Ältere Pendelmigranten aus der Türkei: Alters- und Versorgungserwartungen im Kontext von Migration, Kultur und Religion 9783839441855

How do assumptions of aging and expectations of care and support change in a world characterized by migration?

300 16 3MB

German Pages 348 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort und Dank
1. Einleitung
2. Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Alter, Migration, Kultur und Religion
3. Forschungsstand zur Pendelmigration älterer Türkeistämmiger
4. Darstellung des empirischen Forschungsvorgehens
5. Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten
6. Als Fazit: drei Thesen zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion
Literatur
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Ältere Pendelmigranten aus der Türkei: Alters- und Versorgungserwartungen im Kontext von Migration, Kultur und Religion
 9783839441855

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Sarina Strumpen Ältere Pendelmigranten aus der Türkei

Kultur und soziale Praxis

Sarina Strumpen (Dr. rer. rel.), geb. 1983, studierte Gerontologie an der Universität Vechta und promovierte in Religionswissenschaft in interdisziplinären Forschungsprogrammen der Universität Rostock. Für Studien- und Forschungsaufenthalte arbeitete sie in Institutionen der Altenhilfe und an Universitäten in der Türkei. Sie begleitet Projekte in wissenschaftlichen Vereinen, der Wirtschaft und der freien Wohlfahrtspflege.

Sarina Strumpen

Ältere Pendelmigranten aus der Türkei Alters- und Versorgungserwartungen im Kontext von Migration, Kultur und Religion

Zugleich Dissertation an der Universtät Rostock, Theologische Fakultät 2015.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Sarina Strumpen Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4185-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4185-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Dank | 9

1. E INLEITUNG | 11 2. ALTER (N)S - UND VERSORGUNGSERWARTUNGEN IM K ONTEXT VON ALTER , M IGRATION , K ULTUR UND R ELIGION | 19 2.1 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n) | 21

2.1.1 Alter, Altern und Alter(n)serwartungen | 22 2.1.2 Versorgungserwartungen im Alter | 28 2.1.3 Migration, Kultur und Religion als Herausforderung der wissenschaftlichen Untersuchung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 32 2.2 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Migration | 37

2.2.1 »Altern in der Migration« und »Migration im Alter« | 40 2.2.2 Migration als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 46 2.2.3 Transnationale Betrachtungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 49 2.3 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Kultur | 53

2.3.1 Kultur als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 54 2.3.2 Multi-, inter- und transkulturelle Betrachtungen von Alter(n)sund Versorungserwartungen älterer Migranten | 58 2.3.3 Türkische Kultur als Erklärung für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 63

2.4 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Religion | 68

2.4.1 Religion als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 69 2.4.2 Der Islam als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 73 2.4.3 Inter- und transreligiöse Betrachtungen der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten | 78 2.5 Diskussion des Forschungsstandes in Hinblick auf ausgewählte Forschungsleerstellen | 81

3. FORSCHUNGSSTAND ZUR P ENDELMIGRATION ÄLTERER TÜRKEISTÄMMIGER | 85 3.1 Entstehungskontext und quantitatives Ausmass der Pendelmigration | 85 3.2 Ursachen und Motivation der Pendelmigration | 92 3.3 Ausgestaltung der Pendelmigration | 100 3.3.1 Staatsbürgerschaften, Wohnorte und Pendelmuster | 101 3.3.2 Einkommen, Vermögen und soziale Absicherung | 105 3.3.3 Soziale Netzwerke, Unterstützungspotentiale und Umgang mit gesundheitlichen Einschränkungen sowie einem Pflegerisiko | 110 3.4 Zusammenfassung und Reflexion des Forschungsstandes in Bezug auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 115

4. DARSTELLUNG DES EMPIRISCHEN FORSCHUNGSVORGEHENS | 119 4.1 Methodisches Vorgehen | 119

4.1.1 Datenerhebung | 121 4.1.2 Datenaufbereitung: Transkription und Übersetzungen | 154 4.1.3 Auswertungsstrategie | 157

4.2 Methodologische Reflexion des Studienprozesses | 163 4.2.1 Datenerhebung und -auswertung im mehrsprachigen Feld | 164 4.2.2 Die Rolle der Forschenden im transnationalen Forschungssetting | 170 4.3 Reflexion des Studienverlaufes und Empfehlungen für folgende Untersuchungen | 175

5. ALTER (N)S - UND VERSORGUNGSERWARTUNGEN ÄLTERER , TÜRKEISTÄMMIGER UND MUSLIMISCHER P ENDELMIGRANTEN | 179 5.1 Vorstellung der Interviewpartner | 181 5.2 Alter(n)serwartungen | 211

5.2.1 Altern als prädominant natürlich-körperliche Degeneration | 212 5.2.2 Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung: zwei Erfahrungsebenen des Alterns | 216 5.2.3 Der Umgang mit Armut als Teil des Alter(n)s | 224 5.2.4 Alltag zwischen Stetigkeit und Wandel | 228 5.2.5 Zwischenfazit – Alter(n)serwartungen | 233 5.3 Erwartungen an Versorgung im Alter | 235

5.3.1 Hauptsache, keiner ist einsam – aber am besten in der Familie | 236 5.3.2 Versorgungserwartungen – Sorgearbeit zwischen familialer Fürsorge und medizinischer Krankenpflege | 249 5.3.3 Fürsorge nach dem Leben – Sterben und danach | 276 5.3.4 Zwischenfazit – Versorgungserwartungen | 288 5.4 Das Besondere des Pendelns | 290

5.4.1 Zwischen Freiheit und Armut | 291 5.4.2 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in einem transkulturellen und transreligiösem Prozess? | 301 5.4.3 Zwischenfazit – Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in Pendelmigration | 312

6. ALS F AZIT : DREI THESEN ZU ALTER (N)S - UND VERSORGUNGSERWARTUNGEN ÄLTERER , TÜRKEISTÄMMIGER UND MUSLIMISCHER P ENDELMIGRANTEN IM KONTEXT VON ALTER (N ), MIGRATION, KULTUR UND RELIGION | 315 These 1: »Aktives Altern« ist als kulturelles Phänomen zu diskutieren | 315 These 2: »Religion matters« – Das Beispiel des Islam | 317 These 3: Der nationale Wohlfahrtsstaat als Begrenzung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen | 318 Literatur | 321

Vorwort und Dank

Dieses Buch ist die Veröffentlichung zu meiner Dissertation. Es ist das Ende eines langen Weges. Das Dissertationsprojekt hat mir wunderbare Lebensjahre geschenkt, denn es erlaubte mir zu reisen, interessante Menschen zu treffen und mich stundelang mit ihnen zu unterhalten. Ich durfte viel Zeit mit Lesen, Nachdenken und Lernen verbringen. So war das Dissertationsprojekt mehr Geschenk, das ich ausgekostet habe als Last, die ich zu tragen hatte. Dafür danke ich der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock, die mich mit einem Stipendium ausstattete und mir so einen Weg wies. Mein Dank gilt vor allem Prof. Dr. Klaus Hock für seine freundliche, unkomplizierte und ermutigende Art. Von ihm habe ich mehr gelernt als er vermutet. Und auch Prof’in Dr. Martina Kumlehn und PD Dr. Hans-Joachim von Kondratowitz danke ich dafür, dass sie als Gutachter fungierten und mir so wertschätzend gegenübertreten. Ich danke auch Prof. Dr. Erol Esen, der mir einen Aufenthalt an der Akdeniz Universität in Antalya ermöglichte und mich bei der Datenerhebung unterstützte. Darüber hinaus danke ich dem Graduiertenkolleg ›Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs‹ der Universität Rostock für inspirierende Einblicke in für mich zunächst unbekannte wissenschaftliche Welten. Zu danken habe ich auch vielen Freunden und Gesprächspartnern, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Dabei habe ich vor allem Johanna zu danken, die mich mit ihrer Leichtigkeit und ihrer Freude an Wissenschaft seit Jahren begleitet und immer alles hat machbar erscheinen lassen. Tina und Anna danke ich für ihre fachliche Unterstützung und Freundschaft in dieser Zeit. Ich danke auch Kriss, Daniel, Pınar, Simone, Tülay, Sandra, Muzaffer, Murat, Serkan, Ali und Adnan, dass sie mir in der Türkei so gute Freunde waren und mich bei meinen Vorhaben unterstützten. Ich danke Andrea, Meltem, Yasemin und Stefanie, dass sie mir die Freundschaft gehalten haben.

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Ich danke all den vielen Personen, die mir halfen, Kontakt zu Interviewpartnern aufzunehmen und ich danke den Interviewpartnern, die mir Einblick in ihre Arbeit und in ihr Leben gewährten. Ganz besonders bedanke ich mich bei Sami, Beate, Meltem und Lale. Samis Mitarbeit bei der Datenerhebung in der Türkei war großartig. Genauso wie die Hilfe im Umgang mit der türkischen Sprache von Lale, Meltem und vor allem Beate. Zu danken habe ich auch all den Menschen, die mir Lust und Mut gemacht haben, mich mit der Lebenswelt älterer Türkeistämmiger auseinanderzusetzen. Das war vor allem Ulrika. Von Herzen danke ich meinen Eltern, die mich immer bedingungslos unterstützt und begleitet haben. Von Herzen bedanke ich mich auch bei Daniel dafür, dass er sich gar nicht für mein Dissertationsprojekt interessiert hat, aber es mir ermöglichte, es zu Ende zu bringen. Und ich bin sehr dankbar, dass Greta einfach da ist. Berlin, Januar 2018

1. Einleitung

Seit über zwanzig Jahren wird wissenschaftlich verhandelt inwiefern das Alter(n)1 von Migranten2 in Deutschland als »besonders« zu werten ist. Angestoßen wurde dieser Diskurs3 von Institutionen der Migrationsberatung und Altenhilfe, die im Kontext einer angestrebten Interkulturellen Öffnung wissenschaftlich fundiertes, aber vor allem praxisrelevantes Wissen über spezifische Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten abfragen. Wissenschaftliche Forschung hat bis heute nur zögerlich auf diese von außen kommenden Impulse reagiert. So finden sich mittlerweile zwar in beachtlicher Anzahl Beiträge und Forschungs-

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Mit der Schreibweise des in Klammern gesetzten »n« soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sowohl Alter als Zustand als auch Altern als Prozess thematisiert werden. Wird im Text »Alter« ohne das angehängte »n« bezeichnet, ist damit die »Lebensphase Alter« (Backes/Clemens 2008) als Zeit des fortgeschrittenen Lebensalters gemeint. Auch diese ist selbstverständlich prozesshaft. Der besseren Lesbarkeit halber sowie der Abgrenzung gegenüber anderen Altersphasen wird auf das »n« an diesen Stellen bewusst verzichtet.

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Lediglich aus Gründen der Lesbarkeit und Textlänge wird im vorliegenden Schriftstück auf Schreibweisen verzichtet, die auch Frauen und Personen mit einer Inter- oder Transgenderidentität direkt benennen.

3

Die Verwendung des Diskursbegriffes in dieser Arbeit schließt an die von Michel Foucault (2003 [1970]) vorgelegten Ausarbeitungen an. Der Foucaultʼsche Diskursbegriff ist in dieser Arbeit angebracht, da Machtbeziehungen, insbesondere Deutungsmacht, sowohl im bearbeiteten Themenfeld als auch in der fokussierten Forschungsfrage eine Rolle spielen. Der Begriff Diskurs schließt in diesem Sinne immer auch Aspekte einer diskursiven Praxis ein und wird von dem Begriff Diskussion sowie dem Diskursverständnis von Jürgen Habermas (1982) abgegrenzt.

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arbeiten zu diesem Themenfeld, jedoch kann von einer systematisch verfolgten Forschungsagenda bisher nicht gesprochen werden. Darüber hinaus spielen zwei als problematisch zu bewertende Einflüsse in die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Themenfeldes hinein. Zum einen ist der konstant an Forschungsergebnisse herangetragene Anwendungsanspruch durch die Fachöffentlichkeit zu nennen. Wissenschaftliche Beiträge, die sich zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten äußern, werden in der Fachöffentlichkeit vorrangig dahingehend gelesen, inwiefern sie Empfehlungen für spezifische Versorgungsleistungen für spezifische Gruppen älterer Migranten enthalten. Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten werden als sozialpolitisches Risiko problematisiert und die Gruppe selbst als (neues) Klientel der Altenhilfe diskutiert. Daran schließt der zweite zentrale Einfluss an. So wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung über Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten vom öffentlichen »Integrationsdiskurs« überlagert. Die Frage, ob und inwiefern ältere Migranten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen haben, die sich von einer autochthonen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden, wird nicht ideologiefrei geführt. Dabei können einige Verschiebungen im wissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre beobachtet werden. Die Monographie »Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben?« von Maria Dietzel-Papakyriakou (1993) hat als eine der ersten umfassenderen Publikationen ältere Migranten in Deutschland zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht. Die diese Arbeit prägende Devise, »Fragen aus der Migrationswissenschaft, Antworten aus der Gerontologie«, (Dietzel-Papakyriakou 2012, S. 440) hat den Diskurs über die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten nachhaltig geprägt. Den Disengagement-Ansatz (Havighurst et al. 1968) aufgreifend, wurden ältere Migranten zunächst unter der double-jeopardy-These betrachtet, die in intersektionstheoretischer Logik davon ausgeht, dass ältere Migranten doppelt benachteiligt sind: aufgrund ihres Alters und ihrer Migrationserfahrung. Eine »ethnischen Insulation« (Dietzel-Papakyriakou 1993, S. 11) älterer Migranten wurde als eine entscheidende Ressource zur Bewältigung des als belastend gewerteten Alterns in der Fremde gedeutet. Daran anschließende Beiträge sowie größere und kleinere Forschungsprojekte haben diese ersten Thesen zunächst aufgegriffen und fortgeführt. Dabei wurde eine sozialpsychologische Sichtweise betont, die mit Migration vor allem einen Bruch mit der persönlichen und kulturellen Identität und Verlusterfahrung (von Heimat, familiärer Bindung und Geborgenheit, sozialer Stellung und persönlichem Status) verbindet. Die durch eine Migration erzeugte Diskontinuität in

E INLEITUNG

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Biographien erzeuge, so die Annahme, Lebensunzufriedenheit, psychische Belastungen, psychosomatische Beschwerden bis zu komplexen Krankheitsbildern und Depressionen (vgl. Zeman 2011, S. 193). Älteren Migranten wurden allein aus dieser Deutung heraus früher einsetzende und spezifische (also von »der Normalität« beziehungsweise Mehrheit abweichende) Versorgungs- und Pflegebedarfe zugesprochen und die Bedeutung eines »ethnischen Alterns« hervorgehoben. In Folge dessen wurden ethnische, kulturelle und religiöse Fremdzuschreibungen älterer Migranten prominent diskutiert. So beispielsweise im 6. Familienbericht: »Das Alter ist auch die Zeit der verstärkten Beschäftigung mit der Vergangenheit, der Rückerinnerung, der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und der Suche nach metaphysischen Erklärungen und Stützen in religiösen Werten und Einstellungen. Vor allem für ältere Menschen ausländischer Herkunft, die aus bäuerlichen, wenig säkularisierten Gesellschaften stammen, bilden hierfür eigenethnische Beziehungen die einzige Möglichkeit: Sie basieren auf multiplen Vernetzungen von Familienverbänden, in denen die gemeinsamen Traditionen, Sprache und Geschichte in relativer sozialer Homogenität gepflegt werden.« (BMFSFJ 2000, S. 121)

Die in den letzten Jahren erfolgten quantitativen Untersuchungen zur sozioökonomischen Situation älteren Migranten haben für einen Großteil dieser Personengruppe durchaus marginalisierte und benachteiligte Lebenslagen aufgezeigt (vgl. Schimany et al. 2012). Jedoch finden sich in diesen Untersuchungen auch Ergebnisse, die angenommene Differenzen – vor allem in Bezug auf soziale Netzwerke (Olbermann 2003; Baykara-Krumme 2008) – zwischen autochthonen und eingewanderten Älteren relativieren und die Heterogenität unterschiedlicher Einwandergruppen aufzeigen. Nicht unabhängig von diesen Erkenntnissen haben in den letzten zehn Jahren Wissenschaftlerinnen versucht neue Perspektiven in die Diskussion über ältere Migranten in Deutschland einzubringen. Sie kritisieren dabei vor allem im wissenschaftlichen Diskurs zu findende ethnische und kulturelle Fremdzuschreibungen und fordern empirische Perspektiven aus dem Feld selbst. Durch Forschungsarbeiten von beispielsweise Helen Krumme (2002), Margret Spohn (2002), Angelika Mölbert (2005), Rita Paß (2006), Jana Wettich (2007), Türkan Yilmaz (2011), Kathrin Hahn (2011) und Nora Rohstock (2014) konnten so bereits facettenreiche Einblicke in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten gewonnen werden. All diese Arbeiten zeichnen sich durch einen Paradigmenwechsel aus: Von den Transnational Studies inspirierte Betrachtungsweisen, die ältere Migranten als Akteure in transnationalen sozialen Räumen (z. B. Pries 1996;

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Laubenthal und Pries 2012) diskutieren, dominieren nun den wissenschaftlichen Diskurs über ältere Migranten. Damit ist jedoch die Frage nach der Bedeutung kultureller und religiöser Einflüsse auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten nicht hinreichend beantwortet. Die Diskussion, ob kulturell und religiös begründete Unterschiede für die Lebenssituation im Alter überbetont, soziökonomische und ausländerrechtliche Schwierigkeiten jedoch unterschätzt werden, zeigt an, dass die Bedeutung von Kultur und Religion in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen mitnichten bestritten wird. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Zusammenhänge zwischen den starken sozialen Konstruktionen »Alter«, »Migration«, »Kultur« und »Religion« wissenschaftlich nicht ausbuchstabiert sind. Das thematische Viereck »Alter, Migration, Kultur, Religion« wird von allen bisher daran beteiligten Disziplinen marginal behandelt. Und so wird in der Reflexion des Forschungsstandes sichtbar, dass jede der beteiligten Forschungsrichtungen einen erheblichen »blinden Fleck« aufweist. Sei es ein methodologischer Nationalismus in der Alter(n)s- und Versorgungsforschung (vgl. Krawietz und Strumpen 2013), die Prägung des gesamten Themenfeldes durch einen säkularen Imperativ (vgl. Hock 2014b), das Desinteresse an Alter(n)s- und Versorgungsfragen in der Religionswissenschaft und die mangelhafte Verknüpfung aktueller Diskurse der Alter(n)s- und Versorgungsforschung mit Themen der Migrations- und Kulturwissenschaften (vgl. Baykara-Krumme et al. 2012). Insbesondere ist zu beobachten, dass die Thematisierung religiöser Dimensionen in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten abwehrende beziehungsweise relativierende Positionierungen hervorruft. Dies steht im Zusammenhang mit aktuellen wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten um Einwanderung und Islamophobie in Deutschland. In dem gegenwärtig zu verfolgendem Diskurs über »Zugehörigkeit zu Deutschland«, insbesondere »des Islams«, besteht die Gefahr der (unbedarften) Reproduktion rassistischer Abgrenzungen und menschenverachtender Ausgrenzungen – auch im Wissenschaftsdiskurs. Dabei kann seit dem 9. September 2001, dem Tag, an dem durch terroristische Akte das World Trade Center in New York zum Einsturz gebracht wurde, eine zunehmende Rhetorik beobachtet werden, die essentialistische Differenz über Religionszugehörigkeit (speziell: »den Islam«) begründet. Es ist also durchaus Sensitivität und Vorsicht geboten, wenn die Frage nach einer Kontrastierung christlicher und muslimischer Alter(n)sbilder auftaucht. Jedoch muss die Sensibilität der Thematik ihre Erforschung nicht verhindern. Vielmehr bietet es sich an, die Frage nach kultureller und religiöser Differenz mit fundierten Inhalten zu beantworten. Ziel sollte es daher sein, in Detailanalysen zu kommen. Neben konzeptionellen Überlegungen sind so vor allem auch empirische

E INLEITUNG

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Arbeiten gefragt. Dabei sollten bei der Anwendung akteurszentrierter Ansätze bestehende strukturelle Machtbeziehungen auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene systematisch berücksichtigt werden. Mit einer solchen Erweiterung des Themenfeldes »Alter(n) und Migration« gewinnt nicht nur die Alter(n)s- und Versorgungsforschung neue Artikulationsräume. Erkenntnisgewinne über die Bedeutung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in Ethnizitätsbeschreibungen, kulturellen und religiösen Selbstverständnissen und nationalen Narrationen können auch im Kontext des globalen demographischen Wandels besser verstanden werden. Durch die hier verschriftlichten Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger, muslimischer Pendelmigranten4 ergeben sich neue Impulse für den wissenschaftlichen Diskurs über Alter, Migration, Kultur und Religion. Die Gruppe der in einer fortwährenden Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei lebenden türkeistämmigen und muslimischen Älteren wurde aufgrund mehrerer Vorannahmen in das Zentrum der Untersuchung gestellt. Einerseits konnte an bereits veröffentliche Forschungsergebnisse zu dieser Gruppe angeknüpft werden. Darüber hinaus ermöglicht die tatsächliche physische Mobilität zwischen Deutschland und der Türkei eine unkritische Konzipierung dieser Gruppe als Transmigranten. Transmigration zeichnet sich dadurch aus, dass Migranten Deutungsmuster und Handlungslogiken entwickeln, die Semantiken und Strukturen der Herkunftsund Ankunftsgesellschaften neu verhandeln (vgl. Mau 2007; Pries 2008). Unter Einbeziehung dieser theoretischen Perspektive sowie entsprechenden Analysemöglichkeiten sollte es möglich sein religiöse, kulturelle oder aus der Migration zu erklärende Aspekte zu identifizieren und rekonstruieren zu können, ohne in eine kulturelle, nationale oder religiöse Stereotype (Deutsche/Christen/NichtMigranten versus Türken/Muslime/Migranten) reproduzierende Betrachtung der Untersuchungsgruppe beziehungsweise des Untersuchungsfeldes zu geraten. Durch die Pendelmigration, so die Annahme, habe die gewählte Untersuchungsgruppe einen tatsächlichen Möglichkeitsraum, individuelle Muster eines Wohlfahrtsmixes im Alter zu entwerfen und umzusetzen. Es wurde erwartet, dass diese Aushandlungsprozesse auch in der gewählten Erhebungsmethode des Interviews verbalisiert und somit analysierbar werden.

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Oder: in Pendelmigration lebende türkeistämmige, muslimische Ältere; oder: ältere, in Pendelmigration lebende, türkeistämmige Muslime; oder: muslimische, ältere in Pendelmigration lebende Türkeistämmige.

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Diese hermeneutisch nachgezeichneten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen konnten so in einen Bezug zur bisherigen Verhandlung älterer Migranten im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion positioniert werden. Dieses Buch gliedert sich dazu wie folgt auf: Zuerst wird ein Ein- und Überblick über die forschungsgeschichtliche Komplexität zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten in Deutschland gegeben (Kapitel 2). Um die Komplexität der hier zusammenfließenden Diskurse übersichtlich zugänglich zu machen, gliedert sich die Darstellung des Forschungsstandes über die Themenbereiche Alter, Migration, Kultur und Religion auf. Da in jedem der vier angeführten Forschungsfelder bereits multi-, interund transdisziplinäre Zugänge zu finden sind, werden die im Kontext von Alter(s)und Versorgungserwartungen zentralen Forschungsansätze und relevanten Paradigmenwechsel der wissenschaftlichen Bearbeitung angeführt. Entsprechend des spezifischen Erkenntnisinteresses erfolgt in jedem Abschnitt eine Fokussierung auf die Themenbereiche, die im Kontext älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten relevant sind. Der Untersuchungsgegenstand selbst gewinnt über die Einbettung in die angeführten wissenschaftlichen Diskurskontexte an Profil, aber auch an Komplexität. In einer abschließenden Reflexion des Forschungsstandes werden für die hier dokumentierte Studie relevante Forschungsschwerpunkte sowie -leerstellen aufgezeigt und diskutiert. An diese Aufgliederung schließt sich eine Zusammenstellung des Forschungsstandes zur Pendelmigration älterer Türkeistämmiger an (Kapitel 3). Die Darstellung gliedert sich über drei Schwerpunkte auf. In einem ersten Abschnitt werden Kenntnisse über den Entstehungskontext sowie das quantitative Ausmaß der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zusammengetragen. In einem zweiten Abschnitt werden Untersuchungen und immer wieder vorgebrachte Thesen zu Ursachen und Motivationen zur Pendelmigration der fokussierten Gruppe vorgestellt. In einem dritten Abschnitt werden bisher dokumentierte Untersuchungsergebnisse zur Ausgestaltung der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zusammengetragen. In einem abschließenden Abschnitt wird der bestehende Forschungsstand zusammengefasst und in einen Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen gebracht. Anschließend wird das empirische Forschungsvorgehen der hier dokumentierten Studie vorgestellt (Kapitel 4). In einem ersten Abschnitt wird das methodische Vorgehen dargestellt. Um dem explorativen Erkenntnisinteresse gerecht zu wer den, wurde die Grounded Theory Methodologie als Bezugsrahmen des Forschungsprozesses ausgewählt, um durch Triangulationen verschiedener Methoden den spezifischen Anforderungen des Forschungsfeldes und Erkenntnisinteresses

E INLEITUNG

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dieser Studie gerecht zu werden. In einem zweiten Abschnitt wird die Datenerhebung und -auswertung sowie die Rolle der Forschenden im transnationalen Forschungssetting methodologisch reflektiert. Aus einer abschließenden Reflexion des Studienverlaufes werden Empfehlungen für weitere empirische Studien im Kontext der gewählten Untersuchungsgruppe sowie des gewählten Untersuchungsgegenstandes formuliert. Es folgt die Darstellung von zentralen Analyseergebnissen, die für die untersuchte Gruppe charakteristisch und für die Diskussion um Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion relevant sind. (Kapitel 5). Die Untergliederung der Ergebnisse greift die Muster und die der Narrative inhärenten Ordnungen aus dem empirischen Material auf und führt sie mit dem Erkenntnisinteresse dieser Studie zusammen. Dabei gliedert sich die Darstellung der Ergebnisse über drei Abschnitte auf. In einem ersten Abschnitt werden zentrale Aspekte der rekonstruierbaren Alter(n)serwartungen dargestellt und in einem Zwischenfazit zusammengefasst. In einem zweiten Abschnitt werden die aus dem Datenmaterial rekonstruierbaren Versorgungserwartungen vorgestellt und ebenfalls abschließend zusammengefasst. Ein dritter Abschnitt fokussiert Besonderheiten auf, die sich aus der Situation des Pendelns ergeben und stellt einen Bezug zu den rekonstruierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen her. Dabei interessiert insbesondere, inwiefern ältere türkeistämmige Pendelmigranten bei sich selbst transformative Prozesse beobachten und inwiefern aus distanzierter Perspektive entsprechende Prozesse aus dem Datenmaterial herausgelesen werden können. Um dem Leser auch einen Einblick in die Biographien der Gesprächspartner sowie die Interviewverläufe zu ermöglichen, sind den Analyseergebnissen zunächst zusammengefasste Porträts der Gesprächspartner sowie einige Informationen zum Interviewkontext vorangestellt. Ein Fazit erfolgt über drei Thesen zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion. Diese Thesen sind so zugeschnitten, dass sie zum einen die spannungsreichsten Punkte zwischen dem Forschungsdiskurs und den hier erarbeiteten empirischen Befunden herausstellen. Zum anderen zeigen sie über Kritik am bisherigen wissenschaftlichen Diskurs zu älteren Migranten in Deutschland weiterführende Forschungsperspektiven auf. Gleichzeitig dienen sie dazu, die in dieser Arbeit aufgeworfenen Fragestellungen zu bündeln und zu einer abschließenden Betrachtung zu kommen.

2. Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Alter, Migration, Kultur und Religion

Bereits seit über zwanzig Jahren wird in Deutschland diskutiert, inwiefern die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten als gesellschaftspolitische Herausforderung zu begreifen sind. Zur Erklärung und Deutung ebenjener Erwartungen wird auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Forschungsfelder von Alter, Migration, Kultur und Religion zurückgegriffen. Dabei ist die Frage wie sich Alter(n)s- und Versorgungserwartungen konstituieren nicht nur für steuerrungsorientierte Fragestellungen der Altenhilfe und Migrationsberatung relevant. Das Zusammenwirken von Alter, Migration, Kultur und Religion ist auch von grundlegendem wissenschaftlichem Interesse. Ziel der hier dokumentierten Forschungsarbeit ist es, Erwartungen älterer, muslimischer Türkeistämmiger, die sich auf einer Pendelachse zwischen Deutschland und der Türkei bewegen, in Bezug auf Alter und Altern sowie auf Versorgung im Alter1 nachzuzeichnen und im Kontext wissenschaftlicher Diskurse zu Alter(n), Migration, Kultur und Religion zu positionieren. Um die Komplexität der forschungsgeschichtlichen Entwicklung der im Falle von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zusammenfließenden Diskurse übersichtlich zugänglich machen zu können, gliedert sich die folgende Darstellung des Forschungsstandes über die Themenbereiche Alter, Migration, Kultur und Religion auf. Da in jedem der vier angeführten Forschungsfelder bereits multi-, inter-

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Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, wird der Untersuchungsgegenstand im Folgenden über den Ausdruck »Alter(n)s- und Versorgungserwartungen« bezeichnet. Die hier interessierenden Versorgungserwartungen beziehen sich also immer auf das, was als »Versorgung im Alter« konzipiert wird.

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und transdisziplinäre Zugänge2 zu finden sind, werden die im Kontext von Alter(s)- und Versorgungserwartungen zentralen Forschungsansätze und relevanten Paradigmenwechsel der wissenschaftlichen Bearbeitung angeführt. Entsprechend des spezifischen Erkenntnisinteresses erfolgt in jedem Abschnitt eine Fokussierung auf die Themenbereiche, die im Kontext älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten relevant sind. Der Untersuchungsgegenstand selbst gewinnt über die Einbettung in die angeführten wissenschaftlichen Diskurskontexte an Profil, aber auch an Komplexität. In einer abschließenden Reflexion des Forschungsstandes werden für die hier dokumentierte Studie relevante Forschungsschwerpunkte sowie -leerstellen aufgezeigt und diskutiert.

2

Entsprechend der Multidimensionalität der Phänomene Alter, Migration, Kultur und Religion werden diese über verschiedene disziplinäre Zugänge bearbeitet. Zur Untersuchung jedes dieser Phänomene werden sowohl psychologische, soziologische, politik- und wirtschaftswissenschaftliche, ethnologische, historische, linguistische und weitere Methoden sowie Theorien angewandt. Dabei kommt es zu kontrovers diskutierten disziplinären Ausdifferenzierungsprozessen, denn es versteht sich nicht jede Forschung zu Alter als Gerontologie, zu Migration als Migrationswissenschaft, zu Kultur als Kulturwissenschaft und zu Religion als Religionswissenschaft. So grenzen sich beispielsweise Soziologen mit dem Verweis auf Subdisziplinen wie die Alterssoziologie, Migrationssoziologie, Kultursoziologie und Religionssoziologie oftmals von interund transdisziplinären Forschungsansätzen ab. Darüber hinaus gilt beispielsweise die Religionswissenschaft als etablierte Disziplin, während im Falle der Gerontologie in Deutschland fortwährend diskutiert wird, ob sie als eigenständige Disziplin gelten kann oder auch soll. In den in dieser Arbeit diskutierten Zusammenhängen zeigen sich diese unterschiedlich gesetzten Abgrenzungen beispielsweise darin, dass die Religionswissenschaft ihre Forschungsperspektive auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Religion von theologisch-konfessionellen sowie ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven abgrenzt (wenn auch nicht explizit methodisch, so doch hinsichtlich des Erkenntnisinteresses und Selbstverständnisses). Gerontologie hingegen fungiert oftmals als Sammelbegriff für jegliche Forschung im Kontext von Alter. Gleichzeitig finden sich disziplinäre Brückenschläge, wie der Vorschlag einer Religionsgerontologie (vgl. Kunz 2009). In der folgenden Darstellung werden daher nicht explizit gerontologische, migrationswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche oder religionswissenschaftliche Perspektiven vorgestellt, sondern jeweilige Forschungsansätze, die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen bei älteren türkeistämmigen (Pendel-) Migranten primär über Alter beziehungsweise Migration, Kultur und Religion erklären.

I M K ONTEXT

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2.1 ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN IM K ONTEXT VON ALTER ( N ) Der Prozess des Alterns ist vom Lebensabschnitt des Alters zu unterscheiden. Altern bezieht sich auf individuelle Veränderungsprozesse über die Lebensspanne, während Alter einen Abschnitt im Lebensverlauf meint (vgl. Tesch-Römer und Wurm 2009, S. 8). Das chronologische oder auch kalendarische Alter gibt das Alter des Menschen seit Geburt an. Jedoch erschöpft sich das Thema »Alter(n)« nicht in der Zählung der Lebensjahre. Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich eine Unterscheidung zwischen dem biologisch-physiologischem, dem psychischen und dem sozialen Altern etabliert. Dabei zeigt sich in Beobachtungen des (wissenschaftlichen) Diskurses über Alter(n), dass die ursprünglich starke Fokussierung auf medizinische und pathologisierende Perspektiven auf das Alter durch die zunehmende Akzentuierung sozialer Dimensionen inhaltliche Ergänzungen erfahren hat. Dabei wird in gegenwärtiger Gesellschaftsdiagnose aufgezeigt, dass das Altern im höheren Lebensalter dichotom konzipiert wird. Unterschieden wird dabei zwischen einem »gesunden« und einem »kranken« Alter. Perspektiven auf historische Prozesse der letzte 200 Jahre in Deutschland zeigen, dass diese Dichotomie des höheren Lebensalters verschiedene normative Konkretisierungen durchlaufen hat und dabei jeweils spezifische Ordnungs- oder auch Sozialfiguren vorherrschend waren (vgl. Kondratowitz 2000).3 Während das »gesunde« Alter je nach dominierender Sozialfigur mit Attributen wie »rüstig«, »fit«, »aktiv« oder auch »autonom« versehen wird, sammeln sich auf der anderen Seite dieser Dichotomie, aktuell als »altes« oder auch »viertes Alter« thematisiert, Beschreibungen, die sich über körperliche Regressionen und Funktionsverluste begründen, wie »gebrechlich«, »hinfällig«, »abhängig« und eben »krank«. Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs wird insbesondere die Sozialfigur der »jungen Alten«, die ihr Alter entsprechend des für vom Neoliberalismus geprägten spätindustriellen Westens typischen Aktivitätsparadigmas »aktiv« und »erfolgreich« gestalten, problematisiert und dekonstruiert (vgl. Göckenjan 2000; van Dyk und Lessenich 2009b; Denninger et al. 2014). Doch kann beobachtet werden, dass spätestens beim »vierten« Alter Synonymsetzungen von »Alter«, » (chronischen)

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Für historisch noch weitreichendere Perspektiven siehe beispielsweise Veröffentlichungen von Gerd Göckenjan. Auch Göckenjan (2000) kann eine Dichotomie im Altersdiskurs seit der Antike nachzeichnen. Er unterscheidet die Strategie des »Alterslobs« und die Strategie der »Altersschelte«, zwischen den sich der Diskurs der Alterswürdigung aufspanne. Diese beiden Diskursstrategien werden dabei von der »Altersklage« und dem »Alterstrost« kommentierend durchkreuzt.

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Krankheiten«, »Gebrechlichkeit«, »Autonomieverlust« und sich daraus ergebenden »Versorgungsbedarfen Älterer« in öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskursen oftmals unhinterfragt bleiben. Dies kann im Kontext eines Anwendungsdrucks, der die wissenschaftliche Bearbeitung des höheren Lebensalters (in Deutschland) kennzeichnet, diskutiert werden. Situationen, denen einen sozialpolitische Relevanz zugeschrieben wird, bilden oftmals den Anstoß für wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Alter und Altern. An dabei entstehende Forschungsergebnisse wird schnell die Frage herangetragen, inwiefern sie für erfolgsversprechende Versorgungsmodelle oder Interventionsstrategien nutzbar gemacht werden können. Dabei bietet gerade diese angenommene Selbstverständlichkeit, dass das höhere Lebensalter mit körperlicher Regression und Funktionsverlusten einhergeht und sich daraus ergebende Versorgungsbedürfnisse, die im Sozialen bewältigt werden müssen, einen guten Ansatzpunkt, soziale Konstruktionen von Alter(n) zu erschließen. Zur Frage steht, wie Individuen oder auch soziale Gruppen altersspezifische oder auch altersassoziierte Versorgungsbedarfe definieren. Ab wann halten sie unterstützende Interventionen für angebracht und welchen Individuen, Institutionen oder auch sozialen Gruppen wird eine jeweilige Umsetzungsverantwortung zugeschrieben? Im Folgenden werden in einem ersten Abschnitt für die in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung zentrale Zugänge der wissenschaftlichen Bearbeitung von Alter, Altern und Alter(n)serwartungen aufgezeigt. In einem anschließenden Abschnitt werden Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n) fokussiert und als normativer Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Umgangs mit Alter(n) thematisiert. In einem abschließenden Abschnitt wird aufgezeigt, inwiefern die Phänomene Migration, Kultur und Religion die gegenwärtige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alter(n) herausfordern. 2.1.1 Alter, Altern und Alter(n)serwartungen Im wissenschaftlichen Diskurs wurde in den vergangenen 70 Jahren immer deutlicher, dass das Alter nicht sinnvoll als ein ontologischer Zustand diskutiert werden kann und das Altern keinem »natürlichen« Verlauf folgt. Je mehr zu Alter und Altern geforscht wird, umso deutlicher wird sichtbar, dass Alter sowie Altern eine ausgeprägte Plastizität sowohl in psychischen, sozialen, kulturellen als auch körperlichen Dimensionen aufweist. Daher rücken sukzessive Differenzierungsmomente in Alternsprozessen in das Interesse der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Gefragt wird, weshalb die einen so und die anderen anders altern. Dabei kann in der wissenschaftlichen Erforschung des Alterns im höheren Lebensalter

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mittlerweile auf einen umfangreichen Fundus von beispielsweise biologisch, psychologisch, historisch, wirtschaftswissenschaftlich und soziologisch orientierter Forschung zurückgegriffen werden. Insbesondere quantitativ-empirische Studien zeigen Zusammenhänge zwischen Merkmalen wie beispielsweise Bildungsstand, Einkommen, Gesundheit, sozialen Beziehungen und spezifischen Alter(n)sverläufen auf. 4 Als ein erklärendes Konzept für diese Zusammenhänge hat der Begriff »Alter(n)sbild« sowohl in den wissenschaftlichen als auch fachöffentlichen Diskurs Eingang gefunden. Unter Alter(n)sbildern werden unterscheidbare soziale Konstruktionen verstanden. Judith Rossow beschreibt sie als »Elemente, die sich einerseits unter dem Einfluss sozialer Faktoren konstituieren und über die andererseits soziale Ordnungen (wieder) neu entstehen.« (2012, S. 13). Diesem Verständnis nach müssen Alter(n)sbilder nicht etwas im Alltag Bewusstes sein: »Vielmehr zeigen sich Vorstellungen vom Alter(n) und von älteren Menschen meist erst indirekt im Handeln, in Interaktionen und Verhaltens- und Denkmustern, den darin implizierten Erwartungen, Komptenzzu- oder -absprechungen und Normvorstellungen.« (Ebd., S. 12)

Alter(n)sbilder werden daher sowohl als eine abhängige Variable verstanden als auch als aktive Wirkmacht im Sozialen. Dabei wird die von Alter(n)sbildern ausgehende Deutungsmacht in wissenschaftlichen Diskussionen hervorgehoben. So betont Gerhard Wegner (2013, S. 138) eine normative Kraft von Alter(n)sbildern, da sie dem Alter(n) Attribute zuschreiben und es damit zu Konstruktion von Verhaltensdispositiven kommt. Gerd Göckenjan (2000, S. 425) stellt heraus, dass Alter(n)sbilder sich nicht auf Bedürfnisse alter Menschen beziehen, sondern soziale Regelungsbedingungen reflektieren. Phänomene im Kontext von Alter(n) müssen aus dieser Perspektive immer in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gestellt und auch aus diesem heraus begründet werden. Die etablierte Unterscheidung zwischen »individuellen Alter(n)sbildern« und Alter(n)sbildern als kollektive Deutungsmuster sozialer Teilbereiche – auch »soziale«, »gesellschaftliche« oder »kulturelle« sowie »institutionelle« und »organisationale«

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An dieser Stelle kann auf Diskussionen inwiefern Gerontologie als eigenständige Disziplin zu werten ist, verwiesen werden. Ein zentraler Moment war dabei die Ende der 1980er von James Birren und Vern Bengtson gestellte Diagnose, die den Stand der gerontologischen Forschung als »Rich in data but poor in theory« (1988, S. ix) beschrieb. Ende der 2000er urteilt Scott Bass (2007), dass diese Theorielosigkeit zumindest im anglophonen Raum als überwunden bewertet werden kann.

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Alter(n)sbilder bezeichnet – ist in diesem Sinne als eine analytische mit vorrangig forschungspraktischer Relevanz zu verstehen.5 Trotz vielfältiger Definitionen und Beschreibungen in wissenschaftlichen Publikationen ist es bisher für den Begriff Alter(n)sbild charakteristisch, dass er nur wenig theoretisch ausgearbeitet ist und zu einem gewissen Maße unbestimmt bleibt.6 Dabei wird er kaum von den Begriffen Alter(n)svorstellungen, Alter(n)skonzepte, Alter(n)skonstruktionen oder Alter(n)serwartungen abgegrenzt, sondern eher durch sie erklärt oder synonym verwendet. Alter(n)serwartungen sind so als eine auf Antizipationen, Dispositionen und Dispositive fokussierte Wendung von Alter(n)sbildern zu verstehen. Der Vorteil der Unschärfe liegt darin, dass der Begriff Alter(n)sbild für viele Disziplinen anschließbar ist und als Querschnittsthema einen disziplinären Austausch ermöglicht. Aus den verschiedenen Fragestellungen, Theorien, Methoden und Fachbegriffen der einzelnen sozial-, verhaltens- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen ergeben sich so unterschiedliche Zuschnitte zu dem, was unter dem Begriff Alter(n)sbild gefasst, diskutiert und untersucht wird. So können, je nach Fokussierung, Ausprägungen, Ursachen und Einflussfaktoren bei der Entstehung sowie ihre Auswirkungen und Variabilität herausgearbeitet werden (vgl. Rossow 2012, S. 12 f.).

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Über »individuelle Alter(n)sbilder« wird erschlossen, wie Individuen die Lebensphase Alter und Altern als Prozess konzipieren. Dabei wird ein Alter(n)sselbstbild, also wie ein Individuum das eigene Alter(n) beschreibt und deutet, von Fremdzuschreibungen in individuellen Alter(n)sbildern unterschieden. Fremdzuschreibungen in individuellen Alter(n)sbildern äußern sich darin, wie ein Individuum Personen in einem gewissen Alter gegenübertritt, was es ihnen zutraut oder abspricht. Die verhaltenswissenschaftliche Forschung erschließt dies beispielsweise über den konzeptionellen Zugang der »Alter(n)sstereotype«. Dabei sind individuelle Alter(n)sbilder nicht widerspruchsfrei und es zeigen sich intraindividuell stätig wandelnde Vorstellungen vom Alter und dem Altwerden. Im Gegensatz dazu werden gesellschaftliche oder auch kulturelle Alter(n)sbilder im diachronen und synchronen Vergleich herausgearbeitet und illustriert. Diese »gesellschaftlichen« oder auch »sozialen« Alter(n)sbilder können auch auf Berufsgruppen oder andere soziale Teilbereiche (z. B. Medien) oder Institutionen (z. B. Altenpflegeheime) zugeschnitten werden.

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Bereits Hans Peter Tews stellte Anfang der 1990er Jahre fest, dass »Altersbild« in der Wissenschaft kein eng umrissenes Konzept darstellt. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Damit ist der Begriff »Alter(n)sbild« ähnlich einzuordnen wie die Begriffe »Körperbild«, »Geschlechterbild« (auch als »Männer- und Frauenbilder«) oder auch »Islambild«.

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Bewertungen, Einordnungen, Charakterisierungen oder auch Kategorisierungen dieser nachgezeichneten Alter(n)sbilder orientieren sich hauptsächlich an den sogenannten »Alterstheorien« (vgl. Lehr 2003). Als eine erste dieser zentralen Erklärungsmuster von Alter und Altern gilt die auf strukturfunktionalistischen Paradigmen fußende Disengagement-Theorie, die Elaine Cumming und William E. Henry (1961) Anfang der 1960er Jahre prominent diskutiert haben. Dabei handelt es sich nicht um eine Theorie im engeren Sinne, sondern vielmehr um ein Thesenkonstrukt, das davon ausgeht, dass ein biologisch-medizinischer Abbau und Verfall des älteren Menschen natürlich und nicht zu verhindern sei. Ein Rückzug aus dem Erwerbsleben und den sozialen Bezügen des mittleren Erwachsenenalters sei mit steigendem Alter nicht nur unvermeidbar, sondern auch funktional für Individuum und Gesellschaft. Sozusagen als Antipode zur Disengagement-Theorie positionierte sich nur wenige Jahre später die von Robert Havighurst und Kollegen (1968) vertretene Aktivitätstheorie, die ebenfalls eher als Ansatz zu betrachten ist.7 Während die Disengagement-Theorie einen Bruch zwischen aktiver Erwerbsphase und passiver Altersphase im Leben erwartet, setzen die Thesen der Aktivitätstheorie auf Kontinuität im Lebenslauf. Das aktivitätstheoretische Paradigma dreht die Argumentation des Disengagement-Theorems um und vertritt die These, dass psycho-physische Abbau Älterer nicht Ursache sozialen Rückzugs, sondern Folge sei. Die Überwindung defizitärer Perspektiven auf das Alter ist in diesem Ansatz Teil der Zielformulierung. Dabei gilt ein allgemeines und konzeptionell nicht genauer umrissenes aktives-tätig-sein als Schlüssel für ein positiv zu bewertendes Alter(n). Dem älteren Menschen wird in der Aktivitätstheorie im Gegensatz zur Disengagement-Theorie die Möglichkeit zugesprochen, seinen Alternsverlauf mitzugestalten. Anfang der 1970er Jahre gewann das Konzept der Altersstratifikation von Matilda Riley und Kollegen (1972) an Popularität und eröffnete einen neuen Zugang zur Untersuchung von Alter(n)sprozessen. Alter wird hier als Strukturkategorie begriffen, über die die soziale Schichtung der Gesellschaft nachgezeichnet und erklärt werden kann. Alter wird als unabhängige Variable gehandelt, die (mit-)bestimmend auf die soziale Ordnung und in der Gesellschaft bestehende Rollenerwartungen wirkt. Arbeiten in Tradition der Altersstratifikation sammeln primär quantitative Daten zu den postulierten Altersgruppen und bieten Einblicke in die sozioökonomische Positionierung Älterer. Dem Ansatz der Altersstratifikation folgende Arbeiten beschäftigen sich mit der Vermessung der sozialen Wirksamkeit von Alter und bieten Auswege aus der Suche nach einem »natürlichen

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Für den deutschsprachigen Raum siehe die Arbeiten von Rudolf Tartler (z.B. 1961).

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Altern«. Konstanter und zentraler Kritikpunkt an diesem Ansatz ist, dass er Altersgruppen zu sehr homogenisiere und Unterschiede innerhalb der Kohorten negiere und vernachlässige. Weitere Forschungsprogramme, die sich unter dem Begriff der Alter(n)stheorien sammeln oder als zentral im Diskurs über Alter(n) gelten, sind beispielsweise die primär psychologisch orientierten Ansätze des »differentiellen Alterns« (vgl. Lehr und Thomae 1987) und das »Modell der selektiven Optimierung und Kompensation« (SOK-Modell) (vgl. Carstensen 1992).8 In gesellschaftsdiagnostischer Perspektive wies Hans Peter Tews (1993) auf den Strukturwandel des Alters im Alternsstrukturwandel hin.9 Auch Perspektiven auf sozialen Ungleichheiten (vgl. Naegele 1991; Amann 1993) werden aufgegriffen, um die Einbindung des Alter(n)s in gegenwärtige Gesellschaftsformationen zu erschließen. In der forschungsgeschichtlichen Entwicklung zum Alter(n) besteht Einigkeit darüber, dass Wissenschaft als gesellschaftlicher Teilbereich selbst Alter(n)sbilder bestärkt, verändert und produziert. Konsens besteht auch darüber, dass Alter spätestens seit den 1980er Jahren prädominant von einem »Abgrenzungskonzept« zu einem »Gestaltungsprojekt« (Göckenjan 2000, S. 418) im gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs geworden ist.10 In diesem Zusammenhang weist

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Während die biologische und medizinische Forschung Alter(n) zunächst medikalisierte und typische Alter(n)sverläufe aufzeigte, zeigte psychologisch orientierte Forschung über den Ansatz der »differentiellen Gerontologie« unterschiedliche Alternsverläufe von Individuen auf und stellte Altersstereotype zur Diskussion.

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Tews (1993) weist einerseits auf einen quantitativen Altersstrukturwandel hin, der sich vor allem in einem Anstieg der Lebenserwartung und einer niedrigen Fertilitätsrate begründet. Zum anderen zeigt Tews einen qualitativen Strukturwandel des Alters auf, der sich gegenwärtig über die fünf Trends Verjüngung, Entberuflichung, Feminisierung, Hochaltrigkeit und Singularisierung des Alters zeige. Das Alter als Lebensphase differenziere sich aus, sodass nicht mehr von »den Alten« gesprochen werden könne. Kathrin Hahn (2011) ergänzt mit »transnationaler Mobilität« einen weiteren, aus ihrer Perspektive relevanten Trend des Strukturwandels des Alters (siehe Kapitel 2.2.3).

10 So formuliert Peter Zeman treffend: »Die optionale Vielfalt unterschiedlicher Konzepte gelingenden Alterns wird zwar einerseits als wichtiges Merkmal im gesellschaftlichen Bedeutungswandel des Alterns hervorgehoben, andererseits aber auch eingeschränkt durch einen zunehmend normativen Druck, vorhandene Potenziale leistungs- und erfolgsorientiert in Aktivitäten umzusetzen, die nicht nur für die individuelle Selbstverwirklichung produktiv sein sollen, sondern auch für andere und die Gesellschaft.« (2011, S. 190)

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von Kondratowitz darauf hin, dass die sozialpolitische Architektur einer nationalen Gesellschaft bei der jeweiligen Konstruktion von Alter in wissenschaftlichen Betrachtungen nicht außer Acht gelassen werden darf: »Der Komplex des Alterns ist daher heute nicht mehr sinnvoll zu diskutieren, ohne dass man das verhaltensprägende und -steuernde Interventionsrepertoire des modernen Wohlfahrtsstaates in Rechnung stellt; ja man wird geradezu von einer sozialen Konstruktion des gegenwärtigen Alterns durch die Regulatorien und institutionellen Vorgaben des Sozialstaates sprechen können.« (2007, S. 129)

An diese Beobachtung schließt eine zentrale Kritik an alternswissenschaftlicher Forschung – insbesondere an Forschung im deutschsprachigen Raum – an. Kritisiert wird, dass die sozialstaatliche Überformung von Alt und Altern in den modernen industrialisierten Wohlfahrtsstaaten (des »globalen Nordens«) nicht ausreichend reflektiert werde. Mit Verweis auf die sich als kritisch verstehende Denkschule der »Political Economy of Ageing« in den USA, die die Kontrolle und Normierung älterer Menschen durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen und gesundheitspolitische Programme thematisiert, kritisieren beispielsweise Silke van Dyk und Stephan Lessenich (2009a, S. 19), dass in der Bundesrepublik Deutschland umfassende Leistungen für Ältere kaum problematisiert, parteiübergreifend unumstritten und scheinbar als höchstes Gut des Wohlfahrtsstaates gehandelt werden – und dies nur sehr bedingt wissenschaftlich kritisch diskutiert werde. Eher im Gegenteil: insbesondere Forschungsansätze, die unter das Konzept des »erfolgreichen Alterns« oder auch »aktiven Alters« fallen, betonten einseitig Ressourcen des Alter(n)s und würden sich in den Dienst eines neoliberalen und Aktivität propagierenden Gesellschaftsregimes stellen (vgl. ebd., S.15).11 Den Fokus auf Versorgungsdimensionen lenkend, relativiert Gerhard Wegner die Bedeutung der Frage, inwiefern Akteure für die Prädominanz von aktivgesellschaftlichen Erwartungen an das höhere Lebensalter verantwortlich gemacht werden können: »Wieweit es sich hierbei um empirische Analyse oder aber um das aktive Erfinden eines neuen Sozialtypus der produktiven, aktivierten und ebenso jungen Alten handelt, ist letztlich

11 Auch Göckenjan (2009, S. 235) beschreibt das »Aktive Alter« als Ideologiekonstrukt, das gegenwärtig hegemonial die Denkform des Alters bestimme. Vom »aktiven Alter« abweichende Thematisierungen des Alters würden als nicht mehr akzeptierbar, politisch unkorrekt und altenfeindlich angesehen. Dies träfe jedoch auch auf ältere Altersattributierungen – wie das gottesfürchtige, liebevolle und fürsorgliche Alter – zu.

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nicht mehr unterscheidbar: Beides fließt ineinander. Entscheidend ist hingegen, dass ein betont fürsorglicher Schutz der Älteren nicht mehr für nötig gehalten wird, da sie letztlich für sich selbst sorgen könnten – ja ein solcher Schutz sie entmündigen würde.« (2013, S. 156)

Fragen, wie Schutz- oder Versorgungsbedürftigkeit Älterer gesellschaftlich zugeschnitten und bewältigt werden, bleiben so ein zentrales Kriterium im sozialen Umgang mit als auch in der Konstruktion von Altern im höheren Lebensalter. 2.1.2 Versorgungserwartungen im Alter Wie sich Versorgungserwartungen im Kontext von Alter und Altern konstituieren, aus welchen Zusammenhängen sie sich gebildet haben und wie sie mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zusammenwirken wird aus verschiedenen disziplinären Perspektiven betrachtet.12 Als zentrales Moment der Versorgungsfrage formuliert Andreas Mayert dabei folgenden Sachverhalt: »Die Absicherung des Risikos, durch Alter oder Krankheit fortdauernd nicht mehr zur Verrichtung jener Tätigkeiten in der Lage zu sein, die zur Bestreitung des Lebensunterhaltes notwendig sind, ist ausschließlich durch das Eingehen sozialer Beziehungen möglich. […] Wenn für die Alltagsbewältigung pflegerische Hilfe erforderlich wird, ist die Notwendigkeit eines sozialen Bezugs noch offensichtlicher. Zur Absicherung von Alter und Invalidität muss es somit immer mindestens eine andere Person geben, die in der Lage und willens ist, kontinuierlich die für den Lebensunterhalt benötigten Güter bereitzustellen oder pflegerische Dienste zu erbringen.« (2013, S. 41)

12 So definiert beispielsweise Holger Pfaff Versorgungsforschung als ein »als ein fächerübergreifendes Forschungsgebiet, dass die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen […] evaluiert« (2003, S. 13). Pfaff argumentiert weiter, dass sich bisherige Forschungsschwerpunkte in der weit überwiegenden Zahl der Untersuchungen auf medizinisch und pflegewissenschaftlich ausgerichtete Wirksamkeitsstudien konzentrierten. Dabei griffen sie mehrheitlich bereits bestehende medizinische und pflegerische Versorgungsstrukturen auf. Das Interesse an breiter angelegten Forschungsperspektive wachse zwar, aber bisher würden vor allem ökonomische Fragestellungen (z. B. zu integrierter Versorgung, Einbeziehung weiterer Berufsgruppen in Versorgungsstrukturen, patientenzentrierte Versorgung) verfolgt.

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In Gesellschaften lassen sich komplexe Umgangsweisen mit Versorgungsbedarf im Alter aufzeigen. In diachronen und synchronen Perspektiven finden sich daher in öffentlichen, sozialpolitischen und wissenschaftlichen Diskussionen unterschiedliche Zugänge, Verständnisse und Umsetzungsstrategien von »Schutz«, »Kümmern«, »Hilfe«, »Fürsorge«, »Versorgung«, »Pflege«, »Unterstützung«, »Care«, »Sorge« oder auch »Beistand« für Ältere. Eng mit diesen Begriffen sind jeweils entsprechende – mehr oder weniger formalisierte – Institutionen verbunden. Darunter fallen beispielsweise die Familie und die Nachbarschaftshilfe als auch komplexe Versorgungsstrukturen wie staatlich oder in spezifischen (z. B. religiös oder kulturell begründeten) Gemeinwesen regulierte soziale Sicherungssysteme. Im Folgenden werden zwei Thematisierungsebenen von Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n) vorgestellt, die bei der Betrachtung des Diskurses zu älteren Migranten in Deutschland aufschlussreich sind. Dabei ist zunächst auf ein modernisierungstheoretisches Paradigma in der klassischen wissenschaftlichen Thematisierung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen hinzuweisen.13 Im Kontext modernisierungstheoretischer Gesellschaftsdiagnosen werden Veränderungen der sozialen Stellung Älterer thematisiert. Als zentral gilt in diesem Diskurs, dass das hohe Lebensalter mit der Wende zur Moderne einen erheblichen Macht- und Reputationsverlust in vielen gesellschaftlichen Bereichen erfahren habe. So hätten die Verschriftlichung von Wissen und die breite Institutionalisierung von Bildungssystemen zu einem Bedeutungsverlust der mündlichen Wissensweitergabe von Älteren geführt. Darüber hinaus hätten die mit der Industrialisierung einhergehenden Veränderungen die Stellung Älterer sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch innerbetrieblich geschwächt. Dazu habe die im Zuge der Modernisierung entstandene Kernfamilie Ältere zunächst familiär marginalisiert und dann in außerfamiliäre Existenzformen gedrängt. In einer zukunftsprognostischen Weiterführung wird mit einer fortschreitenden sozioökonomischen Entwicklung eine gesellschaftliche Schlechterstellung Ältere erwartet (vgl. Deimling 1998; Kondratowitz 2007, S. 134 f.). Nicht unabhängig von dieser modernisierungstheoretischen Deutung des höheren Lebensalters in modernen Gesellschaften wird eine sozialpolitische Überformung des Alter(n)s diskutiert. Kennzeichnend für die gesellschaftliche Entwicklung seit der Moderne ist die Etablierung und Ausdifferenzierung von Wohlfahrtsstaaten. In ihnen wird das höhere, potenziell versorgungsbedürftige Alter

13 Von Kondratowitz (2009, S. 256) bezeichnet die Modernisierungstheorie auch als »heimliche Hintergrundtheorie« der Gerontologie.

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gesellschaftlich als ein »soziales Problem« verhandelt und so zu einer sozialpolitischen Aufgabe (vgl. Kondratowitz 2000). Die Erosion familialer Alterssicherung im 19. Jahrhundert eröffnete Raum für beziehungsweise erzwang staatliche Eingriffe in die Altersversorgung der Bürger (vgl. Ehmer 2007; Mayert 2013). Im Zusammenhang mit staatlich regulierten Sicherungsstrukturen entwickelt und institutionalisiert sich die »Altenhilfe« im Kontext der Sozialen Arbeit. Und auch die stationäre pflegerische Versorgung (älterer) chronisch Kranker gewinnt als eigenes Tätigkeitsfeld an Kontur. Da sich das Aushandeln von Versorgungsstrukturen für Ältere seit der Etablierung von Wohlfahrtsstaaten prädominant im nationalen Rahmen vollzieht, spielen nationalgesellschaftliche Situationen eine bedeutende Rolle. Entsprechend der institutionellen Schließung müssen Individuen die jeweiligen Mitgliedskriterien (Staatsangehörigkeit, Rentenanwartschaften, Wohnsitz) erfüllen, um Anteil am Hilfesystem haben zu können. Entsprechend des wachsenden quantitativen und qualitativen Bedarfs an familienexternen Versorgungsleistungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland ein Institutionengeflecht für Versorgungsleistungen Älterer entwickelt. Im Kontext der staatlichen Neuordnungen nach dem zweiten Weltkrieg wird in der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Ziel Altersarmut zu überwinden, 1957 eine bedarfsdeckende, dynamische Altersrente im Umlageverfahren für die Mehrheit der Bevölkerung eingeführt. Sie gliederte Ältere aus dem Arbeits- und Erwerbsprozess aus14 und sichert einen erheblichen Anteil der Altersversorgung durch ein (generationenübergreifendes) Kollektiv von Versicherten ab. Ähnliches gilt für Staatsbedienstete. Im Zusammenwirken mit der gesetzlichen Krankenversicherung und der 1995 eingeführten Pflegeversicherung sowie weiteren Regelungen des Sozialgesetzbuches (beispielsweise »Grundsicherung im Alter«, »Hilfe zur Pflege«) sind gegenwärtig zentrale Aspekte der Versorgung Älterer in der Bundesrepublik Deutschland (trotz des geltenden Subsidiaritätsprinzips) sozialstaatlich überformt und in institutionalisierten Strukturen gelenkt. Dabei werden familiäre und zivilgesellschaftliche Versorgungsleistungen nicht verdrängt oder substituiert, sondern es entstehen Wohlfahrtsmixe, die sich auf verschieden charakterisierte Akteure stützen.15

14 Die Altersrente ermöglichte erst das Konzept des »wohlverdienten Ruhestands« und der »späten Freiheit« (Rosenmayr 1983) für die Bevölkerungsmehrheit in der Bundesrepublik Deutschland. 15 Modernisierungstheoretische Thesen aufgreifend, wird kritisch gefragt, inwiefern der leistungsfähige Wohlfahrtsstaat mit seinen Umverteilungs- und Dienstleistungssystemen familiale Initiativen der Versorgung Älterer verdrängt oder substituiert (auch diskutiert unter: »crowding-out« versus »crowding-in«). Aktuelle Untersuchungen zu

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Das Altenhilfesystem in Deutschland hat so in den vergangenen Jahrzehnten bereits vielfältige Entwicklungsprozesse durchlaufen. Dabei können unterschiedliche Alter(n)sbilder als strukturprägende Leitbilder in der Altenhilfe seit den 1950er Jahren differenziert werden (siehe z. B. Baumgartl 1997). Um auch zukünftig proklamierte Versorgungs- und Steuerungsansprüche durchsetzen zu können, wird in den verschiedenen Feldern der Altenhilfe beispielsweise auf das Instrument der Sozialplanung zurückgegriffen.16 Diese stützt sich auf Ergebnisse der Sozialberichterstattung sowie des wissenschaftlichen Diskurses. Dabei hat sich in der Beschreibung und Analyse von Versorgungsbedarfen Älterer die Unterscheidung zwischen psychosozialer Unterstützung, gesundheitlich-pflegerischer Versorgung und sozialrechtliche Absicherungen etabliert. Insbesondere lebensweltliche Berichte aus der Praxis der Migrationsberatung und Altenhilfe über die Versorgungssituation älterer Migranten in der sozialen und gesundheitspflegerischen Altenhilfe haben Impulse in fachöffentliche und wissenschaftliche Diskurse gesendet. Exemplarisch für die wissenschaftliche Reflexion und Beurteilung der Versorgungssituation älterer Migranten kann beispielsweise ein Zitat mit Bezug auf das Gesundheitssystem von Patrick Brzoska und Oliver Razum vorgestellt werden: »Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen sind aber oftmals nicht auf die kulturellen Erwartungen ihrer Patienten eingestellt, vor allem dann nicht, wenn sich diese Erwartungen stark von den Vorstellungen des professionellen Systems unterscheiden. Bei Menschen mit Migrationshintergrund können soziale Barrieren sowie Schwierigkeiten mit der Landesprache des Ziellandes den Zugang zu einer angemessenen Versorgung weiter erschweren. Eine kultur- und migrationsspezifisch ausgerichtete Versorgung ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine optimale Unterstützung von chronisch Kranken.« (2009, S. 159)

dieser Fragestellung betonen, dass sowohl aus theoretischer Sicht als auch in empirischer Prüfung die Substitutions- und Verdrängungshypothese nicht zu bestätigen ist (vgl. Motel-Klingebiel und Tesch-Römer 2006; Künemund und Vogel 2006). 16 Gegenwärtig ist eine Suche nach Konzepten zu beobachten, die traditionelle Versäulung der Hilfesysteme überwindet. Dazu können Ideen den »integrierten Versorgung«, der »Koproduktion« sowie die weitergehende Vernetzung von Akteuren in Quartieren oder Versorgungsnetzen beobachtet werden (siehe z. B. Schmidt et al. 1999; Schmidt 2012; Wüthrich et al. 2015). Darüber hinaus wird diskutiert, inwiefern die steigende Anzahl von Hochaltrigen das Altenhilfesystem herausfordert (z. B. Amrhein et al. 2015) und wie Versorgung auch im ländlichen Raum langfristig abgesichert werden kann (z. B. Fachinger und Künemund 2015).

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Ähnliche Schlussfolgerungen ziehen beispielsweise Vertreter der Sozialen Arbeit in der Altenhilfe (z. B. Hahn 2011). Es steht daher zur Frage, inwiefern Alter(n)sund Versorgungserwartungen national, kulturell und religiösen geprägt sind und welche Rolle institutionalisierte Systeme der Altenhilfe dabei spielen. 2.1.3 Migration, Kultur und Religion als Herausforderung der wissenschaftlichen Untersuchung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Wie die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht haben, werden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen differenziert und multiperspektivisch sowohl theoretisch diskutiert als auch empirisch untersucht. Auch die Gruppe der alten und älter werdenden Migranten wird – wie in den folgenden Kapiteln aufgezeigt wird – seit über zwanzig Jahren kontinuierlich erforscht und im wissenschaftlichen Diskurs verhandelt.17 Doch bei einer kritischen Reflexion der forschungsgeschichtlichen Entwicklung des Themenfeldes »Alter und Migration« wird sichtbar, dass die Präsenz älterer Migranten etablierte Forschungsperspektiven herausfordert und Forschungsleerstellen aufzeigt. Denn insbesondere Impulse aus jüngeren Diskursen der Migrations- und Kulturwissenschaften sowie der Ethnologie finden sich in die diesem Themenfeld kaum. So können frühere Zusammenfassungen von Forschungsständen heute durchaus kritisch gelesen werden. Beispielsweise ein Ausschnitt aus dem 6. Familienbericht der Bundesregierung:

17 Maria Dietzel-Papakyriakou (2012, S. 437) datiert den Anfang der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas »Altern und Alter in der Migration« auf das Jahr 1986. In diesem Jahr stellte sie den ersten Antrag zur Förderung für ein Forschungsprojekt in diesem Themenfeld an das damalige Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Als erste Publikationen zum Themenbereich »Alter und Migration in Deutschland« kann beispielsweise auf die Arbeiten von Melek Baklan (1988), Konrad Hummel (1988) und Maria Dietzel-Papakyriakou (1988; 1990; 1993) hingewiesen werden. Dietzel-Papakyriakou sieht seit dem Ende der 1990er das Themenfeld als im wissenschaftlichen Diskurs etabliert an (ebd., S. 442). Helen Baykara-Krumme, Andreas Motel-Klingebiel und Peter Schimany hingegen sehen im Jahr 2012 das Forschungsfeld »Ältere Migranten« im Schnittpunkt von Alter(n)s- und Migrationsforschung als nicht etabliert an – »weder in Deutschland, noch in anderen europäischen Ländern, die eine ähnliche demographische Entwicklung erleben« (2012, S. 11).

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»Das Alter ist auch die Zeit der verstärkten Beschäftigung mit der Vergangenheit, der Rückerinnerung, der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und der Suche nach metaphysischen Erklärungen und Stützen in religiösen Werten und Einstellungen. Vor allem für ältere Menschen ausländischer Herkunft, die aus bäuerlichen, wenig säkularisierten Gesellschaften stammen, bilden hierfür eigenethnische Beziehungen die einzige Möglichkeit: Sie basieren auf multiplen Vernetzungen von Familienverbänden, in denen die gemeinsamen Traditionen, Sprache und Geschichte in relativer sozialer Homogenität gepflegt werden.« (BMFSFJ 2000, S. 121)

In diesem, den damaligen Forschungsstand durchaus richtig zusammenfassenden Zitat, wird die Absicht erkennbar, beobachtete Verhaltensweisen älterer Migranten in Deutschland nicht als Integrationsverweigerung (wie es oftmals behauptet wurde), sondern als sinnvoller Umgang mit dem Altern in der Fremde zu deuten. Durch solche Formulierungen sollte (Anpassungs- oder auch Integrations-)Druck von älteren Migranten in Deutschland genommen werden, indem ihr Verhalten als scheinbar natürlichen Alternsprozessen angemessen beurteilt wird. Gleichzeitig lassen sich in dieser Argumentation Hinweise auf ein hier zugrundeliegendes Alter(n)sbild sowie auf Religions-, Kultur- und Ethnienverständnis finden: Den Disengagement-Ansatz aufgreifend wird das Alter als Zeit des Rückzugs und der inneren Einkehr gedeutet. Nur eine ethnische Homogenität ermöglicht diese Ruhe. Gleichzeitig wird eine Verknüpfung zwischen Alter(n) und Religion hergestellt. Einer anthropologischen Konstante gleich, scheint das Alter durch die zu erwartende körperliche Gebrechlichkeit ein Bearbeiten von Lebenssinnfragen zu verlangen – oder es fördere durch den zeitnahen Tod einen Umgang mit transzendenten Sinnangeboten. Darüber hinaus setzt das angeführte Zitat in modernisierungstheoretischem Duktus eine Differenz zwischen den nicht weiter benannten aus Deutschland Stammenden und Personen ausländischer Herkunft. Aus der zitierten Argumentation lässt sich schließen, dass Personen mit ausländischer bäuerlicher Herkunft, die auch nur wenig säkular – ergo religiös – orientiert sind, ihr Alter(n) nur dann gut händeln können, wenn es in der bekannten Sprache, Tradition und in ethnisch homogenen Netzwerken verbracht werden kann. Sie bleiben somit für die autochthone Gesellschaft »Fremde«, da sie ihnen unverständlich bleiben, die Unterschiedlichkeit essentiell ist. Solch statischen und kausalistischen Argumentationen in Bezug auf das Altern von Migranten wird in

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den letzten Jahren zunehmend widersprochen und es werden ihnen neue Ansatzpunkte entgegengesetzt.18 Lenkt man den Aufmerksamkeitsfokus bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Alter(n)s- und Versorgungserwartungen weg von der Gruppe der älteren Migranten, hin zu der Frage, inwiefern Zusammenhänge zwischen Alter(n), Migration, Kultur und Religion in globalen Zusammenhängen angenommen werden, so ist festzustellen, dass theoretische und empirische Analyseperspektiven brachliegen. Fragestellungen die sich aus Migrationskontexten oder auch mit einem Fokus auf Kultur und Religion ergeben, haben bisher nur rudimentär Beachtung in der Alter(n)s- und Versorgungsforschung gefunden. In der Gerontologie wurde unter dem Begriff »Ethnologien des Alterns« vor allem der Anspruch formuliert, die Diversität von einheimischen Älteren zu erforschen – ohne sich dabei auch schon auf ältere Migranten beziehungsweise auf globale Unterschiedlichkeiten zu beziehen. Daher finden sich in der Theoriegenerierung und dem Diskurs der deutschsprachigen Alter(n)sforschung nur in geringem Ausmaß Aspekte, die Migration, aber auch Kultur und Religion in diachronen wie synchronen Dimensionen berücksichtigen. Auch aus diesem Zusammenhang heraus, ist die Frage, inwiefern alter(n)swissenschaftliche Diskurse im deutschsprachigen Raum Deutungsmacht in Bezug auf ethnische, kulturelle oder auch religiöse Abgrenzungsprozesse und Hierarchisierungen ausüben und reproduzieren, bisher nicht aufgeworfen worden. Zumindest im deutschsprachigen Raum ist es auffällig, dass bei der wissenschaftlichen Verhandlung von Alter(n)s- und Versorungserwartungen transnationale oder auch weltgesellschaftliche Dimensionen bisher nicht systematisch und kontinuierlich berücksichtigt werden. In internationalen beziehungsweise englischsprachigen Diskursen wurde auf diese möglichen Ressourcen bereits mehrfach hingewiesen. So bemerkt Kevin Kinsella (2000, S. 541), dass die Alterung von Gesellschaften zwar häufig als ein globales Phänomen deklariert wird, aber globale Erfahrungen und Interaktionen derer, die älter werden, bisher recht undokumentiert geblieben seien. Celia Bevan (2001, S. 21) schlägt vor, die Zusammenhänge zwischen Globalisierungsphänomenen und der Alterung von Gesellschaften weiter zu erforschen, um ein tieferes Verständnis darüber zu erhalten, wie Ökonomie und Gesellschaft ältere Menschen einbinden und sich Variationen in ihren Lebensstilen und Kulturen entwickeln. Chris Phillipson (2006, S. 43) fordert, Altern nicht länger primär als nationales Problem zu sehen,

18 So beispielsweise Ute Karl (2012), die das Konzept der »imagined communities« und »imagined families« für die Schnittstelle der Unterstützungsforschung zwischen Alterns- und Migrationsforschung vorschlägt.

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sondern als nationale Grenzen überschreitendes globales Phänomen zu betrachten. Und auch von Kondratowitz, eine prominente Stimme in Forschungsfeldern zu Alter(n) in Deutschland, formuliert: »Die heute gerade im internationalen Vergleich sichtbare und erfahrbare Gleichzeitigkeit sozialer Prozesse, die nicht nur lokale Traditionen, Bedeutungen und kulturelle Orientierungen, sondern auch global wirksame ökonomische und kommunikative Einflüsse sich überlagern lässt, wird auch das Altern in diesen ›verwobenen Modernen‹ zukünftig neu thematisieren und damit Anregungen der Post-Colonial Studies aufnehmen müssen.« (Hervorhebung im Original) (2007, S. 139)19

Doch nicht nur die Post-Colonial-Studies (siehe dazu Kapitel 2.3.2) können die Bearbeitung des Themenfeldes »Alter(n) und Migration« in Deutschland weitere Impulse geben, sondern auch die Ausarbeitungen zum methodologischen Nationalismus von Andreas Wimmer und Nina Glick-Schiller (2002). In diesem Sinne ist eine der Altern(n)sforschung unterstellte Migrationsblindheit kein außergewöhnliches Phänomen. Kennzeichnend für einen methodologischen Nationalismus, wie Wimmer und Glick-Schiller ihn für die Sozialwissenschaften beschrieben, ist, dass sich die jeweilige disziplinäre Aufmerksamkeit über nationale Grenzen strukturiert oder nationale beziehungsweise regionale Gegebenheiten unthematisiert übergehen. Wimmer und Glick-Schiller (2002, S. 302 ff.) bennen drei Varianten20 des methodologischen Nationalismus, die sich auch auf die Altern(n)sforschung im (deutschsprachigen) Raum anwenden lassen: während in den grand theories der Alternsforschung, den Alternstheorien (z. B. Aktivitätstheorie, Disengagement-

19 Den Begriff der »verwobenen Modernen« brachte Shalini Randeria (1999) in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Andere prägnante Beschreibungen für ähnlich umrissene Phänomene sind der Ausdruck des »Globalen im Lokalen« (»glocal«) (z. B. Hall 2012a) und die von Hartmut Rosa beschriebene »potenzierende Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse« (2005, Klappentext) als Folge der Beschleunigung von Zeitstrukturen. 20 »The three variants of methodological nationalism that we have discerned in our tour d’horizon across disciplines and times are thus ignorance, naturalization and territorial limitation. The three modes intersect and mutually reinforce each other, forming a coherent epistemic structure, a self-reinforcing way of looking at and describing the social world. The three variants are more or less prominent in different fields of enquiry. Ignorance is the dominant modus of methodological nationalism in grand theory; naturalization of ›normal‹ empirical science; territorial limitation of the study of nationalism and state building.« (Wimmer und Glick-Schiller 2002, S. 308)

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theorie, SOK-Modell, soziale Kontinuitätstheorien) die nationalgesellschaftliche Ordnung des Sozialen keine Beachtung erfährt, kann bei Studien mit empirischen Datenerhebungen als auch bei Theorien mittlerer Reichweite eine Naturalisierung in nationalen Forschungsprojekten als auch eine Limitierung der Aussagen durch nationalstaatliche Rahmungen beobachtet werden. Nationalstaaten und darüber definierte Nationalgesellschaften bilden die oftmals die unhinterfragte soziale Wirklichkeit von empirischen Studien und generalisierten Aussagen beziehungsweise Hypothesen im Kontext von alterns- und versorgungswissenschaftlicher Forschung21 (vgl. Krawietz und Strumpen 2013). Bei der Überwindung eines methodologischen Nationalismus geht es weder darum Nationalstaaten und ihre Institutionen wegzuerklären, noch jegliche Forschung auf Migrationsprozesse auszurichten. Vielmehr soll die Bedeutung der nationalstaatlichen Aufgliederung der sozialen Welt und daran hängende ethnisch, kulturelle und religiöse Implikationen in ihrer wissenschaftlichen Relevanz – auch Alter(n)s- und Versorgungserwartungen betreffend – neu verhandelt werden. Es ist dabei nicht Ziel, Alter(n)s- und Versorgungsforschung neu zu erfinden, jedoch Migranten nicht als exkludierten Sonderfall der Gesellschaft zu behandeln. In diesem Sinne bieten Fragestellungen um Phänomene von Migration und Alter(n) insbesondere für die Alter(n)s- und Versorgungsforschung eine Chance. So können bestehende Theoriegerüste sowie empirische Untersuchungen durch die Einbeziehung von Migrationsaspekten als auch der stärkeren Sensibilisierung gegenüber Kultur und Religion, gewinnbringend erweitert beziehungsweise überprüft werden. Gleichzeitig ist zu betonen, dass Religions-, Kultur- und Migrationswissenschaften sich zu einem großen Teil altersblind verhalten. In diesen Disziplinen werden nur in sehr begrenztem Maße Forschungsergebnisse mit einem Bezug zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen publiziert und diese scheinen oftmals ein unreflektiert naturalisiertes Alter(n)sbilder zu reproduzieren.

21 So werden beispielsweise Fragen der Pflegeversorgung Älterer fast ausschließlich im Kontext nationaler Wohlfahrtssysteme verhandelt. Pflegeerwartungen, die über nationalstaatliche Rahmungen hinausgehen, kommen nur marginal in den Fokus von alternsund versorgungswissenschaftlichen Forschungsprojekten in Deutschland.

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2.2 ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN IM K ONTEXT VON M IGRATION Kultur und Religion im Zusammenhang mit Alter(n) wird im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs fast ausschließlich im Kontext von Migration, also mit Bezug zu älteren Migranten diskutiert. Als Migration wird gemeinhin jede dauerhafte Verlagerung des Wohnsitzes oder auch des Aufenthaltsortes definiert. Unterschieden wird zunächst zwischen Binnenmigration als Wanderung innerhalb eines Staates und der über Staatsgrenzen hinweg stattfindenden internationalen Migration. Jedoch erschöpft sich das Themenfeld »Migration« nicht in der Beobachtung und statistischen Erfassung dieser Wanderungsbewegungen. Vor allem an Migrationen gebundene komplexe soziale Prozesse werden sowohl öffentlich als auch wissenschaftlich kontrovers diskutiert. Gefragt wird dabei nach Gründen, die zu Migrationen führen sowie nach von Migration angestoßenen Prozessen. Insbesondere Staatsgrenzen überschreitende Migration gilt nicht nur als territoriale, sondern auch als symbolisch aufgeladene Grenzüberschreitung. Sie ist verbunden mit Erfahrungen unterschiedlicher sozialer Ordnungen, die individuell, institutionell und gesellschaftlich verhandelt werden. Zur Erklärung dieser Abweichungserfahrungen wird unter anderem auf »Kultur« und »Religion« zurückgegriffen, sodass im Diskurs über Migration immer auch Argumente mit Bezügen auf kulturelle oder religiöse Prägungen oder auch Identitäten von Gesellschaften, Organisationen und Individuen hergestellt werden. Dies geschieht auch im Kontext der fachöffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Themenfeld von »Alter und Migration«. Unterschiedliche Migrationsmotive, das Alter bei der Migration, Aufenthaltsdauer und -status, sozioökonomische und politische Bedingungen in den Herkunfts- und Ankunftsländern werden ebenso zur Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartugen älterer Migranten herangezogen wie die national-kulturelle Herkunft und jeweilige religiöse Prägung.22 In Deutschland ist in der wissenschaftlichen Bearbeitung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Migration jedoch

22 So ist im fünften Altenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 formuliert: »Die Migrantenbevölkerung ist in sich sehr heterogen. […] Die Heterogenität ergibt sich nicht nur durch die soziale Schichtzugehörigkeit, sondern auch aus vielfältigen, je nach Migrantengruppe möglichen Kombinationen von Merkmalen. Darunter fallen etwa die nationale, ethnische, religiöse Zugehörigkeit, die Aufenthaltsdauer, aber auch der gruppenspezifische Migrationsstatus« (BMSFJ 2006, S. 227).

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festzustellen, dass der sich im »Zeitalter der Migration« (Castles et al. 1993)23 vollziehende Wandel in den Migrationstheorien nur wenig prominent diskutiert wird. Die ersten großen und bis heute breit rezipierten Arbeiten orientieren sich an klassischen (Smith 1776; Ravenstein 1885) und ökonomisch orientierten (z. B. Lee 1966) Migrationstheorien.24 Kennzeichnend hierfür ist eine als eindimensional zu bezeichnende Perspektive, in denen Migration unidirektional erfolgt und Integration als eine von Einwanderern zu erbringende Leistung konzipiert wird. Wie bereits dargestellt (siehe Kapitel 2.1.3), verdeutlicht die zunehmende Popularität transnational geprägter Forschungsperspektiven einen Paradigmenwechsel insbesondere in der Migrationsforschung. Neuere Migrationstheorien (z. B. Parekh 1994) erweitern die Betrachtungsdimensionen von Migration und nehmen Austausch- und Transformationsprozesse verstärkt in den Fokus. In der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themenfeldes »Alter(n) und Migration« wird zwar zunehmend auf die Bedeutung transnational geprägter Perspektiven hingewiesen (z. B. BMFSFJ 2000; Schroer und Schweppe 2009; Pries 2013), jedoch werden sie bisher nur vereinzelt systematisch angewendet. Vermutlich aus diesem Zusammenhang heraus lässt sich fast der gesamte Forschungsstand zum Themenfeld »Alter(n) und Migration« in Deutschland in zwei kaum im Zusammenhang diskutierte Perspektiven einordnen. Auf der einen Seite findet sich das Themenfeld »Altern in der Migration«, das Personen, die im jungen Lebensalter migriert sind und nun im Immigrationsland Deutschland altern, fokussiert. Auf der anderen Seite wird zu »Migration im Alter« geforscht, also zu Personen, die sich im Alter zu einer Migration entschließen und Deutschland als (primären) Aufenthaltsort verlassen. Unter der Perspektive »Alter(n) in der Migration« werden im deutschsprachigen Forschungskontext primär die Situationen alternder Arbeitsmigranten und (Spät-)Aussiedler sowie ihrer Familien verhandelt. Der Forschungsschwerpunkt liegt seit über zwanzig Jahren auf Untersuchungen, die beschreiben und zu erklären versuchen, inwiefern es zu Unter- und

23 Kennzeichnend für das gegenwärtige »Zeitalter der Migration« ist die Zunahme der internationalen Wanderungsbewegungen. Dabei haben sich im Vergleich zu früheren Zeiten die Wanderungsrichtungen umgekehrt. Während bis in die 1960er Jahre die Hauptwanderungsströme vom globalen, industrialisierten Norden in die weniger entwickelten Gebiete des globalen Südens zogen, verlaufen nun die großen Einwanderungsrichtungen multidirektional. Dadurch sind aus den ehemaligen Emigrationsländern in Europa auch Immigrationsländer geworden. 24 Everett Lee entwickelte den »Push- und Pull«-Ansatz, der Migration als eine rationale Entscheidung konzipiert. Auf diesen Ansatz beziehen sich auch weitere migrationstheoretische Ansätze.

