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German Pages 152 Year 2021
Religion im Transit
Religion im Transit Transformationsprozesse im Kontext von Migration und Religion Herausgegeben von Katharina Muth, Michael Wermke, Gisela Mettele
ISBN 978-3-11-067130-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067338-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067341-8 Library of Congress Control Number: 2020951093 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlag: Pilgrim Fathers leaving England, Tony Baggett, 1866. Adobe Stock Photos. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Katharina Muth, Michael Wermke, Gisela Mettele Geschichte, Identität, Wandel – einleitende Gedanken über den Zusammenhang von Migration und Religion 1
Übergreifende Diskurslinien Alexander-Kenneth Nagel, Göttingen Migration und religiöser Wandel in der Frühen Neuzeit und heute: 9 Religionssoziologische Perspektiven
Transiträume Gisela Mettele, Jena Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert
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Katharina Breidenbach, Jena Reisekommissare und Pastoren – weltliche und geistliche Migrant*innenbegleiter im Netzwerk der Salzburger Amerikaemigration (1733 – 1741) 45 Alexander Schunka, Berlin Flucht finanzieren. Ökonomische Aspekte religiöser Migration in der Frühen Neuzeit 63
Diaspora Susanne Lachenicht, Bayreuth Frühneuzeitliche Diasporen und „Nationsbildung“
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Wolfgang Breul, Mainz Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora
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Inhalt
Hartmut Lehmann, Kiel Die Altlutheraner im Hinterland von Adelaide
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Identität Michael Wermke, Jena Anschreiben gegen das Vergessen – Erinnerungen an den Lehrer und 127 Fluchthelfer Kurt Silberpfennig Personenregister Sachregister
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Katharina Muth, Michael Wermke, Gisela Mettele
Geschichte, Identität, Wandel – einleitende Gedanken über den Zusammenhang von Migration und Religion Im dänischen Pavillon auf der Biennale 2019 in Venedig wurde in mehreren Räumen eine Kunstinstallation der in Ost-Jerusalem geborenen Künstlerin Larissa Sansour und ihrem Kollegen Søren Lind mit dem Titel Heirloom (Erbstück) präsentiert.¹ Im Mittelpunkt der Installation steht der Film In Vitro. Der 25-minütige Film spielt in einem unterirdischen Bunker, angelegt unter der biblischen Stadt Bethlehem. Nachdem nach einem ökologischen Desaster die Welt zerstört wurde, wird hier neues Leben gezeugt. Zwei Frauen treffen sich dort. Die ältere liegt im Bett und ist sterbenskrank. Zwischen ihr und der jüngeren Frau, die die alte Welt nur noch aus Erzählungen kennt, entwickelt sich ein Dialog über Exil, kollektives Gedächtnis und vererbtes Trauma. Sie sprechen miteinander, sie streiten sich, sie fragen nach der Zukunft. Ihr Gespräch wird durchdrungen von Erinnerungsfetzen: eine glückliche Kindheit; eine Olivenernte; und dann das Grauen des Krieges, Vertreibung und Flucht, das Desaster. Die beiden Frauen fragen sich: Was bedeuten Erzählungen über Geschichte, Zugehörigkeit und Erbe angesichts der Zerstörung der alten Welt und der Migration in eine neue Welt, die uns nur Unsicherheit bereithält? Ist es sinnvoll, an Überresten der Vergangenheit festzuhalten und deren Mythen und Konstruktionen zu reproduzieren? Inwieweit sind wir durch unsere Geschichte bestimmt oder wurzelt das Überleben in etwas Anderem? Sind wir tatsächlich nur die Summe unserer Geschichten oder sind wir nicht vielmehr auf die Zukunft hin entworfen? Die jüngere Frau: „Ich bin aufgewachsen in Wehmut und Heimweh. Der Löffel der Vergangenheit fütterte mich. Meine eigenen Erinnerungen wurden durch die der anderen ersetzt.“ Die ältere Frau: „Bald wird das, was wir hier erreicht haben, einen eigenen Mythos erschaffen.“ Die jüngere Frau: „Dieser Platz ist dein Exil, nicht meins.
Siehe La Biennale di Venezia 2019 (Ed.): May You Live in Interesting Times. Biennale Arte 2019 (Short Guide), Venice 2019, 226. Eine gekürzte Version des Films findet sich unter https://vimeo. com/346380549 (Zugriff: 16.08. 2020). https://doi.org/10.1515/9783110673388-001
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Katharina Muth, Michael Wermke, Gisela Mettele
Mich kümmern deine Völker nicht. Diese Düfte, dieser Stoff, diese Geschichte reduziert auf Symbole und Ikonographie. Eine Liturgie, die unsere Verluste begleitet. Diese Plagen, diese Desaster, dieser Exodus.“ Die ältere Frau: „… und jeder Exodus davor.“
Der Film, in schwarz-weiß und in einer Zwei-Kanal-Film-Technik gedreht, zwingt scheinbar den Betrachter*innen eine Entscheidung auf, schwarz oder weiß, richtig oder falsch.Vergangenheit oder Zukunft. Die ältere Frau, die Memoria, wird am Ende sterben. Die jüngere Frau weiß aber bereits zu viel von ihr, um ohne die Erinnerungen und Geschichten der anderen leben zu können. Die Filmhandlung ist in Bethlehem angesiedelt. Es ist der Geburtsort Jesu Christi, dem Nachkommen des jüdischen Königs David; die Stadt gehört heute zum muslimisch geprägten Palästina und liegt genau an der Grenze zu Israel – zwischen zwei Völkern, in deren Geschichte Flucht und Vertreibung tief eingeschrieben sind. Zwei Völker, die miteinander in einem tiefen Konflikt leben. Ein Konflikt, dessen Ursachen mehr als ein langes Menschenleben zurückreichen und die die Menschen in Israel und Palästina nur noch aus ihren Geschichten kennen. „Meine eigenen Erinnerungen wurden durch die der anderen ersetzt.“ Wäre es also nicht gefordert, wir folgten dem Rat der jüngeren Frau und hörten auf, uns diese alten Geschichten zu erzählen und uns für die Streitigkeiten unserer Groß- und Urgroßeltern instrumentalisieren zu lassen? Wie wäre es, wenn wir all unsere Geschichten von früher beiseite packten und uns auf die Geschichte von morgen und übermorgen konzentrierten? Wenn wir über das universelle Versprechen von Bethlehem, „dass Friede sei unter allen Menschen auf Erden“, nachdächten und unsere Geschichte als eine Geschichte auf die Verheißung hin schrieben? Nein; selbst dieses Unterfangen wäre doch zu einfach. Allein, weil die Erinnerung die einzige Möglichkeit ist, den Opfern der Geschichte ein Stück ihrer geraubten Würde zurück zu geben. Und, es ist so, wie es die ältere Frau sagt: Wir wissen bereits zu viel von der Geschichte, um uns von ihr dispensieren zu können. Der vorliegende Tagungsband Religion im Transit. Transformationsprozesse im Kontext von Migration und Religion, der auf der vom Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB) der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichteten gleichnamigen Tagung im November 2019 basiert, berichtet viel über Vertreibung,Verlust und Heimatlosigkeit, aber er fragt auch danach, was uns unsere Geschichten – trotz allem – an Vertrauen, Hoffnung und Lebenszuversicht geben können.
Einleitende Gedanken über Religion und Migration
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Die Erforschung der vielschichtigen und ambivalenten Wechselwirkungen, die mit den Phänomenen Migration und Religion verbunden sind, ist Teil eines hoch aktuellen und zentralen Forschungsgebiets, welches wesentlich zum Verständnis von Globalisierungsprozessen und Integrationsmustern beitragen kann. Die verschiedenen Beiträge dieses Bandes bringen religionspädagogische, kirchen- und profangeschichtliche, kultur- und religionswissenschaftliche Forschungen in einen fruchtbaren, interdisziplinären Dialog miteinander. Dabei wird der Zusammenhang zwischen historischer, systematischer und empirischer Forschung hergestellt. Einen Bezugspunkt stellt die aktuelle, interdisziplinäre Migrationsforschung dar, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen verschiedene Gründe, Ursachen, Netzwerke und Handlungsräume von Migrationen und Migrant*innen erfasst. Diese werden hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit religiösen Transformationsprozessen innerhalb der drei Kapitel Transiträume, Diaspora und Identität analysiert. Eingeleitet wird der Band durch den Beitrag von Alexander-Kenneth Nagel Migration und religiöser Wandel in der Frühen Neuzeit und heute: Religionssoziologische Perspektiven. Während die Beiträge der drei Kapitel in erster Linie konkrete Migrant*innengruppen in den Blick nehmen, stellt der Beitrag von Nagel die Frage nach Transformationsprozessen im Kontext von Religion und Migration aus kultursoziologischer Perspektive auf der Metaebene und zeichnet übergreifende Diskurslinien der Beiträge nach. Dabei werden Anknüpfungspunkte und Überschneidungen zwischen sozialwissenschaftlichen und historischen Perspektiven deutlich. Der Beitrag leistet darüber hinaus eine Systematisierung religiöser Wandlungsprozesse im Migrationskontext und lässt sich als ein Plädoyer für eine stärker diachrone und interdisziplinäre Perspektive auf diese Prozesse lesen. Im Kapitel Transiträume werden Studien zu religiös motivierten Migrationen in der Frühen Neuzeit vorgestellt. Den Reigen eröffnet Gisela Mettele mit ihrem Beitrag Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert, der sich mit den unterschiedlichen Glaubenserfahrungen Herrnhuter Christ*innen während ihrer langen und gefährlichen interkontinentalen Seereisen befasst. Um die eigene religiöse Identität gegenüber einer „Zwangsökumene“ an Bord zu wahren, erwarb die Brüdergemeine jeweils eigene Schiffe für die Überfahrt. Das Schiff auf hoher See entwickelte sich zu einem Idealbild für das pilgernde Volk Gottes und das Meer zum Ort der Glaubensanfechtung aber auch der besonderen Nähe zu Gott. Dem schließt sich der Beitrag Reisekommissare und Pastoren – weltliche und geistliche Migrant*innenbegleiter im Netzwerk der Salzburger Amerikaemigration (1733 – 1741) von Katharina Breidenbach an. Anhand der Berichte der Reisekommissare und Pastoren, die ab den 1730er Jahren die Salzburger Emigranten nach Nordamerika begleiteten, zeigt sie auf, welche Bedeutung personelle Strukturen für frühneuzeitliche Migrationen hatten und in welche Machtkonstellationen und Netzwerke diese Personen eingebunden waren. Alexander Schunka richtet in seinem Beitrag Flucht finanzieren.
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Katharina Muth, Michael Wermke, Gisela Mettele
Ökonomische Aspekte religiöser Migration in der Frühen Neuzeit sein Augenmerk auf ökonomische Aspekte der Migration. Schunka hinterfragt bekannte Narrative und zeigt auf, wie auch die teils prekäre Wirtschaftssituation konfessioneller Migrant*innen zu einer Stimulation bestimmter Migrationsmotive führten. Im Kapitel Diaspora zeigt der Beitrag Frühneuzeitliche Diasporen und „Nationsbildung“ von Susanne Lachenicht eindrücklich, wie Flucht, Vertreibung und Exil durch Fremd- und Selbstzuschreibungen zu neuen Kollektiven und neuen frühneuzeitlichen Nationsbildungen geführt haben. Lachenicht verdeutlicht dies an den Beispielen der Migrationen der Hugenott*innen und sephardischen Jüdinnen und Juden. Dabei arbeitet sie heraus, wie ihre Überlegungen unseren Blick auf aktuelle Ereignisse beeinflussen können. Im zweiten Beitrag dieses Kapitels stellt Wolfgang Breul unter dem Titel Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora die Konzeption der Herrnhuter Diaspora vor. Er macht deutlich, wie die Herrnhuter*innen sich den Begriff Diaspora aneigneten und wie dieser mit der Mobilität der Gemeine verbunden war. Dabei arbeitet er anschaulich heraus, wie sich die brüderische Diaspora im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte und welcher Umgang mit anderen Konfessionen gepflegt wurde. Hartmut Lehmann zeichnet das Kapitel abschließend in seinem Beitrag Die Altlutheraner im Hinterland von Adelaide die Bildung einer religiösen Diaspora im 19. Jahrhundert nach, welche sich zunächst von ihren deutschen Glaubensgenoss*innen und auch von der australischen Gesellschaft entschieden abgrenzte. Dabei werden zum einen die religiösen Spannungen innerhalb der Diaspora deutlich und zum anderen, wie sich die australischen Altlutheraner später in das internationale Netzwerk der Diaspora einfügten. Der Beitrag Anschreiben gegen das Vergessen – Erinnerungen an den Lehrer, Jugendfunktionär und Fluchthelfer Kurt Silberpfennig von Michael Wermke im Kapitel Identität beschließt den Band. Wermke nimmt seine Leser*innen mit auf die Suche nach einem jüdischen Pädagogen, der die Flucht Jugendlicher aus NSDeutschland organisierte. Er zeigt auf, was der Umstand für das Selbstverständnis der Hinterbliebenen bedeutet, dass sie in den sogenannten Wiedergutmachungsverfahren angewiesen sind, die Verbrechen nachzuweisen, um eine Anerkennung des erlebten Unrechts zu erhalten. Offensichtlich wird die unbedingte Abhängigkeit von behördlicher Macht, die bis in die Gegenwart Realität ist. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass Religion in sehr unterschiedlichen Weisen Quelle von Sinn- und Identitätsstiftung in Migrationsprozessen sein kann. Migrationserfahrungen können religiöse Bindungen intensivieren und radikalisieren, aber auch privatisieren und relativieren oder sogar zu religiösen Innovationen veranlassen. Im Spannungsfeld von Ausgrenzung und Integration wäre neben der Binnensicht auf migrantische Communities und dem Funktionieren ihrer internen Netzwerke auch nach der Durchlässigkeit der Grenzen nach außen zu fragen.
Einleitende Gedanken über Religion und Migration
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Wie sich Glaubensvorstellungen, Rituale und religiöse Zugehörigkeiten in verschiedenen freiwilligen und unfreiwilligen Migrationskontexten verändern, gilt es nicht zuletzt in intersektionaler Perspektive zu untersuchen. So kann Religion zur Verfestigung von etablierten Geschlechterrollen und – etwa in der Sicht von außen auf migrantische Gruppen – zu Stereotypisierungen beitragen. Migrationsprozesse können religiöse Genderidentitäten aber auch fluide bzw. hybrid werden lassen. Mit der Frage nach der Bedeutung des Generationenwechsels schließt sich gewissermaßen der Kreis zum fiktiven Dialog der beiden Frauen im Film Heirloom. Kanonisierung, Neuerfindung bzw. Neudeutung, Verschriftlichung und Verfügbarmachung von Erinnerungen bilden wichtige Dimensionen bei der diskursiven Konstruktion von religiösen Zugehörigkeiten in Migrationsprozessen. Wie wird das religiöse Erbe weitergegeben? Wer erzählt wem wann welche Geschichten? Wie wird das Fremde und das Eigene vor dem Hintergrund einer mobilen Matrix jeweils definiert bzw. neu justiert? Die Beiträge in diesem Band nähern sich anhand von Beispielen aus verschiedenen Epochen auch diesen Fragen an und wollen darüber hinaus zu weiteren Forschungen zum komplexen Verhältnis von Religion und Migration anregen. Wir danken den Autor*innen für die Bereitstellung ihrer Manuskripte, sowie Frau Frederieke Schmidt für deren Bearbeitung. Ebenso danken wir der ausgesprochen kompetenten und zuverlässigen Betreuung durch Frau Katrin Mittmann und Frau Dr. Sophie Wagenhofer vom De Gruyter Verlag. Der Ernst-Abbe-Stiftung in Jena, der Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, dem Forum for the Study of the Global Condition, der Gesellschaft der Freunde und Förderer der FriedrichSchiller-Universität Jena sowie dem Entwicklungsbereich Globale Wissenstransfers und translokale Paradoxien der Profillinie Liberty der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist für die großzügige Unterstützung und Finanzierung sowohl der Tagung als auch des vorliegenden Bandes zu danken. Abschließend sei uns noch ein Vermerk zur Genderweise erlaubt: Auf Basis der Überzeugung, dass nicht nur die Welt die Sprache, sondern auch die Sprache die Welt wesentlich bedingt, haben wir uns darum bemüht, auch sprachlich konsequent beide Geschlechter abzubilden. Dies ist im Kontext historischer Forschung nicht immer einfach und kann mitunter zu Unschärfen führen, da die Aussagen nicht immer auf beide Geschlechter gleichermaßen zutreffen. Darüber hinaus gibt es eingeführte historische Quellenbegriffe, deren Anpassung an die Genderweise irritierend und falsch wirkt. Es wird daher an den Stellen gegendert, wo es als sinnvoll anzusehen ist.
Übergreifende Diskurslinien
Alexander-Kenneth Nagel, Göttingen
Migration und religiöser Wandel in der Frühen Neuzeit und heute: Religionssoziologische Perspektiven 1 Ausgangspunkt Dieser Beitrag ist ein riskantes Unterfangen. Er soll nicht nur eine diachrone Perspektive auf den Zusammenhang von Religion und Migration in der Frühen Neuzeit und heute einnehmen, sondern auch einen interdisziplinären Brückenschlag wagen zwischen historischen Analysen ganz bestimmter Phänomene und sozialwissenschaftlichen Neigungen zur Generalisierung. Ich begegne dieser Herausforderung in zwei Schritten: Im ersten Abschnitt gehe ich auf einige wiederkehrende Themen und Motive ein, welche die historischen Beiträge dieses Bandes verbinden und versuche, sie zu aktuellen Diskussionen in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung sowie den diaspora studies in Verbindung zu setzen. Im zweiten Abschnitt drehe ich den Spieß herum und präsentiere einen eigenen Systematisierungsversuch zu religiösem Wandel im Migrationskontext.
2 Religion im Transit: Übergreifende Themen Bei der vergleichenden Lektüre der Beiträge haben sich einige übergeordnete Themen herauskristallisiert, bei denen erkennbare Synergien zwischen historischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven zur Erforschung von Migration und religiösem Wandel vorliegen. Dazu gehören die diaspora-typische Spannung zwischen Anpassung und Bewahrung, grenzüberschreitende Sozialräume, die Rolle religiöser Netzwerke und Unterstützungsstrukturen sowie Praktiken der Grenzarbeit und Identitätspolitik. Darüber hinaus habe ich zwei Themenkomplexe ausgewählt, die die Komplementaritäten zwischen historischen und gegenwartsorientierten Perspektiven besonders gut zur Geltung bringen, nämlich zum einen Religion als Push-Faktor und zum anderen die heilsgeschichtliche Rahmung von Migrationsprozessen. Im Folgenden werde ich diese Themen zunächst in aller Kürze aus den Beiträgen heraus erschließen und Brücken zu aktuellen Debatten in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung schlagen. Dabei geht es weniger um Vollständigkeit als um konzeptionelle Resonanzräume. https://doi.org/10.1515/9783110673388-002
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2.1 Balance zwischen Anpassung und Bewahrung Das Spannungsverhältnis zwischen (dem Drang zur) Veränderung und (dem Wunsch nach) Bewahrung war und ist für die Diaspora charakteristisch. Besonders augenfällig ist dies im Beitrag von Hartmut Lehmann, der zeigt, wie die Altlutheraner*innen in Australien sich an ihr Deutschtum klammern, sich aber angesichts interner (Rekrutierung von Geistlichen) und externer (weltpolitische Konflikte) Schwierigkeiten auf das Englische als Kultsprache einlassen müssen. Die Ausführungen von Gisela Mettele verdeutlichen, wie unter Bedingungen von Enge, langer Reisezeit und äußerer Bedrängnis bereits die Reise selbst zu einer Anfechtung der religiösen Identität werden konnte. Die Schiffe der Herrnhuter*innen erscheinen dabei geradezu als Chiffre für den Versuch, das Eigene zu bewahren. Demgegenüber arbeitet Alexander Schunka heraus, dass sich die Kultivierung des Status als „Glaubensflüchtling“ auch finanziell lohnen konnte, nicht nur im Rahmen der Reise, sondern auch zur Sicherung von Unterstützungsleistungen in den Aufnahmegesellschaften. Der Religionswissenschaftler Martin Baumann hat schon früh darauf hingewiesen, dass der ausgeprägte Wunsch nach Bewahrung nicht automatisch mit konservativen oder rückwärtsgewandten Haltungen einhergeht: „Oftmals werden Migrantengemeinschaften als Horte von Traditionalität und religiösem Konservativismus angesehen. Die Kreativität und die Chance zur Veränderung in der Fremde, in der Diaspora, darf jedoch nicht übersehen werden“¹. In diese Richtung hat auch Robin Cohen argumentiert, der die Diaspora der Israelit*innen nicht nur als Stätte der Unterdrückung, sondern als Forum für Kreativität und Innovation begreift. Diese Überlegungen fügen sich nahtlos in die Argumentation von Schunka in diesem Band ein, der nach den sozialen Standorten und Opportunitätsstrukturen hinter Viktimierungsdiskursen fragt. Dabei zeichnet sich das „Diaspora-Bewusstsein“ durch einen besonderen Sensus für die Multilokalität und einen Habitus der Selbsthinterfragung aus.² In der neuen Umgebung werden tradierte Wissensbestände und Verhaltensweisen begründungsbedürftig, sei es aufgrund von Anfragen von außen oder sei es, weil ihnen ihr „Sitz im Leben“ abhandengekommen ist. Gerade das Bewusstsein der Multilokalität kommt in zahlreichen Beiträgen in diesem Band prominent zum
Martin Baumann, „Religion und ihre Bedeutung für Migranten. Zur Parallelität von „fremd“religiöser Loyalität und gesellschaftlicher Integration,“ in Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, hg.v. der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. (Bonn, 2004), 21. Vertovec, Steven, „Three Meanings of Diaspora: Exemplified among South Asian Religions.“ Diaspora 7.2 (1999), 8 – 10.
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Ausdruck, v. a. im Hinblick auf die kosmopolitische Ekklesiologie der Herrnhuter*innen bei Breul und Mettele. Allerdings ist das Bewusstsein in diesem Fall keine Folge, sondern vielmehr eine Voraussetzung für die Diaspora-Situation. Prozesse der religiösen Selbstvergewisserung scheinen demgegenüber weniger ausgeprägt zu sein. Gründe dafür könnten in den bereits angesprochenen Tendenzen zur Abschottung gegen äußere Einflüsse bestehen, die kognitive Dissonanz reduziert, oder in der Tatsache, dass es sich überwiegend um Angehörige religiöser bzw. konfessioneller Minderheiten handelte, die sich zur Auswanderung nach Übersee rüsteten.
2.2 Grenzarbeit und Identität Die prekäre Balance zwischen Anpassung und Bewahrung ist eng verbunden mit konkreten Praktiken der Grenzarbeit und Identitätspolitik. So arbeitet Lehmann die „doppelte Abgrenzung der Altlutheraner“ heraus, die zum einen eine konfessionelle (preußische Unionskirche) und zum anderen eine kulturelle Dimension aufweist (englische Baptist*innen). Demgegenüber weist Schunka auf die Dynamik der Grenzarbeit hin und merkt an, „dass etwa unter den Hugenotten der französischen ‚Kolonie‘ Berlins keineswegs von Beginn an feststand, was eigentlich deren ‚Französisch-Sein‘ in sprachlich-kultureller oder konfessioneller Hinsicht ausmachte, und dass sich unter den Kolonieangehörigen denn auch mancherlei Menschen befanden, die man nach objektivierbaren Kriterien nicht unbedingt zur Gruppe der Hugenott*innen gezählt hätte.“³ Beide Beispiele verdeutlichen, dass die Grenz- bzw. Identitätsarbeit in der Diaspora sich nicht nur an einzelnen Markern wie „Migrationsgeschichte“ oder „religiöses Bekenntnis“ festmachen lässt. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird diese Einsicht häufig mit den Begriffen der Intersektionalität ⁴ oder Superdiversität ⁵ beschrieben. Gemeint ist die Überschneidung unterschiedlicher Differenzdimensionen (Migration, Religion, Geschlecht, Alter, soziale Lage) als Ansatzpunkt für kollektive Identifikation und Abgrenzung. So mögen ein Expatriate und ein Flüchtling ähnliche Erfahrungen der Entbettung und Liminalität teilen, während sich zugleich ihre Erfahrungen mit der Aufnahmegesellschaft und natürlich ihre Handlungsspielräume deutlich unterscheiden. Schunka, in diesem Band, S. 69. Gabriele Winkler und Nina Degele, Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten (Bielefeld: transcript, 2015) Steven Vertovec, „Super-diversity and its implications,“ Ethnic and racial studies 30 (6) (2007): 1024– 1054.
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Ein wichtiges Instrument der Grenzarbeit ist die Heiratspraxis. Der Beitrag von Susanne Lachenicht in diesem Band arbeitet die Rolle der Endogamie bei Juden in Portugal zur externen und internen Grenzziehung heraus: „So wurden für sephardisch-jüdische Gemeinden […] nicht nur Heiratsverbote für Ehen von Jüdinnen und Juden mit Christ*innen erlassen, sondern auch für Heiraten von sephardischen mit aschkenazischen Jüdinnen und Juden. Letztere wurden von den Sephard*innen wegen ihrer mittel- und osteuropäischen Herkunft, ihrer kulturellen Praktiken einschließlich Sprache als ‚minderwertiger‘ angesehen.“⁶ Auch heute gehört die Frage, ob man jemanden heiraten würde, der eine andere Konfession oder Herkunft hat, zum festen Repertoire der empirischen Diskriminierungsforschung. Dabei ist die Endogamie-Neigung unter religiösen Minderheiten besonders ausgeprägt. So lehnten in einer jüngeren Umfrage 44 Prozent der Muslim*innen in Deutschland eine Heirat mit einem Nicht-Muslim ab, umgekehrt war dies nur bei 23 Prozent der Christ*innen der Fall⁷. In einer qualitativen Studie zu den zivilgesellschaftlichen Potentialen unterschiedlicher religiöser Migrant*innengemeinden zeigte sich eine ausgeprägte Neigung zur Endogamie zum Beispiel bei Yezid*innen und tamilischen Hindus. Neben dem Wunsch nach Traditionspflege und der Aufrechterhaltung der eigenen Gemeinschaft war in diesen Fällen auch das interne Kastenwesen ausschlaggebend⁸.
2.3 Grenzüberschreitende Vergesellschaftung Fast alle Beiträge in diesem Band verorten Migration in einem weiteren Kontext grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Schunka verweist dabei v. a. auf die ökonomischen Beziehungen zum Herkunftsland: „Viele Zuwanderer*innen finanzierten ihr Leben daher zunächst mit laufenden Einkünften aus der alten Heimat wie Pachteinnahmen oder Ernteerträgen. Im Falle wirtschaftlichen Erfolgs an den Zuwanderungsorten kam es nach einiger Zeit allerdings auch vor, dass Zuwan-
Lachenicht, in diesem Band, S. 90. Antonius Liedhegener, Gert Pickel, Anastas Odermatt, Alexander Yendell und Yvonne Jaeckel, Wie Religion „uns“ trennt – und verbindet. Befunde einer Repräsentativbefragung zur gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten in Deutschland und der Schweiz 2019 (Forschungsbericht), (Luzern, Leipzig: 2019), 23 – 24. Online-Ressource: https://resic.info/wpcontent/uploads/2019/12/KONID-Bericht-2019_Religion-trennt-verbindet.pdf (letzter Zugriff 14.09. 2020). Alexander-Kenneth Nagel und Ulf Plessentin, „Zivilgesellschaftliche Potenziale im Vergleich,“ in Religiöse Netzwerke. Die zivilgesellschaftlichen Potenziale religiöser Migrantengemeinden, hg.v. Alexander-Kenneth Nagel (Bielefeld: transcript, 2015), 253.
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derer*innen umgekehrt ihre daheimgebliebenen Familien mit Einnahmen aus der neuen Heimat unterstützten.“⁹ Demgegenüber betont Mettele v. a. die Bedeutung einer anhaltenden Mobilität von Personen und Nachrichten: „Das globale Netzwerk, das die Gemeinorte und Missionsstationen in Europa und Übersee zusammenhielt, war äußerst feinmaschig. Das Gefühl gemeinschaftlicher Identität wurde nicht nur durch enge organisatorische und finanzielle Verbindungen […] aufrechterhalten, sondern auch durch die häufige Versetzung von Mitgliedern, die kontinuierliche Zirkulation von Nachrichten über das Leben in den verschiedenen Gemeinorten, sowie durch gemeinsame Lieder, Rituale und Feste.“¹⁰ Lachenicht zeichnet nach, wie sich französische Protestant*innen aus ganz unterschiedlichen Herkunftsregionen in der Diaspora als „eine französisch-reformierte Nation“ imaginieren und Lehmann rekonstruiert die transnationalen Ausbildungsnetzwerke der Altlutheraner*innen in Australien. Auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion wurde immer wieder auf die sozialräumliche Gestalt der Diaspora hingewiesen. Laut Vertovec ist die Diaspora als „Sozialform“ gekennzeichnet durch eine „triadische Struktur“ zwischen dem Herkunftsland und mindestens zwei Diaspora-Standorten¹¹. Diese Standorte sind durch eine Vielzahl von Beziehungen und Bezugnahmen miteinander verbunden. Diese reichen von ökonomischen Transaktionen über politische Mobilisierung bis hin zum eher mythisch-symbolischen Rekurs auf die alte Heimat. Ich selbst habe mich an anderer Stelle einmal bemüht, die verschiedenen Beziehungsinhalte transnationaler religiöser Netzwerke zu systematisieren. Dazu zählen u. a. translokale Formen religiöser Beratung, etwa Online-Fatwas (muslimische Ratschläge zur religiösen Lebensführung), grenzüberschreitende seelsorgerliche oder pastorale Unterstützung, entweder fernmündlich oder durch mobile Geistliche, lobbyistische Interventionen (etwa die Presse-Arbeit des Gustav-Adolf-Werkes zugunsten evangelischer Diaspora-Kirchen) sowie nicht zuletzt transnationale religiöse Sprechakte oder sakramentale Handlungen¹². Dabei unterstreicht der Beitrag von Schunka einen übergeordneten Aspekt der Debatte zur Sozialform der Diaspora, nämlich die Frage nach der Gewichtung bzw. Reziprozität zwischen dem Herkunftsland und den Diaspora-Standorten. Sozialwissenschaftler*innen haben sich diesen Zusammenhang lange als eine Art Zentrum-Peripherie-Modell vorgestellt. So hat Ludger Pries „Diaspora-Institutio-
Schunka, in diesem Band, S. 76. Mettele, in diesem Band, S. 33. Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“, 5. Alexander-Kenneth Nagel, Urbi et Orbi: Transnationale religiöse Netzwerke, in Arbeit, Organisation und Mobilität: eine grenzüberschreitende Perspektive, hg.v. Martina Maletzky, Martin Seeliger und Manfred Wannöffel (Frankfurt am Main: Campus, 2013), 150.
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nalisierung“ als einen Modus transnationaler Vergesellschaftung beschrieben, der sich durch die eine prinzipielle Asymmetrie zwischen Herkunftsland und Diaspora-Standorten auszeichnet¹³. Demgegenüber haben entwicklungsökonomische Arbeiten immer wieder auf die große Bedeutung von Remittances für die Herkunftsländer hingewiesen¹⁴. Schunkas Hinweis auf die Umkehr von Geldflüssen im Zuge der fortschreitenden Etablierung der Auswanderer*innen beschreibt einen ganz ähnlichen Zusammenhang. Auch viele Geflüchtete bleiben noch eine ganze Weile von monetärer Unterstützung aus den Herkunftsländern abhängig, um die Transaktionskosten von Ankunft und Beheimatung zu bewältigen.
2.4 Religiöse Netzwerke und Unterstützungsstrukturen Viele Beiträge in diesem Band thematisieren die Rolle religiöser Unterstützungsnetzwerke, sei es im Zusammenhang mit der Auswanderung oder mit der Ankunft. Katharina Breidenbach zeichnet am Beispiel der Salzburger Amerikaemigration die religiösen Netzwerke in Europa nach, welche die Auswanderung der Salzburger*innen ermöglicht haben. Einerseits war die Institutionalisierung dieser Netzwerke förderlich für die Ressourcenmobilisierung und komplexe Logistik des Emigrationsgeschehens, andererseits verringerte sie durch eine zunehmende Rollendifferenzierung die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure. Demgegenüber veranschaulicht Schunka die Bedeutung religiöser Unterstützungsstrukturen in den Aufnahmeländern: „An den Ankunftsorten waren Geistliche und – sofern es sie gab – die bereits existierenden Fremdengemeinden wichtige Anlaufstellen zur Versorgung von Migrierenden. Dies galt für Individuen und Kleingruppen, aber auch, wenn Migrationszüge einen relativ hohen Organisationsgrad aufwiesen wie im Fall der Salzburger*innen. Deren Kommissare wandten sich an lokale Pfarrer, denn jene kanalisierten Hilfsleistungen der örtlichen Bevölkerung, machten Werbung für den guten Zweck und verteilten Essen oder Almosen für den Weiterzug der Migrierenden.“¹⁵ Interessant ist in beiden Beiträgen die Rolle der Reisekommissare, die nicht nur während der Reise als eine Art Reiseleitung unterstützend tätig waren, sondern den Neuankömmlingen auch nach der Ankunft den Weg bereitet haben. Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt: Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 156. Edward J. Taylor, „The New Economics of Labour Migration and the Role of Remittances in the Migration Process,“ International Migration 37 (1) (1999): 63 – 88. Schunka, in diesem Band, S. 75.
Migration und religiöser Wandel in der Frühen Neuzeit und heute
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Die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung bietet für diese Beobachtung zwei unterschiedliche Andockpunkte. In den diaspora studies wurde immer wieder auf die ko-ethnische Solidarität als wichtiges Kennzeichen von DiasporaCommunities hingewiesen¹⁶. Dahinter steht die Idee, dass Angehörige einer Diaspora-Gemeinschaft aufgrund des geteilten kulturellen oder religiösen Hintergrundes und gemeinsamer Ausgrenzungserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft eine starke Binnenorientierung und nach innen gerichtete Unterstützungsbeziehungen entwickeln. In Richtung von Schunka wäre demnach zu fragen, ob die angesprochenen „lokalen Pfarrer“ der gleichen Denomination wie die Salzburger*innen angehörten oder ob sich die Reisekommissare zielgerichtet um eine konfessions- und herkunftslandübergreifende Unterstützung bemüht haben (und was dies für die Figur des „Glaubensflüchtlings“ als FundraisingRhetorik bedeutete). Eine weitere Anschlussstelle, die im Beitrag von Breidenbach auch explizit angesprochen wird, sind Debatten über human trafficking oder sogenannte „Schlepper“. Gemäß der UN-Definition bezeichnet human trafficking den Transfer von Personen unter Anwendung von Zwang zum Zwecke der Ausbeutung.¹⁷ Diese Merkmale sind in den historischen Fallstudien erkennbar größtenteils nicht erfüllt. Trotz der disziplinarischen Befugnisse der Reisekommissare kann doch von einer regelmäßigen Zwangsanwendung gegen die Auswanderer*innen keine Rede sein; der Zwang zur Emigration ergibt sich vielmehr aus der prekären Situation als konfessionelle Minderheit im Herkunftsland. Schon gar nicht haben die Unterstützungsnetzwerke die Ausbeutung der Emigrant*innen im Sinn (abgesehen vielleicht von dem bei Schunka erwähnten Neuländer-Systems, bei dem „die Migrant*innen später als Kontraktarbeiter*innen ihre Kosten abstottern mussten und sich zeitweilig in sklavenähnlicher Abhängigkeit befanden“)¹⁸. Damit bleibt die Frage nach der Rolle von (religiösen) Netzwerken oder Organisationen für die Anbahnung und Durchführung der Emigration. In den aktuellen Berichten von Geflüchteten spielen derartige Strukturen gewöhnlich keine Rolle. Die Ressourcen für die Auswanderung werden in aller Regel im weiteren Familienkreis mobilisiert. Für prekäre Grenzübertritte steht eine informelle Ökonomie profitorientierter Kleinunternehmen („Schlepper“) bereit, der Kontakt kommt in der Regel durch Mund-zu-Mund-Propaganda zustande. Am ehesten vergleichbar mit den religiösen Unterstützungsnetzwerken der Frühen Neuzeit sind heute vermutlich Nichtregierungsorganisationen, die Geflüchtete bei der Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“, 4. Online-Ressource: https://www.unodc.org/unodc/en/human-trafficking/what-is-humantrafficking.html (letzter Zugriff 12.09. 2020). Schunka, in diesem Band, S. 73.
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Aufnahme oder beim Transit unterstützen. Diese sind aber gerade nicht in den Herkunftsländern angesiedelt, sondern entlang der üblichen Routen sowie in den Hauptzielländern. Während die vorgenannten Themen exemplarisch für die Synergien zwischen historischen und sozialwissenschaftlichen Zugängen zum Verhältnis von Religion und Migration stehen, lässt sich an zwei anderen Themenkomplexen die Komplementarität dieser Perspektiven illustrieren, aus der sich letztlich der Mehrwert einer stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit ergibt.
2.5 Religion als Push-Faktor In fast allen Beiträgen in diesem Band ist die Religion der primäre Migrationsgrund. In der Regel sind es dort religiöse Minderheiten, die sich zur Auswanderung gezwungen sehen, da sie in den Herkunftsländern entweder akuten Repressalien ausgesetzt sind oder aber eine freie Religionsausübung dort nicht möglich ist. Religiöse Konflikte kommen somit vor dem Hintergrund der Reformation und damit einhergehender konfessioneller Spannungen und erster Ansätze der Nationenbildung als zentraler Push-Faktor in den Blick, wie der Beitrag von Lachenicht deutlich macht. Zugleich arbeitet Schunka die soziale Standortgebundenheit der Rede vom „Glaubensflüchtling“ heraus. Dabei handele es sich einerseits um einen Typus für „ein wiederkehrendes, europäisches Migrationsphänomen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, das letztlich viele hunderttausende Menschen betraf“, und andererseits um eine rhetorische Figur zur Mobilisierung von Unterstützung und Ressourcen. Eine andere Variante von religionsgetriebener Migration repräsentieren die Herrnhuter, wie die Beiträge von Mettele und Breul zeigen. Hier ist es weniger ein Verfolgungsdruck als eine positive Ekklesiologie der Diaspora, die als Triebkraft für wiederkehrende Migrationsbewegungen wirksam wird. Diese starke religiöse Imprägnierung der Migration in der Frühen Neuzeit spiegelt sich auch in der oben angeführten Bedeutung religiöser Unterstützungsstrukturen und einem eher schwach ausgeprägten religiösen Selbstvergewisserungsbedarf in der neuen Heimat wider. Im Unterschied dazu spielt Religion im aktuellen Migrationsgeschehen augenscheinlich eine untergeordnete Rolle. Natürlich gibt es nach wie vor religiös konnotierte Konflikte und religiös begründete Verfolgung, etwa die Pogrome des sogenannten Islamischen Staates gegen die Yezid*innen im Nordirak oder die Bedrängnis von Christ*innen im Nahen und Mittleren Osten. Der Großteil der Migrationsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg war allerdings primär wirtschaftlich (von den Anwerbeabkommen in den 1960er-Jahren bis zur EU-Binnenmigration heutiger Tage) moti-
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viert oder das Ergebnis geopolitischer kriegerischer Auseinandersetzungen (Heimatvertriebene, Boat-People, Arabischer Frühling). Bei der jüngeren sogenannten „Flüchtlingskrise“ kamen religiöse Unterschiede v. a. als Argument in den Blick, um die Aufnahme von Geflüchteten zu verweigern. So entdeckten einige der am stärksten säkularisierten Staaten Osteuropas ihre christlichen Wurzeln, um auf dieser Basis einen Abwehrdiskurs gegen die überwiegend muslimischen Flüchtlinge zu lancieren. Auch der Präsident der USA verbot Anfang 2017 Menschen aus sieben mehrheitlich muslimischen Staaten die Einreise unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung. Das entsprechende Dekret ging als Muslim ban in die Geschichte ein. Einige der Beiträge in diesem Band deuten darauf hin, dass die genaue Festlegung der Migrationsgruppe und des Migrationsgrundes auch für die künftigen Verwirklichungschancen der Zuwanderer*innen in der Aufnahmegesellschaft relevant sind. Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Notwendigkeit der anhaltenden Bewirtschaftung des Mythos vom „Glaubensflüchtling“ (Schunka), ein anderes Beispiel sind die korporativen Rechte, die einer bestimmten Migrationsgruppe durch den Landesherrn zugestanden wurden. Wie Lachenicht ausführt, waren diese korporativen Rechte verbunden mit einer weitreichenden Selbstbestimmung und Selbstorganisation der jeweiligen religiösen oder ethnischen Minderheiten. Auch manche moderne Nationalstaaten binden gesellschaftliche Interessenverbände über korporatistische Strukturen in die Produktion öffentlicher Güter ein, ein gutes Beispiel dafür ist sicherlich der deutsche Religionskorporatismus. Eine ähnlich umfassende Übertragung korporativer Rechte an Migrant*innengruppen wie in der Frühen Neuzeit ist heute allerdings nicht mehr denkbar. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Jurisprudenz: Auch wenn Religionsgemeinschaften in personenstandsrechtlichen Angelegenheiten eine gewisse Mitsprache eingeräumt wird, erscheint ein Rechtspluralismus auf breiterer zivil- oder gar strafrechtlicher Grundlage heute als Ding der Unmöglichkeit.
2.6 Migration in heilsgeschichtlicher Perspektive Der Stellenwert der Religion als Migrationsgrund in der Frühen Neuzeit hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Unterstützungsstrukturen, Selbstvergewisserungsprozesse und die Ausstattung mit korporativen Rechten, sondern drückt sich auch in einer im engeren Sinne religiösen beziehungsweise heilsgeschichtlichen Verarbeitung der Migrationserfahrungen selbst aus. Die Beiträge in diesem Band nähern sich diesem Aspekt auf unterschiedliche Weise: So deuten Breul und Mettele die biblische Semantik hinter der diasporischen Ekklesiologie der
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Herrnhuter*innen an. Die „Angehörigen der Brüdergemeine sind demnach das ‚Salz der Erde‘ (Mt 5,13), das über die Erde verstreut bleiben und Kristallisationskerne für Gemeinschaften wahrer Christen bilden soll“¹⁹. Und Mettele berichtet, wie die Fährnisse der Überfahrt in einen biblischen Deutungshorizont gestellt wurden, nachdem Zinzendorf die sichere Passage durch ein Unwetter vorausgesagt hatte: „Das Motiv des ‚besonderen Passagiers‘, der über ein den Seeleuten überlegenes Wissen verfügt, ist der Apostelgeschichte (27,1– 44) entnommen. Dort zeigt sich Paulus bei der Schiffsreise nach Rom ebenfalls im Sturm aller Not überlegen, und sagt, wetterkundiger und nautisch mehr bewandert als die Seeleute, den weiteren Ablauf exakt voraus.“²⁰ Ein Hinweis zu den Folgen der heilsgeschichtlichen Perspektive findet sich bei Lehmann, der andeutet, dass die Naherwartung und der Millenarismus der Altlutheraner*innen sie für die Großmachtfantasien des Deutschen Reichs musikalisch gemacht haben könnten. Aus Sicht der gegenwartsorientierten sozialwissenschaftlichen Religionsforschung sind diese Beobachtungen zur religiösen Semantik von Migrationserfahrungen gerade deshalb interessant, weil sie in zeitgenössischen Zeugnissen weitgehend fehlen. In einem Forschungsprojekt mit dem Titel Promised Lands and Scattered Tribes: Spiritual Aspirations in Modern Mass Migration haben wir vor einigen Jahren Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit zu ihren Vorstellungen von der Aufnahmegesellschaft (zum Zeitpunkt der Auswanderung) und von ihrem Herkunftsland (zum Zeitpunkt des Interviews) befragt. Religiöse Konnotationen wie etwa Anleihen zu kanonischen Migrationsgeschichten (Exodus, Diaspora, Hidschra) kamen dabei so gut wie nicht vor. Einzig unsere buddhistischen Interviewpartner*innen beriefen sich mehrfach auf ihr „Karma“, um bestimmte biographische Erfahrungen einzuordnen²¹. Stattdessen wurden kleine und mittlere Transzendenzerfahrungen beschrieben, die sich aus dem Bewusstsein der Multilokalität ergeben (s.o.), etwa mit Blick auf die eigene Liminalität zwischen dem Herkunftsland und dem Residenzland oder die Perspektive, dass erst die eigenen Kinder die Früchte der Auswanderung ernten würden. Ob diese Abwesenheit einer religiösen Semantik für Migrationserfahrungen ein Indiz für einen umfassenderen Säkularisierungstrend darstellt, kann und muss hier dahingestellt bleiben. Eine diachrone Perspektive könnte aber unter Umständen Aufschlüsse bieten, ob es sich lediglich um eine Form der religiösen Sprachlosigkeit handelt (wer die Geschichte der Hidschra nicht kennt, kann seine Breul, in diesem Band, S. 101. Mettele, in diesem Band, S. 39. Alexander-Kenneth Nagel, „Religionswissenschaftliche Perspektiven auf Utopien und Mythologien der Migration,“ in Gottes Gegenwarten – God’s Presences, hg.v. Markus Höfner und Benedikt Friedrich (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020), 280.
