesellschaften lösen zu können, worauf Walzer mit seinen AnDass in dieser Gerechtigkeitskonzeption Signaturen religiöser Lehren impliziert sind, formuliert Rawls folgendermaßen: »Der Begriff einer wohlgeordneten Gesellschaft enthält und verallgemeinert den Gedanken religiöser Freiheit; er weist den Konzeptionen des Guten der Menschen einen der Religion entsprechenden öffentlichen Status zu« (Rawls 1997, 114). Gleichzeitig soll sich der öffentliche Vernunftgebrauch aber eines inhaltlichen Urteils über solche umfassenden Lehren enthalten (vgl. Rawls 1997, 255 ff.). 60 Im Kap. 3.1.3.4. wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Frühschriften von Rawls zur Religion (vgl. Rawls 2010) eine anders akzentuierte Deutung zulassen. 59
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merkungen zur Leidenschaft als notwendiges Element des politischen Diskurses hinweist (vgl. Walzer 1999). Zweitens sind auch »religiöse Gesichtspunkte (…) nicht immer trennend« (Wolbert 2008, 319 f.), sondern sie können gerade eine Basis für eine kooperative Lösung sozialer Fragen sein. In dieser Hinsicht sind religiöse Überzeugungen nicht kontroverser als andere weltanschaulich geprägte, politische Überzeugungen (vgl. Eberle 2002). Analog zur Kritik an den Konzeptionen von Habermas und Rorty ist es deshalb fraglich, wieso religiöse Überzeugungen einer so starken Restriktion unterliegen sollen, obwohl sie wichtige Beiträge für den politischen Alltag liefern können. Problematisch sind religiöse Überzeugungen immer dann, wenn sie ihren eigenen Standpunkt absolut setzen und die Trennung von Politik und Religion grundsätzlich unterlaufen. Wenn dies aber nicht der Fall ist, kann der politische Liberalismus kein überzeugendes Argument dafür anführen, wieso der öffentliche Raum von religiösen Überzeugungen per se freigehalten werden sollte. Außerdem, so ein weiterer Einwand, tragen viele politischen Meinungen weltanschauliche Signaturen – dies gilt auch für den Liberalismus selbst, wie im Zuge der Diskussion des Ansatzes von Rorty gezeigt wurde (vgl. Kap. 3.2.3.2.). Die strikte liberale Trennung von öffentlich und privat, und damit die von Politik und Religion, wirkt also im Letzten willkürlich gesetzt. Bei Rawls liegt dies wiederum vor allem daran, dass die Konzeption von Gerechtigkeit nicht ohne einen Wahrheitsanspruch auskommt, der an den Liberalismus (verstanden als eine umfassende Lehre) gebunden bleibt. Wenn die Gerechtigkeitskonzeption aus Gründen »der Legitimität vom Wahrheitsanspruch der umfassenden Lehre abhängig bleibt, dann erscheinen die von Rawls vorgenommenen Trennungen zwischen der öffentlichen, moralisch-politischen Identität des Bürgers und der privaten, an Konzeptionen des Guten orientierten ethischen Identität des Individuums willkürlich gesetzt« (Schmidt 2008c, 102). 61 Die darin implizite strikte Trennung von Politik und Metaphysik verstanden als eine Trennung von Politik und Religion erscheint vor dem Hintergrund der Überlegungen zum nachmetaphysischen Denken ebenfalls als zu stark veranschlagt (vgl. Kap. 3.7.1.). »Der Trennung von Politik und Metaphysik entspricht nämlich eine starke Unterscheidung von Vernunft und Wahrheit. Rawls überträgt damit nicht nur das aufklärerische Prinzip der religiösen Toleranz auf die Philosophie, sondern auch das liberale Prinzip einer Trennung von privatem Bekenntnis und öffentlichen Institutionen« (Schmidt 2008c, 101).
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Auch soziologisch gesehen erscheint angesichts der Vielfalt (welt-)gesellschaftlicher Politikformen die vom Liberalismus betonte Unterscheidung von privat und öffentlich und die strikte Abschiebung der Religion ins Private problematisch (vgl. Kap. 3.2.3.1.). In vielen Regionen der Welt wird der öffentliche und private Bereich viel stärker als wechselseitiges Beziehungsgeflecht verstanden, sodass eine eindeutige Trennung unplausibel erscheint. Außerdem sind auch private Haltungen und Handlungen sozial wirksam, wie Dewey zu Recht hervorhebt. Denn auch private Handlungen »tragen zum Wohl der Gemeinschaft bei oder beeinflussen ihren Zustand und ihre Aussichten. Im weitesten Sinn ist jede zwischen zwei oder mehreren Personen vorsätzlich vollzogene Transaktion von ihrer Qualität her sozial« (Dewey 1927/2001, 27). Walzer konzeptualisiert daher Religion (vor allem das Judentum) als eine kulturell und politisch prägende Praxis, die sich quer zur Unterscheidung von privat und öffentlich als gesellschaftlich äußerst vital erweist (vgl. Reder 2010c, 180 ff.). 62 Bei den Überlegungen zur normativen Funktion von Religion wurde bereits für eine Transformation der politischen Philosophie im Sinne Hegels argumentiert (vgl. Kap. 4.4.), die nun mit Blick auf die Kritik an Rawls und dessen Bestimmung der Rolle von Religion im politischen Feld noch einmal zugespitzt formuliert werden kann. Weltanschaulich fundierte Vorstellungen des Sittlichen und normative Diskurse sind in der gesellschaftlichen Realität immer miteinander verbunden, so die bereits begründete These (vgl. Kap. 4.4.2). Der eine Bereich speist sich aus dem anderen und umgekehrt. In diesem Wechselspiel erheben auch Weltbilder und umfassende Lehren RationaliEine andere, kommunitaristisch orientierte Absetzung vom Liberalismus findet sich bei Charles Taylor. Dieser analysiert in einer historisch ausgerichteten Sichtweise verschiedene Formen des Säkularismus und kommt zu dem Ergebnis, dass nur die Form des Säkularismus überleben wird, die auf einen übergreifenden Konsens ausgerichtet ist. Mit dem Begriff overlapping consens spielt Taylor auf Rawls an. Dabei stellt er allerdings deutlich heraus, worin sich seine Position von dessen Liberalismus unterscheidet: »Ein übergreifender Konsens besteht vielmehr dann, wenn wir uns moralisch auf die konvergierenden Prinzipien verpflichtet fühlen. Was den Konsens übergreifend macht, ist eben der Umstand, dass die zu Grunde liegenden Motive oder Hintergrundargumente verschieden sind« (Taylor 1996, 244). Damit nimmt Taylor weltanschauliche Pluralität und ihre Potenziale stärker in den Blick als Rawls dies tut. Für multireligiöse Gesellschaften erscheint ihm dies der einzig sinnvolle Weg hin zu einer Integration der verschiedenen kulturellen Perspektiven in öffentliche Deliberation (vgl. dazu auch Taylor 2009).