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Fehlversorgung von älteren Migranten im Bereich der Gesundheits- und Pflegeversorgung in Deutschland kommt. Bisher dominieren deskriptive und problemorientierte Forschungsperspektiven, in deren Folge auf mögliche sozial-politische Handlungsbedarfe aufmerksam gemacht wird (vgl. Strumpen 2012, S. 419). Auch ältere Türkeistämmige werden in diesem Kontext untersucht. Dabei gehen sie mehrheitlich mit Migranten aus anderen Herkunftsländern in einer Untersuchungsgruppe auf (z. B. bei Dietzel-Papakyriakou 1993; Hielen 1995; Olbermann 2003; Paß 2006; Mölbert 2005; Hahn 2011), wobei sich auch Untersuchungen finden, die speziell die Gruppe der älteren Migranten aus der Türkei fokussieren (z. B. bei Özakin 1993; Krüger 1995; Spohn 2002; Krumme 2003; Prätor 2009; Straka und Fabian 1993; Ulusoy und Grässel 2010; Yilmaz 2011; Yilmaz-Aslan et al. 2013; Rohstock 2014). Die zweite Perspektive, der »Migration im Alter«, wird im deutschsprachigen Raum über die sogenannte Ruhestandsmigration25 erschlossen. Hierbei handelt es sich um Personen im höheren Lebensalter, die nach dem Austritt aus der Erwerbstätigkeit in ein anderes Land migrieren. In dieser Perspektive spielen vor allem Deutsche eine Rolle, die ihren Lebensmittelpunkt im Ruhestand zumeist an sonnige Küstenregionen in südlicheren Gebieten (wie beispielsweise Spanien, Griechenland, Thailand) verlegen (z. B. Schneider 2010; Kaiser 2011). Die Türkei als Emigrationsziel deutschlandstämmiger Ruhestandsmigranten ist bisher kaum spezifisch untersucht worden. Dennoch ist bekannt und vor Ort zu beobachten, dass in bestimmten Regionen in der Türkei Communities älterer Deutschlandstämmiger bestehen (vgl. Böhm 2013; Strumpen 2013). Eine zusammenführende und systematische Analyse empirischer Befunde dieser beiden Forschungsperspektiven im Kontext neuer Migrationstheorien steht bis jetzt aus. Dabei bietet gerade die internationale Pendelmigration Älterer, die sowohl ein Altern in der Migration als auch eine (fortwährende) Migration im Alter darstellt, dazu eine gewinnbringende Untersuchungsgruppe. Im Folgenden werden in einem ersten Abschnitt zentrale Forschungserkenntnisse zur Situation von in Deutschland alternden Migranten und aus Deutschland migrierenden Älteren aufgeführt.26 In einem folgenden Abschnitt wird herausgestellt, inwiefern Migration dabei als relevanter Einflussfaktor auf Alter(n)s- und

25 Wird auch als »Ruhesitzwanderung« oder »saisonale Migration« bezeichnet. International hat sich für das Phänomen das von dem Englischen Ausdruck »international retirement migration« abgeleitete Akronym »IRT« durchgesetzt. 26 An dieser Stelle ist eine detaillierte Aufführung aller derzeitigen (quantitativen) Forschungsergebnisse älterer Migranten in Deutschland nicht zielführend. Eine Zusammenstellung von Daten, Informationen und Hintergründen zur Lebenssituation älterer

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Versorgungserwartungen diskutiert wird. In einem abschließenden Abschnitt wird der bisherige Gewinn und das Potential von transnational geprägten Perspektiven im Forschungsfeld der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen vorgestellt. 2.2.1 »Altern in der Migration« und »Migration im Alter« Während in den ersten Jahren der Forschung zu »Alter(n) in der Migration« in Deutschland ein umfassender Mangel an aussagekräftigen Daten jeglicher Art beklagt wurde, kann zur Beschreibung und Untersuchung der Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile auf vielfältige Erhebungen verwiesen werden. Einige zentrale Ergebnisse konnten aus den Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) ermittelt werden. Doch im Kontext des zentralen Anliegens, die Gruppe der älteren Migranten quantifizieren zu können, wurde gemeinhin kritisiert, dass amtliche Statistiken zunächst nur zwischen Ausländern und Deutschen differenzierten, sodass die Gruppe der eingebürgerten Älteren kaum zu erfassen war. Mit der Ziehung der Ausländerstichprobe in der zweiten Welle des Alterssurveys (2002) wurden ältere Migranten erstmals im nationalen Rahmen in eine repräsentative Berichterstattung zur zweiten Lebenshälfte aufgenommen. Mit der Einführung des Merkmals »Migrationshintergrund«27 in die Datenerhebung des Mikrozensus seit 2005 sind weitere Differenzierungen und Prognosen zur Gruppe der älteren Migranten in Deutschland möglich. Bei einer Gesamtbevölkerung von 81,9 Mio. Personen wiesen im Jahr 2009 28 15,7 Mio. Menschen das Merkmal »Migrationshintergrund« auf (Anteil an der Gesamtbevölkerung: 19,2 %). Von diesem Personenkreis sind 1,5 Mio. 65 Jahre und älter (Anteil an der Gesamtbevölkerung 1,8 %, Anteil an der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund: 9,3 %). Im Vergleich dazu leben in Deutschland 15, 6 Mio. Personen ohne Migrationshintergrund in einem Alter von 65 und älter (Anteil an der Gesamtbevölkerung: 19 %). Mit einem Durchschnittsalter von 34,8

Migranten in Deutschland findet sich in der Publikation »Ältere Migrantinnen und Migranten. Entwicklungen, Lebenslagen, Perspektiven« des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von 2012. 27 Das Statistische Bundesamt (2007, S. 6) zählt als Personen mit Migrationshintergrund »alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenem Elternteil«. 28 Die im Folgenden angeführten Zahlen sind dem Mikrozensus von 2009 (Statistisches Bundesamt 2011, S. 60 f.) entnommen sowie darauf basierende eigene Berechnungen.

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Jahren ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Vergleich zum Bevölkerungsteil ohne Migrationshintergrund mit einem Durchschnittsalter von 45,6 Jahren jünger. Damit gilt die Bevölkerungsgruppe der Älteren mit Migrationshintergrund in Deutschland gegenwärtig als recht klein. Jedoch ist damit zu rechnen, dass der absolute wie der relative Anteil älterer Migranten sowohl in der Gruppe der Älteren in Deutschland als auch in der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund zunehmen wird. Und obwohl Peter Zeman (2005, S. 6) darauf hingewiesen hat, dass Prognosen in Bezug auf diese Bevölkerungsgruppe aufgrund der sehr schlecht vorhersehbaren Fluktuationen durch Zu- und Fortzüge immer besonders unsicher sind, wird davon ausgegangen, dass die jüngeren Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland altern sowie weitere Personen im höheren Lebensalter nach Deutschland einwandern werden. Beispielsweise wird in einer Untersuchung von Martin Kohls (2012) aufgezeigt, dass sich die Anzahl älterer Migranten von 1,4 Mio. im Jahr 2007 bis zum Jahr 2032 auf 3,6 Mio. erhöhen kann,29 sodass mit einer Zunahme von 150 % dieser Bevölkerungsgruppe zu rechnen ist.30 Aus diesem Zusammenhang heraus wird die Gruppe der älteren Migranten als die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Deutschland beschrieben (vgl. BMFSFJ 2000, S. 171 f.; Schimany et al. 2012, S. 103 ff.). Im Kontext der Erkenntnis, dass die demographische Präsenz älterer Migranten in Deutschland weiterhin zunehmen wird, wird diskutiert, ob steuerungspolitischer Handlungsbedarf besteht. Dazu wird gefragt, inwiefern sich die Gruppe der älteren Migranten von den autochthonen Älteren unterscheidet. Dabei liegt der bisherige Forschungsschwerpunkt auf Beschreibungen und Analysen der sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Lebenssituation älterer Migranten. Obwohl immer wieder auf bestehende Binnendifferenzen verwiesen wird, sind einige bedeutsame Merkmale herausgearbeitet worden, die die Gesamtgruppe der älteren Migranten von den autochthonen Älteren unterscheidet. Aufgezeigt werden konnte beispielsweise, dass ältere Migranten in Deutschland über niedrigere Einkommen verfügen als die autochthone Vergleichsgruppe. Dies gilt sowohl für ihr persönliches Einkommen als auch ihr Ehe- und Haushaltseinkommen. Doch betrifft dies nicht alle älteren Migranten gleichermaßen. Vielmehr zeigen sich Einkommensunterschiede entlang der nationalstaatlichen Herkunft. Während Deutschen im Jahr 2002 im Alter von 65 und älter ein Haushaltsnettoeinkommen von durchschnittlich 1101 EUR zur Verfügung stand, waren

29 Bei einem angenommenen Wanderungssaldo von 100 000. Der Anteil der Älteren in der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund würde dabei auf 26 % steigen. 30 Kohls (2008, S. 42) konnte auch nachweisen, dass sich die Lebenserwartung von älteren Migranten derer der autochthonen Bevölkerung angleicht.

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es bei entsprechenden »türkischen Haushalten«31 nur 593 EUR, bei »italienischen Haushalten« 872 EUR, bei »griechischen Haushalten« 792 EUR und bei Personen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien eingewandert sind, 756 EUR (vgl. Veysel und Seifert 2004, S. 14 f.). In diesem Zusammenhang ist relevant, dass ältere Migranten seltener von privaten Vorsorgeleistungen profitieren (vgl. BMAS 2008, S. 67).32 In dessen Folge haben auch staatliche Transferleistungen für die autochthone und die ausländische ältere Bevölkerung in Deutschland eine unterschiedliche Bedeutung. Bezogen in 2002 nur 7,8 % der Deutschen über 64 Jahre Sozialhilfe, so waren es bei Ausländern der gleichen Altersgruppe 24 % (vgl. Veysel und Seifert 2004, S. 19).33 Es wird in der Literatur gemeinhin angenommen, dass die erheblichen (Erwerbs-)Einkommensdisparitäten zwischen älteren Personen mit und ohne Migrationshintergrund auch in nächster Zukunft bestehen bleiben (vgl. Frick et al. 2009, S. 40). In Erklärungen dieser Befunde wird auf ein typischerweise durchgehend niedriges Einkommensniveau in den Erwerbsbiographien von Migranten hingewiesen. Zusätzlich haben längere Zeiten von Arbeitslosigkeit, kürzere Rentenanwartschaften durch einen migrationsbedingten späten Eintritt in das Versicherungssystem sowie zwischenzeitlicher Remigration oder auch Frühverrentung aufgrund von langer Arbeitslosigkeit, schlechtem Gesundheitszustand und/oder Aufhebungsverträgen eine negative Wirkung auf das Renteneinkommen. Darüber hinaus ist bekannt, dass ältere Migranten aufgrund von Sprach- und/oder Informationsdefiziten34 sowie aus Sorge vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen Ansprüche auf staatliche Transferleistungen wie Sozialhilfe oder Wohngeld oftmals nicht geltend machen.

31 Die angeführten Daten beziehen sich auf die jeweilige Staatsbürgerschaft der Haushaltsmitglieder und nicht auf das Merkmal »Migrationshintergrund«. 32 Auch Untersuchungen, die die Altersvorsorge von türkeistämmigen Migranten in Deutschland untersuchen, zeigen auf, dass die finanzielle Lage dieser Gruppe als mehrheitlich angespannt zu bewerten ist (z. B. Sauer und Halm 2010). 33 Entsprechend dieser Befunde überrascht es nicht, dass auch ein erhöhtes Armutsrisiko für die Gruppe der älteren Migranten in Deutschland nachgewiesen werden kann: Personen mit Migrationshintergrund in einem Alter von 65 und älter sind zu 27,1 % von einem Armutsrisiko betroffen, während die gleichaltrige Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund lediglich ein Armutsrisiko von 9,7 % aufweist (Menning und Hoffmann 2009, S. 22). 34 Entsprechend einer abgefragten Selbsteinschätzung bewerten im Jahr 2002 47,6 % der über 64-jährigen Migranten aus ehemaligen Anwerbeländern ihre Deutschkenntnisse als schlecht beziehungsweise sehr schlecht (Veysel und Seifert 2004, S. 34).

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Ein weiterer Interessensschwerpunkt, der mit dem vorherigen im Zusammenhang diskutiert wird, liegt auf dem Gesundheitszustand und sich daraus ergebenden Versorgungsbedarfen älterer Migranten in Deutschland. Obwohl ein detaillierter Kenntnisstand zu Morbidität, Pflegebedarfen und Mortalität sowohl gesellschaftspolitisch als auch in Bezug auf Steuerungsvorhaben des Versorgungssystems gewünscht ist, wird seit Jahren darauf verwiesen, dass für eine differenzierte Beurteilung der gesundheitlichen Situation dieser Gruppe keine belastbare Datenbasis vorliegt. Zahlreiche Einzelbefunde belegen jedoch aus der Praxis berichtete Beobachtungen, dass die Gruppe der älteren Migranten eine höhere Gesundheitsgefährdung und mehr Krankheitsrisiken im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung aufweist. Dies trifft sowohl auf die objektive wie subjektive Gesundheitsbewertung zu.35 Hierbei ist bedeutend, dass sich der HealthyMigrant-Effekt,36 auf den sich erste Prognosen gestützt haben, relativiert und von einem »früherem Altern« (Zeman 2005, S. 37) der Migranten ausgegangen werden muss.37 Zur Begründung dieser Beobachtung wird auf den bekannten Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit verweisen. Dabei leben

35 Jeder zweite Arbeitsmigrant über 64 Jahre beurteilt den eigenen Gesundheitszustand als weniger gut beziehungsweise schlecht. Und auch die Lebenszufriedenheit ist bei dieser Gruppe niedriger als bei der autochthonen Vergleichsgruppe (vgl. Veysel und Seifert 2004, S. 25 ff.). Gleichzeitig sind Migranten von Erkrankungen des Herz-KreislaufSystems, Hypertonus sowie Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen stärker betroffen (vgl. Korporal und Dangel 2006). Arbeitsmigranten leiden häufiger unter Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystemsund der Verdauungs- und Atmungsorgane (vgl. Zeman 2005, S. 36). 36 Die von Ravenstein (1885) eingebrachte These des Healthy-Migrant-Effekts geht davon aus, dass wandernde Personen Teil einer selektive Gruppe sind, die im Vergleich zur restlichen Bevölkerung jünger und gesünder ist. Dabei wird angenommen, dass der Healthy-Migrant-Effekt umso stärker ausgeprägt ist, je weiter die bei einer Migration überwundene räumliche Distanz und das wirtschaftliche Gefälle ist. Entsprechend des Zusammenhangs von Sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist gegenwärtig zu beobachten, dass sich der ursprüngliche Vorteil des Healthy-Migrant-Effekts mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Immigrationsland nivelliert, sodass schließlich die soziale Lage beziehungsweise Schichtzugehörigkeit für den Gesundheitszustand maßgeblich ist (vgl. Richter 2009). 37 So wird davon ausgegangen, dass ältere Migranten eine höheres und im Vergleich früheres Multimorbiditätsrisiko haben (BMFSFJ 2001, S. 75 f.). Dennoch zeigt Kohls (2008) auf, dass sich die Morbiditätsraten zwischen der autochthonen und migrantischen Bevölkerung angleichen.

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die gegenwärtigen älteren Migranten durchschnittlich in als ungünstig zu bewertenden sozialen Lebenslagen: sie haben mehrheitlich einen geringen formalen Bildungsstand,38 verfügen über geringes Einkommen und Vermögen und sind sowohl hinsichtlich des Wohneigentums als auch der Wohnausstattung schlechter gestellt als die Vergleichsgruppe. Zusätzlich wird auf die gesundheitsbelastenden Arbeitsbedingungen hingewiesen, denen insbesondere angeworbene Arbeitsmigranten und ihre Angehörigen ausgesetzt waren oder auch noch sind: schwere körperliche Arbeit im Akkord, Wechsel- mit Nachtschichten, Lärm-, Schmutz-, Hitze- Kälte- oder Nässebelastung sowie lange Arbeitszeiten (Überstunden). Wie ersichtlich wurde, können bereits einige zentrale Determinanten der Lebenssituation älterer Migranten in Deutschland aufgezeigt werden. Dennoch kommt Kathrin Hahn (2011, S. 23 f.) zu dem Urteil, dass die aus amtlichen Statistiken ableitbare Datenlage als unbefriedigend zu bewerten ist. Sie kritisiert, dass bisher vorliegende qualitative und regional ausgerichtete quantitative empirische Studien diese Situation nicht ausglichen. Die teilweise sehr geringen Fallzahlen, die Heterogenität der Forschungsanliegen sowie die Fokussierung auf einige ausgewählte Staatsangehörigkeitsgruppen, und zwar vor allem auf die im Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung Eingewanderten, sprächen gegen eine Verallgemeinerbarkeit der Befunde. Auch Autoren des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2012, S. 20) bestätigen, dass bisher nur wenig belastbare Daten mit Bezug zu älteren Migranten bestehen und weiterhin viele Lebensbereiche älterer Migranten unterbelichtet seien. 39

38 Im Jahr 2002 besaßen beispielsweise 84,6 % der türkeistämmigen Migranten über 64 Jahren keine berufliche Ausbildung. 59,6 % dieser Gruppe verfügte über keinen Schulabschluss (vgl. Veysel und Seifert 2004, S. 9 ff.). 39 Kennzeichnend für die Thematisierung von Alter und Altern in der Migration in Deutschland ist die enge Verwobenheit von auf diesem Gebiet Forschenden als auch praktisch Arbeitenden. Ein zweiter Aspekt, der das Themenfeld in Deutschland charakterisiert sind von Kommunen und Ländern in Auftrag gegebene Expertisen, die dann wiederrum in Überblicksarbeiten von Wissenschaftlern zusammengefasst werden. Maria Dietzel-Papakyriakou bescheinigt der Migrationsforschung, dass sie Themen des Alter(n)s als nicht relevant genug erachtet haben: »Zugleich blieb das Thema von mancher migrationspolitischen Frontenbildung unerreichbar, denn der wissenschaftlichen Migrationsforschung schien das ›Altern und Alter in der Migration‹ zuerst nicht relevant genug.« (2012, S. 440). Wie bereits dargestellt, hat das Thema Alter(n) in der Migration zunächst Resonanz in der Gerontologie gefunden. Maria Dietzel-Papakyriakou nennt als Formel zur Umschreibung der Verflechtung dieser bis dahin noch nie in Berührung gekommenen Forschungsfelder »Fragen aus der Migrationsforschung und

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Ähnlich ist die Situation zur Auswanderung Älterer aus Deutschland zu bewerten. Auch hier wird konstatiert, dass Quantifizierungen aufgrund der verfügbaren Datenlage nur Annäherungen sind, so dass das Phänomen der Migration Älterer ähnlich unbestimmt bleibt wie das Altern von Migranten in Deutschland. Hinsichtlich der Migration im Alter wird zunächst zwischen der Remigration Älterer in ihre Herkunftsländer und der Ruhestandsmigration von aus Deutschland stammenden Älteren unterschieden. Remigration wird als Rand-thema im Kontext von »Altern in der Migration« behandelt (ausführlicher siehe Kapitel 3.2). Als kennzeichnend für die Ruhestandsmigration gilt eine Nähe zum Tourismus und begründet damit eine konzeptionelle Abgrenzung von primär in soziökonomischen und versorgungspraktischen Fragestellungen begründeten Migrationsmotiven (Sauer und Ette 2007, S. 63). Zu unterscheiden sind hier Studien, die entweder die Auswanderung aus den jeweiligen Herkunftsländern oder auch -regionen untersuchen und Studien, die die Auswirkungen der Zuwanderung in den jeweiligen Ankunftsländern oder auch -regionen aufschlüsseln. Neben sozialgeographischen und ökonomischen Untersuchungen wird auch analysiert, inwiefern die Migration im Alter als »erfolgreicher Alternsstil« zu bewerten ist (z. B. Breuer 2004) und inwiefern sich die in Europa zu beobachtende Ruhesitzmigration mit der Ruhesitzmigration in den USA gleicht oder unterscheidet (z. B. Friedrich und Kaiser 2002). In den Ergebnisausführungen wird einerseits auf die Freiwilligkeit der Entscheidung zur Ruhestandsmigration hingewiesen, anderseits auf die sich in der Altersmigration mit der Zeit ergebenden Herausforderungen (Krankheiten, Pflege- und Versorgungsfragen, Kontaktpflege, »Parallelgesellschaft«) hingewiesen. Prognosen, wie von Claudia Kaiser (2011) formuliert, halten sowohl eine Zunahme, Stagnation als auch einen Rückgang der Ruhesitzmigration in Europa für möglich. An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass es als zentraler Verdienst der wissenschaftlichen Untersuchungen zu »Alter und Migration« zu bewerten ist, dass sie aufzuzeigen, dass die Gruppe der älteren Migranten mitnichten homogen ist. Dadurch konnte einer Dichotomisierung zwischen der autochthonen älteren Bevölkerung und den »den« älteren Migranten entgegengewirkt und weitere Fragestellungen generiert werden. Gleichzeitig stellt die gegenwärtige empirische Forschung heraus, dass ältere Migranten in Deutschland als sozial benachteiligte Gruppe zu bewerten sind.

Antworten aus der Gerontologie.« (Ebd.) Dabei wurden gerontologische Fragestellungen an das Phänomen des Alters und Alterns in der Migration herangetragen.

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2.2.2 Migration als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Migration als Erklärungsfaktor von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen kam in den wissenschaftlichen Diskurs über das problematisierte Altern von »Gastarbeitern« und weiteren Ausländern in Deutschland auf. Die von dieser Gruppe geteilte Erfahrung der internationalen Migration ist seitdem Anlass zwischen Älteren mit und ohne Migrationserfahrung im wissenschaftlichen Diskurs zu differenzieren. Die Migrationserfahrung wird in dieser Lesart zu einem zentralen Unterscheidungsmerkmal. Wie einführend bereits dargestellt (siehe Kapitel 2.2), werden mit der Verwendung des Begriffs »Migration« im Kontext der Alter(n)sund Versorungserwartungen älterer Migranten eine Menge Vorannahmen mittransportiert.40 Zentral ist dabei, dass davon ausgegangen wird, dass eine (internationale) Migration zu Erfahrungen unterschiedlicher sozialer Ordnungen führt und individuell, institutionell und gesellschaftliche bearbeitet werden muss. Heruntergebrochen wird das auf die Fragen: (1.) inwiefern die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in den Herkunftskontexten der (älteren) Migranten überhaupt anders sind, (2.) welchen Einfluss Migrationserfahrungen auf transformative Prozesse der spezifischen Alter(n)s- und Versorgungserwartungen von Individuen oder definierten Gruppen haben und (3.) inwiefern Institutionen der Altenhilfe und Migrationsarbeit auf diese (vermutete) Andersartigkeit zu reagieren haben. Insbesondere die dritte angeführte Fragestellung wird seit Jahrzehnten unter der Überschrift »Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe« diskutiert und erprobt. Im Vergleich zur Jugend-, Bildungs- und Beratungsarbeit sind in der Altenhilfe nie institutionalisierte Sonderdienste für Migranten etabliert worden. Das Ziel einer interkulturellen Öffnung der Altenhilfe ist es somit nicht, bestehende Sonderdienste für Migranten aufzulösen, sondern sie gar nicht erst einzuführen. Dazu sollen sich Institutionen der Altenhilfe entsprechend den Anforderungen einer

40 Diese formuliert Peter Zeman sehr zutreffend: »Aus einer […] sozialpsychologischen Sicht ist die Zuwanderung vor allem ein Bruch mit der persönlichen und kulturellen Identität und Auslöser einer Kette von Verlusten (Verlust der Heimat, familiärer Bindung und Geborgenheit, sozialer Stellung und persönlichem Status). Die Diskontinuität der Migrationsbiographien erzeugen Lebensunzufriedenheit, psychische Belastungen und psychosomatische Symptome bis hin zu schweren Depressionen und multiplen Krankheitsbildern. In diesem Zusammenhang wurde der Ethnizität eine herausragende Bedeutung für die Bewahrung von Lebensqualität im Alter zugemessen.« (Zeman 2011, S. 193).

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Migrationsgesellschaft41 zukunftsfähig aufstellen. Zentral ist es dabei, Machtasymmetrien zwischen Mehrheitsbevölkerung und durch Migration entstandene Minderheiten wahrzunehmen und darauf ausgleichend zu reagieren (vgl. Auernheim 1992). Unter der Perspektive der Perspektive »Migration« werden daher strukturelle Barrieren, die älteren Migranten die Inanspruchnahme von formellen Versorgungsleistungen in Deutschland erschweren oder unmöglich machen, thematisiert. Neben der Problematik der Informiertheit 42 gelten insbesondere Zugangsbarrieren, die auf Erfahrung strukturalisierter Diskriminierung als problematisch, da sie auch als Risikofaktor für Krankheiten gelten. Dazu zählt Ute Luig (2007) beispielsweise die Angst vor Ausweisung, ökonomische Probleme und der als belastend empfundene Umgang mit Behörden (siehe dazu auch Kapitel 3.3.2).43 Einen qualitativ-empirischen Zugang zu den aufgeworfenen Fragen bietet eine Studie von Rita Paß (2006). Sie untersuchte, wie ältere Migrantinnen ihr Älterwerden in der Aufnahmegesellschaft in Deutschland erleben und welche Zukunftsüberlegungen sie in Hinblick auf ihren Alterungsprozess verfolgen. Dazu stellte Paß die jeweilige Sozialisationsgeschichte der Migration in einen Zusammenhang mit den jeweils persönlichen Zukunftsoptionen der befragten Frauen. 44 Schließlich unterscheidet sie in der von ihr erhobenen Stichprobe drei zentrale Typen von älteren Migrantinnen: (1) Die selbstkompetenten, sozial gut integrierten und finanziell relativ Unabhängigen, (2) die nur in geringem Maße in das gesellschaftliche Leben der Aufnahmegesellschaft Integrierten, die in der Gültigkeit traditioneller Lebens- und Versorgungsmodelle relative Sicherheit erleben, (3) die, die sich auf Lebensformen der modernen Gesellschaft eingelassen haben,

41 Der Begriff der Migrationsgesellschaft drückt aus, dass Ein- und Auswanderung nicht nur die jeweils migrierenden Individuen betrifft, sondern auch in institutionelle und gesamtgesellschaftliche Dimensionen hineinwirkt (siehe Broden und Mecheril 2014, S. 7 ff.). 42 In Auswertungen vieler Modellprojekte und kleinerer Erhebungen hat sich gezeigt, dass vor allem durch einen nicht ausreichenden Sprachstand entstehende Kommunikationsprobleme dazu führen, dass ältere Migranten die Angebotspalette der Altenhilfe und ihre Rechtsansprüche in diesem Bereich nicht ausreichend kennen. 43 Ein vielzitiertes Beispiel für den verständnislosen Umgang der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist die so bezeichnete »Heimweh-Krankheit«, die vor allem Arbeitsmigranten attestiert wurde. Unter ihr wurden für die aus der Mehrheitsgesellschaft stammenden Mediziner nicht erklärbare psychosomatische Beschwerden summiert. 44 Die Frauen im von Paß befragten Sample kamen aus den Ländern Türkei, (ehem.) Jugoslawien, Spanien, (ehem.) UdSSR und dem Iran.

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aber traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenmodellen treu geblieben seien. Die letztgenannte Personengruppe entspräche am ehesten den in der Lebenslageforschung beschriebenen marginalisierten Migrantinnen: sie verfügten oftmals kaum über Sprach- und Handlungskompetenz in Deutschland und befänden sich ohne eigene soziale Absicherung in erodierenden Familienverhältnissen. Paß kommt zu dem Ergebnis (ebd., S. 336), dass, trotz der alle ihre Gesprächspartner verbindenden Migrationserfahrung, für die von ihr untersuchte Gruppe generalisierende Aussagen nur zu vereinzelten Aspekte der Zukunftsantizipationen gezogen werden können.45 Migration erkläre die vom Sample formulierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nicht hinreichend. »Es wurde deutlich, dass Selbstbild, migrationsbedingte biographische Erfahrungen und soziale Lage eine Verbindung eingehen, die sich maßgeblich auf die Möglichkeiten einer aktiven oder passiven Zukunftsantizipation auswirken. Zukunftsvorstellungen, so das Ergebnis dieser Studie, werden durch biographische Erfahrungen und die daraus gebildeten Selbstkonstruktionen über Geschlecht und Ethnie ebenso mitbestimmt wie durch objektiv gegebenen Lebenslagen.« (Paß 2006, S. 358)

In diesem Sinne relativiert Paß die Bedeutung der Migrationserfahrung einerseits. Andererseits stellt sie den Migrationsprozess als wegweisend für den Alterungsverlauf dar. Die von ihr erhoben Daten zeigten auf, dass Personen, die in der Migration handlungskompetent waren, dies auch im Alter sein. 46 Erworbene Kompetenzen und Handlungsmuster der Lebensbewältigung, Erfahrungen im Umgang mit hoffnungsvollen und ängstigenden Teilen einer Migration und den daraus entstehenden Verwerfungen und Selbstorganisationsprozesse seien für ältere Migrantinnen als Ressource im Alter zu begreifen. In Bezug auf die Versorgungserwartungen argumentiert Paß auf Grundlage ihrer Untersuchung, dass der Grad des Zugehörigkeitsempfindens zur Aufnahmegesellschaft einen Indikator für Bedarfslagen und Nutzungsantizipationen darstelle (vgl. ebd., S.341). Gleichzeitig beobachtet Paß, dass die von ihr befragten Frauen die Frage nach Versorgungsmodellen bei Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit möglichst unthematisiert ließen. Die Frage spitze sich für die Frauen

45 Die beiden für das Sample zu generalisierenden Ergebnisse sind: der Wunsch nach einem möglichst lange eigenständigem Wohnen (wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus) und die (trotz des Wunsches nach Eigenständigkeit beim Wohnen) eine hohe Orientierung an der Familie (vgl. Paß 2006, S. 338 f.). 46 »So wie sie sich gegenüber den Anforderungen der Migration offen gezeigt haben, gehen sie auch mit den Herausforderungen des Alters um.« (Paß 2006, S. 341).

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in einer Ambivalenz zwischen der als besser eingeschätzten medizinischen Versorgung in Deutschland und der als höher eingeschätzten Lebensqualität im Herkunftskontext zu: »Vor einem solchen Hintergrund wird eine potenzielle Versorgungs- und Pflegebedürftigkeit für einige Frauen zu einem Entscheidungsproblem, dem sie sich nur ungern stellen. Die Kluft zwischen Pflegewünschen und der Möglichkeit, diese im gewünschten Sinne realisieren zu können, ist groß. Nur wenige Frauen gehen von einer familiären Pflege aus, selbst wenn diesbezüglich ›heimliche‹ Wünsche bei einer Reihe von ihnen vorhanden sind.« (Hervorhebung im Original) (Paß 2006, S. 339)

Auch Paß unterstreicht mit ihrer Studie, dass ältere Migrantinnen (und Migranten) keine homogene soziale Gruppe darstellen. Das Konstrukt der älterer Migranten (insbesondere auch älterer Migrantinnen) als ohnmächtige und abhängige Figuren müsse korrigiert werden, da es nicht den empirischen Realitäten entspräche (vgl. ebd., S. 336 f.). Dieser hier implizit geforderte Perspektivwechsel im wissenschaftlichen Diskurs über ältere Migranten schließt an Paradigmenwechsel in der Migrationsforschung an. 2.2.3 Transnationale Betrachtungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Die Wandlungsprozesse im wissenschaftlichen Migrationsdiskurs aufgreifend, werden ältere Migranten bereits seit 15 Jahren kontinuierlich, wenn auch marginal, in transnationalen Perspektiven betrachtet. Transnationalität oder auch Transnationalisierung steht in der Migrationsforschung für das seit den 1990er Jahren an Prominenz gewinnende Verständnis, dass Migration nicht als ein uni-direktionaler Ortswechsel vom Herkunfts- ins Ankunftsland zu verstehen ist, sondern als zirkuläre und grenzüberschreitende Bewegung diskutiert werden muss. 47 In diesem Kontext entstand eine Diskussion über Transmigration, in der ursprünglich Personen als Transmigranten konzipiert wurden, die kontinuierlich Nationalstaatsgrenzen physisch überschreiten. Entsprechend der Ausweitung des Konzepts Transmigration wird mittlerweile davon ausgegangen, dass Migranten soziale Beziehungen (ways of being) und Orientierungen (ways of belonging) ausbilden, die

47 Unter Transnationalität wird »the ongoing interconnection or flow of people, ideas, objects, and capital across the borders of nation-states, in contexts in which the state shapes but does not contain such linkages and movements« (Glick-Schiller und Levitt 2006, S. 5) verstanden.

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verschiedene Nationalstaaten miteinander verbinden (vgl. u. a. Glick-Schiller et al. 1994; Basch et al. 1994; Pries 1996; Wimmer und Glick-Schiller 2002). Daran anknüpfend formulieren Andreas Herz und Claudia Olivier als Kern des Transmigrantischen, »dass sich physische Bewegungen erstens nicht mehr nur auf (die Mobilität von) Personen, sondern auch auf Orientierungen, Zugehörigkeiten, Wissensbestände und auf Gegenstände beziehen kann und dass zweitens auch andere Grenzen als nationalstaatliche überschritten werden können.« (2013, S. 2)

Dies bedeutet, dass physische Bewegungen von Personen über nationalstaatliche Grenzen hinweg nicht als zwingende Voraussetzung für das Vorhandensein transnationaler Praktiken angesehen werden. Dabei gilt eine Transnationalisierung der sozialen Welt nicht als Randphänomen, sondern als zentrales Kennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft (Pries 2008). Transnationalisierung gilt als Konzept für handlungs- und akteurszentrierte Perspektiven auf soziale Prozesse und das Entstehen transnationaler sozialer Formationen sowie transnationaler Sozialräume. Der Ansatz der Transnationalisierung erweitert so Ansätze der Migrationsforschung, die überwiegend Ursachen von Wanderungen sowie Fragen von ökonomischer, sozialer und kultureller Assimilation, Integration und Adaption im Aufnahmekontext bearbeiten, konzeptionell. Dabei wird einerseits Transnationalität von nahe stehenden Begriffen wie Transkulturalität und Transstaatlichkeit abgegrenzt (siehe u. a. Hühn et al. 2010). Andererseits wird Transnationalität als Forschungsagenda multidimensional bearbeitet: so werden transnationale Lebensverläufe und Biographien offen gelegt (siehe u. a. Kreutzer und Roth 2006; Siouti 2013), die Herausbildung von multiplen Identitäten und hybriden (Mehrfach-)Zugehörigkeiten diskutiert (siehe u. a. Mecheril 2003; Fürstenau und Niedrig 2007; Klein 2010) und die Ausdehnung und Bedeutung transnationaler sozialer Beziehungen (siehe u. a. Mau 2007; Herz 2014) sowie transnationale Netzwerke (siehe u. a. Dahinden 2009) aufgezeigt. Dies geschieht meist mit Bezug auf die Konzepte transnationaler sozialer Räume (siehe Faist 1996) oder transnationaler sozialer Felder (siehe Nieswand 2005). Gleichzeitig werden die als transnational identifizierten Phänomene unterschiedlich disziplinär und theoretisch gerahmt. So wird Transnationalität beispielsweise im Kontext Gender (siehe u. a. Pessar und Mahler 2003), sozialer Ungleichheit (siehe u. a. Berger und Weiss 2008; Beck et al. 2010), Agency (siehe u. a. Köngeter und Smith) und sozialer Unterstützung (siehe u. a. Chambon et al. 2012) diskutiert. Doch auch Lebensphasen wie Jugend (siehe u. a. Fürstenau und Niedrig 2007; Mangold 2010) und Alter (siehe Schroer und Schweppe 2009; Laubenthal

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und Pries 2012) sowie Versorgungsfragen (siehe Scheiwe und Krawietz 2010) werden in transnationalen Perspektiven erfasst. Dabei ist der transnationale Ansatz als bisher innovativste Perspektive im Umgang mit im Themenfeld »Alter(n) und Migration« aufgeworfenen Fragestellungen zu bewerten. Einen ersten Aufschlag hat die bis heute viel rezipierte Arbeit von Helen Krumme (2002) geleistet. Sie fokussiert zwischen Deutschland und der Türkei pendelnde Arbeitsmigranten und diskutiert dies als Transmigration im Ruhestand. Krumme kann aus ihrem Sample heraus drei Typen von älteren Pendelmigranten unterscheiden und argumentiert, dass die Pendelmigration als Resultat einer sich über den Migrationsverlauf entwickelnden Transnationalität zu bewerten ist. Türkan Yilmaz (2011) untersucht die gleiche Gruppe und diskutiert sie als Beispiel transnationaler Migration. Sie fokussiert die Frage der Lebensqualität im Alter und kann drei soziale Milieus aus ihrer Studie heraus bestimmen. 48 Claudia Kaiser (2011) thematisiert die Ruhesitzwanderung älterer Deutscher nach Spanien als transnationale Altersmigration in Europa. In ihrem Vorschlag für eine Theorie der transnationalen Altersmigration bezieht sie sich auf ihre Studienergebnisse und führt sozialgeographische und gerontologische Perspektiven zusammen. In einer Zusammenschau der Ergebnisse dieser drei empirischen Arbeiten findet sich in vielen Aspekten eine Deckung mit Ergebnissen anderer Studien. Zum einen zeigt sich, dass ein »transnationales Alter(n)« kein neuartiges Phänomen ist49 und das es nicht zu abrupten oder punktuellen Entscheidung für ein transnationales Alter(n) kommt, sondern als Teil einer biographisch-individuellen, aber auch makro-gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu betrachten ist. Gleichzeitig wird festgestellt, dass sich sowohl formelle als auch informelle Hilfestrukturen von und für Transmigranten konzeptionellen Einteilungen entziehen, die stark an nationalstaatliche Rahmungen orientiert sind. In diesem Sinne wird dafür plädiert, transnationale Orientierungen und Einbindungen Älterer in steuerungs- und interventionsorientierte Auseinandersetzungen zu Versorgungsfragen aufzugreifen. Bisher haben transnationale Betrachtungen älterer Migranten keine Kritik erfahren. Im Gegenteil: In neueren Studien zum Themengebiet von »Alter(n) und

48 Unter Transnationalität wird »the ongoing interconnection or flow of people, ideas, objects, and capital across the borders of nation-states, in contexts in which the state shapes but does not contain such linkages and movements« (Glick-Schiller und Levitt 2006, S. 5) verstanden. 49 So bewertet auch Ludger Pries (2008) die Lage, weist aber darauf hin, dass die hohe Quantität der Pendelmigration (im Alter) neuartig ist.

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Migration« werden Impulse des transnationalen Ansatzes selbstverständlich aufgenommen. So erweitert Kathrin Hahn (2011) die von Tews (1993) aufgeführten Merkmale zum Strukturwandel des Alters um das Merkmal »transnationale Mobilität«. Nora Rohstock (2014) greift in ihrer Arbeit aus transnationalen Perspektiven entwickelte Fragestellungen auf und untersucht Altersbilder und Lebenssituationen von Türkinnen und Türken in Deutschland und der Türkei. Dabei ermöglicht sie es, den Einfluss von Migration im Kontext von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zu umreißen. Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass transnationale Betrachtungen älterer Migranten die bisher gewinnbringendste Perspektivverschiebung im Themenfeld »Alter(n) und Migration« eingebracht hat. In den bisher vorliegenden Forschungsarbeiten verdeutlicht sich einerseits, dass Alter(n), wie von von Kondratowitz argumentiert (siehe Kapitel 2.1), tatsächlich prädominant in nationalen Wohlfahrtsregimen verhandelt wird und ein methodologischer Nationalismus (siehe Kapitel 2.1.3) grenzüberschreitendes Alter(n) systematisch für den wissenschaftlichen Diskurs ausblendet. Gleichzeitig zeigen die Arbeiten auf, dass neben dem »aged in place« (Schimany et al. 2012, S. 8) auch ein erhebliches Potenzial für transnationales und hochmobiles Alter(n) besteht. Auch wenn nationale Wohlfahrtsstaaten auf diese hochmobilen Alter(n)sstile bisher nur sehr begrenzt reagieren, deuten die vorliegenden Studienergebnisse an, dass allein die fortwährende Migration zwischen verschiedenen Ländern ein für viele attraktiver Lebensstil im Alter darstellt. Die bisherige Forschungsergebnisse mit einem Fokus auf transnationale Betrachtungen älterer Migranten konnten zwar einerseits Einblicke in die strukturelle Ausgestaltung der Pendelmigration bieten und aufzeigen, welche erheblichen organisatorischen und formale Strukturen zu bedenkender Aufwand mit physisch mobiler Transmigration im Alter verbunden ist, jedoch geben sie kaum Auskunft darüber, inwiefern von als transnational zu bezeichnenden Alter(n)s- und Versorungserwartungen gesprochen werden kann. Es zeigt sich so, dass Fragen nach Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nicht hinreichend in Fragen der Identität und Lebenslagen aufgehen. In diesem Sinne greift die Frage nach transnationalen Betrachtungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen einerseits die Erkenntnisse der quantitativen und sozialstrukturellen Forschungsergebnisse zum Themenfeld »Alter(n) und Migration« auf, bestätigt die empirisch aufgezeigte Heterogenität der Gruppe der älteren Migranten und verweist schließlich auf Kultur als erklärenden Kontext.

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2.3 ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN IM K ONTEXT VON K ULTUR Wie in der fokussierten Betrachtung der Diskussion um Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext Migration (siehe Kapitel 2.2) bereits erkennbar, werden beobachtete Unterschiede im Altern älterer Migranten oftmals über »Kultur« erklärt. Dabei wird in Diskussionsbeiträgen davon ausgegangen, dass abgegrenzte beziehungsweise abgrenzbare kulturelle Determinanten Alter(n)sbilder und Versorgungsstrukturen der gesellschaftlichen Mikro-, Meso- und Makroebene prägen. Zu unterscheiden sind solche vorrangig mit »Kultur« argumentierenden Beiträge über die herangezogenen Kulturbegriffe. So finden sich in aktuellen (fach-)öffentlichen und wissenschaftlichen Beiträgen sowohl Ausführungen, die auf essentialistischen als auch auf dynamische Kulturverständnissen aufbauen. In den Auseinandersetzungen wird der Erklärungswert kultureller Faktoren für jeweils aktuellen Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der fokussierten Gruppen kritisch diskutiert. Während viele Beiträge die Bedeutung kultureller Herkunft herausstellen, warnen andere Autoren vor einer Überbetonung von Kultur und verweisen auf die Bedeutung von (migrationsbedingten) sozioökonomischen Situationen für den Umgang mit Alter(n) und Versorgungsbedarfen. Obwohl die Begriffe multi-, inter- und transkulturell im Kontext von »Alter und Migration« ständig verwendet werden, ist die wissenschaftliche Frage, inwiefern Alter(n)sund Versorgungserwartungen (durch Migration geförderte) transformative Prozesse durchlaufen, bisher kaum untersucht worden. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie Konzepte von Kultur Eingang in die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten gefunden haben. Da Kultur ebenso wie Alter(n), Migration und Religion ein hochkomplexes Phänomen mit einer vielschichtigen Begriffsgeschichte ist, wird in der folgenden Darstellung die Komplexität wissenschaftlicher Diskursentwicklung zu Kulturverständnissen auf die zentralen Aspekte reduziert, die bei der analytischen Erschließung der Auseinandersetzung um Altern(s)- und Versorgungserwartungen im Kontext von Kultur relevant sind. Dabei zeigt sich, dass Deutungen der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten im Kontext Kultur immer wieder in enger Verknüpfung mit Vorstellungen von »Ethnie« und »Ethnizität« stehen. In einem zweiten Abschnitt wird aufgezeigt, inwiefern Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten bereits aus multi-, inter- und transkulturellen Perspektiven diskutiert werden. In einem abschließenden Abschnitt werden in der wissenschaftlichen Literatur aufgeführte Spezifika einer »türkischen Kultur« im Kontext von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zusammengestellt.

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2.3.1 Kultur als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Werden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten im Kontext von »Kultur« diskutiert, ist zu fragen, auf welchen Kulturbegriff in den jeweiligen Argumentationen zurückgegriffen wird. Auffällig ist, dass in einer Vielzahl von nicht vorrangig kulturwissenschaftlich orientierten Beiträgen der verwendete Kulturbegriff diffus bleibt, jedoch die Bedeutung von Kultur für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen bei Migranten stark betont wird. Kultur beziehungsweise kulturelle Aspekte gelten dabei als unbedingt zu berücksichtigende Faktoren um eine als gut zu bewertende Versorgung älterer Migranten gewährleisten zu können.50 Um die verschiedenen über Kultur argumentierenden Beiträge zu Alter(n)sund Versorgungserwartungen einordnen zu können, wird im Folgenden eine Spanne von Kulturverständnissen aufgezeigt. Dabei ist zunächst auf das von Johann Gottfried Herder (1774) entwickelte Kulturverständnis, dass sich im »Kugelmodell«51 versinnbildlicht, zu verweisen. Herder definierte Kultur über eine soziale und ethnische Identität sowie einer Alterität gegenüber anderen Kulturen. Klassische Ansätze der Ethnologie greifen ein solch essentialistisches Kulturverständnis auf und beschreiben Ethnien als Gruppen, die sich eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie ein gemeinsames Territorium teilen. Charakteristisch

50 Besonders in migrationsgesellschaftliche Perspektiven aufgreifenden versorgungswissenschaftlichen Beiträgen wird die Berücksichtigung kultureller Werte als Voraussetzung für eine als gut zu bewertende Versorgung von Migranten argumentiert. Jedoch, so die Kritik, sei eine solche Kultursensibilität oder auch interkulturelle Kompetenz in der bestehenden Versorgungslandschaft keine Selbstverständlichkeit. So bewerten Patrick Brzoska und Oliver Razum die gegenwärtige Versorgungsrealität beispielsweise so: »Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen sind [aber] oftmals nicht auf die kulturellen Erwartungen ihrer Patienten eingestellt, vor allem dann nicht, wenn sich diese Erwartungen stark von den Vorstellungen des professionellen Systems unterscheiden. Bei Menschen mit Migrationshintergrund können soziale Barrieren sowie Schwierigkeiten mit der Landessprache des Ziellandes den Zugang zu einer angemessenen Versorgung weiter erschweren. Eine kultur- und migrationsspezifisch ausgerichtete Versorgung ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine optimale Unterstützung von chronisch Kranken« (2009, S. 159). 51 Die Bezeichnung »Kugelmodell« basiert sich auf dem Satz Herders: »Jede Nation hat den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.« (1774, S. 56).

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für Ethnien sind diesen Perspektiven nach primordiale Bindungen mit einem ausgeprägten und identitätsstiftentenden Wir-Gefühl. Die Kopplung von Kultur und Ethnie wurde auch bei der Etablierung von Nationalstaaten begründenden Nationen aufgegriffen. In diesem klassischen Verständnis von Kultur, Ethnie und Nationalstaat bedeutet eine physische Migration einen Wechsel von einem sprachlich, kulturell und ethnisch homogenen nationalen »Container« in einen entsprechend anderen homogenen »Container«.52 Kultur und Ethnie haben in den vergangenen Jahren einen teilweise parallel laufenden Prozess in der Begriffsentwicklung erfahren. Unter anderem durch einen von Fredrik Barth (1969) angestoßenen Diskurs in der Ethnologie gelang eine Entwicklung, Ethnizität als einen relationalen Begriff zu verstehen und vom Kulturbegriff als eigenständigen wissenschaftlichen Begriff zu lösen.53 Auch der Kulturbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im wissenschaftlichen Diskurs grundlegend gewandelt. Dabei wird Kultur im zeitgenössischen wissenschaftlichen Verständnis nicht mehr als geschlossenes System von Regeln, Werten und Bedeutungen gelesen, sondern als ein dynamischer Prozess konzipiert, der eher durch Offenheit als durch Geschlossenheit charakterisiert ist. Bekannt für ein solch organisches Begriffsverständnis von Kultur ist das Zitat von James Clifford »›Cultures‹ do not hold still for their portraits« (Hervorhebung im Original) (1986, S. 10). Clifford drückt damit aus, dass Beschreibungen und Übersetzungen von Kultur maximal als unvollständige Momentaufnahmen zu verstehen sind, jedoch keinesfalls als langfristig verlässliche Beschreibung unveränderlicher Kulturen. Eine solche Auffassung von Kultur wirkt Vorstellungen entgegen, die bei Kultur – entsprechend des Herderschen Kugelmodells – einen a-historischen Charakter annehmen. Kritisiert wird dabei, dass essentialistische Vorstellungen von Kultur

52 Entsprechend der Annahme, dass einer Ethnie immer auch eine eigene und abgegrenzte Kultur zuzuordnen ist, wurden innerethnische Prozesse lange Zeit im wissenschaftlichen Diskurs marginalisiert. Wilhelm Emil Mühlmann (1964) gilt als der Erste, der in der deutschsprachigen Ethnologie darauf hinwies, dass Ethnien keine geschlossenen Systeme sind und keine in sich homogene Kultur repräsentieren. 53 Zum Begriff Ethnie finden sich unterschiedliche Zugangsweisen. Im deutschsprachigen Diskurs kann zwischen einem primordialistischen und konstruktivistischen Verständnis unterschieden werden (vgl. Luig 2007). So unterscheidet Baumann einen dominanten von einem demotischen Diskurs über Ethnizität. »Dort, wo der dominante Diskurs kulturelle Identität als reifizierten Besitz einer jeden postulierten ethnischen Gruppe oder Gemeinschaft ansieht, hinterfragt der demotische Diskurs diese Gleichsetzung von Kultur und ethnischer Identität und löst sie auf.« (Baumann 1998, S. 289, zitiert nach Luig 2007, S.91).

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die Basis für dichotomisierende Gegenüberstellungen vom »Fremden« und »Eigenem« produzieren – und gleichzeitig die jeder Kultur immanenten vielseitigen diskursiven Geschehnisse und Repräsentationen tendenziell ausblenden. Nichtsdestotrotz sind auch weiterhin essentialistische Kultur- und Ethnienverständnisse in wissenschaftlichen und lebensweltlichen Diskursen präsent. Prominentes Beispiel sind die Auffassungen des Samuel P. Huntingtons, die in der Publikation »Kampf der Kulturen« (1998) zusammengefasst sind. Huntington teilt die Welt in sieben bis acht übergeordnete »Kulturkreise«54 ein und prophezeit einen Zusammenprall dieser Kulturkreise im Anschluss an den Kalten Krieg. Dabei empfiehlt er dem von ihm ausgemachten westlichen Kulturkreis, sich vor nichtwestlichen Kulturkreisen, speziell dem muslimischen Kulturkreis zu schützen (vgl. ebd., S.20). Diese skizzierte inhaltliche Spannung, die dem Kultur- sowie Ethnienbegriff anhaftet, findet sich auch in wissenschaftlichen Beiträgen zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten.55 Beispielhaft kann hier die von Maria Dietzel-Papakyriakou 1993 vorgelegte und bereits vorgestellte Monographie »Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben?« angeführt werden. Dietzel-Papakyriakou greift in den USA diskutierte

54 Für Huntington sind die entscheidenden, eine Kultur definierenden Elemente »Blut, Sprache, Religion und Lebensweise« (1998, S.52), wobei Religion für ihn das wichtigste Element darstellt. 55 So findet sich in vielen grundsätzlich konstruktivistisch, differenziert und sensibel argumentierenden wissenschaftlichen Texten zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten dennoch ein oftmals vorbehaltloser und unspezifischer Umgang mit eben jenen Begrifflichkeiten Huntingtons. So beispielsweise bei Rita Paß. Sie argumentiert, dass ihre Studienergebnisse unterstrichen, dass ältere Migrantinnen in ihrer Individualität und damit in ihrer Differenziertheit wahrgenommen werden müssten, denn eine stereotype Beschreibung von ihnen als kulturgebundene oder rückständige Gruppe sei nicht zutreffend. Gleichzeitig verwendet sie eben jene Begriffe Huntingtons: »Eigene Altersbilder wie auch die von Menschen aus anderen Kulturkreisen sind demnach immer auch nach jeweiligen Prägungen, denen sie unterlagen, zu befragen« (2006, S.77). Auch in empirischen Untersuchungen mit Akteuren der Versorgungspraxis von demenziell Erkrankten findet sich Huntingtons Vokabular. So berichtet ein leitender Mitarbeiter der Versorgungslandschaft, dass er in seinem Arbeitsfeld ein spezifisches Zugangsinstrumentarium für Menschen mit Migrationshintergrund benötige, um an betroffene Migranten und ihre Angehörigen heranzutreten. Dies läge darin begründet, dass Migranten aus einem anderen Kulturkreis stammten und somit eine andere Einstellung zum Thema Demenz hätten (vgl. Nehmer 2013, S. 37).

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Forschungen zu »age and ethnicity« auf und führt Ethnizität als zentrales Erklärungsmoment für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten in den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs ein. In ihrer Arbeit fokussiert sie rückkehrorientierte ältere Arbeitsmigranten und bringt gerontologische und migrationswissenschaftliche Ansätze systematisch zusammen. Dabei entwickelt sie noch heute diskursprägende theoriegeleitete Thesen, die in folgender Argumentationslinie zusammengefasst werden können: Entsprechend der double-jeopardyThese (siehe Kapitel 2.1.3) geht Dietzel-Papakyriakou davon aus, dass es mit den sozialen Kategorien »Alter« und »ethnischen Andersartigkeit« zu einer Kumulation von Benachteiligung kommt. Darüber hinaus beobachtet Dietzel-Papakyriakou bei älteren (Arbeits-)Migranten einen »ethnischen Rückzug« (ebd., S. 11), eine »ethnische Insulation« (ebd., S. 19) sowie »ethnische Kolonien« (ebd., S.77),56 was sich in einem »Wiederaufleben von Ethnizität im Alter« bestätige. Dietzel-Papakyriakou betont eine entsprechende Ethnizität als Ressource für das Alter. Dabei schreibt sie älteren Migranten ein »ethnisches Altern« zu, autochthonen Älteren jedoch nicht. In Rezeptionen ihrer Arbeiten wird der recht vorbehaltslose Umgang mit Begriffen des »Ethnischen« kritisiert (z. B. von Mölbert 2005; Hahn 2011). Dietzel-Papakyriakou hat in späteren Beiträgen ihre Thesen teilweise relativiert, spezifiziert und konzeptionell weiterentwickelt, jedoch haben diese ursprünglichen Thesen bis heute ein zentrales Gewicht in der wissenschaftlichen und fachöffentlichen Einschätzung der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten. Ein weiteres Beispiel für einen Beitrag, der die Diskussion zum Verhältnis von Kultur und Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nachhaltig geprägt hat, ist von Georg Elwert (1994) vorgelegt worden. Elwert trifft eine Unterscheidung zwischen nicht- beziehungsweise vorindustriellen Kulturen und Industriekulturen57 und nimmt dies zum Ausgangspunkt einer vergleichenden Alternsforschung. Er diskutiert mit Bezug auf das Phänomen des Senizids (Altentötung), inwiefern es für Kulturen naheliegend ist, die Versorgung älterer Gesellschaftsmitglieder zu verweigern. Dabei kontrastiert Elwert die, seiner Einschätzung nach, oftmals in

56 Hartmut Esser führte in den 1980er Jahren den Begriff der »ethnischen Kolonie« ein. Heute wird stattdessen der Terminus »Community« oder auch »Migrantencommunity« verwendet. 57 Elwert bringt in seinem Beitrag Beispiele aus verschiedenen Regionen Afrikas, zirkumpolaren Kulturen (Feuerland, Eskimo und Nordsibirien) sowie Wildbeuterkulturen. Diese werden auch in aktuellen wissenschaftlichen Beiträgen als Standardbeispiele rezipiert.

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Studien zum Alter in Industriegesellschaften zu findende idealisierende Darstellung des Alter(n)s in vormodernen beziehungsweise vorindustriellen Gesellschaften. Er warnt davor, ausgewählte ethnographische Belege heranzuziehen um anthropologische Konstanten in Alter(n)sordnungen zu konstruieren. Als Verdienst von Beiträgen wie Elwerts ist es zu bewerten, dass eine historische und globale Kontingenz von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen aufgezeigt wird und Alter(n) nochmals stärker sozialen Bedingungen unterliegend erkennbar wird. Doch obwohl Elwerts Beitrag mit »Altern im interkulturellen Vergleich« betitelt ist, thematisiert er keine Fragen, die kulturelle Grenzkontakte aufgreifen. Vielmehr erscheinen die von ihm vorgestellten Kulturen als in sich und nach außen hin geschlossen und ohne Austausch zu anderen Kulturen. Jüngere Autoren thematisieren jedoch bewusst diese kulturellen Kontaktzonen im Kontext von Alter(n), Migration und Kultur. So beispielsweise Carolin Kollewe: »Menschen gestalten und verändern Kultur und gerade dort, wo Menschen ihr Leben über nationale und kulturelle Grenzen hinweg aufspannen, können neue kulturelle Praktiken und Symbole entstehen. Zugewanderte, die häufig ihr Leben zwischen mehreren Ländern organisieren, dürfen deshalb nicht auf eine wie auch immer imaginierte Kultur ihres Herkunftslandes festgeschrieben werden, sondern müssen als Teil der deutschen Gesellschaft gesehen werden. Dies trifft selbstverständlich auch auf Bilder und Konzepte von Alter(n) zu, die in unterschiedlichen (kulturellen) Kontexten ausgehandelt und mit eigenen Erfahrungen erweitert werden.« (Hervorhebung im Original) (2013, S. 186)

Konstruktivistischen Kulturverständnissen folgend stellen sich daher Fragen, inwiefern kulturelle Aspekte und Dynamiken in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen (bei älteren Migranten) nachgezeichnet werden können. 2.3.2 Multi-, inter- und transkulturelle Betrachtungen von Alter(n)s- und Versorungserwartungen älterer Migranten Wie bereits aufgezeigt, hat die Anwesenheit älterer Migranten in Deutschland zu Auseinandersetzungen über kulturelle Unterschiedlichkeit bei Alter(n)s- und Versorgungserwartungen geführt. Kennzeichnend für diesen Diskurs ist, dass beobachtete Differenzen über »Kultur« kommunizierbar gemacht und so als Kulturkontakte gedeutet werden. Dabei zeigt sich auch hier, dass jeweils zugrundeliegende Kultur- und Ethnien- beziehungsweise Ethnizitätsverständnisse einen erheblichen Einfluss auf die gemachten Beobachtungen haben. So grenzen sich

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beispielweise mit Transkulturation beziehungsweise Transkulturalität argumentierende Perspektiven von Konzepten der Multikulturalität und Interkulturalität ab. Ein erstes zentrales Konzept von »Transkulturation« brachte Fernando Ortiz (2005) in den 1940er Jahren in die wissenschaftliche Diskussion ein und beschrieb als transkulturelle Prozesse das Zusammenwirken von Akkulturation (verstanden als Annahme »fremder« kultureller Phänomene), Dekulturation (verstanden als Entschwinden kultureller Phänomene) und Neokulturation (verstanden als Neubildung kultureller Phänomene). Wolfgang Welsch (1994; 2005) griff unterschiedliche disziplinäre Wendungen von Transkulturation auf und plädiert seit Anfang der 1990er Jahre für ein Konzept von »Transkulturalität«. Dabei betont er, dass Kulturen schon immer netzwerkartig miteinander verbunden gewesen seien und insbesondere in globalisierten Zusammenhängen in permanentem Austausch stünden. Aus dieser Perspektive sind Kulturen als transkulturelle Formationen zu verstehen, die einiges gemeinsam haben und sich gleichzeitig in anderer Hinsicht unterscheiden. Damit überwindet Welschs Vorschlag binäre Eigen- und Fremd- sowie Innen- und Außendichtomien in der Beschreibung von Kultur. Ebenso erweisen sich in dieser Perspektive territoriale Metaphern für Kulturbeschreibungen als ungeeignet. Darüber hinaus argumentiert Welsch, dass kulturelle Mischformen entstünden, also Prozesse der »Hybridisierung« (vgl. auch Bhabha 2000) stattfänden. Damit distanziert er Transkulturalität von vermeintlich ähnlich argumentierenden Konzepten wie Multi- und Interkulturalität. Diese seien keine wirklichen Alternativen zu Herders Kugelverständnis von Kultur (siehe Kapitel 2.3.1), da auch sie essentialistischen Kulturverständnissen festhielten. Eine weitere, im Kontext dieser Arbeit relevante Betrachtungsebene führt an Transkulturation und Transkulturalität orientierte Betrachtungen mit Perspektiven der »Postcolonial Studies«58 zusammen. Wird Kultur als etwas diskursiv Geschaffenes und sich in ständigem Austausch Befindendes verstanden, so wird offensichtlich, dass Beschreibungen kultureller Sachverhalte immer auch auf »othering« (Spivak 1985) zurückgreifen, also auf Fremdkonstruktionen des »anderen« im Dienst der Selbstvergewisserung. In diesen Momenten des »othering« werden Machtverhältnisse produziert und reproduziert. So zeigen insbesondere Forschungen zu kolonialen Kontexten auf, dass im imperialen Machtdiskurs generische »Andersartigkeit« konstruiert wurde und sich bis heute als wirkmächtig erweist – so beispielsweise die Gegenüberstellungen: Orient versus Okzident und westliche Moderne versus nicht-westliche Rückständigkeit. Kulturbeschreibungen haben insbesondere über den Kolonialismus immer auch eine hierarchisierende, machtpolitische Dimension. Dies konnte auch Edward W. Said (2009)

58 Einführend siehe Karen Struve (2012).

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am Beispiel des Orientalismus aufzeigen. Sich als postkolonial verstehende Forschungen verfolgen das Ziel sowohl historische als auch gegenwärtige Phänomene im Blick zu haben, die als koloniale sowie nach- und neokoloniale Verflechtungen zu bezeichnen sind. Dabei werden sowohl alltagsweltliche Phänomene in den Blick genommen als auch in akademischen Kontexten produziertes Wissen über Kultur und Kulturkontakte und ihre Funktionen in der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse. In Bezug auf Alter(n)s- und Versorgungsvorstellungen älterer Migranten fällt auf, dass die aufgezeigten theoretischen Perspektiven in wissenschaftlichen Diskussionen in Deutschland bisher nicht systematisch zur Anwendung gekommen sind: Weder wurde gezielt untersucht, inwiefern ältere Migranten ihre Alter(n)sund Versorgungserwartungen selber als multi- inter- oder auch transkulturell bezeichnen, noch, ob diese über entsprechend transparent zu machende Kriterien als solche gekennzeichnet werden können. Auch ist bisher nicht untersucht worden, inwiefern grundlagen- und anwendungsorientierte Beiträge womöglich tradierten kolonialistischen Diskurslinien folgen und wie sich dies in der Ausgestaltung von formellen Hilfesystemen widerfinden könnte.59 Dabei finden sich sowohl in wissenschaftlicher als auch fachöffentlicher Literatur viele Beiträge und Konzepte, die Begrifflichkeiten wie »multi-, inter- und transkulturell« aufgreifen. Dabei kann in den letzten Jahren eine Interessenserweiterung beobachtet werden: Während die Frage nach Versorungserwartungen bereits seit Jahrzehnten in Pflegemodellen verhandelt wird, finden sich gegenwärtig zunehmend immer mehr Beiträge, die nach Alter(n)sbildern bei Migranten fragen. Dabei kommen auch hier zentrale Impulse aus den USA. Als ein erster konzeptioneller Ansatz in diesem Themenbereich ist das in den 1950er Jahren entwickelte »Sunrise-Modell« für eine als transkulturell bezeichnete Pflege der USamerikanischen Pflegewissenschaftlerin und Kulturanthropologin Madeleine Leininger zu nennen. Leininger (1998) geht davon aus, dass nicht nur Vorstellungen von Gesundheit, sondern auch Vorstellungen von Pflegehandlungen, -wissen und -praxis durch kulturelle und soziale Einflüsse geprägt sind. Um eine kulturell angemessene Pflege systematisch möglich zu machen, verfolgt das von ihr entwickelte Modell eine strukturalistische Perspektive.60 Für eine gute transkulturelle

59 Kathrin Hahn (2011) hat untersucht, wie Ethnizität in Beratungsgesprächen mit älteren Migranten reproduziert wird. 60 Über »Struktur« werden von Leininger (1998) folgende Bereiche differenziert: technischer Fortschritt, religiöse und ethnische Einflüsse, die Bedeutung von Familie und sozialen Umfeldern, kulturellen Werten und Lebensvorstellungen, politische und rechtliche Aspekte, wirtschaftliche Situation und die Bedeutung von Erziehung und Bildung.

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Pflege ist nach Leiningers Auffassung ein Detailwissen über verschiedene kulturelle Faktoren (verstanden als Kulturen kennen) notwendig, da erst dann zwischen traditionellen Vorstellungen (heilkundliche Tradition und Laienpflege in der Familie) und professionellen Vorstellungen (moderner Medizin) vermittelt werden könne.61 Das Sunrise-Modell berücksichtigt viele Faktoren und gilt daher als äußerst komplex. An Leiningers Ansatz wird einerseits begrüßt, dass sie Themenfelder von Kulturkontakten in Pflegebeziehungen aufgegriffen und theoretisiert hat, sowie versuchte, handlungsleitende Standards zu entwickeln. Kritisiert wird am Sunrise-Modell gemeinhin das von Leininger verwendete starre Kulturverständnis, in dem Kulturen national gerahmt sind. In den 1990er Jahren haben Margaret Andrews und Joceen Boyle (1997) Leiningers Modell für eine transkulturelle Pflege aufgegriffen und weiterentwickelt. In ihren transkulturellen Pflegekonzepten stellen sie Interaktion und Kommunikation in den Vordergrund. Sie betonen, dass ein kulturalisierender Umgang in Pflegekontexten nicht hilfreich sei, sondern pflegerisches Handeln immer individuell angepasst werden muss. Dennoch gehen Andrews und Boyle davon aus, dass der Grad der kulturellen Übereinstimmung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen die Pflegequalität beeinflusst. In Deutschland sind die Arbeiten von Charlotte Uzarewicz und Gudrun Piechotta (1997) in pflegewissenschaftlichen und pflegepraktischen Bereichen bekannt. Uzarewicz und Piechotta warnen im Kontext der Debatte um kultursensible Altenpflege vor Stereotypisierung. Im Vergleich zu Leiningers Modell setzen sie auf ein dynamisches Kulturverständnis und unterstreichen biographieorientierte Zugänge in Pflegesituationen. Während alle angeführten Modelle als transkulturell bezeichnet werden und ihre sinnhafte Übertragung in standardisierte Pflegeassesments in pflegewissenschaftlichen Diskussionen verhandelt wird (siehe Friebe 2003), werden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten in sozialen und sozialverwalterischen Zusammenhängen über »Interkulturalität« diskutiert. In den 1980er Jahren formierte sich in der Ausländerarbeit und der Ausländerpädagogik der Anspruch an eine »Interkulturelle Orientierung« zunächst in der Jugend- und Bildungsarbeit. Im Zeitverlauf entstand der sozialpolitische Anspruch an eine »Interkulturelle Öffnung« von Verwaltungen und Regeldiensten des Sozial- und Gesundheitsbereiches (vgl. Handschuck und Schröer 2011). Zwar

61 Transkulturelle Pflege kann entsprechend Leiningerʼs Modell verschiedene Ziele verfolgen: Entweder das Erhalten und Bewahren von kulturellen Eigenheiten, die Förderung von Anpassung an und Verständnis für die neue Kultur oder die Förderung von Umstrukturierung und Änderung der kulturellen Verhaltensweisen.

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fanden sich in diesem Zeitraum keine »Sonderdienste« für Ältere mit Migrationshintergrund in Deutschland, doch verstärkten sich seit den späten 1990er Jahren Forderungen nach einer interkulturelle Öffnung der Altenhilfe, um einerseits eine kultursensible Pflege zu ermöglichen und andererseits auch Mitarbeitern mit Migrationshintergrund gerecht zu werden. Aus den Praxisfeldern heraus wird so Interesse an aktuellen Nachzeichnungen und Einordnungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten bekundet. Im Zuge von Begleitforschungen, Evaluationen und Dokumentationen zu unterschiedlichsten Modellprojekten »interkultureller Altenarbeit« sind in den vergangenen 15 Jahren vielfältige Beschreibungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten verschriftlicht worden. Dabei ist auffällig, dass die Begriffe »multikulturell«, »interkulturell« und »transkulturell« mehrheitlich untertheoretisiert verwendet und nur wenig standardisiert verwendet werden. Dennoch finden sich einige Arbeiten, die Alter(n)s-vorstellungen älterer Migranten gezielt auch unter solchen Perspektiven untersuchen. Während der Diskurs zu älteren Migranten in den 1900er Jahren in einer Pendelmigration im Alter Lebende als tragische Gestalten bewertete, haben beispielsweise Arbeiten von Margret Spohn (2002), Helen Krumme (2003), Angelika Mölbert (2005), Rita Paß (2006) und Kathrin Hahn (2011) dazu beigetragen, dass als »transkulturell« bezeichnete Migranten nicht mehr per se als Problemfall diskutiert werden. Vielmehr konnten all diese Arbeiten zu einer differenzierten Betrachtung beitragen. Exemplarisch dazu ein Auszug aus der Ergebnisbeschreibung der Untersuchung zu Alter(n)svorstellungen älterer Migrantinnen von Rita Paß: »Nicht die potenziell denkbare »Zerrissenheit« einer doppelten Zugehörigkeit ist für transkulturell orientierte Frauen zentral, sondern die positiven Möglichkeiten, die in einem Pendeln zwischen den Kulturen liegen. Den Frauen gelingt es, mit den Unwägbarkeiten eines Alterungsprozesses wie auch mit den Erscheinungen einer modernisierten Gesellschaft umzugehen. Die Fähigkeit, Prozesse des Lebens aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu bewerten, alte Konzepte zu modifizieren und eigene neue Konzepte zu entwerfen, wird sichtbar. So, wie sie die Zeit ihres Lebens zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland hin- und hergependelt sind, so pendeln sie auch geistig und emotional in ihren Orientierungen.« (Hervorhebung im Original) (2006, S. 341 f.)

Die physische Pendelmigration ist entsprechend Paß’s Interpretation ein Ausdruck gelebter Transkulturalität: »Transkulturell orientierte Migrantinnen, die nach wie vor einen starken Bezug zu den kulturellen Werten, klimatischen Bedingungen und gruppenbezogenen Lebensweisen des

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Herkunftslandes haben, erfüllen sich das Gefühl der doppelten Beheimatung nicht durch eine Rückkehr, sondern durch ein regelmäßiges Pendeln. Mit den ihnen zur Verfügung stehenden personalen wie auch ökonomischen Ressourcen lässt sich diese Lebensform unter der Voraussetzung physischer Gesundheit auch realisieren.« (Ebd., S. 340)

Während Paß in solchen Formulierungen den Migranten Selbstermächtigung und Entwicklungspotenzial zuspricht, reproduziert sie jedoch territorial fixierte und sich unterscheidende Altern(n)s- und Versorgungserwartungen in Deutschland und der Türkei. Diese scheinbar jeweils für Deutschland und die Türkei repräsentativen Alter(n)s- und Versorgungserwartungen wirken starr und rein. Erst durch einen Bezug auf diese Abgrenzungsfolien wird »Transkulturelles« sichtbar. Auf dieses Problem in der Diskussion um »Transkulturalität« hat auch Welsch aufmerksam gemacht. Er argumentiert, dass das von ihm vorgelegte Transkulturalitätskonzept für eine Übergangsphase geeignet und somit temporär zu denken ist. Dabei nutzt die Transkulturalitätsdiagnose alte Vorstellungen von Kultur (monokulturell), auch wenn es solche Vorstellungen für überkommen hält, um eine neue Vorstellung von Kultur (transkulturell) deutlich machen zu können. Diese Phase des Übergangs von einem Kulturverständnis zu einem anderen Kulturverständnis mache es unerlässlich, »sich sowohl auf Einzelkulturen alter Art zu beziehen als auch von Transkulturalität zu sprechen« (Hervorhebung im Original) (2005, FN 27). Aus diesem Zusammenhang erklärt sich, weshalb auch transkulturellen Perspektiven folgende wissenschaftliche Beiträge »deutsche« und »türkische« Alter(n)s- und Versorgungserwartungen vergleichend beschreiben. 2.3.3 Türkische Kultur als Erklärung für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Türkeistämmiger werden oftmals im Kontext einer »türkischen Kultur« oder auch mit Verweis auf spezifische »kulturelle Begebenheiten in der Türkei« diskutiert. So finden sich in Deutschland unterschiedliche Ausformulierungen, was als charakteristisch für eine »türkische Kultur« oder auch für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in der Türkei zu werten sei. In diesem Zusammenhang ist auf Ausführungen Umut Erels zu verweisen, der die Verhandlung Türkeistämmiger im wissenschaftlichen Diskurs kritisiert:

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»In Deutschland tendieren Darstellungen türkischer Migranten dazu, sie zu homogenisieren und die unterschiedlichen ethnischen Hintergründe und Unterschiede in Bildung sowie politischen und sozialen Ansichten nicht einzubeziehen. Familien, die ethnischen Minderheiten zugehören und aus so genannten muslimischen Ländern stammen (auch aus der Türkei), werden oft unter den Begriffen ›engverbunden‹ und ›traditionell‹ zusammengefasst.« (Hervorhebung im Original) (2011, S. 322)

Europäische Gesellschaften würden hingegen als modern beschrieben. Charakteristisch seien rasante Veränderungen, Pluralisierung kultureller Optionen, Individualisierung und Fragmentierung stabiler Beziehungen und kollektiver Identität sowie eine Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Im Umkehrschluss bedeute dies, dass nicht-europäischen Ländern diese Eigenschaften erstmal abgeschrieben würden. In Anlehnung an Perspektiven der Postcolonial Studies stellt Erel fest, dass Begriffe wie »Tradition« und »Moderne« auch im wissenschaftlichen Diskurs als ethnisch aufgeladen und »rassialisiert« (vgl. ebd.) zu bewerten sind: »Diskussionen zu türkischen Migrantenfamilien kreisen oft um die allgemeine Annahme, dass starke Familienbande und -verantwortung sowie patriarchale Strukturen diese Familien charakterisieren. Das reflektiert eine ›rassialisierte‹ Dichotomie von Modernität versus Tradition.« (Hervorhebung im Original) (ebd.)

Aus diesem Zusammenhang heraus sind wissenschaftliche Beiträge, die Alter(n)sverläufe im Kontext einer angenommenen türkischen Kultur« diskutieren oder Alter(n)s- und Versorgungserwartungen als »türkisch« kennzeichnen, hinsichtlich der mittransportierten Selbst- und Fremdzuschreibungen beziehungsweise des otherings (Spivak 1985) kritisch zu betrachten. Gleichzeitig ist an die von Elwert (1994) und von Kondratowitz (2000, 2007) mehrfach betonte Gefahr der Romantisierung der Situation Älterer in nicht als modern oder weniger industrialisiert geltenden Ländern im Kontext eines Modernisierungsparadigmas zu erinnern (siehe Kapitel 2.1.3 und Kapitel 2.3.1). Dabei hat bereits Rita Paß (2006, S. 69) darauf hingewiesen, dass in vielen wissenschaftlichen Texten eine stereotypisierte kulturelle Gebundenheit türkischer Migrantinnen reproduziert wird.62 Repräsentative Beispiel für solche Darstellungen sind Veröffentlichungen von

62 Insbesondere älteren Türkinnen werde im Vergleich zu Älteren der Mehrheitsbevölkerung mehr Wehleidigkeit, Krankheit und Unselbstständigkeit unterstellt. Gleichzeitig gälten ältere türkische Migranten als Symbol für Unveränderlichkeit, Inflexibilität und dem Festhalten althergebrachter, aber überkommener Werte (vgl. ebd.).

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Bernd Seeberger im Kontext seiner Dissertation »Altern in der Migration – Gastarbeiterleben ohne Rückkehr« (1998). So bescheinigt Seeberger (1998, S. 22) der »ersten Gastarbeitergeneration« eine Rückwärtsgewandtheit, die sie an Tradition, Religion und Familie binde und somit Integration in »die deutsche Gesellschaft« verhindere.63 Traditionelle Familienstrukturen erscheinen so unvereinbar mit Anforderungen einer fortschrittlichen Gesellschaft. Dabei greift Seeberger (2003, S. 257) die These des »ethnischen Rückzugs« von Dietzel-Papakyriakou (1993) auf und behauptet, dass viele türkischen Gastarbeiter nur in ihrer ethnischen Gruppe alt werden wollten, da ihnen nur dies ein Altern in Würde ermöglichen könne.64 Paß greift Seebergers Argumentation auf und kritisiert daran, dass der Rückzug in eine ethnische Enklave nicht als positiv und befreiend im Sinne von Kompetenzzuwachs durch die Aktive Nutzung von Altersressourcen gedeutet wird, sondern als »bewusst vorgenommene Abkehr von der Aufnahmegesellschaft« (2006, S. 65) interpretiert werde. Doch auch Seeberger (2003) fordert, genau wie Krumme (2002), Spohn (2002), Matthäi (2004), Mölbert (2005), Paß (2006), (Wettich 2007) und schließlich Yilmaz (2011) und Rohstock (2014), emische Perspektiven in dem Forschungsfeld »Alter(n) bei Migranten« als unerlässlich zu betrachten. Durch die die vorgelegten qualitativen Studien ebenjener Forscherinnen konnten Innenperspektiven älterer Türkeistämmiger nachgezeichnet werden und beobachtete Ambivalenzen zwischen verbreiteten lebensweltlichen Annahmen und ebenfalls vorliegenden quantitativen Daten um weitere Dimensionen ergänzt werden. So bestätigen sich in standardisierten Umfragen zwar eine starke Familienorientierung und Familienbindung unter Türkeistämmigen in Deutschland. Doch zeigen die gleichen Studien (z. B. Olbermann 2003; Baykara-Krumme 2008) auch auf, dass in diesem Punkt nur wenig Differenz zur autochthonen Gesellschaft besteht. Während also nachgezeichnet werden kann, dass es nur geringe Unterschiede in Kontakthäufigkeit, Beziehungsintensität und Unterstützungsleistungen in intergenerationalen Familienverhältnissen zwischen »deutschen« und »türkischen« Familien gibt, so sind dennoch Grenzen und Möglichkeiten einer familiären Gewährleistung regelmäßiger Hilfe bei täglichen Verrichtungen im Falle von

63 Auch sieht er (ältere) Türken als für fundamentalistisches Gedankengut besonders empfänglich an (vgl. Seeberger 1998, S. 22). 64 Seeberger (1998, S. 82) ist der Auffassung, dass ein Altern nach türkischer Tradition nur innerhalb eines ethnischen Systems oder in der ethnischen Enklave möglich ist, da so Vorstellungen und Rollenzuweisungen für alte Menschen, verbunden mit ihnen zustehenden Wertschätzungen, leichter möglich seien.

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Unterstützungs- und Pflegebedarf Türkeistämmiger von zentralem Forschungsinteresse. Dabei ist aus quantitativen Studien (siehe Zeman 2005, S. 52 f.; Okken et al. 2008; Hubert et al. 2009, S. 65) zu ziehen, dass türkeistämmige Eltern tatsächlich mehr aktive Unterstützung und Pflege von ihren Kindern erwarten als deutsche und dass die türkische Kindergeneration auch mehr Pflegeleistungen erbringt. Doch Peter Zeman (2005, S. 64) befürchtet, dass bei diesen Befragungen mehr Wunsch als Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Denn gleichzeitig zeigen qualitative Studien (Mölbert 2005; Paß 2006; Wettich 2007; Yilmaz 2011) auf, dass viele ältere Türkeistämmige keinen gemeinsamen Haushalt mit ihren Kindern anstreben und ihnen nicht zur Last fallen wollen. So sind kaum Drei- oder Mehrgenerationenhaushalte unter Türkeistämmigen in Deutschland zu finden (Baykara-Krumme und Hoff 2006).65 Ingrid Matthäi (2004, S. 219) kommt daher zu dem Schluss, dass die vordergründig stets abfragbare Familienorientierung unter Türkeistämmigen durchaus hinterfragbar sei und keineswegs zu alternativlosen Verhaltensweisen führe. Ergebnisse vorliegender qualitativer Untersuchungen, die auch einen Einblick in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Türkeistämmiger ermöglichen, zeigen einen weiteren beachtenswerten Aspekt auf. Vorannahmen bestätigend, zeigt sich, dass die Werte Achtung, Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber Älteren von höchster Bedeutung in den Alter(n)sbildern Türkeistämmiger in Deutschland sind. Jedoch begründen die Befragten dies nicht über den Islam (wie oft vermutet), sondern mit einer türkischen Kultur, Tradition und Mentalität. Eine Wertschätzung des Alters wird von Türkeistämmigen demnach vorrangig kulturell und säkular, nicht jedoch religiös begründet (siehe Zimmermann 2012, S. 323). Sabine Prätor (2009) und Otfried Weintritt verweisen hier auf Traditionen aus alttürkischen und vorislamischen Stammeskulten. Weintritt (2012, S. 257) berichtet, dass Ältere in dieser vorislamischen Zeit schamanistische Praktiken ausgeführt haben und ihnen daher Respekt entgegen gebracht wurde. Darüber hinaus gilt es als charakteristisch für Ahnenkulte, dass mit dem fortgeschrittenen Alter ein für den Stamm wichtiger Erfahrungs- und Wissensschatz und durch die Nähe zum Tod eine besondere Verbindung zu den Ahnen angenommen wurde (siehe dazu auch Kapitel 2.4.1). Das bis heute in der Türkei verbreitete Verhalten, dass Jüngere vor Älteren niederknien und deren Hand küssen sei eine aus dieser Zeit übernommene Tradition. Darüber hinaus verweisen Prätor (2009, S. 92 f.)

65 Sabine Prätor (2009, S. 91) macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass bereits nachgewiesen ist, dass schon seit Ende des Osmanischen Reiches in der Türkei die überwiegende Lebensform die Kleinfamilie ist – und kein mehrgenerationelles Leben einer Großfamilie unter einem Dach.

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und Weintritt (2012, S. 260) auf die im Türkischen relevanten Begriffe beziehungsweise Konzepte saygı, zu verstehen als Achtung und Respekt, und şeref, zu verstehen als Würde und Ansehen. Über saygı und şeref könne man das Verhältnis zwischen Alt und Jung in der Türkei nachvollziehen. Mit saygı werden die Beziehungen unter den verschiedenen Altersstufen geregelt. Alter sei, so Prätor (2009, S. 92), als wichtigstes Kriterium für saygı zu bewerten. Die Einhaltung der sozialen Regeln von Achtung und Respekt garantierten auch eine persönliche Würde (şeref) der Älteren. Die Jüngeren erführen durch die Erfüllung des Achtungsanspruchs gegenüber den Älteren Liebe (sevgi). Jana Wettich (2007) arbeitet in ihrer Studie zu Alternsbildern von Türkeistämmigen in Deutschland heraus, dass diese Veränderung in der Wirkmächtigkeit von saygı und şeref wahrnehmen. Während sich die Altersrangstrukturen allmählich auflösen, bleibe der Anspruch an gegenseitigem Respekt dennoch erhalten. Dabei spaltet sich die Gruppe der von Wettich befragten Türkeistämmigen in Deutschland auf. Während die einen solche Veränderungsprozesse nur in Deutschland wahrnehmen, sehen andere gleiche Vorgänge auch in der Türkei (vgl. ebd., S. 63 ff.). Zimmermann stellt in seiner Betrachtung bisher vorliegender Studien, die Rückschlüsse auf Alter(n)sbildern und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Migranten in Deutschland zulassen, zwei für ihn ausschlaggebende Aspekte heraus. Zum einen sieht er die These der geringen Differenz zwischen der autochthonen und der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland bestätigt. Zum anderen argumentiert er, dass für die messbaren Unterschiede weniger religiöse Faktoren als vielmehr soziale Benachteiligungen als ausschlaggebend zu bewerten sind (vgl. 2012, S. 327). So kommt er zu dem Schluss, dass Alter(n)sbilder von türkeistämmigen Migranten in Deutschland »weit weniger von religiösen Einstellungen geprägt sind, als dies bei dem hohen Anteil von Personen muslimischen Glaubens erwartet werden könnte« (ebd., S. 316). Doch ist mit dieser Feststellung die Bedeutung von Religion, in diesem konkreten Falle die des Islams, in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Türkeistämmiger nicht hinreichend beantwortet.66 Denn insbesondere in der Fachöffentlichkeit scheint »der Islam« als erklärendes Element für Alter(n)s- und Versorgungsverläufe an Bedeutung zu gewinnen. Im wissenschaftlichen Kontext steht daher weiterhin zur Frage, inwiefern Alter(n)s- und Versorgungserwartungen als islamisch charakterisiert werden (können) und ob dies sozial relevant ist.

66 Beispielsweise bringt Ottfried Weintritt (2012, S. 258) die Überlegung ein, dass im Zuge der von Atatürk vorangetriebenen Turkisierung (z. B. über die Lehrpläne) der Türkei nach dem Osmanischen Reich solche säkular begründeten Alter(n)sbilder Eingang in das nationale Narrativ gefunden haben könnten.