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eigene Migrationsbiographie auch nicht vor diesem Hintergrund lesen) oder um einen tiefergehenden Plausibilitätsverlust. Auch wäre zu untersuchen, ob religiöse Verfolgung oder Konflikte als Push-Faktor eine Verarbeitung der eigenen Migrationsgeschichte in religiösen Narrativen und Begriffen begünstigt und ob „erfahrene Minderheiten“, also Gruppen, die bereits im Herkunftsland einer religiösen oder ethnischen Minderheit angehörten, sich dabei besonders hervortun. Insgesamt hat die Re-Lektüre der historischen Beiträge in diesem Band zahlreiche Überschneidungen und Anschlussstellen zwischen einer sozialwissenschaftlichen und einer historischen Perspektive auf Religion und Migration erbracht. Dazu gehören neben einer Reihe von Synergien (etwa die Balance zwischen Veränderung und Bewahrung, komplexe grenzüberschreitende Sozialräume und religiöse Unterstützungsstrukturen) auch komplementäre Blickwinkel, etwa die Rolle der Religion als Push-Faktor und die explizit religiöse bzw. heilsgeschichtliche Codierung von Migrationserfahrungen. Als interdisziplinäre Gesprächsplattform scheinen sich dabei v. a. die diaspora studies anzubieten. Sie stellen Heuristiken zum Umgang mit der Multilokalität zur Verfügung, etwa das Konzept der triadischen Konstellation, das den Blick auf die Austauschprozesse zwischen den Diaspora-Standorten lenkt, oder Überlegungen zur Selbstvergewisserung und Identitätsarbeit sowie zur ethnischen Ko-Solidarität. Besonders aufschlussreich erscheinen dabei Ansätze, welche die Diaspora-Situation als Raum von Veränderung und Innovation begreifen, etwa der eingangs geschilderte Versuch von Cohen, Babylon „as a site of creativity“ zu erschließen.²² Ein solcher Zugang erfasst Migration nicht als äußere Wiederfahrnisse, die es zu erdulden gilt, sondern akzentuiert die Handlungsspielräume der Migrant*innen. Die Selbstbeschreibung als Opfer wird auf diese Weise von einem Strukturmerkmal zu einem diskursiven Element, dessen Standortgebundenheit sich untersuchen lässt, wie Schunka an der Figur des „Glaubensflüchtlings“ exemplarisch zeigt. Im folgenden Abschnitt möchte ich das Augenmerk von den Einzelaspekten der Diaspora-Situation auf die allgemeineren Modalitäten religiösen Wandels im Migrationskontext richten.
Vgl. Cohen, Global diasporas, 23 f.
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3 Modalitäten religiösen Wandels²³ Der Gedanke, dass Migration zu religiösem Wandel führt, erscheint auf den ersten Blick ebenso einleuchtend wie trivial. Als Ortswechsel von einiger Dauer sind Migrationsprozesse durch eine umfassende Veränderung der Lebensbedingungen, oder wie Anthony Giddens es formuliert hat, durch eine grundsätzliche Spannung zwischen „Entbettung“ und „Wiedereinbettung“ gekennzeichnet²⁴, die bestehende religiöse Weltbilder und Praktiken herausfordert. Wo also Menschen auf dem Weg sind, da ist prinzipiell auch die Religion in Bewegung²⁵. Aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung ergeben sich indes weitere Fragen: Ein Fragekomplex bezieht sich auf Religion als Push-Faktor für Migrationsbewegungen. Dabei geht es im Kern darum, wie religiöse Weltbilder oder Zugehörigkeiten zum Anlass für Migrationsentscheidungen und Prozesse werden können bzw. diese strukturieren. Die Beiträge in diesem Band führen eindrucksvoll vor Augen, dass Religion in der Frühen Neuzeit eine dominante Antriebskraft für grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen war. Ein weiterer Fragekomplex bezieht sich auf den Wandel von Religion unter Migrationsbedingungen. Dazu scheint in der bestehenden Forschung ein unausgesprochener Konsens zu bestehen, dass Migration zu religiöser Intensivierung führt, da die Religion als „Identitätsressource“ an Bedeutung gewinnt. Ich möchte demgegenüber die These stark machen, dass der dominante Fokus auf den Bedeutungsgewinn religiöser Zugehörigkeiten, Vorstellungen und Praxisformen in der Diaspora seine Plausibilität aus den Wertbezügen außerwissenschaftlicher Diskursfelder gewinnt. Da ist zum einen der integrationspolitische Diskurs der Aufnahmegesellschaft, der auf die Bewertung von Religion als Sicherheitsrisiko und ihre Kultivierung im Einklang mit dem deutschen Religionskorporatismus ausgerichtet ist. Dabei handelt es sich um ein vergleichsweise neues Phänomen, das nicht zuletzt als Antwort auf „islamistisch“ motivierten Terrorismus zu sehen ist. Die Transformation des Religiösen im Migrationskontext ist hier v. a. in den Ausprägungen der „Intensivierung“ oder „Radikalisierung“ relevant. Das zweite Diskursfeld ist aus der Religionsgeschichte selbst in die Religionssoziologie übergeschwappt und betrachtet das Zusammenspiel von Religion und Migration Bei diesem Abschnitt handelt es sich um die stark gekürzte und überarbeitete Form eines früheren Beitrags: Alexander-Kenneth Nagel, „Bedeutung und Wandel von Religion im Migrationskontext,“ in Transformation religiöser Symbole und religiöser Kommunikation in der Diaspora, hg.v. Rauf Ceylan und Haci-Halil Uslucan. (Wiesbaden: Springer VS, 2018). Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne (Frankfurt am Main: Suhrkamp,1995), 33 ff. Vásquez, Manuel. „Studying religion in motion: A networks approach.“ Method & Theory in the Study of Religion 20.2 (2008): 151– 184.
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vor dem Hintergrund biblisch überlieferter Diaspora-Erfahrungen²⁶. Dabei wird ein Motiv übernommen, das sich pointiert als „Viktimisierung und Eskalation“ beschreiben lässt: Die Diaspora-Gemeinschaft konstituiert sich in der Klage über ihr Schicksal und grenzt sich scharf bis hin zur Feindseligkeit von ihrer neuen Umgebung ab²⁷. Demgegenüber erscheint es durchaus angemessen zu fragen, ob Migrationserfahrungen nicht eigentlich auf Säkularisierung und Privatisierung drängen müssten, indem sie einen umfassenden Plausibilitätsverlust und mithin einen „Zwang zur Häresie“ mit sich bringen²⁸? Ich möchte daher religiöse Intensivierung und Relativierung als analytisch gleichrangige Unterfälle religiöser Transformation im Migrationskontext verstehen. Migrationserfahrungen können, müssen aber nicht, zu einer stärkeren religiösen Orientierung führen. Sie könnten ebenso einen Rückzug und Indifferenz nach sich ziehen oder schlicht keinen Unterschied machen. Relevanter als die Frage, ob Migrant*innen mehr oder weniger religiös sind (als vor der Auswanderung bzw. als die Aufnahmegesellschaft) ist daher eine analytische Perspektive auf die Modalitäten der religiösen Transformation, ihrer Antriebskräfte, Erscheinungsformen und Konsequenzen.
3.1 Antriebskräfte religiösen Wandels Als Antriebskräfte religiöser Transformation können alle Impulse zur Veränderung gelten, die sich aus dem Migrationsprozess bzw. der Situation im Aufnahmeland ergeben. Systematisch bietet es sich an, zwischen intrareligiösen, interreligiösen, zivilgesellschaftlichen und staatlichen Antriebskräften zu unterscheiden. Intrareligiöse Antriebskräfte beziehen sich auf die religiöse Selbstorganisation und Selbstvergewisserung der Diaspora-Gemeinde. Ein wesentlicher Impuls für Wandel ist der Mangel an religiösen Spezialist*innen²⁹. Abseits der Selbstverständlichkeiten der Herkunftskultur muss die eigene religiöse Tradition nunmehr
James Clifford, Diasporas. Cultural Anthropology 9 (3) (1994), 305 f. Robin Cohen, Global diasporas. An introduction (London: Routledge, 2001), 21 ff.; AlexanderKenneth Nagel, „Von der Leidensgeschichte zur transnationalen Gemeinschaft: Religiöse Selbstorganisation und Selbstvergewisserung in der Diaspora,“ in Liturgie und Migration. Die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im deutschsprachigen Raum, hg.v. Benedikt Kranemann (Stuttgart: Kohlhammer, 2012), 76. Peter Ludwig Berger und Willi Köhler, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft (Freiburg im Breisgau: Herder, 1980). Baumann, „Religion und ihre Bedeutung für Migranten“, 16 ff.
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aktiv erinnert und kollektiv rekonstruiert werden. Wo aber Vorbewusstes bewusstgemacht wird, da drängt es auf Begründung und Rationalisierung. Auf diese Weise kann eine dynamische und elastische mündliche Diaspora-Theologie entstehen. Eine weitere intrareligiöse Antriebskraft ist die religiöse Erziehung der nachfolgenden Generationen. Schulpflicht, soziale Mobilität und interreligiöse Kontakte führen dazu, dass die Lebenswelten der ersten und zweiten Generation innerhalb der Ankunftsgesellschaft auseinanderdriften. Die Brechung religiöser Traditionen an diesen Unterschieden und die daraus resultierende Dynamik religiösen Wandels sind kaum zu überschätzen³⁰. Interreligiöse Antriebskräfte ergeben sich aus dem Kontakt mit der Mehrheitsreligion sowie generell aus dem pluralen religiösen Feld der Aufnahmegesellschaft. Interreligiöse Begegnungen, seien sie spontan oder organisiert in Dialogveranstaltungen oder runden Tischen, fordern zu Grenzziehungen und -überschreitungen heraus³¹. Die Dominanz der Mehrheitsreligion im öffentlichen Raum (Schulwesen, Feiertage, Gebäude) eröffnet religiösen Minderheiten zwei grundsätzliche Strategien: Dissimilation und Inklusion. Dissimilation bezieht sich auf die Kultivierung der religiösen Differenz durch die Vermeidung von „synkretistischen“ Formen. Ein Beispiel wären Fatwas, die sich gegen die Teilnahme an christlichen Festen richten³². Inklusion bezieht sich hingegen auf die Einbeziehung der Mehrheitsreligion in die eigene religiöse Tradition, zum Beispiel durch Mehrfachzugehörigkeiten oder mystische Universalisierung. Der innovative Impuls besteht in beiden Fällen darin, dass die „eigene“ Tradition in der expliziten Auseinandersetzung mit der „fremden“ Religion neu modelliert wird. Ein weiterer Mechanismus religiösen Wandels sind interreligiöse Kontaktzonen an den Rändern: Aufgrund ähnlicher finanzieller und räumlicher Restriktionen finden sich religiöse Minderheiten nicht selten Tür an Tür oder teilen sich gar dieselben Räumlichkeiten, etwa in Gestalt einer Kombination aus Hindu-Tempel und SikhGurudwara³³.
Peter Beyer, „The future of non-Christian religions in Canada: Patterns of religious identification among recent immigrants and their second generation, 1981– 2001“, Studies in Religion/ Sciences religieuses 34 (2) (Thousand Oaks: Sage Publications, 2005); Sandhya Marla-Küsters, Diaspora-Religiosität im Generationenverlauf. Die zweite Generation srilankisch-tamilischer Hindus in NRW (Würzburg: Ergon Verlag, 2015). Alexander-Kenneth Nagel, „Enacting Diversity: Boundary Work and Performative Dynamics in Interreligious Activities,“ in Annual Review of the Sociology of Religion,Volume 10: Interreligious Dialogue, hg.v. Giuseppe Giordan und Andrew P. Lynch (Koninklijke: Brill NV, 2019). Nagel, „Von der Leidensgeschichte zur transnationalen Gemeinschaft“, 95 f. Manfred Hutter, „ʻHalf Mandir and Half Gurdwara‘. Three Local Hindu Communities in Manila, Jakarta, and Cologne,“ Numen 59 (4) (2012): 344– 365.
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Neben diesen im engeren Sinne religiösen Antriebskräften können auch gesellschaftliche Erwartungshaltungen und politische Mobilisierung Impulse für religiösen Wandel in der Diaspora liefern. Dazu gehören etwa verbreitete Vorstellungen von einer „guten“ oder „legitimen“ Religion, die häufig an der Mehrheitsreligion orientiert sind und sich in Gestalt kulturreligiöser Mentalitäten („das christliche Abendland“) artikulieren können. Die Kehrseite davon sind Gefährdungs- und Exotisierungsdiskurse gegenüber verschiedenen religiösen Traditionen. Als Beispiel für Exotisierungsdiskurse mag der werbende Rückgriff auf repräsentative buddhistische und hinduistische Gemeinden im Rahmen des Stadtmarketings dienen, etwa im Fall des großen Hindutempels in Hamm oder der buddhistischen Pagode in Hannover. Ein naheliegendes Beispiel für Gefährdungsdiskurse stellt hingegen der neue antimuslimische Rassismus dar, der derzeit von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien inner- und außerparlamentarisch betrieben wird³⁴. Schließlich, aber nicht zuletzt, können staatliche Strukturen als wichtige Antriebskraft religiöser Transformation wirksam werden. Solche Strukturen umfassen Religionsregime, also die generelle Verhältnisbestimmung von Religion und Staat, kodifizierte Religionsdefinitionen, zum Beispiel im Rahmen von Jurisprudenz und Verwaltung sowie die rechtliche Verfassung religiöser Gruppen. Für religiöse Minderheiten kann damit ein Bedeutungsverlust verbunden sein, wenn sie etwa im Herkunftsland der primäre Ansprechpartner für Wohlfahrtsleistungen oder personenstandsrechtliche Angelegenheiten waren und sich in der Aufnahmegesellschaft mit einer subsidiären Rolle bescheiden müssen. Ein weiterer wichtiger Faktor sind offizielle Religionsdefinitionen, die nicht selten die oben angeführten gesellschaftlichen Religions-Mentalitäten reflektieren. Diese Definitionen werden v. a. dann wirksam, wenn es um den grundrechtlich abgesicherten Schutz religiöser Minderheiten oder um die Erlangung eines vereinsoder körperschaftsrechtlichen Status geht. Auf diese Weise kann eine einfache Vereinsgründung zu weitreichenden Anfragen an die Binnenstruktur einer Diaspora-Gemeinde führen, insoweit sie eine Dissonanz zwischen den religiösen Autoritätsstrukturen und formalen Erfordernissen erzeugt.
Naime Çakir, Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland. (Freiburg: Päd. Hochschule, Diss., 2012), Zugl. u.d.T.: Naime Çakir, Ethnisierung des Fremden am Beispiel des Islam (Bielefeld: Transcript, 2014); Thorsten Gerald Schneiders, Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009).
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3.2 Erscheinungsformen religiösen Wandels Die Erscheinungsformen religiösen Wandels sind naturgemäß vielgestaltig und entziehen sich einer einfachen typologischen Erfassung. Generell ist zu sagen, dass religiöse Transformation sich in unterschiedlichen Dimensionen des religiösen Lebens niederschlagen kann, seien es Weltbilder und Glaubensinhalte, Praktiken oder Gemeinschaftsformen. Ohne einem schlichten Materialismus das Wort reden zu wollen, ist anzunehmen, dass Transformationsprozesse in der Diaspora häufig auf der praktischen oder rituellen Ebene angestoßen werden und dann theologische Reflexionen nach sich ziehen. Eine ebenso basale wie bedeutsame Erscheinungsform religiösen Wandels dürften daher Ad-hoc-Innovationen im Umgang mit materiellen oder immateriellen Beschränkungen sein. Solche Beschränkungen können sich auf rituelle Gegenstände oder Materialien beziehen, auf religiös reine Speisen, auf die korrekte Gestaltung und Ausrichtung des Andachtsraums und auf Umgebungsfaktoren wie den Auf- oder Untergang der Sonne im Zusammenhang mit dem Fastenbrechen. Auf einer konzeptionellen Ebene werden die Erscheinungsformen religiöser Transformation häufig unter dem Gesichtspunkt der Hybridisierung verhandelt. Ein Beispiel dafür ist Vertovecs Unterscheidung von Diaspora als Sozialform, Bewusstseinsform und Modus kultureller Reproduktion³⁵: Danach ist Diaspora als Sozialform bestimmt durch intensive transnationale Beziehungen zum Herkunftsland und anderen Diaspora-Gemeinden, starke Loyalitäten innerhalb der ethnischen oder religiösen Ingroup und eine identitätsbildende Kultivierung der Differenz zur Aufnahmegesellschaft³⁶. Damit korrespondiert ein diasporisches Bewusstsein, das im religiösen Bereich durch eine „duale und paradoxe“ Spannung zwischen Selbsthinterfragung und Selbstvergewisserung gekennzeichnet ist³⁷. Aus dieser transnationalen und reflexiven Konstellation geht ein Modus kultureller Produktion hervor, der die liminale Erfahrung zwischen dem NichtMehr und dem Noch-Nicht in neuartige, hybride kulturelle Formen übersetzt, wobei der Generationenwechsel und globale Kommunikationsmittel eine besondere Rolle spielen³⁸. So betrachtet, lässt sich Hybridisierung gleichermaßen als Erscheinungsform und als Konsequenz religiösen Wandels verstehen. Dabei fällt auf, dass Vertovec v. a. Transformationsprozesse innerhalb der Diaspora vor Augen hat, auch wenn sie durch kulturelle Produktion für die Gesamtgesellschaft objektiviert und ver
Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“. Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“, S. 4 f. Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“, S. 10 f. Vertovec, „Three Meanings of Diaspora“, S. 20 f.
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fügbar gemacht werden.Wenn ich im Folgenden von Konsequenzen spreche, so ist damit vor allem die Rückwirkung religiöser Migrant*innengemeinden in die Aufnahmegesellschaft sowie in ihre Herkunftsländer gemeint.
3.3 Konsequenzen religiösen Wandels In der Aufnahmegesellschaft können Diaspora-Gemeinden zum Ferment religiösen Wandels werden, indem sie ganz abstrakt den religiösen Markt erweitern und ganz konkret die etablierten Religionsgemeinschaften zu theologischen und praktischen Positionierungen herausfordern. Hier kommt die religiöse Revitalisierung wieder ins Spiel, aber nicht als Verteidigungsreaktion einer bedrängten Minderheit, sondern als Transformation des gesamten religiösen Feldes. Das einfachste theoretische Argument dafür stammt aus der sogenannten Religionsökonomie: Pluralisierung führt zu Wettbewerb und mithin zu religiöser Vitalisierung³⁹. Insoweit Migration zu religiöser Vielfalt beiträgt, wirkt sie also belebend auf den religiösen Markt. Für diese Argumentation spricht auch der beträchtliche entrepreneurial spirit, den religiöse Migrant*innengemeinden mit neuen religiösen Bewegungen teilen. Aber auch abseits der religionsökonomischen Überlegungen gilt: Wo religiöse Vielfalt sichtbar wird, da nimmt auch religiöse Kommunikation (im weiten systemtheoretischen Sinne) zu. Das betrifft sowohl den Austausch innerhalb des religiösen Feldes, zum Beispiel in Gestalt interreligiöser Dialoge, als auch die Aufmerksamkeit für Religion im Allgemeinen in anderen gesellschaftlichen Feldern. Dabei kann die religiöse Pluralisierung bestehende Religionsregime auch herausfordern, wie die aktuelle Diskussion über die „Ausbaureserve“ des deutschen Religionskorporatismus, etwa im Bereich des Religionsunterrichts, zeigt. Zugleich können Diaspora-Gemeinden zu Transformationsagenten in ihren Herkunftsländern werden, ein religionsgeschichtliches Beispiel dafür ist die Entwicklung des babylonischen Talmuds in der jüdischen Diaspora, der den klassischen Tempelkult nicht nur zeitweilig ersetzte, sondern auch nach dem Bau des zweiten Tempels ein wichtiges und eigenständiges Forum religiöser Gelehrsamkeit blieb⁴⁰. Das klassische Verständnis einer „Opferdiaspora“⁴¹ muss das innovative Potential religiöser Migrant*innen-Gemeinden verkennen, da es auf einer starken Zentrum-Peripherie-Annahme beruht. Die Diaspora hängt gleichsam am Rodney Stark und Roger Finke, Acts of faith. Explaining the human side of religion (Berkeley: University of California Press, 2000). Cohen, Global diasporas, 23 f. Cohen, Global diasporas, 39 ff.
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identitätsbildenden Tropf der Heimat und bleibt ihr ewiger Trabant. So folgerichtig diese Annahme vor dem Hintergrund der religiösen Leidensgeschichte auch sein mag, so wenig hält sie einer empirischen Überprüfung stand: Nachdem Ökonomen schon seit Jahren auf die bedeutende Rolle von Remittances, also Geldtransfers von Migrant*innen in ihr Herkunftsland, als nationalem Wirtschaftsfaktor hingewiesen haben⁴², haben sich sozialanthropologische Autor*innen der Untersuchung von sogenannten social remittances zugewandt⁴³. Gemeint sind Ströme bzw. das Zirkulieren von Normen, Praktiken, Identitäten und sozialem Kapital über nationale Grenzen hinweg.
4 Fazit und Ausblick Mein Hauptziel in diesem Kapitel war es, für eine stärker diachrone und interdisziplinäre Perspektive auf Migration und religiösen Wandel zu werben. Dazu habe ich zunächst nach thematischen Synergien und Komplementaritäten zwischen den historischen Beiträgen dieses Bandes und der gegenwartsorientierten sozialwissenschaftlichen Forschung zu Religion und Migration gesucht. Zu den zahlreichen Synergien gehören die diaspora-typische Spannung zwischen Anpassung und Bewahrung, grenzüberschreitende Sozialräume, die Rolle religiöser Netzwerke und Unterstützungsstrukturen sowie Praktiken der Grenzarbeit und Identitätspolitik. Darüber hinaus ließ sich an zwei weiteren Themenkomplexen zeigen, wie sich historische und gegenwartsorientierte Zugänge fruchtbar ergänzen können: Während sich Religion in der Frühen Neuzeit als prominenter Push-Faktor (und mithin als unabhängige Variable) für Migration erweist, nehmen sozialwissenschaftliche Beiträge religiöse Prägungen (wenn überhaupt) v. a. als abhängige Variable in den Blick und privilegieren dabei die Option religiöser Intensivierung gegenüber anderen denkbaren Ausprägungen des Wandels. Der zweite Themenkomplex umfasst die heilsgeschichtliche (oder überhaupt explizit religiöse) Deutung der Migrationserfahrungen. War diese für die religiösen Emigrant*innen der Frühen Neuzeit zentral, tritt sie in zeitgenössischen Zeugnissen selbst von religiös musikalischen Migrant*innen zurück zugunsten kleiner und mittlerer Transzendenzerfahrungen im diasporischen Niemandsland zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht. Im zweiten Teil habe ich mich um eine Systematisierung der Modalitäten religiösen Wandels im Kontext von Migration bemüht. Dabei habe ich eine Reihe von
Taylor, The New Economics. Peggy Levitt und Deepak Lamba-Nieves, „Social Remittances Revisited,“ Journal of Ethnic and Migration Studies 37 (1) (2010): 1– 22.
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Antriebskräften (intrareligiös, interreligiös, gesellschaftlich, staatlich) unterschieden und einige weiterführende Überlegungen zu den Erscheinungsformen und Konsequenzen religiöser Transformation angestellt. Auf Bezüge zu den historischen Beiträgen habe ich in diesem Teil bewusst verzichtet. Stattdessen möchte ich diesen Abschnitt im Sinne eines anzuberaumenden interdisziplinären Austauschs als eine Art invitatio ad offerendum verstanden wissen, als Gesprächsangebot an Historiker*innen, die sich mit Migration und Religion beschäftigen. Damit ist ausdrücklich nicht der Anspruch verbunden, dass die vorgeschlagenen Unterscheidungen von nun an als das allein seligmachende Modell religiösen Wandels zu verstehen sind. Sie sind vielmehr als eine erste Andockstelle für Beobachtungen gedacht, die sich aus dem historischen oder empirischen Material ergeben mögen.
Bibliografie Baumann, Martin. „Religion und ihre Bedeutung für Migranten. Zur Parallelität von „fremd“-religiöser Loyalität und gesellschaftlicher Integration.“ In Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, hg. v. Beauftragte der Bundesregierung Für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2004. Berger, Peter Ludwig und Willi Köhler. Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg im Breisgau: Herder, 1980. Beyer, Peter. The future of non-Christian religions in Canada: Patterns of religious identification among recent immigrants and their second generation, 1981 – 2001. Studies in Religion/Sciences religieuses 34 (2), Thousand Oaks: Sage Publications, 2005. Çakir, Naime. Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland. Freiburg: Päd. Hochschule, Diss., 2012, Zugl. u.d.T.: Çakir, Naime: Ethnisierung des Fremden am Beispiel des Islam. Bielefeld: Transcript, 2014. Clifford, James. Diasporas. Cultural Anthropology 9 (3) (1994): 302 – 308. Cohen, Robin. Global diasporas. An introduction. London: Routledge, 2001. Giddens, Anthony. Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp,1995. Hutter, Manfred. „Half Mandir and Half Gurdwara“. Three Local Hindu Communities in Manila, Jakarta, and Cologne. Numen 59 (4) (2012): 344 – 365. Levitt, Peggy und Deepak Lamba-Nieves. „Social Remittances Revisited.“ Journal of Ethnic and Migration Studies 37 (1) (2010): 1 – 22. Liedhegener, Antonius, Gert Pickel, Anastas Odermatt, Alexander Yendell und Yvonne Jaeckel. Wie Religion „uns“ trennt – und verbindet. Befunde einer Repräsentativbefragung zur gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten in Deutschland und der Schweiz 2019 (Forschungsbericht). Luzern, Leipzig: 2019. Online-Ressource: https://resic. info/wp-content/uploads/2019/12/KONID-Bericht-2019_Religion-trennt-verbindet.pdf (letzter Zugriff 27. 09. 2020). Marla-Küsters, Sandhya. Diaspora-Religiosität im Generationenverlauf. Die zweite Generation srilankisch-tamilischer Hindus in NRW. Würzburg: Ergon Verlag, 2015.
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Transiträume
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Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert Religion in Migrationsprozessen wird in den letzten Jahren zunehmend auch unter der Perspektive der Erfahrungen untersucht, die mit dem Transit selbst verbunden waren. So hat etwa die Forschung zur transatlantischen Migration des 18. Jahrhunderts die Bedeutung des Schiffes als Begegnungsort hervorgehoben und die transformierende Kraft von Seereisen betont, die nicht zuletzt die religiösen Überzeugungen herausforderten.¹ Die Dauer einer Passage mit dem Segelschiff über den Atlantik von Europa nach Nordamerika war unwägbar. Unter günstigen Bedingungen dauerte sie circa fünf Wochen. Waren die Umstände schlecht, konnten aber auch mehrere Monate vergehen, bis ein Schiff sein Ziel erreichte. Stürme und starker Seegang, aber auch lange Aufenthalte in den Häfen konnten Fahrten um Wochen, manchmal auch Monate verzögern. Während dieser ausgedehnten Zeiten auf dem Meer teilten sich Personen mit den verschiedensten religiösen, sozialen, ethnischen und kulturellen Hintergründen den gleichen engen Raum und lebten gemeinsam in einer geschlossenen Welt, die für die Zeit der Passage nicht verlassen werden konnte. Das multiethnische und multireligiöse Zusammensein an Bord war mit vielen Herausforderungen, Konflikten und Animositäten verbunden. Die geteilten Erfahrungen auf dem Meer – die Monotonie des Schiffsalltags, die Betrachtung von Naturereignissen bis hin zu gemeinsam durchgestandenen Stürmen – konnten aber auch zu größerer gegenseitiger Toleranz und Verständnis führen. Der transitorische Raum der Schiffsreise über den Atlantik und die Grenzerfahrungen auf hoher See hätten nicht zuletzt, so Stephen Berry, auch Raum für das Aufbrechen religiöser Identitäten geboten und dies habe Einfluss auf das Leben im kolonialen Amerika gehabt. In den beengten Quartieren mussten die Angehörigen verschiedener Denominationen miteinander aushandeln, wie die jeweils eigene Religion gelebt werden konnte und alle mussten dabei Kompromisse schließen.² Indem das Schiffsleben die Passagier*innen an religiöse Flexibilität und die Unabhängigkeit gewöhnte, die das Leben auf dem neuen Kon-
Vgl. etwa Stephen R. Berry, A Path in the Mighty Waters. Shipboard Life & Atlantic Crossings to the New World (New Haven: Yale University Press, 2015) u. allg. Bernhard Klein und Gesa Mackenthun, Hg., Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen (Konstanz: Universitätsverlag, 2003). Berry, A Path in the Mighty Waters, 46. https://doi.org/10.1515/9783110673388-003
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tinent erforderte, wurde das Schiff zum „spiritual womb that brought forth colonial America“.³ Berry stellt damit die Annahme in Frage, dass die Migrant*innen im Wesentlichen die religiösen Formen ihrer Herkunftsländer in Nordamerika repliziert hätten. Das lange Zusammensein auf hoher See habe den Grund gelegt für das Leben auf dem nordamerikanischen Kontinent, wo im Laufe des 18. Jahrhunderts in wachsender Zahl Menschen unterschiedlichster Konfessionen eintrafen und ständig neue religiöse Bewegungen entstanden, die miteinander leben lernen mussten und bei allen Konflikten zwischen den verschiedenen Kulturen und religiösen Werten zunehmend eine gemeinsame amerikanische Identität entwickelten.
1 Die Herrnhuter Brüdergemeine Eine der vielen religiösen Gruppen, die im 18. Jahrhundert über den Atlantik reisten, war die Herrnhuter Brüdergemeine, eine in den 1720er Jahren entstandene pietistische Gemeinschaft. Zunächst hatte sie vornehmlich aus mährischen Glaubensflüchtlingen bestanden, die sich seit 1722 auf dem Gut des Grafen Zinzendorf in Herrnhut in der sächsischen Oberlausitz angesiedelt hatten. Durch den weiteren Zuzug von Frauen und Männern aus den verschiedensten Gegenden Europas, die eine ihren religiösen Vorstellungen entsprechende Lebensform suchten, wuchs die Gruppe rasch und begann schon bald nach ihrer Gründung eine intensive Reise- und Missionstätigkeit.⁴ Ab 1732 entstanden neue Gemeinorte in verschiedenen europäischen Ländern und in Nordamerika, in denen die Mitglieder jeweils unter sich und überall nach den gleichen Regeln lebten. Von den etwa 12.000 Frauen und Männern, die der Brüdergemeine 1761 angehörten, lebten 5.747 Mitglieder auf dem europäischen Kontinent, 3.442 in Großbritannien und 3.015 in Nordamerika.⁵ Die Brüdergemeine entfaltete zudem eine weltweite Missionstätigkeit und errichtete Missionsstationen zum Beispiel in Grönland, Labrador, Surinam und auf den Westindischen Inseln. Die Mission führte Herrnhuter*innen im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts bis nach Russland und Südafrika, auf die Nikobaren und
Berry, A Path in the Mighty Waters, 6, vgl. a. 256 – 257. Zur Entstehungsgeschichte bzw. zur Vorgeschichte der mährischen Unitas Fratrum, die auf die hussitische Bewegung zurückgeht, vgl. Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700 – 2000 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 5 – 9. Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine, 174.
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in den Himalaja; der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag jedoch in der atlantischen Welt.⁶ Der Gründungsort Herrnhut blieb als geistlicher Ursprungsort und administratives Zentrum ein wichtiger Referenzpunkt, prinzipiell aber wurde das Leben in der Brüdergemeine im übertragenen wie im wörtlichen Sinn als Wanderschaft begriffen.Weder die Region noch der Staat ihres jeweiligen Aufenthalts bildete die zentrale Bezugsgröße, vielmehr sahen sie sich als Teil einer weltweiten Gemeinschaft im heilsgeschichtlich gedachten universalen Raum des wachsenden „Reiches Gottes“. Das globale Netzwerk, das die Gemeinorte und Missionsstationen in Europa und Übersee zusammenhielt, war äußerst feinmaschig. Das Gefühl gemeinschaftlicher Identität wurde nicht nur durch enge organisatorische und finanzielle Verbindungen zwischen den weltweiten Siedlungen und der Gemeinleitung im sächsischen Herrnhut aufrechterhalten, sondern auch durch die häufige Versetzung von Mitgliedern, die kontinuierliche Zirkulation von Nachrichten über das Leben in den verschiedenen Gemeinorten, sowie durch gemeinsame Lieder, Rituale und Feste. All dies sollte die gleichförmige Entwicklung des Lebens in den Gemeinorten und Missionsstationen garantieren, auch wenn diese über verschiedene Kontinente verstreut waren.⁷ Von den meisten anderen religiösen Gruppen, die im 18. Jahrhundert über den Atlantik migrierten, unterschied sich die Brüdergemeine dadurch, dass es bei ihr nicht in erster Linie darum ging, einmalig nach Amerika auszuwandern, um sich als Gemeinschaft dort neu zu etablieren.Vielmehr ging es um die Ausbreitung und Aufrechterhaltung eines weltweiten Netzwerkes. Entsprechend war die Brüdergemeine eine äußerst mobile Gemeinschaft und ihre Mitglieder waren oft über Land und über See unterwegs. Anders als die meisten anderen Migrant*innen des 18. Jahrhunderts überquerten nicht wenige Mitglieder der Brüdergemeine die Ozeane im Dienst der Gemeinschaft gleich mehrfach. So hatte etwa Benigna Sophia Cunow, die 1765 in Herrnhut geboren wurde und 1836 im nur zwanzig Kilometer entfernten Niesky starb, in ihrem Leben „die Fahrt über das Atlantische Meer, von Deutschland nach Nord-Amerika und wieder zurück, nicht weniger als sechs Mal gemacht […] und bei solchen Gelegenheiten auch England mehrmals besucht“.⁸ Für Cunow wie für viele andere Mitglieder der Brüdergemeine war die
Vgl. die Übersicht über die Gemeinorte, Sozietäten und Missionsstationen 1727– 1857 in Gisela Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727 – 1857 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 277– 279. Vgl. hierzu insg. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich. Lebenslauf Benigna Sophie Cunow (1765 – 1836), in Nachrichten aus der Brüdergemeine (1839), 439 – 450.
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Wanderschaft ihres irdischen Lebens also mehr als eine bloße spirituelle Metapher⁹, sondern auch eine oftmals riskante Realität.
2 Atlantiküberfahrten auf kommerziellen Schiffen Ab 1735 begann die Brüdergemeine, Mitglieder nach Nordamerika zu schicken, um dort Missionsstationen und neue Gemeinorte zu gründen. Wurden einzelne Personen, Paare oder kleinere Gruppen entsandt, war die Brüdergemeine in der Regel auf die Schiffe und Dienste von Handelsgesellschaften angewiesen. Wenn größere Gruppen über den Atlantik gebracht werden sollten, kaufte die Brüdergemeine wann immer möglich eigene Schiffe für die Passage. Das Leben an Bord der kommerziellen Schiffe war durch das Zusammensein mit anderen frommen und nichtfrommen Reisenden mit vielfältigen Herausforderungen, Spannungen und Auseinandersetzungen verbunden, andererseits bot es den Mitgliedern der Brüdergemeine auch vielfältige Möglichkeiten, durch gutes Vorbild ihren Glauben vor der Welt zu bezeugen. Das Schiff stellte einen geradezu idealen Ort der Glaubensbewährung dar, denn inmitten der Gefahren des Meeres waren Nöte, Bedrängnisse, Mühen und Strapazen essentielle Bestandteile nicht nur der realen sondern auch der spirituellen Reiseerfahrung.¹⁰ Folgt man den herrnhutischen Beschreibungen, scheint die Glaubensgewissheit der Geschwister auch den gefährlichsten Situationen das Drohende genommen zu haben.¹¹ Betont wird stets die Ruhe und Gelassenheit, die diese angesichts vielfältiger Gefahren gezeigt hätten.Während die Wogen über das Deck spülten, Donner und Ozean grollten, saßen sie zusammen, beteten und
Zum religiösen Topos der Wanderschaft vgl. Knut Backhaus, Religion als Reise. Intertextuelle Lektüren in Antike und Christentum (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014). Vgl. Backhaus, Religion als Reise, 188, und Jürgen Heumann, „Zwischen Chaos und Kosmos. Die Symbolik des Meeres und ihre Wiederkehr“, in „Alle Wasser fließen ins Meer…“. Die grenzüberschreitende Kraft der Religionen, hg. v. Hans Grewel und Reinhard Kirste (Köln u. a.: Böhlau, 1998), 105 – 113, hier 112. Die Mitglieder der Brüdergemeine hielten ihre Erfahrungen bei ihren Reisen über Land und auf See in Diarien fest, um die Zeichen des göttlichen Wirkens für die Gemeinleitung und die Geschwister zu dokumentieren. Diese Diarien wurden, ebenso wie die Diarien, in denen die einzelnen Gemeinorte ihren Alltag dokumentierten, regelmäßig nach Herrnhut gesandt, dort wurden sie in Auszügen kopiert und in die weltweiten Gemeinorte geschickt, um dort auf den regelmäßigen Gemeintagen verlesen zu werden. Ebenso hielten die Mitglieder ihre (Reise)Erfahrungen in ihren Lebensläufen fest. Jedes Mitglied war gehalten, einen Lebenslauf zu verfassen, zehntausende dieser Lebensläufe sind heute in den Archiven der Brüdergemeine in Herrnhut und in Bethlehem PA, USA, aufbewahrt; vgl. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich, 113 – 254.
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sangen. Wieviel Angst und Verzagen hinter dieser Topik der brüderischen Quellen verborgen bleibt, lässt sich nicht leicht feststellen. Aber dass die Topoi auch in gelebte Praxis übergingen, macht die berühmte Begegnung John Wesleys mit der Brüdergemeine an Bord der „Simmonds“ im Winter 1735/36 während der Überfahrt von London nach Georgia deutlich. Wesley hatte an einem Abend im Januar 1736 beobachtet, so notierte er später in sein Tagebuch, wie die (von ihm „Germans“ genannten) brüderischen Passagier*innen während eines fürchterlichen Seesturms ruhig ihre Psalmen sangen, während die meisten anderen Reisenden in Panik gerieten: At seven I went to the Germans. I had long before observed the great seriousness of their behaviour. […] There was now an opportunity of trying whether they were delivered from the Spirit of fear […]. In the midst of the psalm wherewith their service began, the sea broke over, split the main-sail in pieces, covered the ship, and poured in between the decks, as if the great deep had already swallowed us up. A terrible screaming began among the English. The Germans calmly sung on. I asked one of them afterwards, „Was you not afraid?“ He answered, „I thank God, no.“ I asked, „But were not your women and children afraid?“ He replied, mildly, „No; our women and children are not afraid to die“.¹²
Die Geschwister führten vor, wie der Glaube ihnen half, mit Ängsten umzugehen und diese Glaubenskraft der ebenso frommen wie furchtlosen Passagier*innen beeindruckte Wesley nachhaltig. Die Mitglieder der Brüdergemeine begegneten auf den kommerziellen Schiffen aber auch häufig Mitreisenden und Schiffsmannschaften, die ihnen nicht so freundlich gegenüberstanden. So konnten sie etwa den theologischen Kontroversen und heftigen Anfeindungen, denen sie sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts in vielen Ländern gegenüber sahen,¹³ auch auf See häufig nicht entkommen; umso weniger, als es auf einem Schiff nur sehr begrenzt möglich war, sich aus dem Weg zu gehen. Dies galt auch gegenüber Passagieren, deren Verhalten die Brüdergemeine ablehnte. In den Quellen finden sich häufige Klagen über „unchristliche“ Kaufleute, betrunkene Kapitäne, „gottloses Schiffsvolk“ oder „böse Gesellschaft“, von der nicht nur spirituelle, sondern auch körperliche Gefahren ausgingen. Ebenso konnten die Rituale der Seefahrer die religiösen Überzeugungen der Reisenden auf harte Proben stellen, wie etwa die Seetaufe am Wendekreis des Krebses mit ihren starken sexuellen Untertönen und Cross Dressing
John Wesley, Tagebucheintrag 25. Januar 1736, in The Journal of the Reverend John Wesley, hg.v. Nehemiah Curnock. Standard Edition, Bd. 1 (London/New York, 1909), 142– 143. Vgl. das 386 Titel umfassende Verzeichnis der Streitschriften gegen die Brüdergemeine aus den Jahren 1727– 1764 bei Dietrich Meyer, Hg., Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung (Düsseldorf: ohne Verlag, 1987), 281– 499.
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Praktiken.¹⁴ Als erfahrene Seereisende wussten die Mitglieder der Brüdergemeine sich zwar oft zu helfen: Bei einer Überfahrt von London nach Antigua im Frühjahr 1776 folgten sie dem üblichen Brauch und gaben beim Eintritt in tropische Gewässer den Seeleuten einige Liter Brandy, während zwei andere Passagiere, die offenbar mit dem Ritual nicht vertraut waren und nichts gaben, von den Seeleuten ins Meer getaucht wurden.¹⁵ Allerdings wäre es den Mitgliedern wahrscheinlich lieber gewesen, gar nicht erst in eine Situation gekommen zu sein, aus der sie sich nur durch die Gabe von Alkohol befreien konnten. Auch wenn sich durch das enge Zusammensein mit „unchristlichen“ Schiffsmannschaften und nichtbrüderischen Reisenden immer wieder Möglichkeiten für Bekehrungsbemühungen und gutes Vorbild durch die Brüdergemeine ergeben konnten, schien der Brüdergemeine die Überfahrt auf eigenen Schiffen letztlich doch attraktiver, denn die Kontakte zu anderen Mitreisenden hatten stets auch das Potential, die Identität der Brüdergemeine als weltumspannende Gemeinschaft zu gefährden.¹⁶ Selbst wenn es nicht zu Konflikten kam, konnte sich auf dem Schiff in den Begegnungen, Auseinandersetzungen und Koalitionen mit anderen Reisenden über konfessionelle Grenzen hinweg die uniforme Lebensund Glaubenspraxis der Brüdergemeine verändern und damit die Einheit der weltweiten Gemeinschaft untergraben. Für das Selbstverständnis der Brüdergemeine war es essentiell wichtig, dass die Mitglieder während der langen Reise über den Atlantik ihre spezifische religiöse Identität möglichst unverändert aufrechterhielten, um dann auf dem amerikanischen Kontinent die brüderischen religiösen Formen genauso replizieren zu können, wie sie weltweit in allen Gemeinorten verfolgt wurden. Die nach Nordamerika reisenden Geschwister sollten sich weiterhin als Teil einer Länder und Kontinente übergreifenden Gemeinschaft begreifen und nicht als künftige Amerikaner*innen. Die Entscheidung, die Überfahrt wann immer möglich in eigenen Schiffen zu organisieren, sollte daher vor allem auch dazu dienen, den Fortbestand der Einheit der weltumspannenden Gemeinschaft zu gewährleisten.
Vgl. Berry, A Path in the Mighty Waters, 140. Vgl. Geoffrey Stead und Margaret Stead, The Exotic Plant. A History of the Moravian Church in Britain, 1742 – 2000 (Werrington: Epworth Press, 2003), 359. Zur maritimen Kultur der Seeleute vgl. Paul A. Gilje, To Swear like a Sailor. Maritime Culture in America, 1750 – 1850 (New York: Cambridge University Press, 2016). Zur Konstitution der Brüdergemeine als globale Gemeinschaft vgl. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich.