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tätsansprüche, weshalb sich die Argumente für ein gutes Leben nicht ausschließlich als private Überzeugungen verstehen lassen können. Vielmehr beanspruchen diese, allgemein verständlich zu sein, weshalb sie nicht in den Bereich einer nur individuell plausibilisierbaren Ethik abgeschoben werden können (vgl. Kap. 3.1.3.4.). Die Tatsache, dass man diese weltanschaulichen Überzeugungen für vernünftig hält, heißt noch nicht, dass der Diskurs unter ihnen entschieden wäre. In dieser Hinsicht wird also das rawlssche Diktum des Vorrangs der Gerechtigkeit vor dem Guten, das in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts so dominant gewesen ist, relativiert. Gerade mit Blick auf die Rolle von Religion in der politischen Philosophie geht es um eine Verbindung der beiden gleichberechtigten Fragen nach dem Gerechten und dem Guten. Die Vorstellung des Guten dient als eine Leitidee, die Menschen ebenso Orientierung bietet, wie das Ideal gerechter Institutionen. Religionen sind ein Paradebeispiel für die wechselseitige Verschränkung dieser beiden Grundfragen der politischen Philosophie.
4.6.2. Religion als Präzedenzfall eines demokratischen Pluralismus Die liberale Tradition der politischen Philosophie impliziert also bezüglich der Beurteilung des Verhältnisses von Religion und Politik einige Probleme. Deshalb ist eine Transformation der politischen Philosophie notwendig, durch welche Religion als eine soziale Praxis mit kulturellen Prägungen verstanden werden kann, die im Sinne eines wissenden Nichtwissens als vernünftig betrachtet wird und wichtige Funktionen für demokratische Gesellschaften ausübt. Diese Transformation ist notwendig, weil der Liberalismus (und zumindest teilweise auch die Theorie der demokratischen Deliberation) die Tendenz aufweist, religiösen Überzeugungen gegenüber anderen – scheinbar rein säkularen – Überzeugungen unberechtigterweise eine geringere Bedeutung beizumessen. Der politische Liberalismus läuft Gefahr, »entgegen seinem eigenen Wortlaut (…) bestimmte Vorstellungen, die eindeutig partikularen Charakter besäßen, [zu] bevorzugen und andere, etwa religiöse Überzeugungen, willkürlich aus der politischen Öffentlichkeit aus[zu]schließen« (Schmidt T. M. 2006, 38). Dies liegt vor allem in dem überzogenen Ideal eines ausschließlich neutralen Diskurses begründet, worin sich ein Vernunftbegriff ausdrückt, der differenztheoretisch beA
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trachtet Pluralität nicht angemessen beachtet. Philosophen wie Rawls wollen »die Bindungen an liberale Demokratien auf einen Typus der rationalen Zustimmung gründen, der die Möglichkeit der Herausforderung ausschließt. Aus diesem Grund müssen sie Pluralismus in einen nicht-öffentlichen Bereich verbannen, um Politik von dessen Konsequenzen abzuschirmen« (Mouffe 2008, 95). Innerhalb einer demokratischen Praxis – und damit auch innerhalb der demokratischen Deliberation im Sinne Habermas’ – gibt es also keinen plausiblen Grund, Argumente und Überzeugungen, die nicht einer dezidiert postmetaphysisch-säkularen Logik folgen oder in diese Semantik übersetzt werden, aus dem öffentlichen Diskurs als privat oder gar unvernünftig auszuschließen. Der einzige Weg, »um diese Probleme ernsthaft anzugehen, besteht darin, demokratische Zivilbürgerschaft aus einer anderen Perspektive zu konzipieren, welche die Typen von Praktiken und Nichtformen der Argumentation berücksichtigt« (Mouffe 2008, 99; vgl. Mouffe 1996, 8). 63 Weil der politische Liberalismus und die Theorie der Deliberation sich mit der Anerkennung dieser Praktiken schwertun, schneiden sie sich gleichzeitig von wichtigen Potenzialen der politischen Gestaltung ab, die gerade angesichts der komplexen Problemlagen aktueller Gesellschaften konstruktive Beiträge leisten könnten. Die »Vorstellung von einer fairen Kooperation aller Bürger, die sich ausschließlich auf der Basis neutraler Vernunft vollzieht, [ist] (…) ein abstraktes utopisches Ideal«, wodurch moderne Gesellschaften zudem Gefahrt laufen, »unendlich banal zu werden« (Schmidt T. M. 2006, 39). In dieser Argumentationsrichtung ist gerade aufgrund der Beschäftigung mit der Religion im politischen Feld eine Betonung des Pluralismus notwendig, denn dieser ist nicht nur ein reines Faktum, wie Autoren in der Nachfolge von Rawls betonen, sondern er ist ein notwendiger und integraler Bestandteil von Politik. 64 Die Vielfalt Mouffe bezeichnet in Abgrenzung von Carl Schmitt ihr Konzept von Demokratie, das nicht eine bestimmte Argumentationsform absolut setzt, sondern stattdessen die Vielfalt sozialer Praktiken ernst nimmt, als agonistisch (Mouffe 2008, 85–106). In interkultureller Hinsicht interpretiert sie die Vielfalt dieser Praktiken mit Wittgenstein als Vielfalt von Sprachspielen mit Familienähnlichkeiten, die in unterschiedlicher Art und Weise einen Beitrag zu sozialen Entwicklungen leisten (vgl. Mouffe 2000). 64 In eine ähnliche Richtung argumentiert Michael Sandel für die Notwendigkeit einer kommunitaristischen Erweiterung des Liberalismus. »It [liberalism] needs a vision of self-government that goes beyond voting rights, important though they are. And it 63
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sozialer Praktiken, unter denen die Religion eine ist, kann in diesem Sinne mit Dewey oder Walzer hervorgehoben werden. Entgegen der rawlsschen Argumentation, die sich bei Rorty, aber auch teilweise bei Habermas oder Luhmann widerspiegelt, ist es dabei wichtig, die plurale Situation, d. h. die unhintergehbare Pluralität von politischen Meinungen, nicht als zu überwindenden Zustand der Politik zu interpretieren, sondern als Motor gesellschaftlicher Diskurse und Veränderungsprozesse. »Aus einer antiessentialistischen theoretischen Perspektive ist Pluralismus (…) nicht bloß ein Faktum, das wir zähneknirschend ertragen müssen oder einzudämmen versuchen, sondern ein axiologisches Prinzip. Es wird auf der konzeptuellen Ebene der eigentlichen Natur moderner Demokratie als konstitutiv erachtet und als etwas betrachtet, das wir begrüßen und befördern sollten« (Mouffe 2008, 35; vgl. Suppanz 2009). 65