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2.4 ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN IM K ONTEXT VON R ELIGION Zunehmend wird im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs darauf hingewiesen, dass neben den spezifischen Migrationssituationen und den kulturellen Selbstverständnissen auch Religionen als Einflussfaktor auf beziehungsweise als Erklärungsfolie für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zu thematisieren sind. Zwar wird die Rolle des Christentums in der Konstruktion individueller, sozialer beziehungsweise kultureller Alter(n)sbilder und Versorgungserwartungen im Alter bereits diskutiert,67 doch scheint die Anwesenheit älterer muslimischer Migranten in Deutschland die Frage nun grundsätzlicher und breiter aufzurollen. So fragt Harm-Peer Zimmermann in einem Beitrag über Altersbildern zu von ihm als Muslime konzipierten türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland: »Hat dieser religiöse Hintergrund Einfluss auf Einstellungen zum Alter, auf Altersbilder? Oder handelt es sich um eine statistische Größenordnung, deren Relevanz unter anderem dadurch relativiert wird, dass man aus dem Islam nicht austreten kann wie aus einer Kirche?« (2012, S. 315)

Während Harm-Peer Zimmermann noch fragt, geht Otfried Weintritt bereits davon aus, dass bei der Versorgung älterer muslimischer Migranten »Dispositionen zu berücksichtigen [sind], die etwas mit der islamischen Religion zu tun haben« (2012, S. 233). Zur Diskussion steht demnach das Verhältnis von Altern(n)s- und Versorgungserwartungen zu Religion im Allgemeinen und zum Islam im Besonderen. Im Folgenden wird in einem ersten Abschnitt skizziert, welche Aspekte gegenwärtig als zentral für die Beziehung von Religionen und Alter(n) wissenschaftlich thematisiert werden. Anschließend wird in einem zweiten Abschnitt aufgezeigt, inwiefern der Islam als konstituierend für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen bei Muslimen beziehungsweise für ein als islamisch zu bezeichnendes Alter(n)sbild gilt. In einem dritten Abschnitt wird das Potential inter- und transreligiöser Betrachtungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten vorgestellt und diskutiert.

67 Siehe dazu beispielsweise Charbonnier (2014).

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2.4.1 Religion als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Bisher sind Zusammenhänge von Religionen und Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nur begrenzt systematisch erforscht.68 Dennoch können einige zentrale Anknüpfungspunkte angeführt werden. Ein erster zentraler Stolperstein bei der Frage nach dem Verhältnis von Alter und Religionen ist das Religionsverständnis an sich. Die Religionswissenschaft diskutiert in kritischer SelbstReflexion sowie als Forschungsgegenstand, wie der Begriff beziehungsweise das Konzept Religion in diachroner und synchroner Perspektive konstruiert und reproduziert wird. 69 Ausgangspunkt der Diskussion ist, dass der Religionsbegriff mit seiner Herkunft sowie (ersten) inhaltlichen Füllung ein Begriff der abendländischen Geistesgeschichte, also des spezifischen historisch-kulturellen Kontexts Europas ist. Dabei ist ein auf dem Christentum aufbauendes Religionsverständnis auch auf außereuropäische Kontexte übertragen worden. Gegenwärtig wird problematisiert, inwiefern der Anspruch, Religion als einen Allgemeinbegriff, der Phänomene auch in anderen historischen und kulturellen Zusammenhängen benennt und erklärt, zu halten ist.70 Die Problematik des Religionsbegriffs beziehungsweise der inhaltlichen Füllung dessen, was als Religion bezeichnet wird, findet sich in Texten zum

68 Im Gegensatz dazu liegen zum Verhältnis von Religion und Krankheit (einführend z. B. Luig 2007) sowie Tod und Sterben (einführend z. B. Ahn et al. 2011) vielfältige Arbeiten vor. 69 Um einen Einblick in die religionswissenschaftliche Auseinandersetzung zum Religionsbegriff zu erhalten, sind Beiträge von Michael Bergunder (2011), Karénina Kollmar-Paulenz (2012), Michael Strausberg (2012) und Klaus Hock (2014a) empfehlenswert. 70 In diesem Zusammenhang wird Religion als europäisches kulturelles Konzept diskutiert, das nicht unproblematisch auf andere Kulturen übertragen werden kann, da es mitnichten neutral ist. Gleichzeitig wird festgestellt, dass im Zuge des europäischen Kolonialismus der Religionsbegriff exportiert und wirkmächtig verankert wurde. Transkulturellen Prozesse entsprechend wurde der Religionsbegriff auch in außereuropäischen Kontexten aufgenommen und, wie es Andreas Nehring (2012) am Beispiel der Reform-Hindus des 19.Jahrhunderts aufzeigt, angeeignet. Es steht also zu Frage, ob nicht doch eine Begriffsbestimmung gefunden werden kann, die es erlaubt all das zu umfassen und analysierbar zu machen, was gegenwärtig bereits als Religion (und: Religiosität, Spiritualität, Glaubensgemeinschaft etc.) bezeichnet wird – ohne dabei an Paradigmen des Funktionalismus und der Religionsphänomenologie festzuhalten und dennoch nicht so unbestimmt ist, dass es im allgemeinen Kulturbegriff aufgeht.

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Verhältnis von Alter und Religion wieder. In nicht primär aus religionswissenschaftlicher Perspektive geschrieben Beiträgen, künden Überschriften Aussagen zur Beziehung von Religion und Alter an, gehen dann jedoch – mal implizit, mal explizit – nur auf die Rolle des Christentums, manchmal auch auf des Judentum ein und generalisieren daraus gewonnene Erkenntnisse. In sich als religionswissenschaftlich und anthropologisch verstehenden Betrachtungen werden jedoch – aller an den Religionsbegriff hängenden Unbestimmtheiten zum Trotz – allgemeine Konstanten im Verhältnis von Alter(n) und unterschiedlichen Religionen diskutiert. Dabei wird aufgezeigt, dass Religionen das Alter widersprüchlich veranschlagen. Diese Ambiguität des Alters in den Religionen wird, so Zimmermann, zwischen den Polen einer Altersrelevanz und einer Altersirrelevanz71 sichtbar: »Religionen verhalten sich ambivalent gegenüber dem Alter. Das heißt nicht nur, dass sie neben dem Alterslob auch immer die Altersklage anstimmen, sondern dass sie auch die Relevanz des Alters einerseits relativieren, andererseits dramatisieren.« (2013, S. 74)

Dem Alter wird in Religionen Hochachtung entgegengebracht, also eine Relevanz zugesprochen. Die hohe Veranschlagung des Alters in Religionen gilt jedoch nicht als selbstverständlich, sondern wird im Zusammenhang mit den jeweiligen Menschen- und Weltbildern einer religiösen Ordnung diskutiert. Die Lebensphase Alter steht somit immer im Kontext der allgemeinen und umfassenden religiösen Begründungszusammenhänge und hat dabei keinen herausragenden Stellenwert. Diese Ambiguität des Alters in den Religionen wird im Kontext von Liminalität diskutiert. Klaus Hock (2009) greift die Liminalitätsdiagnose auf und thematisiert das Alter als religiöse Statuszuweisung. Dazu differenziert er in historischer Perspektive zunächst auf Altersklassensystemen basierende Gesellschaften. Kennzeichnend für sie ist, dass in ihnen nicht das chronologische Alter, sondern ein über Altersklassen konstituiertes soziales Alter relevant ist. In ihnen spielen so genannte »Passageriten«, wie sie von Arnold van Gennep (2005) beschrieben und im von Victor W. Turner (2005) entwickelten konzeptionellen Ansatz der »liminalen Phase« analysierbar sind, eine zentrale Rolle. Ein solches Altersklassensystem sieht Hock als Voraussetzung dafür, dass sich ein »quasi-religiöser Nimbus um die Ältesten entwickeln kann, wie es bei vielen traditionalen Gesellschaften üblich ist« (2009, S. 172). In den Anlagen und Traditionen der

71 Zimmermann verweist darauf, dass der Begriff »Altersirrelevanz« von Leopold Rosenmayer (2007) eingeführt wurde, der ihn mit Bezug auf das Judentum und Christentum verwendete.

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großen Religionen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, so die wissenschaftliche Diagnose, ist dieses Altersklassensystem relativiert und teilweise gebrochen. Dennoch teilen in traditionalen Gesellschaften bestehende religiöse Vorstellungen und die großen Religionen die Idee, dass das Alter aufgrund seiner Liminalität zum Jenseits eine besondere Qualität erfährt. Diese liminale Qualität erfährt das Alter dabei durch seine Positionierung zum Lebensende hin, als Grenz- und Übergangssituation zwischen Immanenz und Transzendenz.72 Darüber hinaus geht Hock davon aus, dass in volksreligiösen Kontexten, die sich in allen Religionen finden, Altersklassen als bedeutsamste Grundformen der Vergesellschaftung auch weiterhin von fundamentaler Bedeutung sind (vgl. 2005, S. 171 f.). Im Kontrast zu der Frage nach Konstanten im Umgang der Religionen mit Alter machen sowohl Hock als auch Zimmermann auf einen Facettenreichtum von religiösen Aussagen und Umgangsformen über Alter in synchronen und diachronen Dimensionen aufmerksam. So verweist Hock aus religionsgeschichtlicher Perspektive darauf, dass Religionen »im Laufe ihrer Geschichte nochmals verschiedenen kulturellen Prägungen unterworfen waren und von daher in sich selbst keine einheitliche Antwort auf die Frage geben, welche verbindlichen normativen Aussagen sie über das Alter und Altern zu machen bereit sind.« (2009, S. 158)

Dennoch sieht Zimmermann, ähnlich wie schließlich auch Hock, Möglichkeiten, idealtypische Skizzierungen von religiösen Grundgedanken und Kernbotschaften in Hinblick auf das Alter zu entwerfen und sie als Altersbilder zu bezeichnen (vgl. 2013, S. 75). Dabei begreift Zimmermann sowohl historische als auch systematische Perspektiven der Religionswissenschaft als Ressource für ein solches Vorhaben. Denn »gerade die inneren Widersprüche und Paradoxien im Altersbild von Religionen gilt es herauszuarbeiten. Darüber hinaus erschöpfen sich Altersbilder, wie sie in Gesellschaften und Kulturen […] kursieren, durchaus nicht in ihren religiösen Hintergründen. Kulturen und

72 Liminalität als Forschungsansatz im Kontext von Alter wurde von der Anthropologin Barbara Myerhoff (1980) in einer Studie über jüdische Bewohner eines Altersheims in Los Angeles verfolgt. Dabei beschrieb sie die Bewohner als »liminale Figuren«. Ihr Ansatz wurde rezipiert und ausgebaut, stieß jedoch auf die Kritik unter anderem soziale, wirtschaftliche und politische Faktoren als Konstitutionsbedingungen der Liminalität im Alter vernachlässigt zu haben (vgl. Hock 2009, S. 169 f.).

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Gesellschaften haben (neben und konkurrierend mit religiösen) zahlreiche normative und axiologische Ressourcen« (2013, S. 78).

Zimmermann verweist darauf, dass Altersbilder nicht monoperspektivisch zu erschließen sind. So zeigt er, indem er auf mögliche Wechselwirkungen zwischen säkularen Einflüssen und religiösen Vorstellungen sowie auf Differenzen zwischen normativen Vorgaben und den jeweiligen individuellen und sozialen Strategien in ihrer Umsetzung aufmerksam macht, weitere Komplexitätsstufen in der wissenschaftlichen Untersuchung des Verhältnisses von Alter und Religionen auf. Dies kann als ein zweiter zentraler Stolperstein bei der Suche nach Antworten zum Verhältnis von Religionen und Alter(n)s- und Versorgungserwartungen bezeichnet werden. Jede Aussage mit einer Tendenz zur Allgemeingültigkeit ist mit einem Verweis auf die jeweils spezifischen kulturellen und sozialen Bedingungen zu relativieren beziehungsweise zu begrenzen. Jenseits der bis hierhin angeführten Fragen interessiert im wissenschaftlichen Diskurs die Bedeutung von Religiosität und Spiritualität im Leben Älterer. Insbesondere die Fragen, welchen Einfluss ein – wie auch immer zu messender – Religiositätsgrad auf die Gesundheit hat, motivierte insbesondere im anglo-amerikanischen Raum Forschungsvorhaben im Bereich von Public Health.73 Im deutschsprachigen Raum werden in Bezug auf das Themenfeld von Religion und Gesundheit im Alter entsprechende Publikationen aus dem US-amerikanischen Raum rezipiert.74 Den Stand der Forschung fassen Jeff Levin, Linda M. Chatters und Robert Joseph Taylor dabei wie folgt zusammen: »Higher levels of religious involvement (e. g. attendance at religious services) exhibit salutary associations with numerous medical and psychiatric outcomes: self-ratings of health,

73 Dabei dominieren psychologische Sichtweisen die Forschungsagenda. Levin et al. warnen sogar: »This field runs the risk of becoming medicalized and dominated by research agendas set by those without any background in social or population-health research methods, not to mention religious research.« (2011, S. 403) 74 So beispielsweise die von Pargament et al. (1988) differenzierten drei Typen der Kontrollüberzeugung über Gesundheit und Krankheit im Kontext von Religiosität: (1) der aktive selbsthandelnde Typ (self-directing style) mit einer starken internalen Kontrollüberzeugung, der einem Gott lediglich eine passive Rolle zuspricht, (2) der sich fügende Typ (deferring style) mit einer geringen internalen Kontrollüberzeugung, der auf Problemlösungen höherer Mächte wartet und (3) der kollaborative Typ (collaborative style), der mit Gott partnerschaftlich eine Problemlösekompetenz teilt.

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functional disability, survival rate, hypertension and cancer prevalence, smoking and drinking behaviour, and most dimensions of psychological distress and well-being. Moreover, findings have emerged regardless of the race, gender, social class, age, or religious affiliation of study subjects.« (Levin et al. 2006, S. 1168)

Dennoch, so stellen Levin und Kollegen heraus, liege bisher keine befriedigende Antwort vor, weshalb die nachgezeichneten Zusammenhänge zwischen Religion und Gesundheit im Alter bestehen. Eine theoretische Einordnung der Befunde in das thematische Dreieck zwischen Religion, Alter und Gesundheit habe bisher nicht ausreichend stattgefunden (vgl. ebd. 2011, S. 391). Darüber hinaus müssten auch die bestehenden Forschungsergebnisse relativiert werden, denn sie basierten auf akkumuliertem Wissen aus Samples mit mehrheitlich weißen, nordamerikanischen Christen (vgl. ebd., S. 402). Inwiefern die Forschungsergebnisse auch aussagekräftig für andere soziale, religiöse und kulturelle Gruppen sind, ist daher als eine tendenziell offene Frage zu bewerten. 2.4.2 Der Islam als Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen Da es sich entsprechend der Heterogenität von Religionen als schwieriges Unterfangen darstellt, Konstanten im Umgang mit Alter zu fixieren, gilt es differenziertere Betrachtungsweisen anzuwenden. Als ein erster Differenzierungsschritt wird so nach wirkmächtigen Altersbildern in den jeweiligen Religionen gefragt. Aus diesem Zusammenhang heraus wird auch der Islam zur Erklärung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen herangezogen. Jedoch wird vor allem aus religions- und islamwissenschaftlicher Perspektive darauf hingewiesen, dass der Islam, genau wie andere Religionen, kein homogenes und statisches Gebilde ist, so dass sich Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in islamischer Lehre und Praxis facettenreich darstellen. Dabei scheint sich im wissenschaftlichen Diskurs eine Unterscheidung zwischen aus den Hauptquellen der islamischen Lehre abgeleiteten Alter(n)s- und Versorgungs-erwartungen als Norm einerseits und den lebensweltlichen Umgangsweisen mit Alter(n) und Versorgung von Muslimen andererseits als praktikabel zu erweisen. Zentrale Aspekte aus diesen beiden Zugangsweisen werden im Folgenden vorgestellt.

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Aus den Hauptquellen der islamischen Lehre, dem Koran als göttlicher Offenbarung und der in den Hadithen75 überlieferten Tradition des Propheten Mohammed, werden einige Grundannahmen zum Alter abgeleitet. So zieht Weintritt (2012, S. 236, 247, 266) aus dem Koran und den Hadithen die Erkenntnis, dass das Alter einerseits mit körperlichem Abbau und Schwäche in Verbindung gebracht wird und so negativ erscheint, anderseits dem Alter positiven Zuschreibungen wie Weisheit und Würde zugestanden werden. Hock (2009, S. 159) differenziert koranische Aussagen noch weiter und macht darauf aufmerksam, dass frühkoranische Passagen zum Alter neutral bis wohlwollend ausfallen, spätkoranische jedoch Alter in den Kontext von Lastern, Krankheit und Mühen stellen und somit negativ färben.76 Die sich hier wiederfindende Ambiguität des Alters wird in wissenschaftlicher Diskussion im Kontext des islamischen Menschen- und Gottesbildes erklärt. Grundsätzlich kennzeichnet der Koran das Verhältnis von Gott und Menschen durch eine unüberwindliche Dichotomie: auf der einen Seite die unbegrenzte, ewige und absolute Macht Gottes, auf der anderen Seite der schwache, vergängliche und begrenzte Mensch. Entsprechend der Allmacht Gottes wird von einer Prädestination des menschlichen Lebens ausgegangen. 77 Gleichzeitig wird das menschliche Leben als eine Prüfung verstanden, bei der sowohl Aufgabe als auch Ziel die Hingabe an Gott ist – also »Islam« in seiner eigensten Bedeutung. Dabei betrifft das Bekenntnis zur Einheit Gottes die gesamte menschliche Existenz. Muslimen wird durch richtiges Handeln, also durch das Vollbringen guter Taten, ein Lohn im Jenseits verheißen. Aus diesem Grund ist für einen wahrhaft Gläubigen beziehungsweise Frommen der Tod nichts Bedrohliches an sich (vgl. Weintritt 2012, S. 237).

75 Die im 9. Jahrhundert entstandene Hadithen-Sammlung besteht aus gesammelten Aussprüchen und dokumentierten Handlungen des Propheten Mohammed sowie von ihm gebilligten Handlungen Dritter. 76 Dies erklärt er über die anzunehmende Lebenswirklichkeit Älterer zu der jeweiligen Zeit der Textverfassung. 77 Hier ist das Konzept »al-qada wa al-qader« (übersetzt etwa »die göttliche Ordnung und Vorherbestimmung«), im Türkischen als »kader« bezeichnet, anzuführen. Kader ist die Überzeugung, dass Gott für jeden Menschen das Ausmaß von Glück und Unglück, die Länge seines Lebens und die Art seiner Handlungen vorherbestimmt habe (vgl. Sure 22:5 und Sure 40:67). Abhängig von der jeweiligen islamischen Schule, können Verhaltensweisen, denen eine zukunftskontrollierende Absicht zugeschrieben wird, als Handlungen gegen Gott aufgefasst werden.

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So wie Hock (2009, S. 159) es aus Koransuren ableitet, hat die Lebensphase Alter, wenn sie mit körperlicher Regression, also mit Gebrechlichkeit einhergeht, eine besondere theologische Qualifikation im Koran, denn sie lässt die Abhängigkeit und Vergänglichkeit des Menschen zur göttlichen Allmacht noch deutlicher werden. Das Alter erhält so seine besondere Relevanz im Islam, da es in besonderer Weise an die Güte, Gerechtigkeit und Macht Gottes erinnert – und damit die Erfüllung religiöser Pflichten anmahnt. Aus dieser Perspektive sieht Weintritt im islamischen Verständnis der Lebensphase Alter die Möglichkeit beziehungsweise Chance, eine religiöse Vervollkommnung zu erreichen und schlussfolgert: »Die Idee und das Vorhaben spiritueller Vervollkommnung der irdischen Existenz angesichts der ›Realität‹ des Jenseits sind wesentlich für das islamische Altersbild.« (Hervorhebung im Original) (2012, S. 247).78

Die angeführten islamischen Grundgedanken spiegeln sich auch in den die irdische soziale Ordnung betreffenden Annahmen wider. Wie angeführt, erfährt in islamischer Deutung das Alter durch seine liminale Position eine besondere Relevanz, die den Anspruch besonderer Respektserweisung gegenüber Älteren mittransportiert. In diesem Sinne wirken islamische Glaubenssätze regulierend auf das menschliche Zusammenleben und halten Altersabstufungen im Sozialen relevant. An das Alter geknüpfte Versorgungserwartungen ergänzen aus wissenschaftlicher Perspektive das islamische Altersbild. Ausgangspunkt für Überlegungen menschlichen Zusammenlebens ist im Islam immer die Familie. Sie gilt als zentrale Institution der Fürsorge, Unterstützung und letztlich Versorgung im Alter.

78 Weintritt formuliert zusammenfassend: »Im Kontext des islamischen Menschenbildes liegt die religiös-spirituelle Vervollkommnung als individuelle Zielsetzung nahe. Sie vollzieht sich im Alter bewusst als Erfüllung der Glaubenspflichten und als Pflege alterstypischer Eigenschaften (Weisheit, Gerechtigkeit), für die es unbedingt einer alle Generationen einbeziehenden Situation bedarf. Das Gelingen dieses Vorhabens schließt auch ein, dass der von der göttlichen Allmacht vorbestimmte Tod (für den wahrhaft Gläubigen, wörtlich: Frommen) nichts Bedrohliches an sich hat. Die aufhebbare und wiederherstellbare Verbindung von Körper und Geistgestaltet die Vorstellungen vom Ende des irdischen Daseins. Im Gebot der ewigen Grabesruhe hat sie ihre konkrete Auswirkung.« (2012, S. 266) Über Al-Insan Al-Kamil verdeutliche sich die islamische Vorstellung vom »vollkommenen Menschen«: »Die Annäherung an diesen Zustand vollzieht sich über ein sukzessives Ähnlichwerden mit der göttlichen Gegenwart.« (Weintritt 2012, S. 248)

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Dabei sollen sich in der Familie, aber auch in der Gesellschaft jenseits der Familie, die Ideen eines Reziprozitätsgedankens und eines Generationenvertrages verwirklichen.79 Älteren beziehungsweise Eltern ist Anerkennung und Respekt für ihre Lebensleistung (z. B. Kindererziehung, Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, Erwerb von Wissen und Weisheit) zu erbringen. Dies mündet in einer Adressierung an die jeweils jüngeren Generationen, Versorgungsverantwortung für Ältere zu übernehmen. Gleichzeitig bleiben Ältere aufgefordert, im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten die (familiäre) Gemeinschaft nicht unnötig zu belasten. Entsprechend der Assoziierung des Alters mit körperlicher Gebrechlichkeit spielt der Umgang mit Krankheit und Gesundheit eine zentrale Rolle. Der Islam ist verschiedentlich auf seine Bedeutung in der Gesundheits- und Krankenpflege hin untersucht worden.80 Auch hier wird eine Ambiguität betont: auf der einen Seite wird Krankheit als gottgewollt gedeutet, so dass Krankheiten von Menschen angenommen und nicht zwangsläufig bekämpft werden müssen. Dies steht im Kontrast zu einer Fürsorgepflicht für den eigenen Körper, die der Prophet Mohammed einigen Hadithen zufolge eingefordert haben soll (vgl. Brzoska und Razum 2009). In beiden Fällen, sowohl bei Krankheit als auch im Alter beziehungsweise bei der impliziten Vermischung von beidem, kann festgehalten werden, dass das über den Islam begründete Versorgungsverständnis immer zwei Seiten adressiert: sowohl die versorgungsempfangenden Älteren beziehungsweise Kranken als auch die Versorgungsgebenden sind aus islamischer Sicht aufgefordert, sich um eine bestmögliche Versorgungssituation zu bemühen.

79 Weintritt (2012, S. 235) verweist dabei auf die Sure 31: 14: »Und wir haben dem Menschen im Hinblick auf seine Eltern anbefohlen – seine Mutter hat ihn doch (vor seiner Geburt) überaus mühsam (in Schwäche über Schwäche) (unter dem Herzen) getragen, und bis zu seiner Entwöhnung waren es (weitere) zwei Jahre (seine Entwöhnung ist zwei Jahre Zeit) -: Sei mir und deinen Eltern dankbar! Bei mir wird es (schließlich) alles enden« und die Sure 17: 23-24: »Und dein Herr hat bestimmt, dass ihr ihm alle dienen sollt. Und zu den Eltern (sollst du) gut sein. Wenn eines von ihnen (Vater oder Mutter) oder (alle) beide bei dir (im Haus) hochbetagt geworden (und mit den Schwächen des Greisenalters behaftet) sind, sag nicht ›Pfui!‹ zu ihnen und fahr sie nicht an, sondern sprich ehrerbietig zu ihnen und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der (Selbst-)Erniedrigung (d.h. benimm dich ihnen gegenüber aus Barmherzigkeit freundlich und geringfügig?) und sag: Herr! Erbarm dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein (und hilflos) war!« 80 In Deutschland ist vor allem die Monographie »Der muslimische Patient« von Ilhan Ilkilic (2002) bekannt.

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Während die Ansprüche an Respektserweisung gegenüber Älteren, der Generationenvertrag sowie das Reziprozitätsprinzip nicht grundsätzlich diskutiert werden, entzünden sich gegenwärtig Diskussionen darum, inwiefern aus islamischer Perspektive außerfamiliäre Akteure (als singuläre Individuen oder als Institutionen) in die Versorgung hilfebedürftiger Älterer beziehungsweise der Eltern eingebunden werden dürfen. An dieser Stelle verschiebt sich der wissenschaftliche Fokus auf eine lebensweltliche Perspektive, in der Aussagen islamischer Gelehrter und Positionierungen islamischer Verbände ebenso relevant werden wie der letztlich pragmatische, alltagsweltliche Umgang mit Alter(n)s- und Versorgungserwartungen durch Muslime selbst. Dabei können zunächst Stellungnahmen unterschiedlicher Provenienz und Reichweite herangezogen werden. Als Positionierung mit globaler Bedeutung versteht sich die 1999 formulierte Kuwait Declaration of the Rights of Elderly – An Islamic Perspective. In ihr findet sich das hier bereits skizzierte Altersbild wieder. Herausstellenswert ist, dass die Deklaration unterstreicht, dass die Familie als zentrale Versorgungsinstanz für Ältere zu verstehen ist: »Family is the nucleus of the Islamic society. The elderly have tile right to enjoy family life among their children. If the elderly have no family to embrace them, the society has to create for them a familial atmosphere by securing a certain family to look after them assigning escorts to them, or living in a decent elderly houses.« (1999, 5. Artikel)

Dies bedeutet auch, dass die institutionelle Versorgung bedürftiger Älterer kein Tabu, sondern als nachrangige Lösung bewertet wird. In der Historie islamischer Wohltätigkeit finden sich institutionalisierte Fürsorgestrukturen, beispielsweise islamische Stiftungen81 (siehe dazu Meier et al. 2009), die unter anderem auch alleinstehenden und mittellosen Älteren Versorgungsoptionen anboten. Fragen der familienexternen Versorgung Älterer werden daher selbstverständlich auch im Islam nicht erstmalig diskutiert. Jedoch scheinen im Kontext von demographischen und sozialstrukturellen Veränderungen in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung Fragen, wann und wie familienexterne Versorgungsleistungen für Ältere guten Gewissens in Anspruch genommen werden können, eine neue Zuspitzung zu erreichen.

81 In der Türkei ist hier auf die Stiftung Darülaceze zu verweisen. Sie wurde 1895 von Sultan Abdülhamit II. gegründet und stellt gegenwärtig eine Versorgung für ca. 1000 Ältere zur Verfügung. Aufnahmebedingungen sind: ein Alter von mindestens 65 Jahren, Istanbul als Geburtsort oder als Wohnsitz in den letzten fünf Jahren, Armut und keine weiteren Familienangehörigen.

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Auch Vertreter islamischer Organisationen in Deutschland greifen Alter(n)sund Versorgungserwartungen als zentrales Thema auf. Dies wird beispielsweise als Reaktion auf Tatsache gedeutet, dass auch unter Muslimen in Deutschland Unsicherheiten und Beratungsbedarf im Hinblick auf das Alter und seine Gestaltung bestehen (vgl. Elyas 2009, S. 196 f.). Diese Unsicherheiten spitzen sich vermutlich auf die Frage zu, wie mit Pflegediensten und Altersheimen als Regelversorgung bei hochaltrigen und multimorbiden Älteren umgegangen werden soll – und diese Einrichtungen eben nicht mehr nur in Notsituation akzeptierbare Lösungen sind. Eine rein familiär abgesicherte Versorgung bedürftiger Älterer bildet jedoch auch für muslimische Familien ein oftmals schwer zu bewältigendes soziales Risiko. Daher erwarten Ottfried Weintritt, Harm-Peer Zimmermann als auch Nadeem Elyas, dass sich sowohl in sozialpolitischen Diskursen als auch unter islamischen Rechtsgelehrten sowie in islamischen Verbänden eine diese Herausforderungen aufgreifende Positionierungen zu erwarten sind.82 2.4.3 Inter- und transreligiöse Betrachtungen der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten Wie dargestellt, wird bereits darüber diskutiert, inwiefern die Pendelmigration älterer Türkeistämmiger als Ausdruck von Transnationalität zu bewerten ist (siehe Kapitel 2.2.3). Darüber hinaus finden sich auch Überlegungen, die Fragen zu Inter- und Transkulturalität in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der türkeistämmigen Älteren aufwerfen (siehe Kapitel 2.3.2). Jedoch wird die Frage, inwiefern inter- oder auch transreligiöse Dimensionen in eben diesem Feld zu beobachten sind, bisher nicht verfolgt. Dabei schließt sie unproblematisch an zuvor aufgeworfenen Fragestellungen an. Denn im Anschluss an die »kulturelle Wende« in der Religionswissenschaft sind theoretische Perspektiven und methodische Ansätze erarbeitet worden, die transformative Prozesse zwischen Religionen beziehungsweise religiöser Identität wissenschaftlich interessant und analysierbar machen. Und auch hier findet sich eine ähnlich gelagerte Argumentation, die »interreligiösen Austausch« von »Transreligiosität« unterscheidet. Während interreligiöse Betrachtungen mit interkulturellen Perspektiven verwandt sind, orientieren sich transreligiöse Argumentation am Konzept der Transkulturalität:

82 So können in Deutschland gegenwärtig Überlegungen und Bemühungen sowohl zur Gründung eines »Interkulturellen Wohlfahrtsverbandes« als auch eines »Muslimischen Wohlfahrtsverbandes« beobachtet werden.

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»Auch Religionen sind nicht mehr als kugel-förmig-statische, an homogene Gruppen gebundene Größen zu bestimmen. Vielmehr lösen sie sich unter religionswissenschaftlicher Perspektive die scheinbar festgefügten Einheiten auf und gestalten sich zu fließenden Formationen um.« (Hock 2012, S. 439)

Es ist gegenwärtig wissenschaftlicher Konsens, dass »Religion« und »Kultur« in einem engen Wechselverhältnis stehen. Doch ist eine Konzeption von Religion als Teilaspekt von Kultur nicht zielführend. Vielmehr, so argumentiert Hock (vgl. ebd.) in Anlehnung an Stuart Hall (2012b, S. 30), haben auch religiöse Identitäten einen fluiden Charakter und sind als instabile Identifikationspunkte oder auch Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden, zu verstehen. Bisher wurde in keiner im deutschsprachigen Raum publizierten Forschungsarbeit die Frage nach transreligiösen Phänomenen bei Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten systematisch verfolgt. Eine Ausnahme bildet hier die ethnologische Dissertationsschrift von Angelika Mölbert (2005). Sie untersuchte Türkeistämmige in Deutschland auf Gemeinsamkeiten bezüglich kultureller Identitäten in der Diaspora und fragte nach Auswirkungen im Alternserleben. Dabei kontrastiert sie sowohl eine sogenannte erste Generation mit persönlicher Migrationserfahrung und deren Kinder als Vertreter einer zweiten Generation (und gate-keeper für Versorgungsleistungen). Im Vergleich zu anderen qualitativen Forschungsarbeiten in diesem Themengebiet nimmt sie Aspekte von Religion durchgängig in ihre Betrachtung mit auf. Jedoch buchstabiert sie weder ein Verständnis von Transreligösität aus, noch identifiziert sie Untersuchungsergebnisse als transreligiöse Phänomene. Dennoch finden sich bei ihr einige Aspekte, die unter dieser Perspektive diskutiert werden können. So beschreibt Mölbert, dass gerade die von ihr befragte erste Generation durch das Bekenntnis zum Islam Anteil an einer für ihr Wohlbefinden wichtigen kollektiven Identität habe. Gleichzeitig beobachtet sie eine Individualisierung und Privatisierung des religiösen Lebens bei den Älteren. Dies interpretiert sie als ein von Säkularität geprägtes Sozialverhalten, welches sie als »westlich« charakterisiert: »Es zeigte sich hier aber auch die Tendenz zu einem Sozialverhalten nach westlichem Vorbild, denn viele betonten immer wieder, dass der Glaube eine »Privatsache« sei, eine Sache, die nur mit Gott alleine ausgemacht werden muss.« (Hervorhebung im Original) (Mölbert 2005, S. 211)

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Darüber hinaus sieht Mölbert in der von ihr durchgeführten Studie, dass ältere Türkeistämmige in Deutschland eine Offenheit gegenüber einer Hybridisierung im Glaubensleben aufwiesen. Dabei verweist sie auf in ihrem Sample vertretene Personen, die bereits seit Jahren an einer von einem Hoca und einem Vertreter der katholischen Kirche geleiteten und sich als christlich-muslimisch verstehenden Gruppe teilnehmen. In dieser Gruppe träfe man sich zum interreligiösen Austausch, halte gemeinsam Gebet und werbe in der Öffentlichkeit für einen interreligiösen Dialog. Diesen religiösen Austausch sieht Mölbert als ursächlich dafür an, dass einige der befragten Personen für ihre Enkelkinder Weihnachtsbäume schmücken und zu Ostern Präsente verteilen. Diese unbedarft erscheinende Diagnose von Transreligiösität sowie Hybridisierung in Bekenntnisfragen bei älteren türkeistämmigen Migranten fordert eine Reflexion des wissenschaftlichen Diskurses ein. Dabei sticht hervor, dass in der Auseinandersetzung mit Alter(n)s- und Versorgungserwartungen religionswissenschaftliche Perspektiven nur sehr punktuell präsent sind und keinen Einfluss die prädominanten Diskurse haben. Auch zeigt sich, dass wissenschaftliche Beiträge insbesondere, wenn es um ältere Migranten geht, sehr deutlich vor einer Überbetonung kultureller und – insbesondere bei Türkeistämmigen – vor religiöser Einflüsse auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen warnen (z. B. Zeman 2011; Zimmermann 2012; Kollewe 2013). Doch ist hier auf ein ähnlich gelagertes Phänomen wie beim methodologischen Nationalismus (siehe Kapitel 2.1.3) zu verweisen. So bringt die Religionswissenschaft kontinuierlich den säkularen Imperativ der Sozial- und Kulturwissenschaft in Diskussion (siehe z. B. Taylor 2007; Koenig 2011). Kritisiert wird dabei, dass in sich als modern verstehenden Forschungen säkulare Paradigmen unhinterfragt bleiben, so dass religiöse Dimensionen des Sozialen in den letzten Jahrzehnten ausgeblendet oder übersehen wurden. Diese Kritik wendet Klaus Hock auch – und im Speziellen – auf die bestehende Forschung zu »Alter(n) und Migration« in Deutschland an: »Ein großes Manko im bisherigen wissenschaftlichen Diskurs liegt offenkundig darin, dass sowohl dem generellen Forschungsinteresse als auch dem Design konkreter Forschungen ein säkularer Imperativ zugrunde liegt, der a priori das Thema »Religion« ausklammert […].« (Hock 2014b, S. 55)

Forscher, die sich mit dem Themenfeld »Alter(n) und Migration« auseinander setzten, würden oftmals ein explizites Desinteresse an Dimensionen des Religiösen zeigen und sich dem hegemonialen Diskurs, der Religion als zu vernachlässigende Größe wertet, anschließen. Aus dokumentierten Äußerungen älterer Türkeistämmiger sei ersichtlich, dass Religionen nicht als Thema im Kontext von

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Alter(n) aufgriffen wird (vgl. ebd.). Diese Argumente berücksichtigend argumentiert Hock weiter: »Dieses Manko zu überwinden, stellt sich als besonders schwierig dar, da es sowohl in der laizistischen Ideologie des türkischen Staates als auch von vielen Migrant(inn)en, die diese Sicht oftmals internalisiert haben, das Substrat religiöser Prägungen verdrängt oder verleugnet wird, obwohl es nach wie vor wirksam ist.« (Hervorhebungen im Original) (Hock 2014b, S. 55)

Als Aufgabe für eine an Alter(n)- und Versorgungsfragen empfängliche Religionswissenschaft sowie eine für neue Artikulationsräume offene Alter(n)s- und Versorgungsforschung formuliert Hock: »Die Aufgabe besteht also darin, sowohl den methodologischen Nationalismus als auch den säkularen Imperativ zu überwinden, um die Vielfalt und Ambiguität von Altersbildern wie auch den Prozess der Transformation dieser Altersbilder als transkulturelles Phänomen mit besonderer hermeneutischer Sensibilität zu rekonstruieren.« (Hock 2014b, S. 55)

Denn bisher haben systematische Ausarbeitungen und Vergleiche christlicher und muslimischer Alter(n)s- und Versorgungserwartungen, die womöglich transreligiöse Prozesse bei älteren Migranten in Deutschland identifizierbar machen könnten, nicht stattgefunden.

2.5 D ISKUSSION

DES F ORSCHUNGSSTANDES IN H INBLICK AUF AUSGEWÄHLTE F ORSCHUNGSLEERSTELLEN

Wie aufgezeigt werden konnte, findet sich in Deutschland bereits seit über 20 Jahren ein Diskurs zu der Fragestellung, ob und inwiefern ältere Migranten im Alter von Fehlversorgung betroffen sind und wie dies behoben werden könnte. In die Diskussion werden sowohl wissenschaftliche und alltagsweltliche Hypothesen als auch empirisch basierte und aus der Theorie heraus argumentierende Forschungsarbeiten eingebracht. Durch die hier erfolgte Aufgliederung der bisherigen forschungsgeschichtlichen Komplexität werden einige Charakteristika dieses Forschungsfeldes ersichtlich. Zunächst ist auffällig, dass das thematische Viereck »Alter, Migration, Kultur, Religion« von allen bisher daran beteiligten Disziplinen marginal behandelt wird. Zwar finden sich aus vielen Disziplinen Beiträge, jedoch ist eine Disziplinen übergreifende, systematisch verfolgte Forschungsagenda bisher nicht gesetzt. Und so

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wird in der Reflexion des Forschungsstandes sichtbar, dass jede der beteiligten Forschungsrichtungen einen erheblichen »blinden Fleck« aufweist. Sei es der methodologische Nationalismus in der Alter(n)s- und Versorgungsforschung, die Prägung des gesamten Themenfeldes durch einen säkularen Imperativ, das Desinteresse an Alter(n)s- und Versorgungsfragen in der Religionswissenschaft und die mangelhafte Verknüpfung aktueller Diskurse der Alter(n)s- und Versorgungsforschung mit Themen der Migrations- und Kulturwissenschaften. Die meisten Forschungsergebnisse entstanden im Kontext von in Auftrag gegebenen Berichterstattungen (z. B. den Altenberichten, Familienberichten und daran anhängende Expertisen) und Qualifizierungsarbeiten, die oftmals in Verbindung zu Modellprojekten der »Altenhilfe für Migranten« standen. Jedoch befriedigen sie bisher nicht die Nachfragen an wissenschaftlich fundierten Konzepten für die angewandte Altenhilfe und Migrationsberatung. Gleichzeitig werden grundsätzliche wissenschaftliche Fragen zum Verhältnis zwischen Alter(n), Migration, Kultur und Religion nicht beantwortet. Zwar scheint bei allen Autoren ein sympathisches Engagement durch, dass ältere Migranten durch protektive Rhetorik vor weiterer Marginalisierung und Stigmatisierung schützen möchte, jedoch kommt der wissenschaftliche Diskurs in der kleinen scientific community nur langsam voran. Dabei ist zu beobachten, dass insbesondere die Thematisierung religiöser Dimensionen in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten abwehrende beziehungsweise relativierende Positionierungen hervorruft. Dies ist vor allem im Kontext der aktuellen wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten um Einwanderung und Islamophobie in Deutschland verständlich. 83 In dem gegenwärtig zu verfolgendem Diskurs über »Zugehörigkeit zu Deutschland«, insbesondere des Islams, besteht die Gefahr der (unbedarften) Reproduktion rassistischer Abgrenzungen und menschenverachtender Ausgrenzungen – auch im Wissenschaftsdiskurs. Dabei kann seit dem 9. September 2001, dem Tag, an dem durch terroristische Akte das World Trade Center in New York zum Einsturz gebracht wurde, eine zunehmende Rhetorik beobachtet werden, die essentialistische Differenz über Religion (speziell: »den Islam«) begründet. Es ist also durchaus Sensivität und Vorsicht geboten, wenn nun christliche und muslimische Alter(n)sbilder in einem wissenschaftlichen Diskurs erarbeitet und kontrastiert werden. Jedoch muss die Sensibilität der Thematik ihre Erforschung nicht verhindern. Vielmehr bietet es sich an, die Frage nach kultureller und religiöser Differenz mit

83 Einen Ein- und Überblick zu diesen Auseinandersetzungen bieten beispielsweise Publikationen von Naika Foroutan (2004), Iman Attia (2009), Achim Brühl (2010), Yasemin Shooman (2014).

I M K ONTEXT

VON

A LTER ( N ), M IGRATION , K ULTUR UND R ELIGION | 83

fundierten Inhalten zu füllen. Denn die Existenz, Wirksamkeit und Relevanz religiöser und kultureller Einflüsse auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen wird im wissenschaftlichen Diskurs mitnichten bestritten. Ziel sollte es daher sein in Detailanalysen zu kommen, um das Stadium der seit über zwanzig Jahre reproduzierten Schlagworte (z. B.: »marginalisiert«, »Familienorientierung«, »Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Pflegepersonen«, »ethnischer Rückzug« und »Speisevorlieben und -regeln«) zu überwinden. Neben konzeptionellen Überlegungen sind so vor allem auch empirische Arbeiten gefragt. Dabei sollten bei der Anwendung akteurszentrierter Ansätze bestehende strukturelle Machtbeziehungen auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene systematisch berücksichtigt werden. Mit einer solchen Erweiterung des Themenfeldes »Alter(n) und Migration« gewinnt nicht nur die Alter(n)s- und Versorgungsforschung neue Artikulationsräume. Erkenntnisgewinne über die Bedeutung von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in Ethnizitätsbeschreibungen, kulturellen und religiösen Selbstverständnissen und nationalen Narrationen können auch im Kontext des globalen demographischen Wandels besser verstanden werden.

3. Forschungsstand zur Pendelmigration älterer Türkeistämmiger

Im vorhergehenden Kapitel wurde der Untersuchungsgegenstand der Alter(n)sund Versorgungserwartungen im Kontext der Diskurse um Alter, Migration, Kultur und Religion dargestellt und an ausgewählten Punkten diskutiert. Im Folgenden wird der bisherige wissenschaftlich dokumentierte Kenntnisstand zur Untersuchungsgruppe der älteren, türkeistämmigen und muslimischen Pendelmigranten zwischen Deutschland und der Türkei vorgestellt. Die Darstellung gliedert sich über drei Schwerpunkte auf. In einem ersten Abschnitt werden Kenntnisse über den Entstehungskontext sowie das quantitative Ausmaß der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zusammengetragen. In einem zweiten Abschnitt werden Untersuchungen und immer wieder vorgebrachte Thesen zu Ursachen und Motivationen zur Pendelmigration der fokussierten Gruppe vorgestellt. In einem dritten Abschnitt werden bisher dokumentierte Untersuchungsergebnisse zur Ausgestaltung der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger vorgestellt. In einem abschließenden Abschnitt wird der bestehende Forschungsstand zusammengefasst und in einen Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen gebracht.

3.1 E NTSTEHUNGSKONTEXT UND QUANTITATIVES AUSMASS DER P ENDELMIGRATION Die Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zwischen Deutschland und der Türkei ist ein relativ junges soziales Phänomen, welches maßgeblich erst durch die hohe Präsenz Türkeistämmiger in Deutschland ermöglicht wird. Zwar lebten Personen aus dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Republik Türkei bereits

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DER

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im deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik als auch nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Staaten Deutschlands, doch erst das Abkommen zur Anwerbung von Arbeitnehmern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei von 1961 führte zu einer erheblichen Zuzugswelle türkischer Staatsbürger in die Bundesrepublik, die sich auch nach dem Anwerbestopp von 1973 fortsetzte.1 Eine weitere, wenn auch im Umfang geringere Zuzugswelle setzte um 1980 ein, als vor allem in Folge des Putsches in der Türkei, politische Flüchtlinge Asyl in Deutschland beantragten.2 Ein weiterer zentraler Aspekt, der das Phänomen der Pendelmigration bei älteren Türkeistämmigen strukturell ermöglicht, ist der altersbedingte Austritt aus dem Erwerbsleben. Durch den Eintritt in die nacherwerbliche Lebensphase sind (türkeistämmige) Ältere nicht mehr an Urlaubsregelungen ihres Arbeitsplatzes gebunden und haben durch die Altersrente ein verlässliches Einkommen. 3 Der Austritt aus dem regulären Erwerbsleben bietet die strukturelle Möglichkeit Deutschland für längere Zeiträume zu verlassen beziehungsweise den Aufenthaltsort bedingungsloser zu wechseln.4

1

Nermin Abadan-Unat (1992) macht drei Phasen der Wanderung aus der Türkei nach Westeuropa aus: eine erste im Zeitraum von 1956-1961, als vor allem Schiffbaufirmen aus Deutschland Fachkräfte individuell anwarben. Eine zweite Phase sieht sie im Zeitraum von 1961-1972, die primär durch Anwerbeverträge und die Vermittlung, beispielsweise der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, geprägt war. Eine dritte Phase beginnt mit dem Anwerbestopp 1973, nachdem eine Immigration nur durch Familiennachzug oder als Asylsuchender möglich war.

2

Erst im Jahr 1980 führte die BRD eine Visumspflicht für türkische Reisende ein. Zuvor konnten sich türkische Staatsbürger bis zu 90 Tage ohne formale Einreiserlaubnis in Deutschland aufhalten. Dies war durch ein Assoziierungsabkommen zwischen der Republik Türkei und der europäischen Staatengemeinschaft von 1963 geregelt. Die Einführung der Visumspflicht wurde im Kontext der zunehmenden Arbeitslosigkeit in Deutschland diskutiert und verhinderte gleichzeitig, dass politische Flüchtlinge aus der Türkei unkompliziert nach Deutschland einreisen konnten.

3

Ein verlässliches Einkommen bedeutet nicht, dass das Einkommen aus der Altersrente ausreichend ist. In verschiedenen Untersuchungen ist belegt worden, dass gerade ältere türkeistämmige Migranten eine durchschnittliche monatliche Altersrente von lediglich 600 EUR erhalten (siehe Kapitel 2.2.1) Und auch in dieser Studie zeigte sich, dass ältere türkeistämmige Pendelmigranten mit knappen finanziellen Ressourcen haushalten müssen (siehe Kapitel 5.2.3).

4

Inwiefern diese strukturelle Ressource der Entlastung von Erwerbsbedingungen wiederum eingeschränkt wird, wird im Kapitel 3.3.1 nochmals problematisiert.

F ORSCHUNGSSTAND ZUR P ENDELMIGRATION

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Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Umfang der deutsch-türkischen Pendelmigration nicht quantifiziert, da weder aus Deutschland noch aus der Türkei repräsentative Daten vorliegen. Diese Tatsache hat verschiedene Ursachen von denen im Folgenden zwei zentrale erläutert werden. Um das fokussierte Phänomen verlässlich quantifizieren zu können ist einerseits eine abgrenzende Definition des Pendelns – Was ist bereits Pendeln in Abgrenzung zu beispielsweise (längeren) Urlaubsaufenthalten im Ferienhaus? – und andererseits ein zur Definition des Pendelns passender und repräsentativer Datensatz notwendig. Beide Anforderungen zur Quantifizierung des Phänomens sind nicht unproblematisch zu erfüllen. In Bezug auf Datensätze sind mögliche Rückgriffe auf offizielle Statistiken nicht ausreichend (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1999, S. 146). Ältere Pendler können bisher nicht aus regulär erhobenen Statistiken herausgefiltert werden. So geben beispielsweise die Daten der Deutschen Rentenversicherung nur bedingt Aufschluss über die Anzahl älterer Pendler. Hierüber kann zwar festgestellt werden, wie viele Personen Rentenzahlungen aus der deutschen Altersrentenversicherung im Ausland beziehen – auch speziell in der Türkei – sowie welche Personen nichtdeutscher Herkunft Altersrente beziehen und ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben, jedoch ist einerseits nicht ersichtlich in welchem Alter die nun im Ausland lebenden Rentenbezieher Deutschland verlassen beziehungsweise ihren Hauptwohnsitz in Deutschland abgemeldet haben – das kann beispielsweise bereits bei einer Beendigung der Arbeitsmigration in den 1970ern geschehen. Andererseits fallen Personen, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben und weiterhin mit ihrem Hauptwohnsitz in Deutschland gemeldet sind, aus diesen Datensätzen heraus. Grenzübertritte zwischen Deutschland und der Türkei werden statistisch nicht erfasst, es sei denn, es handelt sich um registrierte illegale Grenzübertritte oder Visaverletzungen. Die Wanderungsstatistiken der jeweiligen Länder nehmen nur amtliche An- und Abmeldungen auf, die Pendler aus praktischen Erwägungen nicht vornehmen, sodass sie in und zwischen beiden Ländern unter möglichst wenigen Auflagen zirkulieren können (siehe Kapitel 3.3.1). Ermöglicht wird dies bei einer ehemals türkischen, jetzt deutschen Staatsbürgerschaft der Pendler durch die türkische Einrichtung einer mavı kart5(blaue Karte), mit der ehemals türkische Staatsbürger in fast allen Bereichen (Ausnahmen betreffen vor allem das Wahlrecht) mit türkischen Staatsangehörigen rechtlich gleichgestellt sind. Haben Pendler eine türkische Staatsbürgerschaft und eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland, können sie sich in beiden Ländern bewegen und zwischen ihnen hin-

5

Art. 29 türk. StAG seit dem Gesetz Nr. 4112 von 1995.

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und herreisen.6 Somit bieten weder die Erfassung von Einbürgerungen, noch die Abmeldungen des Wohnsitzes noch registrierte Grenzübertritte (Wanderungsstatistiken) noch Daten der Deutschen Rentenversicherung eine verlässliche Datengrundlage, um das Phänomen des Pendelns (türkeistämmiger) Älterer zu erfassen.7 Außerhalb der offiziellen Statistiken gibt es einige Annäherungen an die Quantifizierung des Phänomens. So wird beispielsweise im Soziökonomischen Panel (SOEP) bereits seit Jahrzehnten, wenn auch nicht regelmäßig, erhoben, inwiefern Migranten in Deutschland verbleiben oder in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen. Die Variablenausprägung des Pendelns wird im Sozioökonomischen Panel jedoch nicht verwendet. So konnte bisher lediglich der Umfang einer so genannten »Rückkehrorientierung« von Migranten nachgezeichnet werden (vgl. Krumme 2002, S. 3; Stegmann 2009).8 Inwiefern diese jedoch auch zu einer tatsächlichen (oder auch nur zeitweisen) Rückkehr Älterer führt, beziehungsweise die Basis einer Pendelmigration im Alter bildet, ist eine tendenziell offene Frage. Erste Zahlen zur Quantifizierung der Pendelmigration älterer (türkeistämmiger) (Arbeits-)Migranten lieferten Untersuchungen des Zentrums für Türkeistudien (1993) sowie von Olbermann und Dietzel-Papakyriakou (1995). In der von Olbermann und Dietzel-Papakyriakou durchgeführten Untersuchung gaben 16,7 % der befragten älteren Arbeitsmigranten an, dass sie zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland pendeln wollen. In der Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien erklärten 52 % der Befragten mit türkischer Nationalität an, dass sie zukünftig pendeln wollen. Eine weitere und aktuellere Annäherung an das quantitative Ausmaß des Pendelns älterer Türkeistämmiger kann über Berechnungen von Veysel Özcan und Wolfgang Seifert erfolgen. Özcan und Seifert haben für eine Expertise zum

6

Seit 2005 können auch Angehörige von Nicht-EU-Staaten, die eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für Deutschland haben, nach Erhalt einer von ihnen beantragten Aufenthaltserlaubnis Deutschland für mehr als sechs Monate am Stück verlassen, ohne dabei ihren Aufenthaltsstatus zu gefährden. Die Ausnahmeregelung ist jedoch an bestimmte Bedingungen geknüpft, sodass nicht alle Pendler von ihr profitieren können (siehe Kapitel 3.3.1).

7

Eine ähnliche Situation besteht auch hinsichtlich Statistiken aus der Türkei, sodass auch nicht über türkische Statistiken Rückschlüsse auf die Anzahl (älterer) deutsch-türkischer Pendler gezogen werden können.

8

Eine Untersuchung zu Einflussfaktoren auf die Rückkehrorientierung ehemaliger Gastarbeiter in Deutschland anhand des sozioökonomischen Panels hat Tim Stegmann vorgelegt (2007).

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5. Altenbericht Daten des Sozioökonomischen Panels ausgewertet. Dabei haben sie herausgefiltert wie lange Migranten unterschiedlicher Altersstufen ihr jeweiliges Herkunftsland im Zeitraum der vergangen zwei Jahre besuchten (vgl. 2004, S. 37). Sie ermöglichen mit ihrer Aufbereitung der Daten auch einen zeitlichen Vergleich zwischen 1996 und 2002. Betrachtet man die Daten zu 2002, so gaben ca. 35 % der befragten Personen im Alter von 65 und älter an, in den vergangenen zwei Jahren ein bis drei Monate im Herkunftsland verbracht zu haben. Vier bis sechs Monate waren 19 % der Befragten im Alter von 65 und älter in ihrem Herkunftsland. Und fast 29 % der Befragten in dieser Altersgruppe verbrachten sogar mehr als sechs Monate in den vergangen zwei Jahren in ihrem Herkunftsland. Summiert man den längeren Aufenthalt, den älteren Migranten in ihrem Herkunftsland verbracht haben, so zeigen die Daten für 2002, dass 37,7 % der 65Jährigen und Älteren in den vergangenen zwei Jahren vier und mehr Monate in ihrem Herkunftsland verbracht haben. Das ist ein Anstieg von 22,5 % zu den Daten von 1996, wo nur 15,2% der 65-Jährigen und älteren angaben, vier Monate und länger in ihrem Herkunftsland verbracht zu haben. Aus den Daten kann interpretiert werden, dass viele ältere Migranten längere Aufenthalte in ihrem Herkunftsland vollziehen und dass diese tendenziell zunehmen. Tabelle 1: Gesamtbesuchsdauer von Migranten im Herkunftsland 1994-1996 und 2000-2002 Aufenthaltsdauer

18 bis 44 Jahre

45 bis 65 Jahre

65 Jahre und älter

Befragung 1996 Nie

13,1 %

12,2 %

14,3 %

Bis zu 3 Wochen

16,8 %

15,6 %

17,0 %

1 – 3 Monate

61,2 %

56,6 %

53,5 %

4 – 6 Monate

6,0 %

10,3 %

9,3 %

Länger

2,9 %

5,9 %

5,9 %

Nie

10,3 %

6,6 %

2,6 %

Bis zu 3 Wochen

30,5 %

21,2 %

15,0 %

1-3 Monate

56,8 %

55,0 %

34,7 %

4-6 Monate

1,3 %

9,9 %

19,0 %

Länger

1,0 %

7,2 %

28,7 %

Befragung 2002

Quelle: Özcan & Seifert (2004, S. 37) Berechnungen auf der 36. Datenbasis des SOEP, Querschnitte 1996/2002; eigene Darstellung.

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Auch wenn die Berechnungen von Özcan und Seifert nicht auf Türkeistämmige begrenzt sind und auch nicht das Phänomen der Pendelmigration im Alter fokussieren, bieten sie einen ersten Ansatzpunkt, das Ausmaß zu quantifizieren. Einen spezifischeren Einblick bietet eine Untersuchung von Ayşe Turan (2008). Im Rahmen einer studentischen Qualifizierungsarbeit hat sie, um die soziale Situation älterer Migranten in Berlin untersuchen zu können, eine standardisierte Erhebung durchgeführt. Die Stichprobe umfasst 50 ältere Menschen türkischer Herkunft. In dieser Befragung gibt die Mehrheit von 29 Personen (entspricht 58 %) der befragten Gruppe an, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung ihren Lebensmittelpunkt sowohl in der Türkei als auch in Deutschland sehen. Auch wenn aus dieser Fragestellung nicht hervorgeht, in welchem Ausmaß die befragten Personen tatsächlich Pendeln, zeichnet sich ab, dass eine Verortung des Lebensmittelpunktes in zwei Ländern keine Seltenheit unter älteren Türkeistämmigen ist. Tabelle 2: Lebensmittelpunkt der älteren MigrantInnen Lebensmittelpunkt In Deutschland In der Türkei Sowohl als auch Insgesamt

Personen in absoluten Zahlen 15 6 29 50

Quelle: Turan (2008, S. 70); eigene Darstellung.

Dennoch bleiben einige Fragen offen – insbesondere diejenigen, die das Pendeln der älteren Türkeistämmigen in Beziehung zu anderen Pendlern setzen und damit zu einer Einordnung in eine Gesamtsituation beitrügen. So könnte das Pendeln älterer Türkeistämmiger über verschiedene Achsen verglichen werden. Es kann die rotierende Migration der Älteren mit den zirkulären Migrationsbewegungen jüngerer, erwerbsfähiger Altersgruppen türkeistämmiger Migranten verglichen werden. Durch diesen Vergleich wären beispielsweise Rückschlüsse auf den Faktor Alter beziehungsweise Austritt aus dem Erwerbsleben im Kontext einer Pendelmigration möglich. Interessant wäre auch ein Vergleich zu aus Deutschland stammenden älteren Pendlern, die Wohnsitze in Deutschland und der Türkei haben und mehrmals im Jahr zwischen beiden Ländern zirkulieren. 9 So könnte

9

Eine solche Perspektive verfolgen beispielsweise Beiträge von Nelli Böhm (2013) und Sarina Strumpen (2013).

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womöglich herausgefiltert werden, inwiefern sich Ausgestaltungen und Deutungsmuster zwischen beiden Herkunftsgruppen auf derselben Pendelachsen gleichen oder unterscheiden. Auf einer anderen Achse kann das Pendeln der älteren Türkeistämmigen mit der Pendelmigration Älterer aus anderen Herkunftsländern verglichen werden, wie beispielsweise auf den Achsen Deutschland – Griechenland, Deutschland – Polen oder auch Deutschland – Spanien.10 Es könnten auch Vergleiche zu Pendelmigrationen Älterer beispielsweise auf der Achse Niederlanden-Türkei gezogen werden. Aus dieser Perspektive heraus wären beispielsweise erste Rückschlüsse auf Steuerungen durch gesetzliche Rahmenbedingungen oder auch vermutete kulturelle beziehungsweise auch religiöse Aspekte zu ziehen. Über diese nach außen orientierten Vergleichsachsen fehlen quantitative Datengrundlagen die Differenzierungen innerhalb der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendler ermöglichen. Darüber hinaus fehlen quantitative Anhaltspunkte, die die Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten detaillierter in Bezug auf ihr Pendelverhalten aufzuschlüsseln. Eine weiterhin offene Frage ist, über welchen Zeitraum eine Pendelmigration aufrechterhalten wird und wie konstant die Zeiträume beziehungsweise die Pendelmuster sind, in denen Pendler die Länder wechseln. An diese Fragestellungen schließt auch das zweite Kriterium an, welches nötig ist, um das fokussierte Phänomen quantitativ zu erfassen. Pendeln muss abgrenzbar definiert und operationalisiert werden. Türkan Yilmaz wählt in ihrer Studie als ein Kriterium zur Auswahl ihrer Interviewpartner, dass sie mindestens im DreiMonatstakt zwischen Deutschland und der Türkei pendeln (2011, S. 128). Helen Krumme hingegen operationalisiert das Auswahlkriterium »Pendeln« für ihre Interviewpartner sehr offen. Sie bat Personen um ein Interview, die von sich selbst sagten, dass sie pendeln (gidip-gelmek – auf Türkisch verwendeter Ausdruck für Pendeln, wörtlich zu übersetzen mit »gehen und kommen«) oder öfter im Jahr nach Deutschland beziehungsweise in die Türkei fahren (Krumme 2002, S. 69). Die den Studien von Yilmaz und Krumme zugrunde liegenden Operationalisierungen sowie die Verwendung der Begriffs der Pendelmigration in anderen Ver-

10 Beispiele für wissenschaftlicher Untersuchungen , in denen auch die Pendelmigration Älterer thematisiert wird, sind auf der Achse Deutschland- Griechenland beispielsweise von Konstantinia Trifonopoulou (2009) und auf der Achse Deutschland-Spanien von Claudia Kaiser (2011). Auf der Achse Deutschland-Polen werden unter Pendelmigration

und

Alter

bisher

Folgen

der

Einbindungen

polnischer

Frauen

als

Sorgearbeiterinnen in Privathaushalte in Deutschland untersucht, z. B. von Kałwa et al. (2010).

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DER

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öffentlichungen zeigen auf, dass Pendelmigration im Alter von der Pendelmigration in der Erwerbsphase des Lebens abgegrenzt wird, jedoch in der Ausgestaltung des Pendelmusters eine hohe Varianz besteht. Es kann festgehalten werden, dass keine konkreten quantitativen Daten vorliegen, die den Umfang der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zwischen Deutschland und der Türkei beziffern. Dennoch kann aus bisherigen Forschungsergebnissen geschlossen werden, dass die Pendelmigration bei älteren Migranten, speziell auch bei Türkeistämmigen, kein Randphänomen ist und das Potenzial hat, in den nächsten Jahren zuzunehmen. Erfahrungsberichte aus Einrichtungen der Migrationsberatung und Altenhilfe stützen diese Annahme.

3.2 U RSACHEN

UND

M OTIVATION

DER

P ENDELMIGRATION

Wird im deutschsprachigen Kontext das Phänomen der Pendelmigration (türkeistämmiger) Älterer thematisiert, dominiert die Frage nach den Ursachen und der möglichen Motivation im Alter eine Pendelmigration zwischen zwei Ländern aufrecht zu erhalten. Die einzigen empirisch basierten Studien, die zu dieser Frage Antworten liefern, sind von Helen Krumme (2002) und Türkan Yilmaz (2011) vorgelegt worden. Während Yilmaz nach der Lebensqualität während des Pendelns fragt und dadurch unter anderem eine Motivation für diese Entscheidung nachvollziehbar machen will, versucht Krumme die Ursachen und Motivationen zur Pendelmigration durch eine biographieorientierte Perspektive zu erschließen. Gerade die von Krumme verfolgte Perspektive knüpft an eine Fragestellung an, die die (Fach-)Öffentlichkeit in den 1980er und 1990er Jahren geprägt hat. In dieser Zeit dominierten uni-direktional verstandene Migrationsprozesse die wissenschaftlichen Verhandlungen von Migration. Diskursbestimmend in Deutschland waren die Integrationsmodelle von Hans-Joachim Hoffman-Nowotny (z. B. 1982) und Hartmut Esser (z. B. 1980), in denen Migration vor allem als eine zu bewältigende Aufgabe der Integration in die Ankunftsgesellschaft galt. In diesem Kontext entwickelte sich eine so genannte Remigrationsforschung, die nach Gründen und Verläufen der Remigration fragte, eher am Rande des migrationswissenschaftlichen Diskurses. Dennoch bot gerade die Remigrationsforschung den ersten Ansatzpunkt zur Erschließung von Motivation zur Pendelmigration. Ein zentrales Konzept der Remigrationsforschung ist die »Rückkehrorientierung«, die von einer »Bleibeorientierung« abgegrenzt wird. Diesem Ansatz nach ist eine Einwanderung durch drei Elemente charakterisiert: Einreise, Niederlassung und Bleibeorientierung (Pagenstecher 1993, S. 7). Eine Einwanderung ist

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dementsprechend ein Prozess, der mit einer Bleibeorientierung erfolgreich abgeschlossen wird. Doch müssen »Niederlassung und Bleibeorientierung […] nicht Hand in Hand gehen. MigrantInnen, die sich schon niedergelassen haben, können zurückkehren wollen; anderen MigrantInnen, die zum Bleiben entschlossen sind, kann eine gewünschte Niederlassung mißlingen.« (Ebd., S. 8)

Insbesondere durch die von Maria Dietzel-Papakyriakou vorgelegte Monografie »Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben?« (1993) wurde das diagnostizierte Phänomen der Rückkehrorientierung intensiv im Kontext der angeworbenen Arbeitsmigranten diskutiert. Die Rückkehrorientierung diente dabei als ein zentrales Element zur Erklärung von beobachteten Phänomenen der »ethnischen Insulation« (ebd., S. 36 ff.) und des »Rückzugs in ethnische Kolonien« (ebd., S. 102)11 und sollte Integrationsbarrieren sowohl von Seiten der Migranten als auch des deutschen Staates beziehungsweise der »deutschen Gesellschaft« erklären (siehe Kapitel 2.3.1). Dietzel-Papakyriakou greift zunächst ein Logikproblem der Arbeitsmigration auf: Wenn durch Ruhestandsregelungen die Arbeit wegfällt, entfällt auch der Sinn der Arbeitsmigration. Arbeitsmigranten sind somit gerade zum Zeitpunkt des Erwerbsaustritts herausgefordert eine weitere Entscheidung in Bezug auf ihre Migration zu treffen. Verbleiben sie im Migrationsland oder remigrieren sie in ihren Herkunftskontext? Dietzel-Papakyriakou fokussiert in ihren Überlegungen rückkehrorientierte und in »ethnischer Insulation« lebende ältere Arbeitsmigranten. Auf die Möglichkeit einer Pendelmigration geht sie nur zwei Mal am Rande ihrer Ausführungen ein. Dabei diskutiert sie das Pendeln als einen Aufschub der Entscheidung zwischen Verbleib und Rückkehr bei Arbeitsmigranten. Diese erste Ausführung zum Pendeln ehemaliger Arbeitsmigranten zwischen Deutschland und den jeweiligen Herkunftsländern in wissenschaftlicher Literatur hat die diskursive Deutung dieser Personengruppe nachhaltig geprägt hat. In einem weiteren Beitrag aus dem Jahr 1999 beschreibt Dietzel-Papakyriakou das Pendeln als eine Notlösung, die rückkehrorientierten älteren Migranten durch

11 Hartmut Esser führte in den 1980er Jahren den Begriff der »ethnischen Kolonie« ein. Heute wird stattdessen der Terminus »Community« oder auch »Migrantencommunity« verwendet.

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sozialrechtliche Rahmenbedingungen annähernd aufgezwungen wird. 12 Sie fokussiert auch dabei die Rückorientierung gealterter Migranten und problematisiert zu dem Zeitpunkt geltende rechtliche Bedingungen in Deutschland und den jeweiligen Herkunftsländern, die eine Rückwanderung mit erheblichen ökonomischen Nachteilen verbänden.13 Sie kritisiert solche Regelungen als kontraproduktiv, da es für rückkehrwillige ältere Migranten bedeutet, dass sie »unter allen Umständen in Deutschland ausharren müssen« (1999, S. 147). Das Pendeln sei dabei eine Möglichkeit für die rückkehrorientierten Migranten, eine »endgültige Entscheidung über ihren Wohnort zu umgehen« (1999, S. 149). Schließlich kommt DietzelPapakyriakou zu einer weiter gefassten Bewertung des Pendelns, welches die Frage nach der Motivation in eine nunmehr multifaktorielle Perspektive öffnet und positive Aspekte für die pendelnden älteren Migranten hervorstellt: »Pendeln bietet im Vergleich zur endgültigen Rückwanderung für diejenigen, die die gesundheitlichen und materiellen Voraussetzungen hierzu haben, zusätzliche Vorteile. Pendeln ist ein Migrationsmodus vor allem für die jungen Alten. Es bietet den älteren Migranten die Möglichkeit, sowohl den Kontakt zu den Kindern zu erhalten und bei Bedarf z. B. die ärztliche Versorgung in Deutschland zu sichern als auch die klimatischen und sozialen Vorzüge des Herkunftslandes zu erleben, wobei sie von dortigen materiellen Ressourcen, die nach Deutschland zu transferieren nicht möglich sind, wenigstens zeitweise profitieren. So z. B. könnte das Pendeln vor allem für die jungen Alten als eine Form der ergänzenden Wohnversorgung verstanden werden.« (1999, S. 151)

Zwar bleibt bei Dietzel-Papakyriakou die Spannung zwischen Bleibe- und Rückkehrorientierung zentral, doch thematisiert sie nun weitere Dimensionen, die zu einer Pendelmigration im Alter motivieren können. Erst die zunehmende Popularität transnationaler Perspektiven seit den 1990er Jahren ermöglichte eine neue Wahrnehmung älterer Pendelmigranten als auch eine neue Betrachtungsweise der Pendelmigration (siehe Kapitel 2.2.3). Während

12 Der hier zitierte Beitrag entstand einige Jahre nachdem sie zusammen mit Elke Olbermann eine Begleitforschung zu Modellprojekten älterer Arbeitsmigranten und Altenhilfeeinrichtungen im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung durchgeführt hatte (1995). 13 Bei einer Rückwanderung aus Deutschland vor 2005 entfielen beispielsweise erworbene Sozialleistungen. Doch auch gegenwärtig können bestimmte Sozialleistungen, wie die der Gesetzlichen Pflegeversicherung, nicht außerhalb der EU bezogen werden. Ähnliches gilt für Erwerbsunfähigkeitsrenten, einige Reha-Leistungen und für die Grundsicherung im Alter (siehe Wegner 1994).

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im sechsten Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2000, S. 126 ff.) ältere Pendler bereits als Transmigranten bezeichnet und das Pendelns als Ergebnis einer Kosten-NutzenAbwägung konzipiert wird,14 bietet Krumme mit ihrer Untersuchung Anfang der 2000er einen ersten empirischen Einblick in die Motivationsprofile älterer türkeistämmiger Pendelmigranten. Dabei entwickelt sie eine Fragestellung, die sowohl eine transnationale Perspektive berücksichtigt als auch nach Ressourcen fragt, die bei der Ausgestaltung der Migration eine Rolle spielen können. Auch Krumme setzt bei ihrer Untersuchung am Konzept der Rückkehrorientierung an und versucht, über eine an Push- und Pull-Faktoren angelehnte Analyseperspektive unterschiedliche Motivationsmuster für eine Pendelentscheidung herauszuarbeiten. Sie kommt zu dem Schluss, dass »sowohl die Motivation als auch das Pendeln selbst das Resultat der besonderen transnationalen Migrationsbiographien ist« (2002, S. 206). Dabei kann sie aus ihrem Datenmaterial drei Muster der Pendelmigration älterer Türkeistämmiger herausarbeiten: »Pendeln bei Verbleib« (der hauptsächliche Aufenthaltsort verbleibt in Deutschland, in die Türkei wird regelmäßig gereist), »Pendeln nach Rückkehr« (der hauptsächliche Aufenthaltsort ist in die Türkei verlagert worden, nach Deutschland wird regelmäßig gereist) und »Pendeln bei bilokaler Orientierung« (in Deutschland und der Türkei bestehen zwei gleichwertige und annähernd gleich stark genutzte Aufenthaltsorte) (2002, S. 170). Dabei stellen die Muster »verschiedene biographische Verläufe der subjektiven und objektiven Rückkehrorientierung dar, die zum Pendeln im Ruhestand führen« (2002, S. 167). Das gemeinsame Element, das alle Pendler verbindet, sieht sie darin, »dass seit Beginn der Migration ein Rückkehrinteresse besteht. Dieses ist unterschiedlich stark ausgeprägt und entwickelt sich different. Bis in den Ruhestand bleibt jedoch bei allen ein Interesse an beiden Ländern bestehen. Dies findet im Pendelverhalten seinen Ausdruck.« (2002, S. 167)

14 Auch wird behauptet (ebd., S. 127), dass der Modus der Pendelmigration vor allem für die zweite Migrantengeneration attraktiv sei: »Endgültige Remigrationen kommen eher bei den ersten Migrantengenerationen, wiederholte Remigrationen beziehungsweise Transmigrationen eher bei den nachfolgenden Generationen vor. Vor allem Angehörige der zweiten Migrantengeneration, die gut qualifiziert sind und über Sprach- und Umgangskompetenzen in beiden Kontexten verfügen, können sich zu Transmigranten entwickeln.« Diese These wird jedoch weder im Text hergeleitet noch belegt und in weiteren Arbeiten nicht aufgegriffen.

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Krumme kann in ihrer Untersuchung nachzeichnen, dass die Entscheidung für eine Pendelmigration nicht erst im Alter getroffen wird, sondern sich eine transnationale Orientierung der Pendler bereits über den gesamten Lebenslauf manifestiert hat. Auch Ressourcen (wie z. B. Wohnraum, Einkünfte), um eine Pendelmigration organisatorisch umsetzen zu können, werden bereits vor dem Ruhestand strategisch erschlossen. Mit dem Eintritt in den Ruhestand bieten sich den älteren Türkeistämmigen hauptsächlich neue zeitliche Freiheiten, die Aufenthaltslänge in den jeweiligen Ländern zu bestimmen. Eine Ursache für das beschriebene »Rückkehrinteresse«, das allen untersuchten Pendlern gemeinsam sei, sieht Krumme, ähnlich wie andere Autoren, die sich mit der Rückkehrorientierung bei Türkeistämmigen auseinandersetzten, in der bereits zu Beginn der Migration vorausgesetzten Befristung des Aufenthaltes in Deutschland. Insbesondere das Rotationsprinzip,15 das die Arbeitsmigration in Deutschland zu Beginn prägte, habe die Entwicklung physisch präsenter transnationaler sozialer Räume und transnationaler Orientierungen befördert. 16 Darüber hinaus legt Krumme dar, dass das Pendeln für die älteren Türkeistämmigen, je nach Pendelmuster, unterschiedliche Funktionen erfüllt. Personen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Türkei verorten, scheinen sich eher gezwungen zu fühlen, die Mobilität nach Deutschland aufrecht zu halten. Als Gründe werden in ihrem Datenmaterial Besuche der in Deutschland lebenden Familienmitglieder oder auch die medizinische Versorgung genannt. Andersherum erscheint für die Gruppe, die weiterhin ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hat, der Aufenthalt in der Türkei wie ein Urlaub im eigenen (Ferien-)Haus oder in der eigenen Wohnung

15 Ein ursprünglich zentraler Aspekt des Anwerbesystems, dass die Bundesrepublik auch mit weiteren Ländern initiierte, war das so genannte Rotationsprinzip. Arbeitsverträge mit Arbeitsmigranten aus den Anwerbeländern wurden immer nur für kurze oder mittelfristige Zeiträume geschlossen. Im Falle von Personen aus der Türkei war ein maximaler Aufenthalt von zwei Jahren festgelegt. Damit sollte einerseits einer dauerhaften Niederlassung der Arbeitsmigranten entgegengewirkt werden. Andererseits entsprach dieses Arrangement auch den Erwartungen der Entsendeländer, die sich vor allem einen Devisengewinn durch die Arbeitsmigration versprachen. Unternehmen der deutschen Industrie setzten sich bei der Politik dafür ein, dass das Rotationsprinzip aufgeweicht beziehungsweise aufgehoben wurde. Aufgrund dieser neuen Situation war es für viele Arbeitsmigranten attraktiv die eigene Familie ebenfalls nach Deutschland zu holen, sodass eine zunehmende Niederlassung der angeworbenen Arbeitnehmer stattfand. 16 Dietzel-Papakyriakou spricht in diesem Zusammenhang von einem »triparten Migrationskontrakt« zwischen den Arbeitsmigranten, den Entsendeländern und den Anwerbeländern (1993, S. 80).

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wahrgenommen zu werden. Personen mit bilokaler Orientierung zeichnen sich für Krumme darin aus, dass sie eine stete subjektive Rückkehrorientierung aufrechterhalten, aber gleichzeitig faktisch in Deutschland niedergelassen sind. Krumme bezeichnet dies als Pendeln mit einer ambivalenten Rückkehrorientierung (vgl. Krumme 2002, S. 141 ff.). Als Faktoren, die die Ausgestaltung einer Pendelmigration zentral beeinflussen diskutiert Krumme hauptsächlich lokal gebundenen Ressourcen, auf die die Pendler jeweils in Deutschland und der Türkei zurückgreifen können. Sie schlussfolgert, dass das »Pendeln […] durch die Nutzung vorhandener bilokaler Ressourcen die Möglichkeit der Kompensation für eine in mehrfacher Hinsicht nachteilig erlebte Situation [schafft].« (2002, S. 206)

Pendeln ist aus dieser Perspektive ein Handlungsspielraum, den die Pendler entsprechend ihrer eigenen Ziele pragmatisch nutzen. Angelika Mölbert, die in ihrer ethnologischen Dissertation eigentlich eine ganz anders fokussierte Fragestellung verfolgt, stieß in ihrer Untersuchung ebenfalls auf das Phänomen der Pendelmigration Älterer zwischen Deutschland und der Türkei. In ihrer Schlussbetrachtung kommt sie zu einer Beurteilung der Pendelmigration, die sich mit den Ausführungen von Krumme größtenteils deckt: »Auch das ständige Pendeln zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland [gemeint sind Deutschland und die Türkei, Anm. d. V.] wird als Merkmal für gutes Altern verstanden, denn das Wandern zwischen den ›Heimaten‹ stellt die eigentliche Kontinuität im Leben der Einwanderergeneration dar. Sie erleben deshalb ihr Altern umso positiver, je freier sie in der Wahl ihres Aufenthaltsortes sind.« (2005, S. 257) (Hervorhebungen im Original)

Während Krumme noch Be- und Entlastung, die eine Pendelmigration für die Älteren Türkeistämmigen bedeuten können, vorsichtig thematisiert, bringt Mölbert einen weiteren Punkt in die Überlegungen zur Motivation zur Pendelmigration mit ein. Das Pendeln bedeutet, so folgert sie aus ihrer empirischen Untersuchung, für ältere Türkeistämmige einen Gewinn, da es ein als »gut« verstandenes Altern unterstützt. Ohne es konkret zu formulieren, thematisiert Mölbert damit das Konzept der Lebensqualität, welches gerade in der Gerontologie verwendet wird um positiv empfundenes Altern zu vermessen (siehe Kapitel 2.1). An diesem Punkt setzt auch die im Jahr 2011 veröffentlichte Dissertation von Türkan Yilmaz an. Yilmaz arbeitet in ihrer Dissertation heraus, wie Migranten, die zwischen Herkunfts- und Migrationsland pendeln, ihre Lebensqualität einschätzen. Die von ihr

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gewählte Untersuchungsgruppe sind ebenfalls wie bei Krumme ältere türkische Migranten, die zwischen Deutschland und der Türkei pendeln.17 Yilmaz knüpft an die double-jeopardy-These (vgl. Kapitel 2.2) an, nach der alternde Migranten doppelt von Benachteiligung betroffen sind (aufgrund von ihres Alters und aufgrund ihrer Migrationssituation) und untersucht »inwieweit die Möglichkeit zu pendeln zu einer Reduzierung dieser migrationsspezifischen Belastungen und dadurch zu einer Erhöhung der Lebensqualität beitragen kann. (2011, S. 71). Zur konzeptionellen Bearbeitung der Lebensqualität greift sie auf den Ansatz der Lebenslagenforschung zurück. Diesem Ansatz nach werden die subjektiv empfundene sowie die objektiv bewertete Lebensqualität im Alter unter anderem über die materiellen und immateriellen Ressourcen beeinflusst. Das Konzept der Lebenslage beschreibt, begutachtet und prognostiziert daher die materiellen und immateriellen Lebensverhältnisse der jeweils untersuchten Gruppe. In ihrer Untersuchung fokussiert Yilmaz die Zufriedenheit mit der Wohnsituation, der finanziellen Situation, der gesundheitlichen Situation und den sozialen Netzwerken in der Türkei und in Deutschland. Als eine besondere Kategorie der Lebenslagen untersucht Yilmaz auch Zukunftsperspektiven der Untersuchungsgruppe. In ihrer abschließenden Betrachtung kommt sie zu der Feststellung, dass, entgegen ihrer Ausgangsthese, die türkeistämmigen Älteren als Pendelziel in der Türkei nicht ihren letzten Hauptwohnsitz wählen, sondern einen selbst gewählte Ort »in einer ihnen angenehmen Umgebung und sozialen Atmosphäre« (2011, S. 218). Sie schlussfolgert daraus, dass »für relativ viele ältere türkische Pendler und Pendlerinnen nicht die Sehnsucht nach den im Heimatland lebenden Familienangehörigen der wesentliche Grund für das Pendeln ist. Im Gegenteil fühlen sie sich besonders wohl in der Gesellschaft anderer Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen, die ähnliche Erfahrungen in den Jahrzehnten der Migration gemacht haben wie sie.« (Yilmaz 2011, S. 218)

Dieses Studienergebnis relativiert Thesen, die vor allem in dezentralen beziehungsweise in zwei Ländern verorteten familiären Netzwerken eine primäre Ursache der Pendelmigration sehen. Auch in einem weiteren Punkt bietet die Untersuchung von Yilmaz einen zentralen Erkenntnisgewinn. Sie führt die Ergebnis-

17 Yilmaz führt an, dass das Rückkehrinteresse unter den älteren türkeistämmigen Arbeitsmigranten nach den Ruhestandseintritt gering sei. Aber, wie die quantitative Datenlage zeige, auch das Bleibeinteresse. Sie deutet das Pendeln, ähnlich wie Dietzel-Papakyriakou, als eine Strategie, um die die Entscheidung zwischen Verbleib und Rückkehr zu umgehen (vgl. 2011, S. 210).

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se ihrer Untersuchung mit den so genannten Migrantenmilieus der Sinus-Studie (sinus sociovision 2007) zusammen und kann vorläufig drei soziale Milieus in der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendler ausmachen: Die größte identifizierte Gruppe bezeichnet sie als »Traditionsverwurzelte Pendler und Pendler-innen«, angelehnt an die traditionsverwurzelten Migrantenmilieus der Sinus-Studie. Eine zweite Gruppe bezeichnet sie als »Bürgerliche Pendler und Pendler-innen«, parallel zu den bürgerlichen Migrantenmilieus und eine dritte Gruppe kategorisiert sie als »Intellektuell-kosmopolitische Pendler und Pendlerinnen« analog zur Beschreibung der intellektuell-kosmopolitischen Milieus unter Migranten entsprechend der Sinus-Studie (2011, S. 216 f.). Durch diese empirisch basierte Unterteilung ermöglicht Yilmaz, neben den von Krumme identifizierten Pendeltypen, einen Einblick in die innere Differenzierung der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten. Sie zeigt damit auch auf, dass die Motivation zur Pendelmigration nicht nur über sozio-ökonomische Faktoren zu erklären ist. Auf diesen Aspekt wird im anschließenden Abschnitt eingegangen werden. Zuvor soll jedoch ein weiterer Aspekt, der bei der Frage nach der Motivation zur Pendelmigration älterer Türkeistämmiger beachtenswert ist, jedoch bisher nicht als möglicher zentraler Erklärungsmoment reflektiert wurde, thematisiert werden. In der im deutschsprachigen Raum präsenten Forschung wurden Motive zur Pendelmigration vor allem aus dem Kontext der deutsch-türkischen Migration heraus diskutiert. Jedoch lässt sich, auch aus der bisher vorliegenden Literatur im deutschsprachigen Raum, zumindest ein Aspekt aufgreifen, der bei einer sich als transnational verstehenden Perspektive berücksichtigt werden sollte. Pendelmigration im Alter scheint bereits seit längerem ein häufig anzutreffendes Phänomen auch innerhalb der Türkei zu sein. Dabei zirkulieren Ältere zwischen einem Heimatdorf und verschiedenen eigenen Wohnsitzen sowie den Wohnsitzen ihrer Kinder in größeren Städten, wo sie dann als Koresidenten bleiben. Diese Form der Pendelmigration im Alter ist nicht Nationalstaatsgrenzen überschreitend, scheint jedoch einige Parallelen zur Pendelmigration älterer Türkeistämmiger zwischen Deutschland und der Türkei aufzuweisen. Ein Indiz dazu liefert ein von Evelin Lubig bereits 1990 veröffentlichter Text. Sie reflektiert Beobachtungen, die sie während eines mehrmonatigen ethnologischen Forschungsaufenthaltes in einem türkischen Dorf zu Beginn der 1980er Jahre gemacht hat. Lubig berichtet davon, dass viele Ältere des Dorfes während der Wintermonate zu ihren Kindern ziehen, die, durch Arbeitsmigration bedingt, in größeren Städten der Türkei leben. Während der Sommermonate kehren die Älteren unter unterschiedlichen Bedingungen wieder für einige Wochen oder auch einige Monate in ihre Heimatdörfer zurück.