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3 Seereisen auf eigenen Schiffen Um ihre Mitglieder über den Atlantik zu bringen, ohne dass diese über die Wochen und Monate einer Schiffsreise den potentiell für die Brüdergemeine in vieler Hinsicht problematischen Einflüssen von mitreisenden Passagieren und Schiffsmannschaften an Bord ausgesetzt waren, war die Brüdergemeine bestrebt, für die Überfahrten größerer Gruppen zukünftiger Kolonist*innen ein eigenes Schiff bereit zu stellen. Dabei handelte es sich meist um Snows, der nautische Begriff für die größten Zweimaster, die damals in der Handelsschifffahrt unterwegs waren.¹⁷ Dies sollte zum einen sicherstellen, dass das Leben an Bord während der oft langen Überfahrten ohne Unterbrechung oder Störung durch nicht immer wohlgesinnte Mitreisende nach den eigenen Rhythmen und Ritualen ablaufen konnte, gerade so als wären die Mitglieder in einem Gemeinort. Zum anderen sollten die Reisen dadurch auch zuverlässiger und kostengünstiger werden. Nicht zuletzt dienten die Schiffe auch dazu, Post und Güter wie etwa Baumaterialien, Möbel, Musikinstrumente, Bilder, Lebensmittel, Briefe, brüderische Zeitschriften und Druckwerke für den Bedarf der überseeischen Gemeinorte und Missionsstationen zu transportieren. Auf den kommerziellen Schiffen war die Brüdergemeine aufgrund hoher Transportkosten meist auf das Nötigste beschränkt. Die eigenen Schiffe boten dagegen mehr Freiheit, Dinge mitzunehmen, die für das Gemeinleben auf dem Schiff und in Übersee wichtig waren.¹⁸ Zunächst kaufte die Brüdergemeine die Schiffe nur für einzelne Fahrten und verkaufte sie nach der Überfahrt wieder, sofern sie nicht zuvor gekapert wurden, wie etwa das zweite Schiff der Brüdergemeine, die Little Strength, die spanische Freibeuter 1744 auf der Rückfahrt von New York nach Amsterdam im Ärmelkanal an sich brachten.¹⁹ Seit 1748 besaß die Brüdergemeine dauerhaft ein eigenes Schiff, die Irene, die im Dienst der Brüdergemeine 24 Mal über den Atlantik fuhr.²⁰ Passagierlisten von 14 Atlantikfahrten mit unterschiedlich vielen Personen sind
John W. Jordan, „Moravian Immigration to Pennsylvania, 1734– 1767,“ Transactions of the Moravian Historical Society 5 (Pennsylvania, 1896), 51– 90, hier 54. Zum Letzteren vgl. Katherine Carté Engel, „Commerce that the Lord Could Sanctify and Bless“. Moravian Participation in Transatlantic Trade, 1740 – 1760. In: Michele Gillespie/Robert Beachy, Hg., Pious Pursuits. German Moravians in the Atlantic World (New York: Berghahn Books, 2007), 113 – 126. Vgl. Jordan, Moravian Immigration to Pennsylvania, 61– 63. Jordan, Moravian Immigration to Pennsylvania, 68. Die Irene war zwischen 1745 und 1748 in einer Werft auf Staten Island gebaut und dann vom brüderischen Kapitän Nicolas Garrison über den Atlantik gebracht worden.
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überliefert.²¹ Ende 1757 wurde die Irene auf dem Rückweg von New York von einem französischen Freibeuter gekapert und erlitt dabei Schiffbruch.²² Zwischen 1770 bis 1926 besaß die Brüdergemeine im Lauf der Zeit insgesamt zwölf weitere Schiffe, die unter sieben Kapitänen vor allem im Dienst der verschiedenen weltweiten Missionsunternehmungen der Brüdergemeine standen.²³ Auch der Kapitän und die Mannschaft sollten auf den brüderischen Schiffen idealerweise zur Brüdergemeine gehören. Das erste brüderische Schiff, die Catherine, stand unter dem Kommando von Kapitän Thomas Gladman, der der Brüdergemeine in England nahestand.²⁴ Danach hatte Kapitän Nicolas Garrison das Kommando inne. Dieser hatte die Brüdergemeine 1736 auf der Karibikinsel St. Eustachius kennengelernt. 1738 begegnete er Zinzendorf auf St. Thomas und war seither eng mit der Brüdergemeine verbunden. 1743 war er in die Brüdergemeine aufgenommen worden und seitdem bis 1756 Kapitän auf der „Irene“. Später folgte ihm sein Sohn nach.²⁵ Die Brüdergemeine wusste die nautischen Fähigkeiten ihres erfahrenen Kapitäns sehr zu schätzen, allerdings war es im Selbstverständnis der Brüdergemeine letztlich stets die unsichtbare Hand Gottes, die die sichere Überfahrt gewährleistete. Kapitän Garrison selbst schien diese Auffassung geteilt zu haben, wie eine in seinem Lebenslauf wiedergegebene Anekdote einer Seereise mit Zinzendorf nahelegt. Dieser hatte gegen allen Anschein vorausgesagt, das in einen schweren Sturm geratene Schiff werde mit Sicherheit gerettet und der Sturm sich nach zwei Stunden legen, eine Voraussage, die fast bis auf die Minute zutraf: Der Graf, welcher bei dieser Gefahr zu meiner großen Verwunderung sehr munter und vergnügt war und meine Ängstlichkeit bemerkte, sagte mir, dass wir alle glücklich zu Lande kommen würden und dass der Sturm in zwei Stunden vorüber sein werde. Nach Verlauf derselben schickte er mich aufs Verdeck. In einigen Minuten hatte sich der Sturm gelegt, und
Vgl. die Passagierlisten bei Jordan, Moravian Immigration to Pennsylvania, 71– 81 u. William C. Reichel, A Register of Members of the Moravian Church, and of Persons Attached to Said Church in this Country and Abroad, between 1727 and 1754. In: Transactions of the Moravian Historical Society 1 (1876), 286 – 426. Vgl. Jordan, Moravian Immigration to Pennsylvania, 82– 86. Vgl. etwa Anonym, Brief Account of the Missionary Ships on the Coast of Labrador from 1770 – 1877 (London 1877). Zur Bedeutung dieser Schiffe für die Finanzierung der brüderischen Missionsunternehmungen vgl. Carte Engel, „Commerce that the Lord Could Sanctify and Bless“. Joseph M. Levering, A History of Bethlehem, Pennsylvania, 1741 – 1892 (Bethlehem PA: Times publishing company, 1903), 167. Vgl. Lebenslauf des Bruders Nicolaus Garrison, heimgegangen zu Bethlehem in Nordamerika. In: Nachrichten aus der Brüdergemeine 2 (1837), 321– 337.
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ein günstiger Wind brachte uns aus aller Gefahr. Dieser merkwürdige Umstand […] machte einen großen Eindruck auf mich.²⁶
Das Motiv des „besonderen Passagiers“, der über ein den Seeleuten überlegenes Wissen verfügt, ist der Apostelgeschichte (27,1– 44) entnommen. Dort zeigt sich Paulus bei der Schiffsreise nach Rom ebenfalls im Sturm aller Not überlegen, und sagt, wetterkundiger und nautisch mehr bewandert als die Seeleute, den weiteren Ablauf exakt voraus.²⁷ Auch die Mannschaft der Herrnhuter Schiffe sollte soweit als möglich aus Mitgliedern oder Freunden der Brüdergemeine bestehen, denn gerade die Mannschaften hatten auf kommerziellen Schiffen häufig Anlass für Unmut geboten. Wurden Seeleute Mitglied der Brüdergemeine, wurden sie umgehend als „Seemannsbrüder“ für die Mannschaft eines Gemeinschiffes verpflichtet, was auch den Vorteil mit sich brachte, dass den „Seemannsbrüdern“ kein Lohn gezahlt werden musste.²⁸ Um die Kosten für die Überfahrten zu senken, wurden auf den Brüderschiffen neben Mitgliedern und eigener Fracht auch befreundete zahlende Passagiere und Cargo in beide Richtungen transportiert.²⁹ Vor allem für die Rückfahrten nach Europa versuchte die Brüdergemeine, kommerzielle Passagiere und Transporte, etwa von Kaffee, Reis oder Zucker, zu sichern.³⁰ Darüber hinaus finanzierten sich die Schiffe über Spenden von finanzkräftigen Unterstützerinnen und Unterstützern der Brüdergemeine und privaten Trägerkreisen und Fördervereinen.
4 Das Schiff als Gemeinort Die eigenen Schiffe ermöglichten der Brüdergemeine, das Leben an Bord unabhängig von anderen Passagieren als einen gemeinsamen Lebens- und Frömmigkeitsraum zu gestalten. War es ihnen auf den anderen Schiffen oft nicht möglich, ihre religiösen Rituale ungehindert zu vollziehen, da es an geeigneten Räumen fehlte, konnten sie sich nun auf ihre religiöse Praxis konzentrieren. Nicht nur waren sie weit weg von den Angriffen der Gegner*innen, die die Brüdergemeine in
Lebenslauf des Bruders Nicolaus Garrison, 332. Backhaus, Religion als Reise, 208. Die Brüdergemeine bietet ein reiches Untersuchungsfeld zur kritischen Überprüfung des auch von Berry kritisierten Stereotyps einer generellen Irreligiosität von Seeleuten; vgl. Berry, A Path in the Mighty Waters, Kapitel 3. Carté Engel, „Commerce that the Lord Could Sanctify and Bless“, 117– 118. Carté Engel, „Commerce that the Lord Could Sanctify and Bless“, 117– 118.
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vielen Ländern hatte, und den Konflikten an Bord; auf den eigenen Schiffen waren sie auch dem Geltungsbereich staatlicher Macht entzogen und konnten sich endlich als die Bürger*innen im Reiche Gottes fühlen, die sie auch an Land zu sein beanspruchten.³¹ Auf der von Zinzendorf initiierten Pennsylvanischen Synode der Evangelischen Religionen wurde 1742 denn auch mit einiger Genugtuung berichtet, dass die Mitglieder der Ersten Seegemeine „ihre habende Passeporte von den kriegenden Nationen nicht mitnehmen dürffen, sondern alleine auf des HERRN Schutz reisen müssen“.³² Die brüderischen Schiffe fuhren zwar meist unter englischer Flagge, auf hoher See hissten sie aber die brüderische Fahne mit dem Lamm auf rotem Grund.³³ Losgelöst von den Gegebenheiten des weltlichen Lebens konnten die Mitglieder auf dem Meer sich gewissermaßen auf einer höheren spirituellen Ebene organisieren und fühlten sich gerade an dem der Welt entrückten Ort des Schiffes in intensiver Verbindung mit den entfernten Geschwistern in den weltweiten Gemeinorten und Missionsstationen. Die umfassende seelsorgerische Betreuung der Reisenden, die bereits vor der Abreise begann, schuf dafür die Grundlage. Die Mitglieder wurden vor ihrer Abreise jeweils mit einem Liebesmahl verabschiedet, das nicht nur der Einsegnung diente, sondern auch der formalen Organisation als Seegemeine, indem bei diesem Anlass auch die Ernennung zu den verschiedenen Ämtern auf See erfolgte. Die Brüdergemeine war bestrebt, das Schiff auf der Fahrt über den Ozean wie einen schwimmenden Gemeinort zu gestalten. Die seereisenden Mitglieder wurden wie in den Gemeinorten üblich nach Geschlecht und Familienstand in sogenannte Chöre eingeteilt. Diesen zugehörig waren entsprechende Vorsteherinnen und Vorsteher, die für die äußere Verwaltung eines jeden Chores zuständig waren, sowie weibliche und männliche Älteste, denen die seelsorgerische Betreuung ihres jeweiligen Chores oblag. Das oberste Leitungsgremium der Seegemeine bildete die sogenannte Konferenz, der ein Gemeinältester vorstand, in der Regel der brüderische Kapitän. Ihm zur Seite stand eine aus fünf Brüdern und zwei Schwestern zusammengesetzte Konferenz, die jeden Morgen und jeden Abend in der Kapitänskabine Sitzungen abhielten.
Vgl. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich, 82– 84. Siebender General-Synodus, & c. In: Peter Vogt, Hg., Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Bd. 30, Authentische Relation (Hildesheim u. a.: Olms Verlag, 1998), 109 – 116, hier 110. Es handelte sich hier wohl um den War of Jenkinsʼ Ear (1739 – 1748), ein Kolonialkrieg zwischen Spanien und Großbritannien. Der genaue Hintergrund der Passabgabe konnte noch nicht geklärt werden. Vgl. Jordan, Moravian Immigration to Pennsylvania, 54.
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Zu den Aufgaben dieses Gremiums zählte u. a. die Kontrolle der Vorräte und die Verteilung des Proviants. Als bei der Überfahrt der zweiten Seegemeine die Wasservorräte leckschlugen und das Wasser daraufhin knapp wurde, organisierte die Konferenz die Verteilung des knappen Guts. Auch wenn in den Diarien es nicht der guten Planung der Konferenz, sondern allein Gottes Gnade und wunderbarer Hilfe zugeschrieben wurde, dass die Reisenden nicht verdursteten, lässt sich doch festhalten, dass die eigenen Schiffe nicht zuletzt den Vorteil boten, in Versorgungsnotlagen nicht von den Planungen und Zuteilungen anderer abhängig zu sein. Vor allem aber konnte auf den brüderischen Schiffen die Ordnung des Gemeinlebens, wie es an Land üblich war, ohne Unterbrechung aufrechterhalten werden. Das Leben an Bord folgte den gleichen religiösen Praktiken und Ritualen, die in den Gemeinorten an Land üblich waren. Tages- und Wochenablauf folgten den gleichen Rhythmen, die gleichen Feste wurden an den dafür vorgesehenen Tagen gefeiert, Singstunden und Liebesmahle abgehalten und auf dem monatlichen Gemeintag wurden mitgenommene Briefe und Gemeinnachrichten gelesen. So wurde die Seereise zu einer Abfolge religiöser Feiern und Frömmigkeitspraktiken, bei denen die Mitglieder eingebunden blieben in das System symbolischer Kommunikation, das die weltweite Gemeinschaft zusammenhielt. Auf den eigenen Schiffen war es auch weit besser als auf kommerziellen Schiffen möglich, die geschlechtergetrennte Organisation der Brüdergemeine aufrechtzuerhalten. Die Struktur der Gemeinorte, wo die ledigen Schwestern, die ledigen Brüder und die Verheirateten jeweils in getrennten Häusern lebten, sollte soweit als möglich auf dem Schiff nachgebildet werden. Erkennen lässt sich die geschlechtergetrennte Organisation etwa am Aufmaß eines Schiffes, mit dem Mitglieder der Brüdergemeine, die in den russischen Gemeinort Sarepta (nahe des heutigen Wolgograds) berufen worden waren, 1767/1768 dorthin gereist waren. Auf der Steuerbordseite des Schiffes waren Schlafsaal (A) und Wohnstube (B) der ledigen Brüder untergebracht, auf der Backbordseite der Schlafsaal (F) sowie der Versammlungs- und Speisesaal (D) der ledigen Schwestern, dazwischen lag die Stube (E) der Ehepaare, wobei davon auszugehen ist, dass die Ehepaare getrennt schliefen. Zwischen Schwestern- und Brüderseite bestand unter Deck keine Verbindung, die jeweiligen Durchgänge und Zugänge zu den Treppen (H) liefen bei den Schwestern Richtung Heck, bei den Brüdern Richtung Bug. Die geschlechtergetrennte Organisation ließ sich auf den verschiedenen Schiffen der Brüdergemeine nicht immer so idealtypisch realisieren wie auf dem Schiff nach Sarepta. So wurde etwa bei der zweiten Atlantiküberfahrt in einem eigenen Schiff 1743 die Geschlechtertrennung auf zwei Decks organisiert. Die Schwestern waren im mittleren Deck untergebracht, das mit Bänken und Sitzen ausgestattet war, die Brüder schliefen im unteren, mit Hängematten ausgestat-
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Abb. 1: Schiffsaufmaß, Pilgergemeine Sarepta. Aufmaß des Schiffes, mit dem die Mitglieder der Brüdergemeine, die nach Sarepta berufen worden waren, dorthin reisten mit Angabe der Nutzung der Räume (1767 o. 1768) 1 Blatt Federzeichnung 305x115 mm. Auf der Rückseite der Zeichnung steht: „zu dem Reisediario der Geschw. nach Sarepta. Auf diesem Schiff bildetet man eine ‘Pilgergemeine′“, UAH, Signatur: Mp.282.12. Im Gegensatz zu den Zweimastern, die über den Atlantik fuhren, handelte es sich hier um ein kleineres einmastiges Schiff.
teten Deck. Bei den Liturgien an Bord, bei denen die Geschlechter wie in den Gemeinorten üblich getrennt sein sollten, saßen die Schwestern auf ihrem Deck auf den Bänken, während die Brüder auf ihrem Deck neben ihren Hängematten standen. Der Liturgus stand auf einer Treppe zwischen den beiden Decks.
5 Schluss Von den 830 namentlich bekannten Mitgliedern der Brüdergemeine, die bis 1775 den Atlantik überquerten, überlebten alle bis auf eines die Überfahrt.³⁴ Dass diese sicherer und bei besserer Gesundheit als viele andere transatlantische Migrant*innen die Reise über den Ozean überstanden, lag wohl vor allem darin begründet, dass der Migrationsprozess der Brüdergemeine einer sorgfältigen Planung und Organisation unterlag.³⁵ Dabei konnte diese auf ein aus vielen Reiseerfahrungen gewonnenes Wissen zurückgreifen und dadurch Gefahren, die etwa in Hafenorten drohten, vermeiden.
Vgl. die Berechnungen von Aaron S. Fogleman, Hopeful Journeys. German Immigration, Settlement, and Political Culture in Colonial America, 1717 – 1775 (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1996), 126 u. 209 FN 38. Bei den namentlich bekannten Seereisenden der Brüdergemeine handelt es sich vor allem um die Reisenden auf den brüderischen Schiffen, da hier die Passagierlisten vorliegen. Vgl. a. Fogleman, Hopeful Journeys, 116 u. 125 – 126.
Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert
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Auf ihren eigenen, gut ausgestatteten Schiffen reisten die Mitglieder mit hochmotivierten und vor allem auch nüchternen Mannschaften und waren zudem nicht den Interessen von teils ausbeuterischen Schiffseignern und Kapitänen ausgeliefert. Beides wirkte sich, etwa in Krisensituationen an Bord, positiv aus. Nicht zuletzt konnte die Brüdergemeine auf ein weites und gut organisiertes Netzwerk von Unterstützer*innen auf beiden Seiten des Atlantiks zählen, die die Mitglieder vor und nach einer Seereise, wie auch sonst auf ihren Reisen, mit Proviant und Unterkunft versorgten. In den nordamerikanischen Ankunftshäfen (meist in New York) wurde den Mitgliedern in der Regel ein freundlicher Empfang bereitet. Sobald die Nachricht von der Ankunft eines Schiffes im pennsylvanischen Bethlehem, dem Hauptstützpunkt der Brüdergemeine in Nordamerika, eintraf, wurden eine Anzahl lediger Brüder zum Hafen geschickt, um die Ankommenden zu begrüßen, ihnen beim Ausladen zu helfen und sie nach Bethlehem zu geleiten. Um dorthin zu gelangen, mussten die von der langen Seereise erschöpften Geschwister noch eine strapaziöse Reise von mehreren Tagen auf sich nehmen, die sie zum größten Teil zu Fuß zurücklegten. In Bethlehem wurden sie dann mit einem Liebesmahl feierlich empfangen, bei dem die Seegemeine offiziell aufgelöst wurde.³⁶
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Levering, A History of Bethlehem, Pennsylvania, 169 – 171. Im 18. Jahrhundert gelang es der Brüdergemeine selbst unter widrigsten Reise- und Kommunikationsbedingungen, den transnationalen Gruppenzusammenhang zwischen den weltweiten Gemeinorten aufrechtzuerhalten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts lösten sich die nordamerikanischen Gemeinorte allerdings von der starken Binnenorientierung und entwickelten zunehmend nationale Loyalitäten und Zugehörigkeitsgefühle. Die Amerikanische Revolution, in der die „multiplen“ Zugehörigkeiten der Brüdergemeine massiv in Frage gestellt wurden, stand am Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf sich die Mitglieder der amerikanischen Gemeine immer stärker mit ihrer Umgebung identifizierten; vgl. zu diesen Prozessen Gisela Mettele, Eine „Imagined Community“ jenseits der Nation. Die Herrnhuter Brüdergemeine als transnationale Gemeinschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 32/1 (2006), 45 – 68, hier besonders 62 – 67.
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Reisekommissare und Pastoren – weltliche und geistliche Migrant*innenbegleiter im Netzwerk der Salzburger Amerikaemigration (1733 – 1741) 1 Einleitung
Migrationen und ihre Verläufe sind geprägt durch eine Vielzahl von personellen und informellen Strukturen, die auf den ersten Blick nicht immer eindeutig sichtbar sind. In der heutigen medialen Berichterstattung über die Migrationsströme aus Syrien, dem Irak und aus den nordafrikanischen Staaten beherrscht vor allem die Figur des Schleppers das Bild der (un)sichtbaren Strukturen von Migration. Der Schlepper wird von außen als eine negativ besetzte Struktur innerhalb von Migrationsregimen wahrgenommen. Vor allem werden immer wieder seine finanziellen Eigeninteressen und die Illegalität seines Handelns betont. Jedoch ist er für die Migrant*innen selbst ein wichtiger Anlaufpunkt, da er als Broker und Vermittler agieren kann, der über das nötige Wissen über lokale Infrastrukturen, Kulturen und Machtgefüge verfügt. Solche personellen Geflechte sind für Migrationsregime nichts Ungewöhnliches, sondern sind integraler Bestandteil dessen und lassen sich über die Epochengrenzen hinaus in den unterschiedlichsten Migrationsregimen finden. Ein frühneuzeitliches Beispiel ist die Vertreibung der Salzburger Protestant*innen aus dem Erzstift Salzburg in den Jahren 1731 und 1732. So wurden ca. 20.000 Protestant*innen durch das Ausweisungspatent des Fürstbischofs Firmian vom 31. Oktober 1731 dazu gezwungen, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Dieses Vorgehen sorgte vor allem in den protestantisch geprägten Ländern Europas für große Empörung, aber auch Hilfsbereitschaft. So erließ der preußische König Friedrich Wilhelm I. im Februar 1732 ein Einladungspatent für die Salzburger*innen und viele folgten dieser Einladung. Die Ansiedlung der Salzburger*innen in Ostpreußen organisierte der preußische Kommissar Johann Göbel. Jedoch gingen nicht alle Salzburger*innen nach Ostpreußen – ein kleiner Teil folgte einer Einladung in die Niederlande nach Cadzand.¹ Eine weitere Gruppe folgte 1733 einer Einladung der Trustees of Georgia
Die Ansiedlung der Salzburger in Cadzand verlief nicht sehr erfolgreich. Viele von ihnen kehrten zurück ins Alte Reich; vgl. Gerhard Florey, Geschichte der Salzburger Protestanten und https://doi.org/10.1515/9783110673388-004
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und der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) in die neugegründete Kolonie Georgia in Nordamerika.² Ein protestantisch-pietistisches Netzwerk organisierte die Emigration nach Georgia. Die Migrant*innen wurden in mehreren Transporten, die von Reisekommissaren und Pastoren begleitet wurden, in die neue Kolonie gebracht. Die bisherige Forschung hat das umfassende Netzwerk der Trägerinstitutionen in den Blick genommen. Die personellen Strukturen der Reisekommissare und Pastoren als Migrant*innenbegleiter treten hier nur am Rande in Erscheinung und ohne dabei deren Handlungsspielräume genauer zu berücksichtigen.³ Ebenso sind die Publikationen, welche rund um die Amerikaemigration der Salzburger*innen entstanden, analysiert worden. Doch auch hier wurden die Reisekommissare und Pastoren nur knapp erwähnt, obwohl die großen Publikationen zu dieser Emigration aus deren Berichten und Briefen bestanden und sie dadurch einen großen Einfluss auf die Darstellung der Emigration hatten.⁴ Die Reisekommissare und Pastoren der Salzburger Amerikaemigration sollen im Vordergrund der folgenden Darstellung stehen. Um ihre Eingebundenheit in das Netzwerk der Emigration deutlich zu machen, und die Handlungsspielräume, die sich aus ihrer Stellung innerhalb dieses Netzes ergaben, aufzuzeigen, sollen zunächst die Verflechtungen der Trägerinstitutionen skizziert sowie daran anschließend die Einbettung der Reisekommissare und Pastoren innerhalb dieses Netzwerkes genauer beleuchtet werden.
ihrer Emigration 1731/32, Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte. Erste Reihe 2 (Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1986), 190 – 202. Zur Geschichte der Vertreibung der Salzburger vgl. Florey, Geschichte und Mack Walker, Der Salzburger Handel: Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 131 (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1997). Alexander Pyrges, Das Kolonialprojekt Ebenezer: Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts, Transatlantische Historische Studien 53 (Stuttgart: Fritz Steiner Verlag, 2015). Charlotte Haver, Von Salzburg nach Amerika: Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert, Studien zur Historischen Migrationsforschung 21 (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2011); Rainald Becker, Nordamerika aus süddeutscher Perspektive: Die Neue Welt in der gelehrten Publikation im 18. Jahrhundert, Transatlantische Historische Studien 47 (Stuttgart: Steiner, 2012).
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2 Das Netzwerk der Salzburger Emigration Das Netzwerk der Emigration setzte sich aus mehreren zentralen Akteuren im Alten Reich und in Großbritannien zusammen, die als Trägerinstitutionen die Emigration organisierten. Zu diesen Trägerinstitutionen in Großbritannien gehörten die SPCK und die Trustees of Georgia. Hinzu kam noch die Royal German Lutheran Chapel in London, welche seit 1705 mit einem deutschen Pfarrer besetzt war, der gute Beziehungen zu den Pietist*innen im Alten Reich pflegte. Im Alten Reich waren die Trägerinstitutionen das Hallesche Waisenhaus mit Gotthilf August Francke und die Pietist*innen in Augsburg rund um Samuel Urlsperger. Im Folgenden sollen die Trägerinstitutionen, ihre Beziehungen und ihre Bedeutung für die Salzburger Emigration genauer erläutert werden. Bei der SPCK handelt es sich um eine Missionsgesellschaft, welche 1698 durch Dr. Thomas Bray gegründet und vornehmlich durch die Arbeit von Laien geprägt wurde.⁵ Ihre Anliegen waren unter anderem die die Förderung der christlichen Erziehung durch die Unterstützung von Schulgründungen, die Einrichtung von Bibliotheken in Gefängnissen sowie den Vertrieb preiswerter Erbauungsliteratur. Durch einige Reformen in den 1710er und 1720er Jahren wurde die Organisation der SPCK dann offiziell durch einen Sekretär verwaltet. Dieser war für den Zeitraum der Salzburger Emigration Henry Newman. Ihm kamen die Aufgaben der Geldverwaltung, Kommunikation und Publikation zu. Diese Konzentration der Organisation trug zum Erfolg der SPCK und der von ihr unterstützten Projekten bei. So wuchs die SPCK recht schnell von vier Gründungsmitgliedern zu einer international geprägten Gesellschaft mit 200 Subskribenten.⁶ Zu den Subskribenten gehörten auch Francke und die Pietist*innen in Halle. Diese Kontakte erwiesen sich als sehr gewinnbringend für die Projekte der SPCK und vor allem waren sie für die Organisation der Salzburger Emigration ab 1732 sehr nützlich.⁷ In Folge ihrer Reformen weitet die SPCK ihre Tätigkeit auf den Bereich der Spendensammlungen im Namen des Königs zur Unterstützung von unterschiedlichen Projekten und verfolgten Protestant*innen aus. Durch ihr En-
Die SPCK ist heute immer noch tätig, vgl. https://spckpublishing.co.uk/ (letzter Zugriff: 30.03. 2020); Pyrges, Kolonialprojekt, 61– 62; Sugiko Nishikawa, „The SPCK in Defence of Protestant Minorities in Early Eighteenth Century“, Journal of Ecclastical History 56 (2005): 730 – 747, hier: 734– 35; Sugiko Nishikawa, English Attitudes toward Continental Protestants, with Particular Reference to Church Briefs c.1680 – 1740 (London: ungedruckte Dissertation, 1998), 181. Pyrges, Kolonialprojekt, 63 – 64, 67. Pyrges, Kolonialprojekt, 59 – 60; Daniel L. Brunner, Halle Pietist in England: Anthony William Boehm and the Society For Promoting Christian Knowledge, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 29 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993), 42– 48.
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gagement in diesem Bereich wurde die SPCK zu einer Schnittstelle zwischen dem königlichen Regenten und den Bittstellern mit vielfältigen Auswahl- und Kontrollfunktionen, welche von beiden Seiten für ihre jeweiligen Interessen genutzt wurden. In den folgenden Jahren initiierte sie auch selbst Spendenaktionen über ihre eigene Publikationstätigkeit, wie beispielsweise für die vertriebenen Salzburger*innen ab 1732. Über diesen Weg trat die Society in regelmäßigen Kontakt mit den zahlreichen Korrespondent*innen außerhalb Großbritanniens. Ihre recht einfaches Programm, welches nicht, wie bei anderen Missionsgesellschaften, durch eine Charta verbindlich war, machte es ihr möglich in unterschiedlichen Kontexten als Vermittler und Akteur zu fungieren.⁸ Durch diese umfassenden Engagements konnte die SPCK in den 1730er Jahren um Unterstützung für die Salzburger Protestant*innen in Großbritannien werben, aber auch die englische Hilfe für die Verfolgten zu koordinieren. Die SPCK unterhielt Kontakte zu den Pietist*innen in der ersten Aufnahmeregion in Süddeutschland. So führten der Sekretär Newman und der Augsburger Pietist Urlsperger, der zugleich korrespondierendes Mitglied der SPCK war, eine ausführliche Korrespondenz über die Situation der Salzburger*innen und die Möglichkeit einer Emigration nach Georgia.⁹ Ab dem Winter 1731/32 wurden regelmäßig Spenden aus England nach Oberdeutschland geschickt, um dort die Salzburger*innen zu unterstützen. Im Gegenzug lieferte Urlsperger dafür umfassende Berichte über die Salzburger Emigranten nach London.¹⁰ Im Zuge der Salzburger Emigration finanzierte die SPCK auch die Gehälter des Pastors und des Katecheten, welche die Migrant*innen begleiteten und später die Exulant*innengemeinde in Georgia betreuten. Die SPCK sicherte dem Pastor jährlich 50 Pfund und dem Katecheten 30 Pfund zu. So sorgte die SPCK für die kirchliche Grundversorgung der Exulant*innengemeinde.¹¹ Das Personal wurde aber nicht von der SPCK gestellt. Dafür wandte sich die Society an ihre korrespondierenden Mitglieder im Alten Reich, Urlsperger und Francke, welche die beiden Geistlichen Johann Martin Boltzius und Israel Christian Gronau für die Aufgabe auswählten. Neben der SPCK war die Trägergesellschaft der Kolonie Georgia, die Trustees of Georgia, ein weiterer britischer Akteur der Salzburger Amerikaemigration, von
Pyrges, Kolonialprojekt, 68 – 71; Nishikawa, SPCK, 734– 36; Brunner, Halle Pietists, 23. Nishikawa, Attitudes, 192; die Ausführlichkeit und Themen der Korrespondenz lassen sich sehr gut anhand Henry Newman‘s Salzburger Letterbooks nachvollziehen, siehe hierzu Georg Fenwick Jones, Hg., Henry Newman‘s Salzburger Letterbooks (Athens: University of Georgia Press, 1966). Pyrges, Kolonialprojekt, 72, 76; Brunner, Halle Pietists, 167. Pyrges, Kolonialprojekt, 85 – 86, 89; Zur Bezahlung der Pastoren s.a. Brief von Newman an Francke, 21.12.1733, in Jones, Newman’s Letterbooks, 83 – 85.
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besonderer Relevanz. Zwischen diesen beiden Institutionen entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die dadurch erleichtert wurde, dass zwischen den beiden Gesellschaften personelle Überschneidungen bestanden und beide aus den gleichen intellektuellen Zirkeln der englischen Hauptstadt hervorgegangen waren. Die Trustees of Georgia war zunächst eine Gruppe, welche sich für die Reformierung des englischen Gefängniswesens einsetzte und im Zuge dessen die Idee einer Ansiedlung von Häftlingen in Übersee propagierte.¹² Im Sommer 1730 richtete sie eine entsprechende Petition mit der Bitte um Landzuteilung an den britischen König Georg II. Anfang 1732 wurde der Antrag genehmigt und die Trustees erhielten einen Landstrich südlich des Flusses Savannah in Nordamerika. In einer Charta wurden den 21 Trustees for establishing the Colony of Georgia in America für 21 Jahre die Verwaltung über das Gebiet zugesprochen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Trustees im Lauf der Zeit auf über 50 Personen. Die Hauptakteure der Trustees waren James Oglethrope, James Lowther und James Vernon, die auch im Zuge der Salzburger Emigration immer wieder als Akteure sowie Ansprechpartner für die Migrant*innen und ihr Führungspersonal in Erscheinung traten.¹³ Als Grundlage ihrer Arbeit diente den Trustees eine Spende von 5000 Pfund, welche aber nicht für den Aufbau der Kolonie ausreichen sollte. So richteten die Trustees im Laufe ihrer Herrschaft mehrere Petitionen an das britische Parlament. Sie argumentierten in einer ihrer ersten Petitionen damit, dass sie das Geld für die Ansiedlung englischer Armer und verfolgter Protestant*innen benötigten, gemeint waren u. a. die Salzburger Protestant*innen. 1733 wurde ihnen in Folge dieser Petition dann 10 000 Pfund vom englischen Parlament zum Aufbau der Kolonie zugesprochen.¹⁴ Durch massive Finanzierungszugeständnisse an die Neukolonist*innen schrumpfte das Vermögen der Trustees recht schnell wieder zusammen. Auch den Salzburger Protestant*innen hatten sie umfangreiche Zugeständnisse gemacht. So wurde ihnen kostenlos Land zur Verfügung gestellt und der Aufbau der Infrastruktur wurde aus dem Etat der Trustees bestritten. Zusammen mit der SPCK, die eine Vermittlerfunktion zwischen den Trustees, Urlsperger und den Salzbur-
Pyrges, Kolonialprojekt, 76 – 77; Kenneth Coleman, Colonial Georgia: A History (New York: Charles Scribner’s Sons, 1976), 13 – 15. Coleman, Georgia, 17– 18; Trevor Reese, Colonial Georgia: A Study in British Imperial Policy in the Eighteenth Century (Athens: University of Georgia Press, 1963), 3 – 5; Pyrges, Kolonialprojekt, 77– 78. Pyrges, Kolonialprojekt, 79 – 80; Coleman, Georgia, 40; Reese, Study, 29 – 31.
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ger*innen einnahm, finanzierten sie auch die Überfahrt und Ansiedlung der ersten vier Salzburger Transporte mit ihren Pastoren und Reisekommissaren.¹⁵ Neben diesen beiden Institutionen war in London der Hofprediger der German Royal Lutheran Chapel (GLRC) ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Netzwerkes. Der Posten des Predigers wurde ab 1705 mit einem in Halle ausgebildeten Pastor besetzt, der mit den Pietist*innen im Alten Reich in Verbindung stand und korrespondierendes Mitglied der SPCK war.¹⁶ Für den Waren- und Briefverkehr sowie als Mittler in London spielte der Prediger Friedrich Michael Ziegenhagen, der ab 1722 an der GLRC tätig war, ein zentrale Rolle. Über ihn wurde die Auswahl und Bezahlung der Emigrantenprediger abgewickelt und seine Position bildete den zentralen Knotenpunkt für die transatlantische Kommunikation ab 1733. Zudem wurden die Migrant*innen bei ihren Zwischenstopps in Großbritannien von den Predigern der GLRC betreut.¹⁷ Urlsperger, der Augsburger Pfarrer, war der zentrale Ansprechpartner für die SPCK im Alten Reich. Durch seine Ausbildung zum lutherischen Prediger und die damit verbundenen Reisen verfügte er über umfangreiche Kontakte nach Halle, London und Salzburg.¹⁸ Während seiner Europareise war er in Kontakt mit dem Prediger der GLRC gekommen, der Urlsperger 1710 an die Kirche St. Mary in London berief. Dort blieb er zwei Jahre und wurde von der SPCK als korrespondierendes Mitglied aufgenommen. Diese Kontakte ermöglichten Urlsperger 1732 im Zuge der Ausweisung und Ansiedlung der Salzburger die direkte Kontaktaufnahme und Korrespondenz mit der SPCK. So konnten ab 1732 Spenden von London nach Augsburg transferiert werden, sowie Berichte von Augsburg nach London. Daraus entwickelte sich relativ schnell eine direkte Korrespondenzbeziehung zwischen dem Sekretär Newman und Urlsperger, der als zentraler Or-
Pyrges, Kolonialprojekt, 80 – 81. Pyrges, Kolonialprojekt, 113 – 114, 142– 143. Pyrges, Kolonialprojekt, 146 – 147, 151; Christina Jetter-Staib, „da sie keine Scrupel machen, mit uns in guter gemeinschaft zur beforderung des Reiches christi zu leben ….“: Der Londoner Hofprediger Friedrich Michael Ziegenhagen (1694– 1776) als Mittler zwischen Halle und England, in London und das Hallesche Waisenhaus: Eine transnationale Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert, hg.v. Holger Zaunstöck, Andreas Gestrich und Thomas Müller-Bahlke (Halle: Verlag der Frankeschen Stiftungen, 2014), 140 – 142; vgl. auch das Kapitel „Vater aus tiefstem Herzen: Ziegenhagen und die Salzburger Glaubensflüchtlinge in Georgia“, in Christina JetterStaib, Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694 – 1776) Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger, Hallesche Forschungen 34 (Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 2013), 276 – 330. Gordon Huelin, „The Relationship of Samuel Urlsperger to the SPCK“, in Samuel Urlsperger (1685 – 1772): Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkung und Binnenwelt, Colloquia Augustana 4, hg.v. Reinhard Schwarz (Berlin: Akademie Verlag, 1996), 153 – 155.
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ganisator im Alten Reich fungierte. Des Weiteren handelten die Beiden einen konkreter Plan aus, der – neben einer diplomatischen Intervention am immerwährenden Reichstag in Regensburg – Informationen über Georgia und Anwerbebedingungen beinhaltete. Diesen Rückhalt der SPCK nutzte Urlsperger in den folgenden Jahren für die Anwerbung von Migrant*innen.¹⁹ Jedoch gehörte Augsburg nicht zu den üblichen Durchzugsstädten der Salzburger Migrant*innen. Urlsperger konnte also nicht auf etablierte Strukturen und Praktiken zurückgreifen. Es gelang ihm aber, durch sein persönliches Engagement und vor allem durch sein exzellentes Beziehungsnetzwerk, Augsburg als einen der Dreh- und Angelpunkte der Salzburger Amerikaemigration zu etablieren. Sein Netzwerk schloss Kontakte zu den Migrant*innen, zu den freien Reichsstädten und zu führenden Magistraten in Augsburg selbst ein. Ebenso korrespondierte er mit den Gemeindegeistlichen der Salzburger Exulant*innen in Preußen und in Holland (Cadzand). Dieses umfassende Korrespondenznetzwerk nutzte Urlsperger, um Anwerbeschriften für Migrant*innen zu verbreiten und einen ersten Transport 1733 zusammenzustellen.²⁰ Neben der Anwerbung von Migrant*innen machte Urlsperger es sich zur Hauptaufgabe, für ein pietistisches Publikum umfassend über die Emigration zu berichten. Er veröffentlichte von 1734 bis 1752 die Ausführlichen Nachrichten, welche die Diarien der beiden Prediger, der Reisekommissare sowie relevante Briefe und Dokumente der Emigrant*innen beinhaltete. Neben der Information über die Amerikaemigration der Salzburger*innen und der Entwicklung der Exulant*innengemeinde, verfolgte er mit den Ausführlichen Nachrichten eine heilsgeschichtliche Ausdeutung der Emigration sowie der Salzburger Siedlung Ebenezer in Georgia.²¹ Neben Augsburg als zentralem Ort der Salzburger Amerikaemigration gehörte auch Halle und das dortige Waisenhaus zu den zentralen Projektpartnern. Urlsperger führte mit dem Leiter des Waisenhauses, August Hermann Francke, ab 1710 eine Korrespondenz. Ebenso waren Francke und nachfolgend sein Sohn Gotthilf August Francke korrespondierende Mitglieder der SPCK. Die Kontakte nach Halle und das damit verbundene internationale pietistische Netzwerk nutzte Urlsperger, um sich für die Salzburger Exulant*innen einzusetzen. Durch das hallesche Netzwerk wurde die pietistische Welt über die Emigrant*innen und ihre Ansiedlung informiert. Zudem wurde dieser Kanal zur Einwerbung von Spenden
Pyrges, Kolonialprojekt, 90 – 92, 95 – 96; Huelin, Relationship, 151– 160. Pyrges, Kolonialprojekt, 92– 94, 98. Becker, Amerika, 218 – 223.
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sowie zum Vertrieb der Ausführlichen Nachrichten genutzt.²² Insgesamt erstreckte sich das Netzwerk von Augsburg, Halle und London bis nach Ebenezer in Georgia. Die Trägerinstitutionen machten durch ihre Kontakte und finanzielle Unterstützung die Emigration der Salzburger*innen nach Georgia möglich und durch das Netzwerk erreichten die Publikationen, welche im Zuge der Salzburger Amerikaemigration entstanden, Pietist*innen überall in der Welt.
3 Die Handlungsspielräume der Reisekommissare und Pastoren Die vorgestellten Trägerinstitutionen kümmerten sich umfassend um die Emigration der Salzburger*innen und organisierten von 1733 bis 1741 vier Migrant*innentransporte. Die Migrant*innen sollten auf einem sicheren Weg nach Großbritannien und weiter nach Georgia gebracht werden. Um dies zu gewährleisten, wurde von Trägerinstitutionen eine entsprechende Route ausgearbeitet und den einzelnen Migrant*innentransporten entsprechendes Begleitpersonal beigegeben. Zu diesem Personal gehörten Reisekommissare und Pastoren, welche von den Trägerinstitutionen in gemeinsamer Absprache eingesetzt wurden. Die Besonderheit der Reisekommissare und Pastoren bestand darin, dass sie aktiv in die Strukturen des Netzwerkes eingebunden waren. Durch ihre Tätigkeit trugen sie zur Kommunikation, aber vor allem zur öffentlichen Berichterstattung des Netzwerkes bei. So waren sie die direkten Ansprechpartner für die Migrant*innen und hatten zudem durch ihre Mobilität die Möglichkeit mit den jeweiligen Institutionen sowie ihren personellen Vertretern in persönlichen Kontakt zu treten, was die Kommunikation und die damit verbundenen Handlungsspielräume beeinflusste. Der erste Salzburger Transport startete am 31. Oktober 1733 von Augsburg aus. Dieser wurde von dem jungen Adeligen Philipp Georg Friedrich von Reck geführt, der im Alter von 23 Jahren zum Reisekommissar ernannt wurde.²³ Er hatte diese Position wohl durch die Vermittlung seines Onkels Johann von Reck, der Gesandter am Reichstag in Regensburg war und brieflichen Kontakt zu Urlsperger
Pyrges, Kolonialprojekt, 102– 104; Zum halleschen Netzwerk vgl. Paul Raabe, Pietas Hallensis Universalis: Weltweite Beziehungen der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert, Katalog der Franckeschen Stiftung 2 (Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 1995). Zu von Recks Biographie siehe Herbert Franke: „Reck, Philipp Georg Friedrich von,“ in Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon 4 (Neumünster: Wachholtz, 1976), 192– 193.