Bei Derrida findet sich diese Idee, wenn er von der kommenden Demokratie spricht, die notwendig auf den Diskurs der unhintergehbaren Pluralität von Überzeugungen angewiesen ist (vgl. Derrida 2003b). Damit wird das Verständnis von Politik in einem weiten Sinne an Hegel needs a vision of community that embraces the rich array of civic resources intermediate between the individual and the nation« (Sandel 2005, 43). 65 Als Beispiel kann die Diskussion über den Gottesbezug in einer EU-Verfassung angeführt werden. Der Liberalismus beurteilt einen solchen Gottesbezug skeptisch, weil er Vorbote einer Aufhebung der Trennung von Staat und Religion sein könnte. Aus Sicht der skizzierten Konzeption von Religion als soziale Praxis erscheint dies weniger problematisch. Ein solcher Gottesbezug könnte vielmehr Symbol einer Selbstbeschränkung des Staates sein, weil durch den Gottesbezug zum Ausdruck gebracht wird, dass demokratische Politik nicht allmächtig ist, sondern immer auch Begrenzungen unterliegt, die im Begriff ›Gott‹ symbolisch ausgedrückt werden. »In der nominatio dei erhält, mit anderen Worten, die Selbstbeschränkung des modernen Verfassungsstaates ihren inhaltlich bestimmten Ausdruck: der Staat hat seinen Sinn nicht gegen sich selbst, und es ist nicht seine Aufgabe, Sinn zu produzieren« (Essen 2004, 76). Ein Blick auf das politische System Indonesiens kann an dieser Stelle noch einmal aufschlussreich sein, denn dieses spiegelt genau eine solche Verarbeitung heterogener Praktiken wider. Das indonesische Politsystem basiert auf der sogenannten PancasilaDemokratie, die fünf Grundwerte beinhaltet, und zwar den Glauben an einen Gott, Humanismus, nationale Einheit, Demokratie nach indonesischem Muster und soziale Gerechtigkeit (vgl. Müller 2004). In Bezug auf das Verhältnis von Religion und Gesellschaft ist bedeutsam, dass ein säkularer Staat damit abgelehnt wird, gleichzeitig aber die verschiedenen religiösen Formen in einer formalen Einheit zusammengefasst werden, was Magnis-Suseno in Absetzung von Habermas als eine Formel der Einheit von Heterogenität bezeichnet (vgl. Magnis-Suseno 2004). A
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angelehnt und vor allem auf die faktische Heterogenität und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse geachtet (vgl. Kap. 2.3.3.), inklusive der verschiedenen normativen, sozialen und rechtlichen Praktiken, von denen die Religion eine ist (Lafont 2007, 249). Bei Habermas zeigt sich im Grunde eine solche Betonung der Pluralität politischer Meinungen im Modell der deliberativen Demokratie, das die Vielfalt gesellschaftlicher Kräfte als integralen Bestandteil der Deliberation versteht (vgl. Habermas 1992a). Die Überlegungen zur Religion setzen sich allerdings teilweise von dieser Konzeption ab und stehen damit aus Sicht der politischen Philosophie stärker in der kantischen als in der hegelschen Tradition (vgl. Schmidt 2008b; Cooke 2008; vgl. Kap. 3.1.3.5.). 66 Auf globaler Ebene zeigt sich die Transformation des liberalen Paradigmas beispielsweise im Global Governance-Diskurs, in dem die Bedeutung der Vielzahl und Unterschiedlichkeit globaler Akteure und deren Steuerungspotenzial zur Bearbeitung globaler Konflikte betont werden. Die Ersetzung von Government durch Governance und die Umstellung von Macht auf Einfluss (vgl. Toulmin 1991, 322 ff.) kann als eine grundlegende Kritik rationalistisch ausgerichteter Konzeptionen von Politik interpretiert werden (vgl. Reder 2006, 222 ff.). Stattdessen argumentieren Vertreter des Global Governance-Paradigmas für den Aufbau eines lebensweltlich verankerten komplexen Regelsystems, das auf dem pluralen Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und deren Praktiken aufbaut und sich vom traditionellen Regierungskonzept absetzt (vgl. Reder 2009a). Für eine Erfolg versprechende Bearbeitung globaler Konflikte ist eine Einbindung der facettenreichen Traditionen des Sittlichen und deren Konfliktlösungsmechanismen unumgänglich, wozu deliberative Verfahren und Netzwerke hilfreich sind, die in unterschiedlichen Global Governance-Regimen und Steuerungsformen ihren Ausdruck finden (vgl. Commission on Global Governance/Stiftung Entwicklung und Frieden 1995). Gerade in diesem
Casanova merkt mit ironischem Unterton an, dass insbesondere in Europa eine solche stärkere Anerkennung der Religion kein Problem darstelle – außer für diejenigen, welche in der liberalen Tradition noch immer an der Idee eines vollkommen ›neutralen‹ überlappenden Konsens festhalten: »Zumindest in Europa gibt es heute wenig Evidenz dafür, dass Religion als solche ein Problem für europäische Demokratien ist, vielmehr ist es die selbstverständliche Annahme, dass eine Demokratie säkular zu sein habe, die in meinen Augen problematisch ist und die dazu tendiert, Religion zu einem Problem zu machen« (Casanova 2009, 7).
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Modell können Religionsgemeinschaften eine wichtige Funktion innerhalb globaler Governance-Strukturen ausüben (vgl. Schuppert 2012). Wenn Religion in einem so verstandenen politischen Prozess – sei es national wie global – als gleichberechtigte soziale Praxis mit rechtfertigbaren Überzeugungen ernst genommen wird, bedeutet dies natürlich nicht, dass damit die Trennung von Staat und Religion aufgehoben werden soll. »Die Bedingungen eines gedeihlichen Miteinanders von Politik und Religion ist« auch aus Sicht dieser Konzeption »eine beidseitige Selbstbegrenzung« (Fischer 2009, 233). Diese erweist sich auch in einer solchen Konzeption von Politik als notwendige Voraussetzung, besonders um die positive wie negative Religionsfreiheit zu sichern (vgl. Böckenförde 2008, 335). Sie ist keine Sicherung eines rein säkular-neutralen politischen Feldes, sondern sie eröffnet nur die Möglichkeit für einen gleichberechtigten Diskurs unterschiedlicher Meinungen, die immer weltanschauliche Signaturen tragen.