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Lubig thematisiert diese Beobachtung nicht als Pendelmigration, sondern diskutiert sie als einen Aspekt von Individualisierung des Alterns.18 In einem Dorf Gealterte können durch die stark ausgeprägte nationale (und internationale) Migration nicht mehr davon ausgehen, dass sie im Alter auf jeden Fall in ihrem Heimatdorf von nahen Verwandten versorgt werden können. Sie stehen daher vermehrt vor der Entscheidung ganz oder teilweise zu ihren Kindern in die Städte zu ziehen oder allein im Dorf zu verbleiben. Lubig beobachtet, dass der häufige Wechsel zwischen den Wohnsitzen der Kinder zu einer regulären Verhaltensweise wird. Dabei ist es in der Dorfstruktur von sozialer Bedeutung, dass alle »Emigranten«, egal ob nun in einer türkischen Großstadt oder im Ausland lebend, in der Sommerzeit möglichst viel Zeit im Heimatdorf verbringen. Auch wenn Yilmaz aufdecken konnte, dass nicht (nur) das Heimatdorf der Zielort in der Türkei für die hier untersuchte Gruppe der Pendler zentral ist, so sollte eine mögliche Klärung der Motivationsprofile zur Pendelmigration auch mit im Kontext der hohen Mobilität Älterer innerhalb der Türkei berücksichtigt werden. An dieser Stelle kann zusammengefasst werden, dass in Bezug auf die Pendelmigration unterschiedliche Faktoren zusammenwirken. Während als erster Faktor Aspekte aus der Migrationsforschung (Bleibe- und Rückkehrorientierung) diskutiert wurden, werden zunehmend auch Faktoren aus dem Kontext Alter (höhere Lebensqualität und gutes beziehungsweise gelungenes Alter(n)) als Motivationsfaktoren in Betracht gezogen. Inwiefern Ursachen beziehungsweise die Motivation zum Pendeln älterer türkeistämmiger Pendelmigranten auch mit kulturellen oder religiösen Aspekten verbunden ist, ist bisher nicht systematisch untersucht worden.

3.3 AUSGESTALTUNG

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Im Folgenden wird der in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur dokumentierte Kenntnisstand zur Ausgestaltung der Pendelmigration zusammengetragen.19 Zentral sind in diesem Zusammenhang die empirischen Arbeiten von Yilmaz (2011) und Krumme (2002). Aber auch Ergebnisse und Beschreibungen

18 »Das Alter wird zu einer Lebensphase, die nicht mehr kollektiv (als Aufgabe des Haushalts oder der ganzen Familie) bewältigt wird, sondern als individuelles Problem gelöst werden muss.« (Lubig 1990, S. 139). 19 Die im Folgenden angeführten Rechtsgrundlagen beziehen sich auf den Stand im Jahr 2010.

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weiterer Autoren werden berücksichtigt, soweit sie eine Annäherung an die Untersuchungsgruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten ermöglichen. Die folgenden Ausführungen gliedern sich über drei Abschnitte zu den Themen (1) Staatsbürgerschaften, Wohnen und Pendelmuster, (2) Einkommen, soziale Absicherung und Finanzierung des Pendelns, (3) Soziale Netzwerke und Unterstützung bei Gesundheit, Krankheit und Pflege auf. 3.3.1 Staatsbürgerschaften, Wohnorte und Pendelmuster Um eine Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei umsetzen zu können, müssen Pendler Strategien im Umgang mit nationalstaatlichen Aufenthaltsbestimmungen20 und eigenen Wohnressourcen entwickeln. Sie haben dazu letztlich zwei Ansatzpunkte, mit denen sie jonglieren können: (1) ihrer Staatsbürgerschaft und ihrem Aufenthaltstitel sowie (2) ihrem Wohnraum und ihrer Wohnsitzmeldung. Diese dadurch entstehenden rechtlichen Rahmenbedingungen haben teilweise erheblichen Einfluss auf die Pendelmuster. Der gemeinsame Ausgangspunkt, der alle älteren türkeistämmigen Pendelmigranten verbindet, ist die ursprünglich türkische Staatsangehörigkeit. Als türkische Staatsbürger können sie sich mit einer (unbefristeten) Aufenthaltserlaubnis oder einer (befristeten) Aufenthaltsberechtigung dauerhaft in Deutschland aufhalten.21 Durch die türkische Staatsbürgerschaft sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit in der Türkei nicht eingeschränkt, müssen jedoch die Ausländer-gesetzgebung in Deutschland beachten. Dietzel-Papakyriakou problematisiert, dass die Gesetzgebung in Deutschland lange Zeit nicht vorteilhaft für die Umsetzung einer Pendel-

20 Da die Türkei kein Mitglied der EU ist, gelten die EU-Abkommen zur Freizügigkeit nicht zwischen Deutschland und der Türkei. Für Pendler zwischen Deutschland und der Türkei gelten daher andere rechtliche Rahmenbedingungen als für Pendler zwischen Deutschland und anderen EU-Staaten. Viele Fragestellungen der sozialen Sicherung im Falle einer deutsch-türkischen (Re-)Migration sind im Sozialversicherungsabkommen vom 30.04.1964 (in Kraft seit dem 01.11.1965) geregelt. Das Abkommen wurde kontinuierlich modifiziert: Änderungsabkommen am 28.05.1969, Zwischenabkommen am 25.10.1974, Zusatzabkommen beschlossen am 02.11.1984 und am 01.04.1987 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat noch mit 17 weiteren Staaten ein Sozialversicherungsabkommen. 21 Entsprechend des »Zuwanderungsgesetzes« (offiziell: »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und die Integration von Ausländern«), gültig seit dem 1.1.2005, werden sowohl die unbefristete Aufenthaltserlaubnis als auch die Aufenthaltsberechtigung als Niederlassungserlaubnis bezeichnet.

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migration war (Dietzel-Papakyriakou 1999, S. 147 f.).22 Durch das seit 2005 wirksame Zuwanderungsgesetz sind jedoch auch Aspekte des Aufenthaltsrechtes neu geregelt worden, sodass sich für Pendler (und aus Deutschland Re-migrierende) einige Erleichterungen ergeben: Seit 2005 können Ausländer mit einer Niederlassungserlaubnis gegenwärtig Deutschland für sechs Monate verlassen ohne ihren Aufenthaltstitel in Deutschland zu gefährden. Darüber hinaus besteht für Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis die Möglichkeit, eine Ausnahmeregelung zu beantragen, so dass sie unter bestimmten Bedingungen Deutschland für einen über einen sechs Monate hinausgehenden Zeitraum verlassen können (§ 51 AufenthG).23 Dies ermöglicht ihnen faktisch in ihr Herkunftsland zu remigrieren beziehungsweise sich dort im Zuge einer Pendelmigration längerfristig aufzuhalten, ohne ihren Aufenthaltsstatus beziehungsweise ihre Einreisemöglichkeiten in Deutschland zu gefährden. Yilmaz (2011, S. 197) beschreibt aus dem Kontext ihrer Untersuchung heraus, dass vielen Pendlern die Möglichkeiten (vor allem die Erleichterungen durch die Möglichkeit der Ausnahmeregelung) durch die Neuregelungen des Zuwanderungsgesetzes nicht bekannt seien, sodass sie auch weiterhin mit einem unsicheren Gefühl pendeln, darauf achten, alle sechs Monate nach Deutschland einzureisen und mögliche Leistungen der Grundsicherung im Alter oder auch der Pflegeversicherung nicht in Anspruch nehmen, um ihren Aufenthaltstitel in Deutschland nicht zu gefährden (siehe Kapitel 3.3.2.).

22 Entsprechend den Grundlagen des Aufenthaltsrechtes des Ausländergesetzes (AuslG) gültig von 1990 bis 2005. 23 Der § 51 (Beendigung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts) Abs. 1 (Begründung der Ausreisepflicht) besagt: »Der Aufenthaltstitel erlischt, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist.« Die Voraussetzungsbedingungen zur Erteilung einer solchen Ausnahmeregelung sehen vor, dass sich der Antragssteller 15 Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten hat, sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und über ein ausreichendes Renteneinkommen und einen Krankenversicherungsschutz verfügt. Darüber hinaus regelt §37 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (Besondere Aufenthaltsrechte) das »Recht auf Wiederkehr«: »Einem Ausländer, der von einem Träger im Bundesgebiet Rente bezieht, wird in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn er sich vor seiner Ausreise mindestens acht Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.«

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Personen, die nach einer Einbürgerung eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen,24 sind von der Ausländergesetzgebung in Deutschland unberührt, jedoch müssen sie sich nun mit den Visabestimmungen, dem Aufenthaltsrecht sowie weiteren Regelungen des Ausländerrechtes in der Türkei auseinandersetzen. In der Türkei ist für Ausländer der Erwerb von Grundstücken und Immobilen sowie der Antritt einer Erbschaft mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden – beides Punkte, die gerade für ältere türkeistämmige Migranten von Bedeutung sind. In diesem Zusammenhang können die türkeistämmigen Migranten mit einer nun deutschen Staatsangehörigkeit eine besondere Regelung in der Türkei nutzen: Die mavı kart (»blaue Karte«) Der Besitz einer mavı kart ermöglicht den Begrenzungsfreien Aufenthalt in der Türkei, rechtliche Gleichstellung mit türkischen Staatsbürgern auch beim Immobilienhandel sowie beim Erbrecht und bei der Friedhofsordnung; lediglich das (aktive) Wahlrecht ist ihnen verwehrt. Art. 29 türk. StAG seit dem Gesetz Nr. 4112 von 1995. Früher pembe kart (»pinke Karte«) benannt,25 kann von ehemals türkischen Staatsangehörigen beantragt werden und führt bei Erhalt dazu, dass diese in entscheidenden Punkten mit türkischen Staatsbürgern rechtlich gleichgestellt werden. Durch die Einführung der mavı kart können türkeistämmige ältere Pendelmigranten mit deutscher Staatsangehörigkeit sich annähernd wie Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft in Deutschland und der Türkei bewegen beziehungsweise zwischen beiden Ländern relativ bedingungslos wechseln.

24 Chancen auf eine Einbürgerung in Deutschland hatten aus der Türkei kommende Ausländer seit der Liberalisierung des Einbürgerungsrechtes 1993. Bedingung dazu war, dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft aufgaben. Viele aus der Türkei stammende Eingebürgerte versuchten nach der Einbürgerung in Deutschland die türkische Staatszugehörigkeit wieder zu erwerben, um so zu einer doppelten Staatsangehörigkeit zu gelangen (die Türkei erlaubt eine doppelte Staatsangehörigkeit). Mit der Reform des Staatsangehörigengesetzes in Deutschland von 2000 wurde Personen, die aus einem NichtEU-Land kommen, verboten bei einer Einbürgerung in Deutschland die alte Staatsbürgschaft zu behalten. Wer dies dennoch tat, wurde die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. Vielen türkeistämmigen Migranten wurde die deutsche Staatsangehörigkeit wieder aberkannt. 25 Der Besitz einer mavı kart ermöglicht den Begrenzungsfreien Aufenthalt in der Türkei, rechtliche Gleichstellung mit türkischen Staatsbürgern auch beim Immobilienhandel sowie beim Erbrecht und bei der Friedhofsordnung; das Wahlrecht ist ihnen verwehrt. Art. 29 türk. StAG seit dem Gesetz Nr. 4112 von 1995. Früher als pembe kart (»pinke Karte«) genannt.

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Während vor den ausländerrechtlichen Änderungen von 2005 Pendeln mit erheblichen aufenthaltsrechtlichen Risiken für die Pendler verbunden war, kann gegenwärtig von einer rechtlichen Erleichterung der Pendelmigration gesprochen werden. Dennoch müssen türkeistämmige Pendelmigranten bei ihren Pendelrhythmen die sich aus ihrer Staatsangehörigkeit sowie jeweiligen Aufenthaltsmöglichkeiten ergebenden Rahmenbedingungen strategisch mitbedenken. Auch in Bezug auf die Wohnorte zeigen sich unter den türkeistämmigen Pendelmigranten verschiedene Strategien. Aus auf Deutschland fokussierter Literatur zur Wohnsituation älterer Migranten ist bekannt, dass diese oftmals als prekär gilt (vgl. Friedrich 2008; Veysel und Seifert 2006; Bandorski 2009). Yilmaz (2011, S. 90) knüpft in ihrer Untersuchung an die von Dietzel-Papakyriakou angestoßene Betrachtung des Pendelns als Möglichkeit zur Erweiterung des Wohnraums an. Sie kann in ihrer Untersuchung aufzeigen, dass Pendler sowohl in ihrem Wohnverhalten in Deutschland als auch in der Türkei »typisch« sind: In Deutschland verfügen viele der von ihr Befragten über relativ kleine Wohnräume zur Miete und leben in mehrheitlich industriell geprägten städtischen Ballungsgebieten. In der Türkei zeichnet sich ein anderes Bild. Die in der Untersuchungen Befragten verfügen alle über Wohneigentum: eine eigene Wohnung oder auch ein Haus, teilweise an mehreren Orten. Der Wohnraum ist in der Türkei für alle größer.26 Yilmaz deutet die Wohnsituation in der Türkei als nicht außergewöhnlich, da einerseits viele ältere Türkeistämmige im Laufe der Migration Wohnraum in der Türkei für die (geplante) Rückkehr anschufen und darin auch eine sichere Anlage für die Zukunft der eigenen Kinder sahen. Andererseits ist in der Türkei Wohneigentum die Regel und hat einen großen Stellenwert in der sozialen Absicherung. Wohnraum, für den keine monatliche Mietzahlung verlangt wird, wird aus dieser Perspektive, so Yilmaz, als Ausdruck ökonomischer Emanzipation gedeutet (2011, S. 153). Darüber hinaus bietet der Immobilienmarkt in der Türkei mehrheitlich größere Wohnungen zu wesentlich günstigeren Preisen als in Deutschland. Somit können sich Pendler in der Türkei mit der gleichen finanziellen Aufwendung einen größeren Wohnraum mit besserer Ausstattung in einem als angenehmer erlebten Umfeld leisten, als in Deutschland. Dennoch kann Yilmaz in ihrem Sample einige Fälle benennen, die von dieser Regel abweichen. Einige der Pendler haben Wohnraum in Deutschland erworben. Der Erwerb einer Immobilie ist entsprechend der Datenlage von Yilmaz jedoch

26 Yilmaz berichtet beispielsweise von einem Ehepaar, dass in Deutschland in einer 34 m²-Wohnung zur Miete wohnt, in der Türkei zwischen einer 100 m² Eigentumswohnung und einer Ferienwohnung der Tochter, ebenfalls 100 m², pendelt (Yilmaz 2011, S. 148).

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nicht als Ausdruck einer finalen Bleibeorientierung in Deutschland zu werten, denn mehrheitlich wohnen eigene Kinder in der Immobilie. Nach Yilmaz sehen die Pendler dies als Erleichterung: Sie können dort während ihres Aufenthaltes in Deutschland wohnen und zahlen keine Miete. Koresidenz am Wohnsitz der Kinder in Deutschland bedeutet auch, dass der eigene Wohnsitz in Deutschland an dieser Adresse gemeldet ist. Führt man dieses Ergebnis von Yilmaz mit den von Krumme identifizierten Pendeltypen zusammen, so kann vermutet werden, dass gerade Pendler, die bereits in die Türkei zurückgekehrt oder die bi-lokal orientiert sind, eine Koresidenz bei ihren Kindern als Strategie wählen. Darüber hinaus konnte Yilmaz nachzeichnen, dass Pendler oftmals auch noch innerhalb der Türkei mehrere Wohnsitze aufweisen können: einen nah am Herkunftsort, den anderen in einer Feriengegend gelegen, wo sie Besuch ihrer Verwandtschaft (beispielsweise die berufstätigen Kinder mit ihren Familien aus Deutschland oder aus anderen Städten der Türkei) während eines Urlaubsaufenthaltes treffen. Somit entstehen durch die für die Pendler verschieden nutzbaren Wohnräume individuelle Pendelmuster. Zentral ist dabei für sie, dass sie je nachdem, welche Staatsangehörigkeit sie haben sowie welche Aufenthaltsmöglichkeiten im jeweils anderen Land (Niederlassungserlaubnis oder mavı kart (»blaue Karte«) einen Wohnsitz angemeldet haben müssen. 3.3.2 Einkommen, Vermögen und soziale Absicherung Ähnlich wie bei der Frage nach legalen Möglichkeiten, kontinuierlich zwischen Wohnsitzen in zwei Ländern zu pendeln, zeigen sich auch hinsichtlich der Fragen von Einkommen und sozialer Sicherung Spielräume, die ältere Pendler nutzen. In ihren Entscheidungen orientieren sich Pendler an sozialrechtlichen Rahmenbedingungen, die gegenwärtig durch zwei maßgebliche Faktoren geregelt sind. Einerseits durch das Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei von 1964, andererseits durch Verordnungen der EU zum Umgang mit Drittstaatsangehörigen und ihren Familienmitgliedern aus dem Jahr 2003.27 Für

27 Weitere Informationen zum Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei siehe Fußnote 114. Die Verordnungen EWG Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 wurden 2003 auch auf Drittstaatenangehörige erweitert, die sozialrechtliche Bindungen zu mehreren Staaten der europäischen Gemeinschaft haben: Haben Drittstaatenangehörige (und ihre Familienangehörigen beziehungsweise Hinterbliebenen) einen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat und haben sie sozialrechtliche Bindungen an mehrere Staaten der Gemeinschaft, können sie sich auf die Bestimmungen zu Koordinierung der sozialen Sicherheit berufen.

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Belange der sozialen Sicherheit Älterer sind in Deutschland die über verschiedene Sozialgesetzbücher geregelten und eigenständig organsierten Renten-, Krankenund Pflegeversicherung zuständig. In der Türkei ist seit 2008 die Sozialversicherungsanstalt, Sosyal Güvenlik Kurumu (SGK),28 für die Kranken- und Rentenversicherung der Rentner zuständig, und die Anstalt für Soziale Dienste und Kinderfürsorge, Sosyal Hizmetler ve Çocuk Esirgeme Kurumu (SHÇEK), für Leistungen der Sozialhilfe. Entsprechend des Sozialversicherungsabkommens zwischen Deutschland und der Türkei können türkische Staatsbürger in Deutschland Rentenanwartschaften ansammeln.29 Jedoch mussten zunächst Personen (gleichgültig, ob deutscher oder türkischer Staatsbürgerschaft), die ihren regulären Aufenthaltsort in die Türkei verlegten, von ihrer monatlichen Rentenzahlung aus Deutschland 30 % Abschlag in Kauf nehmen.30 Durch die seit 2003 geltende angeführte EU-Verordnung werden Rentenansprüche in voller Höhe ausgezahlt, gleichgültig, ob der Rentenempfänger in Deutschland, der Türkei oder einem anderen EU-Land lebt. Die Abwesenheit aus Deutschland hat somit für ältere türkeistämmige Pendelmigranten keine Auswirkungen mehr auf die Berechnung ihrer Rentenhöhe. Eine kontinuierliche Auszahlung der Altersrente auf ein Konto in Deutschland oder der Türkei ist somit unproblematisch. Manche der Pendler haben ein weiteres Renteneinkommen aus der Türkei, das auf eine Erwerbstätigkeit vor der Migration nach Deutschland basiert. Sie haben somit Renteneinkommen sowohl aus Deutschland als auch aus der Türkei. Eine weitere Option besteht darin, an die deutsche Rentenversicherung geleistete Beiträge auf die Rentenleistungen in der Türkei gemäß den jeweiligen Versicherungszeiten anrechnen zu lassen (so genannte Pro-Rata-Rente). Dementsprechend erhalten Personen ihre gesamte Altersrente über die Türkei ausgezahlt. Für

28 Siehe Gesetz Nummer 5510 sowie die deutschsprachige Internetpräsenz der SGK. Zu beachten ist, dass in der Türkei auch weiterhin eine erhebliche Anzahl von Personen keinen Anteil am Netz der sozialen Sicherung hat und das Schwarzarbeit sehr verbreitet ist (siehe unbekannt 2013). Ein großer Anteil der Älteren in der Türkei hat im Alter weder Rentenanspruch noch weiteres Einkommen, sodass Altersarmut ein weit verbreitetes Problem ist (siehe auch Tufan 2009). 29 Alle türkischen Staatsbürger haben die Möglichkeit während einer Erwerbstätigkeit im Ausland auch in die türkische Rentenkasse einzuzahlen. Selbstständige müssen sich eigenständig versichern und können dazu eine private Rentenversicherung abschließen oder sich freiwillig bei der Gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland versichern. 30 Der Abschlag wurde durch die niedrigeren Lebenshaltungskosten in der Türkei begründet. Ähnliche Regelungen Deutschlands gab es auch in Bezug auf weitere Staaten.

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Personen, die aus einer Remigration heraus pendeln, kann jedoch auch die Lösung attraktiv sein, sich die in Deutschland gezahlten Arbeitnehmerbeiträge erstatten zu lassen. Diese Summe können sie entweder selbst verwalten, anlegen oder sich in die türkische Rentenversicherung einkaufen, um so von Rentenzahlungen aus dem türkischen Rentensystem profitieren zu können.31 Medizinische Rehabilitationsleistungen werden in Deutschland ebenfalls von der Gesetzlichen Rentenversicherung getragen. Die Inanspruchnahme von RehaLeistungen schmälert den Rentenbezug nicht. Jedoch werden Beitragszahlungen, die vor Bezug einer Reha-Leistung gezahlt wurden, nicht mehr erstattet. Personen, die sich die Option offen halten, sich mit aus Deutschland erstatteten Arbeiternehmerbeiträgen in die Rentenversicherung in der Türkei einzukaufen, nehmen aus strategischen Gründen keine Reha-Leistungen in Anspruch. Personen, die jedoch aus ihrem Vermögen und ihrem Renteneinkommen die eigenen Lebenshaltungskosten nicht bestreiten können, haben in Deutschland Anspruch auf Grundsicherung im Alter.32 Als Anspruchsvoraussetzung ist gesetzlich geregelt, dass der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland ist. Mit der Entscheidung einen Wohnsitz in Deutschland aufzugeben beziehungsweise sich langfristig33 in der Türkei aufzuhalten entfällt für die Untersuchungsgruppe auch die Möglichkeit, diese staatliche Transferleistung zu beziehen. Pendler mit einem geringen Einkommen (und Vermögen) wägen darüber hinaus ab, ob sie auf die

31 Personen, die in die Türkei remigrieren beziehungsweise dorthin übersiedeln können auf Antrag in die türkische Rentenversicherung (SGK) aufgenommen werden. Dieser Antrag muss bis spätestens zwei Jahre nach der Rückkehr beziehungsweise Übersiedlung gestellt werden. Die Höhe der Altersrente berechnet sich auch in der Türkei über die Dauer und dem Umfang der Beitragszahlungen. Als Berechnungsgrundlage, um sich in die türkische Altersrente einkaufen zu können, sind pro angerechneten Beitragstag 5 US $ zu zahlen. Ein Jahr wird mit 360 Tagen gerechnet. Das Einkaufen in die türkische Rentenversicherung scheint besonders für remigrierende ältere Frauen attraktiv, die keiner regulären Erwerbstätigkeit nachgegangen sind (Hausfrauen) und daher kaum Rente erhalten. Aus angespartem Vermögen kann so ein kontinuierliches, wenn auch geringes Einkommen in der Türkei geschaffen werden. 32 Die Grundsicherung im Alter ist in §41 ff. SGB XII geregelt. 33 Hier scheint es kommunal unterschiedliche Rechtsanwendungen zu geben. Pendler und Sozialarbeiter berichten, dass einige Kommunen die Grundsicherungsleistungen nach sechs Wochen Ortsabwesenheit einstellen, andere nach drei Monaten. Um eine Obdachlosigkeit zu vermeiden, zahlen Kommunen oftmals einen anteiligen Betrag der Grundsicherung, damit die Mietzahlungen gesichert sind.

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Leistungen der Grundsicherung im Alter verzichten, da Personen, die entsprechende Transferzahlungen beziehen, keine Aussicht auf den Erhalt einer Ausnahmeerlaubnis entsprechend § 51 AufenthG haben (siehe Kapitel 3.3.1). Unproblematischer stellt sich die Situation hinsichtlich eines Krankenversicherungsschutzes dar. Entscheidende Faktoren sind hierbei, aus welchem Land Rentenversicherungsleistungen bezogen werden und wo der Hauptwohnsitz gemeldet ist. Personen, die eine gesetzliche Altersrente aus Deutschland erhalten, sind regulär in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) in Deutschland pflichtversichert. Entsprechend des Sozialversicherungsabkommens können in Deutschland wohnhafte und krankenversicherte Personen mit einem Krankenschein unproblematisch Leistungen des Gesundheitssystems in der Türkei in Anspruch nehmen und werden wie regulär wie in der Türkei Krankenversicherte behandelt. Die bei den türkischen Leistungsträgern entstandenen Kosten werden von den Versicherungsträgern in Deutschland erstattet und vice versa. 34 Beziehen Personen sowohl von einem Träger in der Türkei als auch in Deutschland Rente, gelten für sie die Krankenversicherungsvorschriften des Wohnlandes. Somit kann auch bei einem überwiegenden Aufenthalt in der Türkei der Versicherungsschutz der KVdR bestehen bleiben, wenn der Hauptwohnsitz (offiziell) in Deutschland ist. Entscheidet sich eine Person zu einer vollständigen Remigration in die Türkei (durch eine offizielle amtliche Abmeldung in Deutschland), überträgt sich der Krankenversicherungsschutz auf das türkische System der sozialen Sicherung. Die in Deutschland geltende soziale Pflegeversicherung ist nicht im Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei inbegriffen. Aus der bestehenden Rechtslage ergibt sich, dass in der Türkei nur unter bestimmten und sehr begrenzten Bedingungen Pflegesachleistungen bezogen werden können. 35 Auch aus diesem Zusammenhang heraus, beziehen ältere Pendler mit Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung oftmals Pflegegeld. Pflegegeld (§ 37 SGB XI) und anteiliges Pflegegeld (§ 38 SGB XI) werden auch bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt bis zu sechs Wochen pro Kalenderjahr weitergezahlt. Hält sich eine versicherte Person für mehr als sechs Wochen im Jahr außerhalb

34 Nicht inbegriffen sind dabei Gesundheitsleistungen, die in der Türkei privat finanziert werden. Kosten die bei Privatbehandlungen entstehen, werden sind nicht über die KVdR finanziert. 35 In Bezug auf Pflegesachleistungen ist im Gesetz geregelt, dass Pflegesachleistungen nur dann weiterhin gezahlt werden, wenn die Pflegekraft, die auch sonst die Pflegesachleistungen ausführt, den Versicherten bei seinem Auslandsaufenthalt begleitet. Die dabei anfallenden weiteren Kosten, die entstehen, um eine Pflegekraft (Transportkosten, Unterbringung, Verpflegung etc.) müssen vom Versicherten selbst getragen werden.

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Deutschlands auf, wird der Auslandsaufenthalt nicht mehr als vorübergehend bewertet und die Leistungsansprüche ruhen. Kehrt eine Person wieder nach Deutschland zurück, kann sie wieder auf Leistungen, wie beispielsweise das (anteilige) Pflegegeld, zurückgreifen. Ein Äquivalent der deutschen Pflegeversicherung besteht in der Türkei nicht. Stationäre Einrichtungen für dauerhaft Pflegebedürftige nehmen entweder verarmte Alte auf oder müssen privat finanziert werden (weiteres siehe Kapitel 5.3.2). Darüber hinaus besteht für in der eigenen Häuslichkeit gepflegte Personen die Möglichkeit, über SHÇEK Unterstützung einer ausgebildeten Pflegekraft zu erhalten. Yilmaz führt an, dass es in der Türkei eine verbreitete Praxis ist, Sorgearbeiterinnen für 24/7-Dienste in einen Pflegehaushalt zu integrieren (2011, S. 65 f.). Dazu greifen relativ wohlhabende türkische Familien auch auf irreguläre Immigrantinnen aus Nachbarländern (Zentralasien, Moldawien) zurück. Aus Untersuchungen zur finanziellen Situation von älteren (türkeistämmigen) Migranten in Deutschland ist bekannt, dass diese Gruppe erheblich häufiger von Einkommensarmut im Alter betroffen ist als vergleichbare Altersgruppen ohne Migrationshintergrund (siehe Kapitel 2.2). Entsprechend der allgemeinen Annahme, dass eine Pendelmigration, bei der mindestens zwei Haushalte gepflegt werden, finanziell relativ aufwendig ist, wird oftmals Verwunderung ausgedrückt, wie ältere Türkeistämmige diesen Lebensstil finanzieren können. In den von Krumme und Yilmaz dokumentierten Fällen wird deutlich, dass türkeistämmige Pendelmigranten bei den ihr Pendelverhalten betreffenden Entscheidungen die hier angeführten sozialrechtliche Aspekte berücksichtigen. Dabei kann insbesondere Yilmaz aufzeigen, dass Pendler durch Rückgriffe auf Vermögenswerte (Immobilien, landwirtschaftlich nutzbare Flächen in der Türkei) und innerfamiliäre Transferleistungen über weitere ökonomische Optionen verfügen. Während sie in Deutschland als einkommensarm gelten, verfügen sie in der Türkei über eine relativ große Kaufkraft. Es zeigt sich, dass die Pendelmigration älteren Türkeistämmigen einen Handlungsspielraum eröffnet, indem sie einen jeweils individuell angemessenen transnationalen Wohlfahrtsmix entwickeln. Gleichzeitig kommt Yilmaz aufgrund der Analyse ihres empirischen Materials zu der Schlussfolgerung, dass eine Pendelmigration von älteren Türkeistämmigen auch dann fortgesetzt wird, wenn sie finanziell nicht tragbar ist: »Ist diese doppelte Haushaltsführung auf Dauer nicht möglich, bedeutet dies aber nicht unbedingt, dass man sich für die kostengünstigere Lösung entscheidet und womöglich auf das Pendeln verzichtet beziehungsweise verzichten muss. Pendeln ist nicht primär eine Option ökonomischer Rationalität. Andere immaterielle Motive, wie Familie und Gesundheit, sind bei eine derartigen Entscheidungsfindung wichtiger, sie sind in vielen Fälle bedeutsamer

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für die Lebensqualität der Betroffenen, als sich das Pendeln auch finanziell ›leisten zu können‹.« (Hervorhebung im Original) (Yilmaz 2011, S. 142 f.)

Türkeistämmige jonglieren so ebenfalls mit ihren Einkommensmöglichkeiten und Anbindungen an nationale Soziale Sicherungssysteme wie mit ihrer Staatsbürgerschaft und ausländerrechtlichen Möglichkeiten. 3.3.3 Soziale Netzwerke, Unterstützungspotentiale und Umgang mit gesundheitlichen Einschränkungen sowie einem Pflegerisiko Äquivalent zu den facettenreichen Einbindungen in staatliche Systeme verfügen älterer Pendelmigranten über multilokal verortete soziale Netzwerke.36 Wie bereits angeführt, zählen Einbindungen in familiäre als auch freundschaftliche Netzwerke im transnationalen sozialen Raum zu den zentralen Motivationsgründen für eine Pendelmigration. Dabei gilt sowohl die Qualität als auch Quantität der Einbindung in soziale Netzwerke als Einfluss auf die (subjektive und objektive) Lebensqualität sowie als wichtige Ressource im Alter (siehe Kapitel 2.1.2). Über die tatsächlichen sozialen Netzwerke und Unterstützungspotenziale physisch mobiler älterer (türkeistämmiger) Pendelmigranten liegen jedoch keine belastbaren und detaillierten Ergebnisse vor, da sie bis jetzt nicht systematisch untersucht wurden. Dennoch sind auf bereits erfolgten (explorativen) Studien einige Einschätzungen dokumentiert, die eine erste Annäherung ermöglichen. Dabei zeigt sich auch hier, dass die Einnahme einer transnationalen Perspektive Betrachtung und Beurteilung der sozialen Netzwerke älterer türkeistämmiger Migranten verschiebt. Untersuchungen, die Rückschlüsse auf die sozialen Netzwerke und (familiäre) Unterstützungspotenziale älterer Migranten zulassen, waren zunächst auf den deutschen Nationalraum beschränkt und haben diese Gruppe nur wenig in Bezug auf ihre Herkunft differenziert betrachtet. Dennoch kommen sie zum dem Schluss, dass die Einbindungen in soziale Netzwerke älterer Migranten sich nicht erheblich von denen der autochthonen älteren Bevölkerung in Deutschland unterscheiden

36 In der Netzwerkforschung können unterschiedliche Beziehungstypen (Freundschaft, Transfer materieller Ressourcen, Informationsaustausch, emotionale Zuwendung etc.) über verschiedene Dimensionen (Größe, Kontakthäufigkeit, Homogenität – Heterogenität, Dauerhaftigkeit etc.) erfasst und in egozentrierten oder auch in Gesamtnetzwerken abgebildet werden.

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(vgl. Olbermann 2003, S. 244; Baykara-Krumme 2008). In Studien zu türkeistämmigen Migranten wird jedoch seit langem eine ethnische Homogenität der sozialen Netzwerke festgestellt und hinsichtlich möglicher Chancen und Risiken diskutiert (z. B. Janßen und Polat 2006). In Bezug auf ältere Pendelmigranten kann dennoch eine Diskussion, die sich zwischen den Polen Alarmismus und Überbetonung von Ressourcen bewegt, beobachtet werden. Entsprechend des methodologischen Nationalismus wurde zunächst befürchtet, dass Pendelmigranten durch eine doppelte Abwesenheit beziehungsweise doppelte Nicht-Zugehörigkeit ihr soziales Netzwerk schwächen. So vermutete beispielsweise Olbermann (2003, S. 244), dass das Pendeln, ebenso wie eine Rückkehr ins Herkunftsland, zu einer Netzwerkreduzierung führen kann. Und Gabriele Sturm und Christine Weiske (2009) diskutieren Multilokalität als eine Kombination von Sesshaftigkeit und Migration und gehen davon aus, die Lebenswirklichkeit durch multilokales Wohnen erheblich an Komplexität gewinnt. Entsprechend der kontroversen Diskussion transnationaler Lebensentwürfe werden die sozialen Beziehungen (älterer) Pendelmigranten auch als doppelt geglückte Zugehörigkeit gedeutet. Krumme betont in ihrer Studie die Bedeutung von transnational strukturierten sozialen Netzwerken und diskutiert sie im Kontext von Push- und Pull-Faktoren als Teil lokal gebundener Ressourcen (Krumme 2002, S. 196 ff.). Krumme kann so einen erheblichen Facettenreichtum in der Ausgestaltung von Einbindungen in sozialen Netzwerken in transnationalen sozialen Räumen aufzeigen. Und auch Yilmaz stellt fest: »Soziale Netzwerke ermöglichen das Pendeln. Die Pendler und Pendlerinnen erfahren vielfältige Hilfen, die ihnen das Weggehen sichern, die Abwesenheit, das Zurückkommen und die Anwesenheit. Soziale Netzwerke sind in beiden Orten, im Wohnort und im Pendelort, vorhanden. In Deutschland sind es an erster Stelle die Kinder, Enkelkinder, Verwandten und Bekannten der älteren Ehepaare. In der Türkei sind es im Wesentlichen die dort lebenden Kinder und Enkelkinder, für einige auch die dort lebenden anderen Pendlerinnen und Pendler.« (2011, S. 195)

In einer zusammenfassenden Reflexion kann festgehalten werden, dass die Einbindungen der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten in soziale Netzwerke nur in einer transnationalen Perspektive angemessen zu erfassen ist. In der sozialen Unterstützungs- und Versorgungsforschung wurde lokale Nähe lange als Bedingung für soziale Unterstützung im Alter angesehen. Internationale Studien zeigen jedoch auf, dass verschiedene Formen sozialer Unterstützung Älterer auch über große geographische Distanzen umgesetzt werden können (vgl. Baldassar et al. 2007). Durch kontinuierliche Mobilität und die Möglichkeiten der

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modernen Kommunikationsmedien können Pendelmigranten soziale Beziehungen pflegen und gleichzeitig emotionale, soziale, finanzielle und tatkräftige Unterstützung leisten und erfahren – mal über geographische Distanzen hinweg, mal in direkter physischer Nähe. Gleichzeitig bietet die Verfügbarkeit von (sozialen) Dienstleistungen die Möglichkeit, familiäre und freundschaftliche Netzwerke von anfallenden handfesten Unterstützungsbedarfen zu entlasten. Dennoch interessiert sowohl wissenschaftlich als auch sozialpolitisch, wie ältere (türkeistämmige) Pendelmigranten mit dem allgemeinen Lebensrisiko zunehmender Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit umgehen und auf welche Unterstützungspotentiale sie dabei zurückgreifen können. Gemeinhin wird angenommen, dass spätestens gesundheitliche Gründe eine Entscheidung über den nationalen Kontext, in dem ältere (ehemalige) Pendelmigranten ihr Lebensende verbringen, erzwingen. In diesem Zusammenhang reaktiviert sich die früh von Dietzel-Papakyriakou eingebrachte These, dass Pendelmigration nur einen »Aufschub« über die finale Bleibeentscheidung bedeutet. Auch wenn die Pendelmigration durch die transnationale Perspektive als Lebensstil für das dritte beziehungsweise junge Alter akzeptierbar zu werden scheint, wird dem hohen beziehungsweise vierten und von Pflegebedürftigkeit gekennzeichnetem Alter paradigmatisch davon ausgegangen, dass es uni-lokal, zumindest innerhalb eines nationalen Rahmens stattfindet. Für Dietzel-Papakyriakou scheint es gesetzt, dass es für ältere Migranten letztlich attraktiver ist, in Deutschland zu verbleiben: »Ein endgültiger Verbleib in Deutschland wird für ältere Migranten dann wahrscheinlicher, wenn ihre Mobilität aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen abnimmt.« (2005, S. 404)

Die Studienergebnisse von Yilmaz und Krumme relativieren diese Annahme. So stellt Krumme fest: »Hinsichtlich der Zukunftspläne zeigt sich […], dass die Frage nach dem Ort, an dem die Zukunft verbracht wird, z. B. im Pflegefall, offen gelassen wird. Zwar gibt es teilweise Präferenzen für einen Ort oder bereits gewisse Planungen für den Fall einer Pflegebedürftigkeit. In keinem Fall wird jedoch eine eindeutige Antwort gegeben.« (2002, S. 139)

Und auch Yilmaz stellt auf Basis des erhobenen Interviewmaterials fest, dass eine an Gesundheitsleistungen orientierte Entscheidung für einen nationalen Kontext für die befragten Pendler noch nicht getroffen zu sein scheint:

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»Bisherige Untersuchungen haben stets ein eindeutig positives Votum für die medizinische Versorgung in einem der beiden Länder gegeben. Die […] Befragten argumentieren differenzierter, vermutlich aufgrund ihrer besonderen Pendelerfahrungen, die ihnen ermöglichen beide Systeme parallel kennen zu lernen.« (2011, S. 162)

Die Entscheidung über den Verbleib ist für ältere türkeistämmige Pendelmigranten mitnichten vorgezeichnet. Dabei ist ein Offenhalten beziehungsweise eine Nichtplanung möglicher Pflegesituation kein Alleinstellungsmerkmal dieser Gruppe. So kommt Paß in ihrer Untersuchung zu Alter(n)svorstellungen älterer Migrantinnen zu dem Schluss, »dass konkrete Planungen hinsichtlich einer potentiellen Pflege- oder Versorgungsnotwendigkeit kaum zu finden sind. Planungen zeigen sich eher als vage Möglichkeiten oder als Notwendigkeiten, die aktuell noch keine Relevanz besitzen oder von gegenteiligen Überlegungen im Verlauf der Erzählungen wieder relativiert werden.« (2006, S. 238 f.)

Auch für ältere Migrantinnen, die nicht in einer Pendelmigration leben, ist der Verbleib in Deutschland noch nicht final entschieden: »Konkrete Überlegungen im Hinblick auf eine Versorgungserwartung im Alter und damit auf eine Entscheidung für einen nationalen Kontext, stellen sich erst mit zunehmenden Erleben von Beeinträchtigungen ein.« (Ebd., S. 239)

Aus dieser Perspektive ist zunächst festzustellen, dass ältere Türkeistämmige von der Pendelmigration in der gegenwärtigen Situation profitieren. Bisher befragte Personen stellen die Pendelmigration nicht als eine Strategie im Umgang mit einer antizipierten Pflegebedürftigkeit dar. Doch bereits gegenwärtig finden sich Mobilitätseingeschränkte, chronisch Kranke und Pflegebedürftige in der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten. Yilmaz kann aufzeigen, dass sich die Pendelmigration sowohl negativ als auch positiv auf die gesundheitliche Situation der älteren Türkeistämmigen auswirkt. Sie führt Interviewausschnitte an, die aufzeigen, dass sich Pendler in der Türkei gesünder fühlen. Besonders das Klima und die ländliche Umgebung, in der sich Pendler in der Türkei oftmals aufhalten, werden von ihnen als »therapeutische Strategie« oder auch als »Lösung« in Bezug auf eigenen Krankheiten gedeutet (Yilmaz 2011, S. 159). Gleichzeitig arbeitet Yilmaz heraus, dass durch den Länderwechsel eine kontinuierliche medizinische Versorgung (Behandlung und Kontrolle) in Deutschland oder in der Türkei nicht zu gewährleisten ist. Pendler mit chronischen Krankheiten

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müssen daher ihr Pendeln planen und organisieren. Dabei kann sie beobachten, dass es hilfe- und pflegebedürftige Pendlern in der Türkei besser gelingt ihr Leben zu bewältigen als in Deutschland. Dies führt sie auch darauf zurück, dass ältere Pendler in der Türkei weniger Sprachprobleme haben und unproblematisch auf Haushaltshilfen zurückgreifen, in Deutschland jedoch nicht.37 Zusätzlich kann Yilmaz nachzeichnen, dass sich mit zunehmender Hilfs- und Pflegebedürftigkeit die Erwartungen an eine vollständige Versorgungsübernahme durch die Kinder relativieren. So adressieren die von Yilmaz befragten Personen Unterstützungs- und Pflegeerwartungen zunächst an die eigenen Töchter, dann Schwiegertöchter und schließlich Söhne. Jedoch werden auch familienexterne Versorgungsmodelle wie Pflegeeinrichtungen in Betracht gezogen, wenn eine unbedingte Pflegeübernahme durch Familienmitglieder nicht als gesichert gilt. Dies deckt sich mit einer auf quantitativen Daten beruhenden Untersuchung intergenerationaler Solidarität im späteren Leben bei Immigrantenfamilien in Deutschland von Helen Baykara-Krumme, die feststellt: »Results for Germany indicate high expectations, e.g. in terms of care in old age, but in the same time a high degree of insecurity and doubt among the elderly with regard to this fulfilment. […] Overall, parent-adult child relations in immigrant families are very heterogeneous as parents and children deal with cultural value and situational-contextual divergences differently.« (Baykara-Krumme 2008, S. 138 f.)

So kann abschließend festgehalten werden, dass ältere türkeistämmige Pendelmigranten sowohl in formelle Institutionen der sozialen Sicherung als auch in familiären und freundschaftlichen Netzwerke transnational eingebunden sind. Diese Netzwerke sind existenzielle Ressourcen zur Ermöglichung einer fortwährenden Pendelmigration. Zukunftsprognosen, inwiefern aus diesen sozialen Netzwerken Unterstützungspotentiale zur Aufrechterhaltung der Pendelmigration auch bei Pflegebedürftigkeit genutzt werden können, ist eine tendenziell offene Frage.

37 Yilmaz erklärt dies darüber, dass in Deutschland möglichst keine Haushaltshilfen aus der eigenen Ethnie angestellt werden, in der Türkei diese Kategorie für die Pendler jedoch entfällt.

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3.4 Z USAMMENFASSUNG UND R EFLEXION DES F ORSCHUNGSSTANDES IN B EZUG AUF ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN Ältere türkeistämmige Pendelmigranten werden seit der Etablierung des Forschungsfeldes Alter(n) und Migration kontinuierlich erwähnt, wurden jedoch erst zwei Mal Schwerpunkt in empirischen Untersuchungen. Aus diesem Zusammenhang heraus, finden sich in der wissenschaftlichen Literatur aus anderen Kontexten abgeleitete Hypothesen zur Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendler, jedoch nur ein begrenzter empirisch gesicherter Wissensbestand. Die Leistung der bisher vorgelegten qualitativ-empirischen Untersuchungen von Krumme (2002) und Yilmaz (2011) besteht vor allem darin, durch biographische und an sozialen Lebenslagen orientierte Perspektiven Einblick in unterschiedliche Ausgestaltungen der Pendelmigration sowie Motivationsprofile zu bieten. Dabei konnten sie aufdecken, dass die Gruppe der türkeistämmigen Pendelmigranten mitnichten homogen ist, sondern sich über verschiedene Dimensionen ausdifferenziert. So können drei Pendeltypen (Pendeln bei Verbleib, Pendeln bei Rückkehr und Pendeln bei bilokaler Orientierung) sowie mindestens drei verschiedene soziale Milieus (traditionsverwurzelte Pendler, bürgerliche Pendler, intellektuell-kosmopolitische Pendler) in der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten unterschieden werden. Dabei hat die von Krumme und Yilmaz vorgenommene Beschreibung von älteren türkeistämmigen Pendelmigranten als Transmigranten (siehe Kapitel 2.2.3) neue Betrachtungsoptionen eröffnet. In der ursprünglichen Diskussion wurden Pendler tendenziell monoperspektivisch als »tragische Gestalten« gedeutet, die weder ihr ursprüngliches Migrationsziel (als Arbeitsmigrant in Deutschland Startkapital für ein Leben in der Türkei zu verdienen) noch ein als angemessen geltendes adaptiertes Migrationsziel (eine »gelungene Integration« in Deutschland) erreicht haben und nun aufgrund ihrer bi-lokalen Vernetzung hin- und hergerissen die Entscheidung über Verbleib und Rückkehr hinauszögern oder auch verdrängen.38

38 Die entsprechende Deutung findet sich nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur. Auch die im Experteninterview befragte Frau Demirci formuliert: »weil die Wünsch, die sind, die erste Generation ist hierhergekommen und die wollte nach ein paar Jahren wieder zurück fahren oder ähm. Und die wollen erst mal bisschen Geld sammeln, dass sie dann bisschen Geld für ein Haus, für ein Stück Grundstück oder für Traktor und dann wollten sie wieder zurück fahren. Über diese Wünsche wurde nie wahr, die konnten das nicht umsetzen. Und dieser Wunsch ist immer noch in denen drinnen geblieben,

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Die transnationale Betrachtungsweise sowie die Identifikation von mehrdimensionalen Motivlagen hat die Pendelmigration als einen sowohl mit Negativa als auch Positiva begleiteten Lebensstil diskutierbar gemacht, der sich einer einfachen Bewertung entzieht.39 Dementsprechend finden sich in der Gruppe der Pendler unterschiedlichste Pendelstile, die von den Pendlern jeweils individuell unterschiedlich bewertetet werden. In der Pendelmigration (älterer Türkeistämmiger) wirken äußere Rahmenbedingungen sowie subjektive Präferenzen zusammen, sodass Pendler weder vollkommen von strukturellen Bedingungen bestimmt werden, noch völlig unabhängig von ihnen agieren. Wie die Studienergebnisse von Krumme und Yilmaz aufzeigen, ermitteln und praktizieren die Pendler in einem Trade-off einen jeweils individuell zusammengesetzten transnationalen Wohlfahrtsmix. Dabei spielen Faktoren von Staatsangehörigkeit und Ausländerrecht, Wohnraum, Einkommen, Gesundheit und Therapiebedarfe, Pflege sowie familiäre und freundschaftliche Netzwerke zusammen. Während Individuen einzelne Aspekte als für sich ausschlaggebenden Motivationsgrund beziehungsweise den Pendelrhythmus bestimmend herausstellen, kann Pendelmigration als soziales Phänomen nicht hinreichend auf einen bestimmten Aspekt zurückgeführt werden, sondern stellt sich als ein facettenreicher Lebensstil dar. Doch auch, wenn sich Bewertungen der Gruppe der älteren (türkeistämmigen) Pendelmigranten durch ihre Einordnung in komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge relativeren, wird die Frage nach dem Umgang mit den Risiko der Pflegebedürftigkeit bisher als Fixpunkt gehandelt. Es wird davon ausgegangen, dass mit dem Eintritt einer Pflegebedürftigkeit eine Pendelmigration nicht mehr dauerhaft aufrechterhalten werden kann, sodass Pendelmigranten sich letztlich doch für einen lokalen Kontext entscheiden müssen, in dem sie pflegebedürftig sein werden, in dem sie versterben werden. Dies schließt eine weitere Einbindung in transnationale soziale Räume nicht aus, begrenzt beziehungsweise beendet jedoch physische Mobilität. Transmigration in Form von Pendelmigration und Pflegebedürftigkeit (im Alter) gilt so als unvereinbar.

nicht? Die fühlen sich eigentlich jetzt so zurzeit auch nicht so zuhause drüben in der Türkei und hier in Deutschland fühlen sie sich auch nicht richtig zuhause. Deswegen pendeln sie, die sind dann ein paar Monate dort und nach ein paar Monate ist es dort auch langweilig, dann fühlen sie sich unwohl und dann sind die wieder hier. Und dann dauert das wieder ein paar Monate und dann fahren sie wieder zurück in die Türkei.« (Frau Demrici, Z. 99-107) 39 Ute Luig (2007, S. 89) konzipiert ältere Pendelmigranten sogar als »erfahrene Kosmopolit/inn/en«.

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Im wissenschaftlichen Diskurs gilt die begrenzte Zukunftsperspektive von Pendelmigration im Alter als logisch und wird nicht hinterfragt. Daher rufen die Studienergebnisse von Krumme und Yilmaz, die aufzeigen, dass Pendelmigranten nicht von Überlegungen und Planungsaktivitäten hinsichtlich ihres Verbleibs bei zunehmender Unterstützungs- als auch Pflegebedürftigkeit berichten, Irritationen hervor. Die Nichtplanung von Hilfebedarf in einem solch Organisationsaufwendigen Lebensstil wie der Pendelmigration wirkt besonders und wirft weiterführende Fragen zu den Alter(n)s- und Versorungserwartungen dieser Gruppe auf. Warum scheinen sie Überlegungen, wie mit einem erwartbaren Hilfebedarf umgegangen werden soll, systematisch zu vermeiden? Ist dies als Kennzeichen einer Lebenslage mit geringen Handlungsressourcen geschuldet oder als Verdrängung zu werten? Oder können bereits praktische Umgangsweisen mit Hilfe- und Pflegebedarf bei Pendlern beobachtet werden? An der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion zu älteren (türkeistämmigen) Pendelmigranten ist bemerkenswert, dass die gerade aufgeworfenen Fragen nicht weiter untersucht wurden. Darüber hinaus ist es auffällig, dass in Bezug auf ältere (türkeistämmige) Pendelmigranten kulturelle und religiöse Erklärungsmuster gar nicht präsent sind. Die sich eigentlich aufdrängende Fragen, ob und inwiefern ältere türkeistämmige Pendelmigranten nicht nur transnationale, sondern auch transkulturelle und transreligiöse Verhaltensweise und Orientierungen entwickeln und praktizieren ist bisher unbeantwortet. In der im Folgenden dokumentierten Studie soll jedoch genau diese Frage beantwortet werden.

4. Darstellung des empirischen Forschungsvorgehens

In dieser Forschungsarbeit wurde untersucht, inwiefern Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten rekonstruiert und im Kontext der Diskurse um Alter(n), Migration, Kultur und Religion positioniert werden können. Zur Beantwortung des ersten Teils der Fragestellung wurde ein qualitativ-empirisches Studiendesign entwickelt, das eine Datenerhebung über zwei Typen von leitfadengestützen Interviews mit den Pendelmigranten, Experteninterviews und problemzentrierte Interviews vorsah. Die Datenerhebung und -auswertung orientierte sich vorrangig an der Grounded Theory Methodologie (vgl. Glaser und Strauss 1967; Strauss und Corbin 1990). Im Folgenden wird in einem ersten Abschnitt das methodische Vorgehen der hier dokumentierten Studie dargestellt. In einem zweiten Abschnitt wird die Datenerhebung und -auswertung sowie die Rolle der Forschenden im transnationalen Forschungssetting methodologisch reflektiert. Aus einer abschließenden Reflexion des Studienverlaufes werden Empfehlungen für weitere empirische Studien im Kontext der gewählten Untersuchungsgruppe sowie des gewählten Untersuchungsgegenstandes formuliert.

4.1 M ETHODISCHES V ORGEHEN Ausgehend von der Feststellung, dass im deutschsprachigen Raum eine Forschungslücke in Bezug auf eine zusammenhängende Betrachtung der Themenfelder von Alter, Migration, Kultur und Religion besteht (siehe Kapitel 2.5), erschien es gewinnbringend, eine Studie zu entwerfen, die das Potenzial hat, im theoretischen Diskurs verhandelte Thesen am empirischen Material diskutierbar

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zu machen. Es sollte ein Feld für die Untersuchung gewählt werden, das inhaltlich viel versprechend ist, aber auch durch seine aktuelle Quantität Relevanz erfährt. Als Forschungsgegenstand wurden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen, wie sie von einer bestimmten Gruppe kommuniziert werden, ausgewählt. Die im empirischen Material rekonstruierbaren Erwartungen sollten mit Bezug auf Diskurse zu Alter, Migration, Kultur und Religion kontextuiert werden. Die Entscheidung fiel zugunsten einer qualitativ-empirischen Studie mit leitfadengestützten Interviews aus. Interviewt wurden Personen, von denen angenommen wurde, dass sie sich gegenwärtig mit kulturellen und religiösen Selbst- und Fremdzuschreibungen in Bezug auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen auseinandersetzen. Eingegrenzt wurde das Untersuchungsfeld auf die Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten. Dem explorativen Erkenntnisinteresse sollte durch eine an die Grounded Theory Methodologie (vgl. Glaser und Strauss 2010) angelehnte Vorgehensweise gerecht werden. Charakteristisch für ein qualitativ-empirisches Vorgehen ist, dass sich während der verschiedenen Phasen der Datenerhebung bereits ein relevanter Erkenntnisgewinn abzeichnet, der während der weiteren Datenerhebung berücksichtigt wird. Auch in dieser Studie entwickelte sich das Forschungsdesign über den gesamten Bearbeitungszeitraum prozesshaft weiter. Sowohl die Forschungsfrage als auch das Profil der Untersuchungsgruppe sowie das Vorgehen im Prozess der Datenerhebung wurden kontinuierlich dem sich vertiefenden Kenntnisstand entsprechend adaptiert und präzisiert. In der folgenden tabellarischen Übersicht werden zentralen Punkte, wie die zugrundeliegende Fragestellung und die fokussierte Untersuchungsgruppe sowie die Rahmenbedingungen des Studienprozesses übersichtlich zusammengefasst. Erläuternde Ausführungen zum Forschungsdesign und dem mehrphasigen Untersuchungsprozess finden sich im Folgenden in drei Schwerpunktsetzungen untergliedert. In einem ersten Abschnitt zur Datenerhebung wird die Auswahl der Untersuchungsgruppe und Methodenwahl begründet, das Sample vorgestellt und der Feldzugang beschrieben. In einem zweiten Abschnitt wird auf die Datenaufbereitung (Transkription und Übersetzungen) eingegangen. In einem dritten Abschnitt wird das Auswertungsvorgehen dargestellt.

D ARSTELLUNG

DES EMPIRISCHEN

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Tabelle 3: Studiendesign Forschungsgegenstand Alter(n)s- und Versorgungserwartungen – im Kontext von Alter, Migration, Kultur und Religion Untersuchungsgruppe Ältere, sunnitisch-muslimische und in fortwährender Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei lebende Türkeistämmige (kurz: türkeistämmige Pendelmigranten) Forschungsfragen Inwiefern lassen sich Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten rekonstruieren? Welche Rolle spielen dabei Alter, Migration, Kultur und Religion? Wie können diese Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in Bezug auf wissenschaftliche Diskurse zu Alter, Migration, Kultur und Religion positioniert werden? Erhebungszeitraum September 2009 bis März 2011 Erhebungsorte Eine Großstadt in Deutschland sowie Großstädte, Städte und Ortschaften mittlerer und kleiner Größe in der Türkei Sprachen der Datenerhebung Deutsch, Türkisch, Englisch Erhebungsmethoden Explorative und theoriegenerierende Experteninterviews, problemzentrierte Interviews Methoden der Datenauswertung Kodierverfahren der Grounded Theory Methodologie und integriertes Basisverfahren

4.1.1 Datenerhebung Zu Beginn des Studienprozesses wurde die Entscheidung für eine subjektorientierte Herangehensweise in einem qualitativ-offenen Forschungsvorgehen getroffen. Dabei wurde einerseits an eine bereits von Rita Pass vorgebrachte Argumentation angeknüpft. Sie stellte fest, dass in der bisherigen »Forschung zu älteren Migrantinnen Migrationsschicksale vermehrt unter Ausgrenzungsund Entfremdungsmechanismen betrachtet wurden und die Betroffenenperspektive eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat.« (Paß 2006, S. 83)

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Dementsprechend verfolgt Paß in ihrer Studie zu Alter(n)svorstellungen älterer Migrantinnen einen subjektorientierten Ansatz, »der die Sicht der Betroffenen in den Mittelpunkt rückt« (Paß 2006, S. 83). Entsprechend des Erkenntnisinteresses der hier dokumentierten Studie bot sich auch hier eine vergleichbare Perspektive an. Wie bereits dargestellt, werden im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Hypothesen in Bezug auf die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten diskutiert. Forschungslücken bestehen insbesondere darin, bestehende Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten tatsächlich umreißen und kontextuieren zu können (siehe Kapitel 2.5). Um dem explorativen Erkenntnisinteresse gerecht zu werden, wurde die Grounded Theory Methodologie als Bezugsrahmen des Forschungsprozesses ausgewählt, um durch Triangulationen verschiedener Methoden den spezifischen Anforderungen des Forschungsfeldes und Erkenntnisinteresses dieser Studie gerecht zu werden. Im Folgenden werden zunächst zentrale Annahmen vorgestellt, die bei der Auswahl der Untersuchungsgruppe entscheidend waren. Anschließend werden die verwendeten Methoden in der Datenerhebung vorgestellt. Auswahl der Untersuchungsgruppe Der in dieser Untersuchung gewählte Ansatz stellt Personen aus der Gruppe der älteren Türkeistämmigen, die in ihrer nacherwerblichen Lebensphase zwischen Deutschland und der Türkei eine fortwährende Pendelmigration aufrechterhalten, in den Mittelpunkt. Mit der Wahl dieser Untersuchungsgruppe sind verschiedene Vorannahmen und spezifische Herausforderungen verknüpft. Diese sollen im Folgenden vorgestellt und erläutert werden. Eine Untersuchung zu Migranten, die sich auf einer Achse zwischen Deutschland und der Türkei bewegen, muss mit einem starken Einfluss öffentlicher Diskurse zu Deutschland- und Türkeibildern rechnen beziehungsweise kann von ihnen profitieren. Gemeinhin werden bei Thematisierungen von Deutschland und der Türkei zwei stark unterschiedliche Gesellschaftssysteme kommuniziert. 1 Historisch entstandene, mit Deutschland beziehungsweise der Türkei assoziierte Be-

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Einige Beispiele: Deutschland gilt als christlich geprägt, die Türkei als islamisch. Deutschland gilt als demokratiegefestigt, der Türkei werden Demokratiedefizite attestiert. Deutschland gilt als hochentwickeltes Land, die Türkei als Schwellenland. Das Sozialsystem in Deutschland wird als ausdifferenziert bewertet, dass der Türkei als lückenhaft diskutiert. Die Gesellschaft in Deutschland wird als stark postmodern (Individualismus im Pluralismus) beschrieben, die der Türkei als kollektivistisch orientiert.

D ARSTELLUNG

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schreibungen, werden dabei immer wieder aufgegriffen und reproduziert (vgl. Spohn 1993; Zaptcioğlu 2005; Wahlers 2011). Überzeichnet stellt sich der Kontrast dabei so dar: Deutschland gilt als Teil des wohlhabenden, modernen, christlichen Abendlandes beziehungsweise Westens, während die Türkei als ehemaliges Zentrum des Osmanischen Reiches als Repräsentant des (mal fasziniert-exotisierten, mal dämonisierten) muslimischen Orients gilt. Die etablierte westliche (französische und englische) Perspektive auf Länder des Nahen Ostens wurde eindrücklich von Edward W. Said (2009) als Orientalismus problematisiert. Die angestoßene Diskussion setzt sich beispielsweise in den Postcolonial Studies fort und hält machtpolitische Fragen in der wissenschaftlichen Beschreibung von sozialen, kulturellen und religiösen Distinktionen aktuell (siehe Kapitel 2.3.2). Als aus Deutschland stammende Wissenschaftlerin bedeutet die Entscheidung, Alter(n)s- und Versorgungserwartungen bei älteren türkeistämmigen (Pendel-)Migranten zu untersuchen immer auch, sich in Bezug auf diese wissenschaftlichen Diskurse wie öffentlichen Repräsentationen zu verhalten. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Interviewpartner Erfahrungen mit Alter(n)s- und Versorgungserwartungen mit Bezug auf die im öffentlichen Diskurs bestehenden Selbstund Fremdbilder anwenden und sich im Interview dazu positionieren. Gleichzeitig bietet die Wahl einer solchen Untersuchungsgruppe die Chance, eurozentristische sowie kulturalisierende, exotisierende und simplifizierende Beschreibungen von Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zu überwinden. Die Auswahl der Untersuchungsgruppe knüpft an Thesen der Transnationaliätsstudien an (siehe Kapitel 2.2.3). Aus dieser Perspektive zeichnet sich Transmigration dadurch aus, dass von Migranten Deutungsmuster und Handlungslogiken entwickelt werden, die Semantiken und Strukturen der Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften neu verhandeln (vgl. Mau 2007; Pries 2008). Dabei erzeugen Transmigranten transnationale soziale Räume, die quer zu nationalen Grenz-ziehungen liegen (vgl. Pries 2008). Unter Einbeziehung dieser theoretischen Perspektive sowie entsprechenden Analysemöglichkeiten sollte es möglich sein religiöse, kulturelle oder aus der Migration zu erklärende Aspekte zu identifizieren und rekonstruieren zu können, ohne in eine kulturelle, nationale oder religiöse Stereotype (Deutsch/Christen/Nicht-Migranten versus Türken/Muslime/Migranten) reproduzierende Betrachtung der Untersuchungsgruppe beziehungsweise des Untersuchungsfeldes zu geraten. Auch nicht-pendelnde beziehungsweise uni-lokal verortete Migranten können sich aktiv in transnationalen sozialen Räumen bewegen. Eine tatsächliche physische Mobilität ist keine voraussetzende Bedingung für Transmigration. Jedoch war mit der bewussten Entscheidung in fortwährender und hochmobiler Pendelmigration Lebende zu befragen, die Erwartung verknüpft, dass gerade diese Gruppe

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sich mit gesammelten Erfahrungen und bestehenden Stereotypen zur deutschen beziehungsweise christlichen und türkischen beziehungsweise muslimischen Gesellschaft auseinandersetzt, um eine für sich selbst angemessene Haltung zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zu entwickeln.2 Durch die Pendelmigration, so die Annahme, hätten die Pendelmigranten einen tatsächlichen Möglich-keitsraum, individuelle Muster eines Wohlfahrtsmixes im Alter zu entwerfen und umzusetzen. Es wurde erwartet, dass diese Aushandlungsprozesse auch in der gewählten Erhebungsmethode des Interviews verbalisiert und somit analysierbar werden. Methodenwahl und Vorgehensweise Aufgrund des explorativ orientierten Erkenntnisinteresses bot sich für die hier dargestellte Untersuchung ein Forschungsvorgehen aus dem Kanon der qualitativen Methoden an. Insbesondere die Erhebungs- und Auswertungsmethoden der rekonstruktiven und interpretativen Sozialforschung haben sich in der Erschließung von Feldern bewährt, über die bisher nur wenig empirisch gesichertes und wissenschaftlich dokumentiertes Wissen zur Verfügung steht. Das interpretative Forschungsparadigma knüpft unter anderem an erkenntnistheoretische Orientierungen des Konstruktivismus, der Tradition der verstehenden Soziologie sowie der interpretativen Sozialforschung an (vgl. Lueger 2000, S. 15). Die Betonung der Interpretativität verdeutlicht eine »Interpretationsimprägniertheit jeder Beobachtung und jeder Darstellung, welche als methodologische Grundposition den gesamten Forschungs- und Analyseprozess durchzieht« (Hervorhebung im Original) (Lueger 2000, S. 11).

Mit Bezug auf Peter Berger und Thomas Luckmann (1990) sowie Alfred Schütz (1971), beschreiben Bogner et al. eine paradigmatisch interpretative Forschungshaltung als korrespondierend mit einer wissenssoziologischen Perspektive, »die die soziale Realität als durch Interpretationsleistungen hergestellte Konstruktion von Wirklichkeit begreift.« (vgl. Bogner et al. 2005, S. 35). Wissenschaftliche Forschung, die die soziale Ordnung auf der Grundlage von Bedeutung und Relevanzen analysiert, ist so als ein aktiv-konstruktiver Herstellungsprozess zu begreifen (vgl. Bogner et al. 2005, S. 35).

2

Beispiele, wie sich Biographien in transnationalen Räumen entwickeln, sind beispielsweise in einem Sammelband zu transnationalen Karrieren von Florian Kreutzer und Silke Roth (2006) dokumentiert.

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Doch im Kanon der qualitativen Erhebungsmethoden besteht eine umfangreiche Auswahl an Zugangsweisen, Erhebungsverfahren, Dokumentationsmöglichkeiten und Auswertungsverfahren. Die methodologische Strategie der hier dokumentierten Studie hat sich an der von Barney Glaser und Anselm Strauss (1967) vorgeschlagenen und von Anselm Strauss und Juliet Corbin (1990) weiterentwickelten Grounded Theory Methodologie orientiert. Diesem Ansatz nach organisiert sich eine qualitative Studie über mehrere Forschungszyklen, die sich entsprechend des jeweiligen Wissenstandes weiterentwickeln. Um diese Weiterentwicklung zu ermöglichen, bedarf es im Forschungsprozess kontinuierlicher Reflexionsphasen, in denen die Erkenntnisse der vorhergehenden Schritte zusammengefasst und in Bezug auf die gewählte methodische Vorgehensweise, weiterführende inhaltliche Erkenntnisse und möglicher alternativer Vorgehensweisen hin überprüft werden. In der Grounded Theory Methodologie können daher beispielsweise verschiedene Erhebungsmethoden zum Einsatz kommen. Nach Abwägung diverser Optionen bot sich für diese Studie ein Vorgehen mit Methodentriangulation und einem zweistufigen Erhebungsverfahren an. In der ersten Erhebungsstufe wurden Experteninterviews geführt, durch die strukturiert Kontextwissen zum Untersuchungsgegenstand und zur Untersuchungsgruppe gewonnen wurde. Dieses Kontextwissen sollte zum einen zur Vorbereitung der zweiten Erhebungsstufe dienen und zum anderen in die Auswertung und Ergebnisdarstellung mit einbezogen werden. In der zweiten Erhebungsstufe wurden Interviews mit älteren türkeistämmigen Pendlern selbst geführt. Das zirkuläre Organisieren der Feldforschung fand innerhalb dieses Studiendesigns statt. Im Folgenden werden die eingesetzten Methoden vorgestellt. Eine abschließende Bewertung des Studiendesigns und des gesamten Forschungsprozesses erfolgt in Kapitel 4.3. Grounded Theory Methodologie Der konkrete Bezugspunkt der hier dokumentierten Studie war die die Vorgehensweise der Grounded Theory Methodologie. Als Forschungsstrategie wurde sie maßgeblich von Barney Glaser und Anselm Strauss (1967) entwickelt und später von Anselm Strauss und Juliet Cobin (1990) weiterentwickelt. Die Grounded Theory Methodologie gibt eine umfassende Konzeption für einen gesamten Forschungsprozess vor: von ersten Ideen und Formulierung der Forschungsfrage bis zum Erstellen des Ergebnisberichtes (vgl. Böhm 2009, S. 475). Ein zentrales Merkmal der Grounded Theory Methodologie ist, dass die Zielstellung eine Theoriegenierung (eine geerdete, gegenstandsnahe beziehungsweise gegenstandsgenerierte Theorie, also eine Grounded Theory) und nicht eine Überprüfung bereits bestehender Theorien ist.

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Da die Grounded Theory Methodologie sich als »Kunstlehre« (Böhm 2009, S. 476) versteht, gelten in Bezug auf die konkrete Vorgehensweise keine festen Standards. Vielmehr wird betont, dass die Auswahl der Methoden und die Reihenfolge ihrer Anwendung dem Untersuchungsgegenstand beziehungsweise dem Feld angemessen sein muss. Dennoch werden einige zentrale Prozessschritte ausgemacht: Die Phase der Bestimmung des Forschungsgegenstandes und die Formulierung der Forschungsfrage, die Phase der Datenerhebung (mit der Zusammenstellung des Samples) und die Phase der Datenauswertung sowie die Phase der Theoriebildung und der Berichtslegung. Diese Prozessschritte sind eng miteinander verschränkt und stehen in einem zirkulären Austausch- und Anpassungsprozess. Alle Forschungsergebnisse stehen bis zum Abschluss des gesamten Forschungs- und Berichtsprozesses unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit. Charakteristisch für ein Vorgehen entsprechend der Grounded Theory Methodologie ist eine grundsätzliche Offenheit, Flexibilität und theoretische Sensibilität zum untersuchten Phänomen, um so Neuentdeckungen jenseits der bekannten Beschreibungen und Diskurse zum Untersuchungsfeld zu ermöglichen. Zu Beginn des Forschungsprozesses werden möglichst unterschiedliche Daten aus unterschiedlichen Quellen gesammelt um das weitere Forschungsvorgehen darauf aufbauend planen zu können. Während des Forschungsprozesses verfeinert sich die Forschungsfrage, das Erkenntnisinteresse wird spezifiziert und bereits bestehendes Fachwissen wird systematisch in den Forschungsprozess mit einbezogen. Das Ziel im Forschungsprozess ist, die verwendeten Begrifflichkeiten durch Präzisierung und Differenzierung – basierend auf dem erhobenen Datenmaterial – anzupassen. Dabei geht es nicht um eine möglichst genaue Deskription des Forschungsfeldes, sondern vielmehr soll aufbauend auf dem Datenmaterial ein Abstraktionsprozess initiiert werden, der zu einem Ergebnis mit einem allgemeinen Erklärungswert (mittlerer Reichweite) führt. Abhängig vom Abstraktionsniveau und der im Auswertungsprozess entwickelten (Kern-)Kategorien ist auch die Übertragbarkeit beziehungsweise Verallgemeinerbarkeit der gewonnen Theorie zu bewerten. Methodische Triangulationen In der hier dokumentierten Studie wurden unterschiedliche Methoden zur Datenerhebung trianguliert. Im Folgenden sollen einige Aspekte aus der methodologischen Diskussion zu Triangulation angeführt und ihre Berücksichtigung im Studiendesign erklärt werden. Den Begriff der Triangulation machte der US-amerikanische Forscher Norman Denzin (1970) prominent. Im deutschsprachigen Raum thematisiert vor allem

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Uwe Flick (2011) Triangulation als Strategie in Forschungsprozessen. Dabei werden mittlerweile Typen von Triangulation differenziert, wie beispielsweise die Triangulation von Daten, Investigatoren, Theorien oder auch Methoden sowie die Triangulation von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden (wie beispielsweise »mixed methods«) (vgl. Flick 2011, S. 11 ff.). Der Diskussion um Triangulation folgend, schließt sich diese Studie einem Triangulationsverständnis an, in der die hier verwendeten Triangulationen nicht primär der Überprüfung der Ergebnisse (wie ursprünglich von Denzin (1970, S. 300 f.) vorgeschlagen) dienen sollen, sondern als eine systematischen Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten (wie Denzin später (1989) vorschlug). Auch Uwe Flick vertritt ein solches Verständnis: »Triangulation liefert nicht übereinstimmende oder einander widersprechende Abbildungen des Gegenstandes, sondern zeigt unterschiedliche Konstruktionen eines Phänomens – etwa auf der Ebene des Alltagswissens und auf der Ebene des Handelns – auf.« (2011, S. 25)

Dabei finden in der hier dokumentierten Studie verschiedene Triangulationen Verwendung. Die Triangulation von Experteninterviews und problemzentrierten Interviews mit Personen aus der eigentlichen Untersuchungsgruppen (im Sinne einer Triangulation von Methoden und Datensorten) eröffnet komplementäre Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand. Durch die Mitarbeit des Assistenten während der Datenerhebung in der Türkei kam es zu einer Investigator-Triangulation. Es wurde auch der von Flick formulierte Anspruch erfüllt, dass »Triangulation […] nur dann angemessen und aufschlussreich sein [kann], wenn darin nicht nur methodische Zugänge, sondern auch die mit ihnen verbundenen Perspektiven verknüpft werden.« (2011, S. 25)

Dabei unterstreicht Flick, dass eine Anwendung von Triangulation nur dann legitim ist, »wenn den verschiedenen Zugängen in der Planung der Untersuchung, bei der Erhebung und Analyse der Daten eine weitgehende Gleichberechtigung in ihrer Behandlung und ihrem Stellenwert eingeräumt wird und sie jeweils in sich konsequent angewendet werden.« (2011, S. 26)

Eine Triangulation bedeutet demnach nicht, dass wissenschaftlich erarbeitete methodische Vorgangsweisen willkürlich aufgelöst und neu miteinander kombiniert

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werden können, sondern dass jede Methode zunächst konsequent angewendet wird. Experteninterviews In der ersten Erhebungsstufe der hier dokumentierten Studie wurden Experteninterviews angewendet. In Bezug auf die Methode des Experteninterviews kann eine zunehmend breite und kritische Diskussion beobachtet werden. Aus diesem Zusammenhang heraus wurden die Methode und ihre Anwendung immer weiter differenziert.3 Besonders im Kontext politikwissenschaftlich orientierter Forschung hatte das Experteninterview in den vergangen fünfzehn Jahren Konjunktur. In diesem Zusammenhang wird die Dialektik des »Expertentums« in der modernen beziehungsweise postmodernen Gesellschaft wissenssoziologisch thematisiert und problematisiert. Daraus hervorgehende Überlegungen werden auch kritisch in Bezug auf die Methode des Experteninterviews diskutiert. 4 Dabei, so argumentieren Alexander Bogner und Wolfgang Menz, ist »die naive Annahme des Experten als einen Lieferanten objektiver Informationen – auf der auch so manche vereinfachte Vorstellung vom erfolgreichen Experteninterview basiert – längst problematisch geworden« (2005, S. 16).

Sie thematisieren damit, dass auch Experteninterviews einen erhöhten methodischen Reflexionsbedarf haben und nicht einfach Faktenwissen produzieren. Aus Experteninterviews gewonnene Daten müssen demnach immer kontextualisiert werden. Bogner und Menz machen unter Berücksichtigung der Arbeiten von Vogel (1995) sowie Meuser und Nagel (2005) drei Typen von Experteninterviews aus: das »explorative«, das »systematisierende« und das »theoriegenerierende« Experteninterview. In der hier dokumentierten Studie wurde eine Triangulation des explorativen und des systematisierenden Experteninterviews angewendet, in der sie eine zentrale, aber hintergründige Funktion erfüllen. Die Erhebungsmethode des explorativen Interviews dient, wie Bogner und Menz ausführen,

3

So stellen Bogner & Menz fest: »Das Experteninterview gibt es nicht. Und es ist auch kaum zu erwarten, dass die empirischen Sozialforscher sich demnächst auf ein einheitliches Konzept einigen werden.« (Hervorhebung im Original) (2005, S. 20)

4

So beispielsweise einige Beiträge im Herausgeberband von Bogner & Menz (2005).

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»einer ersten Orientierung in einem thematisch neuen oder unübersichtlichen Feld […], zur Schärfung des Problembewusstseins des Forschers oder auch als Vorlauf zur Erstellung eines abschließenden Leitfadens« (2005, S. 37).

Oftmals, und wie auch in der hier dokumentierten Studie, dienen die Experteninterviews als komplementäre Informationsquelle über die eigentlich interessierende Zielgruppe. Der befragte Experte gilt damit »als Träger von ›Kontextwissen‹« (Hervorhebung im Original) (ebd., S. 37). Explorative Experteninterviews dienen demnach der thematischen Sondierung. Sie geben zwar, zumeist über einen kurzen Leitfaden das interessierende Themenfeld vor, sollten aber dennoch möglichst offen geführt werden. Systematisierende Experteninterviews sind ebenfalls am Erschließen des exklusiven Expertenwissens orientiert. Darüber hinaus zielen sie auf eine »systematische und lückenlose Informationsgewinnung« ab (ebd., S. 37). Dabei erläutert der Experte »seine Sicht der Dinge« (ebd., S. 37) in Bezug auf den thematisierten Bereich. Der Experte wird als »Ratgeber« (ebd., S. 37) gesehen, der dem Forscher sonst nicht zugängliches Fachwissen weitergibt. Während beim explorativen Interview thematische Vergleichbarkeit der Daten nicht im Vordergrund steht, versucht das systematisierende Experteninterview eine Vollständigkeit, Vergleichbarkeit und Standardisierbarkeit des Datenmaterials zu erreichen. Daher werden in systematisierenden Experteninterviews relativ ausdifferenzierte Leitfäden angewendet. In der hier dokumentierten Untersuchung wurden diese beiden Typen des Experteninterviews miteinander trianguliert, indem es sowohl sehr offen und unstrukturierte Themenbereiche im Leitfanden gab, als auch auf eine systematische Erschließung gewisser Themenbereiche orientierte Abschnitte des Interviews. Das theoriegeneriende Experteninterview hingegen wurde vor allem von Bogner und Menz (2005) ausgearbeitet und zielt auf die kommunikative Erschließung und analytische Rekonstruktion subjektiver Sinndimensionen des Expertenwissens. Die befragten Experten werden beispielsweise auf ihre Wissensbestände, Weltbilder oder auch Routinen hin analysiert, die sie in ihren Tätigkeiten entwickeln. Die Befragten werden damit selbst zum Untersuchungsgegenstand, während in den beiden anderen Typen der Experteninterviews die Befragten als Beschleuniger der Wissenssammlung über einen anderen Untersuchungsgegenstand verstanden werden. Unabhängig davon, welcher Experteninterviewtyp in einer Studie zur Anwendung kommt, ist es notwendig, den einer solchen Methodenanwendung zugrundeliegenden Expertenbegriff zu thematisieren. Aus der methodologischen Literatur

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zu Experteninterviews ergibt sich, dass der Expertenstatus relational zum Erkenntnisinteresse zu sehen ist (vgl. Meuser und Nagel 2005, S. 73). Die Forschenden schreiben in ihren Studien Personen den Expertenstatus für das jeweilige Forschungsfeld zu. Auch in der vorliegenden Studie wurde so verfahren und es wurden Personen für die erste Stufe der Datenerhebung gewonnen, die »über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse« (ebd., S. 73) verfügen, die für die erkenntnisleitende Fragestellung relevant sind. In diesem Sinne wurden Personen befragt, die selbst keine türkeistämmigen älteren Pendelmigranten sind, aber aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit oder familiären Situation einen Einblick in Lebenswelt, Handlungs- und Orientierungsmuster der Untersuchungsgruppe haben. Problemzentriertes Interview Als Erhebungsmethode zur Befragung der Untersuchungsgruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten wurde das problemzentrierte Interview gewählt, welches als Erhebungsinstrument von Andreas Witzel (1982) in den Methodendiskurs qualitativer Sozialforschung eingeführt wurde. Witzel formuliert, dass die Konstruktionsprinzipien des problemzentrierten Interviews »auf eine möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität« (2000, Absatz 1) zielen. Dabei markiert Witzel drei Grundpositionen des problemzentrierten Interviews: Als erste und zentrale Position zeichnet sich diese Interviewform durch eine Problemzentrierung aus. Der Forscher beziehungsweise Interviewende erschließt sich vorab die gesellschaftliche Problemstellung (»Vorinterpretation« (ebd., Absatz 4)) und nutzt die bestehenden Kenntnisse über den Untersuchungsgegenstand, um während des Interviews den Ausführungen des Interviewpartners verstehend folgen und am fokussierten Problem orientierte Fragen beziehungsweise Nachfragen stellen zu können. Gleichzeitig nimmt der Forscher beziehungsweise Interviewende während des Interviews bereits einen bewusst lenkenden Einfluss auf das Interview, indem er »an der Interpretation der subjektiven Sichtweise der befragten Individuen [arbeitet] und […] die Kommunikation immer präziser auf das Forschungsproblem zu[spitzt]« (ebd., Absatz 4). Die zweite Grundposition des problemzentrierten Interviews ist eine Gegenstandsorientierung, die dieser Interviewform eine gewisse Flexibilität gegenüber den Anforderungen des Untersuchungsgegenstand beziehungsweise des Feldes ermöglicht. Demzufolge bietet sich das problemzentrierte Interview besonders für

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Methodentriangulationen an, bei denen das Interview als wichtigstes Erhebungsinstrument bestehen bleibt. Zusätzlich bietet das problemzentrierte Interview auch die Möglichkeit, Gesprächstechniken flexibel einzusetzen: »Den Erfordernissen des Aufbaus einer befragtenzentrierten Kommunikationssituation folgend kann der Interviewer je nach der unterschiedlich ausgeprägten Reflexivität und Eloquenz der Befragten stärker auf Narrationen oder unterstützend auf Nachfragen im Dialogverfahren setzen.« (Ebd., Absatz 4)

Als dritte Grundposition gilt die Prozessorientierung, die das Vorgehen im problemzentrierten Interview kennzeichnet. Dies bezieht sich auf den Kommunikationsprozess während der Interviewsituation. Witzel begrüßt ein sich entwickelndes Vertrauensverhältnis zwischen dem Forscher beziehungsweise Interviewenden und dem Befragten. Ein gemeinsames sensibles und akzeptierendes Rekonstruieren von Orientierungen und Handlungen des Gesprächspartners erhöht die Qualität des Datenmaterials, da so »im Laufe des Gesprächs immer wieder neue Aspekte zum gleichen Thema, Korrekturen an vorangegangenen Aussagen, Redundanzen und Widersprüchlichkeiten [entwickelt werden]. Redundanzen sind insofern erwünscht, als sie oft interpretationserleichternde Neuformulierungen enthalten. Widersprüchlichkeiten drücken individuelle Ambivalenzen und Unentschiedenheiten aus, die thematisiert werden sollten. Ihnen liegen möglicherweise Missverständnisse des Interviewers oder Fehler und Lücken in der Erinnerung der Interviewten zugrunde, die durch Nachfragen aufgeklärt werden können. Sie können aber auch Ausdruck von Orientierungsproblemen, Interessenswidersprüchen und Entscheidungsdilemmata angesichts widersprüchlicher Handlungsanforderungen sein.« (Ebd., Absatz 1)

In diesem Sinne ist von dem Interviewenden eine starke Präsenz in der Interviewsituation gefordert. In Bezug auf die Gestaltung der Interviews geht Witzel sowohl auf die Anbahnung der Interviewsituation als auch auf Kommunikationsstrategien während des Interviews selbst ein. Nach Witzel gibt der Forschende beziehungsweise Interviewende bereits bei der Kontaktaufnahme dem potenziellen Gesprächspartner das Forschungsinteresse bekannt. Damit wird das Erkenntnisinteresse grundsätzlich offen gelegt. Der Forschende beziehungsweise Interviewende sichert dem möglichen Interviewpartner zu, dass die Interviewprotokolle anonymisiert werden und das es in dem Interview auch darum geht die individuellen Meinungen und Vorstellungen zu akzeptieren und eben nicht darum, intellektuelle Leistungen zu bewerten (ebd., Absatz 11).