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pflegte, erhalten.²⁴ Aufgrund seines Alters und seiner Unerfahrenheit sollte er von einem weiteren Reisekommissar begleitet werden. Dazu wurde der Schweizer Jean Vat aus Biel ausgewählt. Dieser war Newman persönlich bekannt, korrespondierendes Mitglied der SPCK und hatte auch schon Erfahrung in der Anwerbung von Migrant*innen für Jean Purrys Siedlungsprojekt in South Carolina gesammelt.²⁵ Jedoch schaffte Vat es nicht rechtzeitig in Augsburg zu sein, um den ersten Transport zu begleiten. Neben von Reck wurde den Salzburger*innen auch noch der Reiseprediger Schumacher mitgegeben, der den Transport bis Rotterdam begleitete, sich um die geistliche Versorgung der Salzburger*innen kümmern und sie während der Reise im rechten Glauben schulen sollte. In Rotterdam stießen dann die beiden Prediger Boltzius und Gronau zu dem Transport. Sie begleiteten die Migrant*innen mit dem Reisekommissar von Reck dann bis Georgia und verblieben dort als Prediger der Migrant*innensiedlung Ebenezer.²⁶ Nach seiner Ankunft in Augsburg unterstützte Vat Urlsperger bei der Organisation der Emigration, bevor er im September 1734 mit dem zweiten Transport aufbrach. Der Transport erreichte im Januar 1735 die Kolonie Georgia. Dieser Transport wurde von Augsburg bis Rotterdam von Reisegeistlichen Matthäus Friedrich Degmair begleitet. Auf der Überfahrt nach Amerika sollte dann ein anderer Pfarrer die Salzburger*innen begleiten. Im Jahr 1735 wurde dann ein dritter Transport organisiert, der wieder von von Reck geführt wurde. Dieser erreichte im Februar 1736 Georgia. Nach finanziellen Problemen seitens der Trägerinstitutionen wurde ein vierter Transport erst wieder 1741 durchgeführt. Diesen führten Johann Gottfried von Müller und der Kaufmann Johann Friedrich Vigera von Augsburg nach Georgia.²⁷ Bereits im Vorfeld des ersten Transportes wurden Instruktionen formuliert, welche den Handlungsrahmen der Reisekommissare von Reck und Vat sowie der Pastoren Boltzius und Gronau festlegten. Für von Müller und Vigera wurden (bisher) keine eigenen Instruktionen gefunden. Hier scheint man auf die bereits etablierte Praxis der ersten drei Transporte zurückgegriffen haben. Ebenso lässt
Georg Fenwick Jones, The Salzburger Saga: Religious exiles and other Germans along the Savannah (Athens: University of Georgia Press, 1984) 11. Arlin C. Migliazzo, To Make This Land Our Own: Community, Identity, and Cultural Adaptation in Purrysburg Township, South Carolina, 1732 – 1865 (Columbia: University of South Carolina Press, 2007), 28 – 30, 39. Jones, Saga, 11. Haver, Salzburg, 69; Die Berichte der Reiskommissar von Reck, von Müller und Vigera finden sich in Samuel Urlsperger, Der ausführlichen Nahrichten […], Erster Theil (Halle: Wäysenhaus, 1741), 152– 192, 803 – 876 und Samuel Urlsperger, Der ausführlichen Nachrichten […], Zweyter Theil (Halle: Wäysenhaus, 1746), 1176 – 1204, 1205 – 1218.
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sich nicht nachvollziehen, inwieweit Instruktionen für die Reiseprediger Schuhmacher und Degmair formuliert wurden.²⁸ Die Instruktionen für die Reisekommissare und die beiden Pastoren des ersten Transportes wurden von Urlsperger im Namen der Trustees und der SPCK verfasst. Eine Kopie der Instruktionen für den Reisekommissar schickte Urlsperger an den Sekretär der SPCK Newman. Ebenso wurden die Instruktionen für die beiden Prediger an Francke nach Halle gesandt.²⁹ In diesem Vorgehen zeigt sich, wie gut die Vernetzung zwischen den einzelnen Trägerinstitutionen funktionierte und wie die Verbreitung der Informationen ablief, aber auch wer durch dieses Vorgehen über die Begleiter der Migrant*innen verfügen und berichten konnte. Die Instruktion für die Reisekommissare legte zunächst fest, dass diese den vorgeschriebenen Reiseweg einhalten sollten, welcher von den oben genannten Trägerinstitutionen ausgearbeitet worden war. Auch hatten sich die Kommissare um die Reisezeiten sowie die Unterbringung und Verpflegung der Emigrant*innen zu kümmern. Ebenso oblag ihnen die Aufsicht über die medizinische Versorgung, welche durch den Apotheker Johann Andreas Zwiffler, der die Salzburger*innen bis nach Georgia begleitete, sichergestellt wurde.³⁰ Die Reisekommissare sollten zudem ein Reisetagebuch führen, in welchem sie den Trägerinstitutionen über den Verlauf der Reise berichten sollte. Die Kommissare hatten Sorge zu tragen, dass die Salzburger*innen an Land schlafen können, wenn sie auf dem Wasser unterwegs waren. Sie hatten darauf zu achten, dass die Emigrant*innen morgens und abends ein Gebet sprachen. Ebenso hatten sie Buch über die Finanzen zu führen und waren angewiesen, bei der Überfahrt von Rotterdam nach London besonders auf das Gepäck zu achten. Die Reisekommissare sollten auf die Adressen der Bankiers achten, die ihnen zum Geldwechsel mitgegeben wurden. Des Weiteren wurde ihnen im letzten Punkt der Instruktion eine eigene Entscheidungsgewalt zugesichert, welche für unvorhergesehene Situationen galt, die durch die vorangegangenen Anweisungen nicht abgedeckt waren. Denn diese Instruktionen gaben nur den Handlungsrahmen für die Reisekommissare wieder, aus dem sich weitere Handlungsspielräume entwickeln konnten, wie es für frühneuzeitliche Amtsträger durchaus üblich war.³¹ Insgesamt machen die In-
In den bisher gesichteten Quellen konnten keine entsprechenden Dokumente gefunden werden. Copy of Translation given by Senior Urlsperger to the Commissary von Reck, in Jones, Newman’s Letterbooks, 384– 350; Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt) M 5 A 1 : 6 und 8. Auch der Apotheker wurde mit einer Instruktion ausgestattet. Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), Evangelisches Wesensarchiv, Nr. 624, Tom. VI, Nr. 537; Jones, Saga, 11. StadtAA, Evangelisches Wesenarchiv, Nr. 624, Tom. VI, Nr. 538; siehe auch Jones, Newman’s Letterbooks, 348 – 350; Stefan Brakensiek, „Zur Einführung,“ in Praktiken der Frühen Neuzeit:
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struktionen deutlich, dass der Handlungsrahmen vor allem die Sorge um die Migrant*innen, deren Gepäck und die Finanzen des Transportes beinhaltete. Neben den Instruktionen erhielten die Reisekommissare weitere Dokumente, wie sich am Beispiel von Recks darstellen lässt. Er wurde mit einer Vollmacht ausgestattet, mit der er seine Befugnisse als Reiskommissar vorweisen konnte, sowie einem Pass, der ihn als königlich-großbritannischen Kommissar auswies.³² Es ist anzunehmen, dass die anderen Reisekommissare diese Dokumente ebenfalls mitführten, um sich und den Transport jederzeit legitimieren zu können. Durch diese Dokumentenvollmacht waren aber ebenso die Migrant*innen auf den Reisekommissar angewiesen und zugleich von ihm abhängig, denn er konnte sie als die Salzburger Emigranten legitimieren und war bei Problemen sowohl für die Migrant*innen als auch für örtliche Obrigkeiten der erste Ansprechpartner. Eine wichtige Aufgabe des Reisekommissars war die Abfassung der Reisetagebücher, welche an die entsprechenden Trägerinstitutionen versandt wurden. Urlsperger war für die Reisekommissare von Reck, von Müller und Vigera der Hauptansprechpartner für die Berichtskommunikation, da dieser ihre Berichte in seinen Ausführlichen Nachrichten publizierte. Nur von Vat lässt sich kein veröffentlichter Bericht finden. Er kommunizierte weniger mit den pietistischen Trägerinstitutionen im Alten Reich, sein Hauptansprechpartner in der schriftlichen Kommunikation war vor allem der Sekretär der SPCK Newman, da die beiden sich persönlich kannten. So berichtete Vat vor allem in Briefen an Newman über den Fortgang des zweiten Emigrant*innentransportes.³³ Vor allem zeigen die Berichte des ersten Reisekommissars von Reck besonders gut, was die Trägerinstitutionen der interessierten Öffentlichkeit mitteilten. Von Reck schrieb über seine beiden Transporte sehr ausführliche Berichte. Sein erster Reisebericht wurde von der SPCK 1734 herausgegeben, die weiteren waren Teil von Urlspergers Ausführlichen Nachrichten von 1735 und 1739. Das erste Journal umfasst die Reise von Dover nach Georgia mit der Siedlungsgründung Ebenezer. Die Passage über das Meer wird dabei recht kurz abgehandelt und es scheint keinerlei Schwierigkeiten auf dieser Reise gegeben zu haben. In Georgia angekommen, wählte von Reck einen Siedlungsplatz für die Salzburger aus. Hier erweiterte von Reck eigenmächtig seinen Handlungsspielraum, als Betreuer der Migrant*innen denn die Instruktionen galten nur für die Begleitung bis Georgia.
Akteure – Handlungen – Artefakte, Frühneuzeit-Impulse 3 hg.v. Arndt Brendecke (Berlin/Weimar/ Wien: Böhlau, 2015), 174– 176. Copy of Translation of the full power given by Mr. Urlsperger tot he Commissary Mr. Reck, in Jones, Newman‘s Letterbooks, 350 – 351; eine Kopie von P.G.F. von Recks Reisepass für den zweiten Transport befindet sich im Archiv der Brüderunität in Herrnhut, R.14.A.02, 7. Bspw. Brief von Vat an Newman, 19.10.1734, in Jones, Newman’s Letterbooks, 490 – 492.
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Neue Instruktionen für die Verwaltung der Siedlung in Georgia wurden nicht aufgesetzt, so dass hier die Handlungsspielräume der Reisekommissare und der Pastoren zu den Trägerinstitutionen als auch untereinander neu ausgehandelt werden mussten. Bei der Siedlungsplatzwahl konnte von Reck aber nicht unabhängig agieren, sondern wurde von James Oglethorpe³⁴ – und dadurch auch von den Siedlungsplänen der Trustees – beeinflusst, wie aus seinem Bericht hervorgeht: „Mr. Oglethorpe shewed me a Plan of Georgia, and gave me the Liberty to choose a Settlement for the Saltzburgers, either near the Sea, or further in the Continent. I accordingly accepted his Favour, and chose a Place 21 Miles from the Town of Savannah, and 30 Miles from the Sea, where there are Rivers, little Hills, clear Brooks, cool Springs, a fertile Soil, and plenty of Grass.“³⁵ So musste der Reisekommissar bei der Siedlungsplatzwahl – wie auch bei der gesamten Durchführung des Transportes – zwischen den Bedürfnissen der Migrant*innen, seinen eigenen Handlungsmöglichkeiten und den Vorgaben der Trägerinstitutionen agieren. Zudem war er durch Instruktionen und seine Berichte in das Emigrationsnetzwerk eingebunden, welches ihm Handlungsmöglichkeiten eröffnete, aber zugleich auch seinen Spielraum beschränkte. Durch die Berichterstattung wurden der Reisekommissar zudem aktiv in die heilsgeschichtliche Ausdeutung der Emigration, wie Urlsperger sie mit den Ausführlichen Nachrichten verfolgte, einbezogen. Bei der Ausgestaltung seines Berichtes konnte der Reisekommissar seine eigenen Handlungsmöglichkeiten entfalten, indem er seine eigenen Ansichten in die Berichte miteinfließen ließ, auch wenn diese von Urlsperger vor der Veröffentlichung ediert wurden.³⁶
James Edward Oglethorpe (1696 – 1785) war der Einzige der Trustees, der nach Georgia ging und dort aktiv am Aufbau der Kolonie mitgestaltete. Eine kurze Biographie findet sich in der Encyclopaedia Britannica: Ogelthorpe, James Edward, https://www.britannica.com/biography/ James-Edward-Oglethorpe (letzter Zugriff 26.03. 2020) SPCK, An extract of the journals of Mr. Commissary Von Reck […] and of the Reverend Mr. Bolzius […]. Giving an account of their voyage to, and happy settlement in that province (London: Downing, 1734), 8; eine ähnliche Darstellung findet sich auch in von Recks Autobiographie. Dort schreibt er Folgendes: „Indessen war der Herr Oglethorpe von Charlestown zurückgekommen, mit welchem, in Begleitung vieler Engländer, allesamt zu Pferde, und einigen Indianern zu Fuße, wir die Gegend recogniscirten, wo die neusten Colonisten sich niederlassen sollten. Dieses Etablissement wurde an einen kleinen Fluß auf der Land = Passage nach Carolina bestimmt, und demselben, so wie auch dem Flusse, der Namen Ebenezer von mir beygeleget, zum ewigen Andenken, daß uns Gott bis hieher geholfen, welche Benennung dem Herrn General Oglethorpe überaus wohl gefiel, und darauf die Benennung bestätigte.“ Philipp Georg Friedrich von Reck, Kurz gefasste Nachricht von dem Etablissemen derer Salzburgischen Emiganten zu Ebenezer, […] (Hamburg: Ritter, 1777), 12. Vgl. Dietrich Blaufuß, „‚Zensurʻ im Dienst der Reich-Gottes-Propaganda? Zu Samuel Urlspergers Ausführlicher Nachricht 1737– 1741,“ in Samuel Urlsperger (1685 – 1772): Augsburger
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In ähnlicher Weise wie die Reisekommissare waren die Prediger Boltzius und Gronau in das Emigrationsnetzwerk eingebunden. Die Beiden sollten die Migrant*innen bis nach Georgia begleiten und dort ihre Tätigkeit als Seelsorger in der neugegründeten Emigrant*innensiedlung Ebenezer aufnehmen. Sie wurden, ebenso wie die Reisekommissare, auf Grund von persönlichen Kontakten zu einzelnen Personen der Trägerinstitutionen ausgewählt. Beide Prediger gehörten vor ihrer neuen Aufgabe zum Personal des Halleschen Waisenhauses, wodurch sie mit Francke gut bekannt waren. Boltzius war Inspektor an der Lateinschule und Gronau war Lehrer an der Mädchenschule.³⁷ Beide wurden dann auch von Francke als Prediger und Katecheten für die Salzburger Gemeinde ausgewählt. Sie wurden von Halle nach Rotterdam geschickt, wo sie auf den ersten Transport der Salzburger Emigrant*innen mit ihrem Reisekommissar von Reck treffen sollten. Doch zuvor wurden die beiden in Wernigerode ordiniert und von Urlsperger mit entsprechenden Instruktionen ausgestattet. Auch hier agierte Urlsperger wieder im Namen der SPCK und der Trustees. Die Instruktionen beinhalten vor allem die seelische Betreuung der Salzburger*innen und die Führung eines Amtsdiariums. Zudem sollten die beiden die Spendengelder verwalten. Für die beiden Prediger galten die Instruktionen, welche hauptsächlich für Boltzius ausgestellt worden waren. Für Gronau wurde nur ergänzt, dass er in Einigkeit mit Boltzius handeln solle.³⁸ Darüber hinaus wurden die beiden, unabhängig von den Anweisungen Urlspergers, von Francke mit weiteren Instruktionen ausgestattet. Auch hier wird zunächst wieder auf die christliche Unterweisung der Migrant*innen hingewiesen. Des Weiteren sollte ihre Aufgabe die Mission der amerikanischen Ureinwohner*innen sein. Sie waren angehalten mit Ziegenhagen und Francke über ihre Tätigkeiten sowie über die Salzburger Gemeinde zu kommunizieren, damit entsprechende Unterstützung von London und Halle aus geleistet werden konnte. Dazu mussten sie in Amtsdiarien, Briefen und Reisetagebüchern über ihre Tätigkeit und den Fortgang der Emigration berichten. Dazu gab Francke ihnen weitere Anweisungen, wie mit Passagen in den Berichten und Briefen zu verfahren sei, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Francke ermahnte die
Pietimus zwischen Außenwirkung und Binnenwelt, Colloquia Augustana 4, hg.v. Reinhard Schwarz (Berlin: Akademie Verlag, 1996), 200 – 220; Becker, Nordamerika, 222– 223. James van Horn Melton, „The Pastor and the Schoolmaster: Language Dissent, and the Struggle over Slavery in Colonial Ebenezer,“ in Pietism and Community in Europe and North America, Brill’s Series in Church History 45/Religious History and Culture Series 4, hg.v. Jonathan Storm (Leiden/Bosten: Brill, 2010), 225 – 247, hier: 225. AFSt M 5 A1 : 6 und 8.
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beiden außerdem, sich mit den Strukturen der SPCK bekannt zu machen, da sie in deren Abhängigkeit standen.³⁹ Beim Vergleich der Anweisungen für die Reisekommissare und die beiden Pastoren wird deutlich, dass ihnen unterschiedliche Aufgaben zugeordnet wurden, die sich aber einander recht gut ergänzten. Den beiden Predigern oblag die seelsorgerische Tätigkeit, dem Reisekommissar die weltliche Verwaltung des Transportes. Ähnlich wie der Reisekommissar von Reck wurden die beiden Pastoren durch die Kommunikation mit den Trägerinstitutionen und die Amtsdiarien in die Publikationstätigkeit des Netzwerkes eingebunden, denn ihre Berichte bildeten den Hauptbestandteil von Urlspergers Ausführlichen Nachrichten. ⁴⁰ So eröffnete und begrenzte auch ihnen das Emigrationsnetzwerk die Handlungsmöglichkeiten. Jedoch standen auch die Pastoren und die Reisekommissare in Konkurrenz zueinander, da sich ihre Handlungsspielräume überschnitten und teilweise nicht klar umgrenzt waren. Insbesondere bezüglich der Geldverwaltung überschnitten sich die Instruktionen, sodass es zwischen von Reck und Boltzius in Rotterdam zu Spannungen kam, als von Reck Boltzius nach einem gescheiterten Wechsel bei einem Kaufmann ebenfalls das nötige Geld aus der Migrant*innenkasse verweigerte.⁴¹ Auf der Überfahrt kam es zunächst nicht zu größeren Konflikten zwischen dem Reiskommissar von Reck und Boltzius, obwohl sich Boltzius teilweise negativ über das Verhalten von Reck äußerte.⁴² Konflikte zwischen den Reisekommissaren und den Pastoren entwickelten sich dann erst in Georgia und bei der Verwaltung der Siedlung Ebenezer, da die Trägerinstitutionen es versäumt hatten, hier klare Instruktionen zu formulieren. Die beiden Reiskommissare von Reck und Vat verließen 1736 die Siedlung, sodass Boltzius zum geistlichen und weltlichen Verwalter der Siedlung Ebenezer wurde.⁴³
4 Fazit Das Beispiel der Pastoren und Reisekommissare der Salzburger Amerikaemigration zeigt sehr gut, wie wichtig personelle Strukturen der Unterstützung für die Durchführung von Migrant*innentransporten in der Frühen Neuzeit waren und
AFSt M5 A1 : 10 Becker, Nordamerika, 222– 223. AFSt M 5 A 1 : 17 Mehrere Passagen finden sich in Boltzius handschriftlichen Reisetagebuch, AFSt M5 : D1 : 1. Melton, Pastor, 225 – 227.
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wie sie in komplexe Migrationsregime eingebunden waren und dabei ihre eigenen Handlungsspielräume ausloten konnten. Die Salzburger Emigration war durch die Trägerinstitutionen und ihr Personal sehr gut organisiert. Die Trägerinstitutionen SPCK und die Trustees stellten vor allem die finanziellen Mittel und das Land für die Emigrant*innen zur Verfügung. Die Pietist*innen um Samuel Urlsperger und das Hallesche Waisenhaus fungierten als Organisator*innen von Emigrant*innen und entsprechendem Begleitpersonal. Zudem nutzten sie die Emigration, um ihre Vorstellung vom Reich Gottes durch die Ausführlichen Nachrichten weiterzuverbreiten. Zwischen den Institutionen in London und im Alten Reich stand der Pastor Ziegenhagen als Mittler zwischen ihnen, aber auch als Umschlagspunkt für die Korrespondenz. Innerhalb dieses Netzwerkes bewegten sich ebenfalls die Reisekommissare und Pastoren, denen durch ihre Instruktionen von den Trägerinstitutionen bestimmte Handlungsspielräume zugewiesen wurden. Sie waren zunächst die Begleiter der Emigrant*innen, welche sie zu versorgen und zu betreuen hatten. Durch die Korrespondenz mit den Trägerinstitutionen und der Veröffentlichung ihrer Berichte waren sie auch in die heilsgeschichtliche Ausdeutung der Emigration miteinbezogen. Jedoch konnten sie ihre Handlungsspielräume unabhängig von den Instruktionen erweitern und so auch deren Grenzen ausloten, wie es dann vor allem bei der Siedlungsgründung und deren Verwaltung geschehen sollte. Ebenso zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen den Pastoren und Reiskommissaren nicht immer konfliktfrei war und wie sich aus dem Ausloten der Handlungsspielräume Konflikte zwischen dem Begleitpersonal ergeben konnten. Insgesamt zeigt sich, dass Migrant*innenbegleiter ein erheblicher Handlungsspielraum zukam und sie eine wichtige – wenn auch bisher oft unterbelichtete – Rolle innerhalb von Migrationsregimen spielten.
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Archiv- und Datenbankverzeichnis Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt) Stadtarchiv Augsburg (StadtAA) Unitätsarchiv Herrnhut (UAH)
Alexander Schunka, Berlin
Flucht finanzieren. Ökonomische Aspekte religiöser Migration in der Frühen Neuzeit 1 Einleitung In der Figur des Glaubensflüchtlings verbinden sich die dem vorliegenden Band zugrunde liegenden erkenntnisleitenden Themen Migration und Religion in besonderer Weise – unter den spezifischen Bedingungen der Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit (1500 – 1800). Folgt man den etablierten Narrativen aus Forschung und kollektiver Erinnerung, so handelte es sich bei Glaubensflüchtlingen um Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens aufgrund ihrer religiösen Überzeugung aus ihrer Heimat vertrieben wurden bzw. fliehen mussten oder die sich zum Zweck der freien Glaubensausübung freiwillig für einen Ortswechsel entschieden.¹ Innerhalb des Spektrums christlicher Bekenntnisse seit der Reformationszeit haben die niederländischen, österreichischen (erbländischen), böhmischen und ungarischen sogenannten „Exulanten“, vor allem jedoch die französischen Hugenotten und die Salzburger Emigranten eine gewisse Bekanntheit erlangt. Diese Migrant*innengruppen gehörten cum grano salis dem protestantischen Lager an; für ihre Vertreibung, Flucht oder Auswanderung machte man dementsprechend katholische Mächte verantwortlich. Zweifellos handelte es sich bei der frühneuzeitlichen „Glaubensflucht“ nicht um ein einmaliges oder territorial begrenztes, sondern um ein wiederkehrendes, europäisches Migrationsphänomen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, das letztlich viele hunderttausende Menschen betraf. In jüngerer Zeit hat sich gleichwohl das Bild der protestantischen Dominanz religiös-konfessioneller Migration insofern etwas aufgeweicht, als etwa immer mehr Migrationen von Katholik*innen das Interesse der einschlägigen Forschung gefunden haben; entsprechende – zahlenmäßig meist kleinere – Wanderungsbewegungen jenseits des protestantischen Bereichs gerieten zuletzt verstärkt in den Blick, und auch die Migrationen der sephardischen Jüdinnen und Juden sind im Zusammenhang von „Konfessionsmigration“ behandelt worden.² Zugleich wurde aber auch die ver Joachim Bahlcke, Hg., Glaubensflüchtlinge: Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4 (Berlin u. a.: LIT, 2008). Ulrich Niggemann, „Christliche Konfessionsmigration,“ in Europäische Geschichte Online (EGO), hg.v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (2019). Online-Ressource: urn: https://doi.org/10.1515/9783110673388-005
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meintlich eindeutige religiöse Opferrolle von „Glaubensflüchtlingen“ zugunsten stärker akteursbezogener Ansätze modifiziert.³ In einer etwas allgemeineren Perspektive lässt sich beobachten, dass der Themenbereich vormoderner Migration innerhalb der Geschichtswissenschaften in den letzten Jahren relativ populär geworden ist. Vor diesem Hintergrund hat man konfessionelle Wanderungsbewegungen stärker als zuvor kontextualisiert und dabei versucht, sie gleichsam mit dem migratorischen Normalfall der Zeit in Beziehung zu setzen. Inzwischen wird die europäische Gesellschaft der Frühen Neuzeit nicht mehr wie noch vor ein paar Jahrzehnten als überwiegend statisch und ortsfest betrachtet, sondern als verhältnismäßig mobil. In dieser Hinsicht stellen die erwähnten konfessionell motivierten Ortswechsel genau genommen nur noch die Spitze eines Eisbergs dar.⁴ Doch was macht einen frühneuzeitlichen „Glaubensflüchtling“ aus? Zuletzt ist immer seltener versucht worden, „Glaubensflüchtlinge“ über die ihnen zugeschriebene, angeblich besonders ausgeprägte religiöse Standhaftigkeit zu definieren und ihre religiösen Überzeugungen den vermeintlich schnöden, weltlichen, wirtschaftlichen Wanderungsmotiven anderer Migrierender gegenüberzustellen. Gleichzeitig ist jedoch über die praktischen Probleme der Alltagsbewältigung religiöser Migrantengruppen im Kontext frühneuzeitlicher Migration das letzte Wort noch nicht gesprochen.⁵ Hier setzen die vorliegenden Ausführungen an: Sie widmen sich den ökonomischen Zwängen, Notwendigkeiten und Strategien Migrierender im Rahmen konfessioneller Wanderungs-
nbn:de:0159–2019070800 (letzter Zugriff: 26.07. 2020); Jan Lucassen und Leo Lucassen, „Glaubensflüchtlinge (2019),“ in Enzyklopädie der Neuzeit, hg.v. Friedrich Jaeger (Leiden: Brill, 2019) Online-Ressource: http://dx.doi.org/10.1163/2352– 0248_edn_COM_274422 (letzter Zugriff 26.07. 2020); Liesbeth Corens, Confessional Mobility and English Catholics in Counter-Reformation Europe (Oxford: Oxford University Press, 2018); Heinz Schilling, „Christliche und jüdische Minderheitengemeinden im Vergleich: Calvinistische Exulanten und westliche Diaspora der Sephardim im 16. und 17. Jahrhundert,“ Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009): 407– 444. Siehe zuletzt etwa Giovanni Tarantino und Charles Zika, Hg., Feeling Exclusion: Religious Conflict, Exile and Emotions in Early Modern Europe (London: Routledge, 2019). Überblick mit weiterer Literatur: Alexander Schunka, „Migration in the German Lands: An Introduction,“ in Migrations in the German Lands: 1500 – 1800, hg.v. Jason Coy, Jared Poley und dems., Spektrum 13 (New York: Berghahn, 2016), 1– 34. Zu diesem Problem siehe zum Beispiel Alexander Schunka, „Glaubensflucht als Migrationsoption: Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit,“ Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005): 547– 564. Zur religiösen Alltagsbewältigung nach erfolgtem Ortswechsel siehe die Beiträge in Joachim Bahlcke und Rainer Bendel, Hg., Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 40 (Köln u. a.: Böhlau, 2008).
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bewegungen. Die in der Folge präsentierten empirischen Beispiele entstammen überwiegend dem Umfeld der bekannten, im Detail oft gut erforschten protestantischen Migrationen. Zunächst wird der Begriff des „Glaubensflüchtlings“ auf seine rhetorischen Funktionen untersucht – unter besonderer Berücksichtigung einer ökonomischen Dimension. Vor diesem Hintergrund gilt der Blick anschließend der konkreten Finanzierung religiöser Wanderungsbewegungen. Dabei geraten institutionelle Formen der Versorgung Migrierender ebenso in den Blick wie Strategien betroffener Individuen und Gruppen.
2 Die Sonderstellung frühneuzeitlicher „Glaubensflüchtlinge“ In gewisser Parallelität zu Max Webers Modernisierungsthese hat der Historiker Heinz Schilling die Eigentümlichkeiten frühneuzeitlicher „Konfessionsmigration“ nicht so sehr aus der Bedeutung des Bekenntnisses für die Auswanderungsentscheidung abgeleitet, sondern insbesondere aus einer spezifischen Sonderstellung dieser Migrant*innengruppen an den Zuwanderungsorten heraus, die sich auch und gerade in wirtschaftlicher Hinsicht oft in besonderer Strebsamkeit und einem spezifischen Elitenbewusstsein äußerte.⁶ Beispiele ökonomisch erfolgreicher niederländischer Kaufleute oder hugenottischer Manufakturunternehmer sind in zeitgenössischen Quellen und späterer Forschungsliteratur verhältnismäßig leicht greifbar, doch die Masse religiöser Migrant*innen lässt sich dadurch nur schwer erfassen. Will man sich den finanziellen Aspekten konfessionell motivierter Migrationen nähern, so ist es daher hilfreich, nicht allein nach quantitativ messbaren Kriterien ökonomischen Erfolgs oder Misserfolgs zu fragen, sondern zunächst das recht langlebige Narrativ der Glaubensflucht selbst unter die Lupe zu nehmen, denn auch ihm liegt eine ökonomisch-materielle Dimension zugrunde. In der Vorstellung von „Glaubensflucht“ spiegelt sich bereits zeitgenössisch eine gruppenspezifische Sondersituation wider, die sich weder allein aus dem Verhältnis von Ortsfestigkeit und Mobilität ergibt, noch aus einem Elitenbe-
Siehe Heinz Schilling, „Die niederländischen Exulanten des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur frühneuzeitlichen Konfessionsmigration,“ Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992): 67– 78. Siehe auch die Beiträge in Markus A. Denzel, Matthias Asche und Matthias Stickler, Hg., Religiöse und konfessionelle Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten (16. bis frühes 20. Jahrhundert), Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 28 (St. Katharinen: Scripta Mercaturae, 2009).
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wusstsein konfessioneller Minderheiten an den Zielorten und auch nicht daraus, dass sich das Phänomen „Glaubensflucht“ und die dahinter stehende vermeintliche religiöse Standhaftigkeit der Betroffenen in irgendeiner Weise objektivieren ließe. Das Augenmerk muss vielmehr dem Prozess einer Konstruktion von Glaubensflucht gelten bzw. – als Ergebnis – dem Problem von „Glaubensflucht“ als Konstrukt. Was im Licht des alltäglichen Migrationsgeschehens im vormodernen Europa nämlich oft wenig bemerkenswert ist, das sind die tatsächlichen Abläufe der Ortswechsel und die Infrastrukturen, auf denen sie beruhten. Heutzutage bezahlen Migrant*innen und Geflüchtete, die aus politischen ebenso wie aus völlig anderen Motiven ihre Heimaten verlassen haben, die gleichen Schlepper und finden sich auf dem Mittelmeer in denselben Schlauchbooten wieder (wo sie gemeinsam um ihr Leben kämpfen);⁷ im frühneuzeitlichen Europa waren die Infrastrukturen und Praktiken von Ortswechseln für „Glaubensflüchtlinge“ häufig dieselben wie für andere mobile Menschen. Im Rahmen von Aufnahme und Ansiedlung führten dagegen plötzliche Anstiege von Migrant*innenzahlen gelegentlich zu speziellen administrativen Maßnahmen – wie etwa bei der Unterbringung der Poor Palatines in London 1709, beim Umgang mit den Hugenotten in der Eidgenossenschaft oder bei der auf ausgefeilter Organisation des preußischen Staates beruhenden Umsiedlung der Salzburger vom Alpenraum nach PreußischLitauen.⁸ Weitere Beispiele einer Sonderbehandlung konfessioneller Migrant*innen werden noch zur Sprache kommen. Für die Sonderstellung von „Glaubensflüchtlingen“ waren unterschiedliche Aspekte maßgeblich: So beruhten konfessionell attribuierte Wanderungsvorgänge darauf, dass sich die Protagonist*innen bereits an ihren Ausgangsorten in einer konfessionellen Minderheitsposition sahen. Es waren meist andersgläubige (häufig katholische) Obrigkeiten, die eine (protestantische) Glaubensausübung einschränkten, was sich mittelbar oder unmittelbar auf Wirtschaftsverhältnisse und Sozialleben in der Heimat auswirken konnte. Zu einem Ortswechsel entschloss sich gleichwohl nur ein kleiner Teil der Betroffenen: Die meisten Men-
Siehe z. B. Benjamin Etzold, „Migrations- und Fluchtpfade aus Afrika nach Europa (2017).“ Kurzdossier Innerafrikanische Migrationen der Bundeszentrale für politische Bildung. OnlineRessource: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/250275/migrations-undfluchtpfade (letzter Zugriff 26.07. 2020). Zu den Poor Palatines siehe Philip Otterness, Becoming German: The 1709 Palatine Migration to New York (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2004). Zu den Salzburgern siehe Mack Walker, The Salzburg Transaction: Expulsion and Redemption in Eighteenth-Century Germany (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1993). Zur Situation der Hugenotten in der Eidgenossenschaft siehe z. B. knapp André Holenstein, Patrick Kury und Kristina Schulz, Schweizer Migrationsgeschichte: von den Anfä ngen bis zur Gegenwart (Baden: Hier und Jetzt, 2018), 104– 112.
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schen verblieben weiterhin in ihrem andersgläubigen Umfeld. Anstatt auszuwandern, konvertierten sie zum Mehrheitsbekenntnis und übten anschließend nicht selten ihren Glauben im Untergrund weiter aus. Erklärbar ist dies im Einzelfall mit individuellen ökonomischen Zwängen, sozialen Bindungen und infrastrukturellen Möglichkeiten. Für die Hugenotten ausgangs des 17. Jahrhunderts lässt sich etwa davon ausgehen, dass bis zu drei Viertel von ihnen (rund 600.000) sich zum Verbleib in Frankreich entschieden (oder entscheiden mussten), während nur rund ein Viertel dieser Minderheit (etwa 200.000) den Weg ins Exil auf sich nahm. Ganz ähnlich hatte sich die Situation für die Protestant*innen in den Habsburgerländern bereits einige Jahrzehnte zuvor dargestellt.⁹ Diese Entwicklung entsprach zugleich den Interessen der jeweiligen Obrigkeiten, die keineswegs die Emigration ihrer eigenen Bevölkerung betrieben, sondern im Gegenteil deren Konversion forderten (oder mit Zwangsmitteln herbeiführten), um keine Untertanen und Steuerzahler zu verlieren. Insofern waren die tatsächlich Auswandernden von Beginn an gewissermaßen in einer doppelten Minderheitsposition: gegenüber der konfessionellen Mehrheitsgesellschaft ebenso wie innerhalb der eigenen Gruppe. Auch im weiteren Migrationsverlauf haben „Glaubensflüchtlinge“ diese Minderheitsposition nicht etwa im Sinne eines modernen Integrationsbegriffs abgelegt und sind in der Zielgesellschaft aufgegangen. Sie haben vielmehr ihre Sonderstellung weiter kultiviert – sowohl unterwegs als auch an den Aufnahmeorten. Dazu gehörte allenthalben die – etwas paradox anmutende – Legitimation eines Ortswechsels aus religiöser Standhaftigkeit heraus, etwa im Rahmen von Bittschriften oder religiös-autobiographischen Fluchtberichten. Daraus resultierte aber auch und vor allem eine Erwartung besonderer materieller und spiritueller Versorgung an den Zuwanderungsorten, deren Anspruch die Protagonisten aus ihrem persönlichen Schicksal ableiteten.¹⁰ Insofern ist die Figur des
Siehe dazu die Beiträge in Rudolf Leeb, Susanne Claudine Pils und Thomas Winkelbauer, Hg., Staatsmacht und Seelenheil: Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 47 (Wien: Oldenbourg, 2007). Zu den Hugenotten siehe zuletzt Alexander Schunka, Die Hugenotten: Geschichte, Religion, Kultur (München: C.H. Beck, 2019), v. a. 62– 67. Als Fallstudie zu diesen Aspekten im Kontext der Einwanderung evangelischer Böhmen nach Sachsen siehe Alexander Schunka, Gäste, die bleiben: Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Pluralisierung und Autorität 7 (Münster: Lit, 2006). Zu ähnlichen Phänomenen im Kontext der Migration niederländischer Katholik*innen siehe Geert H. Janssen, The Dutch Revolt and Catholic Exile in Reformation Europe (Cambridge: Cambridge University Press, 2014) sowie allgemeiner Geert H. Janssen, „The Exile Experience,“ in The Ashgate Companion to the Counter-Reformation, hg.v. Alexandra Bamji, Geert H. Janssen und Mary Laven (London: Routledge, 2013), 73 – 91.
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Glaubensflüchtlings zu großen Teilen eine Schöpfung der Migrierenden. Ohne im Einzelfall die schlimmen Fluchterlebnisse, dramatischen Schicksale und grausamen Leiden in Abrede stellen zu wollen: „Glaubensflüchtlinge“ waren nicht einfach passive Opfer konfessioneller Homogenisierung, sondern sie waren als Akteure oft in kreativer Weise an der Konstruktion ihrer Gruppenidentität beteiligt. Zu einer solchen Formung, Zuspitzung und Konstruktion des Narrativs vom „Glaubensflüchtling“ leisteten allerdings die Aufnahmegesellschaften ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Die Sonderstellung religiös-konfessioneller Migrant*innen ergab sich nämlich auch dadurch, dass bekannte Aufnahmegesetze unterschiedlicher mitteleuropäischer Staatswesen vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – darunter zum Beispiel das bekannte Edikt von Potsdam für die Hugenotten aus dem Jahr 1685 – selbst den Rechtscharakter von Ausnahmeregelungen hatten: Solche Privilegien, die gelegentlich unter Mitwirkung migrantischer Lobbygruppen formuliert wurden, setzten gewissermaßen die Grundlagen eines frühneuzeitlichen, ständisch organisierten Staatswesens vorübergehend und für eine bestimmte Gruppe außer Kraft. Die Migrierenden, für welche die Privilegien galten, standen damit oft unter dem direkten Schutz des Monarchen und wurden für eine gewisse Zeit von bestimmten Abgaben und Leistungen befreit – zum Beispiel von Steuern oder dem Militärdienst. Auch typische Restriktionen im städtischen, vor allem handwerklich-zünftischen Bereich konnten für sie zeitweilig aufgehoben werden.¹¹ Im Verbund mit spezifischen Ansiedlungserleichterungen wie der Zuteilung von Grundstücken oder der Versorgung mit Bauholz führte eine solche Vorzugsbehandlung nicht selten zu Konflikten mit einheimischen Nachbar*innen. Selbst wenn die Privilegierung von Neusiedler*innen in der Praxis nicht immer gut funktioniert hat, so ging es doch den Aufnahmebehörden häufig darum, „Glaubensflüchtlingen“ eine Sonderrolle zuzuweisen: mittelfristig als ökonomisch wertvolle Untertanen und zugleich als religiöse Vorbilder für die Mehrheitsgesellschaft, wenngleich unter einer mög Ulrich Niggemann, „Die altständische Antwort auf die soziale Herausforderung Migration: Privilegien als Mittel staatlicher Einwanderungspolitik im Europa der Frühen Neuzeit,“ in Migration als soziale Herausforderung: Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hg.v. Joachim Bahlcke, Rainer Leng und Peter Scholz, Stuttgarter Beiträge zur Historischen Migrationsforschung 8 (Stuttgart: Steiner, 2011), 183 – 200; zu den dahinterstehenden Einwanderungs- und Aufnahmepolitiken siehe auch Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens: Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681 – 1697), Norm und Struktur 33 (Köln u. a.: Böhlau, 2008); Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land: Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts (Münster: Aschendorff, 2006).
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lichst direkten, engmaschigen Kontrolle durch den Monarchen bzw. seine Behörden. Dies drückte sich gelegentlich in der Zuweisung bestimmter Siedlungsräume aus (Stadtviertel, ganze Dörfer oder neu gegründete Städte), häufiger jedoch in der Anstellung eigener Geistlicher oder auch von Verwaltungspersonal, das sich speziell um die Belange einer bestimmten Migrant*innengruppe zu kümmern hatte. All diese Entwicklungen lassen sich bei der Ansiedlung französischer Hugenotten in Brandenburg-Preußen und anderswo ausgangs des 17. Jahrhunderts feststellen, doch die Hugenotten waren kein Einzelfall.¹² Unter der Autorität der jeweiligen Landesherrschaft hatten sich an vielen europäischen Aufnahmeorten konfessioneller Migrant*innen bereits seit dem 16. Jahrhundert Exilgemeinden mit muttersprachlichen Geistlichen und Gottesdiensten gebildet, deren Bedeutung für die Pflege religiös-kultureller Traditionen aus der alten Heimat wie auch für die Herstellung sozialer und wirtschaftlicher Kontakte im Exil nicht zu unterschätzen ist.¹³ Insofern trugen die Migrations- und vor allem die Aufnahmesituation entscheidend zur Formierung spezifischer Migrant*innengruppen bei, deren Lebensumfeld zunehmend auch für Außenstehende attraktiv wurde. Das bedeutete konkret, dass etwa unter den Hugenotten der französischen „Kolonie“ Berlins keineswegs von Beginn an feststand, was eigentlich deren „Französisch-Sein“ in sprachlich-kultureller oder konfessioneller Hinsicht ausmachte, und dass sich unter den Kolonieangehörigen denn auch mancherlei Menschen befanden, die man nach objektivierbaren Kriterien nicht unbedingt zur Gruppe der Hugenotten gezählt hätte. Analog dazu stammte zum Beispiel nur ein kleiner Teil der „Salzburger“ Siedler*innen im nordamerikanischen Ebenezer (Georgia) tatsächlich aus Salzburg; und im sächsischen Dresden versorgte ausgangs des 17. Jahrhunderts eine speziell für ungarische Glaubensflüchtlinge eingerichtete Armenkasse schon kurz nach ihrer Gründung keinen einzigen Ungarn mehr, dafür allerdings alle möglichen anderen Bedürftigen.¹⁴
Neben der bereits angeführten Literatur verweise ich auf Ulrich Niggemann, „Konflikte um Immigration als ‚antietatistische‘ Proteste? Eine Revision der Auseinandersetzungen bei der Hugenotteneinwanderung,“ Historische Zeitschrift 286 (2008): 37– 61. Die Literatur zu frühneuzeitlichen Fremdengemeinden ist mittlerweile ausgesprochen umfangreich. Stellvertretend seien hier nur als „Klassiker“ genannt: Andrew Pettegree, Foreign Protestant Communities in Sixteenth-Century London (Oxford: Oxford University Press, 1986) sowie Ole Peter Grell, Dutch Calvinists in Early Stuart London: The Dutch Church in Austin Friars, 1603 – 1642 (Leiden: Brill, 1989). Zu den Ungarn in Dresden siehe Alexander Schunka, „Zeit des Exils: Zur argumentativen Funktion der Zeit bei Zuwanderern im Kursachsen des 17. Jahrhunderts,“ in Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, hg.v. Arndt Brendecke, Ralf-Peter Fuchs und Edith Koller, Pluralisierung und Autorität 8 (Münster: Lit, 2007), 149 – 168, hier v. a. 149 f.; zur böhmischen Gemeinde in Dresden
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Dies führt zum letzten hier anzusprechenden Aspekt, der zur Sonderstellung von „Glaubensflüchtlingen“ beitrug, nämlich zur Gruppe der Kommissare, Agenten oder Broker. „Kommissare“ sind per definitionem Sonderbeamte, die einen vorübergehenden Auftrag im Rahmen der landesherrlichen Verwaltung zu erfüllen hatten.¹⁵ Im Fall der Hugenottenansiedlung in Kurbrandenburg und auch im Kontext der Salzburger kamen diese Broker häufig aus dem Staatsdienst des Aufnahmelandes; in vielen Fällen hatten sie selbst einen Migrationshintergrund.¹⁶ Manchmal waren es aber auch die Zuwanderer (oder die Aufnahmebehörden), die jemanden aus der Gruppe der Migrierenden zur Übernahme spezieller Verwaltungsaufgaben bestimmten. Hier fiel die Wahl dann aufgrund von Bildungsstand, kommunikativen Möglichkeiten und gruppeninterner Position häufig auf Geistliche. Für die Verteilung und Auszahlung von Versorgungsleistungen an Migrierende und Neuankömmlinge, sowohl in Form von Geld als auch von Naturalien, waren häufig entsprechende Broker verantwortlich.¹⁷
siehe Frank Metasch, Exulanten in Dresden: Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert, Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 34 (Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag, 2011); zur Konsolidierung von Exulantengruppen siehe als faszinierendes Beispiel aus dem böhmisch-sächsischen Zusammenhang Die Chronik des Václav Nosidlo von Geblice: Aufzeichnungen aus der böhmischen Exulantengemeinde in Pirna zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Edition und Übersetzung, hg.v. Martina Lisa, Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 47 (Stuttgart: Steiner, 2014); zur Konsolidierung der „Salzburger“-Gemeinde in Ebenezer (Georgia) siehe Alexander Pyrges, Das Kolonialprojekt EbenEzer: Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts, Transatlantische historische Studien 53 (Stuttgart: Steiner, 2009). Zu den Hugenotten in Berlin siehe, basierend auf der umfangreichen Literatur, knapp Alexander Schunka, Die Hugenotten: Geschichte, Religion und Kultur (München: C.H. Beck, 2019), 95 – 102. Klassisch hierzu ist Otto Hintze, „Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte (1910),“ in Beamtentum und Bürokratie, hg.v. Kersten Krüger, Kleine Vandenhoeck-Reihe 1473 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981), 78 – 112. Dies wäre einmal systematischer zu untersuchen. Zur Bedeutung von Beamten mit eigenem Migrationshintergrund in der Migrationspolitik frühneuzeitlicher Staaten siehe – am Beispiel Brandenburg-Preußens – Alexander Schunka, „Migranten und kulturelle Transfers,“ in Friedrich der Große in Europa: Geschichte einer wechselvollen Beziehung, hg.v. Bernd Sösemann und Gregor Vogt-Spira, Bd. 2 (Stuttgart: Steiner, 2012), 80 – 96. Zum Thema der cultural brokers siehe die Beiträge in Marika Keblusek, Hg., Double Agents: Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe, Studies in Medieval and Reformation Traditions 154 (Leiden: Brill, 2011). Besonderes Augenmerk auf Mittelsleute im Kontext des frühneuzeitlichen Exils legt Peter Burke, Exiles and Expatriates in the History of Knowledge, 1500 – 2000 (Lebanon: University Press of New England, 2017), 39 – 81, mit weiterer Literatur. Zur Rolle von Geistlichen als broker in Migrationskontexten siehe mit den entsprechenden Quellen- und Literaturhinweisen Alexander Schunka, „Migrationen evangelischer Geistlicher als Motor frühneuzeitlicher Wanderungsbewegungen,“ in Konfession, Migration und Elitenbildung: Studien zur
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Damit ist religiös-konfessionelle Migration gewissermaßen der normale Ausnahmefall innerhalb des frühneuzeitlichen Migrationsgeschehens. Aus der eben geschilderten, unterschiedlich legitimierten Sonderstellung von „Glaubensflüchtlingen“ ergab sich jedoch – und das ist hier der entscheidende Punkt – immer ein besonderer Anspruch auf materielle Versorgung. Denn die Bedürftigkeit dieser Migrant*innen legitimierte sich ja in der Selbstdarstellung genau wie in der Außensicht der Aufnahmebehörden gleichsam aus einem Ortswechsel „um des Glaubens willen“, wie dies schon zeitgenössisch ausgedrückt worden ist.¹⁸ „Glaubensflüchtlinge“ waren daher gewissermaßen die Ersatzmärtyrer des Protestantismus – sie dienten in ihrer religiösen Standhaftigkeit immer auch als spirituelle Exempla für die Aufnahmegesellschaft. Und dies brachte nicht nur besondere Erwartungen der Aufnehmenden an die Migrierenden mit sich, sondern auch spezielle Hoffnungen der Wandernden auf eine besondere Behandlung und Versorgung durch die Ortsansässigen.