4.6.3. Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftliche Akteure Vor dem Hintergrund des skizzierten Gesellschafts- und Politikverständnisses, in welchem dem Pluralismus eine zentrale Bedeutung zukommt, lassen sich abschließend einige grundlegende Formen von Religion in öffentlich-politischen Diskursen identifizieren (vgl. Gabriel 2008a, 62 ff.). Religionsgemeinschaften bewegen sich erstens als Akteure im Raum der politischen Öffentlichkeit, vor allem wenn es um strittige politische und ethische Themen wie Bio- oder Friedenspolitik geht. Religion spielt zweitens eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen bzw. kulturellen Raum diskursiver Öffentlichkeit, in dem private und öffentliche Fragen fließend ineinander übergehen und unter Rekurs auf das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz diskursiv bearbeitet werden (vgl. Anselm 2007). Besonders in diesem Feld werden die »herkömmlichen Grenzen zwischen privat und öffentlich in Sachen Religion in Frage« gestellt »und für die Religion ein Ort im Raum öffentlicher Meinungsbildung« (Gabriel 2008, 71) beansprucht. Religion tritt drittens auch und ganz besonders im Raum medialer Öffentlichkeit in Erscheinung, nicht nur in der Thematisierung der Religion als Religion, sondern auch bezüglich der unterschiedlichen Transformationen religiöser Semantik und Symbolik (vgl. Hainz 2003). Religion in allen drei Formen ist Teil dessen, was heute als ZivilA
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gesellschaft bezeichnet wird. Zivilgesellschaft soll dabei vor dem Hintergrund der entworfenen Auffassung von Politik als plural verstanden werden und nicht als Summe der Organisationen, die in dem Sektor zwischen Staat und Ökonomie einem bestimmten normativen Ideal folgen (vgl. Kap. 3.1.3.5.). Zivilgesellschaft ist vielmehr als gesellschaftliches Feld zu sehen, in dem Menschen und Organisationen unterschiedlichster Art ihren privaten Raum überschreiten und sich um eine Gestaltung der Gesellschaft in verschiedenen Formen und mit ausdifferenzierten, weltanschaulich geprägten Moralvorstellungen bemühen. Auch hier gilt, dass die Pluralität des zivilgesellschaftlichen Engagements ihr zentrales Charakteristikum ist (vgl. Inthorn et al. 2005). In dieser Bestimmung spiegelt sich die Kritik an Habermas’ normativem Konzept von Öffentlichkeit wider. Religionen sind Teil dieser plural verfassten Zivilgesellschaft. Ihre Kernkompetenz ist der sprachliche und symbolische Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens. Sie implizieren dabei auch das, was Habermas bei seiner Rede von der postsäkularen Gesellschaft vor Augen hat, insofern sie nämlich für heutige Gesellschaften »über unverzichtbare humanitätsverbürgende Gehalte verfügen« (Große Kracht 2008, 139), die gerade angesichts aktueller gesellschaftlicher Probleme Hilfestellungen bieten können (vgl. Kap. 4.4.2.). 67 Religionsgemeinschaften und Kirchen »können als Schulen der Zivilgesellschaft diejenigen Überzeugungen vermitteln, derer eine gelingende Demokratie bedarf« (Polke 2009, 303), aber Religion darf entsprechend dem weiten funktionalen Verständnis als zivilgesellschaftlicher Akteur nicht auf diese Dimension verkürzt werden. Entsprechend der Bedeutung des Verhältnisses von Religion und Kultur ist wiederum auch in diesem Zusammenhang zu reflektieren, ob Vgl. dazu die Studie von Hermann-Josef Große Kracht (1997), in der die katholische Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur rekonstruiert wird. Darüber hinaus gibt es vielfältige Studien, welche die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit in Europa in den Blick nehmen (vgl. Bormann/Irlenborn 2008). Auch vonseiten der praktischen Politik wird in diesem Zusammenhang das Potenzial der Religion zur konstruktiven Bearbeitung politischer Themen gesehen. In einem von Wolfgang Thierse, dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages herausgegeben Band (Thierse 2000) kommen unter anderem Politiker zu Wort, die hinsichtlich unterschiedlicher Themenfelder (beispielsweise Kirchensteuer, Familie, Arbeitspolitik) diese Frage diskutieren. Diese Beiträge veranschaulichen, dass und inwiefern christliche Religionsgemeinschaften gesellschaftlichen Einfluss in der bundesdeutschen Politik haben.
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und inwieweit mit der Interpretation der Religion als zivilgesellschaftlichem Akteur ein ausschließlich christliches Verständnis von öffentlicher Religion impliziert ist oder ob dieses Konzept auch an andere Religionen und kulturelle Kontexte anschlussfähig ist (vgl. Kap. 4.5.3.). Diese Anschlussfähigkeit scheint hinsichtlich unterschiedlicher Facetten der Religion möglich, wie Studien belegen (vgl. exemplarisch Wild 2008). Öffentlichkeit spielt beispielsweise auch in der islamischen Tradition eine große Rolle, weil der Islam seine Gläubigen zu einer bestimmten öffentlich-politischen Handlungspraxis führen will. Dabei spielt ebenfalls der Pluralismus – entgegen der vorherrschenden Meinung im Westen – eine wichtige Rolle (vgl. Khan 2007, 19). 68 Religion als zivilgesellschaftlicher Akteur hat allerdings in keiner Region der Welt per se eine positive Wirkung, sondern ist immer ambivalent, was bereits mit Blick auf die normative und kulturelle Funktion der Religion gezeigt wurde (vgl. Kap. 4.5.3.). 69 Religionen können einerseits Frieden nachhaltig fördern, beispielsweise indem sie Sozialkapital aufbauen und sich aufgrund bestimmter religiös begründeter Werte für ein friedvolles Zusammenleben der Menschen einsetzen. Andererseits können sie auch gewalttätige Konflikte schüren, vor allem wenn unter Bezugnahme auf einen exklusiven Zugang zum Absoluten Mitglieder anderer Religionen oder Nichtgläubige als Feinde konzeptualisiert werden. 70 Bezüglich dieser Ambivalenz von Religion In normativer Hinsicht spielt der Islam außerdem – ganz im habermasschen Sinne – bei der Förderung des Gemeinwohls ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit oder religiöser Freiheit in islamischen Quellen sind hierzu aufschlussreich (vgl. Khan 2007, 24). Insbesondere der Aspekt der religiösen Freiheit und der Akzeptanz von Pluralität wird heute im Westen meist unterbewertet. Auch in der islamischen Tradition übernimmt jedoch die Religion die Funktion, kulturelle Differenzen zu verarbeiten und eine öffentliche Kultur der Toleranz zu fördern, wie ein Blick auf die Geschichte Indonesiens zeigen kann (Hefner 2000). 69 Robert W. Hefner thematisiert in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Rolle von Religion als zivilgesellschaftlicher Akteur in Ostasien und entwirft ein normatives Verständnis des Islam, das besonders die friedensfördernde Wirkung der Religion zeigt (vgl. Hefner 2001). 70 Diese politische Ambivalenz der Religion wurde für unterschiedliche geschichtliche und kulturelle Kontexte analysiert (vgl. Riesbrodt 2000; Oberdorfer 2004; Weingardt 2007; Brocker/Hildebrandt 2008). Einerseits waren es historisch betrachtet »in der Regel die Religionen, welche das chaotische Potenzial von Krisen in Ordnungsvorstellungen transformiert haben. Religionen haben das Vertrauen in die Fähigkeit sozialer Gruppen geschaffen bzw. artikuliert, Krisen zu vermeiden oder sie zu bewältigen, wenn sie eingetreten sind« (Riesbrodt 2000, 48). Gleichzeitig weisen diese Studien darauf hin, dass 68
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im politischen Raum ist abermals ein besonderes Augenmerk auf die Gefahr einer gewalttätigen Instrumentalisierung von Religion zu richten, denn »Unterschiede zwischen wie auch innerhalb von Religionen sind zäh und konfliktträchtig und lassen sich für fast jede Art von Zwecken instrumentalisieren, ohne dass dies tatsächlich dem Geist der Religionen entsprechen muss« (Müller 2007, 130). Religionen werden oft für solche Konflikte instrumentalisiert, obwohl sie empirisch betrachtet selten die eigentliche Ursache sind. »Religiöse Überlieferungen sind in kriegerischen Auseinandersetzungen nur selten der primäre Konfliktgegenstand. Vielmehr werden Kriege in aller Regel aus politischen und ökonomischen Gründen geführt. (…) Deshalb lassen sich internationale Gewaltkonflikte nach wie vor plausibel als Macht- und Interessensrivalitäten interpretieren, die mit religiösen Differenzen einhergehen können, es aber nicht müssen« (Hasenclever/De Juan 2007, 10 f.).