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Witzel versteht das problemzentrierte Interview als ein »diskursiv-dialogisches Verfahren« (vgl. Mey 1999, S. 145). Demzufolge kann der Forschende beziehungsweise Interviewende die im Folgenden dargestellten Gesprächstechniken flexibel einsetzen: Es werden gesprächs- und verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien unterschieden. In Bezug auf die gesprächsgenerierende Kommunikationsstrategie verweist Witzel beispielsweise auf die Anwendung einer vorformulierten Einleitungsfrage, die sowohl auf das fokussierte Problem hinlenkt und offen gestaltet ist, als auch auf allgemeine Sondierungs- und Ad-hocFragen. In dieser Strategie wird die induktive Vorgehensweise des problemzentrierten Interviews wirksam. Der Forschende beziehungsweise Interviewende unterstützt durch sein Nachfragen die sukzessive Offenlegung der subjektiven Problemwahrnehmung des Befragten. In Bezug auf verständnisgenerierende Kommunikationsstrategie nennt Witzel so genannte spezifische Sondierungsfragen. Dabei wird der deduktive Aspekt des problemzentrierten Interviews wirksam: Der Forschende beziehungsweise Interviewende nutzt das vorgängige oder auch im Interview gewonnen Wissen, um weitere verständnisgenerierende Fragestellungen zu entwickeln (Witzel 2000 Absätze 13-17). Nach Witzel ist der Erkenntnisgewinn im problemzentrierten Interview demnach »sowohl im Erhebungs- als auch im Auswertungsprozess vielmehr als induktiv-deduktives Wechselverhältnis zu organisieren« (ebd., Absatz 3). Vorwissen ist unvermeidbar und muss daher offen gelegt werden. Es dient »in der Erhebungsphase als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten« (ebd.). Parallel wird im problemzentrierten Interview ein Offenheitsprinzip verfolgt, in dem die Befragten eigene Relevanzsetzungen in den Interviews vollziehen können, was beispielsweise durch Narrationsaufforderung angeregt wird.5 Der theoretische Erkenntnisgewinn entsteht in der anschließenden Auswertungsphase »durch Nutzen von ›sensitizing concepts‹6 die in der weiteren Analyse fortentwickelt und mit empirisch begründeten Hypothesen am Datenmaterial erhärtet werden« (Hervorhebung im Original)(2000 Absatz 3). Als Instrumente des Interviews benennt Witzel einen Kurzfragebogen, einen Leitfaden, eine Tonträgeraufzeichnung des Interviews und ein jeweiliges Postskriptum (ebd. Absätze 5-9). Der standardisierte Kurzfragebogen erfasst für die

5

Witzel empfiehlt aufgrund der komplexen Gesprächsstrategie, (»das Vorwissen für Fragen zu nutzen, ohne damit die originäre Sichtweise der Befragten zu überdecken« (2000 Absatz 17)), dass Wissenschaftler die Interviews einer Studie möglichst selbst durchführen und diese nicht an Hilfskräfte oder Umfrage-Institute weitergeben sollten.

6

Witzel verweist bezüglich der »sensitizing concepts« auf Herbert Blumer (1954).

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Forschungsfrage relevante biographische und soziale Merkmale des Befragten. Dadurch wird das Interview selbst einerseits vom Abfragen dieser Merkmale entlastet, andererseits bieten die gewonnenen Informationen über den Kurzfragebogen in manchen Fällen einen gelungenen Einstieg in das Interview selbst. Der Leitfaden versteht sich bei dieser Form der Datenerhebung als eine Art Hintergrundfolie an der überprüft werden kann, ob die im Forschungskontext relevanten Themenfelder im Interview zur Sprache kamen. Dadurch erhält jedes Interview einen Orientierungsrahmen und es wird eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten gesichert. In den Leitfaden können auch einige vorformulierte Hinführungen zu Themenbereichen beziehungsweise auch konkrete Fragen aufgeführt werden. Auch in dieser Studie wurden nach einer vorherigen Aufklärung und Einholung des Einverständnisses der Interviewten die Interviews auf Tonträger aufgezeichnet. Hierdurch bestand für die Interviewerin die Möglichkeit, sich ganz auf die Interviewsituation zu konzentrieren. Durch eine vollständige Transkription kann der Kommunikationsprozess nachvollzogen werden und bietet die Basis der anschließenden Rekonstruktion und Interpretation. Ein Postskriptum wird unmittelbar im Anschluss an die Interviewsituation erstellt. In Form eines kurzen Textes oder einer Notizsammlung werden Charakteristika der jeweiligen Interviewsituation dokumentiert, beispielsweise die Reihenfolge der Gesprächsthemen, inhaltliche Besonderheiten des Interviews, Informationen zum Kontext der Interviewsituation als auch erste Interpretationsideen, die bei der späteren Auswertung berücksichtigt werden können. In einer vergleichenden Perspektive gilt das problemzentrierte Interview als ein halb-standardisierter Ansatz, da es über einen offenen Leitfaden das Interview auf einen bestimmten Themenbereich fokussiert. Es grenzt sich u. a. von den wesentlich weniger strukturierten narrativen Interviewformen ab. Ein weiterer Abgrenzungsaspekt dieser beiden Interviewtypen ist, dass im narrativen Interview Erzähl- und Nachfragephase strikt getrennt sind, wohingegen im problemzentrierten Interview Leitfragen Impulse für eine freie Erzählung (Narration) des Interviewpartners geben sollen. Dem Interviewenden ist es im problemzentrierten Interview möglich die Ausführungen des Interviewpartners aufzugreifen und auf das fokussierte Thema zu beziehen. Kurzfragebogen und Leitfaden Wie dargestellt, benennt Witzel als Instrumente für das Interview unter anderem einen Kurzfragebogen und einen Leitfaden. Im Folgenden werden der für diese Datenerhebung entworfene Kurzfragebogen und Leitfaden vorgestellt.

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Im Kurzfragebogen, der jeweils zu Beginn der Interviews ausgefüllt wurde, wurde zunächst nach Kontaktmöglichkeiten in Deutschland und der Türkei gefragt. Dies sollte dabei helfen, womöglich aufkommende Fragen im Nachgang des Interviews noch klären zu können. Gleichzeitig wurde durch die Abfrage deutlich, wo und wie die Befragten in Deutschland und der Türkei wohnten. Darüber hinaus wurden der Familienstand und die Anzahl von Geschwistern und eigenen Kinder abgefragt. Um einen ersten Einblick zu erlangen sowie feste Orientierungspunkte in der Biographie zu erhalten, wurde nach dem höchsten Schulabschluss sowie den durchlaufenen Ausbildungen beziehungsweise dem Beruf gefragt. Darüber hinaus wurde gefragt, wann die Interviewpartner nach Deutschland migrierten, wann sie verrentet wurden und seit wann sie (möglichst auch in welchem Rhythmus) zwischen Deutschland und der Türkei pendeln. In dem Kurzfragebogen wurde auch erfragt, ob jemand der sunnitischen Konfession zugehörig ist. Im Verlauf der Datenerhebung stellte sich jedoch heraus, dass diese Frage Irritation auslöste. Sie wurde zwar nicht aus der Vorlage entfernt, jedoch ab dem dritten Interview nicht mehr ausgesprochen. Der verwendete Leitfaden enthielt drei Themenkomplexe, die im Folgenden vorgestellt werden: Fragen zur Alltagsgestaltung und Bewertung der Pendelmigration In diesem Fragenkomplex wurden die individuelle Ausgestaltung des Pendelns und deren subjektive Bewertung erfasst. Erzählaufforderungen thematisieren die Tagesgestaltung sowie die sozialen Kontakte an den jeweiligen Aufenthaltsorten. Durch diesen Themenbereich konnte im Datenmaterial erschlossen werden, welche Aspekte (Vorlieben, Verpflichtungen, Routinen) den Alltag in Deutschland und der Türkei bestimmen. Was ist den Interviewpartnern an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort eine liebgewonnene Beschäftigung? Wen treffen sie wo regelmäßig? Wie spontan variieren sie ihren Pendelrhythmus? Ebenso wurde thematisiert, weshalb die befragten Personen eine Pendelmigration aufrechterhalten: Was treibt sie an, regelmäßig zwischen Deutschland und der Türkei zu reisen? Dabei ist das Ziel, einen Einblick in die Möglichkeiten und Begrenzungen von möglichen Unterstützungsstrukturen zu erhalten. Durch diese Erkenntnisse besteht die Möglichkeit, ebenfalls im Interview beschriebene Versorgungserwartungen sowohl im akuten Krankheitsfall als auch bei langfristiger Pflegebedürftigkeit mit der bestehenden Situation abzugleichen. Inwiefern knüpfen die beschriebenen Versorgungserwartungen (im Bedarfsfall) an gegenwärtig bestehende soziale Netzwerke oder Versorgungsstrukturen an?

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Fragen nach Alternsverständnissen In einem zweiten Komplex des Interviewleitfadens wurden Fragen und Erzählanreize aufgeführt um Rückschlüsse auf die Alternsvorstellungen ziehen zu können. Die Interviewpartner wurden beispielsweise aufgefordert, Erfahrungen mit Altern und Alter in der Türkei und in Deutschland zu vergleichen beziehungsweise beobachtete Altersgrenzen zu beschreiben. Durch diese Fokussierung sollte erreicht werden, subjektive Deutungen von Alter(n)sbildern erfassen zu können. Diese Interviewsequenzen sollten in der Auswertung auf nationale, kulturelle oder auch religiöse Deutungen des Alterns hin untersucht werden. Fragen nach spezifischen kulturellen (deutsch/türkisch) oder religiösen (christlich/muslimisch) Deutungen von Alter wurden nicht direkt gestellt. Vielmehr wurden entsprechende Deutungen des Interviewpartners aufgegriffen und bei Bedarf um Erläuterungen gebeten. Fragen nach Versorgungserwartungen bei akuter Krankheit oder chronischer Pflegebedürftigkeit In einem dritten und mehrheitlich das Interview abschließenden Fragenkomplex wurden konkrete Versorgungserwartungen thematisiert. Dabei wurde ein Szenario einer kurzen, aber akuten Krankheit (Beinbruch) in das Interview eingebracht, die einen mittelfristigen Hilfebedarf verursacht. Vor diesem Hintergrund wurden die Interviewpartner aufgefordert, zu beschreiben, wie sie sich eine Versorgung bei eigener langfristiger Pflegebedürftigkeit vorstellen. In beiden Fällen wurden sie gebeten, auszuführen, von wem und wo sie sich die jeweilige Versorgung vorstellen. Durch den so aufgegliederten Leitfaden bestand die Möglichkeit, sowohl einen Einblick in die Auswirkungen der fortwährenden Pendelmigration in die Alltagsgestaltung zu erhalten als auch Fragen zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen sanft zu thematisieren. Es wurden bewusst nur wenige Fragen mit einem höheren Abstraktionsgrad formuliert. Vielmehr wurde das Themenfeld der Versorgung auf verschiedene Versorgungsdimensionen und Beschreibungen von Alterserfahrungen aufgesplittet. Die dabei angesprochenen Teilbereiche wurden vorab aus Erkenntnissen der Literaturrecherche sowie den Experteninterviews abgeleitet. Entsprechend der Konzeption des problemzentrierten Interviews nahm der Leitfaden die Funktion einer Hintergrundfolie ein, sodass einerseits Hintergrundwissen offengelegt und in das jeweilige Interview mit einbezogen wurde, gleichzeitig aber auch viel Raum zur offenen Gesprächsführung und zur Berücksichtigung der Relevanzsetzungen der Befragten bestand. Durch den relativ stark ausformulierten Leitfaden war darüber hinaus eine bessere Abstimmung mit dem

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bei den Interviews unterstützenden Assistenten möglich und es konnte eine gewisse Vergleichbarkeit des Datenmaterials ermöglicht werden. Der Kurzfragebogen war in seiner Gesamtheit zweisprachig (Deutsch und Türkisch). Die im Leitfaden formulierten Fragestellungen wurden vorab übersetzt, sodass kontinuierlich eine deutsche und eine türkische Version des Leitfadens gepflegt wurde und in den Interviewsituationen vorlagen. Weitere Reflexionen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in den verwendeten Methoden werden in Kapitel 4.2.1 angeführt. Vorstellung des Samples Durch die Orientierung der Forschungsstrategie an der Grounded Theorie Methodologie wurde bei der Auswahl der Interviewpartner die Methode des Theoretical Samplings angewandt.7 In Bezug auf die Generierung einer Grounded Theory werden dabei die Samplingkriterien einer Studie entsprechend des Erkenntnisstandes erweitert und das jeweilige Sample bewusst in Hinblick auf kontrastierende und kritische Fälle erweitert. In der Anfangsphase der jeweiligen Datenerhebung werden zunächst möglichst unterschiedliche Fälle beziehungsweise Interviewpartner (beispielsweise in Hinblick auf sozio-demographische Daten, ihrer Beziehung zum untersuchten Phänomen etc.) gewonnen. Die aus dieser ersten Datenerhebung gewonnen Kategorien bilden die Grundlage für anschließende Phasen der Datenerhebung. Dabei werden dann gezielt Fälle beziehungsweise Interviewpartner gesucht, die die bereits (vorläufig) entwickelten Theorien bestätigen beziehungsweise differenzieren. Die Datenerhebung ist entsprechend der Grounded Theory Methodologie abgeschlossen, wenn eine theoretische Sättigung erreicht ist, also keine weiteren Fälle beziehungsweise Interviewpartner neue Aspekte in den Auswertungsprozess einbringen würden. Da in der vorliegenden Studie zwei Datenerhebungsphasen mit unterschiedlichen Untersuchungsgruppen bestanden, gliedert sich auch das Gesamtsample in zwei Gruppen auf. In der ersten Stufe der Datenerhebung wurden Personen für ein Interview gewonnen, denen ein Expertenstatus für das Untersuchungsfeld zugeschrieben wurde. Wie bereits dargestellt, sollten die Experteninterviews zum einen dazu dienen, Kontextwissen zur späteren Auswertung des Datenmaterials aus den Interviews mit den Pendlern selbst zur Verfügung zu stellen, zum anderen

7

Hans Merkens (2009, S. 295) empfiehlt in explorativen Studien wie der hier dokumentierten ein Vorgehen entsprechend des Theoretical Samplings der Grounded Theory Methodologie anzuwenden, da die zu untersuchenden Fälle zu Beginn des Forschungsprozesses noch nicht bekannt sind, sodass keine vorherige Auswahl der zu untersuchenden Fälle geschehen kann.

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sollte Wissen zur strategischen Vorbereitung des Feldzuganges gewonnen werden. In Bezug auf diese Sample-Gruppe wurde kein Theoretical Sampling angewandt, sondern gezielt Personen für ein Interview angesprochen. In der zweiten größeren und zentralen Erhebungsstufe wurden Interviewpartner aus der fokussierten Untersuchungsgruppe gewonnen, um einen analytischen Zugang zu deren Alter(n)s- und Versorgungserwartungen zu erhalten. Dieses Sample wurde weitgehen über die Methode des Theoretical Samplings gewonnen. Da es jedoch eine relativ hohe Quote von Absagen der Interviewanfragen gab, kann eine theoretische Sättigung nicht vollends garantiert werden. Insbesondere diese Erhebungsstufe zeichnet sich durch unterschiedliche Phasen aus, welche im anschließenden Abschnitt zum Feldzugang dargestellt werden. Sample der Experteninterviews mit Personen aus dem Versorgungsumfeld Da diese erste Stufe der Datenerhebung durch ein besonderes Maß an Explorativität gekennzeichnet war, wurden die Samplingkriterien relativ unbestimmt gehalten. Die zentralen Kriterien bestanden darin, dass die Befragten durch ihre berufliche und private Verbundenheit einen kontinuierlichen Einblick in die Lebensweisen der fokussierten Untersuchungsgruppe hatten. Ihnen wurde entsprechend des Ansatzes der Experteninterviews eine Expertise sowohl für die Untersuchungsgruppe als auch für den Untersuchungsgegenstand zugesprochen. Für die Experteninterviews der ersten Erhebungsstufe wurden sechs Gesprächspartner im Zeitraum von September 2009 bis Januar 2010 in Deutschland und der Türkei gewonnen. Im Folgenden werden sie vorgestellt und in ihrer Expertise aus dem beruflichen oder privaten Kontext konturiert. Anschließend wird das Sample charakterisiert. 1.

Frau Schulz ist als Sozialarbeiterin in einer Sozialberatungsstelle und Begegnungsstätte eines Wohlfahrtsverbandes in einer deutschen Großstadt tätig. Sie stammt aus Deutschland und hat über einen längeren Zeitraum in der Türkei gelebt. Durch ihre berufliche Tätigkeit und ihre türkischen Sprachkenntnisse hat sie einen Einblick in die Lebenswelt der in dieser Untersuchung fokussierten Personengruppe. Sie begleitet die interkulturelle Altenarbeit eines regional strukturierten Wohlfahrtsverbandes, in der sowohl offene Treffpunkte für ältere Migranten bestehen als auch feste Gruppen verortet sind, zu denen auch zu einem großen Teil ältere Türkeistämmige gehören. In der Sozialberatung ihrer Einrichtung berät sie unter anderem ältere, türkeistämmige Pendelmigranten zu verschiedenen Themen. In dem Interview mit ihr interessierte vor allem die von ihr wahrgenommenen Beson-

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derheiten von Pendlern im Vergleich zu uni-lokal verorteten älteren Migranten und die administrativen Herausforderungen, die eine Pendelmigration im Ruhestand und auch bei Sozialbezügen bedeuten. 2.

Frau Demirci ist als Pflegedienstleitung eines ambulanten Pflegedienstes tätig. Sie ist eine in Deutschland ausgebildete Krankenpflegerin türkischer Abstammung. Der Pflegedienst, für den sie tätig ist, benennt bei sich eine kultursensible Orientierung. Die Kundenstruktur besteht zu einem großen Teil aus pflegebedürftigen älteren Türkeistämmigen. In dem Interview interessierte besonders ihre Expertise in Bezug auf Pflegebedarfseinschätzungen in mehrfacher Hinsicht: Inwiefern unterscheiden sich Versorgungserwartungen von deutschstämmigen und türkeistämmigen Pflegebedürftigen und woran wird dies erkennbar? Was kann sie zu Pflegeerwartungen aus der Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten berichten? Welchen Umgang mit Pflegebedürftigkeit beobachtet sie bei türkeistämmigen Pendelmigranten – auch unterschiedlicher konfessioneller (sunnitisch und schiitisch-alevitisch) Zugehörigkeiten?

3.

Frau Yılmaz ist Leitung einer Pflegeeinrichtung in Deutschland, die sich besonders auf die Bedürfnisse älterer Türkeistämmiger ausrichtet. Sie kam als Jugendliche mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland, ist gelernte Krankenschwester und hat eine Ausbildung im sozialen Bereich. Sie hat bereits mehrere Tätigkeiten im Feld der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe ausgeübt. Im Interview interessierte ihre Expertise zur Orientierung älterer türkeistämmiger (Pendel-)Migranten in Bezug auf stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen in Deutschland und der Türkei sowie deren Anbindung an Glaubensgemeinschaften und Moscheegemeinden.

4.

Frau Ateş ist als ausgebildete Sozialwissenschaftlerin beruflich im Feld der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe tätig. Sie wurde für das Experteninterview jedoch in ihrer Rolle als Tochter eines pendelnden Vaters ausgewählt. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und lebt zum Zeitpunkt des Interviews auch dort. Ihr Vater ist allein als Arbeitsmigrant nach Deutschland gekommen. Später hat er in der Türkei geheiratet und seine Frau ist mit nach Deutschland gekommen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist der Vater bereits verrentet und pendelt in unregelmäßigen Abständen zwischen Deutschland und der Türkei, während die Mutter noch in der erwerbsfähigen Lebensphase ist und daher in Deutschland verbleibt. Durch das Interview sollte ein Einblick in die Auswirkungen des Pendelns auf Familienstrukturen und die

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Umgangsweisen der Kindergeneration beziehungsweise der folgenden Generationen mit dem Pendeln der Eltern gewonnen werden. Durch die berufliche Tätigkeit von Frau Ateş ist eine Sensibilität für das Thema angenommen worden, die sich gewinnbringend auf das Interview auswirken sollte. 5.

Herr Aslan ist als Experte für die ambulante Pflegeversorgung in der Türkei befragt worden. Er stammt aus der Türkei und lebt zum Zeitpunkt des Interviews auch dort. Er ist ausgebildeter Architekt, bekleidet aber eine Doppelfunktion im Sektor der häuslichen Pflege in der Türkei. Zum einen stattet er über ein Unternehmen ambulante Pflegedienste und Privathaushalte mit pflegetechnischem Equipment aus. Zum anderen sitzt er dem türkischen Verband für häusliche Pflege vor. Im Interview interessierte seine Expertise in Bezug auf die Entwicklung der häuslichen Pflege in der Türkei sowie seine Wahrnehmung von älteren Rückkehrern aus Deutschland sowie älteren Pendelmigranten.

6.

Frau Erdmann ist eine aus Deutschland stammende Sozialarbeiterin und Familientherapeutin, die beruflich intensiv im Themenfeld der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe beschäftigt ist. Sie hat sowohl privat als auch beruflich Verbindungen in der Türkei sowie zu älteren türkeistämmigen Migranten und spricht Türkisch. Im Interview stand ihre Expertise in Bezug auf Veränderungen im deutschen Altenhilfesektor durch die zunehmende Präsenz von älteren Migranten und ihre Einschätzung der zukünftigen Pflegebedarfe älterer türkeistämmiger Pendelmigranten im Fokus.

Das Sample der Experteninterviews setzt sich aus Akteuren der Altenhilfe zusammen. Zwei Schwerpunkte finden sich in ihrer Tätigkeit. Entweder sind sie im Bereich der Sozialberatung und des Care Managements tätig oder im Bereich der Pflege. Alle haben sowohl einen beruflichen als auch einen privaten Bezug zur Türkei. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung wurde angenommen, dass Personen aus diesen Tätigkeitsfeldern über die pointierteste Expertise in Bezug auf die Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten sowie deren Alter(n)s- und Versorgungserwartungen verfügen. Es wurde erwartet, dass Personen, die an den Schnittstellen von Altenarbeit und Migrationsberatung tätig sind, die fokussierte Gruppe bereits über einen längeren Zeitraum wahrgenommen haben sowie über einen entsprechend differenzierten Einblick in zentrale Charakteristika dieser Gruppe verfügen. Aus dieser Auffassung heraus wurden bewusst nicht Imame oder auch

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Vorsitzende von Moscheegemeinden oder Verwaltungsmitarbeiter deutscher Ämter oder der türkischen Botschaft für die Experteninterviews angefragt. Es gab keine weiteren Personen, die für ein Experteninterview angefragt wurden, sich jedoch nicht dazu bereiterklärten. In diesem Sinne gab es keine Ausfälle im Sample. Sample der problemzentrierten Interviews mit Pendlern Im Sample der befragten Pendelmigranten wurden im Vergleich zum Sample der ersten Erhebungsstufe differenziertere Kriterien erarbeitet und angewandt. Dabei wurden die Samplingkriterien sowohl durch Erkenntnisse aus den Experteninterviews als auch durch Aspekte, die während des Datenerhebungsprozesses deutlich wurden, weiterentwickelt. Die finalen Samplingkriterien bilden: türkeistämmig, muslimisch-sunnitisch, aus der Mittelmeerregion stammend, Pendelmigrant und älter. Im Folgenden werden zentrale Aspekte dieses Spezifizierungsprozesses ausgeführt. Spezifizierung »türkeistämmig« Ein Samplingkriterium der Interviewpartner ist »türkeistämmig«. Mit dieser Begriffswahl sollen die Bezeichnungen der Untersuchungsgruppe und Interviewpartner als »türkische Pendler« beziehungsweise »deutsch-türkische Pendler« vermieden werden, da sie sich in mehrerer Hinsicht als problematisch erweisen. Zum einen knüpft die Verwendung des Begriffes »türkisch« an national-kulturalistische Beschreibungen an und würde einen Begriff zur Deskription nutzen, der zum Analysefeld gehört. Zum anderen wird durch die Bezeichnung ausgeblendet, dass viele der Pendelmigranten über eine deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Auch die Bezeichnung »deutsch-türkische Pendler«, die gleichzeitig die Pendelachse bezeichnet, ist ein nicht ausreichend spezifischer Ausdruck. Ältere aus der Türkei stammende Personen, die die vergangenen Jahre in Deutschland verbracht haben, pendeln ebenso zwischen Deutschland und der Türkei wie ältere Deutsche, die sich in der nacherwerblichen Lebensphase einen Wohnsitz in der Türkei (vornehmlich an den Südküsten) geschaffen haben. Auch wenn ältere Deutsche von der Gruppe der älteren türkeistämmigen Migranten in Deutschland abgegrenzt werden, so umfasst der Begriff »ältere deutsch-türkische Pendler« beide Gruppen.8

8

Weitere Ausführungen zum Phänomen der deutsch-türkischen Altersmigration finden sich in Beträgen von Nelli Böhm (2013) und Sarina Strumpen (2013).

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Als Alternative wurde der Begriff »türkeistämmig« gewählt, der einen Herkunftskontext des Personenkreises benennt.9 Zusätzlich bietet der Begriff »türkeistämmig« Vorteile in Bezug auf (ethnische) Abgrenzungsdiskurse innerhalb der Türkei. Dort grenzen sich die sich als kurdisch, tescherkesisch, armenisch oder auch griechisch verstehende Bevölkerungsgruppen von der ethnischen Zuschreibung »türkisch« ab. Auch um auf diese Diskussionen zu reagieren, soll in dieser Studie der Begriff »türkeistämmig« verwendet werden, da er lediglich das Land als Herkunftskontext benennt, jedoch keine spezifische ethnische, kulturelle oder religiöse Prägung zu einem zentralen Erklärungsmoment macht. Entscheidendes Samplingkriterium war, dass die interviewten Personen in der Türkei geboren wurden und dort (mehrheitlich) aufwuchsen. Spezifizierung »sunnitisch-muslimisch« Ein weiteres Samplingkriterium bildet das Bekenntnis zum sunnitischen Islam. In der hier dokumentierten Forschungsarbeit wurde reflektiert, inwiefern Alter(n)sund Versorgungserwartungen durch das Christentum beziehungsweise den Islam beeinflusst werden und bestehende beziehungsweise sich weiterentwickelnde Hilfestrukturen bei einem Versorgungsbedarf im Alter als »christlich«, »muslimisch« oder auch »transreligiös« zu bezeichnen sind. Aus diesem Zusammenhang heraus war eine religiöse Prägung beziehungsweise ein religiöses Bekenntnis der Interviewpartner notwendig. Während des Forschungsprozesses in der Türkei verdeutlichte sich, dass sowohl Angehörige des Christentums als auch Aleviten bei Versorgungsbedarfen im Alter anscheinend anders ausgeprägte Hilfestrukturen entwickelt haben als die sunnitische Bevölkerungsmehrheit. 10 Daher wurde das

9

Der in dieser Untersuchung verwendete Gegenbegriff zu »türkeistämmig« müsste demnach »deutschlandstämmig« sein. An dem Störgefühl, dass dieser Begriff in der deutschen Sprache erzeugt, ist zu merken, dass in diesem Feld sprachliche Asymmetrien bestehen. »Deutschstämmig« (oder auch »aus Deutschland stammend«) ist im deutschen Sprachgebrauch üblich, erlaubt aber Kulturalisierungsdynamiken. Lediglich aus Gründen der Lesbarkeit werden im Text daher die Begriffe »türkeistämmig« und »deutschstämmig« verwendet.

10 In der Türkei gelten offiziell 98% der Bevölkerung als Muslime. Lediglich Personen, die sich deutlich zu einer anderen Religion (wie z. B. Christentum oder Judentum) bekennen, werden nicht als Muslime gewertet. Das Alevitentum (als eine schiitische Glaubensrichtung) wird vom türkischen Staat nicht als eigenständige Konfession betrachtet, sondern als kulturelle Strömung. Auch ist kein formeller Austritt aus der sunnitischen Gemeinde möglich, sodass sich selbst als Atheisten oder Agnostiker bezeichnende Personen als Muslime geführt werden.

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Samplingkriterium der muslimischen Prägung hinsichtlich des Bekenntnisses zur sunnitischen Konfession spezifiziert, umso weitere religiöse (und sozialpolitische) Einflussfaktoren aus der Untersuchung herauszuhalten. Bei der Gewinnung von Interviewpartnern zeigte sich jedoch, dass das Kriterium nicht unproblematisch anzuwenden war. Zwar finden sich im Sample Personen mit einem deutlichen Bekenntnis zum sunnitischen Islam und einer bewussten und alltäglichen Glaubenspraxis (Namaz-Gebete, Einhaltung von Speisevorgaben, Pilgerreisen etc.), doch Personen, die nicht bewusst beziehungsweise aktiv ein Glaubensleben pflegen, sich aber dennoch irgendwie als Muslime begreifen, waren von der Frage nach einem Bekenntnis zum sunnitischen Islam irritiert. Die Irritationen lag entweder darin, dass nie ein alternatives Bekenntnis erwogen wurde und die Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam unhinterfragter, wenn auch kaum aktiv ausgelebter Teil der Identität darstellte oder eine grundsätzliche Distanz zu religiösen Bekenntnissen bestand, die jedoch noch nicht zu einer bewusste Abgrenzung der eigenen Person vom sunnitischen Islam geführt hat. Im Sample sind daher sowohl Personen vertreten, die sich bewusst zum sunnitischen Islam bekennen, als auch Personen, die eine distanzierte Haltung zu Glaubensbekenntnissen haben, sich selbst aber dennoch irgendwie der sunnitischen Konfession zugehörig fühlen. Spezifizierung »aus der Mittelmeerregion stammend« Das Samplingkriterium, dass die interviewten Personen aus der Mittelmeerregion stammen sollten, ergab sich aus forschungsstrategischen und forschungspraktischen Erwägungen. Als forschungsstrategische Überlegung spielte zu Beginn des Studienprozesses die im wissenschaftlichen Rahmen unbeantwortete Frage, wie sich das Pendelverhalten in der der Türkei ausprägt, eine Rolle (siehe Kapitel 3.3.1). Durch die Fokussierung der Datenerhebung auf eine bestimmte Region sollte es ermöglicht werden, im gesammelten Material eventuell Indizien zu erhalten, wie sich Pendelmuster ausdifferenzieren und inwiefern regionale Aspekte dabei bedeutend sind. Gleichzeitig, so die Annahme zu Beginn des Studienprozesses, beuge diese Fokussierung auf eine bestimmte Region der Kritik vor, dass die kulturelle und sozioökonomische Heterogenität der Türkei im Studiendesign nicht ausreichend Berücksichtigung erfahre.11 Eine vorläufige Begrenzung der Ergebnisse auf Personen, die in der schließlich ausgewählten Region geboren wurden und aufgewachsen sind, wurde mit der Spezifizierung des Samplingkriteriums akzeptiert.

11 Die Türkei zeichnet sich als Schwellenland durch starke soziale Ungleichheiten aus. Markant ist auch das erhebliche Wohlstandsgefälle von West nach Ost.

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Eine forschungspraktische Wendung führte zur Auswahl der Mittelmeerregion, da ein Forschungsaufenthalt über die Frühlings- und Sommermonate (Februar bis September 2010) an der Akdeniz Universität in Antalya dazu genutzt wurde, den größten Teil der Interviews mit Pendlern durchzuführen. Dies war auch aus inhaltlichen Gründen sinnvoll, da Pendler in der Regel die Sommermonate in der Türkei verbringen, während sie in den Wintermonaten nach Deutschland reisen. Inwiefern sich bei der Gewinnung der Interviewpartner eine Orientierung zu den Provinzen Isparta und Antalya 12 anbot, wird im folgenden Abschnitt zum Feldzugang erläutert. Spezifizierung »Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei« Als weiteres Samplingkriterium sollten die befragten Personen zum Zeitpunkt des Interviews eine Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei aufrechterhalten beziehungsweise erst kurze Zeit zuvor eingestellt haben. Zu Beginn des Studienprozess wurde Pendelmigration in Anlehnung an die von Özcan Veysel und Wolfgang Seifert verwendete Operationalisierung als ein mindestens viermonatiger Aufenthalt innerhalb von 24 Monaten in einem der beiden Länder begriffen (Veysel und Seifert 2006) (siehe Kapitel 3.3.1). Auf Grundlage des Datenmaterials aus den Experteninterviews als auch den durch den Feldzugang erworbenen Erfahrungen zeichnete sich jedoch ab, dass häufig auch Pendelausprägungen anzutreffen sind, die sich nicht reibungslos in diese Operationalisierung einfinden. Es zeigte sich, dass im Feld mehrere Typen von Pendelmigration anzutreffen sind, die nicht nur über die Merkmale Aufenthaltsdauer und Wohnsitze bestimmt werden, sondern auch solche, die durch die Selbstbeschreibung als Pendler (gidip geliyorlar) charakterisiert werden.13 Dies betrifft insbesondere Personen, die ihre ausgedehnten Aufenthalte im jeweils anderen Land als längere Besuche oder Urlaube und nicht als Pendelmigration verstehen.

12 Die Türkei ist in 81 Provinzen gegliedert. Die Provinzen sind entsprechend des Namens der jeweiligen Verwaltungshauptstadt benannt. So ist die Stadt Isparta Provinzhauptstadt der Provinz Isparta. Sie liegt ca. 200 km nördlich der Stadt Antalya im Landesinneren. 13 Insbesondere bei der Generierung von Interviewpartnern zeigt sich, dass eine Definition von Pendeln über zeitliche Dimensionen sich nicht ausreichend mit den gelebten Beschreibungen deckt. So fanden sich mögliche Gesprächspartner, die seit Jahren innerhalb von zwei Jahren fünf bis zehn Monate im jeweils anderen Land verbringen und sich nicht als Pendler definieren und daher auch nicht für Interviews zur Verfügung stehen wollten. Andere angefragte Personen bezeichneten sich demgegenüber als Pendler, obwohl sie pro Jahr weniger als zwei Monate im jeweils anderen Land verbrachten.

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Eine weitere Dimension der Pendelmigration wurde während des Forschungsaufenthaltes in der Türkei und der dortigen Suche nach Interviewpartnern deutlich. Besonders ältere Türkeistämmige, die zur Arbeitsmigration vor Jahrzehnten nach Frankreich oder in die BENELUX-Länder gingen, scheinen eine ähnliche Pendelmigration aufrechtzuerhalten wie sie auf der Achse zwischen Deutschland und der Türkei zu beobachten ist.14 Für diese Studie wurde schließlich ein sehr offener Begriff der Pendelmigration genutzt. Zentral war, dass die befragten Personen für sich die Bezeichnung eines Pendlers (gidip geliyorlar) auf der Achse zwischen Deutschland und der Türkei akzeptieren konnte. Die von den Interviewpartnern beschriebenen Pendelmuster zeigen eine große Heterogenität sowohl in Bezug auf Regelmäßigkeit, Aufenthaltsorte und -dauern. Spezifizierung »älter« Ein weiteres Samplingkriterium betraf das Alter der Befragten. Während bei den vorherigen Samplingkriterien Abgrenzungsprozesse und damit Spezifizierungen stattgefunden haben, blieb das Kriterium »älter« im Datenerhebungsprozess kontinuierlich unbestimmt. Da es unter anderem Ziel dieser Studie war, im Feld kommunizierte Alter(n)skonstruktionen nachzuzeichnen, war es zu Beginn des Studiendesigns nicht sinnvoll ein spezifisches kalendarisches Alter (beispielsweise 60+), eine Eigenschaft (Großelternschaft) oder einen Sozialstatus (Rentner, Pensionär) als extern definiertes Kriterium an das Feld heranzutragen. Zwar gibt es eine Forschungstradition, die das gesetzliche Verrentungsalter zur Operationalisierung von »älter« verwendet, jedoch unterscheiden sich die Renteneintrittsalter in Deutschland und der Türkei erheblich. Während in Deutschland viele Jahre der 65. Geburtstag als Marker für die nacherwerbliche Lebensphase Bestand hatte, 15 bestanden in der Türkei ganz unterschiedliche Regelungen zur Rente und Pension.

14 Aus dieser Beobachtung heraus ergeht der Hinweis, dass es sich bei dem untersuchten Phänomen nicht um ein Spezifikum zwischen Deutschland und der Türkei handelt, sondern Migrationsprozesse im Alter eine zunehmende Normalität erreichen. Eine weiterführende Untersuchung von Ruhesitzmigration ehemaliger Arbeitsmigranten könnte auch in Beziehung zu anderen globalen Phänomenen der Ruhestandsmigration (USA, Südostasien) untersucht werden. 15 Dennoch stand der angemessene Zeitpunkt zum Austritt aus dem Erwerbsleben immer zur Diskussion, wie beispielsweise in der Phase der Frühverrentungen in den 1980er Jahren und der Erhöhung des Renteneintrittsalters der GRV auf 67 bis zum Jahr 2023 (siehe das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz, beschlossen in 2007).

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So bezieht weniger als die Hälfte der türkischen Bevölkerung über 65 Jahre Leistungen aus der Rentenversicherung (Grütjen 2008). Bis zur Reform der Rentenversicherung im Jahr 2008 bestand für viele Beamte und Angestellte die Möglichkeit sich bereits vor dem 50. Geburtstag verrenten zu lassen. So konnte man früh in den Status eines Rentners (»emekli«) wechseln, jedoch in den seltensten Fällen mit dem monatlichen Renteneinkommen den eigenen Lebensunterhalt bestreiten.16 Unter anderem auch aus diesem Sachverhalt heraus haben viele Personen, die offiziell bereits in der Türkei verrentet waren, sich wieder eine Erwerbseinkommensmöglichkeit gesucht. Diese wurde dann meistens bis ins höhere Alter ausgeführt und erst aufgrund körperlicher Einschränkungen beendet. In diesem Sinne hat sich in der Türkei der offizielle Renteneintritt nie in einer gleichen Prägnanz als Alterskriterium durchgesetzt wie in Deutschland. Darüber hinaus ist bekannt, dass es in der Türkei immer wieder Abweichungen zwischen dem tatsächlichen Geburtstag beziehungsweise -jahr und den in der Geburtsurkunde dokumentierten Geburtsdaten gibt. Diese Praxis der Angabe anderer Geburtsdaten bei der standesamtlichen Geburtsmeldung war insbesondere zu den Geburtsjahren des befragten Samples nicht ungewöhnlich.17 Das angegebene kalendarische Alter

16 Entsprechend der bis 2008 geltenden rentenrechtlichen Regelungen in der Türkei, konnte man sich nach 28 Arbeitsjahren verrenten lassen. Da das daraus resultierende Renteneinkommen nicht zum Lebensunterhalt ausreichte, arbeiteten die emekliler meistens bis ins hohe Alter, um ihr Einkommen aufzubessern. Dies beschreibt beispielsweise Nazım Yılmaz: »Die Personen, die hier [Türkei] verrenntet werden, haben sich auf eine zusätzliche Arbeitszeit eingestellt. Mit dieser Arbeit zusammen, haben sie mit ihrem Einkommen keine materiellen Schwierigkeiten. Haben sie, also doch das Gefühl haben sie, aber sie haben sich drauf eingestellt. Denn sie bekommen ihre Rente und dazu haben sie dann noch ihren Garten, ihren Weinberg. »Evet. Burada emekli olan kişiler bir de yanında ek iş zamanı da ayarlamışlar. O iş ile beraber gittikleri için pek maddi sıkıntı çekmiyorlar, çekiyorlar ama çekiyorlar hissine de kapılmış vaziyete gidiyorlar, öyle düşünüyorlar. Çünkü emeklilikleri geliyor bir de yanlarında bahçesi bağı var.« (Nazım Yılmaz, Z. 941-943) In der Türkei war der Eintritt in die Altersrente dadurch nicht gleichbedeutend mit einem Austritt aus dem Erwerbsleben, sondern eher der Startpunkt einer zweiten beruflichen Laufbahn. Der Renteneintritt war somit nicht Statuspassage zum Alter, sondern lediglich eine Verschiebung in der sozialrechtlichen Absicherung. Durch die Sozialrechtsformen zu 2008 wurde das Renteneinstiegsalter auf 65 Jahre angehoben. 17 Bekannte Gründe für diese Praxis sind zum einen die hohe Kindersterblichkeit, sodass Kinder erst amtlich gemeldet wurden, wenn sie einen als kritisch geltenden Zeitraum

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älterer Türkeistämmiger kann vom tatsächlichen kalendarischen Alter sowohl nach oben als auch nach unten abweichen. Aus diesem Kontextwissen heraus orientierte sich die Spezifizierung von älter auf das Konstrukt »zweite Lebenshälfte«,18 die bei Personen ab dem 40. Lebensjahr angesetzt wird. Diese Herangehensweise beinhaltet die Möglichkeit eine feste kalendarische Altersgrenze als Samplingkriterium offen zu lassen. Neben den ausgeführten Samplingkriterien wurden keine weiteren Merkmale der Interviewpartner vorab festgelegt. Jedoch sollte die Gruppe der Interviewten entsprechend des Theoretical Samplings (vgl. Glaser und Strauss 1967) eine möglichst hohe Varianz in weiteren Merkmalen (z. B. Wohnort in Deutschland, Sprachkenntnisse, Sozialstatus (berufstätig, erwerbsunfähig, (früh-)verrentet in Deutschland oder der Türkei, Geschlecht) aufweisen. Insgesamt wurden neun Interviews mit Pendlern geführt. Dabei wich das Vorgehen vom Anspruch des Theoretical Samplings ab. Entsprechend des Theoretical Samplings wird jedes Interview nach der Erhebung ausgewertet. Gewonnene Erkenntnisse dienen dazu, weitere Profilaspekte zur Auswahl folgender Interviewpartner zu erstellen. Dadurch soll eine der Forschungsfrage entsprechende maximale Kontrastierung der untersuchten Fälle erreicht werden. Dies war unter den gegeben Umständen der Studie nicht möglich. Zwar wurde während der Datenerhebung darauf geachtet, möglichst heterogene Fälle in das Sample aufzunehmen, doch verdichtete sich die Datenerhebung der zweiten Stufe auf einen Zeitraum von drei Monaten. Die einzelnen Interviewpartner werden ausführlich in Kapitel 5.1 vorgestellt. Die folgende tabellarische Zusammenstellung erlaubt einige Regelmäßigkeiten sowie Besonderheiten des Samples herauszustellen.

überlebt hatten. Zum anderen wurde die Angabe von Geburtsjahren auch später geringfügig verändert, um beispielsweise eine Einschulung hinauszuzögern (jünger machen) oder ein gewisses Alter (zur Heirat oder um einen Arbeitsvertrag in Deutschland zu erhalten) früher zu erreichen (älter machen). 18 Der Begriff der »zweiten Lebenshälfte« hat in der gerontologischen Forschung in Deutschland im Kontext des Deutschen Alterssurvey (DEAS), insbesondere durch Publikationen aus dem Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) (z. B. Wurm et al. 2010) Prominenz erfahren.

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Tabelle 4: Übersicht Interviewpartner der zweiten Erhebungsstufe nach Geburtsjahr, Geburtsort und Geschwistern Name

Geburtsjahr

Geburtsort in Provinz

Geschwister

Duygu Çiçek

1955

Adana

4

Kemal Koyun

1933

Isparta

0

Mustafa Güneş

1927

Isparta

Nazım Yılmaz

1941

Isparta

Nuri İbrahimoğlu

1946

Isparta

Riza Ateş

1939

Isparta

Sevim Öztürk

1944

Burdur

Yaşar Şahin

1944

Gazıantep

Zeki Akpınar

1938

Isparta

3 3 5 4 2 7 7, von 2 Müttern

Tabelle 5: Übersicht Interviewpartner der zweiten Erhebungsstufe nach schulischer Ausbildung und (erlerntem) Beruf Name

Schulische Ausbildung

(Gelernter) Beruf

Duygu Çiçek

Bis zur 8. Klasse in TR, Be-

Verkäuferin

rufsschulabschluss in BRD Kemal Koyun

Grundschule

Arbeiter

Mustafa Güneş

Grundschule

Zimmermann

Nazım Yılmaz

Gymnasium/ Oberschule

Arbeiter

Nuri İbrahimoğlu

Mittelschule

Riza Ateş

Grundschule

Koch kein

Sevim Öztürk

Fachhochschulstudium

Pädagogin & Hauswirtschafterin

(ohne Abschluss) Yaşar Şahin

Mittelschule

Zeki Akpınar

Grundschule

In TR: Beamter im Forstamt, in BRD: Arbeiter Besitzer einer Teppichfabrik in TR, Arbeiter in BRD

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Tabelle 6: Übersicht Interviewpartner der zweiten Erhebungsstufe nach Familienstand, Kinder, Migration in die BRD, Verrentungsjahr und Verrentungsalter Name Duygu Çiçek

Familien-

Anzahl

In BRD

Verrentet

Verren-

stand

Kinder

seit

seit

tungsalter

verwitwet

3

1969

1995

40

(Berufsunfähigkeit) Kemal Koyun

verheiratet

4

1970

1994

Mustafa Güneş

verheiratet

4

1969

1992

61 65

1973

2005

64

1969

2002

56

nach F. etwas später nach BRD Nazım Yılmaz

verheiratet

3, davon 1 verstorben

Nuri İbrahimoğlu

verheiratet

3

Riza Ateş

verheiratet

2

1969

1990

51

Sevim Öztürk

geschieden

1

1968/

2006

62

1972 Yaşar Şahin

verheiratet

4

1973

2003

59

Zeki Akpınar

verheiratet

6

1970

1995

57

Alle Interviewpartner sind in der Mittelmeerregion der Türkei geboren worden. Sie kamen entweder als Jugendliche (Duygu Çiçek mit 14 Jahren) oder im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 42 Jahren19 im Kontext von Arbeitsmigration nach Deutschland.20 So zeichnet sich das Sample durch eine relativ große Altersspanne aus. Duygu Çiçek war mit 55 Jahren die jüngste der Befragten, Zeki

19 Einen Arbeitsvertrag im Kontext des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei bekamen »Gastarbeiter« nur bis zu ihrem 40.Lebensjahr. Wie Mustafa Güneş mit 42 Jahren nach Deutschland migrieren konnte ist unklar. 20 Ausnahmen: Duygu Ciçek kam als Kind mit ihrer Familie. Sevim Öztürk kam zunächst als Ehepartnerin eines Entsandten. Nach der Ehescheidung migrierte sie ein zweites Mal nach Deutschland, diesmal im Zuge einer Arbeitsmigration.

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Akpinar mit 72 Jahren der Älteste. Alle Interviewpartner bezogen zum Interviewzeitpunkt eine Rente (Nuri İbrahimoğlu und Duygu Çiçek bezogen keine Alters-, jedoch Erwerbsunfähigkeitsrente). In unterschiedlichem Ausmaß verfügten sie über weitere Einkommensmöglichkeiten beziehungsweise Vermögen. In Bezug auf den formalen Bildungsstand und die Erwerbsbiographie finden sich im Sample sowohl Personen mit einem geringen Bildungsstand, deren Erwerbsbiographie von Arbeitslosigkeit und wechselnden Anstellungen im Niedriglohnsektor gekennzeichnet ist (z. B. Nazım Yılmaz) als auch Personen, die höhere Bildungseinrichtungen durchlaufen haben und Leitungsverantwortung innehatten (Sevim Öztürk). Auch bezüglich der Wohnorte der Interviewpartner konnte eine Streuung erreicht werden. So leben manche der Befragten in Deutschland in einer Großstadt, während sie in der Türkei im ländlichen Raum wohnten. Doch auch die Kombination Großstadt in der Türkei und Großstadt in Deutschland ist im Sample vertreten sowie die umgekehrte Kombination. Alle befragten Personen verstanden sich als Muslime, jedoch finden sich im Sample unterschiedliche Ansprüche an Säkularität. Zum Interviewzeitpunkt war kein Gesprächspartner pflegebedürftig. Jedoch differenziert sich das Sample dahingehend aus, inwiefern sie Pflegebedürftige im nahen Umfeld haben. Obwohl zu Beginn des Studienprozesses erwartet wurde, dass vor allem Frauen für ein Interview zu gewinnen wären, dominieren im Gesamtsample eindeutig Männer. Dabei wurden nicht bevorzugt männliche Gesprächspartner angeworben. In den Phasen der Kontaktaufnahme mit den möglichen Gesprächspartnern und während der Intervieworganisation schien es selbstverständlich, dass, wenn ein Ehepaar gemeinsam pendelte, der Ehemann sich zum Interview bereit erklärt und die Ehefrau beim Interview anwesend ist ohne als Interviewpartner in Erscheinung zu treten. Die beiden interviewten Frauen hingegen waren zum Zeitpunkt der Interviewführung partnerlos. Beschreibung des Feldzugangs Durch die zweistufige Datenerhebung wurden Zugänge zu zwei unterschiedlichen Feldern geschaffen. Während der Feldzugang in der ersten Stufe (Experteninterviews) unproblematisch verlief, wurden im zweiten Feldzugang verschiedene Strategien entwickelt und unterschiedliche Zugangsweisen erprobt, sodass hier mehrere Phasen unterschieden werden können. Feldzugang bei den Experteninterviews Der Feldzugang in der ersten Erhebungsstufe verlief unproblematisch. Alle für ein Interview Angefragten ermöglichten zeitnah die Interviewdurchführung ohne weitere Bedingungen. Die Experteninterviews wurden im Zeitraum von September

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2009 bis Januar 2010 erhoben. Die Interviews wurden fast geschlossen in Deutschland erhoben. Lediglich das Interview mit Herrn Aslan fand in der Türkei statt. Auch in Bezug auf die Sprache bildet lediglich das Interview mit Herrn Aslan eine Ausnahme. Die Interviews mit Frau Erdmann, Frau Schulz, Frau Demirci, Frau Yılmaz und Frau Ateş wurden auf Deutsch geführt. Eine andere Interviewsprache (hier: türkisch) wurde den Interviewpartnern nicht angeboten und auch von ihnen nicht nachgefragt. Lediglich das Interview mit Herrn Aslan wurde aus pragmatischen Gründen auf Englisch geführt.21 Die Interviewlänge betrug im Schnitt ca. eine Stunde (zwischen 40 Minuten und 1,5 Stunden). Das Interview mit Frau Ateş fand in ihrer Privatwohnung statt. Die anderen Interviews in den jeweiligen Büro- beziehungsweise Geschäftsräumen der Interviewpartner. Frau Erdmann, Frau Schulz, Frau Ateş und Frau Yılmaz waren mir aus vorherigen beruflichen Kontexten bekannt. Die Kontakte zu Frau Demirci und Herrn Aslan knüpfte ich auf zwei unterschiedlichen Fachveranstaltungen und fragte sie anschließend für die Interviews an. Insbesondere diese beiden Interviewpartner galten durch ihren jeweiligen Einblick in die ambulante pflegerische Versorgung in der Türkei und Deutschland als für dieses Forschungsvorhaben relevant. Dem explorativen Ansatz folgend waren die Experteninterviews durch einen Leitfaden teilstrukturiert und durch eine Triangulation von explorativen und systematisierenden Experteninterviews charakterisiert (vgl. Bogner und Menz 2005). Der verwendete Leitfaden wurde entsprechend der unterschiedlichen Tätigkeitsfelder beziehungsweise persönlichen Erfahrungen der Befragten in den jeweiligen Schwerpunktsetzungen angepasst.22 So konnte ein Vorgehen umgesetzt werden, dass sowohl Offenheit für Gesprächsimpulse der Befragten ermöglichte als auch die aus der Literaturrecherche sowie aus der Fragestellung abgeleiteten interessierenden Themenschwerpunkte abfragte.

21 Englisch wurde aus zwei Gründen zur gewählten Sprache der Interviewsituation. Zum einen sprach Herr Aslan kein Deutsch, zum anderen war eine Kollegin aus Deutschland an der Interviewsituation beteiligt, welche wiederrum kein Türkisch sprach, aber ebenfalls ein Interesse an der Expertise von Herrn Aslan hatte. Aus zeitökonomischen Gründen musste das Interview gemeinsam in der Sprache Englisch erhoben werden. 22 Dementsprechend divergieren die verwendeten Leitfäden, jedoch sind sie durch einen gemeinsamen zentralen Fragekorpus verbunden. Dies gewährleistet eine Vergleichbarkeit.

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Feldzugang bei den problemzentrierten Interviews mit türkeistämmigen Pendelmigranten Ein Forschungsaufenthalt in der Türkei23 wurde sowohl forschungspraktisch als auch forschungsstrategisch dazu genutzt, die zweite Stufe der Datenerhebung durchzuführen. Mit dem Forschungsaufenthalt in der Türkei sollte sowohl weiteres Kontextwissen zum Untersuchungsgegenstand und zur Untersuchungsgruppe durch Recherche im türkischsprachigen Wissenschaftsraum generiert als auch der bekannte Pendelrhythmus der Untersuchungsgruppe (Sommermonate in der Türkei) bei der Datenerhebung berücksichtigt werden. Es wurden im Zeitraum von Juni bis September 2010 acht Interviews in den Provinzen Antalya und Isparta erhoben. Ein weiteres Interview, um das Sample zu ergänzen, konnte im folgenden Winter (März 2011) in Deutschland geführt werden. Der Feldzugang zu dieser zweiten Erhebungsstufe war durch verschiedene Aspekte geprägt, sodass Strategien entwickelt wurden, wie mit sich ergebenden Herausforderungen umgegangen werden sollte. Im Folgenden wird dieser zweite Feldzugang in drei Phasen untergliedert dargestellt. In einer ersten Phase des Feldzugangs der zweiten Erhebungsstufe wurden niedrigschwellige Zugänge gewählt. Die ersten beiden Interviews wurden mit Sevim Öztürk und Yaşar Şahin geführt. Der Kontakt zu Yaşar Şahın ergab sich über einen Professor der Süleymann-Demirel-Universität in Isparta, der Yaşar Şahın aus der Nachbarschaft kannte. Der Kontakt zu Sevim Öztürk ergab sich während eines öffentlichen Konzertes in Antalya. Die Interviewsprache war in beiden Interviews (fast ausschließlich) Deutsch und die jeweiligen Interviewvereinbarungen sowie Interviewverläufe gestalteten sich unproblematisch. Dennoch zeichneten sich zwei Aspekte ab, die bei den weiteren Interviewerhebungen berücksichtigt werden mussten. Es zeigte sich, dass eine Interviewsituation, in der nur die Interviewerin und der Interviewte anwesend sind – um so Einflussfaktoren durch die Anwesenheit weiterer Angehöriger auszuschließen – nicht durchsetzbar war. Sowohl im Interview mit Sevim Öztürk als auch im Interview mit Yaşar Şahin waren Freunde und Familienangehörige anwesend. Eine Bitte um eine VierAugen-Situation wäre nicht nachvollziehbar gewesen und hätte wahrscheinlich die Interviewsituation erheblich negativ beeinflusst. Eine zweite Phase dieses Feldzugangs wurde geprägt durch die Gewinnung weiterer Interviewpartner. Dazu konnte auf Unterstützung von Mitarbeitern des Europabüros der Provinz Isparta und der Akdeniz Universität in Antalya sowie aus privaten Zusammenhängen bekannte Personen zurückgegriffen werden. Sie

23 Aufenthalt an der Akdeniz Universität in Antalya von März bis September 2010, finanziert durch das Erasmus-Austausch-Programm.

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ermöglichten Kontaktaufnahmen zu weiteren Personen. Dennoch gab es relativ viele Zugänge, die nicht zu einem Interview führten.24 Während dieses Prozesses zeigte sich, dass die türkischen Sprachkenntnisse von mir als Forschender nicht ausreichend waren. Darüber hinaus wurde im Prozess der Interviewanfragen und Terminvereinbarungen deutlich, dass weitere Faktoren den Feldzugang prägten. Zum einen musste das Mobilitätsverhalten der Untersuchungsgruppe berücksichtigt werden. Oftmals wurden Interviewtermine wiederholt verschoben, da die angefragten Personen spontan zu einem entfernten Gartenhaus oder zu Besuch in die Ferienwohnung von Freunden und Verwandten fuhren. Darüber hinaus zeichnete sich ab, dass die Intervieworte Anreisen über mehrere hundert Kilometer erforderten. Um diese organisatorischen Anforderungen zur Datenerhebung bewältigen zu können sowie Unterstützung bei der Interviewdurchführung zu erhalten, assistierte in dieser zweiten Phase des Feldzugangs Sami Kılıç. Er war zu dieser Zeit Student an der wirtschafts- und verwaltungswissenschaftlichen Fakultät der Akdeniz Universität und verfügte über Erfahrungen in standardisierten Befragungen.25 Sami Kılıç wurde in das Forschungsprojekt eingeführt und hinreichend zum Prozess der qualitativen Datenerhebung geschult. Anschließend wurde er in die Intervieworganisation, Interviewdurchführung und Transkription eingebunden. Die Interviews mit Zeki Akpinar, Mustafa Günes, Kemal Koyun, Nazım Yılmaz, Mustafa Günes und Nuri İbrahimoğlu fanden bis auf kurze Sequenzen in

24 Einige der kontaktierten Personen lehnten ein Interview aus gesundheitlichen oder anderen persönlichen Gründen ab. Andere entsprachen nicht den Samplingkriterien (weil sie beispielsweise alevitisch waren) oder fielen aus der Datenerhebung aus, da sie ohne Begründung den Interviewtermin nicht wahrnahmen oder den Kontakt abbrachen. Insgesamt betraf dies eine Gruppe von acht Personen. Als ein weiterer Zugang wurde Kontakt zu einer Kommunalverwaltung einer Kleinstadt aufgenommen, in der dem Hören-Sagen nach relativ viele Pendler leben sollten. Eine Mitarbeiterin der Verwaltung verwies an einen bestimmten Muhtar, der Kontakt zu weiteren potenziellen Interviewpartnern herstellen sollte. Trotz des mit der Mitarbeiterin vereinbarten Termins war der Muhtar nicht anzutreffen. Beim Wiederaufsuchen der Kommunalverwaltung war diese bereits verschlossen und auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erreichbar. Über diesen Zugang konnte kein Interviewpartner gewonnen werden. 25 Der Student war zum Zeitpunkt seiner Mitarbeit 22 Jahre alt. Türkisch ist neben Kurdisch die zentrale Sprache seiner Sozialisation. Seine Eltern und der Großteil seiner Geschwister lebten in Deutschland, das er selbst bereits bereist hatte. Er selbst hat jedoch nie in Deutschland gelebt und sprach auch kein Deutsch. Wir kommunizierten miteinander auf Türkisch und Englisch.

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türkischer Sprache statt und wurden zusammen mit Sami Kılıç erhoben. Auch bei allen Interviews in dieser Erhebungsphase waren Dritte anwesend. Mit dem Ende des Forschungsaufenthaltes in Antalya endeten auch die Datenerhebung in der Türkei und die Zusammenarbeit mit Sami Kılıç. In einer nur kurzen dritten Phase dieses Feldzugangs wurde das Interview mit Duygu Çiçek im März 2011 in einer Großstadt in Deutschland erhoben. Ursächlich für diese Nacherhebung war, dass das in der Türkei gewonnene Sample fast ausschließlich aus männlichen Interviewpartnern bestand. Darüber hinaus waren im Sample Personen des Typus »Pendeln bei Verbleib« kaum vertreten. Um das Sample in Hinblick auf Genderaspekte und Pendeltypen breiter aufzustellen, sollte die Perspektive einer weiteren Frau, die auch den Typus »Pendeln bei Verbleib« vertritt, in die Datenbasis aufgenommen werden. Der Kontakt mit Duygu Çiçek entstand bei einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zur Ausgestaltung von lokalen Altenhilfestrukturen. Das Interview fand auf Deutsch statt und war das einzige, bei dem keine weiteren Personen anwesend waren. Mit dem Interview mit Duygu Çiçek wurden die Datenerhebung sowie der Feldzugang abgeschlossen. Während des Feldzugangs in der Türkei wurden zwei relevante Aspekte deutlich. Zum einen wurde deutlich, dass die Untersuchungsgruppe der türkeistämmigen Pendler in der Türkei annähernd unsichtbar wirkt. Während in Deutschland diese Gruppe als relativ klar abgegrenzt wahrgenommen und diskutiert wird, lösen sich diese Abgrenzungen in der Türkei scheinbar auf. In Deutschland können Personen dieser Gruppe gezielt (über z. B. Moscheegemeinden, Vereine, an bestimmten öffentlichen Plätzen oder über Verwandte) kontaktiert werden. In der Türkei scheinen sie so »vergesellschaftet«, dass der Kontaktaufbau mit einem höheren Aufwand verbunden war. Zum anderen wurde besonders deutlich, dass die sozioökonomische Positionierung der Untersuchungsgruppe sich im Feld als relational darstellte. Im deutschsprachigen Kontext werden die älteren türkeistämmigen Migranten vor allem als eine sozio-ökonomisch schwache Gruppe gehandelt. Sie gelten durch ihre nur geringe Rente als einkommensschwach und gesundheitlich als schlechter gestellt als die deutsche Durchschnittsbevölkerung (siehe Kapitel 3.3.2). Während des Feldzugangs in der Türkei wurden die Pendler jedoch als relativ wohlhabend erlebt. In den für die Interviewdurchführung aufgesuchten Vororten und Dörfern bewohnten die Interviewpartner die im Vergleich ansehnlichsten Häuser. Interviewpartner, die in Städten lebten, hatten Häuser oder auch Wohnungen in als gehoben geltenden Stadtteilen. Viele von ihnen berichteten über weitere Wohnstätten und Gärten beziehungsweise landwirtschaftlich genutzte Flächen. Zahnprothesen wirkten wie ein Statussymbol.

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4.1.2 Datenaufbereitung: Transkription und Übersetzungen Um das erhobene Datenmaterial für die Auswertungsschritte sowie die Ergebnisdokumentation aufzubereiten, wurden Transkriptionen der Audioaufnahmen der Interviews angefertigt. Darüber hinaus wurden die Namen der Interviewpartner anonymisiert. Da die Datenerhebung in mehreren Sprachen stattfand, spielen in diesem Forschungsvorhaben Übersetzungsprozesse eine relevante Rolle. Insbesondere der Umgang mit der Mehrsprachigkeit des Datenmaterials sowie die Anfertigung von Übersetzungen werden im Folgenden dargestellt. Transkription und Anonymisierung Von den erhobenen Interviews wurden mit der Zustimmung aller an der Interviewsituation beteiligten Personen Audioaufnahmen angefertigt und archiviert. Die Audioaufnahmen der Interviews wurden anschließend vollständig nach einem einfachen Transkriptionssystem26 (Dresing und Pehl 2013, S. 19 ff.) mit dem Programm f4 transkribiert. Die Transkription erfolgte entsprechend der gesprochenen Sprachen (Deutsch, Türkisch, Englisch). Übersetzungen fanden während der Transkription nicht statt. Die Transkriptionen der Interviews der ersten Erhebungsstufe (Experteninterviews) wurden vollständig von mir durchgeführt. Die Transkriptionen der Interviews der zweiten Erhebungsstufe (problemzentrierte Interviews mit Pendlern) wurden in einer Kooperation von Sami Kılıç und mir durchgeführt. Dabei übernahm Sami Kılıç die Interviewteile in türkischer Sprache, ich die Teile in deutscher Sprache. Namen sowie Adress- und Ortsangaben der Interviewpartner wurden anonymisiert, geschwärzt oder so verallgemeinert, dass eine Rückführbarkeit der Angaben auf die befragten Personen ausgeschlossen werden kann. Um eine nachvollziehbare Zitation zu gewährleisten, erhielten die Interviewtranskripte Zeilennummerierungen. Die Transkriptionen wurden in das EDV-gestützte Auswertungsprogramm für qualitative Methoden MaxQ-Da eingespeist. Übersetzungen des Datenmaterials Eine besondere Herausforderung der vorliegenden Studie lag in der Mehrsprachigkeit des Untersuchungsfeldes, welche auch bei der Datenerhebung berück-

26 Einfache Transkriptionssysteme fokussieren auf den Inhalt des Interviews und lassen parasprachliche und non-verbale Ereignisse mehrheitlich außer Acht. Für die in dieser Studie angestrebte Untersuchungsebene der Interviewinhalte war dieses Vorgehen ausreichend.

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sichtigt wurde. Wie dargestellt, wurde den Interviewpartnern freigestellt, zwischen Deutsch und Türkisch als Konversationssprache im Interview zu wählen sowie während des Interviews die Sprache nach eigenem Empfinden zu wechseln.27 Es ist herauszustellen, dass fast alle Interviewpartner von der Möglichkeit des Sprachwechsels während des Interviews – Ausnahmen bilden kurze Sequenzen und einzelne Ausdrücke – keinen Gebrauch machten, sodass die Interviews (fast) einsprachig verliefen. Lediglich das Interview mit Riza Ateş ist von einem kontinuierlichen Sprachwechsel gekennzeichnet, fand in den inhaltlichen Schwerpunkten jedoch in türkischer Sprache statt. Im Ergebnis wurden sieben der 15 erhobenen Interviews auf Türkisch und in einem Fall auf Englisch geführt. Da der Analyseprozess sowie die Berichtslegung in deutscher Sprache stattfanden, mussten Umgangsweisen mit dem mehrsprachigen Datenmaterial gefunden werden. Im Folgenden wird das Vorgehen in Bezug auf Übersetzungen des Datenmaterials vorgestellt. Eine methodologische Reflexion des Umgangs mit fremdsprachigem Datenmaterial in diesem qualitativ-empirischen Forschungsvorhaben erfolgt in einem anschließenden Abschnitt (siehe Kapitel 4.2.1). Ich als Forschende spreche muttersprachlich lediglich Deutsch, verfügte jedoch zum Zeitpunkt der Datenerhebung und Auswertung über ausreichend Kenntnisse der türkischen Sprache, um Konversation zu betreiben, die Interviewdurchführung auf Türkisch mitgestalten und mitverfolgen sowie die Transkripte in türkischer Sprache nachvollziehen zu können.28 Gleiches gilt für das auf Englisch erhobene Experteninterview mit Herrn Aslan.29 So konnten die Transkripte mit den jeweiligen Originalsprachen als Grundlage der ersten Auswertungsschritte (offenes und axiales Kodieren) verwendet werden. Einzelne Vokabeln oder Ausdrucksweisen, die ich zum Verständnis nachschlagen beziehungsweise erfragen musste, wurden über die Memo-Funktion im MaxQ-DA-Programm notiert, sodass zentrale Momente der Auswertung des Datenmaterials in der ursprünglichen Sprache erfolgen konnten. Schriftliche Übersetzungen des nicht-

27 Dies bezog sich auch auf einen Sprachwechsel, der über Code-Switching hinausgeht. 28 Ich kann nicht auf akademisch erworbene Kenntnisse der türkischen Sprache zurückgreifen und habe auch keine translationswissenschaftliche Ausbildung. Inwiefern dies methodologisch kritisch zu diskutieren ist, siehe Kapitel 4.2.1. 29 Da das Interview mit Herrn Aslan für diese Studie keine inhaltlich zentrale Rolle spielt, wird auf Übersetzungsprozesse in Bezug auf dieses Interview im Folgenden nicht weiter eingegangen. Grundsätzlich wurde mit diesem Transkript genauso umgegangen wie mit den türkischsprachigen. Lediglich die Austausch- und Korrekturschleifen in Bezug auf die ausgewählten Zitate waren wesentlich kleiner.

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deutschen Datenmaterials ins Deutsche erfolgten erst im fortgesetzten Auswertungsprozess. Dabei wurden zentrale beziehungsweise repräsentative Zitate aus dem Datenmaterial, die sowohl entscheidend für die Argumentationslinie in Ergebnispräsentationen als auch in der Berichtslegung werden konnten, von mir schriftlich ins Deutsche übersetzt. Diese Auswahl übersetzter Interviewzitate wurde im weiteren Prozess der Berichtslegung von erfahrenen Übersetzerinnen bei Bedarf korrigiert beziehungsweise neu übersetzt. Dieses Vorgehen orientiert sich an einem in der Methodendiskussion verhandelten sequenziellen Übersetzen des Datenmaterials (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008, S. 308 f.). Entsprechend der Skopos-Theorie (vgl. Reiß und Vermeer 1984; Enzenhofer und Resch 2011; Wettemann 2012) wurde reflektiert, welchen Zweck die Übersetzungen erfüllen müssen. Deutlich wurde dabei, dass die Übersetzungen insbesondere für Muttersprachler des Deutschen verständlich sein sollten. Ziel der Übersetzung war es dabei, auch Ausdrucksweisen (Syntax, Semantik, Stil etc.) der Interviewpartner in den Übersetzungen möglichst beizubehalten, um auch entsprechend der angewendeten Auswertungsmethode des integrativen Basisverfahrens (hier insbesondere bei der Metaphernanalyse) eine möglichst wörtliche Übersetzung sowohl für den Erkenntnisgewinn als auch für die Berichtslegung nutzen zu können (siehe Kapitel 4.1.3). Die Entscheidung in Bezug auf die verwendeten Übersetzungmethoden fiel zugunsten einer dokumentarischen Übersetzung (vgl. Wettemann 2012, S. 110) aus, bei der, waren Äquivalenz und Adäquatheit der Übersetzung nicht in gleichem Maße zu erfüllen, der Adäquatheit der Vorzug gegeben wurde. Eine kontinuierliche Einbindung von translationswissenschaftlich ausgebildeten Übersetzern (türkisch-deutsch) war unter den Rahmenbedingungen dieser Qualifizierungsarbeit nicht möglich. Die im Auswertungs- und Berichtslegungsprozess verwendeten Übersetzungen sind daher ausschließlich30 von Übersetzern mit sozialwissenschaftlicher Ausbildung angefertigt worden. Durch die Zusammenarbeit bei der Übersetzung der für die Berichtslegung zu verwendenden Zitate aus dem Datenmaterial ergab sich ein weiterer erheblicher inhaltlicher Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Auswertung.

30 Ausnahme: Zwischenzeitlich unterstützte auch eine staatlich anerkannte Übersetzerin (spezialisiert auf juristische Fachübersetzungen), die jedoch aufgrund der hohen beruflichen Arbeitsbelastung aus dem Prozess wieder ausschied. Die kontinuierlich unterstützende Übersetzerin verfügt über das Turkikum und ist seit mehreren Jahren als Übersetzerin und Dolmetscherin (von Türkisch auf Deutsch) im kulturellen Bereich freiberuflich tätig. Sie selbst hat keine Ausbildung im translationswissenschaftlichen Bereich.

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Für diese Berichtslegung wurde die Strategie gewählt, die angeführten Zitate zunächst in der deutschen Übersetzung und anschließend direkt im türkischsprachigen Original anzufügen. Somit haben sowohl der deutschen als auch der türkischen Sprache Mächtige die Möglichkeit, die Analysedarstellung und die verwendeten Übersetzungen nachzuvollziehen. 4.1.3 Auswertungsstrategie Entsprechend der gewählten Erhebungsmethoden konnte das Erkenntnisinteresse nur über die Analyse sprach-kommunikativ ausgedrückter Daten, hier in Form transkribierter Interviews, erfolgen. Witzel gibt in Hinblick auf die Auswertung von problemzentrierten Interviews kein spezifisches Verfahren vor, denn dem »Prinzip der Gegenstandsorientierung entsprechend gibt es für unterschiedliche Erkenntnisinteressen und thematische[n] Bezüge verschiedene Auswertungsmethoden« (2000, Absatz 18). Nach Abwägung verschiedener Möglichkeiten wurden zur Datenauswertung das Kodierverfahren entsprechend der Grounded Theory Methodologie (vgl. Glaser und Strauss 2010) und das integrative Basisverfahren nach Kruse und Schmieder (vgl. Kruse und Schmieder 2012a) genutzt. Im Folgenden werden die gewählten Verfahren in ihren zentralen Aspekten und Vorgehensweisen vorgestellt und anschließend in Bezug auf die praktische Anwendung in dieser Studie kommentiert. Datenauswertung in der Grounded Theory Methodologie als iterativer Prozess im Kodierverfahren Die Grounded Theory Methodologie versteht die Datenauswertung als einen rekonstruktiven, interpretativen und zirkulären Prozess mit steigendem Abstraktionsanspruch. Die zentralen Elemente des Auswertungsvorgehens sind dabei die Kodierung des Datenmaterials, die Entwicklung von (Sub-)Kategorien und die darauf aufbauende gegenstandsnahe Theoriebildung, gestützt auf eine Kernkategorie (vgl. Glaser und Strauss 1967; Strauss und Corbin 1990). Im Auswertungsprozess werden drei Kodierverfahren genutzt. In einer ersten Phase wird das Datenmaterial offen kodiert. Hier wird als erster Schritt der vorliegende Text entsprechend zentraler Sinneinheiten untergliedert und in einem zweiten Schritt offen kodiert, sodass zentrale Abschnitte bereits in Bezug auf relevante Konzepte markiert werden. Diese Prozessphase zeichnet sich durch eine starke Orientierung am Material bei der Generierung der Codes aus und wird insbesondere durch die Erstellung von Memos begleitet und dokumentiert (vgl. Böhm 2009, S. 477 f.). In einer zweiten Phase des Analyseprozesses wird der Typ

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des axialen Kodierens angewandt. Ziel ist hierbei, durch die im Material erkennbaren Konzepte (Achsen-)Kategorien herauszuarbeiten. Dazu werden Datenausschnitte (hier: Zitate) mit anderen Datenausschnitten verglichen und mit Erkenntnissen aus weiteren Literaturquellen in Beziehung gesetzt um so zu einem Abstraktionsprozess zu gelangen. Gleichzeitig wird die Heuristik eines Kodierparadigmas hinzugezogen, sodass die jeweiligen Kategorien in ihrem Beziehungsnetz erkennbar werden. Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass Kodierparadigmen nicht auf einzelne Fälle beschränkt, sondern fallübergreifend angelegt werden. Diese Prozessphase zeichnet sich durch kontinuierliche Vergleichsprozesse des Datenmaterials, der offenen Kodierungen, den erkannten Konzepten und den zu entwickelnden Kategorien aus (vgl. Böhm 2009, S. 479). In einer dritten Phase des Analyseprozesses kommt das Verfahren des selektiven Kodierens zum Zuge. Die herausgearbeiteten (Achsen-)Kategorien werden weiter in Beziehung gesetzt und abstrahiert, sodass eine Schlüssel- oder auch Kernkategorie erkennbar wird. Sie bildet den Kern der gegenstandsnahen Theorie mittlerer Reichweite (der grounded theory), die das fokussierte Phänomen erklärt und kontextuiert (vgl. Böhm 2009, S. 482). Zentral ist dabei, die entwickelte Theorie kontinuierlich auf Kohärenz hin zu überprüfen. Erst wenn die Theorie gesättigt ist, gelten auch die Datenerhebung und die Datenauswertung als abgeschlossen. Der Prozess der Datenauswertung ist in der Grounded Theory Methodologie erkennbar eng mit einer Theorieentwicklung verbunden. Die beschriebenen drei Prozessschritte des Kodierens werden solange (meist zirkulär, aber nicht notwendigerweise) wiederholt, bis die entwickelte Theorie in sich kohärent ist und auch weitere Datenerhebungen keine Irritationen des Ergebnisses – der gegenstandsnahen Theorie – erwarten lassen. Integratives Basisverfahren Jan Kruse und Christian Schmieder haben im Zuge ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem qualitativ-empirischen Forschen in und mit fremden Sprachen ein integratives Basisverfahren entwickelt. Dieses Verfahren ist »im Grundsatz ein durch eine sozialwissenschaftliche Zielperspektive gerahmtes, gesprächslinguistisches Verfahren« (Kruse und Schmieder 2012a, S. 273). Sie knüpfen damit an Arbeiten von Alfred Schütz zu Common-Sense-Konstruktionen und Problemen des Fremdverstehens (Schütz 1974, 2004), Arbeiten von Karl Mannheim zum dokumentarischen Sinn von Sprache (Mannheim 1980, 2004) sowie von Harold Garfinkel zur Indexikalität von Sprache und dem Anzeigen von Sinn (Garfinkel 1984 [1970]; Garfinkel und Sacks 2004) an. Folglich bilden die dokumentarische Methode und die ethnomethodologische Konversationsanalyse

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die Wurzeln des von Kruse und Schmieder weiterentwickelten Verfahrens (vgl. Kruse und Schmieder 2012a, S. 275). Im integrativen Basisverfahren werden zwei Kernbestandteile des Vorgehens differenziert. Zum einem werden drei zentrale Aufmerksamkeitsebenen unterschieden, mit denen das vorliegende Datenmaterial kontinuierlich beschrieben und analysiert wird: Pragmatik, Syntaktik und (Wort-)Semantik. Nach einer offenen und mikrosprachlich-deskriptiven Analyse unter Beachtung dieser drei Aufmerksamkeitsebenen werden dann in einem zweiten Teil mehrere, aber spezifisch ausgewählte, gegenstandsangemessene methodische Analyseinstrumente zur Untersuchung des Datenmaterials angewendet. Diese »methodischen Analyseheuristiken erlauben einen offenen, sensibilisierten Zugang zu (Interview-)Texten und ermöglichen es, Versprachlichungsprozesse (und damit Verstehensprozesse und Konstruktionen von Welt und Wirklichkeit) datenzentriert zu beobachten« (Kruse und Schmieder 2012a, S. 273).

Kruse und Schmieder knüpfen so an die Formulierung von Kultur als »Ordnung der Dinge in den Köpfen der Menschen« von Ward Goodenough (1957) an. Diese »Ordnung«31 wird über indexikalisierte Sprachhandlungen als (inter-)subjektive Repräsentationen zum Ausdruck gebracht und kann über sprachpragmatische, syntaktische und semantische Analysen rekonstruiert werden. Diese axiomatischen Annahmen bilden die Grundlage des integrativen Basisverfahrens (Kruse und Schmieder 2012a, S. 274). Um ein Auswertungsvorgehen entsprechend des integrativen Basisverfahrens zu verdeutlichen, werden im Folgenden die drei Aufmerksamkeitsebenen (Syntax, Semantik und Pragmatik) in ihrer Bedeutung vorgestellt. Anschließend werden drei Analyseheuristiken (Metaphernanalyse, Positioning-Analyse, Agency-Analyse) vorgestellt, die sich in der Auswertung von Datenmaterial in fremdsprachlichen Kontexten bewährt haben. Wie bereits dargestellt, wird der zu analysierende Text zunächst mikroperspektivisch auf drei Aufmerksamkeitsebenen erschlossen. Auf der Aufmerksamkeitsebene der Syntax beziehungsweise der Syntaktik, 32 werden grammatikalische Besonderheiten des Sprechers herausgefiltert. In Anlehnung an die kognitive Linguistik können syntaktische Analysen verdeutlichen, »wie subjektive

31 Von Kruse und Schmieder wird dies auch verstanden als »semantische Ordnung der Dinge in den Köpfen« (Kruse und Schmieder 2012a, S. 274). 32 Hier allgemein verstanden als die Lehre vom Satzbau oder auch als Vertaktung von Sprache.

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Bedeutungskonstruktionen, mentale Modelle und Repräsentationen strukturiert sind« (Kruse und Schmieder 2012a, S. 278). Im Datenmaterial können so beispielsweise auch Syntaxfehler einer in einer Fremdsprache sprechenden Person daraufhin untersucht werden, inwiefern sie symbolisch vorstrukturierte Sprachfiguren, beispielsweise aus der Muttersprache, überträgt. Auf einer weiteren Aufmerksamkeitsebene wird die von der interviewten Person gewählte (Wort-)Semantik in den Fokus genommen. Dabei interessieren von der interviewten Person verwendete metaphorische Ausdrücke oder auch Veränderungen der Wortwahl der befragten Person im Verlauf des Interviews. Insbesondere bei Daten, die einen Fremdsprachenbezug haben, ist daher auch von Interesse, inwiefern die befragten Personen Code-Switching33 vollziehen, also während des Interviews für ganze Passagen, einzelne Sätze beziehungsweise metaphorische Konstrukte oder auch nur Wörter die Sprache wechseln. Wieder in Anlehnung an die kognitive Linguistik kann die Analyse der metaphorischen beziehungsweise semantischen Wahlen der interviewten Person einen für die Auswertung gewinnbringenden Zugang zu deren Repräsentationen und Deutungsmustern schaffen (vgl. Kruse und Schmieder 2012a, S. 279). Auf der Aufmerksamkeitsebene der Pragmatik wird der Analysefokus auf Interaktionen im Interviewverlauf gelegt. Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei (symbolische) Handlungen wie beispielsweise Drohungen, Fragen und diskursive Selbstpositionierungen. Dabei interessiert zunächst, wie sich die interviewte Person in Bezug zum Interviewer durch Selbst- und Fremdpositionierungen inszeniert. Darüber hinaus interessiert, wie sich die befragte Person auch in Bezug auf weitere narrative Figuren im Interview in Beziehung setzt (vgl. Kruse und Schmieder 2012a, S. 279). Ist der Text über die beschriebenen Aufmerksamkeitsebenen erschlossen, erfolgt eine Entscheidung über weitere Analyseinstrumente. Kruse und Schmieder stellen heraus, dass ein solches Verfahren in dem Sinne voraussetzungsvoll ist, da es von dem Anwender ein relativ umfangreiches Wissen über weitere Analyseheuristiken verlangt, damit er eine gezielte Auswahl treffen kann. Sie verweisen dabei auch auf drei Methoden für rekonstruktive Analysen, die sich in ihrer Forschungspraxis insbesondere in Bezug auf fremdsprachliche Forschungskontexte bewährt haben. Diese drei Analyseinstrumente sind die Metaphernanalyse, die Positioning-Analyse und die Agency-Analyse.

33 Code-Switching kann unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllen, beispielsweise die Bewältigung von Wortfindungsproblemen, das Auffüllen semantischer Lücken, den Ausschluss von Dritten oder auch die Verdeutlichung sozialer Zugehörigkeit (vgl. Resch und Enzenhofer 2012, S. 82).

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Metaphernanalyse Eine vorgeschlagene Analyseheuristik ist die sozialwissenschaftliche Metaphernanalyse, in der sprachliche Konzeptsysteme auf ihre Metaphorizität hin untersucht werden. Unter Metaphorik wird dabei ein Netzwerk von semantischen Gebilden verstanden, in dem durch Analysen Muster identifiziert werden können. Um in einer Metaphernanalyse homologe Muster herausarbeiten zu können, müssen vorzufindende Verweisungszusammenhänge aufgegliedert werden. Zur Anwendung dieser Methode ist ein Sich-Fremd-Machen beziehungsweise eine Überwindung von Alltäglichkeit angeraten, da eine solch distanzierte Herangehensweise für die Wahrnehmung metaphorischer Konstrukte dienlich ist. Dabei heben Kruse und Schmieder hervor, dass insbesondere die Nicht-Familiarität im Kontext fremder Sprachen als Vorteil in der Metaphernanalyse zu werten ist. »Je fremder den Analysierenden dabei die Interviewsprache ist und umso fremder ihnen die metaphorischen Konzepte der Interviewten erscheinen, desto größer ist die Chance, dass den Forschenden Metaphern ›auffallen‹.« (Hervorhebung im Original) (Kruse und Schmieder 2012a, S. 283)

In diesem Sinne raten sie dazu, bei notwendigen Übersetzungen des Datenmaterials Bilder, Idiomatiken, Redensarten und Metaphern möglichst wörtlich zu übersetzen. Insbesondere im Austausch mit Forschungs- und Analysegruppen können so Metaphern erkannt und die Bedeutung ihrer Verwendung im Datenmaterial rekonstruiert werden. Gleichzeitig raten Kruse und Schmider, eine systematische Reflexion der Metaphorik der Muttersprache der Forschenden ebenfalls in die Analyse mit einzubeziehen, um so einer exotisierenden Interpretation des vorliegenden Datenmaterials vorzubeugen. Positioninganalyse Die Grundidee der Positioninganalyse baut auf der Annahme auf, dass mit jedem kommunikativen Akt stets eine Selbst- und eine Fremdpositionierung stattfindet, durch die sowohl eine Beziehungsgestaltung der Kommunizierenden erfolgt als auch ein sozialer Raum reproduziert und konstituiert wird. Dieser Ansatz wurde unter anderem durch die Arbeiten von Paul Watzlawick (Watzlawick et al. 2011) im deutschsprachigen Raum bekannt. Die Positioninganalyse nutzt dabei in einem integrativen Ansatz die Möglichkeiten der Konversations- und der Diskursanalyse, indem sie mikrosprachliche Phänomene (konversationsanalytisch) untersucht, diese aber in Hinblick auf ihre sozialräumliche Funktion (diskursanalytisch) betrachtet.