3 Migrationsfinanzierung und Versorgungsstrategien Grundsätzlich muss man sich vergegenwärtigen, dass Migrationen wohl zu jeder Zeit eine kostspielige Angelegenheit waren und sind. Auch wenn sich die exakten Kosten eines Ortswechsels im 17. oder 18. Jahrhundert – etwa aus dem Salzburgischen nach Preußisch-Litauen, aus Böhmen nach Sachsen oder aus Südfrankreich nach Berlin – nur schwer beziffern lassen,¹⁹ lohnt sich gleichwohl der Blick auf zeitgenössische Finanzierungsstrategien von „Glaubensflucht“. Doch woher wussten potenzielle Migrant*innen im 17. oder 18. Jahrhundert überhaupt, was sie ein Ortswechsel kosten würde und ob sie ihn sich leisten konnten? Dazu hatten sie bestenfalls mündliche Informationen, vielleicht verfügten sie über Briefe Angehöriger oder kannten gedruckte Werbeschriften.²⁰
Theologenausbildung im 16. Jahrhundert, hg.v. Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt, Brill’s Series in Church History 31 (Leiden: Brill, 2007), 1– 26. So und ähnlich („um des Evangeliums willen“, „um der christlichen Wahrheit willen“ etc.) vielfach etwa im Umfeld der Salzburger Emigration von 1731/2. Noch in jüngerer Zeit finden sich historische Darstellungen konfessionellen Exils, die diese Formulierung im Titel tragen. Möglich wäre dies durchaus, etwa anhand von gelegentlich vorhandenen Reiseaufzeichnungen und Kollektenbüchern, die teils auch als Kassenbücher dienten. Dies kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Ausführungen nicht geleistet werden. Solche Werbeschriften liegen vor allem im Rahmen der Nordamerikaauswanderung seit dem frühen 18. Jahrhundert sehr zahlreich vor. Eine der berühmtesten – aus dem Kontext der Pfälzer
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Manchmal lagen ihnen bereits Aufnahmeedikte möglicher Zielländer vor, die an bestimmten Abwanderungsorten illegal verteilt worden waren und Auswanderung fördern sollten.²¹ Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass auch „Glaubensflucht“ selten überstürzt, sondern in der Regel wohlgeplant vor sich ging. Geht man vom migratorischen Normalfall der Zeit aus, dann war schon die Ablösung rechtlicher Bindungen im Vorfeld eines Ortswechsels eine teure Angelegenheit. Beim Abzug aus der Heimat musste ein Losgeld an den Grundherrn oder die Landesobrigkeit bezahlt werden (bei den Salzburgern betrug dies zehn Prozent des mobilen Besitzes; anderswo manchmal auch deutlich mehr).²² Für die Reise selbst brauchte man Passbriefe, und bei der Etablierung am Zielort konnten Kredite nötig werden, um Häuser bauen, Abgaben an Zünfte aufbringen oder Bürgergelder in Städten bezahlen zu können. Eine Migration konnte sich jedenfalls nicht jeder leisten.²³ Insofern ist es vielleicht nicht allzu überraschend, dass sich gelegentlich die aufnehmende Seite an der Finanzierung von Migrationen beteiligte, sofern sie denn ein Interesse an der Aufnahme von Zuwanderer*innen hatte. Bereits im Kontext der Hugenottenmigration ausgangs des 17. Jahrhunderts waren es zum Beispiel die brandenburgischen Residenten, die die Migrationen zu finanzieren und zu kanalisieren versuchten. Bei der Wanderung der Salzburger durchs Reich nach Preußen-Litauen anfangs der 1730er Jahre teilten Brandenburg-preußische Kommissare die Migrierenden in Gruppen (sogenannte Züge) auf, versorgten sie mit Reisedokumenten, machten sich mit der Infrastruktur vertraut und kümmerten sich um Übernachtung und Versorgung unterwegs.²⁴ Emigration – ist sicherlich Josua Kocherthal, Außführlich- und umständlicher Bericht von der berühmten Landschaft Carolina In den Engelländischen America gelegen (Frankfurt a. M.: Oehrling, 1709). So etwa im Fall des Edikts von Potsdam, das über kurbrandenburgische Gesandte und Agenten nach Frankreich gelangte, siehe Asche, Neusiedler, 423 f.; Meta Kohnke, „Das Edikt von Potsdam,“ Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 9 (1985): 241– 275. Alexander Schunka, „Von Gott gesandt? Die Salzburger Emigranten und Preußen,“ in Kreuzwege: Die Hohenzollern und die Konfessionen 1517 – 1740, hg.v. Mathis Leibetseder (Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, 2017), 104– 117, hier 109. Zu den praktischen Aspekten von Mobilität siehe – für das Passwesen – Valentin Groebner, Der Schein der Person: Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters (München: C.H. Beck, 2004), 124– 158; Karl Härter, „Grenzen, Streifen, Pässe und Gesetze: Die Steuerung von Migration im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reichs (1648 – 1806),“ in Handbuch Staat und Migration seit dem 17. Jahrhundert, hg.v. Jochen Oltmer (Berlin: DeGruyter, 2016), 45 – 86. Zu den Hugenotten und ihren Mittelspersonen siehe z. B. den Überblick bei Susanne Lachenicht, „Diasporic Networks and Immigration Policies,“ in A Companion to the Huguenots, hg.v. Raymond A. Mentzer und Bertrand van Ruymbeke (Leiden: Brill, 2016), 249 – 272. Zu den Salzburgern siehe knapp Schunka, „Salzburger Emigranten“ mit weiterer Literatur.
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Im Kontext der Nordamerika-Auswanderung aus Südwestdeutschland etablierte sich im 18. Jahrhundert eine andere, für Migrationswillige durchaus attraktive, allerdings zugleich besonders ausbeuterische Variante der Reisefinanzierung: das sogenannte Neuländer-System. Es beruhte auf Rekrutierungsstrategien, die offenbar die niederländische Ostindienkompanie (VOC) bereits Jahrzehnte zuvor angewendet hatte. Im Rahmen des Neuländer-Systems wurden Ortswechsel vorfinanziert und später durch die eigene Arbeitskraft abbezahlt. Die Agenten erhielten in den Niederlanden von Reedereien oder Kapitänen für jede*n Auswanderer*in, die/den sie mitbrachten, eine Vergütung, während die Migrant*innen später als Kontraktarbeiter*innen ihre Kosten abstottern mussten und sich zeitweilig in sklavenähnlicher Abhängigkeit befanden.²⁵ Die Neuländer hatten einen ähnlich schlechten Ruf wie heutige Schlepper: Man beschuldigte sie zum Beispiel, bewusst Geistliche zu rekrutieren, um die jeweiligen Migrantenzüge mit dem Flair von Glaubensflucht zu versehen. Im Rahmen dieses Systems konnten sich allerdings auch diejenigen eine Auswanderung leisten, die selbst nicht über entsprechende eigene finanzielle Rücklagen verfügten.²⁶ Bei der Organisation von Migrationszügen spielte eine große Rolle, welche Geldgeber aus welchen Herkunftsländern ein Interesse an der Förderung von Auswanderung besaßen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war es verhältnismäßig lukrativ für Migrierende vom Kontinent, wenn ihre Ortswechsel von Großbritannien aus finanziell unterstützt wurden. Im Unterschied zu Brandenburg-Preußen und anderen Territorien des Römisch-deutschen Reiches im Gefolge des Dreißigjährigen Kriegs betrieb das englische Königreich zwar keine Immigrationsförderung auf der Insel selbst, doch in den Kolonien herrschte ein kontinuierlicher Bedarf an Siedler*innen. Zwar wurden Emigrationen in die Neue Welt in der Regel nicht durch die britische Krone finanziert – diesem Irrtum waren die sogenannten Poor Palatines 1709 aufgesessen, die sich in der falschen Hoffnung auf kostenlose Überfahrt nach Amerika zu Tausenden nach London aufgemacht
Dazu jetzt Udo Schemmel, Das System der Vertragsknechtschaft: Ein wirtschaftlich erfolgreiches transatlantisches Geschäftsmodell des 18. Jahrhunderts? (Münster: Lit, 2020); zu den Rekrutierungsstrategien im Rahmen der niederländischen Ostindienkompanie siehe Roelof van Gelder, Das Ostindische Abenteuer: Deutsche in Diensten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC), 1600 – 1800, Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 61 (Hamburg: Convent, 2004), 34– 36. Siehe Hermann Wellenreuther, Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742 – 1787: Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk, Atlantic Cultural Studies 10 (Münster u. a.: Lit, 2013), 212– 400. Zum Thema NeuländerMigration bereitet William O’Reilly aktuell eine Monographie vor.
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hatten. Doch finanziell potente Kreise anglikanischer Philanthropen in der britischen Hauptstadt setzten immer wieder ihr Kapital für spezifische Siedlungsunternehmungen ein und förderten etwa die Ansiedlung von Salzburger Protestant*innen in Georgia einschließlich des kontinentalen Abschnitts von deren Reise. Dank des günstigen Umrechnungskurses zwischen britischer Insel und Kontinentaleuropa war es äußerst lukrativ, zur Unterstützung protestantischer Migrant*innen auf Geld aus England zurückgreifen zu können.²⁷ Als Salzburger (und andere) Protestant*innen seit der Mitte der 1730er Jahre in mehreren Gruppen nach Georgia verschifft wurden, geschah dies auf Basis einer Kooperation zwischen den Pietisten in Halle, dem Augsburger Geistlichen Samuel Urlsperger und diversen politisch-philanthropischen Einrichtungen Londons. Das meiste Geld stammte wohl vom Londoner Board of Trade; aus Deutschland kam faktisch nur sehr wenig.²⁸ In der Praxis führte dies dazu, dass es den Salzburgern auf ihrem Weg nach Georgia an weit weniger materieller Ausstattung fehlte als anderen Migrant*innen ihrer Zeit. So hielt der Salzburger-Kommissar Johann Gottfried von Müller im Jahr 1741 stolz fest, dass all seine Schützlinge über ausreichend Fleisch, Brot und sogar Zitrusfrüchte verfügten; außerdem erhielten sie dank ihrer protestantischen Standhaftigkeit großzügige Spenden von Einheimischen, wurden zum Essen eingeladen, und wann immer man etwas brauchte, löste der Kommissar seine Londoner Wechsel ein. Dieser Salzburgertransport des Kommissars Müller war rheinabwärts in die Niederlande unterwegs, als er auf ein Boot mit „Pfälzern“ (d. h. Migrant*innen aus dem Oberrheingebiet) traf. Deren Boot hielten die Behörden wochenlang fest und ließen es nicht in die Niederlande weiterfahren, denn anders als im Fall der Salzburger waren die Pfälzer auf eigene Kosten unterwegs, besaßen keine gültigen Papiere und hatten zudem ihre Nahrungsmittel längst aufgebraucht: „Wir“, so der Kommissar Müller, „gaben ihnen Almosen“.²⁹ Was auf den ersten Blick wie eine solidarische Geste unter Leidensgenossen klingt, sollte für spätere Leser*innen des gedruckten Berichts zugleich die Auserwähltheit und die entsprechend gute Versorgung der Salzburger Protestant*innen unterstreichen. Die Szene zeigt aber auch, dass individuelle Migra-
Zu diesem Themenkomplex internationaler Protestant*innenversorgung siehe Alexander Schunka, Ein Neuer Blick nach Westen: Deutsche Protestanten und Großbritannien (1688 – 1740), Jabloniana 10 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2019), 252– 328, zur Umrechnungsproblematik ebd., 260 f. Zu Infrastruktur und Finanztransaktionen der Salzburger*innen in Georgia siehe Pyrges, EbenEzer, 213 – 276. Die Stelle nach dem Bericht im von Samuel Urlsperger verantworteten Periodikum Ausführliche Nachricht von den Saltzburgischen Emigranten 2 (1741), 1189. Hervorh. d. Verf.
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tionen ohne institutionelle Unterstützung deutlich schwerer zu bewerkstelligen waren. Grundsätzlich konnten sich in vielen Fällen nicht alle Mitglieder einer Familie einen Ortswechsel leisten. Daher stellt man im Umfeld verschiedener religiös-konfessioneller Migrationen immer wieder fest, dass Familienverbände aufbrachen, dass nur ein einziger Familienangehöriger ins Ausland geschickt wurde, dass Angehörige gegebenenfalls später nachgeholt wurden oder dass man im Fall wirtschaftlichen Misserfolgs in die alte Heimat zurückkehrte – unabhängig von der dortigen konfessionellen Situation.³⁰ Vielleicht noch wichtiger als der Bereich institutionell organisierter Versorgung, dafür aber ungleich schlechter dokumentiert, sind daher individuelle Formen der Migrationsfinanzierung. Die meisten jüngeren, allein reisenden Migrant*innen in der Frühen Neuzeit scheinen unterwegs zumindest zeitweilig von Almosen gelebt zu haben.Wer bettelte, brauchte jedoch immer eine glaubwürdige Geschichte, die ihn in den Augen potenzieller Almosengeber*innen zum Erhalt milder Gaben qualifizierte. Herumtreiber*innen oder gewöhnliche Bettler*innen konnten kaum mit großer Mildtätigkeit der ansässigen Bevölkerung rechnen. Die rhetorischen Strategien, die religiöse Migrant*innen zum Erwerb von Almosen einsetzten, lassen sich aus Kollektenbüchern, Bittschriften und Kleindrucken erkennen: Im Umfeld der habsburgischen und französischen Migrationen festigte sich in diesem Zusammenhang das Bild eines armen, frommen, standhaften Glaubensflüchtlings, der aufgrund seines persönlichen Schicksals ein besonderes Anrecht auf Versorgung für sich reklamierte.³¹ An den Ankunftsorten waren Geistliche und – sofern es sie gab – die bereits existierenden Fremdengemeinden wichtige Anlaufstellen zur Versorgung von Migrierenden. Dies galt für Individuen und Kleingruppen, aber auch, wenn Migrationszüge einen relativ hohen Organisationsgrad aufwiesen wie im Fall der Salzburger. Deren Kommissare wandten sich an lokale Pfarrer, denn jene kanalisierten Hilfsleistungen der örtlichen Bevölkerung, machten Werbung für den guten Zweck und verteilten Essen oder Almosen für den Weiterzug der Migrie-
Eine familiäre Binnensicht aus dem Kontext der hugenottischen Emigration bietet Carolyn Lougee Chappell, Facing the Revocation: Huguenots Families, Faith and the King’s Will (New York: Oxford University Press, 2018). Beispiele aus dem Alltag im böhmisch-sächsischen Grenzgebiet bei Wulf Wäntig, Grenzerfahrungen: Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert (Konstanz: UVK, 2007). Rückwanderungen – ein allgemein vernachlässigtes Thema – behandelt für die Hugenott*innen in den Niederlanden David van der Linden, Experiencing Exile: Huguenot Refugees in the Dutch Republic, 1680 – 1700 (Farnham: Ashgate, 2015), 131– 160. Eine genauere Analyse dieses Zusammenhangs in Schunka, Gäste, 270 – 320. Siehe auch Schunka, „Exulanten, Konvertiten, Arme und Fremde: Zuwanderer aus der Habsburgermonarchie in Kursachsen im 17. Jahrhundert,“ Frühneuzeit-Info 14 (2003): 66 – 78.
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renden. Die ausufernde propagandistische Publizistik im Umfeld der Salzburgerzüge im Reich stammte in der Regel aus der Feder lokaler Geistlicher. Sie diente letztlich der materiellen Versorgung der Migrierenden mindestens ebenso sehr wie der religiösen Erbauung von Einheimischen.³² Dass sich die wirtschaftliche Situation Migrierender auch an möglichen Zielorten in der Regel nicht sofort verbesserte, liegt auf der Hand. Dazu trug der prekäre rechtliche Status der Neuankömmlinge ebenso bei wie fehlende soziale Bindungen und Zugriffsmöglichkeiten auf ökonomische Ressourcen (einschließlich „weicher“ Kriterien wie Vertrauen und Kreditwürdigkeit).³³ Viele Zuwander*innen finanzierten ihr Leben daher zunächst mit laufenden Einkünften aus der alten Heimat wie Pachteinnahmen oder Ernteerträge. Im Falle wirtschaftlichen Erfolgs an den Zuwanderungsorten kam es nach einiger Zeit allerdings auch vor, dass Zuwander*innen umgekehrt ihre daheimgebliebenen Familien mit Einnahmen aus der neuen Heimat unterstützten. Gelegentlich wurden selbst Behörden und Gerichte eingeschaltet, um an den neuen Wohnorten an Geld aus der alten Heimat zu kommen, etwa im Zusammenhang mit Erbschaften.³⁴ Grenzüberschreitende Finanztransaktionen, teils über weite Strecken hinweg, scheinen jedenfalls vielfach die Regel gewesen zu sein: innerhalb Frankens während des 30jährigen Krieges³⁵ ebenso wie zwischen Sachsen und Böhmen, Brandenburg-Preußen und Frankreich, Ungarn und Süddeutschland, Preußisch-
Siehe z. B. die umfangreichen Quellenbeilagen in Christoph Sancke, Ausführliche Historie derer Emigranten Oder vertriebenen Lutheraner aus dem Ertz-Bißthum Saltzburg, 4 Bde. (Leipzig: Teubner, 1732– 1734) sowie Gerhard Gottlieb Günther Göcking, Vollkommene Emigrations-Geschichte von denen aus dem Ertz-Bißthum Saltzburg vertriebenen und größtentheils nach Preussen gegangenen Lutheranern […], 2 Bde. (Ulm: Wagner, 1734– 1737). Zu diesem Problem siehe z. B. Dagmar Freist, „Uneasy Trust Relations and Cross-Cultural Encounters on Trial: Migrants in Early Modern Europe,“ in Agents of Transculturation: BorderCrossers, Mediators, Go-Betweens, hg.v. Sebastian Jobs und Gesa Mackenthun (Münster: Waxmann, 2013), 68 – 89. Siehe das Beispiel eines Salzburger Streitfalls aus den Acta Historico-Ecclesiastica, diskutiert bei Alexander Schunka, „Konfession und Migrationsregime in der Frühen Neuzeit,“ Geschichte und Gesellschaft 35 (2009): 28 – 63, hier 49. Faszinierende Quellen im Bereich von Finanz- und Erbstreitigkeiten bietet aus dem südwestdeutsch-ungarischen Migrationszusammenhang die Edition von Karl-Peter Krauss, Hg., Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 20 (Stuttgart: Steiner, 2015). Für Franken im Dreißigjährigen Krieg siehe das Beispiel bei Alexander Schunka, „Migranten als Glaubenszeugen und Vermittler: Zum Verhältnis von religiösem Exil und protestantischer Kommunikation seit der Reformationszeit,“ in Entfaltung und zeitgenössische Wirkung der Reformation, hg.v. Irene Dingel und Ute Lotz-Heumann, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 216 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012), 214– 230, hier 225 – 230.
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Litauen und dem Erzstift Salzburg und sogar zwischen dem nordamerikanischen Georgia und dem europäischen Kontinent.³⁶ Die vielfältigen personellen Kontakte und materiellen Verbindungen über konfessionell-politische Grenzen hinweg verwischen gelegentlich die vermeintlich klaren Unterscheidungen zwischen Ausgangs- und Zielgebieten und lassen religiöse Wanderungsbewegungen als offene, gelegentlich gar zirkuläre Prozesse migrantischer Lebensbewältigung erscheinen, deren vermeintliche Zielorientierung und Endgültigkeit oft ein Konstrukt späterer Zeiten ist. Neben den bisher erwähnten institutionell-staatlichen und individuellen Formen materieller Versorgung im Migrationszusammenhang trugen finanzielle Unternehmungen, die auf migrantischen Initiativen basierten, in besonderer Weise zum Zusammenhalt in der Diaspora bei.Wohlorganisierte Sammlungen von Kollekten verknüpften Diasporagemeinden untereinander und mit grenzüberschreitenden Unterstützungsnetzen. Sie verbanden sogar Nordamerika mit Europa.³⁷ Exilgemeinden auf dem gesamten europäischen Kontinent schickten immer wieder eigene Fundraiser aus, die für ihre jeweiligen Gruppen Geld sammelten. In der Regel mussten sie über bestimmte Genehmigungen verfügen; sammelten sie auf eigene Faust, dann konnte dies zu Problemen führen.³⁸ Gerade im Rahmen solcher Kollektensammlungen entstanden zahlreiche bewegende Fluchtberichte, die häufig auch im Druck erschienen sind.³⁹ Darin ging es um die Leiden der standhaften Exulanten und deren unverschuldete Not. Solche Berichte sollten Menschen zu Spenden ermuntern; sie sind daher keine authentischen Schilderungen katholischer Gräuel – auch wenn sie gelegentlich als solche (miss‐) verstanden worden sind.
4 Fazit Dieser knappe Überblick sollte die weltlich-materiellen Zwänge und Strategien religiös-konfessioneller Migrant*innen im frühneuzeitlichen Europa illustrieren.
Siehe z. B. Pyrges, EbenEzer, 271. Siehe Thomas S. Kidd, The Great Awakening: The Roots of Evangelical Christianity in Colonial America (Cumberland: Yale University Press, 2008), 210. Zur Finanzierung von Exilgemeinden durch Kollektenreisen siehe Alexander Schunka, „Collecting Money, Connecting Beliefs: Fundraising and Networking in the Unity of Brethren of the early Eighteenth Century,“ Journal of Moravian History 14 (2014): 73 – 92. Beispiele aus Pirna bietet die Chronik des Václav Nosidlo von Geblice, 223, 257, 267 und passim. Z. B., neben vielen anderen: Georg Holyk, Blutige Thränen Des Höchst bedrängten und geängsten Böhmer-Landes […] (Wittenberg: Meyer, 1673).
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Nicht allein die Analyse messbarer wirtschaftlicher Erfolge (oder Misserfolge) von Einzelpersonen ist für diesen Problemzusammenhang erhellend, sondern auch religiös-konfessionelle Rhetoriken, deren ökonomischer Nutzen nicht gering eingeschätzt werden darf. Die Versorgungstechniken konfessioneller Migrant*innen der Vormoderne zeigen, dass man vermeintlich eindeutige Migrationsmotive wie „Glaubensflucht“ nicht überbewerten darf, sondern dass sich das Zusammenspiel von religiöser Überzeugung, Migration und Überlebenssicherung als äußerst komplex darstellte. Dies hat auch Auswirkungen auf eine spätere, oft problematische Klassifizierung von Migrant*innen nach ihrem potenziellen Nutzen oder Schaden für die jeweiligen Aufnahmegesellschaften, wie dies die Behörden in der Frühen Neuzeit wiederholt versucht haben (und wie dies auch heute gelegentlich immer noch geschieht).⁴⁰ Das Bild des armen, standhaften Glaubensflüchtlings jedenfalls ist zu einem Gutteil als eine notwendige Überlebensstrategie Migrierender zu verstehen und nicht als Zustandsbeschreibung. „Glaubensflucht“ war nicht denkbar ohne entsprechende migrantische Selbstdarstellung. Diese Selbstdarstellung auf unterschiedlichen Ebenen ist zugleich eine der wenigen Möglichkeiten für Migrierende gewesen, einmal selbst die Stimme zu erheben und als Akteure ernst genommen zu werden.
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Diaspora
Susanne Lachenicht, Bayreuth
Frühneuzeitliche Diasporen und „Nationsbildung“ 1 Einleitung Religiös oder konfessionell bedingte Migrationsbewegungen gab es bekanntlich in der Vormoderne in nicht unerheblichem Umfang – nicht erst ausgelöst durch die Glaubensspaltung als Folge der lutherischen, dann auch zwinglianischen oder calvinistischen Reformationen. Die Verfolgung und Ausweisung von sephardischen Jüdinnen und Juden hatte auf der iberischen Halbinsel seit dem späteren 14. Jahrhundert zugenommen und führte 1492, als Granada als letztes Emirat auf der iberischen Halbinsel erobert worden war, zum Alhambraedikt, das sämtliche in den Herrschaftsgebieten von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon lebenden Jüdinnen und Juden auswies, sollten sie nicht zum christlichen Glauben konvertieren. Ca. 150.000 bis 165.000 Sephard*innen verließen in der Folge die spanischen Territorien und siedelten sich in Portugal, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum, d. h. vor allem auch im Osmanischen Reich, an. Diese Phase markiert den Beginn der ersten sephardischen Diaspora.¹ Die muslimischen, d. h. maurischen Untertan*innen der spanischen Kronen verblieben zunächst auf der iberischen Halbinsel. Sie wurden systematisch im frühen 17. Jahrhundert vertrieben, zwangsdeportiert und nicht zuletzt auch innerhalb der iberischen Halbinsel zwangsumgesiedelt. Dies betraf ca. 270.000 bis 300.000 so genannte Morisk*innen.² Die zweite sephardische Diaspora entstand, als 1580 Portugal unter die Herrschaft Philipps II. von Spanien kam. Diese Sephard*innen, die „Portugies*innen“, emigrierten u. a. nach Bordeaux und in weitere Teile Aquitaniens, nach Amsterdam, London, Hamburg und in die Kolonien Englands, Jane S. Gerber, The Jews of Spain: A History of the Sephardic Experience (New York: Free Press, 1994), 115 – 144; Esther Benbassa und Aron Rodrigue, Sephardi Jewry. A History of the JudeoSpanish Community, 14th–20th Centuries (Los Angeles, London: University of California Press, 2000), 22– 28. L.P. Harvey, Islamic Spain, 1250 to 1500 (Chicago: University of Chicago Press, 1990), 331– 335; Nicholas Terpstra, Religious Refugees in the Early Modern World. An Alternative History of the Reformation (Cambridge: Cambridge University Press, 2015), 2– 3; Fernández Chaves, Manuel F. and Rafael M. Pérez García, „The Nation of Naturales del Reino de Granada: Transforming Identities in the Morisco Castilian Diaspora, 1502– 1614,“ in Connecting Worlds and People. Early Modern Diasporas, hg.v. Dagmar Freist und Susanne Lachenicht (London: Routledge, 2016), 10 – 30. https://doi.org/10.1515/9783110673388-006
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Frankreichs und der Niederlande in Übersee, wie beispielsweise in die Karibik, nach Surinam und in die Carolinas.³ Mit der Reformation nahm die Verfolgung und Flucht Andersgläubiger weiter zu. Zwischen dem 16. und dem späten 18. Jahrhundert wurden Hunderttausende innerhalb Europas vertrieben bzw. in die „freiwillige“ Migration getrieben: u. a. Täufer*innen, Hutterer*innen, Mennonit*innen, Wallon*innen, Hugenott*innen, niederländische und englische Katholik*innen, Puritaner*innen, Quäker*innen, Böhm*innen, aschkenasische Jüdinnen und Juden, Herrnhuter*innen, Salzburger Protestant*innen, Protestant*innen aus der Steiermark und aus Kärnten, katholische Akadier*innen (heutiges Nova Scotia/Kanada), French Prophets und Shaker – neben den bereits erwähnten Sephard*innen und Morisk*innen.⁴ Erst mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution, der Virginia Declaration of Rights von 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, wurde Religionsfreiheit zu einem Grundsatz, der im 19. und 20. Jahrhundert demokratisch-freiheitlichen Verfassungen in Europa und Amerika zunehmend eingeschrieben werden sollte. Welche Transformationsprozesse bewirkten nun diese frühneuzeitlichen Migrationen? Im Folgenden möchte ich mich auf einen Bereich konzentrieren, der nicht zuletzt aufgrund von spezifischen Paradigmen in der Forschung zu Nationen und Nationalismus eher selten mit der Frühen Neuzeit in Verbindung gebracht wird, nämlich der Zusammenhang von Migration, Religion und Nationsbildung. Ich werde dies am Beispiel von zwei religiösen Minderheiten tun: Hugenott*innen, d. h. französische Calvinist*innen, und sephardische Juden und Jüdinnen. Zunächst muss jedoch geklärt werden, was „Nation“ in der Frühen Neuzeit heißt und was – darauf aufbauend – Nationsbildung im Kontext von Religion und Migration bedeutet.
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Frühneuzeitliche Diasporen und „Nationsbildung“
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2 Zum Nationsbegriff der Frühen Neuzeit In der Frühen Neuzeit ist „Nation“ nur eine von vielen anderen Kategorien, die der Konstruktion kollektiver Identitäten dienen: Konfession und Religion spielen ebenso eine Rolle wie Geschlecht, „Blut“, Genealogie, Race, Stand, Generation, Profession, und viele andere. Oft wurden diese Begriffe nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern waren teilkongruent. Frühneuzeitliche Nationsbegriffe beinhalten trotz aller Überschneidungen mit anderen Konzepten kollektiver Identität oft Vorstellungen von „Reinheit“: Reinheit der Herkunft, des „Blutes“ oder der Religion.⁵ Nationsbegriffe finden sich in Friedenverträgen wie dem Vertrag von Paris von 1763, in Gründungscharters der britischen Kolonien von Nordamerika, wie der der Carolinas von 1663, in Landschafts- oder Reisebeschreibungen, in Familien- und diplomatischen Korrespondenzen, in Predigten, Enzyklopädien, Rechtstexten, Theaterstücken, Heldenepen und Balladen.⁶ „Nation“ hat in frühneuzeitlichen Quellen sehr unterschiedliche Bedeutungen. Teilweise wird der Begriff synonym für Staat gebraucht, teilweise für Gesellschaften, die seit mythischen Urzeiten in einem bestimmten Territorium leben, die Geschichte und Sprache teilen, ähnliche Genealogien, das „gleiche Blut“ und die gleiche Religion/Konfession haben. Ebenso wird „Nation“ auch als Korporation, als Rechtsgemeinschaft verstanden, der Vorstellungen von der „Nation“ als ursprünglichem Souverän zugrunde liegen.⁷ In frühneuzeitlichen Staaten bzw. den so genannten imperial states machten oft mehrere Nationen den gesamten Untertan*innenverband eines/r Herrschers/in aus: in Brandenburg-Preußen im späteren 17. Jahrhundert neben dem deutschen Untertan*innenverband beispielsweise asch-
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kenasische Jüdinnen und Juden, Schweizer*innen, Niederländer*innen und französische Calvinist*innen, d. h. Hugenott*innen. Religiöse Minderheiten, die in frühneuzeitlichen Staaten und ihren Kolonien angesiedelt wurden, wurden oft – nicht immer – als fremde Nationen bezeichnet, wobei Nation sich nicht allein auf die territoriale Herkunft, sondern auch auf Religion beziehen konnte. In vielen Quellen der Frühen Neuzeit werden beispielsweise Sephard*innen und Hugenott*innen als Nationen bezeichnet. Im Amsterdam des späteren 16. und vor allem 17. Jahrhunderts bildeten Sephard*innen die „portugiesische Nation“, ebenso im Frankreich, d. h. vor allem in Bordeaux, aber auch anderen aquitanischen Städten, des 17. und 18. Jahrhunderts.⁸ In Brandenburg-Preußen wurden Hugenott*innen als französisch-reformierte Nation im Untertan*innenverband der Hohenzollern angesprochen und bis 1809 auch rechtlich als solche behandelt.⁹ Dies hieß, dass „fremde Nationen“ im frühneuzeitlichen Staat einen rechtlichen Sonderstatus inne haben konnten, Korporationen waren, die mit Privilegien ausgestattet wurden, die jederzeit erneuer- und widerrufbar waren. Oft hatten diese „fremden Nationen“ einen diplomatischen Vertreter am Hof des/der Landesfürst*in. In der Frühen Neuzeit sind also Nation als imaginierte Gemeinschaft, Nation als Korporation oder Rechtsgemeinschaft und Nation als gleichbedeutend mit Staat unterschiedliche Konzepte von Nation, die teilweise voneinander abgegrenzt, teilweise kongruent sind oder sich gegenseitig bedingen. Wie hängen diese Konzepte nun mit Migration und Religion zusammen bzw. welche Formen von Nationsbildung finden im Kontext der Verfolgung, Ausweisung oder „freiwilligen“ Migration von religiösen Minderheiten in der Frühen Siehe beispielsweise Swetschinski, Reluctant Cosmopolitans, 166, oder auch die Arbeiten von Daviken Studnicki–Gizbert: A Nation upon the Ocean Sea: Portugal’s Atlantic Diaspora and the Crisis of the Spanish Empire, 1492 – 1640 (Oxford: Oxford University Press, 2007), und „La Nación among the Nations. Portuguese and Other Maritime Trading Diasporas in the Atlantic, Sixteenth to Eighteenth Centuries“, in Atlantic Diasporas. Jews, Conversos, and Crypto-Jews in the Age of Mercantilism, 1500 – 1800, hg.v. Richard L. Kagan und Philip D. Morgan (Baltimore/MD: The Johns Hopkins University Press, 2009), 75. Siehe auch Susanne Lachenicht, „Sephardi Jews. Cosmopolitans in the Atlantic World“, in Diaspora Identities: Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present, hg.v. Susanne Lachenicht und Kirsten Heinsohn (Frankfurt/Main, New York, Chicago: Campus und the University of Chicago Press, 2009), 31– 51. Siehe u. a. Etienne François, „La mémoire huguenote dans le pays du Refuge,“ in Die Hugenotten und das Refuge. Deutschland und Europa. Beiträge zu einer Tagung, hg.v. Frédéric Hartweg und Stefi Jersch-Wenzel (Berlin: Colloquium, 1990), 233 – 239; Myriam Yardeni, Le Refuge huguenot. Assimilation et culture (Paris: Honoré Champion, 2002), 118; Susanne Lachenicht, „Huguenot Immigrants and the Formation of National Identities,“ The Historical Journal 50.2 (2007): 309 – 331; Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit (Frankfurt/Main, New York: Campus, 2010), 168 – 193.
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Neuzeit statt? Die Konstruktion einer imaginierten, separaten Gemeinschaft beginnt bei Sephard*innen und Hugenott*innen nicht erst mit Flucht bzw. Migration, sondern bereits durch die Verfolgung dieser Minderheiten auf der iberischen Halbinsel (Sephard*innen) bzw. in Frankreich (Hugenott*innen).
3 Die Herausbildung der Naçao ebrea Im Fall der zweiten sephardischen Diaspora ist die Fremdkonstruktion als Neue Katholik*innen, Neukonvertierte (Conversos), Kryptojuden und -jüdinnen oder „Marran*innen“ auf der iberischen Halbinsel jedoch nicht gleichbedeutend mit der Herausbildung der portugiesischen Nation oder naçao ebrea in der Diaspora, als die sie sich um 1600 in Amsterdam, Bordeaux, London, Surinam oder Hamburg zu verstehen begannen bzw. verstanden wurden. Die portugiesische Nation entstand als Rechts- und als imaginierte Gemeinschaft erst mit der lokalen bzw. regionalen Ansiedlung in der Diaspora. Gebildet wurde diese portugiesische Nation nicht allein von aus Portugal fliehenden Conversos, sondern auch aus Conversos aus anderen Teilen des spanischen und portugiesischen Weltreiches. Dazu kamen Sephard*innen aus Nordafrika bzw. dem Osmanischen Reich, die im Unterschied zu den Conversos jüdischen Glauben lebten bzw. mit kulturellen, allerdings oft sehr unterschiedlichen Institutionen und Praktiken sephardischjüdischen Lebens vertraut waren – kurzum Menschen unterschiedlicher Herkunft, Glaubensinhalte und Sprache, mit heterogenen kulturellen Traditionen. Nicht nur die Fremd- und zunehmende Eigenwahrnehmung als portugiesische Nation, deren jüdischen oder kryptojüdischen Praktiken Autoritäten der Aufnahmestaaten und -städte zunächst indifferent bzw. bewusst ignorierend gegenüberstanden, ist eine Konstruktion der Diasporasituation, sondern auch die nach und nach sich vollziehende Selbst- und Fremdidentifizierung als jüdisch-portugiesische Nation, d. h. die erneute, häufig durch sephardische Rabbis aus Nordafrika oder Istanbul initiierte Herausbildung sephardisch-jüdischen Lebens, die ab den 1570er bzw. 1580er Jahren, besonders aber ab dem frühen 17. Jahrhundert zu verzeichnen ist.¹⁰ Das heißt, das Selbst- und Fremdverständnis der Sephard*innen in der westeuropäischen und atlantischen Diaspora als religiös-ethnische Nation, wie wir das heute bezeichnen würden, ist genuin mit Verfolgung, Vertreibung und Flucht verbunden, wie eben auch mit der Wahrnehmung als eigenständige Nation und Schaffung eines korporativen Status für diese Kollektive durch die Aufnah-
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Susanne Lachenicht, Bayreuth
mestaaten.¹¹ Oft waren es überhaupt erst diese korporativen Rechte, die den Sephard*innen zugestanden wurden, v. a. im Bereich kulturelles Leben, die die erneute Herausbildung von jüdischen Institutionen ermöglichten – Mahamad (die Leitung der jüdischen Gemeinde), Synagogen, Mikwen, koschere Schlachthäuser, Schulen, eigene Friedhöfe. Diese Voraussetzungen und Entwicklungen führten wiederum dazu, dass die gate-keeper dieser fremden Nationen – d. h. die die Gemeinschaft leitenden Eliten – Endogamie der Gemeindemitglieder genauso anstrebten wie die Pflege von spanischer oder portugiesischer Alltagssprache bzw. Hebräisch als Kultussprache, um so wiederum (scheinbare) Homogenität herzustellen und Privilegien ihrer naçao ebrea oder naçao portuguesa zu erhalten.¹² So wurden für sephardisch-jüdische Gemeinden von den Parnassim (d. h. den jüdischen Gemeindevorstehern) nicht nur Heiratsverbote für Ehen von Jüdinnen und Juden mit Christ*innen erlassen, sondern auch für Heiraten von sephardischen mit aschkenazischen Jüdinnen und Juden. Letztere wurden von den Sephard*innen wegen ihrer mittel- und osteuropäischen Herkunft, ihrer kulturellen Praktiken einschließlich Sprache als „minderwertiger“ angesehen. Ebenso wurden in vielen sephardischen Gemeinden, v. a. in Amsterdam und London jüdische people of colour diskriminiert und durften ebenso wenig wie aschkenazische Jüdinnen und Juden auf sephardischen Friedhöfen bestattet werden.¹³
Arend H. Huusen, „The Legal Position of the Jews in the Dutch Republic,“ in Dutch Jewry, Its History and Secular Cultures (1500 – 2000), hg.v. Jonathan I. Israel und Reinier Salvierda (Leiden, Boston, Köln: Brill, 2002), 25 – 42. Siehe u. a. Yosef Kaplan, „The Jewish Profile of the Spanish–Portuguese Community of London,“ Judaism 41 (1992): 229 – 240; Yosef Kaplan, „Wayward New Christians and Stubborn New Jews: The Shaping of Jewish Identity,“ Jewish History 8 (1994): 27– 41; Graizbord, Souls in Dispute; Lachenicht, „Sephardi Jews“, 31– 51; Michael Studemund-Halévy, „Les aléas de la foi: Parcours d’un jeune Portugais entre église et synagogue,“ in Memoria: Wege jüdischen Erinnerns: Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, hg.v. Birgit E. Klein und Christiane E. Müller (Berlin: Metropol, 2005), 363 – 382; Swetschinski, Reluctant Cosmopolitans; Jonathan I. Israel, „Jews and Crypto-Jews in the Atlantic World Systems, 1500 – 1800,“ in Atlantic Diasporas: Jews, Conversos and Crypto-Jews in the Age of Mercantilism, 1500 – 1800, hg.v. Richard L. Kagan und Philip D. Morgan (Baltimore/Maryland: The Johns Hopkins University Press, 2009), 3 – 17. Swetschinski, Reluctant Cosmopolitans, 188 – 189, 194– 195, 251; Jonathan Schorsch, „Portmanteau Jews: Sephardim and Race in the Early Modern Atlantic World,“ in Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550 – 1950, hg.v. David Cesarani (London, Portland/OR: Frank Cass), 59; Jonathan Schorsch, Jews and Blacks in the Early Modern World (New York: Cambridge University Press, 2004); Bodian, Hebrews, 85 – 95; Sutcliffe, „Jewish History,“ 28; Frances Malino, The Sephardic Jews of Bordeaux: Assimilation and Emancipation in Revolutionary and Napoleonic France (Alabama: University of Alabama Press, 1978), 9 – 10; Swetschinski, Reluctant Cosmopolitans, 4– 6, 167, 176.