Aufgrund der Ambivalenz der Religion sind deshalb sowohl gesellschaftlich wie innerreligiös Maßnahmen zu treffen, welche mögliche Instrumentalisierungen von Religion in Konflikten verhindern. Solche Merkmale zur Stärkung einer friedfertigen Gesellschaft sind beispielsweise ein funktionierendes Gewaltmonopol, eine demokratische Staatsstruktur, ein differenzierter Sozialkörper zur Affektkontrolle oder eine offene innergesellschaftliche Auseinandersetzung über Verteilungsgerechtigkeit (vgl. Senghaas 1998). Innerreligiöse Faktoren sind unter anderem strukturelle Toleranz, Autonomiepotenzial und eine innerreligiöse Öffentlichkeit. Je besser eine religiöse Gemeinschaft vor einer »Vereinnahmung ihrer Traditionen durch gewaltbereite Eliten geschützt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass religiöse Differenzen konfliktverschärfend wirken« (Hasenclever/De Juan 2007, 10). Auch hier spielt das Verhältnis von Glauben und Wissen wiederum eine zentrale Rolle: Wenn Religionsgemeinschaften institutionalisierte Formen entwickeln, um sich ihre erkenntnistheoretischen Grenzen bewusst zu halten, werden sie weniger instrumentalisierbar für politische Konflikte sein und eine konstruktive Rolle in demokratischen Gesellschaften spielen können. Religionen in bestimmten Zeiten oder in einigen Regionen bis heute eine problematische Rolle in politischen Konflikten spielen. Die Gewaltanfälligkeit von Religion lässt sich dabei als wellenförmig charakterisieren und steht oft in einem engen Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökonomischen Konflikten der jeweiligen Gesellschaften.
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Religion wird in Demokratien mehr und mehr an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren – diese Einschätzung erfreute sich bis in die 1980erJahre sowohl in öffentlichen als auch wissenschaftlichen Debatten einer großen Popularität. Die These war dabei eng verbunden mit der Diskussion um die Moderne und die mit ihr einhergehenden Veränderungen. In vielen Gesellschaften führe die Moderne, so die zugrunde liegende Annahme, durch funktionale Ausdifferenzierung, Individualisierung und Demokratisierung zu gravierenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die auch und besonders die Religion und ihre Institutionen betreffen würden. Die Säkularisierung ist in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Schlagwort geworden. Mit diesem Begriff werden unterschiedliche Phänomene wie die Ablösung der Religion vom Staat einschließlich der Stärkung von positiver wie negative Religionsfreiheit, ein Rückgang des traditionellen religiösen Glaubens und eine Privatisierung von Religion beschrieben. Letztere steht dabei meist in einem engen Wechselverhältnis zur institutionellen Trennung von Staat und Religion und damit zum Modell des politischen Liberalismus. Darüber hinaus impliziert bis heute das Säkularisierungsparadigma meist auch eine politische These, und zwar dass der mit der Säkularisierung einhergehende Bedeutungsverlust von Religion ein notwendiger und begrüßenswerter Entwicklungsschritt demokratischer Gesellschaften hin zu mehr Emanzipation sei. Während die zuerst genannten Aspekte der Säkularisierung größtenteils interdisziplinäre Anerkennung finden, ist die zweitgenannte normative Forderung gegenwärtig umstritten. Denn Religionen, so wird auf einer deskriptiven Ebene eingewendet, spielen nach wie vor auf vielfältige und teils widersprüchliche Weise in öffentlichen Räumen eine wichtige Rolle. Dies zeigt gerade auch ein Blick auf die globale Ebene. In demokratischen Gesellschaften hat mit der Moderne zwar eine Privatisierung und institutionelle Schwächung der traditionellen A
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Religionsgemeinschaften stattgefunden, gleichzeitig weist aber das stark ausdifferenzierte religiöse Feld eine hohe gesellschaftliche und politische Vitalität auf. Darüber hinaus argumentieren seit den 1990-er Jahren auch religiös unmusikalische Wissenschaftler auf der normativ-politischen Ebene, dass Religionen trotz aller politischen Ambivalenz auch in modernen Gesellschaften konstruktive Funktionen ausüben könnten. Deshalb solle auch in dieser Hinsicht nicht das Ende der Religion in Demokratien eingeläutet werden. Die Moderne korrespondiere nicht notwendig mit einem starken Säkularisierungsverständnis, so die Schlussfolgerung, die viele Wissenschaftler aus der Beobachtung von Religion in gegenwärtigen (welt-)gesellschaftlichen Konstellationen ziehen. Als Reaktion auf die Wahrnehmbarkeit von Religion im Kontext säkularer Gesellschaften hat sich in den vergangenen Jahren eine erneute Aufmerksamkeit der Wissenschaften für Religion herausgebildet. Ziel vieler dieser Arbeiten, die in unterschiedlichen Disziplinen ihren Ursprung haben, ist ein differenziertes Säkularisierungsverständnis. Dies gilt sowohl für die Beschreibung der Funktion von Religion in demokratischen Gesellschaften als auch für ihre normative Bewertung. Damit soll Religion auf der theoretischen Ebene in ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen deskriptiv erfasst und gleichzeitig aus normativer Perspektive nicht länger als zu überwindendes Phänomen in Demokratien konzeptualisiert werden. Das Theorem der postsäkularen Gesellschaft, mit dem Habermas die Debatte über die neue Aufmerksamkeit für Religion bis heute prägt, bringt beide Einsichten paradigmatisch zum Ausdruck. Seit Mitte der 1990er-Jahre reflektieren neben Habermas viele weitere Philosophen über Religion und ihre Rolle in modernen Gesellschaften. Diskutiert wird vor allem, wie Religion angesichts der facettenreichen Prozesse der Moderne philosophisch verstanden und welche Rolle ihr dabei aus gesellschaftstheoretischer Perspektive zugestanden werden soll. Die Beschäftigung mit der Religion wird in diesem Zusammenhang auch zu einer Frage des Umgangs mit Pluralität in Demokratietheorien überhaupt. Denn durch die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Religion wird die Bedeutung pluraler weltanschaulicher Positionen und ihrer politischen Bedeutung offenkundig. Weil deutlich wird, dass demokratische Deliberation nicht losgelöst von diesen weltanschaulich geprägten Überzeugungen geführt wird, müssen die theo402
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retischen Grundlagen der Demokratie neu ausgelotet werden. Es geht hierbei vor allem um die Reflexion des Demokratieverständnisses angesichts der Bedeutung von weltanschaulicher Pluralität in politischer Deliberation. Die vorliegende Arbeit widmete sich diesem philosophischen Diskurs über Religion und ihrer Bedeutung in demokratischen Gesellschaften. Die zentrale Frage dabei war, wie Religion und ihre gesellschaftliche Funktion in der gegenwärtigen (politischen) Philosophie verstanden wird, was die zentralen Probleme dieses Diskurses sind und wie diese, unter anderem mit Blick auf frühere Konzeptionen, konstruktiv weitergedacht werden können. Welche Konsequenzen aus der Beschäftigung mit der Religion für das philosophische Nachdenken über Demokratie gezogen werden können, stellte den Zielpunkt des Gedankengangs dar. Die Philosophie, so zeigte sich, kann sowohl zur Analyse und Reflexion der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion als auch zur Klärung der Frage, wie Demokratie angesichts pluraler weltanschaulicher Konstellationen verstanden werden kann, wichtige Beiträge leisten. Die untersuchte philosophische Debatte über Religion nimmt ihren Ausgang