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»Damit werden einzelne sprachliche Akte stets als Sprachhandlungen und diskursive Praktiken gesehen, die zugleich Hinweise auf die übergeordneten gesellschaftlichen Diskurspraktiken geben – denn sozialer Sinn ist stets beziehungsförmig.« (Hervorhebung im Original) (Kruse und Schmieder 2012a, S. 284)

Dabei werden Beziehungsformen als diskursiv vorgeprägte soziale Positionen im Sozialraum verstanden. Es wird damit davon ausgegangen, dass durch die Analyse sprachlich-kommunikativer Positionierungen sowohl auf mikrologischer als auch auf makrologische Ebene Positionsgefüge rekonstruierbar werden. Bei der Analyse von Datenmaterial aus einem Interview wird dabei sowohl darauf geachtet, wie sich die Teilnehmer der Interviewsituation zueinander positionieren als auch wie sie sich in ihren Erzählungen in Bezug auf weitere Figuren inszenieren. Agency-Analyse Über eine Agency-Analyse ist es möglich, subjektive und soziale Vorstellungen über eine (Nicht-)Beteiligung am Zustandekommen von Ereignissen zu rekonstruieren. Das Konzept Agency ist in der US-amerikanischen Erzähltheorie und Gesprächsforschung prominent geworden und betrachtet Agency als eine kognitive Repräsentation subjektiv angenommener Handlungs- und Wirkmächtigkeit. Die Vorstellungen der jeweiligen Interviewpartner über die Entstehungszusammenhänge (Wer? Wie? Was? Warum?) von Situationen und Ereignissen können so herausgearbeitet werden. Kruse und Schmider sehen in der Agency-Analyse gerade in fremdsprachlichen und fremdkulturellen Forschungszusammenhängen ein geeignetes Instrument, um dem Forschenden eigenen, in der Regel »eurozentristische[n] und anthropozentrische[n] Konzepte[n] von Aktivität und Passivität, vom Zustandekommen von Ereignissen und Folgen etc. einzudämmen« (Kruse und Schmieder 2012a, S. 289).

In der Anwendung der Agency-Analyse wird darauf geachtet, wie beispielsweise aktive, passive und reflektierende Verben, sich selbst oder andere entmächtigende Formulierungen (Deagentivierung) oder spezifische Erzählfiguren verwendet werden. In der Auswertungsstrategie der hier dokumentierten Studie sollte ursprünglich lediglich das Kodierverfahren entsprechend der Grounded Theory Methodologie verwendet werden. Im Auswertungsprozess stellte sich jedoch heraus, dass die drei zu verwendenden Kodierverfahren als Analyseheuristik nicht ausreichend angemessen waren, um dem Erkenntnisinteresse gerecht zu werden und das Potential des mehrsprachig vorliegenden Datenmaterials aufzugreifen.

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Durch die gewinnbringende Triangulation des Kodierens der Grounded Theory Methodologie und dem von Kruse und Schmider vorgeschlagenen integrativen Basisverfahren gelang es, eine konzeptionelle Offenheit in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand als auch eine der Analyse dienliche Verfremdungshaltung zu gewährleisten. Gleichzeitig brachte die Triangulation eine begründete und nachzuvollziehende Struktur in das Auswertungsvorgehen ein. Unter Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsebenen und der vorgeschlagenen Analyseheuristiken des integrativen Basisverfahrens gelang es, ein Kategoriensystem entsprechend der Grounded Theory Methodologie zu entwickeln. Um Auswertungsergebnisse für das spezifische Erkenntnisinteresse erzielen zu können, wurde von der Entwicklung einer finalen Grounded Theory abgesehen. Im Auswertungsprozess wurde besonders deutlich, dass in einem fremdsprachigen und fremdkulturellen Forschungssetting von den Forschenden ein hohes Maß an Selbstreflexivität im Sinne eines »Sich-klar-werdens« über eigene Konzeptsysteme, die man an das untersuchte Phänomen anlegt, notwendig ist.

4.2 M ETHODOLOGISCHE R EFLEXION DES S TUDIENPROZESSES Das Zustandekommen qualitativ-empirischer Forschungsergebnisse wird von einer breiten methodologischen Diskussion begleitet (zur Übersicht Kardorff et al. 2009; Atteslander 2010). Seit des so genannten »reflexiven turnʼs« in der Kulturund Sozialforschung wird der empirische Forschungsprozess, insbesondere der Feldzugang beziehungsweise die Datenerhebung sowie die Datenauswertung, als Teil der Produktion und Reproduktion der sozialen Welt diskutiert (angestoßen z. B. von Geertz 1993). Interviews werden so nicht mehr als uni-direktionaler Prozess verstanden, in dem der Interviewer als neutral gilt und der Interviewte unbeeinflusst von der Interviewsituation auf gestellte Fragen antwortet. Es wird anerkannt, dass die an einem Interview beteiligten Personen mit zentralen Teilen ihrer sozialen Identität (Alter, Geschlecht, Religion, soziales Milieu, Hautfarbe, Sprachkenntnisse, kulturelle Identität) die Datenerhebung prägen, da die Interviewpartner interagieren und dabei sich selbst und sich gegenseitig positionieren. Dementsprechend ist es notwendig, dass Sozialforscher den Einfluss ihrer sozialen Identität und ihrer spezifischen Sichtweisen auf die persönlichen Beziehungen in der Feldarbeit auch aus intersektioneller Perspektive reflektieren (Shinozaki 2012). Entsprechende Einflüsse können im methodologischen Diskurs über das Konzept der Verzerrungen diskutiert werden. Es handelt sich hierbei um Effekte, die aus der Subjektivität des Forschers und des Beforschten entstehen. Zum einen

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besteht die Gefahr, dass Interviewereffekte das Antwortverhalten des Befragten beeinflussen, sodass Antworten entsprechend einer angenommenen sozialen Erwünschtheit ausfallen. Zum anderen, kann es sein, dass Forscher Erklärungsmuster ihrer eigenen Lebenswelt auf die beobachtete Situation übertragen. Diese methodologischen Herausforderungen treffen im Besonderen auf Forschungen im Kontext von Migration zu. Mit der Herausarbeitung eines methodologischen Nationalismus haben Linda Basch, Nina Glick-Schiller und Christina Szaton Blancs (1994) etablierte Forschungspraktiken und Betrachtungsweisen in der Migrationsforschung herausgefordert (siehe Kapitel 2.2). Insbesondere in als transnational oder auch transkulturell zu bezeichnenden Forschungssettings stellen sich Fragen, inwiefern die Datenerhebung durch nationale und sprachliche Rahmungen begrenzt und in der Auswertung von Ethnozentrismus oder postkolonialen Einflüssen geprägt ist. 4.2.1 Datenerhebung und -auswertung im mehrsprachigen Feld Im Studiendesign der vorliegenden Studie wurde bewusst entschieden, dass auch Personen Eingang in das Sample finden sollten, die nicht ausreichend der deutschen Sprache mächtig sind um sich in einer rein deutschsprachigen Interviewsituation zu äußern (siehe Kapitel 4.1.1).34 So bestand für die Interviewten die Möglichkeit, zwischen Deutsch und Türkisch als Interviewsprache zu wählen und auch während des Interviewverlaufs zu wechseln. Mehrsprachiges Datenmaterial war so durchaus erwünscht, um das Sample zu erweitern und den Ausdruckmöglichkeiten der Interviewpartner gerecht zu werden. Aus diesem Zusammenhang heraus stand diese Studie vor der methodischen Herausforderung, Mehr- und Fremdsprachigkeit und damit verbundene Übersetzungsprozesse sowohl in der Datenerhebung, Auswertung und Berichtslegung zu händeln.

34 Auch die befragten Experten betonten, dass sich eine Interviewführung auch auf Türkisch dringend gebiete, da es sonst zu erheblichen Verzerrungen in den Daten käme. So berichtet beispielsweise Frau Schulz von einer Fachveranstaltung zum Thema Alter und Migration und beklagt, dass in einer dort vorgestellten Studie älteren Migranten nicht angeboten wurde, Interviews auch in ihrer jeweiligen Muttersprache zu führen: »Jedenfalls es gab keine muttersprachlichen Interviews. Weil das eben, sie hat dann auch gesagt, dass ist eben auch nicht vorgesehen in den Standards, und damit hast du automatisch auch nur einen Ausschnitt aus den Migrantengruppen. Weil ich denke, es ist schon ein großer Unterschied, oder sagt was aus, ob jemand in der Lage ist, doch auch eine recht anspruchsvolle Befragung in der deutschen Sprache zu verfolgen, oder ob er es nicht kann.« (Frau Schulz, Z. 1297-1304)

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Während der gewählte Weg eine Erweiterung und Erleichterung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die Interviewpartner bedeutete, stellte es mich als Forschende vor sprachlich-kommunikative und erkenntnistheoretische Herausforderungen, da ich muttersprachlich lediglich Deutsch spreche und im Türkischen zwar konversationssicher bin, jedoch keine systematische Sprachausbildung durchlaufen habe. Entsprechend der angebotenen Sprachoptionen lagen schließlich türkischsprachige Transkripte zur Auswertung vor, sodass ich als Forschende in einer mir nicht muttersprachlich vertrauten Sprache arbeiten musste. Zum anderen wurden Interviews (ganz oder auch teilweise) auf Deutsch mit Personen geführt, die nicht muttersprachlich Deutsch sprechen, sodass auch dieser Aspekt der Fremdsprachigkeit in der Datenerhebung als auch -auswertung beachtet werden muss. Es stellen sich aus methodologischer Perspektive die grundsätzlichen Fragen, inwiefern rekonstruktiv-hermeneutisches Fremdverstehen und ein interpretatives Forschungsverständnis in den jeweiligen fremdsprachigen Settings möglich sind und inwiefern ein Forschungsprozess von anfallenden Translationen belastet oder auch bereichert wird. Während der Umgang mit Mehr- und Fremdsprachigkeit in ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Kontexten zwar als Herausforderung, jedoch nur bedingt als Begrenzung von Forschungstätigkeiten verhandelt wird, 35 werden in sozialwissenschaftlichen Disziplinen oftmals die Risiken solcher Forschungssettings betont. Als Gefahr gilt gemeinhin, dass der Forschende einen zu geringen Sprachstand in der notwendigen Fremdsprache hat, sodass es in der Datenauswertung zu Über- und Fehlinterpretation kommt und eine angemessene Analyse (-tiefe) nicht gewährleistet werden kann. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch auch in sozialwissenschaftlichen Kontexten ein konzeptioneller und methodologischer Diskurs über die Grenzen von Verstehen und Erkenntnis im fremdsprachlichen Kontext sowie die Rolle von Translationen in ebendiesem Prozess etabliert (vgl. Cappai 2008; Palenga-Möllenbeck 2009; Kruse und Schmieder 2012b). Bedeutend ist dabei die Betonung, dass sich Problematiken des Fremdverstehens auch nicht im Kontext der eigenen Muttersprache auflösen. Kruse und Schmieder (2012a, S. 271) argumentieren, dass gerade die Fremdheit der Fremdsprache einer rekonstruktiv-hermeneutischen Forschungsstrategie entgegenkomme, denn es erleichtere den Anspruch der konzeptionellen Offenheit des Forschers. Insbesondere semantische, grammatikalische und metaphorische Andersartigkeit unterstütze während der Auswertung eine Fremdheitsannahme oder auch

35 Im Gegenteil: In der Ethnologie mit in ihrem Selbstverständnis als »Wissenschaft des kulturell Fremden« (Kohl 2000) ist gerade auch die Auseinandersetzung mit Fremdsprachigkeit gewollt.

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eine Verfremdungshaltung, die grundlegend für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung ist (siehe Kapitel 4.1.3). Entsprechende erkenntnistheoretische Diskussionen im Kontext mehrsprachiger Forschungssettings sowie Diskussionen um die Rolle von Translationen hängen mit Verschiebungen im Verständnis von Sprache zusammen. Während in der Linguistik Sprache ursprünglich als Abbild von Wirklichkeit konzipiert wurde, haben poststrukturalistische Perspektiven das als einfach angesehene Verhältnis von sprachlichen Zeichen und ihrer Bedeutung in Frage gestellt. Gegenwärtig wird die Konstruktionsfunktion von Sprache, ihr Anteil an der Produktion und Reproduktion der sozialen Welt, betont. Die Begriffe einer Sprache sind somit immer flexibel und relativ in ihrer Bedeutung. Eine gleichartige Entwicklung findet sich in der Translationswissenschaft. Übersetzungen werden nicht mehr in einem engen, normativen und kontrastivem Modell gedeutet, 36 sondern als ein breiter, facettenreicher und dynamischer Prozess in Anlehnung an kultur- und sozialwissenschaftliche Konzepte (vgl. Prunč 2012). Mit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Translationswissenschaft haben sich die Diskussionen zu Translationen weiter verdichtet. Insbesondere die Frage nach machtpolitische Implikationen von Sprache in der Repräsentation fremder Kulturen werden erörtert (vgl. Bachmann-Medick 1997) und dabei auch die (inter- oder auch trans-) kulturelle Expertise von Übersetzern fokussiert.37 Translationen können so nicht als unkomplizierter und lediglich mit organisatorischen Schwierigkeiten behafteter Hilfsdienst in mehrsprachigen Forschungssettings behandelt werden. Jeder sprachlichen Translation wird immer auch eine kulturelle Transferleistung, mit Interpretationen und möglichen Inhaltsverschiebungen und -verlusten zugeschrieben. Aus diesem Zusammenhang heraus fordert Ewa Palenga-Möllenbeck Übersetzungen als Methode in empirischen Forschungsprozessen zu problematisieren (2009). Der zentrale Ansatzpunkt, Mehrsprachigkeit und daran anschließende forschungsrelevante Translationen in empirischen sozialwissenschaftlichen Studien methodisch zu reflektieren, geht im deutschsprachigen Raum von Untersuchungen aus, die die Sichtweisen von Migranten untersuchen. Dabei hat sich, wie Edith Enzenhofer und Katharina Resch (2011, Absatz 4) feststellen, im Kontext der quantitativen Forschungspraxis eine systematische Auseinandersetzung mit Übersetzungsthematiken etabliert. In quantitativen Kontexten werden die geschlos-

36 In denen sich Übersetzer möglichst unsichtbar machen, keine persönlichen Spuren ihrer Arbeit zurückbleiben. 37 Pointiert kann dies wahrscheinlich als »Übersetzung als doing-culture« ausgedrückt werden.

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senen Fragen und vorgegeben Antwortkategorien möglichst in die Muttersprache der Interviewpartner übersetzt. 38 In qualitativen Forschungskontexten hingegen sind beispielsweise durch dynamische Kommunikationsverläufe in der Interviewerhebung die Herausforderungen der sprachlichen Übersetzung für Forschende weniger planbar und kontrollierbar. Palenga-Möllenbeck (2009, S. 9) benennet daher zwei Situationen im qualitativ-empirischen Forschungsprozess, die der Reflexion bedürfen: Zum einen den Moment der Kommunikation, also die Kommunikation im Feld sowie die Interviewerhebung selbst. Zum anderen die Interpretation des Datenmaterials. In der folgenden Reflexion des hier dokumentierten Forschungsprozesses werden diese zwei Aspekte aufgegriffen. In Bezug auf Datenerhebungen werden in der Literatur verschiedene Modelle im Umgang mit Mehrsprachigkeit dargestellt. Je nachdem, ob ein Team oder eine allein arbeitende Person das Forschungsprojekt umsetzt, und je nachdem, ob die Forschenden selbst in den forschungsrelevanten Sprachen versiert sind, wird der Stellenwert und die Rolle von Dolmetschern und mehrsprachigen Interviewern im Forschungsdesign diskutiert. Sind die Forschenden in den forschungsrelevanten Sprachen kommunikationssicher, entfällt beispielsweise die Frage nach Dolmetschern beziehungsweise dem personellen Outsourcen der Datenerhebung. Sind entsprechende sprachliche Kompetenzen nicht vorhanden oder nicht ausreichend, müssen Dritte hinzugezogen und ihre Rolle während der Datenerhebung reflektiert werden.39 In der hier dokumentierten Studie stellte sich die Situation so dar, dass ich als Forschende durchaus auf Türkisch Konversation betreiben und auch einem Interviewverlauf folgen konnte. Während der Formulierung des Leitfadens stellte sich jedoch heraus, dass das von mir verwendete türkische Vokabular oftmals unzureichend war. Darüber hinaus trat bereits bei den ersten Interviewanfragen und Terminabsprachen zutage, dass ich auf Türkisch nicht souverän mit in der Untersuchungsgruppe gängigen Höflichkeitsfloskeln umgehen konnte, sodass ich bei den Gesprächspartnern Irritationen auslöste. Auch als Reaktion auf diese Situation band ich den Studenten Sami Kılıç in die Datenerhebung ein. Er begleitete die finale Formulierung des Interviewleitfadens und nahm in den Interviews, die

38 So gehören zum gegenwärtigen State-of-the-Art beispielsweise Methoden wie back translations, committee aproaches, bilingual techniques, think aloud-Techniken und das Methodenset Translation and Assessment Methodology (TRAPD). Helen BaykaraKrumme (2012) diskutiert darüber hinaus die Frage, ob koethnische und bilinguale Interviewer in quantitativen Erhebungen die Ausschöpfungsquote beeinflussen. 39 Einflüsse eines Dolmetschers auf die Situation der Datenerhebung werden als »Interpreter Effect« diskutiert, beispielsweise von Birgit Jentsch (1998).

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mehrheitlich auf Türkisch geführt wurden, eine zentrale Rolle ein (siehe Kapitel 4.1.1). Dabei fungierte er nicht (nur) als Dolmetscher, sondern trat als Interviewer auf, so dass wir als Team wahrgenommen wurden. Derjenige von uns, der vom jeweiligen Interviewpartner hauptsächlich angesprochen wurde, übernahm die Federführung im Interviewverlauf. Bei sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten (verursacht beispielsweise durch Code-Switching der Interviewpartner) konnten wir uns gegenseitig weiterhelfen. Schließlich transkribierte er die türkischsprachigen Anteile der Interviews. Ohne die Einbindung eines türkischsprachigen Muttersprachlers, wäre eine türkischsprachige Datenerhebung für mich nicht zu bewältigen gewesen. Im Prozess der Datenanalyse zeigte sich jedoch, dass ich als Forschende von meinen, wenn auch begrenzten, Türkischkenntnissen erheblich profitieren konnte. Ich konnte mit den Transkripten in ihrer jeweiligen Originalsprache arbeiten, sodass keine vollständigen Übersetzungen angefertigt werden mussten. Entsprechend der von Kruse und Schmieder (2012a) angeführten Argumentation, begünstigte gerade die Fremdsprachigkeit (entweder meiner eigenen in den türkischsprachigen Interviews, oder die der Interviewpartner in den deutschsprachigen), das Identifizieren von sozial-kulturellen Sinnstrukturen während der Analyse. Für die deutschsprachige Berichtslegung wurde als Strategie gewählt, die angeführten türkischsprachigen Interviewausschnitte zunächst in deutscher Übersetzung anzuführen und anschließend direkt das türkischsprachige Original anzufügen. Somit sollten sowohl der deutschen als auch der türkischen Sprache Mächtige, die Möglichkeit haben, die bei der Analysedarstellung die verwendeten Übersetzungen nachzuvollziehen. Während des Umsetzungsprozesses zeigte sich jedoch, dass gerade die für die Berichtslegung notwendigen Übersetzungen den Analyseprozess weiter vorantrieben. Im Übersetzungsprozess wurde deutlich, wie von Palenga-Möllenbeck (2009) beschrieben, dass Übersetzungen als Form von Notizen während der Auswertung keinen ästhetischen oder sprachökonomischen Ansprüchen genügen müssen. Je stärker es jedoch zum Prozess der Berichtslegung und Aufbereitung zur Veröffentlichung kam, umso stärker musste auch die Perspektive der Rezipienten berücksichtigt werden. Um qualitativen und ästhetischen Ansprüchen von Übersetzungen in einem solchen Kontext gerecht zu werden, musste ich die Unterstützung von erfahrenen Übersetzern einholen. In Kooperation mit Beate Klammt wurde, wie bereits dargestellt, die Methode des sequenziellen Übersetzens (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008, S. 308 f.) angewandt. Das bedeutet, dass die für die Berichtslegung relevanten Interviewausschnitte translativ aufgearbeitet wurden. Entsprechend einer Orientierung an der Skopos-Theorie (vgl. Reiß und Vermeer 1984; Enzenhofer und Resch 2011;

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Wettemann 2012) wurde eine möglichst dokumentarischen Übersetzung (vgl. Wettemann 2012, S. 110) angestrebt, bei der, waren Äquivalenz und Adäquatheit der Übersetzung nicht in gleichem Maße zu erfüllen, der Adäquatheit der Vorzug gegeben wurde (siehe Kapitel 4.1.2).40 Obwohl die mit den Translationen zusammenhängenden Arbeitsschritte die Datenauswertung erheblich komplexer und zeitlich umfangreicher machten, trugen gerade sie zu einem Erkenntnisgewinn bei.41 Die Suche nach für die Veröffentlichung angemessenen Übersetzungen förderte das zirkuläre Ineinandergreifen von Auswertung und Berichtslegung. Die Übersetzung entwickelte sich so zu einer erkenntnisfördernden Methode in der Datenauswertung, da sowohl mit den unterstützenden Übersetzern als auch in Forschungskolloquien und mit weiteren Gesprächspartnern erläutert werden musste, aus welchen Zusammenhängen heraus sich die Interviewpartner sprachlich so

40 Ein Beispiel, wie Übersetzungen in dieser Studie auf einem schmalen Grat Adäquatheit und Äquivalenz, zwischen Pragmatik und transreligiöser Interpretation beziehungsweise schon Neukonzipierung balancieren, kann am Beispiel des deutschen Wortes »beten« und des türkischen Ausdrucks »kuran okumak« illustriert werden. In den türkischsprachigen Interviews verwenden die Interviewpartner mehrheitlich den Ausdruck »kuran okumak«, was wörtlich mit »den Koran lesen« übersetzt werden kann. Die Tätigkeit des Koran Rezitierens, das Vortragen von Koransuren, gilt im Islam selbst als Gebet, was somit eine andere Bewertung erfährt als das Lesen aus der Bibel im Christentum. Darüber hinaus kennt auch der Islam freie Gebete, auf Türkisch »dua« sowie die Namaz-Gebete, die fünf Pflichtgebete gläubiger Muslime. In deutschen Übersetzungen wird der Ausdruck des »Koranlesens« häufig direkt mit »beten« übersetzt, was bereits eine Interpretations- beziehungsweise eine religiös-kulturelle Transferleistung beinhaltet (siehe auch Kapitel 5.3.3). 41 So fassen auch Kruse et al. von ihnen untersuchte Erfahrungswerte in Bezug auf qualitative Interviewforschung im Fremdsprachenkontext zusammen: »Im Vergleich zu anderen Forschungssettings ist es nochmals wichtiger, ein Mehr an Ressourcen wie Geld, Zeit, Kompetenzen und Beziehungen einzuplanen. Es wird mehr Zeit beziehungsweise Geld für die Transkriptionen benötigt, es bedarf interkultureller und bilingualer Teamarbeit bei Erhebung und Auswertung, es werden unter Umständen Dolmetscher /innen erforderlich, die bezahlt werden müssen etc. Ein Mehr an Zeit sollte eingeplant werden um Fehler machen zu können, zum Lernen und Anpassen und als Gabe, die den Zugang zum Feld eröffnen kann. […] Eine Befragte fasst dies in einer Faustregel zusammen: ›Immer mindestens doppelte Zeit für ALLE Arbeitsschritte einplanen‹.« (Hervorhebung im Original) (2012, S. 52) All diese Punkte können von mir bestätigt werden.

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»wenig nachvollziehbar« ausdrücken. Gerade dieser von Übersetzungs- und Verständnisschwierigkeiten initiierte Gesprächsprozess förderte gewünschte Abstraktionsprozesse in der Analyse. Wie sich an Übersetzungsschwierigkeiten sowohl semantische als auch, und wie in dieser Studie gesuchte, strukturelle, soziale und kulturelle Unterschiedlichkeiten kristallisieren, die Rückschlüsse auf die in den jeweiligen Sprach- und Sozialräumen dominante Konstruktionen von sozialer Wirklichkeit geben, veranschaulichen die Begriffe »Pflege« und »bakım« (siehe Kapitel 5.3.2). Auch wenn diese Studie keine sprach- und translationswissenschaftlichen Perspektiven verfolgte, zeigte sich, dass Übersetzungsentscheidungen in mehrsprachigen Forschungsfeldern eine Ergebnisrelevanz haben. In diesem Sinne kann sowohl die von Kruse und Schmieder (2012a, S. 273) angeführte Argumentation, dass Sozialwissenschaftler sich in Analyseprozessen immer auch als Sprachwissenschaftler verhalten müssen, bestätigt werden, als auch die Forderung von Palenga-Möllenbeck (2009), Übersetzung als Methode in sozialwissenschaftlichen qualitativen Forschungsprozessen (weiter) zu theoretisieren. Doch nicht nur die Mehrsprachigkeit prägte die Umsetzung dieses Forschungsvorhabens erheblich. Auch die Person der Forschenden hatte einen erheblichen Einfluss auf die Datenerhebung, wie im folgenden Abschnitt weiter ausgeführt wird. 4.2.2 Die Rolle der Forschenden im transnationalen Forschungssetting Nicht nur die Mehrsprachigkeit prägte den hier dokumentierten Forschungsprozess, sondern auch an die Herkunft der Forschenden geknüpfte Selbst- und Fremdzuschreibungen. Wie bereits angemerkt, sind nationale, kulturelle und religiöse Einbindungen des Forschers ebenso relevante Einflussfaktoren auf den einen Forschungsprozess begleitenden Erkenntnisgewinn wie das Alter der beteiligten Personen. Dabei stehen die von Forschenden finalen Fremdbeschreibungen des Forschungsobjektes beziehungsweise der Untersuchungsgruppe immer im Zusammenhang mit Selbstbeschreibungen und eigenen Normalitätsmaßstäben. Gleichzeitig fordert die Person des Forschers auch das Untersuchungsfeld heraus, sodass Interviewpartner sich aufgrund eigener Zuschreibungen beziehungsweise daraus resultierenden Erwartungen auf bestimmte Weise im Forschungssetting inszenieren. In der hier dokumentierten Studie zeigte sich während des Feldzugangs und insbesondere während der Datenerhebung, dass sich Selbst- und Fremdbeschreibung von mir als Forschender und den befragten Vertretern der Untersuchungs-

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gruppe nicht reibungsfrei aneinander anschlossen. Im Folgenden werden zur Veranschaulichung ausgewählte, repräsentative Situationen aus dem Prozess der Datenerhebung angeführt. Um die Rolle der hier agierenden Forschenden im transnationalen Forschungssetting zu reflektieren, boten sich insbesondere Positioninganalysen an (siehe Kapitel 4.1.3). So konnten aus den die Datenerhebung begleitenden Irritationen in der Konversation bereits Erkenntnisse bezüglich der gesellschaftlichen Diskurspraktiken der Interviewpartner abgeleitet werden, die im weiteren Analyseprozess berücksichtigt wurden. Markant am Prozess der Interviewerhebung war, dass die Interviewpartner die mich als Forschende manchmal direkt, manchmal indirekt zu Aussagen über Deutschland und die Türkei im Allgemeinen sowie die Rolle der türkeistämmigen Migranten in Deutschland im Besonderen aufforderten. Dies fand mehrheitlich vor dem eigentlichen Interview, im Kontext von erzählten Episoden aus der immer mehr als 30 Jahre umfassenden Migrationserfahrung, statt. Manche der Interviewpartner nutzten die Situation, um über viele Jahre zurückliegende kränkende Erfahrungen in Deutschland beziehungsweise mit Deutschen zu berichten. Ihre Ausführungen waren dabei in einem (an-)klagenden Duktus formuliert. Andere Interviewpartner betonten auffällig angenommene Vorzüge Deutschlands und gute Erfahrungen, die sie mit Deutschen gemacht haben. Ich als Forschende fühlte mich von den Interviewpartnern in eine Deutschland, die Deutschen und das Deutsche repräsentierende Position gedrängt und zu Stellungnahmen gezwungen. In an die Datenerhebungen jeweils anschließenden Reflexionen fanden sich Hinweise, dass die Interviewpartner zu Beginn des Kontaktes eine Positionierung der Forschenden einfordern wollten, um die Forschende selbst sowie die anschließende Interviewsituation einschätzen zu können.42 Dabei setzte sich in den meisten Interviews die von den Interviewten vorgenommene Positionierung der Forschenden als Repräsentantin für Deutschland beziehungsweise das Deutsche fort. Erzählungen und Explorationen stimulierende naive Nachfragen der Forschenden nutzten die Interviewpartner immer wieder zur Selbstdarstellung gegenüber »einer Deutschen«. Im Kontrast dazu positionierten sich die Interviewpartner sowohl als Repräsentanten der Türkei, des Türkischen, der Türken als auch des Islams beziehungsweise der Muslime. Durch diese fortwährenden Abgrenzungen entstand eine Polarisierung zwischen mir als aus Deutschland kommenden (aber zum Zeitpunkt der Interviewführung in Migration

42 Von einer ähnlichen Situation berichtet Kyoko Shinozaki (2012). Aus Japan stammend, befragte sie Personen von den Philippinen zu ihrer Migrationssituation in Deutschland. Dabei wurde sie teilweise vor den Interviews von ihren Gesprächspartnern auf ihre Positionierung zur japanischen Kolonialgeschichte auf den Philippinen geprüft.

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lebenden)43 Forscherin und den türkeistämmigen Interviewpartnern. Durch die zwischenzeitliche Anwesenheit des die Datenerhebung unterstützenden Studenten (siehe Kapitel 4.1.1) wurden Fremdbeschreibungen und Positionierungen der Interviewpartner noch offensichtlicher. Dies kann an zwei exemplarischen Ausschnitten aus dem Interview mit Kemal Koyun veranschaulicht werden. Während Kemal Koyun auf eine von Sami Kılıç gestellte Frage antwortet, spricht er mir Kenntnisse über die muslimische Glaubenspraxis ab: »Beispielsweise, schau, als ich noch rüstig war, bin ich zwei Mal zur Hadsch gefahren, ich zum Beispiel. Ich bin einundneunzig und zweitausendvier zur Hadsch gefahren zum Beispiel. Wenn ich jetzt alleine gehen würde, zur Hadsch, zur Umre ginge beispielsweise, das Kind kennt es nicht, zur Umre ginge […] hinfiele und nicht mehr aufstehen könnte, ich könnte nicht Hallo sagen. Denn mit der Familie ist es anders als alleine. Stimmt, nicht wahr? Das Kind versteht das beispielsweise nicht, naja.« »Mesela, bak, sağlam olduğunda iki sefer hacıya gittim geldim ben mesela. Doksanbirʼde iki bin dört’te hacıya gittim geldim mesela. Şimdi ben gitsem kendi başıma, hacıya umreye gitsem mesela, çocuk bilmiyor, umreye gitsem, […] düşüp kalkamam ben, merhaba diyemem. Çünkü aileyle başka, bekâr başka. Doğru, değil mi? Yani mesela çocuk anlamıyor bunları yani.« (Kemal Koyun, Z. 1725-1728)

Kemal Koyun geht davon aus, dass ich als aus Deutschland Stammende – und hier von ihm als »Kind« (çocuk) bezeichnet – keinerlei Kenntnis über die Hadsch und die Umre haben kann. Er fragt auch nicht nach, ob ich, die ich ja im Interview genau vor ihm saß, die Hadsch oder sie begleitende Bedingungen kenne beziehungsweise ob er mir diese erläutern solle. Er setzt eine Nichtkenntnis und ein Nichtverstehen voraus. An anderer Stelle im Interview spricht er mir – wieder als Kind (çocuk) bezeichnet – Wissen zu: »Wir sind zur Kur geschickt worden, das Kind beispielsweise weiß das. Ich ging zu Kur einundneunzig. Nachdem ich zur Dings gegangen war, nach der Verrentung.« »Kur deyiveriyoruz, çocuk mesela biliyor. Gittim Kur’a ben doksanbir’de şeye gittikten sonra, emekli olduktan sonra.« (Kemal Koyun, Z. 1809-1810)

Kemal Koyun geht selbstverständlich davon aus, dass Sami Kılıç weiß, wie die Bedingungen auf der Hadsch und Umre sind, jedoch nicht die Bedingungen eines Kuraufenthaltes in Deutschland kennt. Daher verweist er für mögliche Nachfragen

43 Eine Ausnahme bildet das Interview mit Duygu Cicek, welches in Deutschland stattfand.

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an mich, denn bei mir setzt er ein entsprechendes Wissen voraus – ohne zu wissen, ob ich Kenntnisse über Kuraufenthalten habe. Aus solchen durch die Interviewpartner vorgenommenen Positionierungen der Forschenden wird ersichtlich, dass sie von unterschiedlichen Wissenssphären, von unterschiedlich zugeschnittenen Mitwisserschaften (Herrmanns 2009) ausgehen. Dabei verläuft eine so kommunizierte Grenzziehung zwischen Angehörigen der Nationalstaaten Türkei und Deutschland, die sich auch in essentialistischer kultureller und religiöser Unterschiedlichkeit beziehungsweise Wissen über die jeweiligen Eigenheiten niederschlägt. In den Interviewsituationen, in denen ich von Sami Kılıç unterstützt wurde, positionierten sich die Interviewpartner so als mit beiden Seiten der angenommenen Grenze vertraut, sie inszenierten sich als Kenner, jedoch ohne sich eine hybride Identität zuzuschreiben. Dichotomisierende Abgrenzungen blieben in der gesamten Datenerhebung konstant bestehen. Jenseits dieser national-kulturellen und religiösen Zuschreibungen flossen Bewertungen von Aspekten des Sozialstatus der Forschenden in die Datenerhebung ein. Ebenso wie die Interviewpartner vor Beginn des Interviews eine inhaltliche Positionierung zu Deutschland und der Türkei einforderten, erkundigten sie sich nach meinem Familienstand und meiner Wohnsituation – jedoch nicht bei Sami Kılıç.44 Auch dies schien ihnen wichtiges Kontextwissen zu sein um die anschließende Interviewsituation einschätzen zu können. Eine darauf folgende sozialhierarchische Einstufung zeigte sich in der weiteren Anrede. Wie bereits im Interviewausschnitt von Kemal Koyun deutlich wird, wurde ich als Forschende in türkischsprachigen Interviews nicht mit meinem (Vor- oder Nach-)Namen oder anderen respektvollen Bezeichnungen45 angesprochen, sondern mit »çocuk«, übersetzt bedeutet es »Kind«, oder auch »kız«, was im Türkischen sowohl für »Mädchen« als auch »Tochter« verwendet wird. Dies ist ebenfalls, wie die Aufforderung zur Positionierung, als ein Ausdruck des Feldes zu deuten. Dabei werden sozial-kulturelle Altersbilder sichtbar. Altersunterschiede zwischen den Interviewpartnern und mir als Forschender sowie die Einschätzung zu von mir überwundenen Statuspassagen wurden in soziale Hierarchien übersetzt, die in der

44 Gender-Aspekte, die in der Datenerhebung ebenfalls eine Rolle gespielt haben, werden hier nicht weiter ausgeführt. 45 Als Beispiel kann der Begriff »hoca« genannt werden. »Hoca« ist eine alte, aus dem Religiösen stammende Ansprache für Lehrer, der auch für an Universitäten Lehrende verwendet wird. Ein anderer Begriff wäre »canım«, welcher eine sehr weit verbreitet persönliche Anrede ist. Wörtlich übersetzt heißt es »meine Seele« und findet seine Entsprechung im Deutschen in »meine Liebe« als Anrede im persönlichen Gespräch.

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Interviewsituation bestimmend waren. Nicht der formale Status als im universitären Kontext Forschende bestimmte die Situation, sondern meine Position als junge, unverheiratete (und damit selbstverständlich kinderlose) Frau, für die in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft die Ausdrücke »çocuk« oder auch »kız« verwendet werden. Die Tatsachen, dass ich älter als Sami Kılıç war, er als mein Assistent vorgestellt wurde und dass ich während der Interviews einen möglichst professionellen Habitus präsentierte, veränderten an meiner Positionierung als »çocuk« oder auch »kız« nichts. In den deutschsprachigen Interviews, die ich ohne Sami Kılıç durchführte, wurde ich entsprechend meines Angebotes geduzt, jedoch immer mit meinem Namen angesprochen – egal ob die Interviews in Deutschland oder der Türkei stattfanden.46 In einer Reflexion zeigt sich, dass die Positionierungen der Forschenden durch die Interviewpartner zwar für diese schwer auszuhalten waren,47 jedoch einen Blick auf bestehende und reproduzierte Abgrenzungskonzepte der Interviewpartner eröffneten. Es erwies sich als vorteilhaft, während der Interviewführung die von den Interviewpartnern vorgenommen Zuschreibungen aufzugreifen. Gerade in den im Team geführten Interviews konnten Mitwisser-Positionierungen so leicht hinterfragt werden. Sami Kılıç hakte während der Interviews bei Situationsbeschreibungen und -bewertungen im deutschen und ich in türkischen Kontexten nach. In diesem Sinne wirkte insbesondere die gemeinsame Interviewführung positiv auf die Datenerhebung, da die Interviewpartner immer wieder zum Erklären aufgefordert waren: der »Deutschen« erklärten sie »die Türkei«, dem »Türken« »Deutschland«. In einer abschließenden Reflexion zur Rolle der Forschenden in einem transnationalen Forschungssetting kann festgehalten werden, dass Sami Kılıç und ich als Forschende die Datenerhebung durch an unsere nationalkulturelle oder auch ethnische Herkunft sowie den Sozialstatus geknüpfte Zuschreibungen erheblich beeinflusst haben. Dabei hilft die Beschreibung von Harry Herrmanns (2009, S.

46 Inwiefern auf dies auf die machtpolitische Dimensionen im Verhältnis von Muttersprache – Fremdsprache, Deutsch – Türkisch, Sprache des Migrationslandes etc. zurückführbar ist beziehungsweise was es darüber aussagt, kann in dieser Studie nicht verfolgt werden. 47 Ich empfand es als belastend, dass ich, die ich doch als Forschende die Lebenswirklichkeit der Interviewpartner verstehen wollte, mich von ihnen als nicht als ausreichend kompetent eingeschätzt sowie respektiert gefühlt habe. Für den aus dem kurdischen Kontext stammenden Sami Kılıç war bedeutend, ob die Interviewpartner ihn mir gegenüber als der Türkei zugehörig positionierten, oder ihn gerade wegen seiner (vermuteten) kurdischen Herkunft ausgrenzten (siehe das Porträt von bei Riza Ateş).

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363 f.), ein Interview als Personen erschaffendes Drama zu begreifen. Demnach nehmen sowohl Interviewte als auch Interviewer während des Interviews Rollen ein, die sie auszufüllen haben. Es zeigt sich, dass das Ungleichheitsverhältnis, in dem eine gesellschaftliche Mehrheit über eine Minderheit spricht, in der Forschungssituation nicht außer Kraft gesetzt war. Differente Milieuzugehörigkeiten, gesellschaftlicher Status, Lebensalter, familiäre und außerfamiliäre Erfahrungen sowie unterschiedliche formelle und informelle Rahmungen beeinflussten die Kommunikation zwischen den Interviewten und mir als Interviewerin.

4.3 R EFLEXION DES S TUDIENVERLAUFES UND E MPFEHLUNGEN FÜR FOLGENDE U NTERSUCHUNGEN Als empirischer Beitrag in diesem Forschungsvorhaben wurde Daten erhoben und ausgewertet, die es erlaubten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten zu rekonstruieren und im Kontext der Diskurse um Alter(n), Migration, Kultur und Religion zu positionieren. In einer abschließenden Reflexion des Studienverlaufes kann festgehalten werden, dass die hier dokumentierte empirische Studie sich vorrangig am Kanon der klassischen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden orientierte. Durch die in einer ersten Phase erhobenen Experteninterviews konnte relevantes Kontextwissen gewonnen werden, dass insbesondere bei der Interviewerhebung mit älteren türkeistämmigen Pendelmigranten dienlich war und zur Analyse ebenjener Interviews beitrug. Die Motivation, die Datenerhebung in zwei Ländern und mehrsprachig durchzuführen, speiste sich aus dem Anspruch, keinen methodologischen Nationalismus (vgl. Glick-Schiller et al. 1994) in dieser Migranten betreffenden Studie zu reproduzieren. Der angenommenen Transnationalität der Untersuchungsgruppe sollte durch ein transnationales Setting entsprochen werden. Dies wurde von mir zunächst vor allem als organisatorische Herausforderung angesehen, jedoch mit Erwartungen an Qualitätsvorteile der erhobenen Daten verbunden. Entsprechend der verfolgten Fragestellung nach Alter(n)s- und Versorgungserwartungen stand zunächst die Frage im Fokus der methodischen Überlegung, wie die sensiblen Themen Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Sterben und Glauben im Kontext von Alter(n) und Versorgung angesprochen werden könnten. Während die Erhebung der Experteninterviews den Erwartungen entsprechend unproblematisch verlief, war ich im Feld der Untersuchungsgruppe irritiert, dass die Interviewpartner scheinbar ausführlich über Abgrenzungen zwischen dem sprachen, was sie als »deutsch« und »christlich« sowie »türkisch« und »muslimisch« verstanden. Ausführungen zu ihrem Erleben von Alter und Altern sowie

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Überlegungen zu Versorgungsoptionen nahmen im Vergleich einen geringeren Anteil in den Interviewverläufen ein. Eine Kommunikation über Altern sowie über Pläne zur Lebensphase Alter waren sie scheinbar nicht gewohnt. Diese Verschiebung in den Interviewschwerpunkten veranlasste mich die Rolle meiner Person (und des unterstützenden Sami Kılıç) im Feld zu reflektieren sowie die Positionierungen der Interviewpartner als ergebnisrelevanten Ausdruck des Feldes in der Datenauswertung zu berücksichtigen. Darüber hinaus zeigte sich in der Datenauswertung, dass die Mehrsprachigkeit nicht nur organisatorische Probleme in den Forschungsprozess einbrachte, sondern die ihr anhängenden Übersetzungen durchaus als erkenntniserzeugende Auswertungsmethode fungieren können. Insbesondere durch semantische Lücken verursachte Übersetzungsschwierigkeiten ließen Rückschlüsse auf kulturell unterschiedliche Verständnisse von sozialrelevanten Konstruktionen der Wirklichkeit zu. Aus den Erfahrungen dieses Studienverlaufes kann festgehalten werden, dass die Mehrsprachigkeit lediglich eine unter weiteren Herausforderungen in transnationalen Forschungssettings ist, da auch lokale, kulturelle und religiöse »Grenzüberschreitungen« nicht punktuell stattfanden, sondern den gesamten Forschungsprozess durchzogen. So kann Borgusia Temple und Rosalind Edwards zugestimmt werden, wenn sie formulieren: »Much cross-language research is an attempt at border writing, and the identities and definitions of concepts used to cross borders and discuss difference and commonality form part of, and shape, the final research product.« (2002, S. 19)

Zusammenfassend ist daher zu konstatieren, dass gerade das transnationale Setting den Erkenntnisgewinn positiv beeinflusst hat. Ich als Forschende musste dabei teilweise meine comfort zone verlassen und Unsicherheiten in Bezug auf meine Sprachkompetenz sowie durch die Interviewteilnehmer vorgenommenen Positionierungen aushalten. Gerade aus dieser Erfahrung erscheint es sinnvoll, für die Planung weiterer Forschungsvorhaben zu Themen von Alter(n) und Versorgung in kultur- und religionsübergreifenden Fragestellungen (ob mit oder ohne Migrationsaspekten) ethnographisch orientierte Forschungsmethoden als Option in Erwägung zu ziehen. Forschungsmethoden wie die Multisited Ethnography (Marcus 1995) oder die ethnographische Lebensweltanalyse (Honer 1993) werden wahrscheinlich Untersuchungsgruppen gerechter, die bisher nur bedingt über Alter(n)s- und Versorgungserwartungen kommunizieren. Neben dem Interview kann daher die Verwendung weiterer Erhebungsmethoden angeraten sein. Darüber binden ethnographisch orientierte Methoden die Subjektivität, die nationalen Einbindungen,

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soziale Identitäten und Perspektiven der Forschenden strategisch in Forschungsprozesse ein. Denn auch in den Ergebnissen dieser Studie verdeutlicht sich, dass Fremdbeschreibung immer gleichzeitig auch Selbstbeschreibung ist. Dies zeigt sich zum einen in der Untersuchungsgruppe, die durch die Entrüstung über beobachtete Einsamkeit deutscher Älterer offenlegt, dass Altern dann als positiv bewertet wird, wenn es das Gegenteil von Einsamkeit ist (siehe Kapitel 5.3.1). Zum anderen zeigt sich, dass für aus dem deutschsprachigen Kontext Kommende die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der untersuchten älteren Türkeistämmigen erst dann an Kontur gewinnen, wenn man sie in Beziehung zum Aktivierungsdiskurs des Alters setzt (siehe Kapitel 5.4.2). So kann am Ende dieses Forschungsprozesses das qualitative Forschungsparadigma bestätigt werden: »Nimmt man gesellschaftliche Phänomene ernst, will sie in ihrer sozialen Dynamik verstehen und möchte für Neues empfänglich sein, so zeigt sich erst im Forschungsverlauf welche Fragen überhaupt sinnvoll gestellt werden können und erst am Ende weiß man, auf welche Fragen eine Studie eine Antwort zu geben vermag.« (Lueger 2000, S. 51)

Aufgrund der strukturellen Begrenzungen einer Qualifizierungsarbeit musste diese Studie in einigen Punkten explorativ bleiben. Jedoch hat sich gezeigt, dass es gerade in den Themenfeldern von Alter(n) als auch Alter(n) und Migration sinnvoll ist, transnationale Forschungssettings aufzugreifen. Um methodologische Nationalismen auch in der Alter(n)sforschung aufzubrechen ist es auch (primär) klassisch-sozialwissenschaftlich ausgebildeten Forschern zu empfehlen, Sprachen jenseits der wissenschaftlichen Verkehrssprachen zu erlernen und die eigenen kulturellen Selbst- und Fremdbeschreibungen zu reflektieren. Denn, um eine Forderung von Cappai (2008) aufzugreifen, bietet erst das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen die Möglichkeit, sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenständen in globalen Dimensionen adäquat begegnen zu können.

5. Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten

Im gerontologischen Diskurs wird Alter als eine relationale Kategorie verhandelt. An dieser Perspektive anknüpfend wird der Prozess des Alterns unter anderem in biologisch-körperlichen, psychisch-individuellen, sozial-strukturell und sozialkulturellen Dimensionen – und dies auch im historischen Prozess – diskutiert. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist von besonderem Interesse wie die benannten Dimensionen von Alter und Altern interagieren und wie Zusammenhänge zwischen ihnen konstruiert werden. Die Heuristiken der Alter(n)sbilder beziehungsweise Alter(n)serwartungen dienen in diesem Diskurs dazu, unterschiedliche Muster von konstruierten Zusammenhängen von Alter und Altern zu unterscheiden. Dabei können die Betrachtungsebenen der beschriebenen Alter(n)sbilder beziehungsweise -erwartungen entsprechend der disziplinären Perspektiven erheblich variieren (siehe Kapitel 2.1). Versorgungserwartung, also wie Personen mit Unterstützungs-, Hilfe- oder auch Pflegebedarf im Alter als angemessen versorgt gelten, spiegeln darüber hinaus eine soziale, kulturelle und religiöse Einbettung des Alter(n)s in der Gesellschaft wieder. Bei einer Analyse von narrativem Interviewmaterial in Hinblick auf Alter(n)sund Versorgungserwartungen richtet sich das Augenmerk auf Konstruktionen von Alter(n) und angemessener Versorgung im Altern, wie es die Gesprächspartner kommunizieren. Dabei drücken Gesprächspartner in einem Interview gleichzeitig sowohl individuell als auch sozial-strukturell und sozial-kulturell geprägte Alter(n)s- und Versorgungserwartungen aus. Es ist Aufgabe des Analyseprozesses, begründete Differenzierungen zwischen verschiedenen Ebenen und Dimensionen im Datenmaterial zu ziehen. Dabei wird rekonstruiert, welchen Stellenwert die

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Befragten beispielsweise körperlichen Veränderungen (z. B. als Indikator von Alterungsprozessen), erfahrenen oder antizipierten sozialen Statuspassagen sowie eigenen Einflussmöglichkeiten auf Alternsprozesse (im Sinne von Selbstwirksamkeit oder auch agency) zuschreiben und welche Interrelationen sie zwischen Alter(n) und weiteren sozialen Kategorien herstellen. Insbesondere im Kontext der Rekonstruktion von Alter(n)sbildern können auch Narrative interessieren, die Personen beispielsweise zur Legitimation eigener Positionierungen heranziehen. Entsprechend der verfolgten Fragestellung wird im Analyseprozess beispielsweise eine individuelle, sozial-strukturelle oder auch sozial-kulturell bedingte Ebene von Alter(n)sbilder beziehungsweise -erwartungen vertieft ausgearbeitet. Gleich erfolgt für die kommunizierten Versorgungserwartungen. Welche Möglichkeiten und Grenzen werden mit dem Alter(n) verbunden und welche Personen oder sozialen Einheiten wird eine Fürsorgeverantwortung zugeschrieben? Im Folgenden wird eine Auswahl von zentralen Analyseergebnissen präsentiert , die für die untersuchte Gruppe charakteristisch und für die Diskussion um Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion relevant sind. Die Untergliederung der Ergebnisse greift die Muster und die der Narrative inhärenten Ordnungen aus dem empirischen Material auf und führt sie mit dem Erkenntnisinteresse dieser Studie zusammen. Dabei gliedert sich die Darstellung der Ergebnisse über drei Abschnitte auf. In einem ersten Abschnitt werden zentrale Aspekte der rekonstruierbaren Alter(n)serwartungen dargestellt und in einem Zwischenfazit zusammengefasst. In einem zweiten Abschnitt werden die aus dem Datenmaterial rekonstruierbaren Versorgungserwartungen vorgestellt und ebenfalls abschließend zusammengefasst. Ein dritter Abschnitt fokussiert Besonderheiten auf, die sich aus der Situation des Pendelns ergeben und stellt einen Bezug zu den rekonstruierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen her. Dabei interessiert insbesondere, inwiefern ältere türkeistämmige Pendelmigranten bei sich selbst transformative Prozesse beobachten und inwiefern aus distanzierter Perspektive entsprechende Prozesse aus dem Datenmaterial herausgelesen werden können. Um dem Leser auch einen Einblick in die Biographien der Gesprächspartner sowie die Interviewverläufe zu ermöglichen, sind den Analyseergebnissen zunächst zusammengefasste Porträts der Gesprächspartner sowie einige Informationen zum Interviewkontext vorangestellt.

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5.1 V ORSTELLUNG DER I NTERVIEWPARTNER Im Fokus dieser Untersuchung stehen fallübergreifende Konstanten, die Rückschlüsse auf verallgemeinerbare Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in der Untersuchungsgruppe ermöglichen. Um den Lesern dennoch einen Einblick in die Biographien der Interviewpartner sowie Interviewsituationen zu ermöglichen, finden sich im Folgenden zusammengefasste Porträts der Gesprächspartner sowie einige informative Aspekte des Interviewkontextes. Duygu Çiçek Duygu Çiçek ist die Älteste von drei Schwestern und drei weiteren Brüdern und kam 1955 in der Stadt Adana zur Welt. Ihre Eltern gingen im Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung 1967 nach Berlin und holten ihre Kinder zwei Jahre später nach. Während die anderen Geschwister in Deutschland weiter in die Schule gingen, begann Duygu Çiçek mit 16 Jahren eine Arbeit in einer Änderungsschneiderei und besuchte einmal in der Woche einen Deutschkurs. Sie berichtet auch, dass sie eine Ausbildung zur Verkäuferin gemacht habe und zehn Jahre im Jugendbetriebsrat eines großen industriellen Unternehmens tätig war. Im Interview wird nicht deutlich, ob sie in Deutschland noch zur Schule ging, in welcher zeitlichen Reihenfolge die angegeben Erwerbstätigkeiten stehen und welche konkreten Tätigkeiten sie ausübte. Die ersten Jahre in Deutschland beschreibt sie als sehr anstrengend und oftmals unangenehm. Sie führt in diesem Zusammenhang zum einen aus, dass sie ihre Rechtsansprüche nicht kannte und immer wieder übervorteilt wurde. Zum anderen betont sie, dass sie und ihre Geschwister zu den ersten Kindern von Arbeitsmigranten aus der Türkei in Deutschland zählten und Familienzusammenführungen zu dieser Zeit noch selten stattfanden. Sie berichtet, dass erst einige Jahre später die meisten türkeistämmigen Arbeitsmigranten ihre Kinder nachholten.1 Auch nach der Migration nach Deutschland hielt sie Kontakt zu ihrer Jugendliebe aus Schulzeiten. Er beendete die Schule in der Türkei und absolvierte den Militärdienst. Die beiden heirateten in der Türkei als Duygu Çiçek 21 Jahre alt war. Anschließend zog er zu ihr nach Berlin und sie bekamen zwei Söhne und eine Tochter. Duygu Çiçek berichtet, dass jeweils acht Wochen nach den Geburten in die Erwerbstätigkeit zurückkehrte. In Deutschland gingen Duygu Çiçek und ihr

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Es ist zu vermuten, dass sie die Phase der Familienzusammenführung nach dem Anwerbestopp 1973 meint.

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Mann einer Arbeit nach und wohnten gemeinsam zu Miete. Sie kauften eine Wohnung in Mersin und verbrachten Urlaube in der Türkei, in Spanien, in Griechenland, auf Zypern und in Deutschland. Regelmäßig besuchte sie ihre Cousine in den Niederlanden. Duygu Çiçek berichtet von einem Bandscheibenvorfall und vier Operationen am Rücken sowie davon, dass sie mit einem Grad der Behinderung von 70 % als schwerbehindert gilt. Bereits im Jahr 1995 wurde sie berufsunfähig und ist zum Zeitpunkt des Interviews frühverrentet. Ihr Mann erkrankte an Krebs und starb 2001, sodass Duygu Çiçek zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit zehn Jahren verwitwet ist. Sie steht im täglichen Kontakt zu all ihren Geschwistern und verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter. Ihre beiden Söhne sind verheiratet und leben aus beruflichen Gründen mit ihren Frauen und drei Enkelinnen in verschiedenen türkischen Großstädten. Ihre Tochter hält sich zum Zeitpunkt des Interviews für mehrere Monate für ein Auslandssemester in Istanbul auf. Dennoch betont Duygu Çiçek im Interview, dass ihre ganze Familie in Deutschland sei. Im Interview entsteht der Eindruck, dass es Duygu Çiçek wichtig ist, dass ihre Kinder Deutschland nicht wirklich verlassen haben. Vielmehr verschwimmen in ihren Ausführungen räumliche und zeitliche Grenzen. Durch das Schreiben kurzer Nachrichten sowie täglicher Telefonate und regelmäßigen Besuche scheint sie das Gefühl zu haben, dass alle für sie wichtigen Verwandten für sie nah sind. Dennoch wird deutlich, dass insbesondere die Beziehung zu ihren Eltern und den Geschwistern die meiste Alltagszeit einnimmt. Duygu Çiçeks Vater erlitt drei Jahre vor dem Interview einen Schlaganfall und hielt sich längere Zeit in verschiedenen Krankenhäusern auf. Duygu Çiçek berichtet, dass der Vater vom Hals abwärts gelähmt, erblindet und auf künstliche Ernährung angewiesen sei. Die Familie hat ihn in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht. Ursprünglich sollte er dort nur bleiben, bis sich sein Gesundheitszustand etwas verbessert haben würde und die Pflege in eigener Häuslichkeit von seiner Ehefrau und den Kinder gewährleistet werden könnte. Da sich aber sein Zustand bis dato nicht verbessert habe, habe die Familie entschieden, dass der Vater dauerhaft in der unter anderem auf die türkische Kultur spezialisierten Einrichtung verbleiben solle. Als entscheidenden Aspekt bei der Entscheidungsfindung stellt sie dar, dass ihre Mutter letztlich die Pflege hätte gewährleisten müssen. Schließlich hätten alle Geschwister noch Kinder zu versorgen, würden abends in ihre eigene Wohnung gehen und müssten erwerbstätig sein. Durch ihr Rückenleiden könne Duygu Çiçek selbst die körperlich anstrengende Pflege des Vaters nicht übernehmen. Ihre Mutter sei bereits über 80 Jahre alt und von zierlicher Statur, sodass sie den schwerstpflegebedürftigen und bettlägerigen Vater auch nicht versorgen könnte. Die Familie besucht den Vater regelmäßig in der Pflegeeinrichtung. Duygu Çiçek bewertet die Unterbringung im Pflegeheim durchaus positiv.

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In der Pflegeeinrichtung könne er sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch mit den Pflegekräften kommunizieren. Dass sei sehr wertvoll, denn insbesondere, wenn er Schmerzen habe, könne er sich kaum auf Deutsch ausdrücken. Sie hätten eine solche Pflegequalität weder in der eigenen Häuslichkeit noch in der Türkei gewährleisten können. In die Türkei reise sie, so berichtet Duygu Çiçek, wenn sie Sehnsucht nach ihren Kindern habe. Dann sei sie in Istanbul. Darüber hinaus verbringe sie jeden Sommer circa zwei Monate an der türkischen Mittelmeerküste. Dort ist sie entweder zusammen mit ihrer Mutter in deren Wohnung (oder Haus) in Adana oder mit ihrer Mutter in ihrer eigenen Wohnung in Mersin. Da Duygu Çiçek die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, reist sie mit einem 90 Tage gültigen Touristenvisum in die Türkei ein. Wenn sie ärztlicher Behandlung bedarf, gehe sie mit einem Krankenschein aus Deutschland in eine staatliche Poliklinik. Wenn sie jedoch starke Schmerzen hat, bevorzugt sie es, auf eigene Kosten zu einem Privatarzt zu gehen, da sie dort nicht solange warten müsse. Duygu Çiçek berichtet, dass sie gerne in Deutschland lebt und auch nicht überlegt vollständig in die Türkei zu ziehen. Sie habe sich in Deutschland eingelebt und sei in der Türkei oftmals fremd. Die Menschen dort würden auch merken, dass sie schon lange in Deutschland lebe. Unterschiede zwischen einem Leben in Deutschland und in der Türkei exemplifiziert sie beispielsweise an der Friedhofskultur. Friedhöfe und die einzelnen Gräber in der Türkei seien oft ungepflegt und würden kaum besucht. In Deutschland habe sie zur Pflege des Grabes ihres Mannes eine Gärtnerei beauftragt. Das sei so in der Türkei nicht möglich. Sie habe bereits ihre Grabstätte neben dem Grab ihres Mannes erworben und möchte in Deutschland sterben und dort bestattet werden.2 Mit ihrer Familie ist abgesprochen, dass auch ihr Vater in Deutschland beerdigt wird, da eine Grabpflege in der Türkei nicht zuverlässig zu organisieren sei. Ihre Mutter wünsche hingegen, dass sie in der Türkei bestattet werde, falls sie dort sterbe und in Deutschland, falls sie in Deutschland sterbe. Duygu Çiçek positioniert sich selbst als selbstbewusste und selbstständige Frau der »Zweiten Generation«, die bereits früh angefangen habe viel zu arbeiten, nun aber das das Alter genießen und noch etwas unternehmen möchte. Im Interview beschreibt sie sowohl Situationen in der Türkei als auch in Deutschland mit Formulierungen wie »bei uns« und »wir machen das so«. Sie thematisiert im Interview viele gesellschaftliche Normen und Veränderungsprozesse. Dabei grenzt sie sich und ihre Familie immer wieder als »anders« im positiven Sinne ab, sowohl

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So hat sie eine Versicherung für den Fall abgeschlossen, dass sie doch in der Türkei stirbt, damit ihr Leichnam nach Deutschland überführt wird.

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in Bezug auf ihre grundsätzliche Prägung als moderner Großstadtmensch und ihrer Entwicklung in den vergangen 40 Jahren, als auch in Bezug auf ihre religiöse Offenheit und ihrem entspannten, aber realistischen Umgang mit Alterungsprozessen. Dabei sind ihre Aussagen teilweise widersprüchlich. So beklagt sie, dass in der Türkei ein traditionell enger Zusammenhalt der Familie und eine besondere Wertschätzung der Älteren einem Modernisierungsprozess wie in Deutschland unterläge. Kinder würden verstärkt eigene Interessen durchsetzen und sich nicht mehr um ihre alten Eltern kümmern. Ihre Familie sei da ganz anders, da sie intergenerationell eng zusammenhalte und sich umeinander kümmere. Gleichzeitig betont Duygu, dass sie nicht von ihren Kindern oder Schwiegertöchtern im Alter gepflegt werden möchte, da sie ihnen nicht zur Last fallen möchte. Duygu Çiçek gibt an, für das weitere Leben keine Pläne mehr zu haben. Es stehe geschrieben, wie lange sie noch zu leben habe, sodass sie für jeden weiteren Tag dankbar sei. Das komplett deutschsprachige Interview mit Duygu Çiçek fand in ihrer Wohnung in Berlin statt. Es war das einzige Interview, bei dem keine dritten Personen anwesend waren. Die Gesprächssituation war höflich distanziert und angenehm. Zu Beginn des Interviews lief noch der Fernseher, den Duygu Çiçek im ersten Drittel des Interviews ausschaltete. Sie ist die einzige Interviewpartnerin, deren Eltern noch lebten. Duygu Çiçek kann dem Pendeltyp »Pendeln bei Verbleib« zugeordnet werden. Kemal Koyun Kemal Koyun wurde 1933 in einem Dorf an der östlichen Grenze der Provinz Isparta als einziges Kind seiner Eltern geboren. Die Schule schloss er nach der fünften Klasse erfolgreich ab. Eine Berufsausbildung hat er nicht durchlaufen. Mit seiner Ehefrau hat er vier gemeinsame Kinder. Im Alter von 36 Jahren ging er 1969 mit einem Touristenvisum nach Frankreich. Die erste Zeit arbeitete er dort nicht, später fand er Jobs auf Baustellen. Nach einem Jahr in Frankreich ging er nach Deutschland. Hier konnte er durch die Vermittlung eines Freundes bei einem Bauunternehmen arbeiten. 1972 kehrte er anlässlich der Feier zur Beschneidung seines Sohnes für einen Urlaub in die Türkei zurück und ging anschließend als angeworbener Arbeiter nach Deutschland. 1973 fand er dann eine Anstellung in einer Textilfabrik in der Nähe von Frankfurt am Main, wo er bis zu seiner Verrentung 1994 tätig war. Dabei wollte er gar nicht in Rente gehen, doch der ihm vorgesetzte Handwerksmeister habe ihn dazu überredet. Seine Kinder hat Kemal Koyun zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 1979 und 1983 nach Deutschland geholt. Seine beide Söhne und eine der Töchter leben mit ihren Familien in Deutschland, anscheinend alle in der Nähe von Frankfurt am Main. Die zweite

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Tochter lebt in Isparta in direkter Nachbarschaft zum Haus der Eltern, welches sie seit 1974 besitzen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Kemal 77 Jahre alt und pendelt mit seiner Ehefrau seit 16 Jahren zwischen Deutschland und der Türkei. In der Türkei wohnen sie in ihrem eigenen Haus, in Deutschland kommen sie als Koresidenten bei ihren Kindern unter. Darüber hinaus haben sie eine Eigentumswohnung in Antalya, die sie ebenfalls bewohnen und ein Grundstück in ca. 90 km Entfernung von Isparta, das landwirtschaftlich genutzt wird. Kemal berichtet, dass sie im Dezember nach Deutschland gingen und im März oder auch April wieder in die Türkei kämen. Im Interview wird deutlich, dass sich die Lebenssituation des Ehepaars Koyun in den vergangen drei Jahren aufgrund von gesundheitlichen Problemen sehr verändert hat. Kemal Koyun hatte seit 2007 Blut im Urin, ging der Sache jedoch nicht nach, da es keine Schmerzen verursachte. Als er 2008 in einem Geschäft in Deutschland ohnmächtig wurde, habe ihn sein Sohn zu seinem türkeistämmigen Hausarzt gefahren, welcher ihn sofort in ein Krankenhaus überwies. Schließlich wurde Kemal bei einer Operation in Deutschland eine Niere entfernt. Nach dem Krankenhausaufenthalt folgte ein mehrwöchiger Kuraufenthalt zur Rehabilitation in Kempten, den er ohne seine Ehefrau absolvierte. Anschließend kehrte er zusammen mit seiner Ehefrau nach Antalya zurück. Sie blieben in der dortigen Wohnung, da er für regelmäßige Kontrolluntersuchungen in das Universitätsklinikum in Antalya musste. Nach langer Zeit verbrachten sie nun wieder einen längeren Zeitraum in ihrem Haus in Isparta. Kemal Koyun ist nun froh, dass es ihm gesundheitlich wieder gut gehe, jedoch ist seine Ehefrau scheinbar im gleichen Zeitraum immobil geworden. Aus Gründen, die im Interview nicht ausgeführt werden, kann die Ehefrau nicht mehr als ein paar Schritte eigenständig gehen. Kemal berichtet, dass sie seit ungefähr anderthalb Monaten eine Frau engagiert hätten, die jeden Tag komme und für sie koche, sie beim Essen begleite und die Küche wieder aufräume. Kemal Koyun berichtet, dass sein Alltag daraus bestehe, zu essen, zu trinken, in die Moschee zu gehen und bei Bedarf in ein Geschäft zu fahren, um einzukaufen. Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei seien die Moscheen, in die er immer ginge, für ihn fußläufig zu erreichen. Er bedauert den Gesundheitszustand seiner Frau sehr, da sie nun nicht mehr spontan mit dem Auto in die verschieden Städte und Regionen der Türkei fahren könnten, schließlich könne seine Frau nicht mehr einfach in ein Auto steigen. Allein verreisen möchte er jedoch nicht, da ihm das keine Freude mache. Im Interview wird deutlich, dass für Kemal Koyun die Immobilität seiner Frau kein Grund darstellt, nicht zwischen Deutschland und der

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Türkei zu pendeln. So berichtet er eindrücklich vom Service eines Behindertentransportes von Isparta zum Flughafen Antalya, dem Transferservice an den Flughäfen in Deutschland und der Türkei sowie dem anschließenden Transport seiner Ehefrau an die Haustür seiner Kinder in Deutschland. Er sei mit dem Pendeln auch weiterhin sehr zufrieden, vorausgesetzt, er habe Helfer. Auch wenn das Pendeln für seine Ehefrau im vergangenen Jahr wesentlich schwieriger geworden sei, sehe er bisher keinen Grund, in naher Zeit eine Entscheidung über einen möglichen Verbleib in einem der Länder zu treffen. Kemal und seine Frau sind türkische Staatsbürger. Dabei bezieht Kemal seine Rente aus Deutschland und ist auch in Deutschland krankenversichert. Seine Frau war nicht erwerbstätig. Damit sie krankenversichert ist, hat er sie in die »BağKur«-Krankenversicherung in der Türkei eingekauft. Für gewöhnlich erledige er seine Arztbesuche in Deutschland. Bei Kleinigkeiten ging er in der Türkei in die »sağılık oçağı«, bei größeren Beschwerden gehe er mit einem Krankenschein in die großen, privatwirtschaftlichen Krankenhäuser. Kemal Koyun positioniert sich im Interview als Befürworter der Regierung von Tayip Erdoğan. Diese Regierung habe einige wichtige Gesetze erlassen, die das Gesundheitssystem in der Türkei verbessert hätten und Vorteile für die Situation Älterer bringen würden. So bezieht er sich auf die Reform der Sozialversicherungen zur SSK, die Korruption bei Arztbesuchen reduziert habe, als auch den Dienst »Aşeven«, der Bedürftigen eine warme Mahlzeit nach Hause bringt. Auch begrüßt er monatlichen Zahlungen an arme Ältere über 65 Jahren, die diese bei ihrem Muhtar3 beantragen könnten. Kemal Koyun betont, dass er solch finanzieller Hilfen nicht bedürfe, weder in Deutschland noch in der Türkei. Er habe in seinem Leben sein Geld nicht für Dinge ausgegeben, die haram4 seien. Außerdem habe er schon vor Jahren viel

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Gemeinde (Dorfvorsteher) oder eine Person mit einigen staatlichen Aufgaben in einem Ortsteil einer Stadt (Ortsvorsteher). Er wird direkt von den Bürgern des Dorfes beziehungsweise des Ortsteiles für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Der Muhtar übernimmt Aufgaben der öffentlichen Verwaltung. Dazu gehören Aufgaben des Gesundheits-, Ordnungs-, Standes-, Bau- und Einwohnermeldeamtes. Er schlichtet Streit und achtet auf die öffentliche Ordnung. Ihm zur Seite steht ein sogenannter Ältestenrat (ihtiyar heyeti), dem gewählte Mitglieder sowie der Dorfschullehrer und der örtliche Imam als »natürliche Mitglieder« angehören. Der Muhtar im Dorf hat im Allgemeinen mehr Befugnisse und Aufgaben als der Muhtar in einem Ortsteil einer Stadt. Der Muhtar ist dem Vali beziehungsweise dem Kaymakam unterstellt (vgl. Kreiser 1992, S. 113).

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Im Islam werden zur Bewertung menschlichen Handelns fünf rechtliche Kategorien unterschieden: wadshib (verpflichtend), sunna (empfohlen), halal (erlaubt), makruh

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Geld in einer muslimischen Genossenschaft angelegt und bekomme davon jedes Jahr einen Anteil des Gewinns ausgeschüttet. Pläne für das Alter habe er nie machen müssen, da er ja wusste, dass er genug Geld haben würde. Er sei auch zweimal (1994 und 2006) zur Hadsch gefahren, um Übel von sich und seiner Familie abzuwenden. In Bezug auf eine mögliche schwere Krankheit oder auch Pflegebedürftigkeit würde er auf Gott als seine Stütze bauen. Das Interview fand im Haus des Ehepaares in Isparta statt. Da Kemal Koyun sich nicht flüssig auf Deutsch unterhalten konnte, wurde das Interview auf Türkisch und mit dem Interviewerteam geführt. Kemals Ehefrau saß während des gesamten Interviews auf einem Sofa neben ihrem Mann. Die Frau wirkte wenig orientiert und nahm mit zwei Äußerungen am Gespräch teil. Diese zeigten jedoch, dass sie dem Gespräch wenigstens teilweise folgen konnte. Der Kontakt zu Kemal Koyun wurde von Yaşar Şahin hergestellt. Die beiden kennen sich aus ihrer Moscheegemeinde. Kemal Koyun erweckt den Eindruck, sich auf das Interview gefreut zu haben. Im ersten Drittel des Gespräches stieß jedoch für alle unerwartet die Tochter von Kemal dazu, die scheinbar nicht über das Interview ihrer Eltern informiert war. Sie setzte sich dazu und beteiligte sich über eine halbe Stunde aktiv an dem Interview. Sie verdeutlichte, dass es ihrer Meinung nach sinnlos sei, zu älteren Menschen zu forschen, da sich in ihrem Leben nichts verändere. Sie würden nur essen, schlafen, zur Moschee gehen und ihr monatliches Einkommen beziehen. Statt ihres Vaters könne auch sie befragt werden, da sie genauso Auskunft über sein Leben geben könne. Als das Interviewerteam dennoch darauf insistierte mit Kemal Koyun persönlich zu reden, machte sie deutlich, dass sie keine Fremden wie uns in das Haus lassen würde. Zumindest den Personalausweis würde sie sich vorher zeigen lassen. Aus ihrer Perspektive sei unsere Anwesenheit ein großes Missverständnis. Dazu berichtete sie von Vorfällen, die in Deutschland als »Enkeltrick« bezeichnet werden. Kemal sagte, dass ihm so etwas noch nicht passiert sei und er gerne das Gespräch fortführen wolle. Daraufhin erwähnte die Tochter, dass die Eltern zu einem Essen eingeladen seien und sie mit ihnen beiden in einer halben Stunde dorthin aufbrechen wolle. Es wurde die Vereinbarung getroffen, dass das Interview ohne Einmischung der Tochter noch eine halbe Stunde

(missbilligt) und haram (verboten). Rechtsgelehrte ordnen auf Grundlage des islamischen Rechtes (scharia) Handlungen in die entsprechenden Bewertungskategorien ein. Dabei ist für die Mehrheit der gläubigen Muslime die Unterscheidung zwischen haram (verboten) und halal (erlaubt) die alltagsrelevante Rechtsanwendung.

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fortgesetzt werden könne. Die Tochter blieb die verbleibende Interviewzeit anwesend und beschäftigte sich mit Handarbeiten. Kemal Koyun kann als Pendler mit bi-lokaler Orientierung gewertet werden. Mustafa Güneş Mustafa Güneş wurde 1927 in einem kleinen Dorf in der Provinz Isparta geboren und wuchs mit drei Schwestern und einem Bruder auf. Zum Zeitpunkt des Interviews ist eine Schwester bereits verstorben, die anderen drei Geschwister leben in einer Kleinstadt in der Nähe ihres Geburtsortes. Mustafa Güneş verließ die Schule nach der vierten Klasse. Er heiratete und bekam mit seiner Frau zwei Töchter und zwei Söhne. In seinem Heimatort arbeitete er als Zimmermann, bis er 1969 mit 42 Jahren zusammen mit seinem Schwager als Tourist nach Frankreich ging. 5 Dort fand er Arbeit auf Baustellen, wo er wieder als Zimmermann arbeitete und man ihm das Handwerk der Betonarbeiter beibrachte. Nach 23 Monaten in Frankreich kam er für einen Urlaub in die Türkei. Anschließend ging er als Arbeiter nach Deutschland und war in einer Fabrik in einer Kleinstadt nahe Stuttgart angestellt. Da er dort jedoch nur einen sehr geringen Stundenlohn erhielt, verließ er diese Anstellung und war für ca. drei Monate arbeitslos. Anschließend fand er eine Anstellung in einer Fabrik in Nordrhein-Westfalen.6 Dort war er 16 Jahre, bis zu seiner Verrentung 1992, tätig. Seine Ehefrau sowie die Kinder holte er 1977 nach Deutschland, wo sie zu ihm nach Nordrhein-Westfalen zogen. Während zwei der Kinder in Deutschland blieben, kehrte ein Sohn früh in die Türkei zurück (wahrscheinlich bereits im schulpflichtigen Alter) und auch eine Tochter scheint bereits wieder seit Jahrzehnten in der Türkei zu leben. Mustafa Güneş berichtet, dass er in Deutschland über Jahre einen Schrebergarten bewirtschaftete und regelmäßig eine Moscheegemeinde aufsuchte. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Mustafa Güneş 83 Jahre alt und pendelt seit 18 Jahren zusammen mit seiner Ehefrau zwischen ihrem Wohnsitz in Deutschland und einem eigenen Haus in der Türkei. Das Haus in der Türkei liegt in einer sehr ländlichen Gegend, abseits eines Dorfes. Das Haus baute Mustafa Güneş 1993, als er bereits verrentet war. An dem Haus sind eine sehr große Nutzgartenfläche sowie eine Streuobstwiese angeschlossen. Mustafa Güneş entschied sich das Haus zu bauen, da er sich nicht länger zusammen mit den Geschwistern geerbte Elternhaus

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Der Schwager lebte zum Zeitpunkt des Interviews immer noch mit seiner Familie in der Türkei.

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Der das Interview begleitende Neffe Mustafas Güneşʼ berichtete anschließend, dass auch weitere Verwandte Mustafa Güneşʼ zu dieser Zeit in der gleichen Fabrik tätig waren.

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teilen wollte. Mustafa Güneş berichtet, dass seine Schwestern immer in ärmlichen Verhältnissen gelebt hätten, da habe er ihnen das Erbe überlassen und auf einem ehemaligen Gerstenfeld sein Haus mit Garten errichtet. Während seiner Aufenthalte in der Türkei verbringe Mustafa Güneş die Tage mit der Pflege seines Gartens. Dies werde lediglich durch die Namaz-Gebete unterbrochen. Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei gehe er an Freitagen zum Gebet in die Moschee, die anderen Gebete verrichte er zuhause. Über den Winter verbringe Mustafa Güneş vier bis fünf Monate in Deutschland. Im Interview wird nicht deutlich, ob Mustafa Güneş dabei als Koresident bei seiner Tochter wohnt oder über eine eigene Mietwohnung verfügt. Sein in Deutschland lebender Sohn bewohne mit seiner Familie ein Eigenheim in der Nähe des Wohnsitzes der Tochter. Die beiden in der Türkei lebenden Kinder wohnten mit ihren Familien in Antalya und Ankara, sodass er sie nicht täglich treffen könne, sie aber regelmäßig zu Besuch kämen. In Deutschland würde er den ganzen Tag über nichts machen, lediglich seine Rente ansparen und bei Bedarf zum Arzt gehen. Mustafa Güneş berichtet, dass er schon früher alle Urlaubstage darauf verwendet habe, in die Türkei zu reisen. Seit er verrentet sei, halte er den Pendelrhythmus ein, könne aber kommen und gehen, wie es ihm passe. Das Pendeln selbst belaste ihn nicht, da man ja mit dem Flugzeug schnell reisen könne und beide Wohnsitze komplett ausgestattet seien. Außer einem Koffer und ein paar Lebensmitteln müsse nichts hin- und her transferiert werden. Mustafa und seine Frau sind türkische Staatsbürger.7 Während er über ein Renteneinkommen verfügt, scheint seine Frau kein weiteres Einkommen zu haben. Mustafa besitzt noch eine große Ackerfläche, auf der er Gemüse oder Getreide anbauen lasse. Dies bilde ein zusätzliches Einkommen. Er sei nicht auf finanzielle Hilfe seiner Kinder angewiesen, eher helfe er ihnen von Zeit zu Zeit aus. Im Interview merkt Mustafa Güneş an, dass er es bereue, dass er in früheren Zeiten für seine Frau keine Versicherungen abgeschlossen habe, sodass ihre jetzigen Arztkosten erstattet werden könnten.8 Er selbst ist in Deutschland krankenversichert und besucht in der Türkei bei Bedarf staatliche Krankenhäuser. Mustafa Güneş berichtet, dass er in den 1970er Jahren an den Knien operiert wurde (in Deutschland) und einmal in den 1990er Jahren an seinem Darm (in der Türkei). Im Interview berichtet er, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt an keinen chronischen oder akuten Krankheiten leide. Dies führt er darauf zurück, dass er viel Zeit

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Seine Tochter in Deutschland habe die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Im Interview macht Mustafa keine Angaben zum Gesundheitszustand seiner Frau. Der das Interview begleitende Neffe berichtet anschließend, dass es ihr in letzter Zeit nicht gut ginge, führt dies jedoch nicht weiter aus.

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im Garten verbringe und es ablehne, von einer ortansässigen Verwandtschaft mit dem Auto gefahren zu werden, wenn er auch laufen könne. Die Bewegung und die frische Luft hielten ihn gesund. Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei meide er Cafés, da er weder Kaffee trinke, noch Zigaretten rauche. Er berichtet, dass er immer sofort aufstehe und den Ort verlasse, wenn jemand beispielsweise trotz Rauchverbot in einem Gebäude rauche. Mustafa Güneş erklärt im Interview, dass er sich bei gesundheitlichen Problemen in Deutschland behandeln lassen würde, jedoch gerne in der Türkei sterben und begraben sein würde. Falls er dennoch in der Türkei in ein Krankenhaus gehen müsse, würde er in eine Universitätsklinik an einem der Wohnorte seiner Kinder gehen. Fragen nach einer möglichen Einbindung einer Pflegekraft als auch der Option eines Altersheims wehrt Mustafa Güneş entschieden ab. Er verweist auf seine Familie und verbittet weitere Fragen in diese Richtung. Im Interview berichtet Mustafa Güneş, dass er seine Mutter und ihre Schwestern nach dem Tod seines Vaters monatlich finanziell unterstützt habe. Als seine Mutter 1983 jedoch eines natürlichen Todes starb, habe seine Verwandtschaft in der Türkei ihn nicht darüber informiert. Erst vier Monate später habe er durch Gäste aus der Türkei, die zur Hochzeitsfeier seines Sohnes nach Deutschland gereist seien, von ihrem Tod erfahren. Er erklärt das Verhalten seiner Verwandten damit, dass seine Tanten weiterhin auf das von ihm gesendete Geld angewiesen gewesen seien. Aus Sorge, er könne seine Zahlungen einstellen, hätten diese ihm nicht vom Tod seiner Mutter berichtet. Das Interview mit Mustafa Güneş fand in seinem Garten in der Türkei statt. Der Kontakt zu Mustafa Güneş konnte über Bekannte von Sami Kılıç hergestellt werden. Ein Neffe Mustafa Güneşʼ holte das Interviewerteam am nächstgelegenen Busbahnhof ab und brachte es zu Mustafa Güneşʼ Haus. Entgegen der Absprachen war Mustafa Güneş vor dem Interview nicht über das Anliegen und über das Erscheinen der Interviewer informiert worden, sodass er der aus seiner Perspektive plötzlich entstandenen Situation sehr skeptisch gegenüberstand. Dennoch willigte er in das Interview ein und unterbrach seine Gartenarbeit, lud jedoch nicht in sein Haus ein. Während des Interviews waren sowohl der Neffe als auch eine weitere Nichte, die scheinbar Mustafa Güneşʼ Ehefrau im Haushalt half, anwesend. Mustafa Güneşʼ Ehefrau selbst blieb im Haus und zeigte sich nicht. Das Interview fand bis auf einzelne Begriffe komplett auf Türkisch statt. Dabei war die Atmosphäre angespannt. Mustafa Güneş antwortete auf Fragen sehr kurz, ohne weitere Ausführungen oder auch einsilbig. Es entstand der Eindruck, dass er weder gerne Fremden aus seinem Leben berichte, noch dass er nachvollziehen konnte, weshalb jemand

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an seinem Leben Interesse hatte. Auch die beiden anwesenden Verwandten mischten sich immer wieder in das Interviewgespräch ein, wehrten Fragen ab versuchten an Mustafa Güneşʼ statt zu antworten. Während des Interviews bat Sami Kılıç mich mehrmals gewisse Fragen wie beispielsweise zum Umgang mit einer möglichen Pflegebedürftigkeit sowie zum Umgang mit dem Islam, auslassen zu können, da er vermutete, dass Mustafa Güneş sowie seine beiden anwesenden Verwandten sich davon (noch mehr) brüskiert fühlen könnten. Mustafa Güneş kann dem Typ des Pendels bei binationaler Orientierung mit einer Tendenz zur Rückkehr zugeordnet werden. Nazım Yılmaz Nazım Yılmaz wurde 1941 in der Region Isparta als eines von fünf Geschwistern geboren.9 Nazım Yılmaz ging auf das Gymnasium, deutet im Interview jedoch an, dass er die Schule vor dem Abschluss verlassen musste, da er Konflikte mit dem Rektorat hatte. 1973, im Alter von 32 Jahren, ging Nazım Yılmaz nach Deutschland. Mit seiner ersten Ehefrau hat er vor der Scheidung zwei Kinder bekommen. Im Interview wird nicht deutlich, inwiefern er mit ihnen noch in Kontakt steht. Fragen mit Bezug auf seine Verwandtschaft weicht er aus und sagt, dass er immer viele Konflikte mit Verwandten gehabt hätte und seinen eigenen Weg gefunden habe. Er berichtet kurz, dass zwei Monate vor dem Interview das jüngere der beiden Kinder gestorben sei, erläutert aber nicht, woran und ob er bei einer Beerdigung anwesend war. Er sagt, dass er das Kind in seinem Herzen begraben habe. Mit seiner zweiten Ehefrau hat Nazım Yılmaz einen gemeinsamen Sohn, der zum Zeitpunkt des Interviews 37 Jahre alt ist. Der Sohn wurde in Deutschland geboren und lebt dort zusammen mit seiner deutschstämmigen Partnerin und deren Kindern, die sie mit in die Beziehung gebracht hat. Der Sohn scheint Distanz zu seinem Vater zu halten. Zwar besucht er ihn in der Türkei, jedoch nur für einen Tag während seines eigenen Urlaubs. Die Bitte, mit seiner Partnerin und deren Kindern auch über Nacht zu bleiben, erfüllt der Sohn scheinbar nicht. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Nazım Yılmaz 70 Jahre alt und pendelt seit fünf Jahren zusammen mit seiner Ehefrau. Nach seiner Migration nach Deutschland sei er zwar immer wieder in die Türkei gefahren, jedoch nicht jährlich. Erst durch das Pendeln scheint er wieder mehr Zeit in der Türkei zu verbringen. In Deutschland wohnen sie in einem Haus mit Garten in der Nähe der Grenze zu Tschechien. In der Türkei leben sie in dem Haus seiner Frau in der Stadt Isparta. Sie kommen jeden Sommer für circa zwei Monate. Die Strecke legen sie mit dem Auto zurück. Befragt nach dem Grund für das Pendeln gibt Nazım Yılmaz an, dass

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Zum Zeitpunkt des Interviews sind bereits zwei der Geschwister verstorben.