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4 Die französisch-reformierte Nation Französische Calvinist*innen begannen Auserwähltheitsnarrative (einschließlich Praktiken) im Zusammenhang der Religionskriege (1562– 1598) in Frankreich zu entwickeln. Wie Spezialist*innen gezeigt haben, verstanden sich Hugenott*innen nicht nur als die besten Untertan*innen der französischen Krone und als von Gott Auserwählte, sondern auch als der den katholischen Französinnen und Franzosen moralisch überlegener, aber zunehmend exkludierter Teil der französischen Nation.¹⁴ Verfolgung, Massaker und Glaubenskriege in Frankreich, insbesondere das Trauma der Bartholomäusnacht vom 24. August 1572, während und infolge derer mehrere Tausend Hugenott*innen in Frankreich ermordet wurden, Märtyrertum, Flucht und Exil brachten Narrative hervor, dass die französischen Protestant*innen eine eigene, von Gott auserwählte Nation seien. Doch erst durch das Grand Refuge, d. h. die Massenauswanderung von Hugenott*innen nach 1685 als Konsequenz des Widerrufs des Edikts von Nantes, das 1598 französischen Protestanten weit gehende Untertan*innenrechte in Frankreich zugestanden hatte, entstand das, was in den Quellen der Zeit für alle Aufnahmestaaten als „französisch-reformierte Nation“ bezeichnet wird, ein französisch-reformierter Untertan*innenverband, eine „fremde Nation“ mit nach Aufnahmestaaten und -zeitpunkten variierenden korporativen Rechten. Zur Selbstwahrnehmung als auserwählte Nation kam nun auch die Fremdwahrnehmung als Nation in der Diaspora, im so genannten Refuge. Für die Verfolgten, Flüchtlinge, Migrant*innen fand auch hier in den meisten Aufnahmestaaten – ähnlich wie bei den Sephard*innen – etwas statt, was man in der Migrationsforschung als Binnenintegration bezeichnet: Aus einer sehr heterogenen Gruppe von Menschen – ca. 150.000 von ca. 750.000 Untertan*innen französisch-reformierten Glaubens, die nicht nur aus unterschiedlichen Teilen Frankreichs, d. h. u. a. aus dem Poitou, dem Languedoc, dem Vivarais, aus Lothringen, aus der Provence, der Normandie, der Dauphiné, sondern auch aus den südlichen Niederlanden, Tälern des Piemont, aus der Kurpfalz und später aus dem Fürstentum Orange kamen und ihre eigenen Sprachen und religiös-kulturellen Praktiken sowie Rechtsgewohnheiten mitbrachten – imaginierte sich eine französisch-reformierte Nation in den je-
Myriam Yardeni, „Refuge et encadrement religieux de 1685 à 1715,“ in Idéologie et propagande en France: colloque organisé par Institut d’histoire et de civilisation française de l’université de Haifa, hg.v. Myriam Yardeni (Paris: Picard, 1987), 113 – 124; Hubert Bost, Ces messieurs de la R.P.R. Histoires et écritures de huguenots, XVIIe–XVIIIe siècles (Paris: Honoré Champion, 2001), 281– 282; Myriam Yardeni, Enquêtes sur l’identité de la „Nation France“. De la Renaissance aux Lumières (Seyssel: Champ Vallon, 2004), 20 – 21; Lachenicht, „Huguenot Immigrants“, 309 – 331.
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weiligen Aufnahmestaaten, die sich über deren Grenzen hinweg auch miteinander verbunden fühlte. Ebenso wurden sie in den Aufnahmestaaten – u. a. in den nördlichen Niederlanden, England, Brandenburg-Preußen, den reformierten Schweizer Kantonen, Hessen-Kassel, Schweden, Russland, Südafrika – nicht in ihrer regionalen und sprachlichen Heterogenität wahrgenommen als vielmehr als Franzosen und Französinnen, denen national-religiöse Attribute wie auf der einen Seite Dekadenz, Verschwendungs- und Luxussucht, auf der anderen Seite Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit zugeschrieben wurden.¹⁵ Korporative Rechte, die den Hugenott*innen in den Aufnahmestaaten verliehen wurden – in Brandenburg-Preußen hieß dies beispielsweise eigene Kirchen und Schulen, weit gehende Selbstverwaltungsrechte, für interne Angelegenheiten ein eigenes Recht und Rechtssystem – ermöglichten auch hier die Genese von kollektiven Strukturen und Praktiken, die trotz Heterogenität die Hugenott*innen zu einer Nation im frühneuzeitlichen Sinne machten. Kirchen, Schulen, Lehrerbildungsseminare, Waisenhäuser, eigene Hospitäler sollten zu sozialer Endogamie, zum Erhalt von französischer Sprache und reformierter Konfession führen – Versuche, die letztendlich an der zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Integration der Hugenott*innen durch geographische und soziale Mobilität, Mischehen, das Erlernen der deutschen und Verlernen der französischen Sprache scheiterten. Hugenott*innen entwickelten ähnlich wie Sephard*innen überdies Rituale kollektiver Erinnerung bis hin zur Genese einer eigenen „Nationalhistoriographie“, die weit in das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert reichten, aber nicht verhindern konnten, dass sich die hugenottische Diaspora zunehmend auflöste. Aufbauend auf den bereits in Frankreich in der Zeit der Verfolgungen entwickelten Auserwähltheitsnarrativen gerierten sich Vertreter*innen dieser französisch-reformierten Nation bis mindestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts in allen Aufnahmestaaten und ihren Kolonien zudem als allen anderen Nationen überlegen – durch französische Kultur einschließlich Sprache und vor allem durch calvinistische Konfession und damit verbundene Tugenden wie Fleiß, Produktivität und Untertan*innentreue.¹⁶ Diese Kollektivqualitäten wurden in einigen Kontexten – so
Yardeni, „Refuge“, 34. Zu diesen Prozessen vgl. beispielsweise Bertrand van Ruymbeke, „From France to le Refuge. The Huguenots’ multiple identities,“ in Diaspora Identities: Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present, hg.v. Susanne Lachenicht und Kirsten Heinsohn (Frankfurt/Main, New York, Chicago: Campus und the University of Chicago Press, 2009), 59 – 60; Susanne Lachenicht, „Étude comparée de la création et de la survie d’une identité huguenote en Angleterre et dans le Brandebourg au XVIIIe siècle,“ in L’Identité huguenote. Faire mémoire et écrire l’histoire (XVIe– XXIe siècle), hg.v. Philip Benedict, Hugues Daussy and Pierre-Olivier Lechot (Genf: Droz, 2014), 279 – 294.
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beispielsweise im Irland des späten 17. und 18. Jahrhunderts – in Anschlag gebracht, um andere Nationen, in diesem Fall katholische Ir*innen, die als illoyal und faul gebrandmarkt wurden, von ihrem Land zu vertreiben.¹⁷
5 Staatliche Lösungen Während der Zusammenhang von Exil und der Herausbildung von frühneuzeitlichen Diasporen bzw. Nationen im frühneuzeitlichen Sinne ab und an Thema in der Forschung war und ist, wird dabei häufig vernachlässigt, dass bereits zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert diese Gemeinschaften teilweise nach der Errichtung eigener Staaten strebten bzw. die Herkunfts- und Aufnahmeländer nach „staatlichen Lösungen“ für die „fremden Nationen“ suchten. Während der ersten Versuche Frankreichs in den 1550er und 1560er Jahren, im heutigen Brasilien bzw. in Florida und den späteren Carolinas eigene Kolonien zu errichten, gab es Überlegungen, alle französischen Protestant*innen in einer einzigen Kolonie am anderen Ende des Atlantiks anzusiedeln – nicht zuletzt auch von Seiten eines der wichtigsten Führer der Hugenott*innen, Admiral Gaspard de Coligny.¹⁸ Im 17. Jahrhundert wurden Pläne eruiert, die „französisch-reformierte Nation“ der Länder des Refuge entweder auf La Réunion oder Mauritius anzusiedeln. Henri Duquesne, Hugenotte und Sohn eines der wichtigsten Admiräle im Dienst Ludwig XIV., entwarf aus dem Schweizer Refuge heraus Ideen für eine Umsiedlung aller französischen Calvinist*innen in den Indischen Ozean, konkret auf die Insel La Réunion. Er begründete dies, dass es einfacher sei, wenn Nationen nicht ein Territorium mit anderen teilen müssten, dass es weniger Konflikte gäbe und dass die Hugenott*innen im Speziellen nicht mehr von einem Land zum nächsten wandern müssten, um irgendwo endlich dauerhafte Aufnahme zu finden.¹⁹ Auch wenn diese und ähnliche Pläne immer wieder scheiterten bzw. von vielen Zeitgenossen in den Bereich der Utopien verwiesen wurde, zeigen sie sehr deutlich, dass im Kontext von Religion und Migration in der Frühen Neuzeit nicht nur neue „Nationen“ als imaginierte ethnisch-religiöse bzw. Rechtsgemeinschaften entstanden, sondern über ihre (Re‐)Territorialisierung als ganzes Kollektiv nachgedacht wurde.
Lachenicht, „Huguenot Immigrants,“ 309 – 331; Lachenicht, Hugenotten, 290 – 240. Siehe beispielsweise Frank Lestringant, Le huguenot et le sauvage. L’Amérique et la controverse coloniale en France, au temps des guerres de religion (Paris: Diffusion Klincksieck, 1990). Henri Duquesne, Recueil de quelques mémoires servant d’instruction pour l’établissement de l’Ile d’Eden (Amsterdam, 1689), avertissement.
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6 Zusammenfassung und Ausblick Transformationsprozesse im Kontext von Religion und Migration heißen damit für die Frühe Neuzeit nicht zuletzt, dass Fremd- und Selbstzuschreibungen im Herkunfts- und in den Aufnahmeländern neue Kollektive im Sinne von neuen, frühneuzeitlichen Nationen hervorbringen, als Imaginationen, als Homogenitätsfiktionen, als Rechtsgemeinschaften, als heterogene, transkulturell entstehende und agierende Kollektive, die wiederum Strukturen und Praktiken generieren, die dem Erhalt bzw. der Homogenität dieser Gruppen dienen sollten. Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Exil sind damit nicht nur für das 19. und 20. Jahrhundert Nährboden für das Entstehen des Nationalen – d. h. Imaginationen von Nation, Nationalismen und Nationalstaaten, sondern auch unter anderen Vorzeichen und mit anderen Bedeutungen für Nation und den Traum von einem eigenen Staat in der Frühen Neuzeit. Sie verweisen trotz aller Unterschiede zwischen den temporalen und räumlichen Kontexten auf den engen Zusammenhang von Migration und Nation, in der Frühen Neuzeit vor allem auch im engen Konnex mit Religion. Ebenso machen sie die transkulturellen Verflechtungen in Prozessen von Nationsbildung deutlich, d. h. Heterogenität und Dynamiken von ständiger Veränderung in scheinbar fixen, homogenen Kollektiven. Auch wenn Nationen in der Frühen Neuzeit in Teilen andere Konnotationen haben als heutige Nationsbegriffe, so stellt sich die Frage, wie die vorgestellten vormodernen Beispiele unsere Reflektionen zu Religion und Migration beeinflussen können, vor allem, wenn es um Rechtsformen bzw. im weitesten Sinne um die Integration von ethnisch-religiösen Diasporagemeinschaften in heutige National- bzw. Verfassungsstaaten geht. Die Grundlage der Rechtsgleichheit jedes Individuums macht heute im Unterschied zur Frühen Neuzeit einen separaten Rechtsstatus, einen korporativen Sonderstatus von Kollektiven rechtlich unmöglich. Gleichzeitig können Selbst- und Fremdwahrnehmungen als separate Gemeinschaften und die Verfolgung von religiös und/oder ethnischen Minderheiten neue Diasporen hervorbringen, die sowohl in ihren Herkunfts- als auch in den Aufnahmeländern dazu führen können, dass eine ethnisch und/oder religiös definierte Identität in separaten Strukturen, in einem Kollektiv bewahrt werden soll – durch Institutionen wie Kirchen, Moscheen, Vereine, Kulturzentren – oder durch autonome Gebiete oder Quasistaatsgründungen, wie gerade jetzt der Fall der Kurd*innen in Nordsyrien zeigte. Diasporagemeinschaften müssen jedoch nicht zwangsläufig konträr zu rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und bis zu einem gewissen Grad auch kulturellen Strukturen eines modernen Staates stehen. Doch, je nachdem, wie stark sich unterschiedliche imaginierte Gemeinschaften innerhalb eines Staates als anders wahrnehmen bzw. wahrgenommen werden,
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können sich Spannungen, Konkurrenzen, Konflikte ergeben. Die beiden hier nur kursorisch vorgestellten frühneuzeitlichen Beispiele zeigen jedoch noch etwas Anderes, nämlich dass die von innen und von außen häufig als stabil und kohärent definierten Strukturen von Identität in einem ständigen Flux, d. h. letztendlich in Transformationsprozessen befangen sind, die Akkulturation und Integration im Sinne von heterogenen, wechselseitigen Austauschprozessen als empirisch fassbare Normalität erscheinen lassen. Wie mit diesen Spannungsfeldern umzugehen ist, ist eine Herausforderung, der sich Gesellschaft(en) im Sinne einer offenen Debatte stellen müssen.
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Wolfgang Breul, Mainz
Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora Der Begriff der Diaspora hat gegenüber dem landläufigen Gebrauch und insbesondere gegenüber seinen alttestamentlich-jüdischen Ursprüngen und seinen später konfessionellen Prägungen¹ in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Ausweitung vor allem in ethnischer und kultureller Perspektive erfahren². Im Zeitalter globaler Migrationsbewegungen dienen Diasporakonzepte dazu, Phänomene in Gesellschaft und Kultur zu beschreiben, die mit nationalstaatlich geprägten Kategorien nicht angemessen zu erfassen sind. Um Abgrenzungs-, Adaptions- und Assimilationsprozesse religiöser, ethnischer und kultureller Minderheiten in ihren Gastländern angemessen zu beschreiben, bedarf es einer komplexeren Terminologie, in der der Diasporabegriff eine zentrale Rolle einnimmt. Der Beitrag der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte in dieser Debatte ist naturgemäß eher begrenzt. Doch bietet die Herrnhuter Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts mit ihrem Verständnis von Diaspora ein Modell, das in Ansatz und Praxis vom zeitüblichen Verständnis konfessioneller Minderheiten „in der Zerstreuung“ deutlich abweicht und vielleicht auch mit einzelnen Aspekten für die Gegenwart interessant sein kann. Nachfolgend soll zunächst (1) das herrnhutische Diasporakonzept und seine theologische Grundlage skizziert, anschließend (2) in einem knappen Überblick die Diasporapraxis der Brüdergemeine umrissen und schließlich (3) anhand einiger exemplarischer Beispiele die Haltung der Herrnhuter zu konfessioneller Identität und Pluralität dargestellt werden.
1 Das Diasporakonzept der Herrnhuter Brüdergemeine Mobilität war seit ihrer Gründung 1727 ein Wesensmerkmal der Herrnhuter Brüdergemeine, wie Gisela Mettele in ihrer Studie zur globalen Gemeinschaft der Einführend Christian-Erdmann Schott, „Diaspora II: Konfessionelle Diaspora innerhalb des Christentums,“ in Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), 717 f. Vor allem Robin Cohen, Global Diasporas. An Introduction (London: UCL Press, 1997); Ruth Mayer, Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung (Bielefeld: Transcript, 2005). https://doi.org/10.1515/9783110673388-007
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Wolfgang Breul, Mainz
Herrnhuter*innen formuliert hat: „Mobilität war für die Brüdergemeine weniger ein transitorisches Übergangsritual von einem Ort zum anderen, sondern ihre zentrale Lebensform“³. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die in einem enthusiastischen Gründungsereignis am 17. August 1727 in Herrnhut entstandene Brüdergemeine noch im selben Jahr Angehörige nach Jena und Saalfeld sowie nach Dänemark und im Folgejahr nach London entsandte, in der Absicht, „mit ihnen und uns eine Kette [zu] schließen“⁴. Das Konzept der Diaspora hat die Brüdergemeine in einem längeren Prozess entwickelt, auch der Begriff „Diaspora“ war erst seit den späten 1730er Jahren in Gebrauch und seit 1749 ein feststehender Terminus in der Korrespondenz.⁵ Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700 – 1760), die charismatische Gründungsgestalt der Brüdergemeine, hat sich in den späten 1750er Jahren in verschiedenen Predigten zur Diaspora geäußert⁶; nach seinem Tod 1760 hat die Leitung der Brüdergemeine diese Ansätze zu einem systematischen Konzept für die praktische Arbeit ausgebaut, das sich in mehreren umfangreichen Instruktionen für die Diasporaarbeiter niederschlug⁷. Wenige Wochen vor seinem Tod machte Zinzendorf am 7. April 1760 seine Vorstellungen von der „Diaspora“ zum Thema einer programmatischen Predigt.
Gisela Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft, Bürgertum Neue Folge 4 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 43. Hans-Christoph Hahn und Hellmut Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760 (Hamburg: Wittig, 1977), 379. Otto Steinecke, Die Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland. Ein Beitrag zu der Geschichte der evangelischen Kirche Deutschlands 2 Bde. in 3 Teilen (Halle an der Saale: Mühlmann, 1905, 1911), Teil 1, Allgemeines über die Diaspora, 4. Christoph T. Beck, „Diskretes Dienen. Die Instruktion für die Diasporaarbeiter von 1767,“ Unitas Fratrum 76 (2018) 101– 153, hier 101 f.; Horst Weigelt, „Der Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert,“ in Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert hg.v. Martin Brecht und Klaus Deppermann (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995), 700 – 754, hier 701– 710. Horst Weigelt, „Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft im 19. Jahrhundert,“ in Geschichte des Pietismus, Bd. 3, Neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert hg.v. Ulrich Gäbler und Martin Sallmann (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 112– 149, hier 113 – 125; Wolfgang Breul, „Herrnhuter Diasporaarbeit,“ in Pietismus Handbuch, hg.v. Wolfgang Breul und Thomas Hahn-Bruckart (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), 610 – 614. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, „Anhang einiger Reden, für Kinder GOttes in der Diaspora“, in: ders., Einige Reden des ORDINARII FRATRUM die Er vornehmlich Anno 1756 zur zeit seiner retraite in Bethel, an die gesamte Bertholdsdorfische Kirchfahrt gehalten hat (Barby: Theologisches Seminar, 1758), Anhang, 1– 16. Im Unitätsarchiv Herrnhut (UAH) befinden sich im Bestand R.19 in der Abteilung a.b.1 eine Reihe grundlegender Instruktionen, Rundschreiben und Korrespondenz zur Diasporaarbeit aus den Jahren 1765 – 1785. Die vermutlich wichtigste Instruktion wurde von Beck veröffentlicht, „Diskretes Dienen“, 124– 152.
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Er propagiert darin das Modell einer eschatologisch ausgerichteten über konfessionelle Grenzen hinweg versammelten Gemeinde „in der Zerstreuung“. „Der Hauptzwek, den der Heiland mit euch hat, ist, daß die gute Religion, darinnen ihr seyd, nicht eingehen, und nicht alles zur Gemeine werden, das ist, an Gemein=Orte gezogen werden soll; daß sich die Kinder GOttes nicht so ganz zusammen ziehen, daß das Salz drüber aus der Erde komme“⁸. Die von Zinzendorf angesprochenen Mitarbeiter*innen und die Angehörigen der Brüdergemeine sind demnach das „Salz der Erde“ (Mt 5,13), das über die Erde verstreut bleiben und Kristallisationskerne für Gemeinschaften wahrer Christen bilden soll. „Wo hingegen eine Diaspora ist, wenn die Kinder GOttes in der Religion herumgestreut bleiben, in diesem Dorfe zwanzig, in jenem zehn, in dem sechs, oder auch nur zwey; so kan nicht leicht ein Pfarrer auf die Canzel kommen, es fallen ihm die paar Kinder GOttes ein, die in seiner Diöces wohnen“⁹. Zinzendorfs Diasporakonzept steht damit in deutlichem Gegensatz zu den Vorstellungen einer Sammlung der Frommen, wie sie im von Philipp Jakob Spener geprägten Pietismus üblich¹⁰ und im Halleschen Konzept einer Generalreform von Kirche und Gesellschaft¹¹weitergeführt worden war. Die „Kinder Gottes“ sollen sich nicht sammeln, sondern zerstreuen. Diesem Konzept der Zerstreuung der Frommen liegen philadelphische Vorstellungen zugrunde¹². Die Philadelphier*innen, eine kleine radikale englische Gruppierung unter der Führung von Jane Ward Lead (1624– 1704), hatten um 1700 in radikalen Kreisen des Pietismus mit ihren eschatologischen und ekklesiolo-
Zinzendorf, „Anhang einiger Reden, für Kinder GOttes in der Diaspora“, 8. Zinzendorf, „Anhang einiger Reden für Kinder GOttes in der Diaspora“, 9. Vgl. Veronika Albrecht-Birkner, „Gemeinschafts- und Sozialformen,“ in Pietismus Handbuch, hg.v. Wolfgang Breul und Thomas Hahn-Bruckart (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), 409 – 420, hier 410 – 415; Markus Matthias, „Collegium pietatis und ecclesiola. Philipp Jakob Speners Reformprogramm zwischen Wirklichkeit und Anspruch,“ Pietismus und Neuzeit 19 (1993), 46 – 59. Vgl. Wolfgang Breul, „August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform,“ in Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 59, hg.v. Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013), 69 – 83. Dies hat zuletzt Hans Schneider prägnant herausgearbeitet: „‘Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock‘. Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis,“ in Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 47, hg.v. Martin Brecht und Paul Peucker (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 11– 36; Sigurd Nielsen, Der Toleranzgedanke bei Zinzendorf (Bd. 1), Toleranz und Intoleranz bei Zinzendorf (Bd. 2 u. 3) (Hamburg: Appel, 1952– 1960); Leiv Aalen, Die Theologie des jungen Zinzendorf, Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums 16 (Berlin: Lutherisches Verlagshaus, 1966), 358– 399.
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gischen Vorstellungen nicht unerheblichen Zuspruch gefunden¹³. Diese Vorstellungen basieren auf einer heilsgeschichtlichen Deutung der Sendschreiben der Johannesoffenbarung (Apk 2 f.). Demnach folgt auf die heilsgeschichtliche Epoche von Sardes (Apk 3,1– 6), in der die Kirche nur den Namen habe, dass sie lebe (Apk 3,1), mit dem Anbruch der Zeit Philadelphias (Apk 3,7– 13) die Sammlung der wahren Kinder Gottes aus allen Richtungen, das Ende der Konfessionskirchen („Religionsparteien“) und die Zeit der Bruderliebe (philadelphia). Nach Auffassung der Philadelphier*innen besteht die wahre Kirche in der Gegenwart in den in allen Konfessionen zerstreuten Kindern Gottes¹⁴, die in der „Bruderliebe“ miteinander verbunden sind. An diese Vorstellungen knüpfte Zinzendorf an, wenn er es nicht als Zufall, sondern als Notwendigkeit versteht, dass die Kinder Gottes in der Diaspora leben. Sie sollen in den Kirchen bleiben, in denen sie aufgewachsen und von deren liturgischen und frömmigkeitlichen Traditionen sie geprägt sind, um die Konfessionskirchen vor dem völligen Verfall zu bewahren. Zugleich sollen aber diese wahren Christ*innen in allen Konfessionen und Völkern durch Gemeinschaftsbildungen, Seelsorge und Kommunikation miteinander verbunden werden im Vorgriff auf die endzeitlich versammelte Brautgemeinde Jesu Christi¹⁵. Dem die-
Vgl. Ariel Hessayon, Hg., Jane Lead and her transnational Legacy, Christianities in the TransAtlantic World, 1500 – 1800 (London: Palgrave Macmillan, 2016); Sarah Apetrei, Women, Feminism and Religion in Early Enlightenment England, Cambridge Studies in Early Modern British History (Cambridge: Cambridge University Press, 2010); Nils Thune, The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries (Uppsala: Almqvist & Wiksells boktr., 1948). Zu den prominentesten Vertretern philadelphischer Vorstellungen im deutschen Reich gehörten das Ehepaar Petersen und der brandenburgische geheime Rat Dodo von Innhausen und Knyphausen; vgl. Markus Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 30, (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993); Ruth Albrecht, Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Arbeiten zur Geschichte des Pistismus 45 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2005); Markus Matthias, „‚Preußisches‘ Beamtentum mit radikalpietistischer ‚Privatreligion‘: Dodo II. von Innhausen und Knyphausen,“ in Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung, hg.v.Wolfgang Breul, Marcus Meier, Lothar Vogel, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 55, (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2010), 189 – 209. Vgl. Schneider, „‚Philadelphische Brüder‘“, 23 – 26, 28 f. So formuliert 1767 eine Instruktion für die Diasporaarbeit der Brüdergemeine für die „Arbeiter in den Religionen“ [Konfessionen], dass die christlichen Konfessionskirchen nach dem Maßstab der lebendigen „Gemeine Jesu Christi“ zwar in einem „Mitleidenswürdigen Verfall gerathen sind“, dass sie aber gleichwohl „haushaltungen Gottes“ sind, „welche wir mit tiefem Respekt u. Achtung zu consideriren, u. mit herzlicher Liebe zu beurtheilen u. zu behandeln haben“, UAH, R.19.a.b.6, Instruktion der Brüder Joseph David Johannes und Gregor Neisser, Zeist, 27.11.1767, Bl. 1v.
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nen die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine unter den nichtchristlichen Völkern und die Diasporaarbeit in den christlichen Regionen des Deutschen Reichs und Europas. Die philadelphische Prägung von Zinzendorfs Ekklesiologie erhielt in diesen beiden Zweigen der Herrnhuter Arbeit eine Ausformung, die ein hohes Maß an Mobilität und Offenheit für unterschiedliche Ausprägungen des Christentums und der Lebenswelten und Kultur der nichtchristlichen Völker erforderte. Die Brüdergemeine entwickelte sich zu einer der mobilsten religiösen Gruppierungen im frühneuzeitlichen Europa.
2 Die Herrnhuter Diasporapraxis Die Diasporaarbeit der Brüdergemeine hat sich in einem längeren Prozess entwickelt, bis sie in den 1760ern Jahren festere Strukturen erhielt. In ihren Anfängen war sie organisatorisch und personell auf das Engste mit der Mission der Brüdergemeine verknüpft; mit dem Anwachsen und der Ausdifferenzierung der Arbeit wurden beide Bereiche, theologisch und organisatorisch deutlicher unterschieden. Ihre Blütephase hatte die Diasporaarbeit im letzten Drittel des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In den ersten Jahren nach der Gründung der Brüdergemeine hingen diese Aktivitäten wesentlich an der Initiative Zinzendorfs und einzelner anderer Mitarbeiter. Zinzendorfs reger Briefwechsel und seine Reisen der 1730er und 1740er Jahre ins Reich und in europäische Länder öffneten vielerorts aber nicht überall Türen¹⁶. Regelmäßigkeiten und verlässliche organisatorische Strukturen entwickelten sich in einem längeren und nicht immer geradlinigen Verlauf. In den Jahren nach Zinzendorfs Tod gelangte die Brüdergemeine zu festeren, aber noch wechselnden Organisationsformen; dazu gehörte die Aufteilung der Arbeitsbereiche in Bezirke, zu denen neben deutschen Regionen auch Skandinavien, das Baltikum und das Königreich Ungarn gehörten. Die Abgrenzung der Bezirke wechselte ebenso wie die Orte, an denen die Diasporaarbeiter ihr festes Quartier während der Reisen hatte, noch recht oft. Knapp zwei Jahrzehnte nach der Gründung der Brüdergemeine umfasste das Netz der Diasporaaktivitäten 1746 bereits 540 Orte, die allerdings nicht alle in gleicher Intensität bereist wurden. 1769 zählten in Deutschland bereits mehr als 11.000 und in
So konnten die Herrnhuter z. B. in Franken, Württemberg und Livland zumindest zeitweise aktiv sein; in Dänemark und Schweden (1735) sowie in Amsterdam (1738) kam es zu Einreiseverboten; vgl. Dietrich Meyer, „Zinzendorf und Herrnhut,“ in Geschichte des Pietismus, hg.v. Martin Brecht und Klaus Deppermann, Bd. 2, Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 3 – 106, hier, 35 f.
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Europa wenigstens 25.000 Diasporageschwister zu den regelmäßigen Adressat*innen dieser Arbeit, die von ca. 170 Mitarbeiter*innen geleistet wurde¹⁷. Neben dem hohen Maß an Mobilität und der sukzessiven Ausbildung festerer organisatorischer Strukturen war die schriftliche Kommunikation ein weiterer wichtiger und stark ausgebildeter Faktor der Diasporaarbeit¹⁸. Ebenso wie in den „Gemeinorten“, den Niederlassungen der Herrnhuter, waren auch die Diasporaarbeiter zur Abfassung eines Reisediariums oder ‐berichts verpflichtet, wobei die Grenze zwischen beiden fließend waren. In der Regel wurden ausführliche Berichte in gewissen Abständen auf der Reise verfasst und in dem für den jeweiligen Bezirk zuständigen Gemeinort deponiert; ein zusammenfassender Extrakt des Berichts wurde nach Herrnhut gesandt¹⁹. Bei den Reiseberichten und -diarien der Diasporaarbeiter handelt es sich nicht um frühneuzeitliche Reisebeschreibungen im klassischen Sinn²⁰, Landschafts- und Städteschilderungen finden sich darin nur ausnahmsweise. Sie schildern vor allem die Begegnungen – unter namentlicher Nennung der wichtigen Personen – in den Versammlungen, Gesellschaften und Einzelgesprächen, die strikt getrennt nach Geschlechtern geführt wurden. Besonderen Stellenwert hatte dabei die Einschätzung der religiösen Qualität der Begegnungen und Personen, die meist in emotionalen Kategorien ausgedrückt wurde. Besonders hervorgehoben wurden die Männer und Frauen, die den Diasporaarbeitern als wahre, dem Heiland verbundene, Christ*innen erschienen. Auf diese Weise entstand aus den Diarien und Berichten so etwas wie eine Karte der in der Zerstreuung lebenden philadelphischen Gemeinde. Zinzendorf und seine Nachfolger in der Leitung der Brüdergemeine haben die Diasporaarbeit mit Anweisungen und Instruktionen begleitet. Anfänglich waren
Steinecke, Die Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland, Teil 1, 75 f. Vgl. allgemein Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich, 124– 178. Auch diese Unterscheidung wurde nicht allzu strikt eingehalten; in Herrnhut finden sich eine Fülle ausführlicher Berichte. Zur Rolle der Gemeinorte für die Berichterstattung vgl. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich, 129 – 133. Als eine der klassischen wissenschaftlichen Reiseberichte des späten 18. Jahrhunderts gilt Georg Forsters „Reise um die Welt“; Georg Forster, Johann Reinhold Forster’s … Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Seiner itztregierenden Grobrittanischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen, 2 Bde. (Berlin: Haude & Spener, 1778, 1780). Digitalisat im Deutschen Textarchiv: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/forster _reise01_1778; (letzter Zugriff 21.7. 2020); Edition: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 2 u. 3: Reise um die Welt, hg.v. Gerhard Steiner (Berlin: Akademie Verlag, 1989); vgl. Peter Hulme und Tim Youngs, Hg., The Cambridge Companion to Travel Writing, Cambridge Companions to Literature (Cambridge: University Press, 2002); Peter J. Brenner, Hg., Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989).
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diese Handlungsempfehlungen zunächst punktuelle Gelegenheitsschriften und erhielten erst allmählich systematischen Charakter²¹. In den Jahren nach Zinzendorfs Tod 1760 intensivierte die Brüdergemeine die Beschäftigung mit der Diasporaarbeit. Die Herrnhuter Generalsynode in Marienborn 1764 verschaffte sich eine Gesamtübersicht, die eindrücklich ausfiel, zugleich aber auch Probleme zeigte. Paul E. Layritz (1707– 1788) wurde im Folgejahr nach einem Losentscheid beauftragt, „einen Aufsatz von den General-Principiis bey der Bedienung der Diaspora überhaupt“²² zu verfassen, der im November des Jahres vorlag²³. Sie mündete in die Erarbeitung einer umfangreichen Instruktion, die Ende November 1767 an die Herrnhuter Niederlassungen versandt wurde²⁴. Trotz weiterer Zusammenfassungen und Anweisungen hat dieses Dokument grundlegenden Charakter für die Diasporaarbeit der Brüdergemeine in den nachfolgenden Jahrzehnten. Die Instruktion gibt eine Fülle von Hinweisen und Anweisungen zum praktischen Vorgehen der Diasporaarbeiter und ihrer Ehefrauen; sie bestimmt aber auch das Verhältnis zu den Konfessionen. In praktischer Hinsicht betont die Instruktion vom November 1767, dass die Diasporaarbeiter nur mit Willen, zumindest aber mit Wissen des jeweiligen örtlichen Pfarrers vorgehen und keinesfalls gegen deren Ablehnung vorgehen sollen²⁵. Ebenso sollten obrigkeitliche Mandate und Anweisungen befolgt werden,
Vgl. den Überblick bei Beck, „Diskretes Dienen“, 107– 112. Sitzung des Engen Rats v. 15.4.1765, UAH, R3.B.4.e.3, S. 523; zitiert nach Beck, „Diskretes Dienen“, 110. Vgl. ebd. Von Gottfried Clemens liegen ein Bericht und Kommentar zum Aufsatz von Layritz vor; vgl. UAH, R.19.a.b.4.b und c. Vgl. UAH, R.19.a.b.6 und 7; abgedruckt bei Beck, „Diskretes Dienen“, beruhend auf einer im Gnadauer Archiv überlieferten Fassung, 124– 152. „Bey der Behandlung der Diener in den Religionen [Pfarrer in den Konfessionskirchen; Anm. W.B.] ist eine besondere Weisheit u. Vorsichtigkeit nöthig u. wir haben uns ins Ganze in acht zu nehmen, sie nicht blos zu stellen, oder ihre Fehler u. Vergehungen zu releviren [hervorheben; Anm.W.B.] u. zur Materie der Discourse zu machen. Da sie aber gar sehr verschiedener Art sind, so ist auch unsrer Brr. Conduite [Verhalten; Anm. W.B.] gegen dieselben billig verschieden“, UAH, R.19.a.b.7, S. 13; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 131. Im folgenden unterscheidet die Instruktion vier Arten von Pfarrern, (1) die „Verächter“ des Evangeliums, womit vermutlich von der Aufklärung geprägte Prediger gemeint sind, (2) die „unter der Geduld des Herrn dahin gehenden natürl. Leute“, unbekehrte Pfarrer, die das Evangelium aber respektieren, (3) eifrige Pfarrer, die sich um ihr Pfarramt engagiert bemühen, jedoch ihre Zuhörer vor der Brüdergemeine warnen, und schließlich (4) die „nicht kleine Anzahl Prediger in den protestantischen Religionen“, die mit der Brüdergemeine „den Tod des Herrn“ verkündigen; UAH, R.19.a.b.7, S. 13 – 15; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 131 f. Für jede Gruppe gibt die Instruktion den Diasporaarbeitern spezifische Hinweise zum Umgang.
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auch wenn sie für die Herrnhuter ungünstig waren²⁶. Den Diasporaarbeitern oblag vor allem die Seelsorge unter den „Kindern Gottes“ bei ihren Besuchen vor Ort. Das bedeutete insbesondere die Teilnahme an den Zusammenkünften der „verbundenen Häuflein“²⁷, den auch außerhalb der Besuche von Diasporaarbeitern existierenden und sich regelmäßig treffenden Sozietäten der Brüdergemeine²⁸ und übrige Ad-hoc-Versammlungen sowie die Seelsorge in Einzel- und Paargesprächen. In den Versammlungen wurden Ansprachen und Predigten gehalten, wo dies obrigkeitlich erlaubt waren. Auf diese Weise sollte die Gemeinschaft der Erweckten unter den landeskirchlichen Christen gestärkt werden, jeder Anschein einer eigenen organisierten Kirchlichkeit oder gar Separatismus wurde als schädlich nicht nur gegenüber den kirchlichen Instanzen und der Obrigkeit, sondern auch für die Adressaten der Diasporaarbeit angesehen²⁹. Das Abendmahl sollten die Diasporageschwister üblicherweise in der Ortsgemeinde feiern; auch auf das herrnhutische Agapemahl sollte verzichtet werden³⁰. Eine besondere Bedeutung hatten Haus- und Familienbesuche, die üblicherweise keinen obrigkeitlichen Beschränkungen unterworfen waren, aber wie die Versammlungen nicht gegen den Willen der Ortspfarrer erfolgen sollten³¹. Mit seelsorgerlichem Gespräch, gemeinsamem Gebet, Schriftlesung und Andachten boten sie Gelegenheit zur Stärkung der Erweckten und der mit den Herrnhutern sympathisierenden Frommen. Die Gewinnung von Mitgliedern der Brüdergemeine oder die Übersiedlung von Sympathisanten in Niederlassungen der Herrnhuter*innen sollte nach Möglichkeit vermieden werden³².
Vgl. UAH, R.19.a.b.7, S. 24 f., 30, 32; Beck, „Diskretes Dienen“, 136, 138. UAH, R.19.a.b.7, S. 24; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 136. Vgl. Paul Peucker, Herrnhuter Wörterbuch. Kleines Lexikon von brüderischen Begriffen (Herrnhut: Unitätsarchiv, 2000), 49. Sie werden auch als verbundene Gemeinschaften oder ähnlich bezeichnet. „Es kommt aber hiebey nicht darauf an, Daß man diese u. jene außerliche Ordnung mache, die Gem. Einrichtungen [die Organisation und Praxis der Herrnhuter Niederlassungen; Anm.W.B.] imitire, viele Versamml.n anstelle, an dem Auswendigen der Diasproa=Geschw. polire etc. weil nichts bedencklicher ist, als allerley außerl.e Einrichtungen in der Diaspora zu veranstalten, welche dadurch, daß sie bey der Obrigkeit, den Geistlichen u. den Nachbarn, ein unnöthiges Aufsehen machen, unzeitige Verfolgungen erregen, u. überdiß das innere Nachthun unsrer Diaspora-Geschw. nicht nur nicht fördern, sondern wol gar bey manchen Gemüthern, u. etwas darein sezen, verhindern“, UAH, R.19.a.b.7, S. 27; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 137. Ebenso sollte auf die vor der gemeinschaftlichen Abendmahslfeier übliche Fußwaschung verzichtet werden; vgl. UAH, R.19.a.b.7, S. 32 f.; Beck, „Diskretes Dienen“, 139 f. UAH, R.19.a.b.7, S. 47 f.; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 146 f. Die Instruktion schloss jedoch auch nicht aus, dass Personen aus der Diasporaarbeit, in eine der „Gemeinorte“ (Niederlassungen) der Brüdergemeine ziehen konnte. „Unsre Arbeit in der Diaspora ist gewiß nicht dahin gemeint, Proselyten zu unsrer Gem.Verfaßung zu machen; aber sie
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3 Das Diasporakonzept und die Konfessionskirchen Die Herrnhuter Diasporainstruktion vom November 1767 nimmt trotz ihrer Ermahnung zu einem behutsamen und defensiven Auftreten gegenüber den Pfarrern, kirchlichen Instanzen und politischen Obrigkeiten eine deutlich kritische Position zu den Konfessionskirchen ein. Sie zieht in der Einschätzung der „Christlichen Religionen“ zwei Grenzlinien. Einerseits sind sie „haushaltungen Gottes, welche wir mit tiefem Respect in Achtung zu consideriren, und mit herzl.er Liebe zu beurtheilen und zu behandeln haben“³³, denn unter ihren Dächern befänden sich „viel 1000 Kinder Gottes“, die dort mit „Ehrerbietung u. Liebe behandelt“³⁴ würden. Andererseits sieht sie die Konfessionskirchen „in einen solchen mitleidenswürdigen Verfall gerathen“, dass man nicht mehr wie Luther sagen könne, dass das Wort Gottes rein und lauter in ihnen gelehrt werde. Daher solle man sie auch nicht zu sehr „erheben“. Die Konfessionskirchen werden anerkannt, doch existieren sie nach Auffassung der Brüdergemeine nur, weil sie Christus „bis jezt mit unaussprechl.r Langmuth u. Geduld“³⁵ trage; sie existieren demnach nur auf Zeit, solange sie Christus bestehen lässt. Hinter dieser kritischen Haltung zur konfessionellen Verfasstheit der christlichen Kirchen steht das eingangs skizzierte philadelphische Konzept, das in einigen Formulierungen deutlich durchscheint. So heißt es unter Anspielung auf das Sendschreiben der Johannesoffenbarung an die Gemeinde zu Sardes (Apk 3,1– 6) über die Konfessionskirchen: „Hat eine Religion ins Ganze genommen, mit Anrecht den Namen, daß sie lebe, [die‐]weil sie todt ist [Apk 3,1], so finden sich doch auch zu Sarden noch einige Samen [Mk 4,3 – 20], die ihre Kleider nicht befleckt haben [Apk 3,4], u., die der Hld als die Seinigen erkennet [Apk 3,5]“³⁶. Auch die protestantischen Kirchen wurden von Zinzendorf und den Herrnhutern als im Verfall begriffen und letztlich zum Aussterben verurteilte Institutionen angesehen. Radikale Kirchenkritik hatte zu Zinzendorfs Lebzeiten im Protestantismus bereits eine längere Tradition. Schon während des Dreißigjährigen Kriegs hat der
hat auch auf der andern Seite keineswegs den Zweck, Leute, die zu dieser Gnaden=Oeconomie berufen sind, davon zurück zu halten“, UAH, R.19.a.b.7, S. 55.; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 150. UAH, R.19.a.b.7, S. 5; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 127. Ebd. UAH, R.19.a.b.7, S. 4; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 127. UAH, R.19.a.b.7, S. 5; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 127 (Hervorhebung im Original).
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Spritualist Joachim Betke³⁷ in seinem Excidium Germaniae ³⁸ massive Kritik an den konfessionellen Kirchentümern und ihren Pfarrern geübt, die das echte Christentum unterdrückten. Kein Geringerer als August Hermann Francke hat sich in seinen Reformplänen zur Erneuerung der Christenheit explizit auf Betkes Excidium bezogen³⁹. Im radikalen Pietismus hat insbesondere Gottfried Arnold in seinen Geschichtswerken den Verfall auch der protestantischen Kirchen in expliziter Breite dargestellt⁴⁰ und mit „Babels Grab-Lied“⁴¹ einen martialischen Abgesang auf die (lutherische) Großkirche verfasst. Die im radikalen Pietismus verbreitete Kritik der protestantischen Kirchen als das dem Untergang geweihte „Babel“ (Apk cap. 17 f. u. ö.) wird von der Diasporainstruktion jedoch explizit abgelehnt. „Hielten wir die Religionen für Babel, sezten wir zum Voraus, daß sie zerstörte u. verfallene Hütten sind, welche nunmehr nach Gottes willen völlig eingehen u. von uns niedergerißen werden sollten; so würden wir nicht anders können, als allen guten Seelen, die sich noch unter ihrem Dache u. in ihrer Verfaßung befinden zuzurufen: Gehet aus von Ihnen, sondert euch abe [!], damit ihr nicht unter den Ruinen dieser einstürzenden Häuser begraben werdet. Wir wurden vermuthl. mit dergl. Warnung großen Eingang [Zustimmung; Anm. W.B.] finden, dadurch aber tausende von menschen veranlaßen, sich in die Brr. Gemeinen [Brüderge-
Vgl. Martin Brecht, „Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts,“ in Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, hg.v. Martin Brecht u. a. (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993), 205 – 240, hier 221– 223; Margarete Bornemann, Der mystische Spiritualist Joachim Betke und seine Theologie, Diss.theol. (Berlin: diss.masch., 1959), bes. 96 – 110; Margarete Bornemann, „Betke, Joachim“, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5 (Berlin: Walter de Gruyter, 1980), 763 – 765. Das Excidium Germaniae wurde von Betke um 1640 verfasst, aber erst postum veröffentlicht; EXCIDIUM GERMANIÆ | h.e. | Gründtlicher und | warhafftiger Bericht/ wer | daran Ursach/ daß zur Zeit des Alten | Testaments/ das Judenthumb/ und zur | Zeit des Newen Testaments/ Deutschland/ | zum zehenfachen Sodom worden / […] (Amsterdam: Christoffel Cunrad, 1666). Vgl. August Hermann Francke, Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Grosse Aufsatz, Arbeiten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse, Bd. 53, Heft 3, hg.v. Otto Podczeck (Berlin: Akademie-Verlag 1962), 72,21– 25 und 73 Anm. Vgl. Gottfried Arnold, Die Erste Liebe Der Gemeinen Jesu Christi, Das ist, Wahre Abbildung Der Ersten Christen, Nach Ihren Lebendigen Glauben Und Heiligen Leben, Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen-Scribenten eigenen Zeugnissen, Exempeln und Reden […] (Frankfurt am Main: Friedeburg, 1696); ders., Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie vom Anfang des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688, 2 Bde. (Frankfurt am Main: Fritsch, 1699 – 1700). Gottfried Arnold, Göttliche Liebes=Funcken / Aus dem Grossen Feuer Der Liebe Gottes in Christo JESU entsprungen (Frankfurt am Main: Zunner, 1698), 160 – 164 (Nr. CXXVI).