von der politischen Philosophie, weil aus dieser Perspektive vor allem die gesellschaftliche und politische Funktion von Religion analysiert und erklärt werden kann. An vielen Stellen zeigt sich allerdings, dass eine Beschränkung auf Argumente der politischen Philosophie zur Reflexion der Fragestellung dieser Arbeit zu kurz greift. Deshalb wurden metaphysische, erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Ansätze und Argumente in den Gedankengang integriert. Außerdem wurde auf Theorietraditionen anderer Disziplinen Bezug genommen, die für den Diskurs ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, wie beispielsweise die Religionstheorie soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Provenienz. Eine Rekonstruktion und kritische Diskussion des aktuellen (politisch-)philosophischen Diskurses über Religion und ihre gesellschaftlich-politische Funktion war das Ziel des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. Dazu wurden sowohl verschiedene Religionsauffassungen als auch die damit verbundenen Konzeptionen von Gesellschaft und demokratischer Deliberation herausgearbeitet. Um eine möglichst umfassende Analyse des Diskurses zu ermöglichen, wurden Ansätze aus unterschiedlichen Theorietraditionen für die Rekonstruktion ausgewählt, und zwar deliberative Demokratietheorie (Jürgen Habermas), A
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liberal orientierter Pragmatismus (Richard Rorty), Kommunitarismus (Michael Walzer), Systemtheorie (Niklas Luhmann), Dekonstruktivismus (Jacques Derrida) und schließlich Hermeneutik (Gianni Vattimo). Diese Autoren eröffnen je unterschiedliche Zugänge zur Fragestellung dieser Studie. Die kritischen Analysen zeigten dabei Stärken und Schwächen der jeweiligen Ansätze und belegten die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Diskurses. Habermas’ Rede von der postsäkularen Gesellschaft: Das große Verdienst von Habermas ist es, den Diskurs über die gesellschaftliche Rolle von Religion seit den 1990er-Jahren angestoßen und wichtige Problemstellen benannt zu haben. Mit seinem Nachdenken über postsäkulare Konstellationen macht er auf die bleibende Bedeutung von Religion in den Demokratien der Moderne aufmerksam. Um diese konstruktiv in Deliberationsprozesse zu integrieren, sind seiner Ansicht nach religiöse und säkulare Bürger zu wechselseitigen Übersetzungen ihrer Überzeugungen herausgefordert. Für Habermas als politischer Philosoph besteht die Bedeutung der Religionen darin, dass sie humanitätsverbürgende Potenziale implizieren, die auch für moderne Gesellschaften, die zum Teil pathologische Züge aufweisen (unter anderem Kolonialisierung der Lebenswelt und Tendenzen der Entsolidarisierung), hilfreich sein können. Die Begrenzung der Konzeption von Habermas besteht darin, dass seine Argumentation in eine moralische Funktionalisierung von Religion mündet. Außerdem betont Habermas bezüglich seines Verständnisses öffentlicher Deliberation die Notwendigkeit eines neutral-säkularen Konsenses im politischen Feld zu stark. Damit werden religiöse Aussagen nach wie vor gesellschaftlich zu wenig berücksichtigt. Religiöse Überzeugungen werden für den säkularen Bürger als opak interpretiert und deshalb als Teil der Ethik in den Bereich des Privaten abgeschoben, was weder der Religion selbst gerecht wird, noch eine angemessene Anerkennung pluraler Argumentationsspiele in Demokratien darstellt. Rortys liberaler Antiklerikalismus: Rorty bringt eine pragmatistische Deutung von Wahrheit und Erkenntnis in den gegenwärtigen philosophischen Diskurs ein. Er fordert die Aufgabe einer umfassenden Wahrheitstheorie und argumentiert für die Unabschließbarkeit philosophischen Vokabulars. Die Konzeption des Antiklerikalismus, die auf diesen neopragmatistischen Grundlagen aufbaut, fokussiert auf die politische Ambivalenz der Religion, die in ihren universalen, meta404
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physischen und anthropologischen Aussagen begründet sei, so Rorty. Als politischer Philosoph will Rorty Religion deshalb in normativer Hinsicht auf das Private reduzieren. In diesem Bereich kann Religion Orientierungen zur individuellen Selbsterschaffung geben. Die Begrenzung seiner Konzeption liegt darin, dass er in politischphilosophischer Hinsicht einen starken Liberalismus vertritt, der notwendigerweise ethnozentrische Züge annimmt und der Pluralität von Meinungen in der politischen Öffentlichkeit aufgrund eines hohen Ideals von säkularer Neutralität zu wenig Beachtung schenkt. Deshalb muss er Religion als eine Bedrohung für Demokratien interpretieren. Lediglich als romantische Hoffnung könne Religion Beiträge für ein friedliches Zusammenleben in modernen Gesellschaften leisten, allerdings nur in Form einer privaten Selbsterschaffung. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang außerdem die strikte Trennung von privat und öffentlich, die es empirisch wie systematisch kritisch zu hinterfragen gilt. Walzers kommunitaristische Deutung von Religion: Walzers Ansatz steht in der Tradition des Kommunitarismus. Religion ist aus dieser Sicht ein integraler Bestandteil der Geschichte und kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft und prägt daher unweigerlich deren Vorstellungen von Moral und Politik. Dies verdeutlicht Walzer am Beispiel des Judentums und des Exodus-Motivs aus der jüdischen Geschichte. Damit kann er die kulturelle Verankerung der Religion im politischen Leben nachzeichnen. Gleichzeitig weist Walzer auf die Notwendigkeit einer liberalen Grenzziehung von Religion und Politik hin, die entsprechend der Gedankenfigur von der Kunst der Trennung immer wieder neu überdacht werden muss. Als politischer Philosoph interpretiert Walzer die Religion also einerseits als integralen Bestandteil moderner Gesellschaften und ihrer kulturellen Formationen. Andererseits plädiert er für eine liberale Trennung von Religion und Politik, die je neu auszuhandeln ist. Es bleibt allerdings in Walzers Überlegungen oft unklar, wie genau das Wechselspiel von Kommunitarismus und Liberalismus, gerade im Konfliktfall, gestaltet werden kann und soll. Zum Beispiel lässt er die Frage unbeantwortet, welche Bedeutung der Pluralität weltanschaulicher Traditionen im politischen Raum genau zukommt. Die grundlegende Spannung zwischen Kommunitarismus und Liberalismus, der sich Walzer zu stellen versucht, spiegelt sich damit auch in seiner Sichtweise auf Religion in demokratischen Gesellschaften wider. A