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er komme, um am Grab seiner Eltern zu beten. Er habe sie zu Lebzeiten nicht unterstützen können und möchte ihnen nun Respekt erweisen. Ein zentrales Thema im Interview mit Nazım Yılmaz ist seine Armut. Er führt sie darauf zurück, dass er keine Berufsausbildung und keine dauerhafte Anstellung sowie viele Jahre der Arbeitslosigkeit hatte. Dadurch sei seine Rente sehr gering. Auch seine Frau, die im Vergleich zu ihm wesentlich mehr Jahre erwerbstätig gewesen sei, habe nur ein geringes Renteneinkommen, sodass sie regelmäßig vor finanziellen Problemen stünden. Die Frage, ob sie finanzielle Hilfe (hier: Grundsicherung im Alter) in Anspruch nehmen, verneint er. Er habe einmal versucht entsprechende Hilfe (vermutlich Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld) in Anspruch zu nehmen, habe dies aber wieder abgebrochen. Es scheint, als sei er mit dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand nicht klar gekommen. Die Summe, die Nazım Yılmaz während des Interviews als das monatlich zur Verfügung stehende Einkommen angibt, variiert bei jeder Nennung, auch da er ständig zwischen Angaben in Euro und Türkischen Lira wechselt. Jedoch liegen alle genannten Summen erheblich unter der in Deutschland geltenden Armutsgrenze. Nazım Yılmaz berichtet, dass er alles, was er noch brauche, auf Flohmärkten kaufe. Auch bauen er und seine Frau in Deutschland (vermutlich auch in der Türkei) eigenes Gemüse im Garten an um Ausgaben für Lebensmittel senken zu können. Alles Geld, was sie sparen könnten, würden sie in Reparaturen ihrer Häuser stecken müssen. Auch seine Tagesbeschäftigung erschöpfe sich in Gartenarbeit und Hausversorgung. Den Aufenthalt in der Türkei erfahre er nicht als angenehmen Urlaub, sondern vor allem als finanzielle Belastung. Nazım Yılmaz berichtet, dass er weder in der Türkei noch in Deutschland Freunde habe. Aus dem Interview wird deutlich, dass er scheinbar unregelmäßig in der Türkei in die Moschee geht und dort Bekannte trifft. Von ihnen möchte er jedoch aufgrund seiner eigenen knappen finanziellen Ressourcen keine Einladungen annehmen und bleibt daher auf Distanz. 10 Nazım Yılmaz berichtet, dass er aufgrund seiner Unwissenheit beziehungsweise geringen Bildung vieles im Leben falsch gemacht habe und heute bereue. So habe er sein verdientes Geld weder angespart noch sinnvoll angelegt und auch nicht auf seine Gesundheit geachtet. Um sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, habe er immer versucht möglichst viel Zeit im Garten zu verbringen. Er habe nie Pläne für die Zukunft gemacht, würde jedoch jetzt im Alter merken, wie wichtig

10 Es scheint als ginge Nazım Yilmaz davon aus, dass er entsprechend einer Reziprozitätsregel auf jede Einladung zum Tee eine Gegeneinladung aussprechen müsste. Würde man mit vier Personen zusammen Tee trinken, würden vier Runden ausgegeben, so dass auch er für vier Tees bezahlen müsste. Das wäre jedoch mehr als er sich leisten könne. Aus diesem Zusammenhang heraus scheint er Teegärten zu meiden.

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Geld sei. Nun sei sein Gesundheitszustand zu schlecht, als dass er an seiner materiellen Situation etwas ändern könnte. In Bezug auf seine Gesundheit führt Nazım Yılmaz aus, dass er seit zwanzig Jahren Diabetes habe. Vermutlich stehen auch die von ihm beschrieben Fußschmerzen sowie seine schlechte Sehfähigkeit mit der Diabeteserkrankung im Zusammenhang. Er berichtet von einer starken Vergesslichkeit, die ihn seit 15 Jahren begleite sowie einer konstanten starken Müdigkeit. Seit zehn Jahren fühle er sich sehr alt. Altersheime lehne er instinktiv ab. Sie seien für ihn keine denkbare Option. Wie er sich eine Versorgung bei einer möglichen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit vorstellt, wird im Interview nicht deutlich. Nazım Yılmaz betont, dass dies alles kein Problem wäre, wenn er genügend finanzielle Mittel zur Verfügung hätte. Im Interview mit Nazım Yılmaz ist auffällig, dass sich die Betonungen in der Selbst- und Fremdpositionierung in Bezug auf Deutschland und die Türkei im Gesprächsverlauf stark verschieben. Zu Beginn betont er, dass in Deutschland alles geordnet und diszipliniert zugehe, was ihm sehr gefalle. Wenn er in der Türkei sei, störten ihn die Unordnung und die Disziplinlosigkeit, die sich beispielsweise beim Anstehen zeige. Ein Leben in der Türkei schließt er in diesem Zusammenhang aus, da es ihn noch kränker machen würde. Zum Ende des Interviews beklagt Nazım Yılmaz eine Kaltblütigkeit der Deutschen, die sich auch in der fehlenden Begleitung Kranker und Sterbender ausdrücke. Er könne sich jedenfalls vorstellen, in der Türkei zu sterben, da er dann davon ausgehen könne, dass dies auch andere emotional betroffen mache. Nazım Yılmaz deutet an, dass er sich vorstellen könne dauerhaft in der Türkei zu leben, wenn es für ihn einen finanziellen Vorteil bedeute. Der Kontakt zu Nazım Yılmaz wurde von Yaşar Şahin vermittelt, da sie sich aus der entfernten Nachbarschaft kennen. Das Interview fand auf einer Terrasse eines weiteren Nachbarn statt, da Nazım sagte, dass er zurzeit keinen Besuch in seinem Haus empfangen könne. Außer Nazım Yılmaz und dem Interviewerteam waren keine weiteren Personen anwesend, da sich die Hausbewohner zurückgezogen hatten. Nazım Yılmaz strahlte während des Interviews eine Niedergeschlagenheit aus und sprach sehr leise. Er bevorzugte es, Sami Kılıç anzusprechen. Das Interview fand vollständig auf Türkisch statt, Nazım Yılmaz verwendete jedoch vereinzelt deutsche Begriffe im Sinne eines Code-Switchings. Nazım Yılmaz kann dem Pendeltyp »Pendeln bei Verbleib« zugerechnet werden, auch wenn er zum Ende des Interviews eine Rückkehrorientierung ausdrückte.

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Nuri İbrahimoğlu Nuri İbrahimoğlu wurde 1946 in einer mittelgroßen Stadt in der Provinz Isparta geboren und hat drei Schwestern sowie zwei Brüder. Er verließ die Mittelschule mit ca. 15 Jahren (im Interview deutet er an, dass er die Schule nicht erfolgreich abgeschlossen hat) und ging für fünf oder sechs Jahre nach Istanbul. Mit ca. 21 Jahren verrichtete er seinen Militärdienst und folgte anschließend, 1969, seinen zwei älteren Brüdern nach Deutschland. Nuri İbrahimoğlu ging als Textilarbeiter nach Berlin, arbeitete jedoch die meiste Zeit als Koch in der Gastronomie. Die letzten Jahre bis zum Eintritt seiner Erwerbsunfähigkeit im Jahr 2002 arbeitete er in einem Döner-Imbiss. Im Interview wird nicht klar, ob er Inhaber oder Angestellter des Betriebs war. Nuri İbrahimoğlu hat mit seiner Ehefrau drei Söhne, die bereits verheiratet sind und mit ihren Kindern ebenfalls in Berlin leben. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Nuri İbrahimoğlu 64 Jahre alt und pendelt seit seinem Austritt aus dem Berufsleben mit seiner Ehefrau zwischen der Mietwohnung in Berlin sowie einer Eigentumswohnung in Antalya und einem eigenen Haus mit Garten in seinem Heimatort. Regelmäßig pendeln sie Anfang Mai nach Antalya. Wenn ihnen dort Ende Juni das Klima zu warm und feucht wird, ziehen sie für circa zwei bis drei Monate in das Haus in Nuri İbrahimoğlus Heimatort. Im Herbst kehren sie nach Antalya zurück. Ende Oktober oder auch Anfang November fliegen sie wieder nach Deutschland. Die Flüge buchen sie über das Internet oder am Flughafen. Den konkreten Reisetermin bestimmen sie dabei immer kurzfristig, orientiert an günstigen Ticketpreisen. Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass sie 38 Jahre im gleichen Stadtbezirk in Berlin wohnten, jedoch 2007 aufgrund steigender Mieten in eine günstigere Wohnung in einem anderen Stadtbezirk umziehen mussten. Seitdem sei es wesentlich schwieriger, den Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten aufrecht zu erhalten. Man träfe sich nicht mehr zufällig auf der Straße, sondern müsse sich besuchen. Das sei jedoch nicht ausgewogen, da viele seiner Freunde sich nicht oft ein Ticket für den Bus beziehungsweise die U-Bahn leisten könnten. Daher würde er nun mehr mit ihnen telefonieren, jedoch seien manche Freundschaften ausgelaufen. Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass er aufgrund seiner Invalidität ein vergünstigtes Monatsticket kaufen könne und so mobil sei ohne sich bei jeder Busfahrt überlegen zu müssen, ob er es sich leisten könne. In Deutschland stehe er gegen neun Uhr auf, frühstücke mit seiner Frau, lese ein Buch oder schaue fern, bis er schließlich in die an den DITIB-Verband angeschlossene Moschee in seiner alten Nachbarschaft gehe. Dort verrichte er das Mittagsgebet. Anschließend geselle er sich mit anderen in die Cafeteria der Moschee und verbringe dort die Zeit bis zum nächsten Namaz-Gebet mit Teetrinken und Gesprächen. Nach dem zweiten Gebet in der

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Moschee fahre er wieder nach Hause, esse mit seiner Frau zu Abend, schaue fern und lege sich hin. Darüber hinaus halte er engen Kontakt zu seinen Söhnen und ihren Familien sowie seinen beiden Brüdern, die ebenfalls in Berlin leben und bereits verrentet sind. Über seinen Alltag in Antalya berichtet Nuri İbrahimoğlu im Interview nicht, schwärmt jedoch von seinem Leben in seinem Heimatort. Dort würden er und seine Frau jeden Morgen in den Garten gehen, die Stecklinge pflegen und den Gemüsepflanzen und Blumen Wasser und bei Bedarf Dünger geben. Zur Mittagszeit gehe er auch dort in die Moschee. Während der Mittagshitze ziehe er sich mit seiner Frau in das Haus zurück, schaue fern oder ruhe sich aus. Wenn es zum Nachmittag wieder kühler werde, gehe er wieder in den Garten, zum Arbeiten, oder auch nur, um ihn zu genießen. Seinen Garten, den Anbau von Gemüse sowie die damit verbundene Arbeit bezeichnet er als Hobby. Er sei finanziell nicht auf den Anbau angewiesen, aber es würde ihn interessieren und mache ihm Freude zu sehen, wie die Pflanzen wachsen. Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass er sein Leben in Deutschland als viel eintöniger erfahre als in der Türkei. In der Türkei kämen ständig Verwandte und Bekannte vorbei, mit denen man zusammen esse und trinke. Oder sie selbst würden anderen Besuche abstatten. Nuri İbrahimoğlu berichtet auch von vier Freunden beziehungsweise Bekannten, die wie er zwischen Berlin und der gleichen Region in der Provinz Isparta pendeln würden. Auch mit ihnen stünde er in einem guten Austausch. Während der Sommerferien in Deutschland würden ihn auch immer seine Söhne mit deren Familien in der Türkei besuchen. Nuri İbrahimoğlu ist türkischer Staatsbürger, ebenso wie seine fast zehn Jahre jüngere Ehefrau. Die Ehefrau war bis zum Zeitpunkt des Interviews circa zweieinhalb Jahre erwerbstätig und schien zum gegenwärtigen Zeitpunkt arbeitslos zu sein. Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass sein Renteneinkommen nur knapp über 500 EUR liege und die Miete bereits circa 300 EUR koste. Daher seien sie auf die finanzielle Unterstützung ihrer Söhne angewiesen. Finanzielle Unterstützung vom deutschen Staat (z. B. Arbeitslosengeld II oder auch Grundsicherung im Alter) möchte er aus Prinzip nicht beantragen, da er sonst Auflagen erfüllen müsste, die seine Möglichkeiten zum Pendeln begrenzen könnten. Das Pendeln beschreibt er nicht als eine befriedigende Lebenssituation, vielmehr fühle er sich dazu gezwungen. So würde ihm die aktuelle Rechtslage in Deutschland nur erlauben sechs Monate in der Türkei zu verbringen,11 wenn er seine Niederlassungserlaubnis sowie seinen An-spruch auf Erwerbsminderungsrente nicht verlieren will. Für die

11 Nuri İbrahimoğlu schien gut über die rechtlichen Rahmenbedingungen der deutsch-türkischen Pendelmigration informiert zu sein. Im Interview beschreibt er die Sechsmo-

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Zukunft plant Nuri İbrahimoğlu elf Monate in der Türkei zu verbringen, wenn er im kommenden Jahr mit 65 Jahren vom Bezug der Erwerbsminderungsrente in den Bezug der Altersrente wechseln wird. Er möchte dann lediglich für einen Monat im Winter nach Deutschland reisen, da er Sehnsucht nach seiner Familie haben werde und sich insbesondere von seinen Enkeln nicht entfremden möchte. Welche Auswirkungen dies für seine Ehefrau haben wird, wird im Interview nicht thematisiert. Sie berichtet, dass sie nicht vollständig in die Türkei ziehen möchte. Sie habe schließlich ihr halbes Leben in Deutschland gelebt und möchte auch weiterhin im Halbjahrestakt pendeln. Während seiner Abwesenheit aus Deutschland kümmern sich seine Söhne um die Wohnung in Berlin sowie die eingehende Post. Da er aber keine finanziellen staatlichen Hilfen beziehe, käme auch keine relevante Post. Von seiner Krankenkasse in Deutschland hole er sich für den Aufenthalt in der Türkei einen Krankenschein. Jedoch vermeide er es, in der Türkei zum Arzt zu gehen. Sein Hausarzt sei türkeistämmig und in Deutschland ansässig. Dort lasse er sich untersuchen. Dieser Arzt würde ihm alle notwendigen Medikamente verschreiben, sodass er in der Türkei nicht in die Apotheke müsse. Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass er zum Zeitpunkt des Interviews keine beeinträchtigenden Krankheiten hat. Im Interview betont Nuri İbrahimoğlu immer wieder, dass im Alter sowohl die gesundheitliche als auch die finanzielle beziehungsweise materielle Situation entscheidend sei, um eigene Pläne oder auch Wünsche verwirklichen zu können. Ihm selbst ginge es gesundheitlich gut, jedoch erlaube ihm seine materielle Situation nicht, mit Freunden eine Kooperative zu gründen und gemeinsam ein großes Haus an der Küste zu erwerben und zu bewohnen. Alles Geld, das er in seinem Leben gespart habe, sei in seine Kinder geflossen. Er habe ihnen Sünnet-Feiern,12 Verlobungs- und Hochzeitsfeiern ausgerichtet. Das habe eine Menge Geld gekostet, sodass er nun nicht mehr auf finanzielle Rücklagen zurückgreifen könne. Das Altern seiner eigenen Eltern hätten er und seine Brüder nicht miterlebt, da sie in Deutschland waren. Als die Eltern älter wurden, hätten sich die drei Schwestern um sie gekümmert, die im Heimatort geblieben waren. Er habe regelmäßig Geld geschickt. Nicht, um die Schwestern zu bezahlen, sondern um einen Beitrag für die Lebenshaltungskosten der Eltern zu leisten. Falls er in Zukunft ernsthaft oder auch chronisch krank würde, hoffe er natürlich auf die Unterstützung seiner

natsregelung, um die Niederlassungserlaubnis für Deutschland nicht zu verlieren sowie die Möglichkeit der Ausnahmereglung auf Antrag bei der Ausländerbehörde (siehe Kapitel 3.3.1). 12 Traditionelle Feier anlässlich der Beschneidung eines Sohnes.

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Familie, insbesondere auf seine Frau. Jedoch wisse man nie, denn auch in Familien gäbe es Streit. Sollte er eines Tages allein dastehen, würde er natürlich eine fremde Person zur Pflege in sein Haus lassen. Altersheime in der Türkei kenne er nicht aus eigener Erfahrung, habe jedoch den Eindruck, dass es in der Türkei in diesem Bereich eine gute Entwicklung gäbe. Nuri İbrahimoğlu präsentiert sich im Interview als ein zufriedener Mensch. Er sei zufrieden mit seiner Frau, mit seiner Unterkunft und auch mit seinen Kindern und deren Familien. Und auch alles, was er seinen Kindern gewünscht habe, sei bereits eingetreten. Sie seien gesund, haben eine gute Arbeit, gute Frauen und Kinder und eine gute Unterkunft. Für all das dankt er während des gesamten Interviews immer wieder Gott. Die Terminvereinbarung mit Nuri İbrahimoğlu war langwierig, da er und seine Ehefrau aufgrund ihrer Reisetätigkeiten mehrere Termine absagten. Letztlich fand das Interview in der Wohnung in Antalya statt. Dabei waren auch seine Ehefrau und Sami Kılıç anwesend. Die Atmosphäre war sehr angenehm. Nuri İbrahimoğlus Ehefrau hielt sich während des Interviews sehr zurück, brachte lediglich einzelne Kommentare an. Das gesamte Interview fand bis auf einzelne Begriffe vollständig auf Türkisch statt. Nuri İbrahimoğlu kann als Pendler mit binationaler Orientierung eingestuft bezeichnet werden, auch wenn seine Zukunftspläne scheinbar eine Rückkehr in die Türkei anstreben. Riza Ateş Riza Ateş wurde 1938 in Isparta geboren und hat vier Geschwister. Er hat die Grundschule mit der fünften Klasse abgeschlossen und gab an, keinen Beruf erlernt zu haben, aber als Arbeiter tätig gewesen zu sein. Zusammen mit seiner Ehefrau hat er zwei Söhne, die in der Türkei geboren wurden. 1969 ging Riza Ateş mit 31 Jahren nach Deutschland, wo er in Hannover lebte und in den Fabriken von VW am Fließband arbeitete. Bei einer Entlassungswelle 1993 verlor er seinen Arbeitsplatz. Anschließend war er arbeitslos, bis er 1999 mit 61 Jahren verrentet wurde. Seine Ehefrau und Kinder holte Riza Ateş erst über zwanzig Jahre nach seiner eigenen Migration nach Deutschland, sodass sie vermutlich erst Ende der 1980er Jahre nach Deutschland kamen. Seine Frau war nie erwerbstätig und scheint in Deutschland stark in eine türkischsprachige Nachbarschaftsgemeinschaft eingebunden gewesen zu sein. Seine beiden Söhne leben weiterhin in Hannover, der eine arbeitet vermutlich als Gas-Wasser-Installateur, der andere ist promovierter Informatiker. Einer der Söhne scheint sich von seiner deutschstämmigen Partnerin getrennt zu haben, mit der er gemeinsam zwei Kinder habe und passe nun regelmäßig für ein paar Tage auf die Kinder auf.

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Riza Ateş ist zum Interviewzeitpunkt 72 Jahre alt. Er lebt zusammen mit seiner Frau in einem Eigenheim in der Stadt Isparta, welches sie bereits 1974 bauten. Die beiden wohnen im Obergeschoss des Hauses, welches nur durch schmale Treppen zu erreichen ist. Eine Wohnung im Erdgeschoss vermieten sie. Im Interview wird nicht klar, ob Riza Ateş noch über eine Wohnung in Deutschland verfügt. Es ist zu vermuten, dass er bei seinen Aufenthalten in Deutschland als Koresident bei seinen Kindern unterkommt. Auch wird im Interview nicht erkennbar, in welchem Rhythmus er und seine Frau zwischen Deutschland und der Türkei pendeln beziehungsweise gependelt sind. Riza Ateş berichtet, dass er im April wieder aus Deutschland zurückgekehrt sei. Während er angibt nur drei Monate in Deutschland geblieben zu sein, seien seine Frau und ihre Schwestern für vier Monate dort geblieben. Er selbst fände seine Wohnsituation in der Türkei besser und sei daher lieber dort. Riza Ateş berichtet über seine zum Zeitpunkt des Interviews bettlägerige Frau, dass sie in den vergangenen zehn Jahren sowohl in Deutschland als auch in der Türkei mehrmals operiert wurde. Einmal wurde sie an der Hüfte operiert, mehrmals an beiden Knien. Eine der Knieoperationen in Deutschland sei jedoch nicht erfolgreich verlaufen, da sich die Wunde entzündete und weitere Operationen folgen mussten. Seit Jahren könne seine Frau nicht mehr laufen. Zusätzlich sei seine Frau an der Schilddrüse erkrankt und habe Parkinson. Darüber hinaus scheint seine Ehefrau erheblich kognitiv eingeschränkt zu sein, was er mit »bisschen der Kopf kaputt« (Riza Ateş, Z. 536) ausdrückt. Riza Ateş berichtet, dass er selbst an der Prostata sowie an den Bandscheiben operiert wurde und auch in Hannover zur Kur gegangen sei. Da er seine Frau aufgrund seiner Rückenbeschwerden nicht heben könne, kämen jeden Tag seine Schwägerinnen und weitere Frauen, die sich um seine hochgradig pflegebedürftige Ehefrau kümmerten, sie wuschen und für sie kochten. Riza Ateş selbst verbringe die Tage in der Türkei mit Besuchen der Moschee und der Sorge um seine Gärten. An seinem Wohnhaus befinde sich ein kleiner Garten, der vor allem mit Blumen bepflanzt ist. Darüber hinaus habe er in circa 25 km Entfernung eine Anbaufläche von 1700 m², auf der 90 Kirschbäume angepflanzt seien. Wenn er Langeweile habe, setze er sich in sein Auto und fahre in den Garten. Während der Erntezeit arbeiteten dort für ihn um die 20 Mann als Erntehelfer und im Verkauf. Dort würde er mehrmals in der Woche vorbeischauen. Der Garten sei für ihn eine angenehme Beschäftigung, auf die Ein-

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nahmen sei er nicht angewiesen. Darüber hinaus würde er gerne am Wasser spazieren gehen.13 Das müsse er jedoch allein machen, da seine Frau ihn nicht mehr begleiten könne und besonders im Sommer unter der Hitze leide, sodass sie im Haus bleibe. Seit er verrentet ist, sei er jedes Jahr zwei Mal mit seiner Frau für je eine Woche in eine etwas weiter entfernte Stadt gefahren und habe dort die Thermalbäder besucht und weitere Anwendungen machen lassen. Dort wären sie immer in einer Privatunterkunft beziehungsweise Pension untergekommen, wo sie sich selbst verpflegen konnten. Dies sei jedoch in diesem Jahr nicht möglich gewesen, da seine Frau im Krankenhaus lag. Riza Ateş und seine Ehefrau sind türkische Staatsbürger. Während er eine Rente aus Deutschland bezieht, scheint seine Ehefrau kein weiteres Einkommen zu haben. Finanzielle Hilfe (hier: Grundsicherung im Alter) möchte er in Deutschland nicht beantragen, da er dann hauptsächlich in Deutschland leben müsse, was er aber nicht wolle. Im Interview drückt Riza sowohl eine Enttäuschung gegenüber dem Sozialsystem in Deutschland als auch in der Türkei aus. An Deutschland kritisiert er die aus seiner Perspektive immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen (Arbeitslosigkeit, niedriger Lohn), ausbleibende Rentenerhöhungen, Personalabbau in den Krankenhäusern und Altersheimen und die im Verhältnis zur Lohnentwicklung unverhältnismäßig steigenden Mieten. Darüber hinaus kritisiert er den aus seiner Sicht hohen Ausländeranteil in Deutschland und befürchtet, dass die armen, aber kinderreichen Ausländer zum Diebstahl gezwungen würden, da sie auf dem Arbeitsmarkt keine ausreichenden Einkommensmöglichkeiten hätten. Zwar sei die Türkei gegenwärtig im Vergleich zu Deutschland besser aufgestellt, doch gut sei es hier auch nicht. Als Beispiel führt er an, dass sich auch in der Türkei die Kinder nicht mehr um ihre Eltern kümmern würden. Das Interview mit Riza Ateş fand im Wohnzimmer seines Wohnhauses in Isparta statt. Während des Interviews waren auch zwei seiner Schwägerinnen, eine Nichte und eine weitere Frau14 anwesend, die sich zunächst separat, aber lautstark unterhielten und dann, auf Bitte des Interviewerteams, das Wohnzimmer verließen. Sie gingen in das Nebenzimmer, in dem die bettlägerige Ehefrau Riza Ateşʼs in einem Pflegebett lag. Die Sprachen des Interviews wechselten zwischen

13 In der Provinz Isparta befinden sich mehrere sehr große Seen. Es ist zu vermuten, dass Riza Ateş regelmäßig den nahe gelegenen Eğirdir-See oder auch den Burdur-See in der Provinz Burdur besucht. 14 Inwiefern diese Frau mit Riza Ateş bekannt oder verwandt war, ist dem Interviewerteam nicht bekannt geworden.

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Deutsch und Türkisch. Riza Ateş schien das Interview unbedingt auf Deutsch führen zu wollen.15 Jedoch sprach Riza nur gebrochen Deutsch, sodass er nur sehr eingeschränkt zu verstehen war, beziehungsweise auf Deutsch gestellte Fragen sprachlich nicht verstand oder als Antworten nur Schlagworte auf Deutsch aussprach, ohne Sätze bilden zu können. Trotz mehrerer Bitten das Interview auf Türkisch zu führen, da so eine flüssigere Kommunikation möglich sei, wechselte Riza Ateş nur ins Türkische, wenn er einzelne Episoden ausführlich schildern wollte oder auf Türkisch formulierte Rückfragen beantwortete. Die Atmosphäre war zu Beginn des Interviews angenehm, jedoch war eine Nervosität bei Riza Ateş als auch seinen weiteren Familienmitgliedern zu spüren. Während des Interviews wurde eine zunehmende Unzufriedenheit bei Riza Ateş spürbar, der sich vermutlich nicht ausreichend verstanden und in seinen Aussagen bestätigt fühlte. Im Anschluss an das Interview zeigten die anwesenden Frauen dem Interviewerteam die zur Pflege der Frau zur Verfügung stehenden Hilfsmittel wie Inkontinenzmaterial und einen Rollstuhl sowie den Medikamentenschrank. Riza Ateş kann als Vertreter des Typs »Pendeln bei Rückkehr« bewertet werden.

15 Dabei entstand der Eindruck, dass er vor allem Sami Kılıç aus dem Gespräch ausschließen wollte. Riza Ateş fragte direkt zu Beginn des Interviews aus welcher Region der Türkei Sami Kılıçs Familie stamme, worauf dieser wahrheitsgemäß antwortete. Da die Familie aus einer Region mit einem hohen kurdischen Bevölkerungsanteil stammt, kann vermutet werden, dass Riza Ateş geschlussfolgert hat, dass auch Sami Kılıç kurdisch sein könne. Nachdem Riza Ates die Information hatte, vermied er das Gespräch mit Sami Kılıç und schuf im Interview eine Distanz zu ihm, indem er ihm sagt, er sei noch ein Kind beziehungsweise von ihm formulierten Fragen einfach überging. Es ist eine Vermutung, dass dies aufgrund des Verdachtes auf eine kurdische Herkunft geschah. Jedoch positionierte sich Riza Ateş im Interview als Anhänger des traditionellen Kemalismus, welcher oftmals mit einer Ablehnung der politischen Forderungen der kurdischen Bevölkerungsgruppen einhergeht. Es ist nicht auszuschließen, dass Riza Ateş Sami Kılıç aufgrund der von ihm vermuteten Zugehörigkeit zu kurdischen Bevölkerung diskriminierte, jedoch auch nicht zu belegen. Das ist insofern im Kontext dieser Arbeit relevant, da das Code-Switching beziehungsweise die Sprachwahl so nicht als Ausdruck von Zugehörigkeit zu Deutschland zu verstehen sind, sondern als bewusste Ausgrenzung eines als ethnisch different gedeuteten Dritten.

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Sevim Öztürk Sevim Öztürk wird 1944 in einer Kreisstadt in der Provinz Antalya geboren. Sie hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Ihre Eltern waren Lehrer. Der Vater wurde Schuldirektor, die Mutter gab den Beruf mit der Geburt des ersten Kindes auf. Sevim Öztürk berichtet, dass sie eine spezielle Schule besucht habe, die es so nicht mehr gäbe und deren richtige Bezeichnung ihr weder auf Deutsch noch auf Türkisch einfiele. Der Ausbildungsschwerpunkt habe auf Hauswirtschaft und Kindererziehung gelegen. Vormittags gab es regulären Schulunterricht, nachmittags habe sie Unterricht in Pädagogik, Psychologie und Hauswirtschaft bekommen. Bereits mit 19 Jahren vertrat sie eine erkrankte Lehrerin und unterrichtete von der ersten bis zur vierten Klasse. Ihre Abschlussprüfung konnte sie jedoch nicht ablegen, da sie heiratete und zuerst ihrem Ehemann nach Ankara und schließlich 1968 nach Berlin folgte. Ihr Mann kam als Diplomat und war im Konsulat tätig. Sevim Öztürk berichtet dass sie in dieser Zeit die Möglichkeit hatte, Deutsch zu lernen. Sevim Öztürk und ihr Mann verließen Berlin 1970 wieder und gingen zurück in die Türkei, wo sie einige Monate verbrachten. Während dieser Zeit wendete sich Sevim Öztürk ihrer Modeleidenschaft zu, entwarf und schneiderte Kleidung. Als ihr Mann dienstlich nach Saudi-Arabien versetzt werden sollte, kündigte er seinen Arbeitsplatz und ging als Übersetzer für einen Geheimdienst wieder nach Berlin. 1972 folgt Sevim Öztürk ihm. Aus ihren Erzählungen im Interview ist die Zeit nach ihrer Rückkehr nach Berlin nicht genau zu rekonstruieren. Wahrscheinlich haben viele Prozesse sich zeitlich überlagert, jedoch werden Zusammenhänge von getroffenen Entscheidungen nicht ausgeführt. Sevim Öztürk berichtet, dass sie nach ihrer Rückkehr aus Neugierde begann, in einer Textilfabrik zu arbeiten. Entsprechend ihrer Ausführungen wollte sie das Leben der Arbeitsmigranten und die Bedingungen der Akkordarbeit kennenlernen. Dazu verstellte sie sich und verheimlichte ihre Deutschkenntnisse. Als sie ihre Kenntnisse nach einiger Zeit doch offenbarte, hatten weder ihre Arbeitskollegen noch ihre Vorgesetzten dafür Verständnis, sodass sie den Arbeitsplatz verlassen musste. Sevim Öztürk berichtet, dass sie anschließend Arbeitsangebote als Übersetzerin in kommunalen Kindertagesstätten erhalten habe. Da sie untergewichtig gewesen sei, habe der Amtsarzt sie jedoch nicht arbeiten lassen. Als sie schließlich an Gewicht gewonnen hatte, wurde sie von Kindertagesstätten beispielsweise als Übersetzerin für Elternversammlungen angestellt. Sevim Öztürk berichtet, dass sie in vielen Zusammenhängen übersetzt habe und dabei auch Fortbildungsveranstaltungen besucht habe. Da ihr Ehemann schließlich in einer Berliner Kommunalverwaltung tätig gewesen sei, seien auch ihre Kenntnisse zu Hauswirtschaft und Kindererziehung dort bekannt geworden.

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Man habe sie angefragt einen »Integrationshort« an einer Schule aufzubauen, in dem sowohl deutsche Kinder als auch Kinder von Arbeitsmigranten betreut werden sollten. Sie übernahm diese Aufgabe im Jahr 1974 und blieb die Leitung des Hortes bis zu ihrer Verrentung im Jahr 2006. Sevim Öztürk berichtet, dass sie über viele Jahre in einer Hockeymannschaft spielte und Nähkurse für Mädchen und junge Frauen angeboten habe. In den ersten Jahren als Hortleitung trennte sie sich von ihrem Mann, da er mit ihrer beruflichen Tätigkeit, insbesondere ihrer Leitungsposition, nicht klar gekommen sei. Mitte der 1980er wird sie mit 40 Jahren schwanger und bekommt einen Sohn, den sie allein aufzieht, da ihr damaliger Partner keine Kinder wollte. Auch die zweite Lebensphase wird durch Sevim Öztürks Erzählungen nicht vollständig rekonstruierbar. Sie berichtet, dass ihr Sohn mit Beginn seiner Volljährigkeit in eine eigene Wohnung ziehen wollte. Sevim Öztürk überließ ihm die bis dahin gemeinsam bewohnte anderthalb Zimmer große Wohnung und zog in einen Wohnwagen mit festem Vorzelt auf einem Campingplatz innerhalb der Stadtgrenzen Berlins. Dort wohnte sie auch über die Wintermonate und ging ihren Ausführungen entsprechend weiter ihrer Arbeit nach. Andererseits berichtet sie über den gleichen Zeitraum, 2004 bis 2006, dass sie aufgrund von Depressionen für zwei Jahre krankgeschrieben war. Dennoch hielt sie sich immer wieder stundenweise in dem Hort auf um sich den Berufsausstieg zu erleichtern. Im Jahr 2006 ging sie dann in den vorzeitigen Ruhestand. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Sevim Öztürk 65 Jahre alt und verbringt die meiste Zeit des Jahres in ihrem Haus in Antalya, das zuvor ihre bereits verstorbene Mutter bewohnte. Dort wohnt sie in der Nachbarschaft ihres Bruders. Mit ihren Geschwistern zusammen hält sie das ehemalige Elternhaus in ihrem Herkunftsort in der Provinz Antalya instand. Während der heißen Sommermonate und während des Ramadans hält sie sich dort auf. Auch nach Deutschland fährt sie entsprechend ihrer eigenen Auskunft regelmäßig. Im Jahr des Interviews war sie bereits anderthalb Monate während des Frühsommers in Deutschland und sie plane noch einen ein- bis zweimonatigen Aufenthalt im Herbst. Im Jahr zuvor verbrachte sie vier Monate über den Sommer auf dem Campingplatz in Berlin. Die Strecke zwischen ihren Wohnsitzen in der Türkei und in Deutschland lege sie eigenständig mit ihrem Auto zurück. Sevim ist in ständiger Begleitung ihrer Freundin und ehemaligen Mitarbeiterin Agnes. Agnes kam bereits Mitte der 1970er Jahre als Erzieherin in den von Sevim Öztürk geleiteten Hort. Entsprechend der Ausführungen von Sevim und Agnes, die am gesamten Interview aktiv beteiligt war, schützte Sevim Agnes vor Anfeindungen, kümmerte sich um ihre Gesundheit und versuchte sie psycho-sozial und beruflich zu fördern. Sevim nahm Agnes auch auf ihre Urlaubsreisen in die Türkei

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mit, sodass Agnes eine enge Verbindung zu Sevims Öztürk dortiger Verwandtschaft aufbaute. Da Agnes anscheinend ohne weitere enge familiäre Bindung geblieben ist, begleitet sie Sevim Öztürk seit Jahrzehnten sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. Sevim Öztürk und Agnes berichten, dass sie bei einem der letzten Aufenthalte in Deutschland Agnes Wohnung aufgelöst hätten. Nun wohnt Agnes in einer Eigentumswohnung von Sevim Öztürk in Antalya und hat – im Gegensatz zu Sevim Öztürk – keinen eigenen Wohnraum mehr in Deutschland. Sevim Öztürk möchte das Pendeln so lange wie möglich aufrechterhalten. Als Schwachstelle sieht sie ihre Knie, in beiden hat sie bereits Prothesen. Sie mache sich bewusst keine Pläne für die Zukunft, sondern vertraut darauf, dass – für den Fall, dass sie nicht schnell sterbe – jemand aus ihrer Familie für sie sorgen werde. Ansonsten könne sie sich auch vorstellen, dass sie eine Person in ihren Haushalt aufnimmt und dafür bezahlt, dass sie sie bei Pflegebedürftigkeit versorgt. Sevim Öztürk macht im Interview auch deutlich, dass sie finanziell nur wenige Ressourcen habe. Durch die frühe Verrentung habe sie nur wenig Renteneinkommen. Für die von Agnes bewohnte Wohnung erhält sie keine Mieteinnahmen. Bei Bedarf helfe die Familie ihres Bruders aus. Dies sieht sie in einem reziproken Zusammenhang, da sie früher bei der Finanzierung der Schulausbildung der Kinder ihres Bruders geholfen habe. In ihrer Selbstpositionierung inszeniert sich Sevim Öztürk in der Tradition einer gebildeten Lehrerfamilie. So betont sie, dass sie nicht so erzogen wurde wie andere türkische Mädchen ihrer Generation, sondern sehr frei. Auch hätten ihre Eltern bei ihr und ihren Geschwistern sehr viel Wert auf Bildung gelegt. Dieses Narrativ der gebildeten und freien Persönlichkeit setzt sich im gesamten Interviewverlauf fort. Immer wieder stellt sie heraus, dass sie sich aufgrund ihrer guten Ausbildung und ihres durchsetzungsstarken und unbeugsamen Charakters gegen Widerstände durchsetzen und für andere eintreten konnte. In Bezug auf andere Migranten aus der Türkei inszeniert sie sich als eine Retterin der unmündig gehaltenen Frauen. In ihrer Tätigkeit im Hort und in den von ihr angebotenen Nähkursen habe sie vielen Mädchen, jungen Frauen und Müttern geholfen. Dabei wecken ihre Selbstdarstellungen Assoziationen zu den Traditionen des Kemalismus – auch in Bezug auf Religion. Sie stellt sich als gläubige Muslimin dar, die regelmäßig zu Gott bete und den Ramadan immer eingehalten habe. Gleichzeitig kritisiert sie das Tragen eines Kopftuches und die Entziehung von Selbstständigkeit bei einem falsch verstandenen und zu öffentlichem Islam. Im gesamten Interview verdeutlicht sich eine sehr hohe Selbstwirksamkeitsauffassung. Es scheint, als sei sie davon überzeugt, dass sie alles erreichen könne, was sie möchte. Im Interview berichtet sie an keiner Stelle von persönlichen Schwächen.

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Das Interview fand in einem Wohnraum in Sevim Öztürks Haus in Antalya statt. Bei dem Gespräch war auch ihre Freundin Agnes anwesend, die immer wieder zum Tee und Kaffee kochen in die Küche ging. Das Interview fand komplett auf Deutsch statt. Ursprünglich sollte dieses Interview ein Pretest für den Leitfaden darstellen, da die beiden Frauen der Forschenden bereits aus privaten Zusammenhängen persönlich bekannt waren. Da in dieser Erhebungsstufe die Ausfallquote so hoch war, wurde nachträglich das Einverständnis von Sevim Öztürk und Agnes eingeholt, das Interview in das Sample mit einzubeziehen. Sevim Öztürk kann dem Pendeltyp »Pendeln bei binationaler Orientierung« zugerechnet werden. Yaşar Şahin Yaşar Şahin wurde 1944 in Gaziantep geboren und wuchs mit sieben Geschwistern auf.16 Er schloss die Mittelschule ab und absolvierte seinen Militärdienst. Anschließend wurde er Beamter im Forstamt und arbeitete später in einer Baumschule in der Provinz Isparta. 1967 heiratet er seine Frau, die aus Isparta stammt. Direkt nach seinem Militärdienst stellte Yaşar Şahin einen Antrag zur Arbeitsaufnahme in Deutschland, welcher jedoch erst sieben Jahre später bewilligt wurde. Er ging im Jahr 197317 in eine hessische Kleinstadt, arbeitete in einer Fabrik und wohnte in einem Arbeiterwohnheim. Als er zwei Jahre später seine Frau und seine erste Tochter nach Deutschland holte, hatten sie Schwierigkeiten, einen angemessenen Wohnraum zu finden. Rückblickend bewertet Yaşar Şahin die ersten Jahre in Deutschland als eine »harte Zeit«, in der er nicht viel planen und auch über drei Jahre die Türkei nicht besuchen konnte. Das Ehepaar Şahin fand Kontakt zu einer Frau, die ihnen ein kleines Zimmer vermietete und eine Freundin der Familie wurde. Als die zweite Tochter geboren wurde, vermietete sie Familie Şahin eine größere Wohnung. Im Interview verdeutlich Yaşar Şahin, dass er sich dieser Vermieterin sehr zu Dank verpflichtet fühlt, da sie ihn dabei unterstützte, in Deutschland anzukommen. Schließlich bekam Yaşar Şahin mit seiner Frau insgesamt vier Töchter. Er arbeitete immer in der gleichen Fabrik und war dort im Betriebsrat und in der Gewerkschaft aktiv. Seine Frau kümmerte sich um den Haushalt und die Kindererziehung. 28 Jahre war Yaşar Şahin als Schiedsrichter in den Sportarten Fußball, Volleyball und Schwergewicht heben aktiv. Er organisierte regelmäßig öffentlich

16 Zwei der Brüder sind zum Interviewzeitpunkt bereits verstorben. 17 Yaşar reiste im Mai 1973 nach Deutschland ein. Im November desselben Jahres wurde die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland gestoppt.

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zugängliche Veranstaltungen, bei denen er prominente kommunal-, landes- und bundespolitische Gäste einlud. Yaşar Şahin berichtet, dass es ihm sehr wichtig gewesen sei, seinen Kinder die Türkei zu zeigen, damit sie später selbstständig entscheiden könnten, ob sie in Deutschland oder der Türkei leben wollten. Daher haben sie jedes Jahr die sechs Wochen der Sommerferien dort verbracht und auch gerne deutsche Freundinnen ihrer Töchter mitgenommen. Die Şahins bauten ein eigenes Haus in der Provinz Isparta und erwarben mit einer Kooperative auch eine größere landwirtschaftliche Fläche, auf der sie Apfelbäume anpflanzten und auch noch gegenwärtig das dortige Sommerhaus nutzen. Nach mehreren Jahren zur Miete kauften sie in Deutschland zuerst eine Wohnung, die sie später wieder veräußerten um zusammen mit der ältesten Tochter (und weiterer finanzieller Unterstützung aus der Familie und einem Kredit bei der Bank) ein Haus in der gleichen Region in Deutschland zu erwerben, welches sie zum Zeitpunkt des Interviews bewohnen, wenn sie in Deutschland sind. 2003 ging Yaşar Şahin mit knapp 60 Jahren in Rente. Seitdem pendelt er zusammen mit seiner Ehefrau zwischen Deutschland und der Türkei und bereist weitere Länder. Zur Zeit des Interviews verbringen die beiden jedes Jahr vier Monate im Sommer in der Türkei. Der Pendelrhythmus ergibt sich durch sein ehrenamtliches Engagement. Yaşar Şahin ist Versicherungsältester 18 bei der Deutschen Rentenversicherung und führt je nach Anfrage Rentenberatungen in Deutschland aus. Alle zwei Monate gäbe es dazu eine Versammlung der Versicherungsältesten, die er einmal im Jahr nicht besuche. So verbringt er einen maximalen Zeitraum von vier Monaten mit seiner Frau in der Provinz Isparta. Seine Kontaktdaten seien jedoch auch in der Türkei im Umlauf, sodass er auch dort regelmäßig und freiwillig Rentenberatungsgespräche ausführe. Lediglich die Wochenenden halte er sich komplett für seine Familie frei. Yaşar Şahin hat die deutsche Staatsangehörigkeit und kann sich durch eine Mavı Kart während der vier Monate legal in der Türkei aufhalten. Seine älteste Tochter in Deutschland nennt er seine »rechte Hand«. Sie helfe ihm dabei, sein Pendeln zu organisieren, indem sie in seiner Abwesenheit seine Post verwalte und Anrufe entgegennehme. Diese Tochter hat eine Verwaltungsausbildung bei der Kommune durchlaufen und ist Dolmetscherin. Im Interview wird die Tätigkeit der Tochter nicht ganz verständlich, jedoch wird aus einem vom

18 Versicherungsälteste sind eine Institution der Deutschen Rentenversicherung Bund sowie der regionalen Träger, bei der Ehrenamtliche, insbesondere im ländlichen Raum, kostenlos bei der Antragstellung helfen und zudem dem Verschwiegenheitsgesetz unterliegen (vgl. DRVM2012).

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Ehepaar Şahin gezeigten Zeitungsartikel deutlich, dass sie als kommunale Integrationsbeauftragte auch Deutsch- und Integrationskurse anbietet, an denen auch ihre Mutter teilgenommen hat. In ihrer Funktion scheint sie sich um einen Austausch der Kirchengemeinden und der Moscheegemeinden zu bemühen. Yaşar Şahin ist im Vorstand einer DITIB-Gemeinde aktiv und im Ausländerbeirat seiner Kommune. Zwei weitere Töchter leben in der Türkei. Eine der Töchter ist Ärztin und lebt ebenfalls mit ihrem Mann und ihrem Kind in der Mittelmeerregion. Die jüngste Tochter ist von Beruf Arzthelferin und lebt seit ihrer Hochzeit in Ankara. Eine weitere Tochter ist Zahnärztin und lebt in Deutschland. Yaşar Şahin sagt im Interview, dass er sich für das Pendeln entschieden habe, da es für ihn das Schönste vereinbart. Sollte der Zeitpunkt kommen, an dem er sich für einen Lebensort entscheiden muss, würde er die Türkei wählen. Konkrete Pläne im Fall einer möglichen Pflegebedürftigkeit habe er nicht. Er hoffe, dass er schnell sterben werde. Falls nicht, geht er davon aus, dass eines seiner Kinder in die Nähe seines Wohnhauses in der Provinz Isparta ziehen werde. Darüber hinaus habe er so vielen Menschen geholfen, dass er davon ausgehe, dass auch ihm geholfen werde. Yaşar Şahin erstellt in jedem Dezember einen Jahresplan für das kommende Jahr, verbunden mit einem strikten Tagesplan. Teile des Jahresplanes zum Zeitpunkt des Interviews sind beispielsweise das Lesen von zehn Büchern und drei Auslandsreisen. Für das zum Interviewzeitpunkt gegenwärtige Jahr möchte er noch ein weiteres Mal Frankreich bereisen und zum ersten Mal in seinem Leben nach Ungarn fahren. Die dritte Auslandsreise sei noch nicht geplant. Über Quartalsrückblicke stelle er sicher, dass er seine Jahrespläne einhalten kann. Zu seinem täglichen Programm gehöre unter anderem eine halbe Stunde Frühsport. Sein Lebenscredo »immer das Beste geben«, zieht sich durch das gesamte Interview und ist kennzeichnend für seine Selbstpositionierung. Im Interview vollzieht er keine direkten Abgrenzungen anderer, sondern inszeniert seine eigene bildungsaffine und proaktive Lebenshaltung. Er sieht sich als jemanden, der durch sein besonderes Engagement und seine innere Einstellung aktiv Lösungen für Probleme findet. Durch seine guten Ideen habe er sowohl Positives für seine Familie bewirkt als auch für viele andere, die sich hilfesuchend an ihn gewendet haben. Er betont, dass er seine Kinder ermutigt habe, über Bildung und Fleiß vieles im Leben zu erreichen.19

19 Die Ausführungen und Selbstpositionierungen von Yaşar Şahin wecken sofort Assoziationen mit Beschreibungen der »Islamischen Calvinisten«, die auch in der Herkunftsregion von Yaşar Şahin beschrieben wurden (European Stability Initiative (ESI) 2005).

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Das Interview mit Yaşar Şahin fand im Wohnzimmer seines Hauses in der Provinz Isparta statt. Im Wohnzimmer und im gesamten Wohnraum fanden sich viele Fotos der Familie und Erinnerungen der vier Pilgerreisen nach Mekka. Bei dem Interview waren auch seine Ehefrau sowie das Ehepaar aus der Nachbarschaft, welches den Kontakt hergestellt hatte, anwesend. Yaşar Şahin bestand darauf, das Interview auf Deutsch zu führen. Seine Frau sprach kaum Deutsch, schien jedoch dem Gesprächsverlauf folgen zu können. Die Nachbarn waren ein deutsch-türkisches Ehepaar, die ebenfalls beide Deutsch und Türkisch sprachen. Während des Interviews bewirtete die Ehefrau von Yaşar Şahin alle Gäste mit Wasser, Tee und einer großen Obstplatte. Nach dem Interview wurde eine reichliche, warme Mahlzeit serviert. Die Atmosphäre war sehr herzlich und angenehm. Yaşar Şahin schien sehr stolz, aus seinem Leben berichten zu können und sein Haus und seinen Garten zu zeigen. Yaşar Şahin kann als Pendler mit binationaler Orientierung eingestuft werden. Zeki Akpınar Zeki Akpınar wurde 1938 als eines von sieben Geschwistern20 in einem Vorort von Isparta geboren. Bereits mit 14 Jahren heiratet er seine Frau, 21 mit der er zum Zeitpunkt des Interviews noch zusammenlebt. Sie hatten bereits fünf gemeinsame Kinder als Zeki Akpınar 1970 mit 32 Jahren als Arbeiter nach Deutschland ging. 1974 holte er seine Frau und die Kinder nach. Später bekamen sie noch ein sechstes gemeinsames Kind in Deutschland. Zeki Akpınar hatte in seinem Heimatort die Teppichfabrik seiner Familie übernommen und war Arbeitgeber für 70 Angestellte. Er lebte entsprechend seinen Ausführungen ohne materielle Not. Als er 1970 nach Deutschland ging, übertrug er seine Firmenrechte an seine Ehefrau. Im Interview wird nicht klar, was aus der Teppichfabrik wurde, nachdem auch seine Frau nach Deutschland kam. Jedoch berichtet er nicht weiter von ihr, sodass vermutet werden kann, dass entweder der Betrieb eingestellt oder die Firma verkauft beziehungsweise an einen anderen Verwandten weitergegeben wurde. Zeki Akpınar sagt, dass er aus Abenteuerlust nach Deutschland gegangen sei. Er wollte dort keine weiteren sozialen Kontakte knüpfen, lediglich viel Geld verdienen und

20 Zeki Akpınar gibt an, dass die sieben Geschwister von zwei Müttern kämen. Im Interview wird nicht klar, ob sein Vater hintereinander verheiratet war oder mit zwei Frauen gleichzeitig zusammenlebte. 21 Es ist unwahrscheinlich, dass Zeki Akpınar seine Frau im Alter von 14 Jahren standesamtlich heiraten konnte, sodass vermutet werden kann, dass eine islamische Trauung stattfand und eine standesamtliche Eheschließung Jahre später vollzogen wurde.

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schnell wieder in die Türkei zurückkehren. Als Begründung, weshalb er doch in Deutschland blieb, beschreibt er zum einen, dass er auch ein Sozialleben haben und nicht nur sparen wollte sowie die starke Inflation in der Türkei der damaligen Jahre. Aus dem Interview wird deutlich, dass Zeki Akpınar mindestens zweimal als Arbeiter nach Deutschland einreiste. Ein erstes Mal scheint er in einer Großküche in Hessen tätig gewesen zu sein und in einem Wohnheim gewohnt zu haben. Nach drei Monaten sei er in die Türkei zurückgekehrt. Ein zweites Mal war er in einer Fabrik in Süddeutschland angestellt. Dort habe er einen Deutschen kennengelernt, der schließlich zu einem guten Freund geworden sei. Entsprechend Zeki Akpınars Ausführungen wollte der Deutsche zunächst christlicher Geistlicher werden und habe auch zeitweise in Istanbul studiert. Jedoch habe er das Studium abgebrochen und schließlich Bauingenieurwesen studiert. Um sich das Studium zu finanzieren, habe der Deutsche ebenfalls in der Fabrik gearbeitet, wo sie sich kennenlernten. Als sich dieser Freund später mit einem Bauunternehmen selbstständig machte, wechselte er in sein Unternehmen und war bis zu seinem Austritt aus dem Erwerbsleben dort angestellt. Zeki Akpınar bezeichnet diesen Freund als Teil seiner Familie, fast wie Blutsbrüder seien sie. Über die Jahre hätten sie sich regelmäßig besucht und stünden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Kontakt. Dass sich solch eine enge Freundschaft entwickeln konnte, führt Zeki Akpınar auf seine innere Einstellung zurück. Er sei immer offenherzig und aufrichtig auf Menschen zugegangen und habe in Deutschland nie Probleme gehabt. Dennoch wolle er berichten, dass er gegen Ende der 1970er Jahre zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Die Strafe sei schließlich, da er Frau und Kinder hatte, in eine Geldstrafe umgewandelt worden. Es wird im Interview nicht klar, welche Tat mit der Verurteilung im Zusammenhang steht. Zum einen benennt er handgreifliche Auseinandersetzungen mit weiteren türkeistämmigen Arbeitsmigranten. Zum anderen berichtet er von einer Urkundenfälschung, die er begangen habe, damit er seine Kinder nach Deutschland holen konnte.22 Zeki Akpınar ließ sich mit seiner Familie in einer ländlichen Region südlich von Stuttgart nieder. Er berichtet, dass er dort zusammen mit sieben weiteren Freunden zunächst ein Mescit gegründet und finanziert habe.23 Später sei daraus eine richtige Moschee entstanden, die sich dem DITIB-Verband angeschlossen habe. Noch heute spende er der Moscheegemeinde monatlich Geld, damit diese ihre laufenden Kosten decken könne.

22 1974 war es angeworbenen Arbeitskräften im Rahmen der Familienzusammenführungen möglich, lediglich drei im Ausland geborene Kinder nach Deutschland zu holen. 23 Zeki Akpınar behauptet, dass es die fünfte von Türken gegründete Moschee in Deutschland sei. Mit seinen Freunden zusammen hätten sie jeden Monat 300 DM aufgebracht, um die Miete sowie die Nebenkosten und den Imam zu bezahlen.

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Scheinbar in Einvernehmen mit seinem Arbeitgeber bekam Zeki 1992 eine Abfindung und hörte auf zu arbeiten. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit ging er 1995 mit 57 Jahren in Rente. Zeki Akpınar ist türkischer Staatsbürger und hat seinen Wohnsitz in Deutschland im Jahr 1995 aufgegeben. Seitdem lebt er in seinem Geburtsort mit seiner Frau in einem großen Haus und angrenzendem Nutzgarten. Das Haus scheint er bereits Jahrzehnte zuvor gebaut zu haben. Fünf seiner Kinder wohnen in Deutschland, ein weiteres Kind in der Türkei. Er sagt, dass seine sechs Kinder und 17 Enkelkinder ihn regelmäßig besuchten.24 Von 1995 bis 2000 sei er regelmäßig – so wie er Lust hatte – nach Deutschland gereist und habe dann einige Monate bei seinen Kindern gelebt. Im Zeitraum von 2000 bis 2008 sei er nicht in Deutschland gewesen. Eine Begründung dazu führt er nicht an. Das letzte Mal habe er 2008 seine Familie und seine Freunde in der Moschee in Deutschland besucht. Nun, zwei Jahre später, plane er eine weitere Reise nach Deutschland. Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei scheint Zeki Akpınar die meiste Zeit in der jeweiligen Moschee beziehungsweise im angrenzenden Teehaus zu verbringen. Zeki Akpınar positioniert sich im Interview als überzeugter Muslim. Um Gott für seine Schöpfungen zu danken, halte er sich fest an die fünf Säulen des Islams. Mehrmals beschreibt er Verfehlungen von aus seiner Perspektive Ungläubigen. Jedoch wolle er sie nicht verurteilen, denn das stünde nur Gott zu. Zeki Akpınar ist zum Zeitpunkt des Interviews 72 Jahre alt. Er berichtet, dass er im Vergleich zu seinen Freunden in der Türkei, die keine monatliche Rente aus Deutschland bezögen, wesentlich besser gestellt sei. Er habe so hohe monatliche Einnahmen, dass er ein ordentliches Sozialleben habe und zusätzlich jeden Monat etwas Geld spare. Er sei nicht mehr auf Erwerbsarbeit angewiesen und könne sich täglich eine Packung Zigaretten und Teetrinken zusammen mit seinen 8-10 Freunden im Teegarten sowie Reisen zusammen mit seiner Frau leisten. Er berichtet, dass er in den drei Monaten vor der Interview drei Mal operiert wurde: einmal an der Prostata und jeweils einmal wegen eines Leistenbruchs auf der linken und rechten Körperseite. Seit circa sieben Jahren würde er merken, dass seine körperlichen Kräfte schwänden. Das Alter läge nicht in seiner Hand, es käme wie ein Gast ohne Einladung. In Bezug auf mögliche Pflegeerwartungen führt Zeki Akpınar aus, dass er entsprechend den Vorgaben des Islams auf die Familie vertraue. So würde er sich um seine Frau kümmern, wenn sie der Hilfe bedürfe. Dennoch würde er Leistungen

24 Er sei ein strenger Vater und Großvater, der bei Bedarf auch eine Rute zur körperlichen Bestrafung nutze. Daher würden seine Enkelkinder nicht gerne allein bei ihm Urlaub machen.

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der türkischen Sozialversicherungen in Anspruch nehmen und so eine häusliche Pflegekraft finanzieren. Er würde im Falle einer Pflegebedürftigkeit nicht zu seinen Kindern nach Deutschland gehen, sondern vertraue darauf, dass diese sicherstellten, dass abwechselnd immer eines der Kinder beziehungsweise Schwiegertöchter bei ihnen in der Türkei wäre. Das Treffen mit Zeki Akpınar nahm sehr viel Zeit ein. Das Interviewerteam fand sich zum vereinbarten Zeitpunkt an einem zentralen Platz des Heimatdorfes von Zeki Akpınar ein. Dieser kam eine Dreiviertelstunde verspätet dazu und lud in den Teegarten vor der Moschee ein, wo das Interview stattfand. Die gesamte Konversation fand auf Türkisch statt, da Zeki Akpınar nur sehr gebrochen Deutsch sprach. Während des Interviews winkte Zeki Akpınar einen Freund dazu, der circa eine halbe Stunde während des Interviews anwesend war und in zwei kurzen Episoden von sich berichtete.25 Zeki Akpınar benannte noch weitere ihm bekannte Pendler zwischen Deutschland und der Türkei, jedoch würde er diese nicht als Interviewpartner empfehlen, da sie nicht ausreichend gebildet seien. Zeki Akpınar bestand darauf, dass er das Interviewerteam zu einem Essen einladen möchte. Nach circa zwei Stunden drängte er darauf das Interview zu beenden, um die Autorin zu seinem Haus zu bringen, wo sie sich mit seiner Ehefrau und seiner Schwester unterhielt beziehungsweise an der Zubereitung des Essens beteiligt wurde. Während der Zeit der Essenszubereitung ging Zeki Akpınar mit Sami Kılıç zum Freitagsgebet in die Moschee. Alle Familienmitglieder positionierten sich als gläubige Muslime. Im besichtigten Wohnraum waren keine Fotos zu erkennen, dafür Zeichen von mindestens einer Pilgerreise nach Mekka. Es wurde eine aufwendige Mahlzeit bereitet und gemeinsam gegessen. Bevor das Interviewerteam wieder abreisen konnte, bestand Zeki Akpınar darauf, dass sie Obst im Garten pflückten und mitnahmen. All dies begründete er über die Gastgeberpflichten eines guten Muslims. Zeki Akpınar vermied jeglichen Körperkontakt mit der Autorin (Händeschütteln), jedoch nicht mit Sami Kılıç. Er war durchgängig sehr freundlich und anscheinend stolz, aus seinem Leben berichten zu dürfen. Zeki Akpınar kann dem Typ »Pendeln bei Rückkehr« zugeordnet werden.

25 Auch er war als Arbeiter in Deutschland und habe im Ruhrgebiet im Bergbau gearbeitet. Doch sei er bereits in den 1970er Jahren zurückgekehrt. Seit eines Schlaganfalls vor acht Jahren sei seine Ehefrau halbseitig gelähmt und er übernähme ihre gesamte Versorgung und Pflege. Er verabschiedete sich aus der Interviewsituation auch mit dem Hinweis, dass er wieder zu seiner Frau gehen müsse.

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5.2 ALTER ( N ) SERWARTUNGEN »Also etwas, das nicht in deiner Hand liegt, wie ein Gast ohne Einladung« »Yani elinde olmayan bir şey, davetsiz misafir gibi«

In dieser Studie interessierte, welche Alter(n)serwartungen aus den Ausführungen der Interviewpartner rekonstruierbar sind. Entsprechend der ergebnisoffenen Herangehensweise wurden aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial fallübergreifende Konstanten herausgefiltert, sodass charakteristische Eckpunkte der von den befragten Personen kommunizierten Alter(n)serwartungen rekonstruiert werden konnten. Die folgende Ergebnisdarstellung gliedert sich in vier Schwerpunkte. In einem ersten Abschnitt wird dargelegt, dass die Interviewpartner Alter und Altern am Körperlichen festmachen. Sie kommunizieren Altern prädominant als einen natürlichen Prozess körperlicher Degeneration, der in Folge auch Auswirkungen auf das individuelle Verhalten und die soziale Positionierung hat. In einem zweiten Abschnitt wird aufgezeigt, dass die Interviewpartner ihr Alter und Altern auf zwei in einem spannungsreichen Verhältnis stehenden Erfahrungsebenen erleben. Einerseits deuten sie ihr Leben und ihr Alter(n) in Abhängigkeit von einer mit Fügungsgewalt ausgestatteten Schicksalsinstanz, hauptsächlich islamisch gerahmt. Gegen eine angenommene Prädestination beziehungsweise Schicksalsbestimmung agieren sie nicht, sondern präsentieren sich als fügsam. Andererseits kommunizieren sie Spielräume, in denen sie ihren Alternsverlauf positiv beeinflussen können. Dort, wo sie Spielräume ausmachen, wollen sie sie nutzen. In einem dritten Abschnitt wird angeführt, dass die befragten Personen ihr Alter(n) in einem direkten Zusammenhang mit finanziellem Mangel erleben. (Drohende) Armut ist Teil ihrer Alter(n)serfahrung, die sie zu Strategieentwicklungen herausfordert. In einem vierten Abschnitt wird an ausgewählten Beispielen aufgezeigt, wie die angeführten Dimensionen (Altern als körperliche Degeneration, Altern zwischen Abhängigkeit und Kontrolle sowie Armut als Teil des Alterns) sich in der Alltagsgestaltung der Interviewpartner niederschlägt. In einem abschließenden Zwischenfazit werden zentrale Aspekte der rekonstruierten Alter(n)s-erwartungen zusammengefasst, die in den weiteren Ergebniskapiteln wieder aufgegriffen und weiter inhaltlich verdichtet werden.

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5.2.1 Altern als prädominant natürlich-körperliche Degeneration »Alt werden. Nein, das ist, das ist eine Natursache.«

Zunächst wird in den Ausführungen aller Interviewpartner deutlich, dass sie mit Alter und Altern vor allem körperliche Einschränkungen, Krankheiten und Degenerationen assoziieren, was sie als einen natürlichen Prozess verstehen. In allen Interviews führen die Gesprächspartner Beispiele körperlich-gesundheitlicher Degeneration als Kennzeichen des Alter(n)s an. Einige schließen aufgrund eigener körperlicher Erfahrungen darauf, dass sie nun zur Gruppe der Älteren gehören. So listet beispielsweise Kemal Koyun körperliche Veränderungen an sich selbst auf, die für ihn Anzeichen des Alters darstellen: »Alterserscheinungen sind zuerst, dass meine Niere weg ist. Eins. Zweitens, dass mein Rücken sich buckelt. Zwei. Dass die Haare weiß geworden sind. Drei. Dass die Schmerzen zugenommen haben. Ich halte jetzt auf einem Stuhl Namaz. Warum? Bei dieser Strahlentherapie ist mein Fuß angeschwollen, so kann ich nicht beten. […] So sind die Dinge des Alters, nicht wahr?« »Yaşlılığın belirtileri başta böbreğim gitti. Bir. İkincisi belim kamburlaşmış benim. İki. Saçlar ağardı. Üç. Ağrılar sancılar çoğaldı. Şimdi ben sandalye üzerinde namaz kılıyorum. Neden? Bu ışın tedavisinde şişmiş ayağım benim kılamıyorum namazı. […] Yaşlılığın şeyleri bunlar öyle, değil mi?« (Kemal Koyun, Z. 1601-1607)

Und auch Zeki Akpınar berichtet, befragt nach seinen Erfahrungen mit dem Altern, von seinem körperlichen Gesundheitszustand: »Mein Herr, Schmerzen. Ich bin jetzt in drei Monaten, in dreieinhalb Monaten zwei Mal, drei Mal operiert worden. Einmal an der Prostata, zwei Mal Leistenbruch. An meiner linken Leiste hatte ich eine Operation. (I: Gute Besserung.) Zwei Monate später war Dings auf meiner rechten Seite. Mein Herr, lass mich mal sagen: was für ein schrottreifer Laster!« »Efendim ağrılar. Ben şimdi üç ay, üç buçuk ay içerisinde iki sefer, üç sefer ameliyat oldum. Bir prostatta, iki fıtıkta. Fıtıkta ameliyatım soldan oldum. (I: Geçmiş olsun.) İki ay sonra sağ tarafım şey oldu. Efendime söyleyim: nasıl bir hurda kamyon!« (Zeki Akpınar, Z. 19521961)

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Riza Ateş gibt als Anzeichen des Alterns an, dass Verhaltensweisen, die in jungen Jahren unproblematisch waren, mit dem Alter körperliches Unwohlsein oder auch Krankheit hervorrufen können: »Fett, viel Fett, Fleisch essen, was machen? Kalt Wasser trinken. Krank, was machen? Alle alt. Und jung, alle Fett essen, keine krank. Kalt Wasser trinken, keine krank. Viel laufen, keine krank. Ja wir viel laufen, wieder krank.« (Riza Ateş, Z. 1114-1117)

Auch Duygu Çiçek macht in ihren Ausführungen Alternsprozesse prädominant am Körper, dessen optischen Veränderungen und dem Gesundheitszustand fest: »Nein, also ich fühle mich überhaupt nicht alt. Ich sehe auch nicht alt aus. Ich pflege mich gut. Wenn ich im, ich guck mich im Spiegel immer wieder an. Na, bist du noch fett? Dann kann ich bisschen noch Diät machen, aber ich fühle mich noch nicht alt. (I: Was macht alt? Oder was macht Altern aus?) Tja. Natürlich wir werden ältere. Aber solange, dass man sich noch (.) gesundheitlich gut hält, dann denkt man immer noch, natürlich, körperlich, es ist egal wie man sich da ja, ich bin nicht alt, das stimmt nicht.« (Duygu Çiçek, Z. 727-735)

Zwar sieht Duygu Çiçek in der Körperpflege sowie der Gewichtskontrolle Möglichkeiten, regulierend in körperliche Alternsprozesse einzugreifen, gleichzeitig unterstreicht sie eine Unabänderlichkeit kalendarischen und biologischen Alterns. Eine Gesetztheit und Unabänderlichkeit in Bezug auf Alter(n) formuliert auch Mustafa Güneş. Auf die Frage, ob er sich selbst alt fühle antwortet er mit einer rhetorischen Gegenfrage, die einer Zustimmung gleichkommt, und bringt ebenfalls körperliche Indikatoren für das Alter(n) an: »Wie soll man sich denn nicht alt fühlen? Sobald man ein wenig läuft, machen sich die Knie sofort bemerkbar. Ach Gott! Ist die Jugend denn etwa das gleiche wie das Alter?« »Yaşlı hissetmez mi insan yahu? Biraz yürüdüğün zaman başlar dizler sızlamaya. Allah Allah! Genç ile ihtiyar bir olur mu?« (Mustafa Güneş, Z. 1010-1011)

Neben dem Bezug auf körperliche Indikatoren des Alter(n)s greift Mustafa Güneş auf eine Dichotomisierung von Alter und Jugend zurück. Diese Abgrenzung und Kontrastierung greifen auch andere Interviewpartner wieder auf. So beispielsweise Nuri İbrahimoğlu. Doch beschreibt er nicht einen plötzlichen Wechsel von jung zu alt, sondern beschreibt das Altern als einen (primär) körperlichen Prozess, der in der vermeintlichen Mitte des Lebens einen Höhepunkt an Kraft erfährt:

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»Bis man vierzig ist geht es die Leiter hoch, ab vierzig geht es dann hinunter. Aber das glaube ich nicht. Denn mit vierzig, fünfundvierzig ist das die dynamischste Zeit eines Menschen, die robusteste Zeit, die aktivste Zeit, die Zeit, in der der Geist am meisten arbeitet. Aber danach, wenn man dann fünfzig, fünfundfünfzig Jahre alt ist, dann beginnt ganz langsam die Vergesslichkeit, der Körper verliert seine Energie. Und dann fängt man ganz langsam an, sich alt zu fühlen.« »Kırkʼa kadar merdiven yukarı, kırk’tan sonra da aşağıya. Ama ben ona inanmıyorum. Çünkü kırk, kırkbeş insanın en dinamik zamanı, en dinç zamanı, en atılgan zamanı, kafasını en çalışkan zamanı. Ama ondan yaş elli, ellibeşʼi bulduğu zaman artık yavaş yavaş unutkanlıklar başlar, vücutta enerjiler tükenir. Ondan sonra artık yavaş yavaş yaşlı hissetmeye başlarsın.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1024-1035)

Nuri İbrahimoğlu beschreibt hier Altern als einen physischen Degenerationsprozess, der auch kognitive Auswirkungen hat. Während die Zeit des Nicht-Alt-Seins, also die Jugend, als Zeit von höchster geistiger und körperlicher Aktivität aufgefasst wird, wird mit dem Alter sowohl ein Prozess des Nachlassens physischer als auch psychischer Kräfte assoziiert. Vergesslichkeit wird dabei als weiterer Indikator des Alter(n)s angesehen. Dabei adaptiert Nuri İbrahimoğlu das ihm gesellschaftlich vermittelte Altersverständnis entsprechend seinen persönlichen Erfahrungen und verschiebt eigenmächtig eine durch kalendarische Setzungen definierte Altersgrenze nach hinten.26 Dennoch macht er Alter und Altern primär an körperlichen Indikatoren fest. Die Gesprächspartner beziehen sich nicht nur auf altersassoziierte Degenerationen im physischen und kognitiven Bereich, sondern bringen auch Beispiele von Persönlichkeitsveränderungen an. Am deutlichsten wird dies im Interview mit Duygu Çiçek ersichtlich, die von Erfahrungen im Umgang mit ihrer Mutter spricht, mit der sie täglich zusammen ist: »Die ist sehr schnelle jetzt so alles sauer. Die nimmt jede Sache ernst, ja auch wenn wir, früher haben wir immer Spaß gemacht, jetzt können wir jetzt gar nichts mehr auf sie Spaß machen. Sie nimmt denn gleich ernst. Und das merke ich, das merken wir auch, aha, für uns erwartet auch diese Zeiten.« (Duygu Çiçek, Z. 740-743)

Die von Duygu Çiçek an ihrer Mutter beobachteten Persönlichkeitsveränderungen wertet sie als altersbedingt. Dabei repräsentiert ihre Mutter für sie keinen Einzelfall, sondern Duygu Çiçek generalisiert diese Beobachtung beziehungsweise Deu-

26 Nuri İbrahimoğlu zählt sich selbst, er ist zum Zeitpunkt dieser Aussage 64 Jahre alt, zu den Alten.

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tung auch im weiteren Interviewverlauf als oftmals kennzeichnend für das höhere Alter: »Es gibt ältere Menschen, die sich alt geworden sind, aber aggressiver geworden sind, aber merkt man schon auch in Straße zum Beispiel ja, wie die älteren Menschen gegen die jüngeren Leute aggressiver sind. Eigentlich das ist das mal weil die alt geworden sind. Und ich bin, ich sag das immer, wenn ich das sehe, die werde die Zeit auch kommen. Aber man sieht schon die Menschen, die sich ändern. Wenn die Ältere älter werden.« (Duygu Çiçek , Z. 749-754)

Duygu Çiçek bezieht die von ihr wahrgenommenen Persönlichkeitsveränderungen Älterer nicht auf alle älteren Menschen, sie sind somit für sie kein zwingender Automatismus. Dennoch drückt sie aus, dass mit dem steigenden Alter Persönlichkeitsveränderungen wahrscheinlich werden. Es wird in ihren Ausführungen nicht deutlich, ob sie diese Persönlichkeitsveränderungen als eine wahrscheinliche Begleiterscheinung oder als eine zentrale Charakteristik des Alters konzipiert. In der Zusammenschau des Datenmaterials wird ersichtlich, dass die Gesprächspartner mit einem steigenden kalendarischen Alter zunehmende körperliche Einschränkungen sowie das vermehrte Auftreten von Krankheiten verbinden. Lediglich Nazım Yılmaz drückt aus, dass er vom Verlauf seines eigenen Alterns, der Degenerationen seines Körpers, überrascht ist. Alle anderen Interviewpartner machen deutlich, dass sie auch für ihr eigenes Altern mit weiteren körperlichen Abbauprozessen und teilweise mit kognitiv-degenerativen Prozessen rechnen. Aus dem Datenmaterial kann generalisiert werden, dass die Interviewpartner Alter und Altern prädominant als einen körperlichen Degenerationsprozess konzipieren. Auch Veränderungen der sozialen Positionierungen sowie Persönlichkeitsveränderungen werden mit dem Alter(n) assoziiert, jedoch nur vereinzelt als zentrale Problemlagen diskutiert. Positiv konnotierte Entwicklungen des Alter(n)s werden von den Interviewpartnern nicht in Bezug auf körperliche Dimensionen beschrieben, sondern hinsichtlich individueller intellektueller und sozialer Kompetenzverschiebungen. Dennoch spielen solche Äußerungen in den Ausführungen der Interviewpartner nur eine marginale Rolle. Alter und Altern werden für die Gesprächspartner vor allem über das Körperliche erfahren beziehungsweise für sie kommunizierbar. Alter(n) erscheint in dieser rekonstruierten Perspektive als ein quasi naturgesetzliches Phänomen. Die Unabänderlichkeit und Natürlichkeit des Alterns drückt Yaşar Şahin pointiert aus: »Alt werden. Nein, das ist, das ist eine Natursache.« (Yaşar Şahin, Z. 1344) Und auch Duygu Çiçek versteht Altern als Teil eines natürlichen Kreislaufs des Lebens:

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»Sonst, jeder wird älter. Ist ja klar. Die Natur, wir sind von Erde und wir werden wieder von Erde zurück.« (Duygu Çiçek, Z. 747-748)

Alter stellt sich so als eine natürliche und somit unumgängliche Lebensphase dar, die entsprechend ihrer Antizipationen sehr wahrscheinlich mit gesundheitlichen Problemen und Krankheiten einhergeht. Bemerkenswert an dieser konstruierten und deutlich kommunizierten Prädominanz ist, dass die Interviewpartner mit dieser grundsätzlich auch sie betreffenden Zukunftsantizipation nicht hadern, ihr scheinbar klaglos und ohne Sorgen entgegentreten, wie es beispielsweise Duygu Çiçek ausdrückt: »Und sonst, Ältere, habe ich keine keine Angst, wenn meine Alter da ist, ist da.« (Duygu Çiçek , Z. 754-755)

Bei Kemal Koyun drückt sich eine Akzeptanz von Alter(n)santizipationen in der Antwort auf die Frage, wie er seine Zukunft sehe, aus: »Der Zustand ist ja nun mal so. Ja, die materielle Situation ist gut schlecht gut, wir haben Geld, aber mal sehen, Gott hat uns das hier gegeben, er hat Krankheit gegeben.« »Durum böyle yani. Evet, maddi durumu iyi kötü iyi ama paramız var, ama bakalım, işte Allah bunu verdi, hastalık verdi.« (Kemal Koyun, Z. 1738-1739)

Die aus der Immobilität resultierende Pflegebedürftigkeit seiner Ehefrau wird von ihm nicht beklagt, sondern als gottgegebene Krankheit gedeutet und scheinbar als Aufgabe angenommen. Diesem Phänomen der hier bereits erkennbaren Abhängigkeitsakzeptanz hinsichtlich des Alternsprozesses sowie der Lebenssituationen wird im Folgenden weiter nachgegangen. 5.2.2 Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung: zwei Erfahrungsebenen des Alterns »Natürlich, wer schenkt uns denn die Gesundheit? Gott schenkt sie uns. […] Aber du bist derjenige, der die Maßnahmen ergreift.« »Tabi, sağlığı veren kim? Allah veriyor. […] Ama ondan sonra tedbirini sen alıyorsun.«

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Durch die Analyse des Datenmaterials wird sichtbar, dass die Gesprächspartner in Bezug auf Alter(n)serwartungen zwei Erfahrungsebenen des Alter(n)s kommunizieren. Die rekonstruierbaren Alter(n)serwartungen stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen (fatalistischer beziehungsweise Prädestination annehmender) Abhängigkeit und (proaktiver, selbstermächtigender) Kontrolle und Gestaltbarkeit. Auf einer ersten Ebene beschreiben alle Interviewpartner einen Alternsprozess, den sie als nicht beeinflussbar erfahren beziehungsweise der sinnbildlich nicht in ihrer Hand liegt, wie es beispielsweise Zeki Akpınar, befragt nach seinen Erfahrungen mit dem Älterwerden, formuliert: »Also etwas, das nicht in deiner Hand liegt, wie ein Gast ohne Einladung« »Yani elinde olmayan bir şey, davetsiz misafir gibi« (Zeki Akpınar, Z. 1948)

Ausnahmslos alle Gesprächspartner verdeutlichen, dass sie sowohl den Prozess als auch die verschiedenen möglichen sozialen Lebenssituationen beziehungsweise Lebenslagen im Alter als von ihnen nur sehr bedingt beeinflussbar erleben.27 Bis auf eine Ausnahme führen alle Interviewpartner dies auf einen islamischen Gott zurück, der als mit Fügungsgewalt ausgestatte Schicksalsinstanz angesehen wird. Lediglich Duygu Çiçek greift in ihren Ausführungen nicht auf Formulierungen mit einem Gottesbezug zurück, verweist aber immer wieder auf schicksalhafte Vorherbestimmung oder auch auf ein in transzendenter Sphäre verortetes Buch, in dem der Lebensverlauf bereits geschrieben stehe. 28 Diese tendenziell fatalistisch erscheinende und an der Annahme einer Prädestination orientierte Haltung

27 Eine Möglichkeit der Einflussnahme sehen einige der befragten Personen beispielsweise in der Verrichtung von Gebeten beziehungsweise dem Vortragen von Koransuren am Grab von Verstorbenen (siehe Kapitel 5.3.3). 28 Das von Duygu Çiçeks Verständnis von »des Geschrieben-Stehens« wird aus ihren Ausführungen nicht vollständig erkennbar. Es ist eine Spanne zwischen drei bekannten Anknüpfungspunkten festzustellen: (1) das »Buch des Lebens« (oder auch: »Buch der Lebenden«), welches eine im Judentum und Christentum bestehende Vorstellung von einem Verzeichnis der Menschen, denen Gott wohlgefällig ist, bezeichnet. (2) Vom »Buch des Lebens« zu unterscheiden sind Vorstellungen von Büchern, in denen die Taten der Menschen notiert sind, sodass am Tag des Gerichtes Sünden und gute Werke der einzelnen Menschen aufgezeigt werden können. (3) Ein Schicksalsglaube (auch fatum (lat.), kismet (arab. & türk.)), der ein gewisses Maß an Vorherbestimmung zum Lebensverlaufes der einzelnen Menschen umfasst. Schicksalsglaube kann auch religiös eingebettet sein, wie beispielweis in manchen Ausprägungen des Islams (Prädestination

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buchstabieren die Gesprächspartner in den Interviews nicht deutlich aus. Vielmehr lässt sich aus der Gesamtbetrachtung der Interviews rekonstruieren, dass die Interviewpartner nicht nur ihr Alter(n), sondern ihr gesamtes Leben durch eine Schicksalsinstanz, ob theistisch gefärbt oder auch nicht, geprägt erfahren. Dabei schlägt sich diese Haltung auch in den Alter(n)santizipationen nieder und kann an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Markant an den Ausführungen der befragten Personen ist, dass sie fast geschlossen angeben, keine Pläne für ihr Alter und ihren Ruhestand beziehungsweise die Zeit nach ihrem Austritt aus dem Erwerbsleben gemacht zu haben. Die Fragen nach Plänen, Wünschen und Ängsten in Bezug auf das Alter(n) scheint vielen der Interviewpartner abwegig. Lediglich Yaşar Şahin berichtet in den Interviews von Vorhaben und Projekten, die er proaktiv angehe.29 Alle anderen verneinen die Frage nach Vorhaben im Ruhestand, die mehr umfassen als das Bekenntnis zur weiteren Pendelmigration. Dies kann an einigen Ausführungen exemplifiziert werden. So sagt beispielsweise Sevim Öztürk: »Ich mache keine Pläne. Ich hab mein Leben noch nie Pläne gemacht. Es ist einfach gekommen.« (Sevim Öztürk, Z. 1071-1072)

Oder auch Nuri İbrahimoğlu: »Ich weiß nicht, dass ich gesagt hätte, wenn ich alt bin, werde ich das machen oder dass ich so etwas entschieden hätte.« »Şimdi yaşlandığımda yapacağım veyahutta karar verdiğim bir söylemler bilmiyorum.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1176)

Auch Kemal Koyun gibt an, dass er gar nicht erst Pläne für sein Alter entwickeln wolle:

als kader (türk.) oder auch qadar (arab.)) oder des Christentums. Duygu Çiçek bezieht sich in ihren Ausführungen auf die beiden letztgenannten Anknüpfungspunkte, wobei bei ihr nicht deutlich wird, inwiefern sie zwischen den beiden Konzepten differenziert oder sie vereinheitlicht. 29 Yaşar Şahin berichtet von ausführlichen Tages-, Quartals- und Jahresplanungen, die auch in Bezug auf den Umsetzungsstand regelmäßig überprüft würden (siehe Kapitel 5.2.4).

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»Ich habe keine Lust, mich darum zu kümmern, ich will mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. (I: Ich habe keinen Wunsch, alles ist auf dem Weg, sagen Sie also?) Nein, nein, nein. Nur Gott schulde ich mein Leben, etwas anderes habe ich nicht, mein Lieber.« »Uğraşmak istemiyorum, kafayı yormak istemiyorum yani. (I: Bir dileğim yok, her şey yolunda diyorsunuz yani?) Hayır, hayır, hayır, Allaha bir can borcum var, başka bir şeyim yok, yavrum benim.« (Kemal Koyun, Z. 1658-1663)

Und auch Duygu Çiçek berichtet, dass sie im Vergleich zu früher keine Zukunftspläne mehr entwickle: »Das Leben geht so schnell, man merkt gar nichts. Und deswegen habe ich gesagt, nein, keine eh Erwartungen vom Weiterhin. Ich lebe so wie es spontan sage ich. Ich plane nicht mehr. Und das macht mich sehr glücklich. Weil was man geplant hat, ist ins Wasser gefallen. Das sage ich so. Und deswegen mache ich nicht mehr. Ich sage, immer wenn ich morgens aufstehe, Gott sei Dank, ich kann aufstehen, ich kann sehen, gesundheitlich geht es mir gut. Also die Tag geht weiter. Aber die Tag, nicht die nächste Tag. Nur erstmal die Tag denken, die nächste Tag denke ich nicht.« (Duygu Çiçek, Z. 717-723)30

Alle Gesprächspartner verbindet die Angabe, keine mittel- oder auch langfristigen Vorhaben für die Lebensphase des Alters zu entwickeln. Während Nuri İbrahimoğlu (ebenso wie Nazım Yılmaz) angibt, dass erfahrene sowie erwartete körperliche Regressionen und chronische Krankheiten ihn davon abgehalten haben, Pläne für den Ruhestand zu entwickeln oder auch zu verfolgen, begründet Kemal Koyun sein Verhalten über einen transzendentalen Kontext. Und auch Sevim Öztürk inszeniert sich als eine Person, die bewusst keine Pläne (mehr) für das Leben entwickelt. Als Begründung der Nichtplanung nehmen die Interviewpartner Bezug auf Unwägbarkeiten, die Planungen im Alter sowieso obsolet beziehungsweise nichtig werden ließen. Diese bereits vor dem Eintritt in den Ruhestand eingenommene Haltung setzen die befragten Personen auch hinsichtlich

30 Duygu Çiçek ist eine der wenigen Gesprächspartner, die im Interview detailliert Einblick in ihre Biographie und eine persönliche Bewertung ihres Lebensverlaufes gibt. So kann in Hinblick auf Duygu Çiçek auch geschlussfolgert werden, dass die frühe Witwenschaft sowie die noch frühere Erwerbsunfähigkeit bei ihr zu einer individuellen und biographisch begründeten Haltung der Planungsverweigerung beziehungsweise des bewussten Nichtplanens führte, da ihr Leben für sie unerwartete Wendungen genommen hatte. Dennoch reiht sich Duygu Çiçek bei den anderen Interviewpartnern (deren Leben auch unerwartete Wendungen genommen haben) ein und verneint die Frage nach Zukunftsplänen.