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meine; Anm.W.B.] zu dringen, die zu dieser Gnaden=Oeconomie des Herrn nicht verordnet sind; wir wurden die Religionen von dem Salze, welches sie noch vor ihrer völligen Fäulniß bewahret, entblößen u. den Ruin dieser Verfaßungen, die doch Gott noch zum Heil vieler 1000 Seelen conservirt, unsrer Seits beschleunigen“ ⁴² Die scharfe Kritik an den Konfessionskirchen⁴³ führt bei Zinzendorf und der Brüdergemeine anders als bei vielen Vertretern des radikalen Pietismus um 1700 nicht zum Separatismus, der entschieden abgelehnt wird, sondern zum Konzept der Diaspora. Es komme darauf an, formuliert die Instruktion von 1767, „daß wir eine unpartheyische⁴⁴ Liebe gegen alle Christen Menschen, zu welcher Religions=Verfaßung sie auch gehören, haben sollten; denn das ist ein Haupt=Character der Brr. Unitaet [weltweite Brüdergemeine; Anm. WB.] alle Religions=Leute sind uns, ins Ganze genommen, in gleichem Werthe, u. wenn wir gleich nicht in Abrede seyn, daß in einer Religion die Grund=Wahrheiten des Evangelii mit mehrerer Lauterkeit conservirt worden, als in der andern, so macht das doch bey uns nicht die geringste Vor- oder Abneigung gegen die personen in derselben, sondern der Grieche, römisch.catholische etc. ist uns so willkommen bey Jesu Wunden, als der Lutheraner u. Reformirte, u. unser Freude ist eben so groß, wenn wir von vielen Heils-begierigen Seelen unter den ersten Hören, als unter den Leztern“⁴⁵
Die Konfessionskirchen behalten für die Herrnhuter trotz aller Kritik ein relatives Existenzrecht, weil Christus sie bis in die Gegenwart hat bestehen lassen und weil sie den wahren Christen einen Raum gegeben haben und noch geben, in dem ihre Frömmigkeit entstanden und geprägt worden ist. In der Praxis bedeutete dies,
UAH, R.19.a.b.7, S. 6 f.; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 127 f. Die Instruktion von 1767 führt den Verfall der Konfessionskirchen nicht zuletzt auf die Einflüsse der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert dominant gewordenen Aufklärung zurück, die zum gänzlichen Abschied vom Kreuz Christi führen könnten: „Sollte in den künftigen Zeiten, wie sich es hin u. wieder anläßl., der Naturalismus u. Deismus den Ueberschwang in den Christl.n Religionen bekommen u. das Creuz Christi in denselben endl. gar abgeschaft werden; so wird sich als denn der herr seiner Auserwehlten anzunehmen wißen u. vor [für; Anm. W.B.] sie sorgen, wobey wir aber gewiß nichts zu thun haben, als unserer Seits unverbrüchlich über [zu; Anm.W.B.] dem Wort von Seinem Leiden zu halten u. übrigens ihm zuzusehen, der die Liebe selbst ist u. deßen Gerichte nichts anders, als neue Beweise seiner Barmherzigkeit sind“, UAH, R.19.a.b.7, S. 8; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 128 f. Der Begriff ist im Pietismus wesentlich durch die Geschichtsdeutung Gottfried Arnolds geprägt worden (s.o. Anm. 40). Er zielt wesentlich auf eine theologische und insbesondere ekklesiologische Position jenseits der Konfessionskirchen („Religionsparteien“) und ist damit keineswegs „unparteiisch“ im modernen Sinn. Im Vorwurf des „Indifferentismus“ seitens der lutherischen Orthodoxie, der Kritik an der Relativierung von Konfessionsgrenzen durch moderate und radikale Vertreter des Pietismus, hat der Begriff ein terminologisches Gegenüber. UAH, R.19.a.b.7, S. 9; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 129.
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dass neben der weitgehenden Beachtung von religionspolitischen Anordnungen durch die Obrigkeiten, auch wenn diese nachteilig für die Herrnhuter Brüdergemeine waren, und Absagen durch die örtlichen Pfarrer auch mit konfessionellen Differenzen in der Lehre vorsichtig umgegangen wurde. „Alle Religions=Dispute hat man auf das sorgfältigste zu vermeiden zu suchen. In diejenigen Lehr=Materien, worüber die Christl. Religionen mit einander streiten, darf u. kann sich ein Br. vor ordinair [für gewöhnlich; Anm. W.B.] nicht einlassen“⁴⁶, heißt es in der Instruktion von 1767. Auch unterschiedliche Traditionen und gottesdienstliche Gebräuche solle man respektieren und nicht darüber diskutieren. Dies hinderte die Herrnhuter Diasporaarbeiter aber nicht daran, zu unterschiedlichen, auch radikalen, christlichen Gruppierungen Kontakt aufzunehmen. Entscheidend war, dass sie eine intensive und emotionale, „herzliche“, Frömmigkeit und Bindung an Christus pflegten. Der „alltägliche Umgang mit dem Heiland“⁴⁷ war nicht an konfessionellen Orientierungen gebunden, respektierte solche Bindungen aber. So berichtet der für den Bezirk Hessen und die Pfalz zuständige Matthias Friedrich Hasse 1761 von seinem wiederholten Besuch bei den Brüdern Schörgers im rheinhessischen Nieder-Saulheim, die im regionalen Netzwerk der Herrnhuter*innen eine wichtige Rolle einnahmen, „beyde Brüder sind Mennonisten [Mennoniten; Anm. W.B.] und der Johann ist ein lehrer unter ihnen“⁴⁸. 1827 erzählt Johann Conrad Weitz, der für den Bezirk des württembergischen Oberlandes zuständig war, von seiner Begegnung mit Pregizerianern, den Anhänger*innen Christian Gottlob Pregizers (1759 – 1824)⁴⁹, unter denen er ebenfalls treue Seelen fand⁵⁰. Konfessionalität spielt in den Diasporaberichten UAH, R.19.a.b.7, S. 11; vgl. Beck, „Diskretes Dienen“, 130. Die Instruktion begründet dies mit der Unwissenheit der Disputanten auf beiden Seiten: vgl. ebd. Vgl. Dietrich Meyer, Der Christozentrismus des späten Zinzendorf. Eine Studie zu dem Begriff täglicher Umgang mit dem Heiland, Europäische Hochschulschriften 23/25 (Bern u. a.: Peter Lang, 1973). UAH, R.19.B.h.7.1, S. 5. Der württembergische Pfarrer prägte vor allem auf seiner Pfarrstelle Haiterbach bei Nagold eine enthusiastische erweckliche Bewegung, die sich durch Freude über die Rechtfertigung und den seligen Gnadenstand auszeichnete und separatistische Tendenzen hatte, die Pregizer aber einzudämmen suchte; vgl. Friedhelm Groth, Die „Wiederbringung aller Dinge“ im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jh., Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 21 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984), 162– 171; Eberhard Fritz, „Christian Gottlob Pregizer und die ‚Pregizerianerʻ. Zur Genese einer pietistischen Gruppierung im frühen 19. Jahrhundert,“ in Tradition und Fortschritt. Württembergische Kirchengeschichte im Wandel. Festschrift für Hermann Ehmer zum 65. Geburtstag, Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 20, hg.v. Norber Haag u. a. (Epfendorf am Neckar: bibliotheca academica Verlag, 2008), 239 – 268. Vgl. UAH, R.19. B.l.9.124, S. 7.
Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora
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fast durchweg nur als äußerer Rahmen eine Rolle. Bei den Schilderungen der persönlichen Begegnungen ist sie stets nachgeordnet, wenn sie überhaupt Erwähnung findet.
4 Schluss Religiöse Pluralität und Identität sind bei Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine durch das ekklesiologische Konzept der Diaspora bestimmt. Diaspora ist für die Brüdergemeine weder Zwangssituation, noch Notlösung, sondern ein auf der Basis einer philadelphischen Perspektive auf die Konfessionskirchen durchweg positiv konnotierter Begriff. Dieses Konzept partizipiert an der scharfen Kritik des radikalen Pietismus an den konfessionell verfassten Kirchentümern, mäßigte sie aber zugleich, indem sie als von Christus noch geduldete und den wahren Christ*innen einen prägenden Rahmen ihres Glaubens bietende Institutionen auf Zeit gesehen werden. Für die Arbeit der Diasporamitarbeiter und ihren Frauen bedeutete dies nicht nur eine weitgehende Respektierung der religionspolitischen Bestimmungen der jeweiligen Obrigkeit und der Anordnungen der lokalen Autoritäten und Pfarrer, sondern auch eine beachtliche Offenheit für die auch in der Vormoderne große Bandbreite christlicher Gruppierungen und Konfessionen. Dem Konzept der Diaspora ging es nicht um konfessionelle Bindung, auch nicht an die Herrnhuter Brüdergemeine, sondern um die Herzensbindung an den „Heiland“. In diesem Sinn rechnete man mit wahren Christ*innen in allen Konfessionen und christlichen Gruppen. Sie aufzusuchen, sich mit ihnen auszutauschen, in seelsorgerliche Beziehung zu treten und gemeinsam Gebet und Gottesdienst zu halten, führte zu dem hohen Maß an Mobilität und zur Überschreitung konfessioneller, regionaler, nationaler und ethnischer Grenzen, welche die Brüdergemeine des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auszeichnete.
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Archiv- und Datenbankverzeichnis Unitätsarchiv Herrnhut (UAH)
Hartmut Lehmann, Kiel
Die Altlutheraner im Hinterland von Adelaide Im Jahre 1817, anlässlich des dreihundertjährigen Jubiläums der Reformation, entschied der preußische König Friedrich Wilhelm III. in seinem Herrschaftsbereich die lutherischen und reformierten Gemeinden in einer einzigen Kirche zusammenzufassen, in einer Kirche der Union. Diese aus dem Geist der späten Aufklärung geborene Idee stieß insbesondere in Brandenburg und Schlesien bei lutherischen Gemeinden und Pastoren auf heftigen Widerstand. Mitte der 1830er Jahre spitzte sich die Situation zu. Während die obrigkeitlichen Behörden den Druck erhöhten und immer häufiger Gewalt anwandten, um Gemeinden des neuen Union-Systems zu schaffen, entschied sich eine wachsende Zahl von traditionell lutherischen Pastoren und Gemeinden, um ihren Glauben, den für sie einzig wahren Glauben, zu retten, für die Emigration. Für diese Gegner der preußischen Unionspolitik bürgerte sich der Name „Altlutheraner“ ein.¹ Zu den Gemeinden, die ihre Heimat verlassen wollten, gehörten auch die Bewohner des Dorfes Klemzig im östlichen Brandenburg. Wortführer und Organisator der Emigration war dort Pastor August Kavel. 1836 reiste er nach Hamburg, um die Emigration vorzubereiten. Während die allermeisten Altlutheraner in die USA emigrierten, wo sie sich im Mittleren Westen niederließen, nahm Kavel – mehr oder weniger durch Zufall – Kontakt auf mit dem englischen Baptisten George Fife Angas in London, dem Direktor der South Australian Company, der tüchtige, fromme Kolonisten für die von ihm erworbenen Landstriche in Südaustralien suchte. Angas versprach den religiös besonders engagierten Auswanderungsgemeinden, wenn sie sich im Süden Australien niederlassen würden, vorzügliche Konditionen. 1838 organisierte Kavel mit finanzieller Hilfe von Angas die ersten Überfahrten nach Südaustralien. Auf das erste Schiff mit 200 Auswanderern, das nach monatelanger, äußerst beschwerlicher Reise in Adelaide ankam, folgten im nächsten Jahrzehnt zahlreiche weitere Schiffe. Deshalb nahm seit 1840 die Zahl der deutschen Migranten in Südaustralien stetig zu. Angas hatte nicht zu viel versprochen. Die weiten Täler nördlich von Adelaide waren fruchtbar und boten viel Platz, um Dörfer mit großen Feldern anzulegen. Im Jahr 1900 lebten etwa 10.000 deutsche Einwanderer beziehungsweise deren Nachkommen im Hinterland von Adelaide. Nach wie vor Aufgrund der fest eingeführten historischen Begrifflichkeiten wird in diesem Beitrag auf das Gendern der Begriffe verzichtet. Die maskuline Form schließt die feminine mit ein. https://doi.org/10.1515/9783110673388-008
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gehörten die meisten von ihnen zu den Altlutheranern, und die meisten von ihnen siedelten im sogenannten Barossa Valley². Pastor Kavel und die erste Generation der Altlutheraner waren zutiefst davon überzeugt, dass Gott ihren Weg nach Südaustralien gelenkt hatte. Um sie vom Joch der preußischen Unionspolitik zu befreien, hätte Gott, so glaubten sie, sie bis ans Ende der Welt geführt. Dort sollten sie den wahren lutherischen Glauben bewahren und beschützen. Während ihrer Meinung nach in Deutschland der Unglaube grassierte, konnten sie, wie ihnen ihre Pastoren immer wieder versicherten, in ihrer neuen Heimat ihren Glauben ohne obrigkeitliche Interventionen praktizieren. Ihre Emigration besaß für sie somit eine heilsgeschichtliche Qualität. Jährlich feierten sie deshalb das Auswanderungsdankfest. Dieses Fest bestärkte die ersten Einwanderergeneration Jahr für Jahr darin, dass sie mit ihrer Emigration die richtige Lebensentscheidung getroffen hatten. Gleichzeitig diente dieses Fest dazu, ihren Kindern und Enkeln ihre religiösen Werte und ein Verständnis von ihrer besonderen religiösen Tradition zu vermitteln. Binnen weniger Jahre wurden auf diese Weise aus Glaubensflüchtlingen selbstbewusste Siedler auf eigenem Grund und Boden und mit einer regelmäßig bestärkten eigenen Tradition. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang die bewusst vorgenommene doppelte Abgrenzung der Altlutheraner: Sie grenzten sich nicht nur ab von der preußischen Unionskirche und damit zunächst auch von allem Preußisch-Deutschen. Kavels Anhänger glaubten vielmehr jahrzehntelang, wie nicht stark genug betont werden kann, in ihrer alten Heimat herrsche der Teufel. Liberalismus und Sozialismus waren für sie die bevorzugten Werkzeuge dieses Teufels. Kavel und Dazu Hartmut Lehmann, „South Australian German Lutherans in the Second Half of the Nineteenth Century. A Case of Rejected Assimilation?“, Journal of Intercultural Studies 2/2 (1981): 24– 42 (mit weiteren Literaturangaben). Auch in: Hartmut Lehmann, Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hg.v. Manfred Jakubowski-Tiessen und Otto Ulbricht (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), 260 – 277; Theodor Hebart, Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Australien (V.E.L.K.A.). Ihr Werden, Wirken und Wesen. Eine Zentenarschrift. 1838 – 1938 (Adelaide: Lutheran, 1938); Wilhelm Iwan, Um des Glaubens willen nach Australien. Eine Episode deutscher Auswanderung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde. (Ludwigsburg: 1943.) Siehe auch Hartmut Lehmann „Luthers welthistorische Wirkung gezeigt am Beispiel der USA und Australiens im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert,“ in Luther und die Folgen. Beiträge zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der lutherischen Reformation, hg.v. Hartmut Löwe und ClausJürgen Röpke (München: Chr. Kaiser, 1983); Ders., „Migration, Religion und Integration aus historischer Sicht,“ in Der Westen und seine Religionen. Was kommt nach der Säkularisierung? hg.v. Christian Peters und Roland Löffler (Freiburg i. Br.: Herder, 2010), 66 – 80. Zu den Anfängen der Siedlungen der Altlutheraner in Südaustralien siehe jetzt auch Johannes Boxdörfer, „Führ uns an der Hand bis ins Vaterland!“ Die Auswanderung preußischer Altlutheraner nach Südaustralien Mitte des 19. Jahrhunderts. (Stuttgart: Steiner 2020), 369.
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seine Gemeinde grenzten sich schließlich aber ebenso entschieden ab von den englischen Baptisten und Methodisten, die vor allem in der rasch wachsenden Stadt Adelaide siedelten. Dazu kommt, dass die Kommunikation mit der alten Heimat langwierig und kompliziert war. Die selbst gewählte Isolation der altlutherischen Siedler war somit relativ stark. Deutschsprachige Missionare, etwa aus Leipzig, Berlin, Bremen oder Basel kamen nur höchst selten nach Südaustralien. Von Rückwanderern ist nichts bekannt. Anfang der 1840er Jahre kam Pastor Gottfried Fritzsche mit weiteren Altlutheranern nach Südaustralien. Bereits 1846, als noch keine 1.000 Altlutheraner in Südaustralien lebten, erreichten die theologischen und persönlichen Spannungen zwischen Kavel und Fritzsche ihren Höhepunkt. Während Kavel an die nahe bevorstehende Wiederkunft Christi und den Beginn des Tausendjährigen Reiches glaubte, hielt Fritzsche jedwede Form des Chiliasmus für durch und durch unlutherisch. Kavel und Fritzsche waren starke Persönlichkeiten. Deren mit Vehemenz vorgetragenen, theologisch begründeten Überzeugungen führten in beiden Lagern zu Streit zwischen Familien und ganzen Gemeinden. Schon wenige Jahre nach der Einwanderung der ersten Altlutheraner kam es deshalb in Südaustralien zur Spaltung der Altlutheraner und zur Gründung von zwei lutherischen Synoden: Der Immanuel-Synode mit den Anhängern von Pastor Kavel³ und der Australischen Synode mit den Anhängern von Pastor Fritzsche⁴. Auch nach Kavels Tod 1860 scheitern die Versuche, die kirchliche Spaltung zu überwinden. In die Jahrzehnte nach Kavels Tod und dem Tod von Fritzsche wenige Jahre später, 1863, fallen wichtige Veränderungen: In den altlutherischen Gemeinden, also in den Bauerndörfern im Hinterland von Adelaide, entstanden – und zwar in beiden Synoden – deutsche Gemeindeschulen, eine deutsche Kirchenpresse und ein eher bescheidenes deutsches Vereinsleben. In allen organisatorischen und theologischen Fragen waren die Synoden und deren Glieder auf sich selbst angewiesen. Zu Glaubensgeschwistern in der alten Heimat bestanden nach wie vor nur sporadische Kontakte. Die Pastoren definierten, was „gut lutherisch“ war und was nicht. Ganz selbstverständlich war Deutsch die Kirchensprache und die Umgangssprache. Kontakte zur englischsprachigen Außenwelt waren auch in der zweiten Einwanderergeneration immer noch höchst selten. Nur diejenigen Altlutheraner, die Geschäfte in Adelaide zu erledigen hatten, lernten etwas Englisch.
1921 umgewandelt in die United Evangelical Lutheran Church in Australia (V.E.L.K.A.). Später bekannt als Evangelical Lutheran Synod in Australia (E.L.S.A.).
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Die theologische und emotionale Distanz zum deutschen Luthertum bestand bis in die zweite Auswanderergeneration hinein unvermindert fort. Typisch ist folgende Stimme aus der Kirchen- und Missionszeitung aus dem Jahr 1879: „Hohe Wichtigkeit hat unsre Auswanderung für Kinder und Kindeskinder nicht blos der vor 41 Jahren um des lutherischen Glaubens willen Ausgewanderten, sondern Aller, die zu uns gehören und Gott fürchten. Der gnädige Gott hat in der Erweckungs- und Unionszeit in Deutschland unsere Väter erwählet und aus aller Bedrückung erhöhet, ja mit einem hohen Arm aus dem Verfolgungslande ausgeführet in dies Land der Freiheit, wo wir ungehindert uns und unsere Kinder auf unsern allerheiligsten Glauben nach Herzens Lust erbauen konnten und noch können – wenn wir es nur wollen.“⁵
Immer stärker wurde in der zweiten Auswanderergeneration aber die Erhaltung des Deutschtums betont. Immer öfter wurde nunmehr auf den Zusammenhang von wahrem Glauben und wahrem Deutschtum hingewiesen. In der von der Immanuel-Synode herausgegebenen Kirchen- und Missionszeitung von 1892 heißt es dazu unmissverständlich: „Das Deutsche ist eben die Sprache der Reformation, und das Englische die Sprache des Methodismus. In deutscher Sprache hat Vater Luther die Wahrheit verkündet“. Unmöglich sei es, die wahre lutherische Lehre, so vor allem die Theologie der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, in der englischen Sprache zu verkünden. Ebenso wie es unmöglich sei, „den deutschen Volkscharakter in den des Englischen umzustempeln“, formulierte 1893 ein Lehrer aus dem Barossa Valley, sei es nicht möglich, „Luthers echt deutsch-lutherische Lehre in ihrem vollgültigen Wert in der englischen Sprache wiederzugeben“⁶. Wahres Deutschsein beruhe auf reinem Luthertum und wahres Luthertum auf bewusstem Deutschsein: Diese Melodien durchzogen Predigten und Publikationen der Immanuel-Synode bis hin zum Ersten Weltkrieg. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verschlechterten sich die Beziehungen zum englischsprachigen Umfeld noch einmal deutlich.Wie tiefgreifend die Differenzen inzwischen waren, zeigte sich 1898, als der Burenkrieg ausbrach. Während die Engländer in Australien die Partei der Engländer in Südafrika ergriffen, solidarisierten sich die Gemeinden der Altlutheraner mit den Buren, was wiederum heftig von der englischen Seite kritisiert wurde. Am liebsten wären einige der deutschen Lutheraner nach Südafrika gereist, um den Buren in ihrem Kampf beizustehen. Um 1900, in der Zeit des Burenkriegs, haben wir es schon mit der dritten Generation altlutherischer Familien in Südaustralien zu tun. Wie es scheint,
Zitiert nach Lehmann, Luthers welthistorische Wirkung, 193. Ebd., 193
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wurden für deren Angehörige die von der ersten Auswanderergeneration scharf gezogenen Grenzen zur alten deutschen Heimat immer durchlässiger und immer weniger wichtig. In der altlutherischen Kirchenpresse wurden die Berichte über Deutschland immer positiver, dazu gehörten sogar Berichte über den deutschen Kaiser. Viele südaustralische Altlutheraner der dritten Auswanderergeneration waren tief davon überzeugt, nicht nur ihr Glaube, sondern auch ihre Lebensweise sei grundverschieden von allem Englischen. Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machte ein Problem den altlutherischen Gemeinden aber immer mehr zu schaffen: das war die Gewinnung von Pastoren, die ihrem strengen konfessionellen Profil entsprachen. Gewiss, einige Pastoren der nach-Kavel- und nach-Fritzsche-Generation waren Missionare der lutherisch-orthodoxen Richtung. Einige kamen aus Neuendettelsau, andere aus Hermannsburg. Der Mangel an qualifizierten Pastoren der altlutherischen Richtung wurde jedoch über die Jahrzehnte hinweg ein immer gravierenderes Problem. Die Gemeinden im Hinterland von Adelaide weigerten sich zum Beispiel, einen Basler Missionar als Pastor zu akzeptieren, weil sie in seiner Theologie einen Hauch von Calvinismus vermuteten. Alle Pastoren aus reformierten oder unierten Kirchen wurden von ihnen strikt abgelehnt. In ihren Augen waren selbst die Angehörigen der meisten deutschen lutherischen Landeskirchen in theologischer Hinsicht suspekt. Was tun? Die in der Immanuel-Synode zusammengeschlossenen Gemeinden waren überzeugt, zu der Kombination von orthodoxem Luthertum und wahrem Deutschtum bestünde keine Alternative. Für viele von ihnen galt Deutschsein inzwischen vielleicht sogar mehr als ein striktes altlutherisches Bekenntnis. Anders agierten die Gemeinden der Australischen Synode. Deren Pastoren traten im ausgehenden 19. Jahrhundert in Kontakt mit den altlutherischen Gemeinden, die in den Mittleren Westen der USA ausgewandert waren und die inzwischen in St. Louis im Concordia College eigene Pastoren ausbildeten⁷. Das war eine bemerkenswerte Initiative. Denn schon um 1900 nahmen erste altlutherische Pastoren der Missouri-Synode in Südaustralien die Arbeit auf. Wenig später gingen erste Absolventen der altlutherischen südaustralischen Gemeindeschulen nach St. Louis, um dort eine Ausbildung zu erhalten, die sie in Adelaide nicht hätten bekommen können. In der Folge waren es die altlutherischen Pastoren aus St. Louis, die bei ihren Glaubensgeschwistern im Barossa Valley eine neue kirchenpolitische Linie durchsetzten. Wenn viele Jugendliche inzwischen besser Englisch als Deutsch
Dazu John Koch, When the Murray Meets the Mississippi. A Survey of Australian and American Lutheran Contacts 1838 – 1974 (Adelaide: Lutheran Publishing, 1975).
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verstünden, argumentierten sie, gelte es englischsprachige lutherische Gottesdienste einzuführen. Und wenn auch ein Teil der Gemeinden sich mit dem Deutschen immer schwerer tue, sei es sinnvoll, neben der deutschsprachigen Kirchenpresse ein englischsprachiges Organ zu gründen. Seit Sommer 1913 wurde deshalb The Australian Lutheran publiziert. Im November 1914, also einige Monate nach Kriegsausbruch, vertrat The Australian Lutheran die Ansicht, es sei dummes Geschwätz, wenn man meine, die lutherischen Lehren seien nur in der deutschen Sprache einzigartig und könnten im Englischen nicht adäquat wiedergegeben werden. Nur Ignoranten redeten so. Gemeint waren wohl die Pastoren der Immanuel-Synode. Nicht ausdiskutiert ist, wie diese Initiativen zu interpretieren sind. Handelte es sich dabei um eine schrittweise Anglisierung unter Beibehaltung der eigenen theologischen Ansichten oder um eine Aufweichung ihrer besonderen religiösen Tradition und damit ein erstes Anzeichen einer weiter reichenden kulturellen Assimilierung? Nicht minder wichtig war ein weiterer Schritt: Um begabte Absolventen der altlutherischen Gemeindeschulen zu fördern, gründeten die Gemeinden der Australischen Synode nach dem Vorbild der Missouri-Synode in Adelaide im Jahr 1905 das Concordia College, wo bereits im Jahr 1907 die Hälfte des Unterrichts in englischer Sprache erteilt wurde. In den Gemeindeschulen der Australischen Synode wurde Englisch als Zweitsprache eingeführt. „Lutherische Christen sollen und wollen ihre Kinder für das Himmelreich erziehen“, so der von der Australischen Synode publizierte Kirchenbote schon 1904, „und ist die deutsche Sprache ihnen aus welchen Gründen auch immer abhanden gekommen, so müssen englische lutherische Schulen errichtet werden“⁸. Nach dem Kriegsausbruch 1914 gerieten alle altlutherischen Gemeinden in Südaustralien in schwere politische Turbulenzen. Während die Gemeinden der Immanuel-Synode sich nicht öffentlich äußerten, schickte die Australische Synode eine offizielle Loyalitätsadresse an den englischen General-Gouverneur in Melbourne. Das nützte aber wenig. Nach Kriegseintritt der USA im Frühjahr 1917 wurden alle altlutherischen Gemeinden einem konsequenten Programm der Anglisierung unterworfen. Die deutsche Kirchenpresse wurde verboten. Alle 49 deutschen Gemeindeschulen wurden geschlossen. Führende Vertreter der altlutherischen Gemeinden wurden interniert. Die Petitionen, die den australischen Behörden vor allem von den aus St. Louis stammenden, somit US-amerikanischen altlutherischen Pastoren vorgetragen wurden, waren vergeblich. Keine australische Behörde war bereit anzuerkennen, dass die Australische Synode schon vor
Zitiert nach Hartmut Lehmann, Luthers welthistorische Wirkung, 196.
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1914 schrittweise ein Programm der Anpassung an die englischsprachige Kultur und damit der Assimilation eingeleitet und den von der Immanuel-Synode verfolgten deutschnationalen Kurs deutlich abgelehnt hatte. Großes Aufsehen erregte die von den australischen Behörden verfügte Umbenennung von insgesamt 69 Namen von Bergen, Flüssen und Dörfern im Barossa Valley. Für einen Teil wurden Begriffe aus der Sprache der australischen Aborigenes gewählt, für andere, was besonders provozierend empfunden wurde, Namen von Schlachten aus den ersten Jahren des Weltkriegs, in denen die Deutschen besonders große Verluste erlitten hatten, so Marne, Somme, Verdun⁹. Insbesondere seit 1915, nach der verheerenden Niederlage des australischen Expeditions-Korps bei Gallipoli, an die in Australien bis heute jedes Jahr erinnert wird, kannten in weiten Teilen der australischen Bevölkerung nationalistische, chauvinistische Emotionen keine Grenzen. Auch die Deutschen, die im Laufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht aus religiösen Gründen nach Australien emigriert waren, galten nun als Feinde. Zur Ablehnung alles Deutschen kam der Spott. Hier ein Beispiel aus einer Zeitung in Adelaide aus dem Jahr 1916: „Carl, Fritz, Hans and Hermann Can no longer teach German, For soon we will shut up their schools. We‘ll wager a dollar The Lutheran scholar Now knows that the Britishers rule“¹⁰.
Die Lage der Altlutheraner in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg war schwierig, ermöglichte den Bewohnern des Barossa Valley aber, wie im Rückblick zu erkennen ist, durchaus neue Chancen. Auf der einen Seite eröffnete die forcierte, und zum Teil ausgesprochen gewaltsame Anglisierung einer neuen Generation von Altlutheranern kulturelle und soziale Chancen. Ihr Englisch – das waren nunmehr Angehörige einer vierten Auswanderergeneration – wurde immer besser. Die Kinder aus altlutherischen Familien konnten weiterführende Schulen besuchen, Colleges. Kinder und Enkel aus Bauernfamilien konnten eine Ausbildung als Ärzte, Ingenieure und Lehrer erhalten. Auf der anderen Seite, und das wurde noch lange Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwiegen,
Einige Beispiele: Aus dem Ort Bismarck wurde Weeropa, aus Grunthal Verdun, aus Hahndorf Ambleside, aus Heidelberg Kobandilla, aus Hoffnungsthal Karawirra, aus Kaiserstuhl Mount Kitchener, aus Rhine Valley Cambrai. In allen australischen Bundesstaaten wurden deutsche Namen ersetzt, in keinem Bundesstaat aber so viele wie in Südaustralien und speziell im Barossa Valley. Zitiert nach Lehmann et al., Religion und Religiosität, 275.
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hielten die durch die 1917 durchgesetzte Zwangsanglisierung verursachten Ressentiments jahrzehntelang an. So besaßen die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein in den Tälern hinter Adelaide viele Sympathisanten. Und heute? Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der internationale Tourismus die ehemals deutschen Dörfer im Hinterland von Adelaide entdeckt. Reporter aus Deutschland sind begeistert, wenn sie noch jemanden treffen, der einige Brocken Deutsch sprechen kann. Nur noch an hohen Feiertagen sind die lutherischen Gottesdienste gut besucht. Lassen sich aus diesem Spezialfall allgemeinere Einsichten gewinnen? Wie klar geworden sein dürfte, besaß bei den nach Südaustralien emigrierten Altlutheranern bis in die zweite und dritte Generation das konfessionell bestimmte Gemeindeleben eine überragende Bedeutung. Das altlutherische Bekenntnis bildete den eigentlichen Kern der Identität. Die Kirchen waren der Ort, wo sich Bauern und Landarbeiter regelmäßig trafen. Die Pastoren standen im Zentrum des öffentlichen Lebens. Das heißt: Identitätssicherung durch kontinuierliche religiöse Vergewisserung und durch konsequente soziale und kulturelle Abkapselung, verbunden mit starken Feindbildern. Veränderungen der kirchlich-religiösen Identität erfolgten langsam, sehr langsam: kaum in der zweiten Generation, etwas häufiger in der dritten, eigentlich erst in der vierten Generation. Einige Anstöße kamen von außen: So entstand nach der Reichseinigung 1871 das Gefühl, als Deutsche könne man es nun endlich mit Engländern aufnehmen. Andere Anstöße kamen von innen: So die Notwendigkeit, für eine ausreichende Zahl glaubenstreuer Pastoren zu sorgen. Ob es einen Zusammenhang zwischen sukzessiver Säkularisierung, also nachlassender Glaubensstärke, und kultureller Assimilierung, also einer schrittweisen Anpassung an die Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft, gab, ist schwer zu sagen. Wie gezeigt, lässt sich das Verhalten der Altlutheranern in der südaustralischen Diaspora nicht auf einen Nenner bringen. Die Pastoren, die schon vor 1914 vom Mississippi an den Murray kamen, waren, wenn es um den Gebrauch des Englischen ging, Pragmatiker. Sie wurden von den Gemeinden der Australischen Synode im Hinterland von Adelaide anerkannt, weil sie die strikt orthodoxe lutherische Richtung der Missouri-Synode vertraten. Die Pastoren und Gemeinden, die zur Immanuel-Synode gehörten, verharrten demgegenüber in der selbstgewählten deutschnational-konfessionellen Isolierung. Es ist bemerkenswert, dass die Gemeinden in der Tradition Kavels und damit in der Tradition derjenigen, die in der ersten Generation an die baldige Wiederkunft Christi und den Beginn des Tausendjährigen Reiches geglaubt hatten, sich zwei Generationen später besonders dem Glauben an die Größe des Deutschen Reichs hingaben, während die Nachkommen der zunächst strikt orthodoxen Lutheraner sich später
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für eine schrittweise Assimilation an die englischsprachige Umwelt offen zeigten. Warum das so war, bedarf weiterer Untersuchungen. Auch die Schocktherapie von 1917, die mit Zwang durchgeführte Anglisierung, löste unterschiedliche religiöse und politische Reaktionen aus. Völlig ungeklärt ist bisher schließlich, was es in religiöser und kultureller Hinsicht bedeutete, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer mehr Bauern im Barossa Valley nicht mehr Weizen und andere Feldfrüchte anbauten, sondern sich für den Weinanbau entschieden, sodass heute in Australien jede vierte Flasche Wein von dort kommt. Mit dem Weinanbau nahm im Barossa Valley die Zahl der Vermögenden ebenso zu wie die Zahl der Landarbeiter. Ob es einen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und progressiver Säkularisierung gibt, wurde bisher ebenso wenig wie die Auswirkung der zunehmenden Anzahl von Eheschließungen zwischen Personen aus ehemals altlutherisch-deutschen Familien und Partnern aus dem nichtlutherisch-englischen Milieu in den Jahrzehnten nach 1920 untersucht.¹¹ Auf sechs Jahrzehnte relativer Stabilität (ca. 1840 bis 1900) folgten sechs Jahrzehnte bemerkenswerter Transformationen (ca. 1900 bis 1960). Für historisch interessierte Religionssoziologen und religionssoziologisch interessierte Historiker bieten die altlutherischen Gemeinden im Hinterland von Adelaide noch viel Material und noch viele spannende Fragen.
Bibliografie Boxdörfer, Johannes. „Führ uns an der Hand bis ins Vaterland!“ Die Auswanderung preußischer Altlutheraner nach Südaustralien Mitte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Steiner, 2020. Hebart, Theodor. Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Australien (V.E.L.K.A.). Ihr Werden, Wirken und Wesen. Eine Zentenarschrift. 1838 – 1938. Adelaide: Lutheran, 1938. Iwan, Wilhelm. Um des Glaubens willen nach Australien. Eine Episode deutscher Auswanderung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Ludwigsburg 1943. Breslau: Verlag des Lutherischen Büchervereins, 1931. Koch, John. When the Murray Meets the Mississippi. A Survey of Australian and American Lutheran Contacts, 1838 – 1974. Adelaide: Lutheran Publishing, 1975. Lehmann, Hartmut. „Luthers welthistorische Wirkung gezeigt am Beispiel der USA und Australiens im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert“. In Luther und die Folgen. Beiträge zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der lutherischen Reformation, hg. v. Hartmut Löwe u. Claus-Jürgen Röpke, 110 – 125. München: Chr. Kaiser, 1983.
Nicht erforscht ist außerdem, wie sich die erste Siedlergeneration zu den Aborigenes im Hinterland von Adelaide verhielt.
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Hartmut Lehmann, Kiel
Lehmann, Hartmut. „Migration, Religion und Integration aus historischer Sicht“. In Der Westen und seine Religionen. Was kommt nach der Säkularisierung?, hg. v. Christian Peters u. Roland Löffler, 66 – 80. Freiburg i. Br.: Herder, 2010. Lehmann, Hartmut. „South Australian German Lutherans in the Second Half of the Nineteenth Century. A Case of Rejected Assimilation?“ Journal of Intercultural Studies 2/2, (1981): 24 – 42. Hartmut Lehmann, Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen und Otto Ulbricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996.
Identität
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Anschreiben gegen das Vergessen – Erinnerungen an den Lehrer und Fluchthelfer Kurt Silberpfennig Im ersten Abschnitt meines Beitrags berichte ich unter der Überschrift Rekonstruktionen aus der Berufsbiografie Kurt Silberpfennigs, eines religiös-zionistischen Pädagogen und Fluchthelfers in den Jahren der Judenverfolgung in Deutschland.¹ Mir kommt es hierbei darauf an, die Handlungsspielräume und Entscheidungszwänge, die Motive und Netzwerke eines ziemlich unbekannten jüdischen Lehrers und Jugendfunktionärs erkennbar zu machen, der auf seine eigenen Fluchtmöglichkeiten aus Nazi-Deutschland verzichtet hatte, um weiterhin Jugendlichen bei ihrer Flucht aus Deutschland heraus zu helfen. Im zweiten Teil des Beitrags Anschreiben gegen das Vergessen geht es um die Verantwortung gegenüber der Erinnerung. Ich werde über die vergeblichen Versuche seiner Familienangehörigen und Freund*innen, denen es gelungen war, rechtzeitig aus Deutschland zu flüchten oder in den Konzentrationslagern zu überleben, sowie ihren Nachkommen berichten, Näheres über das Schicksal von Kurt Silberpfennig und seiner kleinen Familie in Erfahrung zu bringen. Im letzten Abschnitt Vom Umgang mit der Erinnerung werde ich die Gründe benennen und Strukturen aufzeigen, die sich dem Erinnern systematisch in den Weg stellten, die den Nachkommen einen Ort der Trauer und eine Anerkenntnis der Schuld verweigerten. In meinem Beitrag bemühe mich um die erforderliche objektive Distanz in der historischen Rekonstruktion; ich spüre aber zugleich, wie schwierig es ist, diese aufrecht zu erhalten, wenn es zum einen darum geht, über die Geschichte, die Hoffnungen und das Ende eines jungen Mannes, seiner Frau und seines Sohnes zu berichten, und zum anderen, dass ich heute einige der Antworten kenne, nach denen die überlebende Familie und seine Freund*innen Jahrzehnte vergeblich suchten. Man kann tatsächlich nicht, wie es der Historiker Saul Friedländer einst pointiert formulierte, „über den Holocaust […] schreiben […] wie über die Entwicklung der Getreidepreise.“²
Der mündliche Vortragsstil wurde beibehalten. Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte (Göttingen: Wallstein-Verl. 2007), 104. https://doi.org/10.1515/9783110673388-009
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1 Rekonstruktionen Kurt Silberpfennig wurde am 22. Oktober 1905 in Thorn in der Provinz Westpreußen als Sohn Philipp Silberpfennigs, Kantor und Religionslehrer der jüdischen Gemeinde in Thorn, und dessen Frau Minna, geb. Weinberg, einer Musiklehrerin, geboren. Kurt hatte eine Schwester, die 1910 geborene Elly Helena. Das religiös-kulturelle Milieu ihrer Geburtsstadt Thorn war geprägt von der deutschpolnisch-jüdischen Vielfalt. Das jüdische Gemeindeleben war bestimmt von kräftigen Einflüssen orthodoxer Frömmigkeit, einem erstarkenden jüdischen Selbstbewusstsein, der sogenannten jüdischen Renaissance, zugleich auch von frühen Vorstellungen des religiösen Zionismus und den Erfahrungen allmählicher Auflösungserscheinungen der jüdischen Gemeinde, bedingt durch Assimilation und Abwanderung. Die Familie bewohnte eine Dienstwohnung neben der Synagoge in der Schillerstraße. Die Kinder erlebten daheim eine gediegene bürgerlich-jüdische Bildung und Erziehung. Der tägliche Gebrauch der hebräischen Sprache mit dem Vater, der regelmäßige Besuch des Synagogengottesdienstes, die Wahrung der Religionsgesetze, die Lektüre deutschsprachiger Literatur oder das gemeinsame Musizieren klassischer Musik am Flügel gehörten zum Alltag. Kurt und auch Elly waren hervorragende Pianist*innen. Kurt Silberpfennig besuchte von 1912 an die Vorschule in Thorn, die ihn auf seinen späteren Schulbesuch des humanistischen Gymnasiums der Stadt vorbereitete. Nach der Angliederung Westpreußens an den polnischen Staat sah sich seine deutsch-national gesinnte Familie gezwungen, Thorn zu verlassen. 1920 siedelte sie nach Allenstein in der Provinz Ostpreußen über, die nach der Volksabstimmung im Juli desselben Jahres weiterhin beim Deutschen Reich verblieb. Die Familie bezog wieder eine Dienstwohnung, die sich neben der Allensteiner Synagoge befand. Silberpfennig setzte am dortigen Gymnasium seine Schulausbildung fort, die er aber während der frühen wirtschaftlichen Krisenjahre der Weimarer Republik vorzeitig beenden musste. Spätestens während seiner Lehre, die er 1922 in der Firma Hirsch, Kupfer- und Messingwerke A.G. begann, kam Silberpfennig in Kontakt mit einem Zentrum der religiös geprägten zionistischen Bewegung, die sich um die jüdische Fabrikantenfamilie Gustav Hirsch gebildet hatte.³ Bereits ab 1917 wurden jüdische Jugendliche auf dem werkseigenen Gelände in den verschiedenen Bereichen der Landwirtschaft, des Garten- und Ackerbaus und der Klein- und Viehzucht als
Die Familie Hirsch war maßgeblich am Aufbau der 1869 gegründeten Berliner neo-orthodoxen Austrittsgemeinde Adass Jisorel beteiligt.
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Vorbereitung auf die Auswanderung, die Alija, und eine spätere landwirtschaftliche Tätigkeit in Palästina ausgebildet. Im September 1930 holte Silberpfennig an der Vorbereitungsanstalt des Preußischen Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Berlin seine Abiturprüfung nach und nahm im April 1931 das Studium an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt am Main auf. Im Fach jüdische Religionslehre wurde er von dem neo-orthodoxen Rabbiner Jakob Horovitz unterrichtet, in dessen Gemeinde, die Frankfurter Israelitischen Gemeindesynagoge Unterlindau, Kurt Silberpfennig den Knabenchor leitete. Horovitz gehörte der sogenannten Gemeindeorthodoxie an und stand dem Zionismus distanziert gegenüber. Am 27. März 1933, zwei Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, legte Silberpfennig die erste Prüfung für das Lehramt an Volksschulen ab.⁴ Zu Ostern 1933 wurde Silberpfennig an der Volksschule beim Philanthropin, der größten jüdischen Schule im Deutschen Reich, als vollbeschäftigte Lehrkraft angestellt und unterrichtete dort sowie zeitweilig im Lyzeum bis 1939 die Fächer Musik, Religion und Hebräisch.⁵ Im September 1933 erhielt Silberpfennig vom Regierungspräsidenten in Wiesbaden die Mitteilung, dass er aufgrund § 3 (1) des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 aus dem öffentlichen Schuldienst und aus der Liste der Schulamtsbewerber gestrichen sei und nach dem Willen des NS-Staates an keiner staatlichen Schule eine Lehrerstelle erhalten werde.⁶ Im Sommer 1933 verheiratete sich Silberpfennig mit Rita Jacob, geboren am 21. November 1904 in Lambsheim/Pfalz, die ebenfalls aus einer jüdischen Kantoren- und Lehrerfamilie stammte. Aus ihrer Ehe ging ein Sohn, Siegfried Salomon, geboren am 19. Juli 1934 in Frankfurt am Main, hervor. Kurts Schwester Elly hatte unterdessen in Allenstein ihr Abitur abgelegt. Gemeinsam mit dem Allensteiner Kaufmannssohn Siegbert Holz begann sie in Berlin ein Medizinstudium, beide heirateten vor ihrer Auswanderung nach Italien 1934 und beendeten ihr Studium an der Universität Pisa. 1939 flohen sie nach Caracas in Venezuela; Ellys Eltern konnten ihnen Anfang 1940 folgen. In den
Siehe hierzu auch die am 20.04.1933 erstellte Lehrerpersonalkarte DIPF/BBF/Archiv: GUT LEHRER, 151420 – Silberpfennig, Kurt (https://bbf.dipf.de/de). Das 1804 gegründete Philanthropin war bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1942 die größte jüdische Schule in Deutschland. Ende der 1920er Jahre bestand das Philanthropin aus einem Reformrealgymnasium (seit 1925) mit Realschule, Lyzeum und einer Frauenschule sowie einer Volksschule und einem Kindergarten. Die „Volksschule beim Philanthropin“ wurde 1924 gegründet und war ab 1929 eine vollausgebaute achtklassige Volksschule. Schreiben des Regierungspräsidenten an Kurt Silberpfennig vom 19.09.1933, in: HHSTA Abt. 593 28.070. § 3 (1) der GWBB bezog sich auf die Entlassung sog. nicht-arischer Beamter.