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Religion als Systemkommunikation bei Luhmann: Luhmann bestimmt Religion vor dem Hintergrund des Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften als eine Systemkommunikation, die mit dem Code von Transzendenz und Immanenz operiert. Damit etabliert er einen weiten Religionsbegriff, der einen moralischen Funktionalismus umgeht. Religion wird sowohl in ihrer grundlegenden Logik als auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion erklärbar. Als Soziologe und politischer Philosoph betont Luhmann explizit die Funktion von Religion in modernen Gesellschaften, die darin besteht, der Gesellschaft eine Kommunikationsform bereitzustellen, um die Kontingenz von Sinn thematisieren zu können. Die Begrenzung dieses Zugangs liegt darin, dass der weite Religionsbegriff Gefahr läuft, die konkrete Gestalt des Religiösen nicht mehr in den Blick nehmen zu können, beispielsweise was ihre kulturelle Ausdifferenzierung angeht. Weil Luhmann mit der Gedankenfigur der Autopoiesis die operative Geschlossenheit der Teilsysteme stark betont, kann er außerdem nur noch bedingt die Funktion der Religion in anderen Bereichen gesellschaftlicher Wirklichkeit erklären (beispielsweise in Kultur oder Politik). Derridas Dekonstruktion der Wiederkehr der Religion: Derridas Nachdenken über Religion weist vor allem auf ihre Mehrdimensionalität hin. Dies gilt gleichermaßen für den ethischen Bereich von Religion (Khôra und Messianismus) wie ihre erkenntnistheoretische Dimension (Glauben und Wissen). In der jüdischen Tradition stehend, eröffnet Derrida eine Innenansicht der Religion. Er arbeitet heraus, dass es der Religion um eine fortlaufende Wiederholung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz geht, beispielsweise in Form von religiösen Riten. Religion baut hierbei nicht auf einfachen Gegensätzen auf (hier die Vernunft und dort der Glaube), sondern es geht ihr vielmehr um eine Wechselbeziehung zwischen Immanenz und Transzendenz. In der Thematisierung des radikal Anderen und in der Reflexion der Unaussprechbarkeit Gottes zeigt sich für Derrida eine strukturelle Nähe von Religion und Philosophie, wobei beide Seiten im Gespräch voneinander lernen können. Als (politischer) Philosoph ist Derrida vor allem am Wissen der Religionen darüber interessiert, wie über das Unaussprechbare gesprochen werden kann und wie Religionen angesichts von Globalisierung und Technisierung mit diesem Wissen umgehen. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Derrida zwar die kulturel406
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le Bedingtheit des Diskurses über Religion in den Blick nimmt, diese aber nicht in einem interkulturellen bzw. interreligiösen Sinne zu überwinden vermag. Eine Religion ohne Religion, die von allen Inhalten absieht und Gott als den radikal Anderen wiederholend zum Ausdruck bringt, steht zudem in der Gefahr, inhaltsleer zu werden und damit den umfassenden Charakter des Religiösen zu verfehlen. Religion als Ursprung des schwachen Denkens – die hermeneutische Sichtweise Vattimos: Vattimos hermeneutischer Ansatz versteht sich als Kritik an traditioneller Metaphysik und zielt auf ein schwaches Denken. Dieses zeigt sich zum Beispiel als eine hermeneutisch begründete Kritik an einem korrespondenztheoretischen Verständnis von Wahrheit. Stattdessen betont Vattimo die Vielfalt der Erscheinungen und Erzählungen. Gerade dadurch soll die Tendenz des metaphysischen Denkens zur Gewalt unterbunden werden. Den Ursprung eines solchen schwachen Denkens sieht Vattimo im Christentum, und zwar in der kénosis Gottes. Mit ihr kann eine überzogene Metaphysik überwunden und Gott als Freundschaft und Liebe interpretiert werden. Die neue Aufmerksamkeit für Religion ist für Vattimo eine notwendige Konsequenz der kénosis, weil Religion postmodernes Denken überhaupt erst ermöglicht hat. Als (politischer) Philosoph deutet Vattimo Religion als Grundlage des schwachen Denkens, weil erst durch die Menschwerdung Gottes überzogene Wahrheitsansprüche kritisierbar und das Liebesgebot begründbar werden. Die Begrenzung des Ansatzes von Vattimo liegt – unabhängig von Fragen der Konsistenz seiner Interpretationen biblischer und philosophischer Quellen – in der religionsphilosophischen Deutung der kénosis und des Liebesgebotes. Religion ist nämlich nicht nur schwaches Denken im Sinne einer Anerkennung von Pluralität, sondern sie beinhaltet mit Rekurs auf eine bestimme Deutung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz immer auch materiale Überzeugungen. Die Fixierung auf das Christentum als einzige Form des schwachen Denkens erscheint außerdem aus einer globalen Perspektive als eine weitere Begrenzung des Ansatzes von Vattimo. Die Schlussfolgerung, dass die Postmoderne auf dem Christentum aufbaut, ist deshalb historisch wie systematisch kritisch zu hinterfragen. Damit sind zentrale Zugänge zur Religion und ihrer sozialen Funktion benannt und erste Begrenzungen markiert. Vergleicht man die Ansätze und nimmt man damit den Diskurs über Religion insgesamt in den Blick, kristallisieren sich fünf Problemfelder heraus: A
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• die tendenzielle Ausblendung einer religionsphilosophischen Innensicht auf Religion, • eine damit verbundene strikte Trennung von Glauben und Wissen, • ein moralischer Funktionalismus bzw. Reduktionismus, • eine Ausblendung des Verhältnisses von Religion und Kultur und • eine oftmals zögerliche Anerkennung der Religion als integralen Bestandteil pluraler Begründungsspiele in demokratischer Deliberation. Um an diesen Problemen anzusetzen und mögliche Erweiterungen für den aktuellen Diskurs vorschlagen zu können, wurde im weiteren Argumentationsgang der Arbeit zuerst auf drei philosophiehistorische Ansätze Bezug genommen, und zwar auf die Interpretationen von Religion bei Nikolaus von Kues, Friedrich Schleiermacher und John Dewey. Von diesen drei Autoren können konstruktive Anregungen für die Weiterführung der gegenwärtigen Debatte ausgehen. Ein wichtiger Impuls besteht darin, dass mit ihnen eine religionsphilosophische Innensicht auf Religion eröffnet werden kann, die in vielen aktuellen Ansätzen fehlt. Die in allen rekonstruierten Ansätzen betonte Metaphysikkritik führt nämlich dazu, dass eine solche religionsphilosophische Reflexion auf die Grundlagen der Religionen meist von vornherein ausgeschlossen wird. Dies zeigte sich als eine Begrenzung des aktuellen Diskurses, die mit Rekurs auf Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey überwunden werden kann. Religion – so die Kernthese, welche diese drei Autoren vor dem Hintergrund unterschiedlicher Epochen und philosophischer Ausgangspositionen entfalten – thematisiert die Frage, wie das unverfügbare Absolute zum Ausdruck gebracht werden kann, sei es sprachlichreflexiv oder symbolhaft-rituell. Religionen sehen sich hierbei einem scheinbaren Dilemma gegenüber: Einerseits kann dieses Absolute reflexiv niemals vollständig eingeholt werden, andererseits zielen sie aber sehr wohl auf materiale und vernünftige Aussagen über das Absolute. Deshalb ziehen die drei Philosophen in unterschiedlicher Weise die Schlussfolgerung, dass über das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens gesprochen werden sollte. Eine adäquate Gottesrede muss sich einerseits um eine rationale Verständigung bemühen, andererseits aber auch um deren Grenzen wissen – diese Einsicht kann mit allen drei Autoren in den aktuellen Diskurs eingebracht werden. Eine so verstandene Religionstheorie intendiert kein Abdanken der Vernunft, sondern einen ver408