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1950er Jahren baute Elly das nationale Institut für Arzneimittelsicherheit von Venezuela auf und verstarb 2005 als eine hochangesehene Wissenschaftlerin ihres Landes. Kurt Silberpfennig legte am 30. September 1937 am Philanthropin vor einer staatlich eingesetzten Prüfungskommission die „zweite Prüfung für das Lehramt an Volksschulen“ mit der Note „genügend“ ab und erhielt das Zeugnis der Befähigung zur endgültigen Anstellung als Lehrer an Volksschulen ausgehändigt. In seinem Bericht über seine pädagogische Tätigkeit in den Jahren 1933 bis 1937 befürwortete er die Notwendigkeit einer national-religiösen jüdischen Erziehung, die die handwerkliche, landwirtschaftliche und gärtnerische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen als Vorbereitung auf eine künftige berufliche Tätigkeit in Palästina einschließt. Nachdem Silberpfennig im Frühjahr 1939 aus dem Philanthropin ausgeschieden war, übernahm er in Berlin leitende Funktionärsaufgaben im religiöszionistischen Jugendbund Brith Hanoar schel Zeire Misrachi (hebr.: Verband der Jugend des Misrachi), der mit dem Bachad (Brith Chaluzim Datiim, hebr.: Verband religiöser Pioniere) eng kooperierte.⁷ Silberpfennig war zuständig für die Palästinavorbereitungslager, die sogenannten Hachschara-Lager, des Bachad und vertrat mit dem Hechaluz (hebr.: Der Pionier), der Dachorganisation der nichtreligiösen zionistischen Jugendverbände, die Interessen seines Verbandes in der Ausbildungsabteilung des Palästina-Amtes, das wiederum der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland unterstellt war. In dieser Position war er mitverantwortlich für die Vergabe der von der britischen Mandatsregierung in Palästina erteilten Auswanderungszertifikate an die zionistischen Jugendlichen.⁸ So wie Kurt Silberpfennig selbst seine Stellung am Palästina-Amt der Auswanderung seines Vorgängers im November 1938 verdankte, hatten er noch von Frankfurt aus gemeinsam mit seiner Frau die Auswanderung nach Palästina zu betreiben begonnen. Im März und April 1939 wurden der Familie Silberpfennig die erforderlichen Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die u. a. für Ausstellung der Reisepässe Voraussetzung waren, von den entsprechenden Frankfurter Verwaltungsstellen ausgestellt. Ende Juni 1939 überwies Silberpfennig die letzte Rate der sogenannten Dego-Abgabe „zwecks Bewilligung der Mitnahme von Umzugsgut“ an die Deutsche Golddiskontbank und ließ das Umzugsgut durch die Spediti-
Siehe Mirja Keller, „Ein Gott, ein Gesetz, ein Volk, ein Land“. Die religiös-zionistische Erziehung seit 1924 und die Rettung vor dem Nationalsozialismus am Beispiel des Bachad und des Brith Hanoar Scheel Zeire Misrachi (unveröffentl. Diss. Frankfurt am Main, 2015), 411. Das Palästina-Amt, das 1924 als deutsche Dependance der Jewish Agency for Palestine in Berlin gegründet wurde, war für die Beratung und Unterstützung von Auswander*innen zuständig.
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onsfirma Danzas & Cie. verpacken.Vermutlich plante die Familie über Triest nach Palästina auszuwandern. Eine der Akten trägt den Vermerk „Ausgewandert Palestina“ (sic). Zu dieser Auswanderung sollte es jedoch nicht kommen. Wahrscheinlich entschied sich Silberpfennig zum Verbleib in Berlin, um seine Arbeit im PalästinaAmt fortzusetzen und jüdischen Jugendlichen die Auswanderung nach Palästina weiterhin zu ermöglichen. Jedenfalls reiste er Ende August als Mitglied der deutschen Delegation zum 21. Zionistenkongress nach Genf. Im Mittelpunkt des wegen des Kriegsbeginns vorzeitig abgebrochenen Kongresses stand die Frage der illegalen Einwanderungen, die, so David Ben-Gurion und Chaim Weizmann, das Projekt der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, also im britischen Mandatsgebiet, in Gefahr brachten. Die deutsche Delegation wandte sich mit einer Erklärung an die Versammlung: Unsere Erwartungen, die sich daran [d.i. Kongress] knüpfen, gipfeln in der Forderung, dass sich die Tore Palästinas für unsere Chaluzim – unsere Jugend – aber ebenso für unsere Vatikim – unsere Eltern – öffnen mögen.Wir richten diese Forderung an den Kongress, in der Hoffnung, dass seine Stimme weiter dringen wird – bis an das Ohr derjenigen Mächte, in deren Hand das Schicksal Palästinas und also auch das unsrige liegt.⁹
Kaum nach Berlin zurückgekehrt, geriet Silberpfennig in die heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Reichsvereinigung und Recha Freier. Recha Freier war eine sehr resolute Frau mit vielen internationalen Kontakten, der es mit ihrem 1933 gegründeten Verein Kinder- und Jugend-Alija e.V. und in Zusammenarbeit mit den zionistischen Jugendverbänden gelang, schätzungsweise 21.000 Kindern und Jugendlichen die Auswanderung v. a. nach Palästina zu ermöglichen. Ende 1939, Anfang 1940 versuchte sie durchsetzen, dass die wenigen zur Verfügung stehenden Einwanderungszertifikate bevorzugt an Pol*innen, die bereits in Konzentrationslagern einsaßen und mit dem Tode bedroht waren, vergeben werden sollten. Die Reichsvereinigung sah jedoch in diesem Ansinnen einen Verstoß gegen die Absprache u. a. mit dem Reichssicherheitshauptamt und der Gestapo, sich ausschließlich um die Auswanderung deutscher Jüdinnen und Juden zu kümmern, und befürchtete weitere Einschränkungen ihrer Arbeit, wenn nicht gar ihre eigene Deportation. Auch Silberpfennig stimmte gegen Freier, um die Auswanderungszertifikate für seine Jugendlichen zu sichern. Im Mai 1941 wurden das Palästina-Amt sowie die Büros des Bachad und des Hechaluz durch eine staatliche Anordnung endgültig geschlossen. Die verschie-
N.N., Erklärung der deutschen Delegation, Jüdische Welt-Rundschau 1, Nr. 23 (18. August 1939): 2.
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denen Hachschara-Lager wurden zusammengelegt und die Jugendlichen zu Zwangsarbeiten herangezogen. Die letzte Sitzung der Jugend-Alija-Leitung, an der auch Silberpfennig als letztes leitendes Mitglied des Bachad teilnahm, fand im August 1941 in Berlin statt.¹⁰ Die Zeit der von den NS-Behörden forcierten Auswanderung von Jüdinnen und Juden aus Deutschland neigte sich dem Ende zu.
Abb. 1: Letztes Treffen der Jugend-Alija-Leitung in Berlin, August 1941. USHMM 46178 Gad Beck Courtesy. Von links nach rechts: Lotte Kaiser, Arthur Posnanski, Hans Wolfgang Cohn, Sonja Okun, Alfred Selbiger, Ludwig Kuttner (halb verdeckt), Kurt Silberpfennig, Jizchak Schwersenz, Herbert Growald.
Spätestens im März 1941 übernahm Silberpfennig die pädagogische Leitung des dem Bachad angehörenden Hachschara-Lagers Landwerk Steckelsdorf bei Rathenow.¹¹ An eine Auswanderung der Jugendlichen war nicht mehr zu denken;
Siehe Jizchak Schwersenz, Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich (Berlin: Wichern, 1988), 79 f. Ein Foto der Teilnehmerinnen und Teilnehmer findet sich auf S. 80. Das Hachschara-Lager in Steckelsdorf wurde 1933 gegründet; als weitere Palästina-Vorbereitungsschulen leitete der Bachad die Lehrgüter Geringshof bei Fulda und Bomsdorf bei Leipzig sowie Einrichtungen im Ausland. Durch die Erziehungsarbeit in den Vorbereitungsschulen „sollten die Jugendlichen in der jüdischen Gemeinschaft verwurzelt [werden] und [sich] ihre jüdische Bewährung im persönlichen und gesellschaftlichen Leben sichern.“ (Keller, Gott, 280) So zeichneten sich die Lager des Bachad „neben einer fundierten landwirtschaftlich-gärtnerischen,
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so war es das Ziel, die zionistische Gemeinschaft möglichst lange aufrecht zu erhalten und den Jugendlichen einen gewissen Hort der Geborgenheit zu ermöglichen. Anneliese-Ora Borinski, eine der wenigen überlebenden Madrichim (hebr.: Jugendgruppenleiter), beschrieb 1945 die Situation in den letzten Hachschara-Lagern wie folgt: Man konnte zwar noch nichts übersehen, aber man mußte immerhin ahnen, welcher Katastrophe alles Geschehen zustrebte. Aber da man sehr hilflos war und in diesem kleinen Bezirk kaum etwas tun konnte, blieb nichts anderes übrig, als die Arbeit so zu machen, als wenn es für alle Ewigkeit wäre. Es gab eben nirgends Sicherheiten, auch im Negativen nicht.¹²
Im Vorfeld der zum 30. Juni 1942 verfügten Schließung aller noch existierenden jüdischen Schulen und der Aufhebung der Schulpflicht für jüdische Kinder wurde am 21. Mai 1942 die Lagerleitung in Steckelsdorf darüber informiert, dass sich das Gros der Lagerinsass*innen auf die drei Tage später stattfindende „Umsiedlung“ vorzubereiten hätte.¹³ Am 24. Mai 1942 wurde das Steckelsdorfer Hachschara-Lager offiziell geschlossen. Ein größerer Teil der Lagergemeinschaft, unter ihr Kurt Silberpfennig und seine Familie, wurden am 11. Juli 1942 von Magdeburg über Dessau und Berlin nach Ausschwitz deportiert. Anneliese-Ora Borinski erinnerte sich wie folgt:
handwerklichen oder hauswirtschaftlichen Ausbildung durch eine besonders stark religiös geprägte Atmosphäre aus.“ (Karin Weiss und Andreas Paetz, ‚Hachschara‘ – Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung aus Deutschland (Potsdam: Verl. für Berlin-Brandenburg, 1999), 74) Über das Leben im Steckelsdorfer Hachschara-Lager und über die Tätigkeit von Kurt Silberpfennig (alias Moritz Schilling) zwischen 1939 und 1942 berichtet Ezra BenGershom (1922– 2006) im Kapitel In einer Palästina-Vorbereitungsschule seiner Autobiografie Ezra BenGershom, David. Aufzeichnungen eines Überlebenden (Frankfurt am Main: Fischer, 1979). Anneliese-Ora Borinski, Erinnerungen 1940 – 1943 (Nördlingen: Wagner, 1970), 17. Eliyahu Kutti Salinger, „Nächstes Jahr im Kibbuz“. Die jüdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943 (Paderborn: KoWAG Universität Paderborn, 1998), 198. Ernst G. Lowenthal, Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1965), 192 gibt an, dass die Familie Silberpfennig wahrscheinlich 1942 nach Auschwitz gebracht wurde. Vgl. hierzu Ehud [Herbert] Growald, „In Israel angekommen. Von der Vorbereitung zur Verwirklichung“, in „Wer hätte das geglaubt!“ Erinnerungen an die Hachschara und die Konzentrationslager, hg.v. Ulrich Schwemer (Heppenheim: Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau, 1998), 12– 17, 14. Nach Weiss/Paetz, „Hachschara“, 76, wurden die am 24. 05. 1942 deportierten Steckelsdorfer Jugendlichen zunächst nach Berlin in die zum Sammellager umgewidmete Synagoge Levetzowstraße und anschließend nach Auschwitz (oder Riga, so Keller, Gott, 475) gebracht und ermordet.
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Steckelsdorf bekommt Bescheid, dass die Belegschaft innerhalb von 2 Tagen zur Evakuierung gebracht werden wird. Ein Teil der Chawerim [hebr.: Kamerad*innen], die für die optischen Werke arbeiten, sind reklamiert. Diese werden noch dableiben. Es ist immer noch eine kleine Frist. Kurt Silberpfennig als verantwortlicher Madrich wird mitgehen. Ihre Abschiedsworte sind sehr zuversichtlich; noch aus der Bahn bekommen wir eine Karte abgestempelt hinter Breslau. Sie schrieben, dass sie in Richtung Auschwitz fahren. Dann haben wir nie wieder etwas von ihnen gehört. Auch in den Karteien konnte ich keinen von den mehr namentlich bekannten finden, noch haben die Chawerim während der Lagerzeit oder nach der Befreiung etwas von irgend jemandem von ihnen gehört.¹⁴
Thomas Freier, Verfasser einer Statistik zu den Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich stellte fest: Häftlingsnummern sind weder aus dem Transport vom 11.7. noch aus dem vom 13.7.42 bekannt. Es muss davon ausgegangen werden, dass sämtliche Insassen der Deportationszüge nach der Ankunft ohne Selektion von Arbeitsfähigen ermordet wurden.¹⁵
2 Anschreiben gegen das Vergessen 1942 erhielten Philipp Silberpfennig und seine Familie in Caracas eine letzte Nachricht aus Deutschland über ihren Sohn und Bruder.¹⁶ Gertrud und Johanna Weinberg hatten ihnen noch über das Rote Kreuz mitteilen können, dass Kurt Silberpfennig und seine Familie „vermutlich nach Polen“ verschleppt worden waren, bevor sie selbst im September 1942 deportiert und ermordet wurden. Ein Jahr nach Kriegsende, am 20. April 1946, gelang es Kurts Schwester Elly Holz, einen Brief an die Suchabteilung der American Joint Distribution Comitee
Der Auszug aus einem unveröffentlichten Bericht von Anneliese-Ora Borinski stammt aus einem Brief, den Bertholt Simonsohn 1957 an den Vater von Kurt Silberpfennig, Philipp Silberpfennig schrieb; s. Schreiben von Berthold Simonsohn an Philipp Silberpfennig vom 24. Juli 1957, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, C 12, o.p. Das Steckelsdorfer Lager diente anschließend als Arbeitseinsatzlager für die zur Zwangsarbeit verpflichteten Jugendlichen und wurde im Frühjahr 1943 endgültig aufgelöst; s. Schwersenz, Gruppe, S. 82. Thomas Freier, Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich (2016), Leipzig – Chemnitz – Dresden – Sudetenland nach Auschwitz. Abfahrtsdatum: 13.07.42; Online-Ressource: http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_mid_420713.html (letzter Zugriff 18.11. 2020). Siehe das Schreiben von Philipp Silberpfennig an das Bezirksamt für Wiedergutmachung, Mainz, vom 4. Februar 1957, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 4.
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(AJDC) und an den Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Berlin zu schicken.¹⁷ In ihren beiden Schreiben, die mit Hilfe eines Boten, der aus Venezuela nach Berlin gereist kam, Anfang August ihre Adressaten erreichten, äußerte sie die Bitte, sie über den Verbleib ihres Bruders und seiner Familie und ihrer beiden Tanten Gertrud und Johanna Auskunft zu geben. Die Suchabteilung des AJDC berichtete am 5. Dezember 1946 Elly Holz über das Schicksal ihrer beiden Tanten; über den Verbleib von Kurt Silberpfennig und seiner Familie hatte das Amt jedoch nichts ausfindig machen können.¹⁸ Am 25. Mai 1950 teilte der Polizeipräsident der Stadt Frankfurt unter Verweis auf die bei der Landeszentralbank Frankfurt am Main befindlichen Akte 1588/39 der ehemaligen Devisenstelle mit, dass „Kurt Israel Silberpfennig“, „Rita Sarah Silberpfennig“ und „Siegfried Salomon Israel Silberpfennig“ nach Palästina ausgewandert seien.¹⁹ Sollten sie vielleicht doch überlebt haben? Die Familie in Caracas hatte von Kurt Silberpfennigs Auswanderungsplänen erfahren und wusste, dass sein gesamter Haushalt bereits verpackt worden war. Seine Eltern und seine Schwester versuchten nun, diese teils widersprüchlichen Nachrichten mit weiteren Informationsbruchstücken zu verbinden und vermuteten jahrelang, dass die Gestapo Kurt und seine Familie kurz vor ihrer Auswanderung in Richtung Schweden Anfang 1942 in Berlin verhaftet und das Auswanderungsgut im Hamburger Hafen beschlagnahmt hatte. Ein halbes Jahr nach der sogenannten Neubekanntmachung des Bundesentschädigungsgesetzes vom 29. Juni 1956 reichte Philipp Silberpfennig am 28. Februar 1957 für seinen Sohn einen Antrag auf Entschädigung nach Schaden an Leben sowie Eigentum und Vermögen als Elternteilrente bei der zuständigen Entschädigungsbehörde in Berlin ein, dem am 11. Februar 1958 ein Entschädigungsantrag nach Schaden an Freiheit folgte.²⁰ Er fügte den Antragsunterlagen die eidesstattliche Erklärung bei, Vater Kurt Silberpfennigs zu sein. Beim Überfall
Schreiben von Elly Holz an die Suchabteilung der American Joint Distrubtion Comitee und an den Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Berlin vom 20. April 1946, in: Korrespondenzakte Kurt Silberpfennig, 6.3.3.2/ 85405171/ ITS Digital Archiv, Bad Arolsen o.p. Schreiben der Suchabteilung der American Joint Distrubtion Comitee an Elly Silberpfennig vom 5. Dezember 1946, in: Korrespondenzakte Kurt Silberpfennig, 6.3.3.2/ 85405171/ ITS Digital Archiv, Bad Arolsen o.p. Bescheinigung des Polizeipräsidenten Frankfurt am Main (sogenannte Liste G) vom 25. Mai 1950, in: Korrespondenzakte Kurt Silberpfennig, 6.3.3.2/ 85405171/ ITS Digital Archiv, Bad Arolsen o.p. Antrag auf Grund des Bundesergänzungsgesetzes für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 19.9.1953 von Philipp Silberpfennig vom 28. Februar 1957, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 1– 4.
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auf seine Wohnung in der Reichspogromnacht 1938 waren nahezu alle persönlichen Dokumente des Ehepaares Silberpfennigs vernichtet worden, darunter die Heiratsurkunde und auch die Geburtsurkunden ihrer Kinder. Im Juli 1957 erhielt Philipp Silberpfennig einen Brief aus Frankfurt am Main. Berthold Simonsohn, Überlebender des KZ Auschwitz und nunmehr Leiter der Hauptgeschäftsstelle der neugegründet Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, schickte ihm Auszüge aus einem Bericht von Anneliese-Ora Borinski, der in ihre später erschienenen Lebenserinnerungen eingeflossen ist. In diesem Bericht erwähnt Borinski, dass in Steckelsdorf „Kurt Silberpfennig als Rosch Hadracha die Chawerim sämtlicher religiöser Richtungen“ betreute und er mit der ersten Gruppe Steckelsdorfer Jugendlichen in Richtung Auschwitz gefahren sei.²¹ Nach 15 Jahre der Ungewissheit erhielt die Familie Silberpfennig erstmalig Kenntnis über die letzten Lebensjahre und die wahrscheinliche Ermordung ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihres Enkelkindes in Auschwitz. Silberpfennig leitete dieses Schreiben umgehend an das Entschädigungsamt Berlin weiter. Es sollte aber noch drei weitere Jahre dauern, bis die Behörde die Aussage von Anneliese-Ora Borsinski für überzeugend hielt. Immerhin sah sich die Behörde dazu veranlasst, am 29. April 1958 beim Allied High Commission for Germany International Tracing Headquarters (ITS) in Arolsen die Ausstellung einer Inhaftierungsbescheinigung für Kurt Silberpfennig zu beantragen, um dessen Inhaftierung und Deportation amtlich belegen zu können. Nur gibt es eine solche Bescheinigung nicht. Am 8. Dezember 1958 teilte das ITS dem Entschädigungsamt Berlin mit, dass kein Nachweis für den Tod Kurt Silberpfennigs vorliegt und folglich keine Sterbeurkunde ausgestellt werden kann.²² Zudem wurde auf die beiden Akten JS 7558/- und 1588/39 der ehemaligen Devisenstelle verwiesen, die mit dem Vermerk der Auswanderung nach Palästina versehen waren.²³ Kurt, Rita und Salomon Siegfried Silberpfennig konnten nach Ansicht der Behörden noch leben, so dass sie folglich keinen Veranlassung mehr sahen, das Entschädigungsverfahren fortzusetzen und den Verbleib Kurt Silberpfennigs und seiner Familie aufzuklären.
Schreiben von Berthold Simonsohn an Philipp Silberpfennig vom 24. Juli 1957, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, C 12. Schreiben des International Tracing Service an das Entschädigungsamt Berlin vom 8. Dezember 1958, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, C 5. Schreiben vom 8. Dezember 1958 an das Entschädigungsamt Berlin, ohne Absender, in: Korrespondenzakte Kurt Silberpfennig, 6.3.3.2/ 85405171/ ITS Digital Archiv, Bad Arolsen o.p.
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Erst als sich im März 1960 Philipp Silberpfennig erneut an das Entschädigungsamt wandte, reagierte die Behörde.²⁴ Er schickte Kopien und Dokumente nach Berlin, die er zum Teil bereits dem Entschädigungsamt vorgelegt hatte.²⁵ Um nachzuweisen, über welches Einkommen sein Sohn verfügt hatte, war es Philipp Silberpfennig bereits 1957 gelungen, mit Albert Hirsch, dem letzten Direktor des Philanthropins, Kontakt aufzunehmen. Hirsch, der mittlerweile in Iowa/USA lebte, bescheinigte, dass Kurt Silberpfennig als festangestellter Lehrer dem Lehrerkollegium der Volksschule des Philanthropin angehörte: „Die Schließung der Anstalt im Zuge der nationalsozialistischen Massnahmen machte seiner Taetigkeit ein Ende.“²⁶ Das Berliner Amt ließ außerdem im Juli des Jahres 1960 zum ersten Mal aktenkundig werden, dass Kurt Silberpfennig „vorübergehend [im] Landwerk“ Steckelsdorf gewesen war; aber die „Ermittlungen wegen der angeblichen Deportation […] ergebnislos verlaufen“ waren.²⁷ Nachdem die NS-Behörden und der Mob die jüdischen Menschen entrechtet, beraubt, vertrieben und umgebracht hatte, oblag es nun den Opfern diese Verbrechen möglichst lückenlos nachzuweisen. Jeder Zweifel, jede Unsicherheit, jeder fehlende Beleg führte zu Verzögerungen und wurde zu Ungunsten der Antragsteller ausgelegt. Am 30. August 1960 schrieb Philipp Silberpfennig erneut an das Entschädigungsamt und trug den Sachverhalt, „dass die Arbeiten der zionistischen Organisation in Berlin, Meineckestraße 10 verboten wurde und mein Sohn mit Familie nach Steckelsdorf übersiedelte, um dort die Jugendgruppe, die sich für die Landwirtschaft vorbereitete, zu leiten“, nochmals vor.²⁸ Er schloss mit der Nachbemerkung: Da Steckelsdorf doch ein kleiner Ort ist, muss sich doch leicht feststellen lassen, wann dort die jüdischen jungen Landwirtschaftsarbeiter zusammen mit meinem Sohn und dessen Familie im Jahre 1942 deportiert wurden und wohin.²⁹
Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass Briefe zwischen dem Entschädigungsamt und Philipp Silberpfennig ihre Adressaten nicht erreichten. Schreiben von Philipp Silberpfennig an das Entschädigungsamt Berlin vom 2. März 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 26. Eidesstattliche Erklärung von Albert Hirsch vom 22. Januar 1957, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, D 2, sowie Schreiben von Albert Hirsch vom 2. März 1964 an das Entschädigungsamt Berlin, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, E 5. Aktenvermerk vom 7. Juli 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 38. Schreiben von Philipp Silberpfennig an das Entschädigungsamt Berlin vom 30. August 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, C 10. Schreiben von Philipp Silberpfennig an das Entschädigungsamt Berlin vom 30. August 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, C 11.
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Steckelsdorf lag nunmehr in der DDR. Eine Zusammenarbeit zwischen den Behörden schien nicht möglich zu sein. Die Deportationslisten waren nicht zur Hand. Aber hatte man sich darum überhaupt ernsthaft bemüht? Immerhin enthielten die Akten der Devisenstelle Belege, dass die Silberpfennigs nicht nach Palästina ausgewandert sind. Einen Monat später hatte sich im Entschädigungsamt schließlich doch die Einsicht durchgesetzt, der drei Jahre alten Aussage von Anneliese-Ora Borsinski zu trauen, und anzuerkennen, dass Kurt Silberpfennig dem nationalsozialistischen Judenmord zum Opfer gefallen war. Sollten seine Eltern nun doch eine Hinterbliebenenrente erhalten? Die Behörde richtete am 14. September 1960 folgendes Schreiben an Philipp Silberpfennig: Betr.: Entschädigungssache nach Kurt Silberpfennig Sehr geehrter Herr Silberpfennig! Dass Ihr Sohn deportiert worden ist, mag durch das Schreiben der Zentralwohlfahrtsstelle vom 24. Juli 1957 glaubhaft gemacht sein. Nicht glaubhaft gemacht ist aber der Tod seiner Ehefrau und des Kindes. Diesen Nachweis werden Sie noch erbringen müssen. […] Hochachtungsvoll³⁰
Auf dieses Ansinnen des Entschädigungsamtes reagierte Philipp Silberpfennig mit großer Bestürzung. Empört schrieb er zurück: Wie sollte es möglich sein, dass sie [Rita mit ihrem Sohn Siegfried Salomon] uns vor 1942 oft geschrieben haben, sich seitdem nicht gemeldet hat. Es ist ja in der ganzen Welt bekannt, dass unter den 6 Millionen umgekommenen Glaubensgenossen sich auch Frauen und Kinder befanden. […] Bei unserem hohen Alter (ich bin im 80. Jahre, ebenso meine Frau [sic] kann ich es kaum glauben, dass die Angelegenheit, die schon mehrere Jahre ohne mein Verschulden verzögert wurde, abermals hinausgeschoben wird.³¹
Eine Entschuldigung des Entschädigungsamtes für das unerhörte Schreiben des Entschädigungsamtes ist in den Akten nicht überliefert. Auch erhielten Philipp und Minna Silberpfennig keinerlei finanzielle Entschädigung und damit auch keine moralische Schulderkennung für den durch die Nationalsozialisten gewaltsam zu Tode gebrachten Sohn und seiner Familie. Minna Silberpfennig verstarb 1963 und Philipp Silberpfennig am 28. Juni 1966; beide sind in Caracas bestattet.
Schreiben des Entschädigungsamtes Berlin an Philipp Silberpfennig vom 14. September 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 41. Schreiben von Philipp Silberpfennig an das Entschädigungsamt Berlin vom 18. September 1960, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, M 43, M 44.
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Nachdem das Entschädigungsamt Berlin vom Ableben des Antragsstellers erfuhr, empfahl die Behörde Elly Holz in einem Schreiben vom 4. November 1966, „uns zu erklären, ob Sie und ihre Mutter, Frau Minna Silberpfennig, den Anspruch wegen Schadens am Leben nach Kurt Silberpfennig nicht mehr weiter verfolgen wollen.“³² Der Anspruch des Vaters sei vererblich, aber „[n]ach Lage des Falls […] nicht gerechtfertigt“ und bedürfe zudem „des gesetzlichen Erbnachweises“. Aber auch ihre Mutter war schon lange verstorben und der erforderliche Nachweis nicht mehr zu erbringen. Zunächst ließ Elly Holz das Schreiben monatelang unbeantwortet; nach einem Erinnerungsschreiben der Entschädigungsbehörde zog sie im April 1967 den von ihren Vater geltend gemachten Anspruch wegen Schaden am Leben ihres Bruders zurück.³³ Am 12. August 1969 erging ein Bescheid des Entschädigungsamtes Berlin an „Herrn Philipp Silberpfennig und Frau Minna“, Erben des Kurt Silberpfennig, „festgestellter Todestag: 8. Mai 1945“, dass der zwölf Jahre zuvor gestellte Antrag wegen Entschädigung an Eigentum und Vermögen „als unbegründet zurückzuweisen“ war.³⁴ Fast ein viertel Jahrhundert später, am 28. Juli 1992 wandte sich Elly Holz, mittlerweile 82 Jahre alt, erneut an das International Tracing Service (ITS) in Arolsen. Eine Bekannte der Familie hatte bei einem Besuch im KZ Sachsenhausen 1990 die Namen von Kurt, Rita und Siegfried Salomon in einem Gedenkbuch des Roten Kreuzes gefunden und Elly Holz informiert.³⁵ In ihrem spanischsprachigen Anschreiben bat Elly Holz das ITS erneut um genauere Auskünfte über das Schicksal ihres Bruders. Zur Unterstützung ihres Anliegens wandte sich Anfang August 1991 auch ihre Bekannte an den Suchdienst. Am 20. Mai 1992 antwortete ihr der Suchdienst, dass man ihr ohne Bevollmächtigung keine Auskünfte geben dürfe. Die Kopie eines Antwortschreibens des ITS an Elly Holz ist der dort lagernden Akte Kurt Silberpfennig nicht beigefügt. Dass ihr Bruder niemals nach Schweden, sondern nach Palästina auswandern wollte, dass das Umzugsgut in Triest beschlagnahmt wurde, dass er 1939 auf seine Auswanderungschance verzichtete, um den Jugendlichen des Bachad zur Flucht zu verhelfen, wird Elly Holz wohl nie erfahren haben.
Schreiben des Entschädigungsamtes Berlin an Elly Holz vom 4. November 1966, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, A 8. Hervorhebung im Original. Schreiben von Elly Holz an das Entschädigungsamt Berlin vom 25. April 1967, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, A 11. Schreiben des Entschädigungsamtes Berlin an Elly Holz vom 12. August 1969, in: LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig, D 4. Siehe die Mail von Lena Soffer an den Verfasser vom 8. Juli 2019. Lena Soffer (geb. am 23. April 1962 in Caracas/Venezuela) lebt heute in Paris.
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Anneliese-Ora Borinski hatte Kurt Silberpfennig nicht vergessen. 1955 füllte sie für ihn und ebenso für Ludwig Kuttner, Sonja Okun, Alfred Selbiger sowie für acht weitere Freunde und Familienmitglieder Pages of Testimony in Yad Vashem aus.³⁶ In dem Bogen für Silberpfennig gab sie das Geburtsdatum 1912 und in englischer Sprache als letzten Wohnort Steckelsdorf, Jerichow II (Magdeburg), Saxony Province, Germany an. Fast 30 Jahre später, im Oktober 1984, füllte eine Cousine von Rita Jacob, Ilse Jacob (verh. Lewin), für Kurt und Rita Silberpfennig und den ihr namentlich unbekannten Sohn sowie für fünf weitere Familienmitglieder Erinnerungsblätter aus. ³⁷ Zu den Todesumständen von Kurt Silberpfennig und seiner Familie gab sie den Zeitraum 1940 bis 1941 und als mögliche Orte der Ermordung die Konzentrationslager Przemyśl, Dachau und Buchenwald an. Elly Holz, Ilse Lewin und Anneliese-Ora Borinski hätten sich viel über den Bruder, Verwandten, Freund und Mitstreiter Kurt Silberpfennig und über seine Familie erzählen und gemeinsam um sie trauern können. Sie lernten sich jedoch niemals kennen und mussten mit ihren offenen Fragen, die sie sich gegenseitig hätten beantworten können, weiterleben. Eine Berichtspflicht der deutschen Behörden über das Schicksal der Opfer des Holocaust gegenüber deren Angehörigen existiert nicht.
3 Vom Umgang mit der Erinnerung In dem vorliegenden Beitrag war es zunächst mein Anliegen, die Lebens- und Berufsbiografie des Lehrers, Jugendfunktionärs und Madrichs Kurt Silberpfennig in das sich gegenseitig mehr oder minder beeinflussende Wechselverhältnis zwischen dessen personengebundener Subjektivität und den ihm gegebenen institutionellen und politischen Bedingungen einzuzeichnen. Die Voraussetzungen, Möglichkeiten und auch Grenzen seiner Handlungsweisen sollten dabei ebenso aufscheinen wie seine Einflussnahme und Gestaltung der ihn umgebenden Wirklichkeit. Im Akt dieser aktiven Erinnerung an Kurt Silberpfennig wird einsichtig, dass die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, von Vertreibung und Flucht keineswegs stumme Zeugen geschichtlicher Prozesse sind. In dieser Perspektive erscheint das Handeln Silberpfennigs dann nicht mehr ausschließlich als Reaktion auf eine übermächtige Wirklichkeit, der er passiv ausgeliefert war, sondern er wird als Akteur, als aktiv Handelnder und damit in seiner Mensch Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: Kurt Silberpfennig, Eintrag von Borinski, Anneliese-Ora. Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: Kurt Silberpfennig, Eintrag von Lewin, Ilse.
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lichkeit sichtbar und die Wirklichkeit als das, was sie auch ist, nämlich als veränderbar. Im zweiten Abschnitt des Beitrags wurde der Frage nachgegangen, warum der Pädagoge und Fluchthelfer Kurt Silberpfennig, der sich dazu entschieden hatte, nicht die sich ihm bietenden Möglichkeiten der Flucht ins rettende Ausland zu nutzen, sondern bei den ihm anvertrauten Jugendlichen zu bleiben, nahezu der Vergessenheit anheimgefallen ist. Zum Teil findet sich die Antwort in der Person Silberpfennigs, der in verschiedener Hinsicht ein Außenseiter war.Von der Neo-Orthodoxie, in der Silberpfennig einst beheimatet war, löste er sich im Laufe der Jahre ab; seine Zeit als Lehrer am Philanthropin war zu kurz, um in die Erinnerungen der ehemaligen Schülerinnen und Schüler einzugehen; seine Bekannten in den Jugendverbänden und die Jugendlichen des Bachad, die er in Steckelsdorf betreut hatte, wurden nahezu alle ermordet. Vor allem aber ließ der Umgang deutscher Behörden mit den Gewaltverbrechen an den Jüdinnen und Juden für ein Erinnern und Gedenken an Kurt Silberpfennig und seine Familie keinen Platz. Die Versuche der überlebenden Familienmitglieder und Freund*innen, seinem Vergessen etwas entgegenzusetzen, scheiterten am grundsätzlichen Zweifel der Behörden an der Wahrhaftigkeit ihrer Schilderungen. So trieben die Behörden ein billiges Spiel, in dem sie den Überlebenden den Nachweis für das erlittene Unrecht aufbürdeten: „Diesen Nachweis werden Sie noch erbringen müssen.“ In dieser Haltung findet sich kein Platz für eine Anerkennung oder gar für eine Ehrung des verzweifelten Kampfes eines Kurt Silberpfennigs gegen das mörderische NS-Regime und er wird in die Reihe der vermeintlich namenlosen Opfer zurückgestoßen.
Bibliografie BenGershom, Ezra. David. Aufzeichnungen eines Überlebenden. Frankfurt am Main: Fischer, 1979. Borinski, Anneliese-Ora. Erinnerungen 1940 – 1943. Nördlingen: Wagner, 1970. Freier, Thomas. Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich (2016), Leipzig – Chemnitz – Dresden – Sudetenland nach Auschwitz. Abfahrtsdatum: 13.07.42; Online-Ressource: http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_mid_420713. html (letzter Zugriff: 19. 04. 2020). Friedländer, Saul. Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen: Wallstein, 2007. Growald, Ehud [Herbert]. „In Israel angekommen. Von der Vorbereitung zur Verwirklichung.“ In „Wer hätte das geglaubt!“ Erinnerungen an die Hachschara und die Konzentrationslager, hg. v. Ulrich Schwemer, 12 – 17. Heppenheim: Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau, 1998.
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Keller, Mirja. „Ein Gott, ein Gesetz, ein Volk, ein Land“. Die religiös-zionistische Erziehung seit 1924 und die Rettung vor dem Nationalsozialismus am Beispiel des Bachad und des Brith Hanoar Scheel Zeire Misrachi. unveröffentl. Diss. Frankfurt am Main: 2015. Lowenthal, Ernst G. Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1965. N.N. „Erklärung der deutschen Delegation“ Jüdische Welt-Rundschau 1, Nr. 23 (18. August 1939): 2. Salinger, Eliyahu Kutti. „Nächstes Jahr im Kibbuz“. Die jüdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943. Paderborn: KoWAG Universität Paderborn, 1998. Schwersenz, Jizchak. Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich. Berlin: Wichern, 1988. Weiss, Karin und Paetz, Andreas. „Hachschara“ – Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung aus Deutschland. Potsdam: Verl. für Berlin-Brandenburg, 1999.
Archiv- und Datenbankverzeichnis Hessisches Hauptstaatsarchiv HHSTA Abt. 593 28.070 International Tracing Service (ITS)/International Center on Nazi Persecution Digital Archiv Bad Arolsen Korrespondenzakte Kurt Silberpfennig, 6.3.3.2/85405171/ Landesamt für Bürger- und Ordnungsamt I. Entschädigungsbehörde in Berlin (LaBO) LaBO I. Entschädigungsbehörde in Berlin 320.473 Kurt Silberpfennig Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF, Berlin: http:// archivdatenbank.bbf.dipf.de Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: https://yvng.yadvashem.org
Personenregister Angas, George Fife Arnold, Gottfried 108 f.
Oglethrope, James 49 Okun, Sonja 132, 140
Ben-Gurion, David 131 Betke, Joachim 108 Borinski, Anneliese-Ora 133 f., 136, 140 Bray, Thomas 47
Philipp II. von Spanien 85 Pregizer, Christian Gottlob 110 Purry, Jean 53
Cunow, Benigna Sophia
33
de Coligny, Gaspard 93 Degmair, Matthäus Friedrich Duquesne, Henri 93
53 f.
Firmian (Fürstbischof) 45 Francke, August Hermann 47 f., 51, 54, 57, 101, 108 Francke, Gotthilf August 47 f., 51, 54, 57 Freier, Recha 131, 134 Friedländer, Saul 127 Friedrich Wilhelm I. 45 Friedrich Wilhelm III. 115 Garrison, Nicolas 37 – 39 Gladman, Thomas 38 Gronau, Israel Christian 48, 53, 57 Hasse, Matthias Friedrich Hirsch, Albert 128, 137 Hitler, Adolf 129 Horovitz, Jakob 129
110
Kavel, August 115 Kuttner, Ludwig 132, 140 Layritz, Paul E. 105 Lowther, James 49 Ludwig XIV. 93 Newman, Henry
47 f., 50, 53 – 55
Schilling, Heinz 64 f., 133 Schörgers, Brüder 110 Schumacher (Reiseprediger) 53 Schwersenz, Jizchak 132, 134 Selbiger, Alfred 132, 140 Silberpfennig, Kurt 4, 127 – 141 Simonsohn, Berthold 134, 136 Spener, Philipp Jakob 101, 104 Urlsperger, Samuel
47 – 59, 74
Vat, Jean 50, 53, 55, 58, 118, 128, 134 f., 139 Vernon, James 49 Vigera, Johann Friedrich 53, 55 von Aragon, Ferdinand 85 von Kastilien, Isabella 85 von Müller, Johann Gottfried 53, 55, 74, von Reck, Johann 52 – 58 von Reck, Philipp Georg Friedrich 52 – 58, 56 von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig 18, 32, 35, 38, 40, 100 – 105, 103, 107, 109 – 111 Ward Lead, Jane 101 Weber, Max 65 Weitz, Johann Conrad 110 Weizmann, Chaim 131 Wesley, John 35 Ziegenhagen, Friedrich Michael Zwiffler, Johann Andreas 54
50, 57, 59
Sachregister Adelaide 4, 115 – 117, 119 – 123 Agenten/Broker/Kommissare 70, 72 f. Altlutheraner 4, 10 f., 13, 18, 115 – 119, 121 f. Amerikaemigration 3, 14, 45 f., 48, 51 f., 58 Amtsdiarien 57 f. Atlantiküberfahrt 3, 31, 34, 41 Aufnahmegesellschaft 10 f., 15, 17 f., 20 – 25, 68, 71, 78 Australien 10, 13, 115 f., 118, 121, 123 Australischen Synode 117, 119 f., 122 Barossa Valley 116, 118 f., 121, 123 Brüdergemeine, Herrnhuter 3, 18, 31 – 43, 99 – 107, 109 – 111 brüderische Schiffe 38, 40 – 42
Homogenisierung, gewünschte 68 Hugenott*innen 4, 11, 63, 66 – 70, 72, 75, 86, 88 f., 91 – 93 Indifferenz 21 Intensivierung 20 f., 26 Juden 4, 12, 63, 85 f., 88 – 90, 130 – 133, 136, 141 Judenverfolgung 127 Jugendbewegung, zionistische 133 Konfessionskirchen 102, 105, 107, 109, 111 Konstellation, triadische 19, 24 Luthertum, orthodoxes
Caracas, Venezuela Chiliasmus 117
Deportation 131, 134, 136 f. Diaspora 3 f., 9 – 11, 13 – 16, 18 – 26, 64, 77, 85 – 92, 99 – 102, 104 – 106, 109, 111, 122 Ekklesiologie 11, 16 f., 103 Entschädigung 135 – 139 Europa, frühneuzeitliches 13 f., 31 – 33, 39, 45, 63, 66, 68, 70, 72, 77, 86, 88, 103 f. Exulant*innen 51 Frankreich
101, 118 f.
129, 134 f., 138 f.
67, 72, 76, 86, 88 f., 91 – 93
Gedenken 141 Gemeinort, schwimmender 13, 32 – 34, 36 f., 39 – 43, 104, 106 Georgia, USA 35, 46, 48 – 58, 69 f., 74, 77 Glaubensbewährung 34 Glaubensflüchtling 10, 15 – 17, 19, 32, 50, 63 – 71, 75, 78, 116 Grenzarbeit 9, 11 f., 26 Hachschara 130, 132 f. Halbinsel, iberische 85, 89 Holocaust 127, 134, 140
Migrant*innen 3 f., 15, 19, 21, 25 f., 32 f., 42, 45 f., 48 – 57, 65 f., 68 f., 71, 73 – 75, 77 f., 91 Migrationsfinanzierung, institutionelle 71, 75 Minderheitsposition, doppelte 66 f. Multilokalität 10, 18 f. Nationsbegriff 87, 94 Netzwerke 3 f., 9, 12 – 15, 26, 33, 46, 50, 52, 58 f., 127 Neuländer-System 15, 73 Neuzeit, Frühe 3 f., 9, 15 – 17, 20, 26, 54, 58, 63 – 65, 68 f., 75 f., 78, 86 – 89, 93 f., 101, 116 Obrigkeit
55, 66 f., 106 f., 110 f.
Palästina-Amt, Berlin 130 f. Palästina, Auswanderung nach 2, 129 – 133, 135 f., 138 f. Philadelphia 42, 89, 102 Philanthropin, Frankfurt am Main 129 f., 137, 141 Pietismus 47, 50, 100 – 103, 108 – 111 Pietist*innen 47 f., 50, 52, 59
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Sachregister
Portugal 12, 85, 88 f. Privilegien 68, 88, 90 Protestant*innen, Salzburger 13, 45, 47 – 49, 67, 74, 86, 91, 93 Radikalisierung 20 Reisediarium 55, 104 Reisekommissare 3, 14 f., 45 f., 50 – 59 Religionssoziologie 20 Salzburger Emigranten
3, 48, 55, 63, 72
Selbsthinterfragung 10, 24 Sephard*innen 12, 85 f., 88 – 92 Trägerinstitutionen 46 f., 52 – 59 Trustees of Georgia 45, 47 – 49 Union, Kirche der
93, 115
Waisenhaus, Hallesches 47, 50 f., 57, 59 Wandel, religiöser 1, 3, 9, 19 – 27, 73, 110