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nunftkritisch geschulten Umgang mit dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses kann Religion nicht auf unvernünftige Glaubensüberzeugungen reduziert werden. Deshalb sollten Glauben und Wissen nicht strikt getrennt werden, wie dies zum Beispiel Habermas oder Rorty vorschlagen. Religion impliziert vielmehr entsprechend der Gedankenfigur der docta ignorantia vernünftige Überzeugungen über das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, aus denen materiale Aussagen, zum Beispiel über Gott als Absolutes, begründet werden können. Religionen – so lässt sich nun in Rückgriff auf Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey formulieren – sind sprachliche und symbolhafte Ausdrucksformen, die das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens thematisieren. Dabei konstituiert Religion gleichzeitig eine soziale Praxis, die einen umfassenden Anspruch an die religiösen Menschen stellt. Religiöse Überzeugungen haben hierbei in der Sichtweise von Schleiermacher oder Dewey aufgrund ihres umfassenden Erfahrungscharakters vielfältige Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen. Religionen sind nämlich auch Anleitungen zu einer umfassenden sozialen Lebenspraxis. Die religiösen Interpretationen des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz haben in dieser Hinsicht nicht nur eine Bedeutung für die individuelle Alltagswelt der Gläubigen, sondern auch für die gesellschaftliche Realität. Denn Religion zielt nicht nur auf eine individuelle Selbsterschaffung oder den existenziellen Bereich der praktischen Vernunft im habermasschen Sinne, sondern sie will privates und öffentliches Leben gleichermaßen prägen. Religion als soziale Praxis ist dabei in einem Netz von Überzeugungen immer mit säkularen Argumenten verwoben. Glauben und Wissen können deshalb auch in dieser Außensicht auf Religion als soziale Praxis nicht strikt voneinander geschieden werden, sondern beide sind wechselseitig aufeinander bezogen. Mit Rekurs auf das Verständnis der Religion als eine soziale Praxis kann noch ein anderer wichtiger Aspekt in den gegenwärtigen Diskurs eingebracht werden, der sich ebenfalls auf die Außensicht auf Religion bezieht. Wird Religion als umfassende soziale Praxis verstanden, so wird offenkundig, dass sie sowohl auf der individuellen als auch der sozialen Ebene unterschiedliche Funktionen übernimmt. Deswegen darf Religion nicht auf ihre moralische Dimension reduziert werden, nicht zuletzt auch deswegen, weil eine solche Betrachtung immer GeA
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fahr läuft, das Phänomen des Religiösen zu verkürzen oder für gesellschaftliche Probleme zu instrumentalisieren. Religion ist deswegen auf der theoretischen Ebene multifunktional zu erklären. Dabei darf allerdings gleichzeitig die moralische Funktion der Religion nicht unberücksichtigt bleiben, wie das zum Beispiel in systemtheoretischen Konzeptionen der Fall ist. Als Bestandteil des Sittlichen einer Gesellschaft können Religionen sehr wohl wichtige Impulse für die Reflexion und Begründung umstrittener moralischer Fragen geben. Aus der theoretischen Beschäftigung mit Religion ergibt sich deshalb in diesem Zusammenhang ein wichtiger Impuls für die politische Philosophie insgesamt: Moralität und Sittlichkeit können im Sinne Hegels nicht eindeutig getrennt werden, sondern die Begründung gesellschaftlicher Normen ist immer auf die verschiedenen Sphären der Sittlichkeit bezogen – gerade dies wird mit Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung von Religion deutlich. In gesellschaftlichen Prozessen differenzieren sich Religionen immer kulturell aus, dies ist ein weiterer Aspekt, auf den Nikolaus von Kues, Schleiermacher und Dewey gleichermaßen hinweisen. Die Unterschiede zwischen den Glaubensüberzeugungen begründen sich aus den jeweiligen Bezügen zu geschichtlich-kulturellen Räumen bzw. Referenzpunkten. Diese Außenperspektive auf die kulturelle Ausdifferenzierung von Religion hängt wiederum mit dem skizzierten Religionsverständnis zusammen. Weil das Absolute niemals reflexiv eingeholt werden kann, sind Religionen auf die sprachlichen und kulturellen Formen angewiesen, innerhalb derer das Absolute thematisiert wird. Religion und Kultur sind also sowohl als eigenständige Bereiche menschlicher Vergesellschaftung als auch in ihren wechselseitigen Bezügen wahrzunehmen. Dabei darf weder Religion auf Kultur (oder Kultur auf Religion) reduziert werden, noch dürfen beide aus der Analyse weltgesellschaftlicher Strukturen ausgeschlossen werden. Die äußeren Formen von Religionen stehen immer im Wechselverhältnis zu den kulturellen Traditionen, in denen sie auftreten. Deshalb weist Religion, verstanden als soziale Praxis, notwendigerweise vielfältige kulturelle Prägungen auf. Will Religion sich vollständig von diesen kulturellen Prägungen lösen, läuft sie Gefahr, fundamentalistische Züge anzunehmen. Vor dem Hintergrund dieses Wechselverhältnisses von Religion und Kultur sind Religionen ambivalente Phänomene, weil sie ihre erkenntnistheoretischen Grenzen missachten und sich gewaltsam für die 410
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Absolutsetzung ihrer Überzeugungen oder moralischen Ideale einsetzen können. Das hohe Motivationspotenzial, das Religionen aufgrund ihres Bezugs zum Absoluten für Gläubige entfalten können, kann diese Ambivalenz noch verstärken. Werden dagegen die kulturellen Bedingungen der religiösen Formen und die genannten epistemologischen Implikationen ernst genommen, können Religionen konstruktiv in den politischen Prozess integriert werden, und es kann einer Instrumentalisierung religiöser Überzeugungen vorgebeugt werden. Sowohl gesamtgesellschaftlich als auch innerreligiös sind hierzu Formen von Toleranz einzuüben und strukturell zu etablieren. Damit ist schlussendlich noch einmal die Frage nach der Rolle von Religion als Religionsgemeinschaft im politischen Raum gestellt. In dieser Hinsicht sind Religionen Bestandteil der Zivilgesellschaft. Aufgrund der Zurückweisung eines starken politischen Liberalismus und einer Anerkennung der Vernünftigkeit von weltanschaulich geprägten Überzeugungen können Religionen nun, verstanden als soziale Praktiken mit kulturellen Prägungen, im zivilgesellschaftlichen Raum ernster genommen werden, als dies in einigen Ansätzen im gegenwärtigen Diskurs der Fall ist. Das Nachdenken über Religion und ihre gesellschaftliche Funktion führt dabei zu einem Verständnis von Politik und Demokratie, in dem die Pluralität politischer Meinungen – auch wenn sie weltanschaulich geprägt sind – nicht als sekundäres Anhängsel, sondern als primäre Basis demokratischer Deliberation interpretiert wird. Gerade die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Religion fordert die politische Philosophie heraus, einen solchen Pluralismus nicht nur als reines Faktum, sondern als notwendigen und konstruktiven Bestandteil öffentlicher Diskurse zu interpretieren. Die Integration weltanschaulich geprägter Begründungsspiele in den unabschließbaren Prozess der Demokratie im Sinne Derridas ist vor dem Hintergrund des entfalteten Gedankengangs wichtig und sinnvoll. Politische Philosophie ist nicht zeitlos, sondern immer eingebettet in gesellschaftliche und politische Kontexte. Dass sich die politische Philosophie heute der Frage nach der Religion im Kontext der Säkularisierung zuwendet, ist zum großen Teil den gegenwärtigen (welt-)gesellschaftlichen Dynamiken geschuldet. Die politische Dimension der Philosophie besteht darin, dass sie solche Fragen aufgreift und verarbeitet. Damit hat die Philosophie aber auch selbst gesellschaftliche Folgen, weil sie durch die Reflexion der sozialen Wirklichkeit des Menschen neue Sichtweisen erschließt, die ihrerseits vielfältige AuswirA
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kungen haben können. Indem die politische Philosophie heute Religion thematisiert, bearbeitet sie also nicht nur reflexiv eine aktuelle gesellschaftliche Veränderung, sondern prägt damit auch diesen Prozess selbst. Es geht für die politische Philosophie aus Sicht der vorliegenden Studie in diesem Zusammenhang vor allem um eine konstruktive Einbindung weltanschaulicher Überzeugungen und Akteure in den Prozess demokratischer Deliberation.
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