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möglicher Zukunftsantizipationen fort. Bis auf Yaşar Şahin und Nuri İbrahimoğlu benennt keiner Pläne für die Zukunft.31 In Hinblick auf die Frage nach Wünschen für die Zukunft fällt auf, dass einige der befragten Personen die Intention dieser Frage dahingehend interpretieren, Wünsche für die Zukunft anderer zu äußern. Auf sich selbst bezogen schlagen sie die im Interview angebotene fiktive Wunschoption als unnötig aus oder wünschen sich allgemein Gesundheit oder ein ausreichendes materielles Einkommen (siehe Kapitel 5.4.1). Auch in Bezug auf mögliche Sorgen und Ängste in Gegenwart und Zukunft antworten die Gesprächspartner zunächst verneinend beziehungsweise abwehrend. Dabei drücken bis auf Duygu Çiçek alle ein gewisses Gottvertrauen und eine Jenseitsorientierung aus. So beispielsweise Zeki Akpınar auf die Frage nach möglichen Plänen für die Zukunft: »Da habe ich gar keine Gedanken. […] Die Zukunft betreffend, den Islam, das Muslimentum kennst du. Mit meinem Alter denke ich nur noch an das Jenseits.« »Hiç bir şey düşündüğüm yok. […] Gelecekle ilgili, İslamiyet’i, Müslümanlığı biliyorsun. Bu yaştan sonra ahireti düşünmekten başka bir şey yapmıyorum.« (Zeki Akpınar, Z. 465474)

Und auch bei einer späteren Passage im Interview, in der mögliche Ängste in Bezug auf Pflegesituationen thematisiert werden, positioniert er sich als sorgenfrei: »(I: Haben Sie in Bezug auf die Zukunft Ängste?) Nein, Gott sei Dank, keine einzige. (..) Gott, Gott, Gott wird gut über uns richten.« »(I: Var mı gelecekle ilgili bir korkunuz var mı?) Yok, elhamdülillah hiç bir. (..) Allah, Allah, Allah hesabımızı güzel verir.« (Zeki Akpınar, Z.2570-2572)

Während Zeki Akpınar mögliche Zukunftssorgen durch ein Vertrauen auf einen sein Schicksal lenkenden und gerechten Gott für sich relativieren kann, betont Nuri İbrahimoğlu als einzige Aufgabe, die er in Zukunft gut zu erfüllen habe, sein Leben an Gott hinzugeben:

31 Yaşar Şahin verfolgt seine jeweiligen Jahrespläne und Nuri İbrahimoğlu möchte mit dem Eintritt in die Altersrente seinen Pendelrhythmus verändern (statt jeweils sechs Monate in jedem Land, dann nur noch einen Monat im Jahr in Deutschland, die verbleibenden elf Monate dann in der Türkei). In Bezug auf eine mögliche Pflegesituation inszenieren auch sie sich als planlos oder auch gottvertrauend.

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»Ich habe keine Angst. Außer einer Lebensverpflichtung Gott gegenüber. Außer dieser habe ich keine einzige Angst. Also als Wunsch, und sonst, habe ich keinen Wunsch, denn ich bin in mir ruhig, da, wo ich bin.« »Korkum yok, Allahʼa bir can borcu olarak. Onun haricinde hiç bir korkum yok. E dilek olaraktan ondan sonra hiç bir dileğim yok çünkü huzurum yerinde.« (Nuri İbrahimoğlu, Z.1296-1907)

Danach befragt, woher die innere Ruhe komme, antwortet er: »Hm, wem schulde ich diesen Seelenfrieden? Um es zu sagen, ist es so: Entweder bin ich Gottes geliebtes Geschöpf, oder ich bin ein glückliches Geschöpf. Denn ich bin zufrieden mit meiner Familie, denn so in etwa seit vierzig Jahren haben wir keinen Streit mehr gehabt. Hm, das heißt, wenn der Seelenfrieden da ist, kommt auch alles wieder auf den richtigen Weg, sonst bleibt der Segen aus.« »Ha huzurumu neye borçluyom? Demek ki şöyle ki; ya Allahʼın sevgili kuluyum, ya sevgili kuluyum ya da bir şanslı kuluyum. Çünkü ailemden memnunum işte aşağı yukarı kırk seneye yaklaşıyor ondan sonra daha kavgamız yoktur. Ha huzur olunca ha demek ondan sonra her şey rayına oturuyor berekette kalmaz yani.« (Nuri İbrahimoğlu, Z.1301-1303)

An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass die befragten Personen ihr Leben im Alter auf dieser Erfahrungsebene in einem direkten Zusammenhang mit einer göttlichen oder auch schicksalhaften Macht erfahren. Dabei nehmen die Gesprächspartner immer wieder Bezug auf ein islamisches Lebens- und Gottesverständnis. Wie bereits benannt, bildet lediglich Duygu Çiçek hier eine Ausnahme, da sie lediglich auf das Schicksal als lenkende Macht verweist, ohne dies theistisch zu rahmen. Gegen diese vorherbestimmten beziehungsweise von Gott gelenkten Fügungen agieren alle Interviewpartner nicht. Dies scheint zum einen darin begründet zu sein, dass ein Handeln entgegen dieser Vorherbestimmungen angenommener Weise in eine Nichtigkeit führt, wie es der Interviewausschnitt von Duygu Çiçek verdeutlicht. Andere Gesprächspartner drücken in unterschiedlichem Ausmaß, aber im Tenor einheitlich, ein positiv-gestimmtes Vertrauen in diese (gott-)gelenkten Fügungen aus. Es kann zusammengefasst werden als ein Vertrauen in einen gerechten und den Menschen wohlwollenden Gott, der Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen nehmen kann. Sie deuten ihr Leben im Rahmen eines bestimmten Verständnisses des Islams, in der sie als gläubige Muslime ihr Leben möglichst gottgefällig ausrichten, sich hingeben möchten. Als Folge dessen vertrauen sie auch im Alter auf eine gerechte Fürsorge Gottes. Ihr Alter(n) liegt aus dieser Perspektive nicht in ihrer Hand, sondern wird entweder von Gott gefügt oder es fügt sich schicksalshaft. Aus dieser Deutung heraus erklärt sich, weshalb

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die Gesprächspartner sich im Interview so inszenieren als ob sie gar nicht erst einer Steuerungsfiktion verfielen und auf die Idee kämen, Pläne oder auch Wünsche für ihr Leben und damit ihr Altern zu entwickeln – oder nach außen zu kommunizieren. Dennoch zeigen die befragten Personen einen nicht geringen Grad an agency oder auch Selbstwirksamkeitsauffassungen. Auf einer zweiten Erfahrungsebene kommunizieren die Gesprächspartner, dass sie durchaus Gestaltungsspielräume sowohl für körperliche, soziale als auch materielle Dimensionen ihres Lebens im Alter sehen – und diese nutzen wollen. Einen Bereich dieses kommunizierten Gestaltungsspielraums sehen die Gesprächspartner in der Gesundheitssorge. So beispielsweise Nuri İbrahimoğlu: »Natürlich, wer schenkt uns denn die Gesundheit? Gott schenkt sie uns. […] Aber du bist derjenige, der die Maßnahmen ergreift.« »Tabi sağlığı veren kim? Allah veriyor. […] Ama ondan sonra tedbirini sen alıyorsun.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1077-1081)

Im angeführten Zitat verdichten sich verschiedene schon rekonstruierte Deutungen. Körperliche Gesundheit wird von Nuri İbrahimoğlu hier wieder als ein zentraler Aspekt in der Konstruktion von und Kommunikation über Alter und Altern aufgegriffen. Darüber hinaus verdeutlicht sich im Zitat die Erfahrungsebene des Alterns beziehungsweise des Lebens als gottgegeben, da er Gesundheit (auch im Alter) als ein Geschenk Gottes begreift. Aus dieser Perspektive ist das Individuum scheinbar aus einer Verantwortung der Gesundheitsfürsorge (im Alter) entlassen. Doch annähernd im gleichen Atemzug benennt Nuri İbrahimoğlu einen Gestaltungsspielraum, in dem er das Individuum als verantwortlich für die Planung und Umsetzung gesundheitsförderlicher Maßnahmen darstellt. Gesundheit im Alter wird somit auch eine eigenverantwortliche Aufgabe, der sich beispielsweise Mustafa Güneş stellt: »Also schau mal, wenn ich hier mit den Verwandten rumlaufe, dann wollen sie mich bringen, ich laufe nicht. Aber mit Sicherheit werde ich laufen, damit sich meine Knie bessern. Wenn ich nicht laufen würde, dann würde das Rheuma einschränken.« »Yahu şimdi bak, ben burada akrabalarla giderken götürmek isterler bi yürümem. Muhakkak yürürüm ben dizlerim açılsın diye. Yürümezsem romatizma sıkıştırır gari.« (Mustafa Güneş, Z.1015-1016)

Mustafa Güneş lehnt hilfeintendierte Angebote seiner Verwandtschaft ab, die ihn in eine körperliche Passivität bringen würden – hier den Transport im Auto, um

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sich einen (mühsamen) Fußweg ersparen zu können – und sucht Bewegung als Teil gesundheitlicher Prävention oder auch Therapie. Ähnliche Episoden einer Verantwortungsübernahme in Bezug auf die eigene Gesundheit finden sich auch in den Interviews mit Nazım Yılmaz, Riza Ateş, Sevim Öztürk und Yaşar Şahin. Sie beschreiben, dass sie zur Gesundheitsförderung bewusst Möglichkeiten körperlicher Aktivität wie beispielsweise Gartenarbeit oder auch Spaziergänge suchen und nutzen. Ein ganzheitliches Gesundheitskonzept wird von Nuri İbrahimoğlu zum Ausdruck gebracht: »[…] ich bin mit meinem Leben zufrieden, bin mit meinem Zuhause zufrieden. Alle diese Dinge tragen zu der Gesundheit eines jeden Menschen bei. Verstehst du was ich meine? (I: Ja) Oder wenn bei diesen Dingen etwas hinkt, dann hat man Stress. Und was bewirkt Stress? Er hinterlässt eine Erschütterung im Körper. Oder das Brot, das man isst, wenn der Körper des Menschen, und dann eh wenn das ein Unwohlsein im Magen auslöst, also das heißt, darin ist etwas enthalten, das dieses Unwohlsein auslöst. Aber, Gott sei tausend Dank, ich habe solche Probleme nicht. (..) Ich bin zufrieden.« »[…] yaşantımdan memnunum, yuvamdan memnunum. Bunlar bütün etkendir insan sağlığına. Anlata biliyor muyum? (I: Evet.) Ha ki bunlardan eğer bir aksaklık olursa stres olur. Stres neye yarar? İnsan vücuduna sarsıntı yapar. Ha yediğin yemek, eğer insan vücudu ondan sonra ıı midende rahatsızlık yaratırsa ha demek ki içerde bir şey var ki rahatsızlık yapıyor. Ama Allahlıma bin şükür, bende öyle bir sorun yok. (..) Memnunum.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1085-1101)

Aus diesem ganzheitlich verstandenen Gesundheitskonzept ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Die Wohnsituation, die Familiensituation und das tägliche Essen werden hier als beispielhafte Einflussfaktoren auf die körperliche Gesundheit – und damit auf die Lebenssituationen im Alter – angeführt. Das Individuum trägt in einem solchen Deutungszusammenhang eine erhebliche Verantwortung für die eigene Gesundheit. Auch wenn nicht alle Interviewpartner ein solch ganzheitliches Gesundheitsverständnis anführen, ist auf Basis des Datenmaterials rekonstruierbar, dass sich die Gesprächspartner bis zu einem gewissen Maße als verantwortlich für ihren eigenen Gesundheitszustand begreifen. Dieser Verantwortung wollen sie sich – entsprechend ihrer Möglichkeiten – proaktiv stellen. Gegen als göttlich oder schicksalhaft gedeutete Einflüsse auf ihre Gesundheit bleiben sie jedoch widerstandlos. Der von den befragten Personen konzipierte Gestaltungsspielraum auf das Alter(n) bezieht sich nicht nur auf körperliche beziehungsweise gesundheitliche Aspekte. Die Gesprächspartner sind sich darüber bewusst, dass sie Handlungsmacht auch in Bezug auf ihre sozialen Einbindungen und Positionierungen haben.

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Dabei nutzen sie die fortwährende Pendelmigration als eine Strategie, um soziale Kontakte zu pflegen und Vorteile aus einem breit aufgestellten sozialen Netzwerk zu ziehen. In besonderem Maße sind die Interviewpartner jedoch gefordert Strategien zu entwickeln, um mit den ihnen zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen bestmöglich haushalten zu können (siehe Kapitel 5.2.3). Es kann zusammengefasst werden, dass die Gesprächspartner dort, wo sie eine eigene Handlungsmacht, Eigenverantwortung oder auch einen Gestaltungsspielraum für ihr Leben (im Alter) ausmachen, versuchen, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. In Bezug auf diese zweite, beeinflussbare Ebene des Alterns inszenieren sich die Gesprächspartner als durchaus engagiert. Dabei unterscheiden sich die befragten Personen darin, wie umfangreich sie diese Handlungsmacht konzipieren. Auf diese interindividuellen Unterschiede wird im Folgenden nicht dezidiert eingegangen. An dieser Stelle kann jedoch festgehalten werden, dass in den von den Interviewpartnern kommunizierten Alter(n)serwartungen die zwei Erfahrungsebenen in einem ambivalenten und spannungsreichen Verhältnis stehen. Dieser Aspekt wird in der folgenden Ergebnisdarstellung immer wieder aufgegriffen und verschieden gewendet. Dabei fordern gerade ökonomische Dimensionen die befragten Personen heraus, einen Umgang zwischen Akzeptanz und aktivem Umgang mit dem Leben im Alter zu finden. 5.2.3 Der Umgang mit Armut als Teil des Alter(n)s »Vielleicht ist die Armut auch eine Belastung, die mit dem Alter entsteht? Das weiß ich natürlich nicht, aber so denke ich.« »Belki bu parasızlığın verdiği bir sıkıntı mı? Onuda bilmiyorum tabi, ama öyle düşünüyorum.«

Aus dem Datenmaterial wird in besonderer Weise deutlich, dass die Gesprächspartner ihr Alter(n) in direktem Zusammenhang mit ihrer finanziellen und materiellen Lage erfahren. Dabei stellt sich für das gesamte Sample die ökonomische Situation als schwierig dar. Alle befragten Personen beschreiben die ihnen zu Verfügung stehenden finanziellen sowie materiellen Ressourcen als knapp. Lediglich Yaşar Şahin und Mustafa Güneş beklagen ihre ökonomische Situation nicht ausdrücklich. Ausgangspunkt in den Ausführungen der Gesprächspartner sind für ihre Lebensführung nicht ausreichende Renteneinkommen. 32 An dieser Stelle soll

32 In der Datenerhebung wurden die ökonomischen Ressourcen (Einkommen, Vermögen, Immobilien, Ländereien) des Samples nicht systematisch erfasst. Die in den Interviews

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jedoch nicht die materielle Lage der Befragten untersucht, sondern herausgestellt werden, dass viele der Gesprächspartner mit Alter(n) materielle Not verbinden, wie es beispielsweise an einer Ausführung von Nazım Yılmaz deutlich wird: »Nur das Materielle macht eine Niedergeschlagenheit. (I: Also über das Alter.) Über das Alter hinaus nichts, aber nur ein materielles Problem. Meiner Meinung nach, ist das so. […] Vielleicht ist die Armut auch eine Belastung, die mit dem Alter entsteht? Das weiß ich natürlich nicht, aber so denke ich.« »Maddi bir çöküntü veriyor. (I: Yani yaşlılık üzüeride.) Yaşlılık üzerinde etkisi yok fakat nur maddi problem. Bence öyle. […] Belki bu parasızlığın verdiği bir sıkıntı mı? Onuda bilmiyorum tabi, ama öyle düşünüyorum.« (Nazım Yılmaz, Z. 877-886)

An anderer Stelle betont Nazım Yılmaz körperliche Degenerationen als prädominantes Kennzeichen des Alter(n)s, exploriert Alter(n) in diesem Interviewausschnitt jedoch als ein ausschließlich materielles Problem. In einer Wendung dieser Deutung erscheint es, als ob Folgen körperlicher Regressionen im Alter mit ausreichenden finanziellen Mitteln kompensiert werden können. Doch genau diesen Aspekt diskutieren die Interviewpartner als Problem. Sie erleben sich finanziell nicht ausreichend situiert, um altersassoziierte Negativa in ihren Lebensumständen durch den Kauf von Dingen und Dienstleistungen kompensieren zu können. In den Interviews führen alle Gesprächspartner von ihnen entwickelte Strategien im Umgang mit ihrer jeweiligen Lage an. Einer der beiden verfolgten Strategietypen ist dadurch gekennzeichnet, die eigenen Lebenshaltungskosten gering zu halten. Dies verfolgt beispielsweise Nazım Yılmaz, der berichtet, dass er möglichst kostengünstig auf Flohmärkten einkauft sowie einen Nutzgarten betreibt um Ausgaben für Lebensmittel reduzieren zu können. Andere sehen insbesondere in Wohneigentum (Yaşar Şahin) beziehungsweise dem Umzug in eine günstigere Mietwohnung (Nuri İbrahimoğlu) oder der Anmietung eines Wohnwagens bei Bedarf (Sevim Öztürk) Möglichkeiten, Ausgaben zu senken. Ein zweiter Strategietyp

ohne Aufforderung angegebenen Beträge zum monatlichen Einkommen beziehungsweise zu den Mietausgaben sind oftmals nicht nachvollziehbar, da die Interviewpartner immer wieder zwischen den Währungsangaben DM, TL, YTL und EUR wechseln beziehungsweise diese vertauschen. Dennoch lässt sich aus den Angaben der Rückschluss ziehen, dass insbesondere die monatlichen Rentenzahlungen so gering sind, dass die meisten Interviewpartner in Deutschland vermutlich Anspruch auf Leistung der Grundsicherung im Alter hätten – diese jedoch nicht in Anspruch nehmen wollen (siehe Kapitel 5.4.1).

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besteht darin, sich weiteres Einkommen zu verschaffen. Dabei hat keine der befragten Personen versucht nach dem Erwerbsaustritt Einkommen über ein (geringfügiges) Angestelltenverhältnis zu erlangen.33 Vielmehr greifen sie auf Agrarressourcen zurück, die sie bereits in früheren Jahren erschlossen haben. So antwortet Mustafa Güneş auf die Frage, ob er überlegt habe, nach dem Renteneintritt noch weiterhin für Geld arbeiten zu gehen: »Ja, immerhin bepflanze ich fünf, zehn dön. 34 Also ich lasse es bepflanzen. Also ich selber bestelle nicht unbedingt. Ich lasse es bestellen, also bepflanzen.« »Ben genelde ekerim beş, on dönüm. Ekin falan ektiririm yani. Kendim sürmem illede sürdürtürüm ektirtilirim yani.« (Mustafa Güneş, Z. 1041-1046)

Auch Yaşar Şahin, Zeki Akpınar und Riza Ateş können durch ihre Äcker und Obstwiesen von einem zusätzlichen Einkommen profitieren.35 Wie Mustafa Güneş kontrollieren sie lediglich den Anbau, arbeiten jedoch nur begrenzt selbst mit. Als weitere zusätzliche Einkommensquellen führen Yaşar Şahin und Kemal Koyun Anteile an genossenschaftlichen Kapitalanlagen an.36 Nuri İbrahimoğlu macht transparent, dass er von seinen Kindern finanzielle Unterstützung erhält, da er sonst seine Ausgaben nicht decken könnte. Markant an den Ausführungen der Interviewpartner ist, dass sie alle Rechtsansprüche auf staatliche finanzielle Hilfen

33 Nuri İbrahimoğlu berichtet, dass er mal überlegt habe, nach seinem Renteneintritt einen Import-Export-Handel aufzuziehen umso zu einem zusätzlichen monatlichen Einkommen zu gelangen, wie es sein älterer Bruder mache. Jedoch habe er nicht das Startkapital, um einen solchen Handel aufziehen zu können. 34 Dönüm ist ein Flächenmaß, das seit 1931 nicht mehr offiziell in der Türkei verwendet wird. Im praktischen Gebrauch umfasst ein dönüm ca. 1000 m² (Steuerwald 1988). Bis auf Mustafa Güneş bewirtschaften alle ihre Länder mit Obstbäumen (Apfel- und Kirschbäume), wie es für diese Region der Türkei typisch ist. Mustafa Güneş lässt darüber hinaus auch noch verschiedene Getreidesorten anbauen. 35 Bis auf Mustafa Güneş bewirtschaften alle ihre Länder mit Obstbäumen (Apfel- und Kirschbäume), wie es für diese Region der Türkei typisch ist. Mustafa Güneş lässt darüber hinaus auch noch verschiedene Getreidesorten anbauen. 36 Yaşar Şahin berichtet, dass er seine ehemaligen Kollegen vom Forstamt dazu motivieren konnte, gemeinsam Geld anzusparen und später auch gemeinsam gewinnbringend anzulegen. Kemal Koyun berichtet von so genannten musischen Geldanlagemöglichkeiten. Dazu führt er auch aus, dass viele seiner Freunde bei solchen Anlagen Geld verloren hätte. Er würde jedoch gegenwärtig noch davon profitieren.

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sowohl in Deutschland als auch in der Türkei kategorisch ablehnen (siehe Kapitel 5.4.1). Die Interviewpartner erfahren sich nicht in einer unbedingt sozial gesicherten Situation, sodass (drohende) Armut für sie wie eine Begleiterscheinung des Alters wirkt. Dabei beklagen die Interviewpartner nicht eine mangelnde soziale Absicherung durch die Wohlfahrtsstaaten Deutschland und Türkei. Vielmehr bedauern sie einen Zusammenhang zwischen finanziellem Auskommen und Gesundheit beziehungsweise Jugend. So beispielsweise Nazım Yılmaz: »Wenn du kein Geld hast, hast du nichts. Ohne Geld gibt es nichts. Wäre ich jung, würde ich vielleicht nicht so reden können, aber wenn man alt ist, kommt der Gedanke, dass ohne Geld nichts ist.« »Paran yok mu hiç bir şeyin yok. Para yok mu hiç bir şey yok. Genç olsam belki böyle konuşamam. Ama yaşlı olamanın verdiği düşünce parasız bir şey olmuyor.« (Nazım Yılmaz, Z. 779-782)

Auffällig an diesem sowie weiteren Interviewausschnitten sind die starken Kontrastierungen von Jugend und Alter sowie Gesundheit und Krankheit. Jugend wird Gesundheit gleichgesetzt. Und mit Gesundheit die Möglichkeit des Geldverdienens, um Armut abzuwenden: »Ich wünsche mir Jugend, sonst nichts. Gesundheit, sonst gar nichts. Gesundheit. Geld, es soll geschworen sein, ich möchte kein Geld! Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! (I: Jugend.) Ich schwöre, Gesundheit, etwas anderes möchte ich nicht. Das soll mein Kopf sein, wenn ich gesund bin, verdiene ich Geld. Vallahi37 ich verdiene, aber meine Gesundheit ist weg.« »Gençlik isterdim başka hiçbir şey değil. Sıhhat başka hiçbir şey değil. Sıhhat. Para, yemin olsun, istemiyorum para! Sıhhat, sıhhat, sıhhat! (I: Gençlik.) Yemin ederim sıhhat, başka bir şey istemiyorum. Bu kafam olacak, sıhhatim olacak ben para kazanırım. Vallahi kazanırım, sıhhatim bitti ama.« (Nazım Yılmaz, Z. 804-810)

Aus dem Datenmaterial kann generalisiert werden, dass die Gesprächspartner in unterschiedlichem Ausmaß mit Ausprägungen von Armut im Alter betroffen oder bedroht sind. Sie erleben ihr Alter sowie Altern im Kontext einer ständigen Herausforderung, mit finanziellen und materiellen Knappheiten und Mängeln um-

37 Vallahi ist ein aus dem Arabischen stammender Ausdruck, der »Wahrlich, ich schwöre bei meinem Gott« bedeutet und die Glaubwürdigkeit einer Aussage unterstreichen soll. Als Soziolekt ist vallahi auch in Deutschland bekannt.

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zugehen. Möglichkeiten und Grenzen einer Lebensführung sowie Lebensdeutung im Alter stehen für sie immer im Zusammenhang mit den ihnen zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen. Obwohl die Interviewpartner auf einer Erfahrungsebene ihr Alter und Altern als nur bedingt beeinflussbar deuten, wird ersichtlich, dass sie sich gerade durch die (drohende) Armut im Alter zu Strategieentwicklungen aufgefordert sind und sich in Handlungszwang erfahren. Auf dieser ganz weltlich diskutierten Ebene des Alter(n)s finden sie sich in einem Planungszwang wieder. Dabei drücken die Gesprächspartner auf dieser von Selbstermächtigung und Kontrollwünschen geprägten zweiten Erfahrungsebene des Alter(n)s durchaus einen Gestaltungswunsch sowie Ideen aus, was sie bei besseren finanziellen Möglichkeiten gerne umsetzen würden: Alle würden gerne ihren Alltag mit weiteren Reisen sowie Besuchen von entfernt wohnenden Verwandten ergänzen. 5.2.4 Alltag zwischen Stetigkeit und Wandel »Also der Mann, der Mann ist jetzt verrentet, ist so sechzig, achtzig Jahre alt, wo soll er denn hingehen? Der Mann, er geht in eine Moschee.« »Yani adam, şimdi adam emekli olmuş, altmış, seksen yaşına girmiş, o adam nereye gidecek? Camiye gidecek.«

An den Alltagsbeschreibungen der Interviewpartner lässt sich veranschaulichen, wie die rekonstruierten und zentralen Charakteristika der Alter(n)serwartungen (Altern verstanden als prädominant körperliche Degeneration, zwischen Abhängigkeit und Kontrolle sowie Armut als Teil des Alterns) zusammenwirken. Spezifisch am befragten Sample ist, dass sie durch die fortwährende Pendelmigration verschiedene »Alltage« leben, da sie ihre Lebensgewohnheiten den Bedingungen und Möglichkeiten des jeweiligen Aufenthaltsortes anpassen. Dennoch kann das Sample in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Eine erste Gruppe inszeniert den jeweils eigenen Alltag als eine abwechslungsarme Routine, die sich in ihrer Ausprägung lediglich zwischen den Aufenthaltsorten in Deutschland und der Türkei unterscheidet. Eine zweite Gruppe betont Abwechslung und Aktivität im eigenen Alltag. Bemerkenswert ist, dass die Vertreter der ersten Gruppe Moscheebesuche beziehungsweise Namaz-Gebete als zentrales alltagsstrukturierendes Element angeben, während Vertreter der zweiten Gruppe, auch wenn sie angeben regelmäßig zu beten, dies nicht als alltagsbestimmend kommunizieren.

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So berichtet beispielsweise Kemal Koyun als Repräsentant der zuerst genannten Gruppe, dass er sowohl in Deutschland auch in der Türkei seinen Alltag vorrangig in den Räumlichkeiten der Moscheegemeinde verbringt. In seinen Ausführungen erscheint eine solche Tagesgestaltung für einen älteren Mann alternativlos zu sein: »Also der Mann, der Mann ist jetzt verrentet, ist so sechzig, achtzig Jahre alt, wo soll er denn hingehen? Der Mann, er geht in eine Moschee. Also wir zum Beispiel setzen uns in die Moschee und trinken Kaffee und Tee, schauen zum Beispiel fern, Talkshows, Herr Sami also.« »Yani adam, şimdi adam emekli olmuş, altmış, seksen yaşına girmiş, o adam nereye gidecek? Camiye gidecek. Mesela biz camiye oturuyoruz, kahve içiyoruz, çay içiyoruz mesela televizyon seyrediyoruz, Talk seyrediyoruz, Sami efendi yani.« (Kemal Koyun, Z. 993-995)

Und auch in der Tagesbeschreibung Nuri İbrahimoğlus zeichnet sich eine feste Routine ab: In Deutschland verrichtet er die ersten Namaz-Gebete zuhause und bricht am späten Vormittag in die ihm vertraute Moscheegemeinde auf: »Im oberen Stockwerk der Moschee gibt es auch eine Kantine. Das ist der Ort an dem man Tee und Kaffee trinkt. Und wenn ich dann das Mittagsgebet gebetet habe, gehen die, die eine Arbeit haben, zu ihrer Arbeit. Und die, die keine Arbeit haben, gehen nach oben und dann eh sitzt man und trinkt Tee oder Kaffee. Dann schaut man auf die Uhr und dann, wenn sich die Gebetszeit nähert, geht man wieder hinunter, betet das Nachmittagsgebet und geht dann nach Hause.« »Üst tarafta kantini var zaten camiinin. Çay, kahve içilen yeri. Ondan sonra öğlen namaz kılındı mı, işi olan gider, kendi işine. Ondan sonra, işi olmayan çıkar yukarıya. Ondan sonra oturur çay, kahve içer. Saatine bakar ikindi namazı yaklaştıysa ondan sonra iner aşağıya ikindiyi kılar ondan sonra evine gider.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 515-524)

Auch während er in der Türkei lebt, strukturiert Nuri İbrahimoğlu seinen Alltag über Moscheebesuche. Hier gewinnt jedoch die Pflege des an das Haus angegliederten Gartens eine weitere von ihm hervorgehobene Bedeutung in der Alltagsstrukturierung. Nach dem morgendlichen Namaz-Gebet verrichtet er Gartenarbeit und geht erst dann zur örtlichen Moscheegemeinde. Nach einer der Mittagshitze geschuldeten Ruhepause verbringt er wieder Zeit im Garten. Auch Zeki Akpınar und Riza Ateş verbringen den Zeitraum von vormittags bis nachmittags in den jeweils lokalen Moscheegemeinden. Als weiteres alltagsbestimmendes Element geben auch sie die Sorge um ihren Garten beziehungsweise die landwirtschaftlichen Flächen an. Mustafa Güneş hingegen verbringt in der Türkei die meiste Zeit

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mit der Pflege seines Gartens, betont aber, dass er Namaz-Gebete verrichtet, jedoch nur an Frei- und Feiertagen eine Moschee aufsucht. Die Interviewpartner dieses Typs haben jedoch in Deutschland keinen Zugriff auf Gärten oder landwirtschaftliche Flächen. Entsprechend bedauern sie eine Eintönigkeit oder auch Einseitigkeit ihres Alltags in Deutschland. Aus dem Interviewmaterial ist zu rekonstruieren, dass sich die Motivation der Gesprächspartner für einen so gestalteten Alltag facettenreich zusammensetzt. Auf der einen Seiten verstehen und positionieren sich Vertreter dieses Typs alle als gläubige Muslime, die in der Moschee einen Teil ihrer Glaubenspraxis ausüben. Der Ruhestand entlastet sie von den Anwesenheitspflichten der Erwerbsarbeit, sodass sie nun die strukturelle Möglichkeit ausnutzen können, täglich eine Moschee aufzusuchen. Zum anderen zeigt sich in den Moscheebesuchen für diese Personengruppe eine gewisse Funktionalität: Die Vertreter dieser Gruppe haben so ein tägliches Ziel. Die Verrichtung der Namaz-Gebete und der Gang zu Moscheegemeinde strukturieren den Tagesablauf. Darüber hinaus finden die Moscheebesucher dort eine Gesellschaft, teilweise auch Gemeinschaft. Die an die Moscheen zumeist angegliederten Teegärten oder Cafeterien dienen als Treffpunkte, an denen sich zu unterschiedlichsten Themen ausgetauscht werden kann. Ein zweiter Typ der Alltagsgestaltung wird von Nazım Yılmaz, Duygu Çiçek, Sevim Öztürk und Yaşar Şahin verdeutlicht. Sie führen in ihren Alltagsbeschreibungen weder Namaz-Gebete noch Moscheebesuche als zentrale Elemente an. Dafür stellen sie individuelle Schwerpunkte in der Gestaltung des täglichen Lebens heraus. Nazım Yılmaz hebt als zu bewältigende Alltagsaufgabe den Umgang mit materiellem Mangel hervor. Er berichtet von nötigen Reparaturen an den von ihm und seiner Frau bewohnten Immobilien sowie dem Zeitaufwand, den er erbringen muss, um kostensparend einkaufen zu können. Obwohl er sowohl in Deutschland als auch in der Türkei eigene Gartenflächen bewirtschaftet, stellt er diese Tätigkeit weder als tagesstrukturierend noch als sinnstiftend heraus. Er berichtet auch, dass er in der Türkei eine Moscheegemeinde aufsucht, jedoch nur unregelmäßig.38 Für Duygu Çiçek sind ihre Eltern sowie ihre weiteren Geschwister zentrale, den Alltag strukturierenden Elemente. Obwohl ihre Mutter sowohl in Deutschland als auch in der Türkei eine Wohnung in einigen Kilometern Entfernung von den Wohnungen von Duygu Çiçek bewohnt, verbringen die beiden sowohl in Deutschland als auch in der Türkei die meisten Tage zusammen. Neben notwendigen

38 Die Unregelmäßigkeit scheint darin begründet zu liegen, dass er aufgrund seiner finanziellen Situation nicht an den an die Gebete anschließenden Teerunden teilnehmen kann.

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Besorgungen verwendet Duygu Çiçek mit ihrer Mutter umfangreich Zeit darauf, ihren im Pflegeheim lebenden Vater zu besuchen. Darüber hinaus verbringt sie Zeit mit Besuchen der weiteren Geschwister. Auch Sevim Öztürk verbringt die meiste Zeit mit ihren in der Nachbarschaft lebenden Verwandten sowie ihrer Freundin Agnes, die oft zu Besuch kommt. Während ihrer Zeit in Deutschland scheint sie Nähe zu ihrem Sohn zu suchen. Als sinnstiftendes Element ihres Alltags nennt sie ihr Engagement in der jeweils lokalen Theater- und Musikszene, sowohl in Deutschland als auch der Türkei. Obwohl auch Sevim Öztürk sich als gläubige Muslima positioniert, nennt sie weder die Namaz-Gebete noch Moscheebesuche als tagesstrukturierendes Element. Insbesondere Yaşar Şahin sticht im Sample durch seine detaillierten Tages-, Quartals- und Jahrespläne heraus: »Kulturphysik, ich war achtundzwanzig Jahre Schiedsrichter. Fußball, Volleyball, Halter, eh Schwergewicht heben, Schiedsrichter gewesen und da kenne ich einige Übungen. Habe ich auch dort eine Mannschaft Trainer gewesen. Deutsche Mannschaft, da kenne ich einige Übungen. Da treibe ich diese, mache ich diese Übungen. Und dann versuche ich meine Wissen zu verbessern. Beispiel. Und jedes Jahr lese ich mindestens zehn Bücher, da habe ich so geplant, ge. Und reise ich drei Länder, drei Mal mache ich Urlaub, in verschiedene Länder, die ich nicht gesehen habe. Dann erste Mal fülle ich diese Plan. Wenn ich siebzig, achtzig Prozent erfüllt habe, dann habe ich, meine Ziel ist erreicht. Und dann, jede Quartal bewerte ich, was ich gemacht habe. Wie viel Prozent Ziel ich erreicht habe. Lebe ich so. Wenn ich zum Beispiel was der Zeit übrig bleibt, dann kommt die Gäste zum Beispiel und machen wir so. Laufen wir dem Frau und den Gästen. So ist meine Tag.« (Yaşar Şahin, Z. 121-130)

Darüber hinaus leistet Yaşar Şahin als Versicherungsältester der Deutschen Rentenversicherung Bund und in einer Moscheegemeinde in Deutschland ehrenamtliche Arbeit. Durch seine Tätigkeit als Versicherungsältester empfängt er sowohl in Deutschland als auch in der Türkei regelmäßig Ratsuchende in seinen Wohnräumen. In einer weitergehenden Reflexion der von den Interviewpartnern dargestellten Alltagsgestaltung sind verschiedene Aspekte abzuwägen. Zunächst ist festzustellen, dass auf der bestehenden Datengrundlage nicht beurteilt werden kann, welche Personen(-gruppen) in unterschiedlichen Bewertungskategorien tatsächlich aktiver sind. Schließlich wurde kein Aktivitätsprotokoll erstellt, das objektive Bewertungen zulassen würde. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die Interviewpartner sich darin unterscheiden, inwiefern sie ihren Alltag mit als »besonders« gekennzeichneten Vorhaben beziehungsweise mit Aktivitäten gefüllt beschreiben,

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inwiefern sie sich als aktiv darstellen. Während die einen Aktivitäten und ständigen Wandel herausstellen, inszenieren die anderen ihren Alltag als stetig. Bemerkenswert ist dabei, dass keiner der Gesprächspartner die ihren Alltag prägende Mobilität zwischen verschiedenen Wohnorten (in verschiedenen Ländern) und zu weiteren Verwandten und Bekannten als etwas Besonderes thematisiert. Die kontinuierliche physische Mobilität wird weder als Abwechslung einer Routine, noch als Kennzeichen von Aktivität herausgestellt. In einer weiteren Reflexion zeigt sich, dass sich die beiden identifizierten Erfahrungswelten des Alter(n)s sowie die Dimension der Armut oder auch ökonomischen Knappheit in der Alltagsgestaltung der befragten Personen verdichten. So wirkt es bei einer ersten Betrachtung als ob sich die beschriebenen Alltagsgestaltungen in den beiden identifizierten Erfahrungswelten des Alter(n)s widerspiegeln. Entsprechend der Selbstpositionierung der Interviewpartner, keine Pläne für das Alter zu verfolgen, zeigt sich für einige der Interviewpartner der Alltag als stetige Routine. Mittel- und langfristige Vorhaben werden nicht benannt, gelten nicht als alltagstrukturierende Projekte. Doch ist das Sample hier nicht homogen. Andere Interviewpartner stellen ihre Alltagsaktivitäten nicht als Folge von Selbstwirksamkeitsauffassungen dar. Gleichzeitig zeigt sich in weiteren Aussagen der Interviewpartner, dass der gelebte Alltag sich aus finanziellen Gründen oftmals nicht dem gewünscht Alltag deckt. So beispielsweise Nuri İbrahimoğlu: »Vallahi, man hat nichts vor Augen. Denn dann ist es so. Eh wenn deine materiellen Verhältnisse gut sind, dann ist ein Teil in dir da, der was machen will. Aber wenn die materiellen Verhältnisse nicht so sind, dann schätzt du das Beständige. Dann sagt man sich, danke für das was ich habe.« »Vallahi gözün önünde bir şey yok. Çünkü, ondan sonra şöyle. Maddi durumun iyi olursa illaki sen bir kısım bir şeyler yapmak ister. Ama maddi durumun olmazsa olduğun yerde sabit sayarsın. Dersin ki ya bugünüme şükür.« (Nuri İbrahimoğlu, Z.414-416)

Wie dieser Interviewausschnitt anzeigt, können auf Basis des hier vorliegenden Datenmaterials keine Kausalitätsketten rekonstruiert werden. Vielmehr zeichnet sich ein zirkuläres Zusammenwirken von Einflüssen ab. Auf der einen Seite verfügen die Interviewpartner zur Ausgestaltung des Alltags nur über enge finanzielle Spielräume, sodass kostspielige Vorhaben nicht voraussetzungslos umgesetzt werden können. Gleichzeitig findet sich in der beschriebenen Alltagsgestaltung auch die annehmende und nur von begrenztem eigenmächtigem Gestaltungswillen zeugende erste Ebene der Alter(n)serfahrung. Bis auf zwei Gesprächspartner werden mittel- oder langfristige Pläne – jenseits des Aufrechterhaltens der Pendel-

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migration bei einigen – für den Ruhestand nicht kommuniziert. Dies scheint sich auf im Tagesablauf dieser Gruppe niederzuschlagen. Es wirkt mehr wie ein »Inden-Tag-hineinleben«, das jedoch nicht willkürlich und abwechslungsreich, sondern routiniert erscheint. 5.2.5 Zwischenfazit – Alter(n)serwartungen An dieser Stelle kann ein erster verallgemeinerungsfähiger Ertrag der bisherigen Ausführungen zusammengefasst werden. In Bezug auf die Alter(n)serwartungen der befragten Gruppe können folgende zentrale charakteristische Aspekte festgehalten werden: Altern wird vorrangig als ein natürlicher und körperlicher Degenerationsprozess erfahren beziehungsweise gedeutet und kommuniziert. Altern bedeutet so eine sukzessiv zunehmende Distanz zu körperlichen Normalitätsmaßstäben, verursacht durch altersassoziierte körperliche Funktionseinbußen. Auch kognitiv-degenerative Prozesse sowie Persönlichkeitsveränderungen werden von den Interviewpartnern als Charakteristika des Alters und Alterns angeführt, jedoch nicht als zentral kommuniziert. Darüber hinaus konnte aufgezeigt werden, dass die Interviewpartner ihr Altern auf zwei in einem Spannungsverhältnis stehenden Erfahrungsebenen deuten. Auf einer ersten Ebene nehmen sie ihr Alter(n), ebenso wie ihr gesamtes Leben, als nur bedingt beeinflussbar wahr und verweisen auf transzendente Fügungsmächte, überwiegend auf einen Gott entsprechend des Islams. An dieser Deutung anknüpfend kommunizieren sie, dass sie Steuerungsanmaßungen für ihr Leben und somit auch für ihr Alter(n) vermeiden beziehungsweise nicht gegen den Willen des als wirkmächtig konzipierten Gottes handeln wollen. Eine sich daraus ergebene Konsequenz ist, dass sie angeben keine zukunftsorientierten Vorhaben für ihr Altern beziehungsweise die Zeit nach dem Renteneintritt gemacht haben und auch keine weiteren Zukunftspläne kommunizieren. Das macht sie jedoch nicht planlos oder gar strukturlos, denn gleichzeitig kann eine zweite Erfahrungsebene des Alterns rekonstruiert werden. Auf dieser erkennen sie Gestaltungsspielräume, die sie nutzen wollen. Dies betrifft zum einen ihre gesundheitliche Situation. Zum anderen fordert insbesondere ökonomische Knappheit die Gesprächspartner dazu auf, Strategien zum Umgang mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen sowie den bestehenden ökonomischen Ressourcen zu entwickeln. Diese beiden Erfahrungsebenen sowie die Bedingungen der ökonomischen Knappheit bestimmen auch den Alltag der Gesprächspartner. Entsprechend der Selbstpositionierung, keine spezifischen Vorhaben zu verfolgen beziehungsweise Pläne umsetzen zu wollen, gestaltet sich der Alltag der Interviewpartner scheinbar routiniert. Lediglich Yaşar Şahin bildet hier eine Ausnahme, da er kontinuierlich

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und zielstrebig neue Vorhaben verfolgt. Ein zentrales Element ist hier die Tagesstrukturierung durch das Verrichten der Namaz-Gebete. Aus dem Sample suchen lediglich die Männer Moscheegemeinden auf. Die befragten Frauen beschreiben ihren Glauben als Privatangelegenheit und verrichten Gebete nach eigenem Bedarf an ihnen angemessen erscheinenden Orten. In einer den bestehenden Forschungsstand zu älteren Türkeistämmigen einbeziehenden Reflexion zeigt sich, dass sich, dass sich die hier erarbeiteten Ergebnisse in vielerlei Hinsicht mit den Beobachtungen von Helen Krumme (2002), Angelika Mölbert (2005), Rita Paß (2006) und Türkan Yılmaz (2011) decken. Insbesondere dahingehend, dass die Ausführungen der Interviewpartner zum Alter und Altern etwas undifferenziert und wenig reflektiert wirken. Auch im Datenmaterial der angeführten Untersuchungen werden Alter und Altern bei von Türkeistämmigen nur bedingt thematisiert und problematisiert. Bemerkenswert ist jedoch, wie sehr sich die rekonstruierten Alter(n)serwartungen an die in wissenschaftlicher Literatur zu findenden Ausführungen zum Menschen- und Alter(n)sbild im Islam anschließen (siehe Kapitel 2.4.2). Die Interviewpartner argumentieren ihre Alter(n)serwartungen nicht theologisch, jedoch scheinen sich entsprechende Muster in der Ausgestaltung der Alter(n)sstile wiederzufinden. In einer weiterführenden Reflexion der hier vorgestellten Alter(n)serwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten zeigt sich eine Brisanz der Ergebnisse jedoch darin, was alles unthematisiert bleibt. So ist bemerkenswert, dass demenzielle Erkrankungen sowie Vergleiche beziehungsweise Gleichsetzungen des Alternsprozesses mit Formen von Regression zu kindlichem Verhalten von den Interviewpartnern nicht angeführt werden. Das Alter wird nicht mit der Kindheit verglichen, sondern steht als eigene und unabwendbare Lebensphase für die Gesprächspartner fest. Dabei wird das Alter weder als Bedrohung erfahren noch als solche kommuniziert. Die Interviewpartner beschreiben das Alter nicht als Aufgabe oder Gestaltungsspielraum, welchen sie mit Projekten oder Vorhaben sinnvoll nutzen wollen. Vielmehr erfahren sie sich in einer Abhängigkeit. Jedoch zeigen sich bei Fragen der Finanzierung des Lebens größere Selbstwirksamkeitsauffassungen (agency). Darüber hinaus ist auffällig, dass es im Datenmaterial keine Indizien dafür gibt, dass sich die befragte Gruppe »früher« als deutschstämmige Ältere alt fühlt. Sie thematisieren weder Großelternschaft als noch stellen sie Vergleiche zu Deutschen oder zu als kulturell oder ethnisch anders konzipierten Gruppen an. Insgesamt fällt auf, dass die Befragten ihre (andauernde) Migrationserfahrung in keinen Zusammenhang mit ihren Alter(n)serfahrungen und -erwartungen bringen. Auch die in der wissenschaftlichen Literatur so präsente These, dass diese Gruppe der ehemaligen Gastarbeiter ein Leben lang von der »Rückkehr in die Heimat« geträumt habe, dies aber nicht wie geplant umsetzen

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konnte, wird von den Gesprächspartner nicht ansatzweise aufgegriffen. Weder bestätigen die Interviewpartner dieses Narrativ, noch distanzieren sie sich aktiv. Es scheint bei ihnen gar keine Rolle zu spielen. Die hier angeführten Reibungspunkte zwischen empirischen Material und bisherigem Forschungsstand bieten jeweils Anlass für weitere Nachforschungen. Es ist zu untersuchen, ob vielleicht im wissenschaftlichen Diskurs Thesen aufgeworfen wurden, die sich letztlich nicht mit den gegenwärtigen empirischen Realitäten decken. Dazu sind jedoch auch weitere Forschungsmethoden anzuwenden und spezifischere Fragestellungen zu verfolgen. Beispielsweise kann die Frage nach Statuspassagen bei ältere türkeistämmigen (Pendel-)Migranten gezielter verfolgt werden und so Klarheit über die Bedeutung von Großelternschaft und den Renteneintritt in den Alter(n)skonzepten erlangt werden. Darüber hinaus kann eine den Alltag fokussierende Untersuchung womöglich mehr Einsicht in das Zusammenwirken der beiden Erfahrungsebenen des Alters und Alterns bieten. An dieser Stelle kann zunächst festgehalten werden, dass sich die Erwartungen an das Alter und Altern der Interviewpartner in einem Spannungsverhältnis zwischen Selbstund Fremdbestimmung befinden.

5.3 E RWARTUNGEN

AN

V ERSORGUNG IM ALTER »Von Gott die Gesundheit, vom Staat das Auskommen« »Allahʼtan sağlık, devletten aylık«

Ein weiteres zentrales Erkenntnisinteresse dieser Studie bestand darin, zu rekonstruieren, inwiefern in der untersuchten Gruppe selbst unter Bezugnahme auf Migration, Kultur und Religion Versorgungsbedarfe im Alter identifiziert und abgegrenzt werden. Darüber hinaus interessierte, inwiefern aus diesen Versorgungserwartungen Verantwortlichkeiten an bestimmte Akteure adressiert werden. Für gewöhnlich werden Versorgungsbedarfe beziehungsweise -erwartungen bei Älteren im wissenschaftlichen Diskurs zwischen den Dimensionen psychosoziale Unterstützung, gesundheitlich-pflegerische Versorgung und sozialrechtliche Absicherungen (siehe Kapitel 2.1.2) aufgegliedert. Die Ausführungen der Interviewpartner wurden jedoch bewusst nicht über diese Analyseheuristik erschlossen. Entsprechend der Grounded Theory Methodologie wurden von den Interviewpartner kommunizierte zentrale Begriffsverständnisse, Ordnungsmuster und dem Selbstverständnis dienende Narrative rekonstruiert. Dabei konnten Versorgungserwartungen offen gelegt werden, die zwar alle Versorgungsdimensionen

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aufgreifen, sie jedoch nicht analytisch getrennt betrachten, sondern nach einem eigenen Muster miteinander verbinden. Im Folgenden werden Versorgungserwartungen im Alter, wie sie von den Interviewpartnern kommuniziert wurden, vorgestellt. In ihren Ausführungen spiegelt sich ihre Migrationserfahrung wider, denn sie greifen immer wieder auf Vergleiche zu von ihnen gemachten Beobachtungen in Deutschland und der Türkei zurück. Dabei konnte im Auswertungsprozess eine Kernkategorie rekonstruiert werden, die einen zentralen Erklärungswert für die gesamten von den Interviewpartnern vorgebrachten Versorgungserwartungen hat. Dieser Erklärungsmoment findet sich in einem Kernnarrativ wieder, dessen Inhalt sich in der Aufgabenstellung: »Verhinderung von Einsamkeit« wiederfindet. Dieses Kernnarrativ wird in einem ersten Abschnitt vorgestellt. Im darauf folgenden Abschnitt werden die von den Interviewpartnern kommunizierten Versorgungserwartungen bezüglich Pflegeerwartungen enggeführt. Dies ist in dem fokussierten Erkenntnisinteresse dieser Studie begründet. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, inwiefern türkeistämmige (migrantische) Ältere familienexternen Versorgungs- speziell Pflegeleistungen aufgeschlossen gegenüberstehen. In einem dritten großen Abschnitt wird eine Versorgungsdimension vorgestellt, die im Datenmaterial eine relevante Stelle einnimmt, jedoch im fachöffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Alter(n)s- und Versorgungserwartungen (türkeistämmiger) Älterer bis jetzt keine Beachtung gefunden hat. Es handelt sich um Versorgungserwartungen im Kontext von Sterben und Tod. Fürsorge nach dem irdischen Leben ist für die Befragten von existenzieller Bedeutung. In einem das Kapitel abschließenden Zwischenfazit werden die von den Interviewpartnern kommunizierten Versorgungserwartungen zusammengefasst. 5.3.1 Hauptsache, keiner ist einsam – aber am besten in der Familie »Hm, also wenn jemand verletzt ist, ein Unbekannter, und du kommst an ihm vorbei, dann hilfst du ihm auch, aber du kannst ihm nicht so helfen wie im Familienband.« »Ha, ama adam yabancı birisi yaralansa sen ordan geçerken sen ona yardım edersin ama bir aile bağı gibi yardım etmezsin.«

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Im Datenmaterial findet sich ein von allen Interviewpartnern aufgegriffenes Narrativ mit einem zentralen Erklärungswert hinsichtlich der Versorgungserwartungen der untersuchten Gruppe. In diesem Narrativ wird das Motiv von Älteren in Deutschland aufgegriffen, die oftmals über Jahre keinen oder kaum Kontakt zu ihren Kindern haben, obwohl diese in der Nähe wohnen. Die Älteren sterben schließlich einsam und unbemerkt in ihren Wohnungen und ihre Leichen werden erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung aufgefunden. Die Ausführungen dieses Motivs variieren entsprechend unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen, greifen jedoch immer die Aspekte von familiären Kontaktabbrüchen oder auch Vereinsamung bei (älteren) Deutschen sowie das unbemerkte Versterben in der Wohnung auf. Dabei dient das Narrativ zur Beschreibung und Legitimation einer Distinktion zwischen Deutschen und Türken beziehungsweise Christen und Muslimen hinsichtlich der Versorgungserwartungen. Dies wird im Folgenden anhand einiger Beispiele aus dem Datenmaterial veranschaulicht. So führt Duygu Çiçek das vorgestellte Motiv an im Zusammenhang der Frage, weshalb manche Menschen Angst vor dem Altern haben: »Also ich kann von einer Freundin erzählen, die ich kennengelernt habe. […] Hat sie nur Angst, ja alt, sagt sie, alt, ich werde alt schon, aber ich habe Angst zu sterben. Ja, hab ich gesagt, warum? Weil sie ganz allein ohne Familie ist. Und wenn sie stirbt, wenn sie älter wird und ganz alleine und sie stirbt irgendwo und keiner was für sie machen kann, und das ist das eben. Die Menschen sind alleine es, die keine Familie mehr hat, hat Angst, wenn sie stirbt, man hört sich auch gar nicht, alleinstehende Leute in der Wohnung, wochenlang keiner gekümmert hat. Keiner reingegangen ist. Aufzumachen. Aber in De- Deutschland, das ist eh alleine stehende Frauen. Hab gesehen in Deutschland so viel Tote.« (Duygu Çiçek, Z. 761-767)

Als eigentliche Sorge wird nicht das Alter beziehungsweise Altern an sich beschrieben, sondern die mögliche Einsamkeit während des Sterbens. Aus Duygu Çiçeks Perspektive sind davon vor allem Frauen in Deutschland betroffen, die keine Familie und nur einen sehr begrenzten Kontakt zu ihrer Nachbarschaft haben. Dabei nutzen die Interviewpartner dieses Motiv auch zur Distinktion und Selbstpositionierung. So fährt Duygu Çiçek fort: »Aber bei uns in der Türkei zum Beispiel, in Ausland, Mehrheit, man merkt das schon. Auch wennʼs eh Nachbarschaft ist oder irgendwie, wenn der Frau nicht raus kommt und danach, nach zwei drei Stunden, klingeln die oder versuchen sie die Tür auf und immer allein da. Auch gut mit der Pflege ist was anders, aber soweit wennʼs gesundheitlich gut ist, ist sie alleine zuhause, oder? Und wenn was passiert? Keine. Guck mal meine, ich hab drei

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Schlüssel zum Beispiel, eine von meine Bruder, eine ist von meine Schwester, meine Schlüssel und von meine Mutter auch. Wir haben alle die Schlüssel, jeder hat in der Wohnung die Schlüssel. Egal wie. Gestern, vorgestern, ich hab drei Stunden die Telefon nicht geguckt, ja, alle haben mich angerufen. Mensch du hast mich doch alleine, wir haben Sorgen gemacht. Auch nicht Handy erreicht. Ja, so sind wir.« (Duygu Çiçek, Z. 767-776)

Duygu Çiçek führt hier eine Distinktion ein und grenzt das Verhalten Deutscher vom Verhalten in der Türkei, sogar zum Verhalten in jedem anderen Land ab. Sie beschreibt die angeführte Situation des Nichtkümmerns um alleinlebende Ältere als repräsentativ für Deutschland beziehungsweise Deutsche, während in anderen Ländern, beispielsweise in der Türkei, die Nachbarschaft durch Formen sozialer Kontrolle Alleinlebende beobachte und in Verdachtsfällen schaue, ob Hilfe nötig sei. Gleichzeitig führt sie ihre Familie als ein Beispiel des gegenseitig aufeinander Achtens an. Dabei positioniert sie ihre Familie und sich im Gegensatz zur eingangs angeführten deutschen Freundin, die scheinbar begründete Angst vor Einsamkeit im Alter haben muss. Das angeführte Motiv gewinnt durch die verwendeten Kontraste an Eindrücklichkeit: Deutsche versinken im Alter in Anonymität, sie haben keine Familie, keiner scheint sie zu kennen, sie zu beobachten oder sich um sie zu kümmern. Als Zuspitzung dieser Situation versterben sie unbemerkt und allein in ihrer Wohnung. Im Kontrast dazu beschreibt sie ihre eigene (und eben nicht anonyme) türkeistämmige Familie, bei der bereits eine telefonisch Nichterreichbarkeit von drei Stunden ausreicht, Sorgen bei den anderen Familienmitgliedern auszulösen. Die Erzählung endet mit der Selbstbeschreibung »Ja, so sind wir« und unterstreicht dadurch eine Abgrenzung und Distanzierung zu Personen beziehungsweise Gruppen, die eben nicht so sind. In diesem Zusammenhang sind die wechselnden Zugehörigkeitsbeschreibungen Duygu Çiçeks im gesamten Interviewverlauf beachtenswert. Aus dem Datenmaterial ist zu rekonstruieren, dass sie auf vier von ihr differenzierte soziale Gruppen Bezug nimmt: die autochthone deutsche Bevölkerung in Deutschland, die autochthone türkische Bevölkerung in der Türkei, die Gruppe der türkeistämmigen Migranten in Deutschland sowie die Gruppe aller Migranten (die sie als Ausländer bezeichnet) in Deutschland. Aus dem Interview wird deutlich, dass sie sich überwiegend mit der Gruppe der türkeistämmigen Migranten in Deutschland identifiziert. Ein Indikator dazu ist beispielsweise, dass sie der Interviewerin Ansichten und Verhaltensweisen der

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türkeistämmigen Migranten erläutert und sich durch »wir«-Formulierungen miteinbezieht.39 Im Interview beschreibt sie fast durchgängig eine Distanz zur autochthonen türkischen Bevölkerung, sie sagt, dass sie das Leben in Deutschland liebe und dass viele Verhaltensweisen in der Türkei ihr unverständlich seien. Gleichzeitig distanziert sie sich von der autochthonen deutschen Bevölkerung. In einer Gesamtschau kann daraus rekonstruiert werden, dass sie bestimmten sozialen Gruppen bestimmte Haltungen und Eigenschaften beziehungsweise konstante Verhaltensmuster zuschreibt und sich selbst und ihre Familie entsprechend der eigenen Selbstbeschreibung diesen Gruppen als zugehörig betrachtet oder von ihnen distanziert.40 Demnach beschreibt sie nicht alles, was sie aus ihrer community kennt als türkisch, sondern wendet die Zuschreibungen deutsch, türkisch und migrantisch essentialistisch und nach eigenen Mustern an. In dem hier angeführten Interviewausschnitt dichtomisiert Duygu Çiçek das Verhalten gegenüber Älteren beziehungsweise die Situation von Älteren in Deutschland mit dem Rest der Welt, konkretisiert auf die Türkei und auf alle Migranten in Deutschland. Sie begreift sich hier nicht als deutsch oder als Deutsche, sondern legt eine von ihr wahrgenommene Unterschiedlichkeit zwischen Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der Deutschen und aller anderen Nationen offen. Eine typische deutsche Versorgung Älterer ist ihrer Wahrnehmung nach charakterisiert von Vereinsamung und dem Fehlen helfender Akteure. Sie grenzt sich, ihre Familie sowie andere Ausländer deutlich von dem ab, was sie in diesem Kontext als repräsentativ für Deutschland und deutsch bezeichnet. Auch andere Interviewpartner nutzen das eingangs vorgestellte Motiv, um Distinktionen zwischen sich, ihren Familien sowie Nichtdeutschen und dem Umgang mit Älteren in Deutschland zu illustrieren. Während Duygu Çiçek auf Situationen Bezug nimmt, in denen Ältere keine Verwandtschaft mehr haben, äußert Sevim Öztürk darüber Entrüstung, dass alleinlebende Ältere nicht von Familienmitgliedern besucht und unterstützt werden, obwohl dies räumlich möglich wäre.41 Dazu berichtet sie von zwei Fällen aus ihrer Nachbarschaft in

39 In einzelnen Punkten grenzt sie sich und ihre Familie wiederrum von dieser Gruppe ab, so beispielsweise im Kontext der Entscheidung, ihren Vater in einer stationären Pflegeeinrichtung unterzubringen (ausführlich in Kapitel 5.3.2) oder bezüglich ihrer Erwartungen an eine Grabpflege (ausführlich in Kapitel 5.3.3). 40 Inwiefern diese Zuschreibungen ethnisch, kulturell, national oder über andere Konzepte gerahmt werden, ist an dieser Stelle nicht relevant, wird jedoch in Kapitel 5.4.2 aufgegriffen. 41 Dabei klammert sie in ihren Ausführungen Fälle aus, bei denen als Folge des 2. Weltkrieges gar keine Verwandtschaft existiert ist und relativiert die Situation von Älteren,

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Deutschland. Eine ältere, alleinlebende Frau sei nur zweimal im Jahr von ihren drei Kindern besucht worden, obwohl diese in der gleichen Stadt wohnten. Eine andere Nachbarin habe neun eigene Kinder großgezogen und als sie krank wurde, sei niemand gekommen um sich um sie zu kümmern. Sevim Öztürk bewertet solche Situationen nicht als Ausnahmefälle, sondern drückt mit einer Angabe von 70 % aus, dass sie das (familiäre) Nichtkümmern in Bezug auf ältere Deutsche für den überwiegend anzutreffenden Fall hält: »Beispiele kann ich auch zeigen, sagen, von zehn, zehn Fällen kann ich drei Fälle sagen, dass die eh, also die Kinder, dass die Familie kümmert.« (Sevim Öztürk, Z. 2317-2318)

Sie begründet diese Situationseinschätzung unter anderem mit einem beispielhaften Verweis auf das Ergehen der Vormieterin ihrer Wohnung, beziehungsweise der Wohnung, in der ihr Sohn jetzt alleine lebt: 42 »Zum Beispiel in diese Wohnung, die gewohnt, wohne jetzt, da ist eine ältere Frau gestorben, hat nicht mal Nachbarschaft gekümmert und dann dann nachher haben sie festgestellt, da ist jemand gestorben und dann nachher in diese Wohnung, da könnte ich einziehen, aber die haben dann Grund auf alles renovieren müssen. Weil, das das ist das nämlich, die die Angehörige, wie weit die seh ich, wenn einer stirbt zum Beispiel und eh wie seh ich denn? Meine Mutter hat hier gewohnt. Alleine gewohnt. Ich hab aus Berlin aus drei Mal am Tag angerufen. Und denn mein Bruder, jeden Tag gekommen und gekümmert.« (Sevim Öztürk, Z.2360-2367)

Auch hier wird die in Deutschland gemachte Beobachtung, dass eine ältere Frau vereinsamt und in einer scheinbar verwahrlosten Wohnung verstarb, mit der eigenen Familie kontrastiert. Dazu berichtet Sevim Öztürk, dass sie sogar aus Deutschland den Alltag ihrer Mutter in der Türkei begleitete, indem sie dreimal täglich telefonischen Kontakt zu ihr hatte. Durch diese Erzählung wird herausgestellt, dass Sevim selbst unter Bedingungen einer internationalen Migration (und

die ohne verwandtschaftliche Besuche in Altersheimen leben. Aus dieser Perspektive scheint Einsamkeit und Verwahrlosung eine natürliche Folge der Verwandtschaftslosigkeit. 42 Es kann vermutet werden, sie die Wohnung bereits zu Beginn der 1970er Jahre bezog, also zu einem Zeitpunkt als viel kriegsgeschädigter Wohnraum saniert wurde.

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bei einer vollen Berufstätigkeit und alleinerziehend)43 für ihre Mutter eine verlässliche Alltagsbegleitung gewährleistete. Auch ihr Bruder habe die für ihn in direkter Nachbarschaft lebende Mutter täglich besucht und bei Bedarf unterstützt, sodass diese sich in einer durch hohe Kontaktdichte charakterisierten Beziehung mit ihren Kindern wiederfinden konnte. Aus dem Datenmaterial ist nicht eindeutig zu rekonstruieren, ob die hohe Kontaktdichte deshalb positiv bewertet wird, weil die Mutter so in eine engmaschige Kommunikation eingebunden war und dies als Kennzeichen sozialer Inklusion gesehen wird, oder ob die hohe Kontaktdichte als Sicherungssystem gewertet wird um schnell (akute) Hilfebedarfe zu identifizieren und zielgerichtet intervenieren zu können. Als Intention dieser Ausführung lässt sich jedoch herausfiltern, dass Sevim Öztürk sich beziehungsweise ihre Familie von den von ihr in Deutschland gemachten Beobachtungen abgrenzen möchte. Als Folge einer solchen Darstellung, kann Sevim Öztürk jeglichen Argumentationen, weshalb Kinder sich aufgrund von Wohnortdistanz, Berufstätigkeit oder weiteren Einbindungen nicht um ihre älteren Eltern kümmern könnten, als vorgeschoben abwerten. Es gibt somit für sie keine akzeptablen strukturellen Gründe, weshalb eine alltagsnahe Begleitung der eigenen Eltern nicht möglich sein könnte. Ein weiteres Beispiel der Verwendung des angeführten Motivs ist dem Interview mit Nazım Yılmaz entnommen. Im Interviewverlauf wurde darüber gesprochen, an welchem Ort er sein Lebensende verbringen möchte. Als Teil seiner Überlegungen für seine noch zu treffende Wahl bringt er eine Erfahrung aus seiner Biographie an: »Beispielsweise, wenn in Deutschland ein Mensch stirbt, dann bleibt er in seinem Zuhause. Als ich in der Fabrik gearbeitet habe, habe ich jeden Tag einen Mann von seinem Zuhause abgeholt und mit meinem Auto zur Fabrik mitgenommen. Eines Tages habe ich auf ihn gewartet und er kam nicht. Nach fünf Minuten habe ich aufs Gas getreten und bin gefahren. Immer noch, sie sagten zu mir, warum bist du zu spät gekommen? Soundso, er ist nicht gekommen. (..) Wie es so kommt, der Mann ist an dem Tag verstorben. Er ist zwei, drei Tage in seinem Zuhause geblieben. Würde es hier so etwas geben? Also die Kranken werden besucht, wenn du dort allein bist, niemanden hast […]. Bleibst du, die die niemanden haben, bleiben im Heim.« »Mesela Almanyaʼda bir insan ölsün evide kalıyor. Ben fabrikada çalışırken her gün bir adamı eviden alır fabrikaya götürürdüm arabamla. Bir gün bekledim gelemedi beş dk. da geçti bastım gitti. Hala bana dediler niye geç kaldın? Böyle böyle gelmedi. (..) Oysa adam o gün ölmüş. İki, üç gün de evinde kalmış. Burada hiç böyle bir şeyler olur mu? Yani hastaya

43 Diese beiden Aspekte benennt sie nicht explizit, sollen an dieser Stelle jedoch angeführt werden.

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ziyarete gelinir, orda yalnız oldun mu kimsen olmaz […]. Da kalırsın kimsesizler yurdunda ka.« (Nazım Yılmaz, Z. 893-897)

In der hier angeführten Passage wird der Umgang mit Sterbenden in Deutschland und der Türkei polarisierend gegenüber gestellt. In Deutschland, so Nazım Yılmaz vorangestellte Feststellung, verbleiben Sterbende einsam in ihrer Wohnung – sowohl während des Sterbeprozesses als auch danach. Diese Aussage ist für ihn absolut und wird zu keinem anderen Zeitpunkt im Interview relativiert. Zur Illustration schließt Nazım Yılmaz eine Erzählung an: Ein Kollege, den er regelmäßig im Auto mit zur Arbeit nahm, ist eines Morgens nicht erschienen, sodass er ohne ihn weiterfuhr. Am Arbeitsplatz wurde Nazım Yılmaz noch auf seine Verspätung angesprochen. Wie sich später herausstellte, ist der Kollege an diesem Tag allein in seiner Wohnung verstorben und erst einige Tage später aufgefunden worden. 44 Anschließend erfolgt ein Vergleich beziehungsweise eine Kontrastierung zur Türkei. In einer rhetorischen Frageformulierung kommt zum Ausdruck, dass Nazım Yılmaz eine dementsprechende Situation in der Türkei für unwahrscheinlich bis unmöglich hält. Kranke würden dort besucht, Alleinstehende kämen in Einrichtungen unter, sodass niemand alleine oder unbegleitet Krankheit oder Sterben erleben müsse. Damit führt Nazım Yılmaz eine Asymmetrie in den konkreten Vergleich ein, denn sein verstorbener Arbeitskollege war noch berufstätig und kein alleinlebender Altersrentenbezieher. Im Interview finden sich keine Aussagen, die Rückschlüsse zum familiären Netzwerk des Kollegen ermöglichen. Auch schien er, wenn er bis zu diesem Zeitpunkt täglich zu Arbeit kam, nicht von einer allgemein präsenten Krankheit gekennzeichnet zu sein, sodass zu vermuten ist, dass der Tod des Kollegen überraschend eintrat. Der von Nazım Yılmaz angeführte Vergleich scheint so zunächst unangemessen, da er sich auf unterschiedliche Ausgangssituationen bezieht. In einer Zusammenschau mit den anderen Interviewausschnitten, die das angeführte Motiv aufgreifen, lassen sich jedoch einige konstante und zusammenhängende Aspekte herausfiltern, die es ermöglichen sowohl ein in der Untersuchungsgruppe wirkmächtiges Narrativ als auch markante Charakteristika hinsichtlich der Versorgungserwartungen zu rekonstruieren.

44 Aus dem Interview wird nicht ersichtlich, ob sich Nazım Yılmaz, weitere Arbeitskollegen oder andere Personen nach dem Verbleib des Kollegen erkundigt haben. So wie Nazım Yılmaz es hier berichtet, entsteht der Eindruck, dass sich keiner kümmerte. Auffällig ist auch, dass er bei dieser vor Jahren gemachten Erfahrung noch an die Erkundigung zu seiner Verspätung erinnert. Deutlich ist jedoch aus, dass auch er nicht für seinen Kollegen aktiv wurde. Er hat erwartet, dass andere diese Verantwortung übernehmen.

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In den Ausführungen von Nazım Yılmaz, Sevim Öztürk, Duygu Çiçek und allen anderen Interviewpartnern werden Verwunderung und Entrüstung zum Ausdruck gebracht. Verwunderung besteht darüber, dass Phänomene wie die Vereinsamung Älterer und ein unbemerktes Versterben in der Wohnung überhaupt existent sein können und entsprechend ihrer Wahrnehmung noch nicht einmal Einzelfälle darstellen. Aus der Verwunderung ist zu schließen, dass sie dies als Abweichung ihrer Normalitätsvorstellungen wahrnehmen. Die kommunizierte Entrüstung offenbart, dass die Interviewpartner die beobachtete Andersartigkeit als negativ bewerten, denn (deutsche) Familien und Nachbarn erfüllen nicht als gesetzt gehaltene soziale Normen von Versorgungsverpflichtungen. In einer Positiva herausstellenden Lesart kommunizieren die Interviewpartner einheitlich, dass sie eine kontinuierliche, möglichst mehrmals tägliche Begleitung sowie Unterstützung bei Versorgungsbedarfen bei Älteren und Kranken für selbstverständlich halten. Als zentral bewertetes Qualitätsmerkmal im Umgang mit beziehungsweise in der Versorgung von Älteren und Kranken gilt die Anzahl der sozialen Kontakte mit Personen aus dem sozialen Nahraum, einem Lackmustest vergleichbar. Je engmaschiger eine ältere oder kranke Person begleitet, betreut und bei Bedarf unterstützt oder auch versorgt wird, umso besser fällt die Versorgungsbewertung aus. Primär handlungsverpflichtet sind aus dieser Perspektive immer die Personen, die in einer verwandtschaftlichen oder auch nachbarschaftlichen Beziehung zu Älteren oder auch Kranken stehen. Auffällig an den Ausführungen der Interviewpartner ist, dass es ihnen nicht vorrangig um konkrete Verrichtungen zur Unterstützung Älterer oder auch Kranker geht, sondern dass sie eine Teilnahme am sozialen Leben gewährleistet sehen wollen. Kern dieser Norm ist demnach, dass Menschen Teil einer Solidargemeinschaft beziehungsweise einer sorgenden Gemeinschaft sein sollten. Die Verhinderung von Vereinsamung Älterer ist aus dieser Perspektive die zentrale Zielsetzung. An keiner Stelle im Datenmaterial werden Ausprägungen des Kontaktabbruchs zu Älteren oder Kranken für rechtfertigbar gehalten. Ihren verinnerlichten Verhaltenserwartungen entgegenstehend beobachten die Interviewpartner, dass den angenommenen Pflichten oder auch Selbstverständlichkeiten in Deutschland (überwiegend) nicht nachgekommen wird. In den Beschreibungen ihrer Differenzerfahrungen greifen Selbst- und Fremdbeschreibungen zirkulär ineinander, wobei die dabei gezeichneten Versorgungserwartungen hinsichtlich Älterer, Kranker und Sterbender sowie sie begleitende Legitimationsmuster an Kontur gewinnen. Die beispielsweise von Nazım Yılmaz als auch von Sevim Öztürk beschriebenen Situationen liegen bereits Jahrzehnte zurück, stellen für sie jedoch Schlüsselerlebnisse dar, auf die sie zurückgreifen, um

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Unterschiede im familiären sowie nachbarschaftlichen und damit gesellschaftlichen Umgang mit Älteren, Kranken und Sterbenden zu verdeutlichen. Im Datenmaterial ist die Engführung auf eine Dichotomie zwischen Deutschen und Nichtdeutschen oder auch dem Eigenen auffallend. Wurden die Interviewpartner befragt, worin sie diese Unterschiedlichkeit begründet sehen, bringen sie verschiedene Argumentationslinien und Deutungsmuster zusammen, fokussieren jedoch divergente Familienverständnisse. So beispielsweise Sevim Öztürk: »Deutsche Mentalität ist es was mehr ich-bezogen. […] Ich bin Vordergrund. Und dann kommt die nächste. (..) Ich bin bin ich. Dann kommt die nächste. Das hat nicht viele Sachen, zum Beispiel immer noch nicht manche Sachen versteh ich immer noch nicht. Die Familienbeziehung, die Familienangehörigkeiten. Und die die miteinander umgehen. (I: Inwiefern?) Diese Kalte. Kalt. Miteinander. Immer, mhm, wie soll ich sagen, Abstand halten. Jünger und Ältere.« (Sevim Öztürk, Z.680-692)45

Sevim Öztürk beschreibt eine von ihr beobachtete Distanz zwischen den jüngeren und älteren Generationen einer Familie. Auch Yaşar Şahin begründet seine Differenzwahrnehmung über Familienverständnisse: »wir sind auch unsere Familie immer enger gebunden. Nicht wie Deutschland. Und es gibt auch Familien, deutsche Familien, sie sehr enge Verbindung haben, aber nicht ganz, nicht wie hier [Türkei]. Wenn wir sechzig Jahre alt sind, sagt unsere Vater, unsere Tochter, mein Kind. Egal, wir sind sechzig oder siebzig, immer Kind. Wir sind in die Auge von unsere Eltern.« (Yaşar Şahin, Z. 645-649)

Seiner Beobachtung nach sind bei Türkeistämmigen intergenerationale emotionale Verbindungen stärker und langfristiger als bei der Mehrheit der aus Deutschland stammenden Familien. Die Sorge der Eltern um ihre Kinder gilt demnach als absolut. Auch Nuri İbrahimoğlu beschreibt im Interview seine Beobachtung zum Familienverständnis bei Deutschen beziehungsweise in Deutschland:

45 An anderer Stelle exemplifiziert Sevim Öztürk den Unterschied daran, dass deutsche Mütter Essen oder Geld mitgäben, wenn sie ihre Kinder bei ihren Müttern (also Großmüttern) zur Beaufsichtigung abgeben. Der türkischen Mentalität entsprechend sei es selbstverständlich, dass die Großmütter die Nahrung der Enkelkinder selbst bereitstellten.

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»Ja und dann, was ist wohl die [geçekçisi: Wahrheit] dahinter? Also eine Kinder [sevisi] eh, und ich frage sie, ich hatte Arbeitskollegen, Deutsche, die haben im gleichen Bezirk gewohnt und haben ihre Tochter zweiundzwanzig Jahre lang nicht gesehen. Obwohl sie in einem Bezirk, in einem Ort gewohnt haben. In [Stadtteil X]. Sie sehen ihre Tochter zweiundzwanzig Jahre lang nicht. Ja, kannst du dir vorstellen was das heißt? Das heißt, bei denen gibt es so etwas wie Liebe des Kindes [Elternliebe] nicht. In dem ersten [unverständlich] bekommen sie ein Kind, so wie jeder es macht. Und ab einem gewissen Alter, los, wirf den Stein, dein Arm wurde geöffnet.« »Ha bunun bundan sonra geçekçisi acaba ne? Ha bir evlat sevisi e soruyorum size, benim iş arkadaşlarım vardı, Alman, aynı semtte oturuyorlardı yirmiiki senedir kızını görmüyor. Halbuki aynı semtte aynı yerde oturuyor. [semt x]ʼda. Yirmi iki senedir kızını görmüyor. Ya düşünebiliyor musun ne demek bu? Demekki evlat sevgisi diyerekten birşey yok bunlarda. Ilk [unverständlich] çoçuğu doğururlar tamam amenna, herkezin yaptığı gibi. Berlirli bir yaşa geldikten sonra hadi taş at kolun açıldın.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 2120-2124)

Aus der Beobachtung, dass sein deutscher Arbeitskollege 22 Jahre keinen Kontakt zu seiner in der Nähe lebenden Tochter hat, schlussfolgert Nuri İbrahimoğlu einen essentialistischen Unterschied: Deutsche kennen keine Eltern-Kind-Liebe. Diese Aussage mildert er dahingehend ab, dass zu Beginn, also in der Kindheit und Jugend, der Umgang zwischen Deutschen und ihren Kindern dem »normalen« Umgang aller anderen gleiche. Ist das Kind jedoch erwachsen beziehungsweise volljährig, durchlaufe die Eltern-Kind-Beziehung einen fundamentalen Wandel, ausgedrückt in der Metapher »Wirf den Stein, dein Arm ist geöffnet«. Die Andersartigkeit wird hier bei den Deutschen markiert, während Nuri İbrahimoğlu seine eigenen Auffassungen mit der global-gesellschaftlichen Mehrheit gemein macht.46 Im weiteren Interviewverlauf spezifiziert er den beobachteten Unterschied als religiös begründet:

46 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ist, dass Nuri İbrahimoğlu im Interview immer wieder anmerkt, dass er für all seine Kinder die Sünnet-Feiern (Beschneidungsfeier), sowie Verlobungs- und Hochzeitsfeiern groß ausgerichtet und finanziert habe. Dies betrachtet er als zentralen Aspekt einer guten Vaterschaft, führte jedoch auch aus, dass er im Alter nicht auf angehäuftes Kapital zurückgreifen kann, da all seine finanziellen Mittel in diese Feierlichkeiten geflossen seien. Dies bedauert er nicht, sondern ist stolz, seinen Söhnen in zentralen Momenten, nämlich der angemessenen Ausrichtung von Feierlichkeiten sozialer (und religiöser) Statuspassagen, ein guter Vater gewesen zu sein.

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»Im Christentum wird das Kind, wenn es 18 wird, sie nehmen das Kind und werfen es nach draußen. Geh, sagt man, verdiene selbst, lebe dein Leben wie du es lebst. Aber bei uns ist das nicht so. […] Wir richten die Beschneidungsfeier, die Verlobungsfeier, die Hochzeitsfeier des Kindes aus, wir richten das Heim des Kindes ein, mein Herr, wie nehmen die gesamten Ausgaben auf unsere Schultern. Aber so etwas gibt es im Christentum nicht.« »Hristiyanlıkta çocuk 18 yaşına girdimeydi, girmeden, çocuğu dışarı alıp atıyorlar. Git, diyor, kendin kazan, kendin yaşa, kendin nasıl Yaşarsan yaşa. Ama bizde öyle yok. […] Biz çocuğun sünnetinden tut, nişanından tut, evlenmesin tut efendim onların yuva kurmasında tut, efendim, bütün masraflar atanın omuzuna. Bütün ata karşılar, ata karşılıyor. Ama ondan sonra Hıristiyanʼda öyle bir şey yok.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 2026-2038)

Als weitere Begründung für das Verhalten der Deutschen sieht Nuri İbrahimoğlu ein Zusammenwirken von Religion und Kultur: »An einem Punkt werden Glaube und Kultur eins. Denn unser Glaube kommt aus der Tiefe. Sie fügen später dann diese Kultur hinzu. Kann ich mich verständlich machen? Wir haben solche Niemande in der Türkei, ob es das in Deutschland gibt oder nicht, das weiß ich nicht. In der Türkei gibt es Mütter und Väter, die ihre verschwundene Tochter, ihre verschwundene Tochter, wie ein Detektiv suchen. (I: Ja.) Aber das gibt es in Deutschland nicht. […] Aber in einem muslimischen Staat, dann, gibt es ein Familienband, ein Familiendach. Dieses familiäre Dach ist ein Knäuel aus Liebe und Respekt.« »Dinle kültür bir arada birleşiyor. Çünkü dinimiz dipten öyle geliyor. Onlar sonra bunu kültürü ilave oluyor. Anlata biliyor muyum? Biz ondan sonra öyle kimseler varki Türkiye'de Almanyaʼda var mı yok mu bilmiyorum. Türkiyeʼde kaybolan kızını, kaybolan kızını dedektif gibi arayan anneler var, bablar var. (I: Evet.) Ama Almanyaʼda bu yok. […] Ama Müslüman devletin ondan sonra bir aile bağı var, bir aile çatısı var. Bu aile çatısını bir sevgi saygı yumağı oluyor.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 2137-2154)

Nuri İbrahimoğlu postuliert hier zunächst eine Kongruenz von Religion und Kultur, stellt dann jedoch die Religion als präexistent vor die Kultur. Kultur wird demnach von Religion geprägt, kann nicht ohne einen religiösen Bezug entschlüsselt werden. Aus dieser Perspektive ist Religion ursächlich für Familienverständnisse und schließlich auch für Versorgungserwartungen im Kontext von Alter(n). Als illustrierendes Beispiel kontrastiert auch Nuri İbrahimoğlu Beobachtungen aus Deutschland und der Türkei: In der Türkei würden Eltern ihre (aus welchen Gründen auch immer) verschwundenen Kinder wie Detektive suchen, sich um sie sorgen. Deutsche verhalten sich seiner Auffassung nach nicht so. Anschließend stellt er Parallelen und Zusammenhänge zwischen einem mus-

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limischen Staat und einem muslimischen Familienverständnis her. Hierbei dominieren nicht Differenzierungen, sondern Gleichsetzungen. Ein durch den Islam begründetes Familienverständnis deckt sich so mit einem muslimischen Staatsverständnis. Kennzeichnend ist eine Verwobenheit von Liebe und Respekt, die alle Mitglieder des Staates sowie der Familie wertschätzt und schützt wie ein Dach, sodass sie nicht bindungslos oder auch einsam bleiben. Im weiteren Interview fährt Nuri İbrahimoğlu fort: »Die Familie ist sehr wichtig, die Familie ist sehr wichtig, denn also man hat eine Familie, nicht? Warum gibt es diese Familie? Du trägst ein Dach, genauso wie einen Nachnamen. Das gleiche Band. Dort ist dein, wenn du krank wirst, dich verletzt oder dir etwas zustößt, wer wird dann auf dich zueilen? Die Familie eilt, das Band, die Verwandtschaft, die Verwandten, der Onkel mütterlicherseits, der Onkel väterlicherseits, die Mutter, der Vater, das Geschwister wird zu dir eilen. Hm, also wenn jemand verletzt ist, ein Unbekannter und du kommst an ihm vorbei, dann hilfst du ihm auch, aber du kannst ihm nicht so helfen wie im Familienband. Du kannst nur aus einem menschlichen Charakterzug heraus helfen, die Verletzung, ein Ding zu lindern, das zu bessern. Das kannst du aus einer menschlichen Pflicht heraus das tun, aber die Familie ist etwas anderes als diese menschliche Pflicht, die du da erfüllt hast.« »Aile hayli önemli, aile hayli önemli çünkü e senin bir ailen var hıh. Bu aile niye var? Bir çatı, aynı soyadı taşıyorsun. Aynı bağı. Orda senin orda bir hastalansan, bir yaralansan veyahutta bir başı na hal gelmiş olsa ondan sonra buna kim koşar? Aile koşar, bağı koşar, hısımı koşar, akrabası koşar, dayısı, amcası, annesi, babası, kardeşi koşar. Ha ama adam yabancı birisi yaralansa sen oradan geçerken sen ona yardım edersin ama bir aile bağı gibi yardım etmezsin. Sadece bir insanlık vazife olarak yardım edersin oradaki gördüğün bir yaralanmayı, bir hadiseyi ondan sonra kurtarılması icap eden birşeyi. Ondan sonra bir insanlık görevi olarak şey edersin ama aile başka ordaki yapmış olduğun insanlık görevi başka.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 2161-2167)

In diesem Interviewausschnitt von Nuri İbrahimoğlu verdeutlicht sich eine Haltung, die auch die anderen Interviewpartner ausdrücken, jedoch nicht so klar und direkt formulieren. Bei unterschiedlichsten Bedarfslagen – Verletzung, Krankheit, Not – wird die Familie als primäre und ideale Unterstützungsinstanz adressiert. Hilfe zwischen Unbekannten ist aus dieser Perspektive ebenfalls gut zu heißen und eine Selbstverständlichkeit, hat jedoch im Vergleich zu Hilfe aus der Familie eine andere Qualität. Familiäre Unterstützung, Hilfe beziehungsweise Versorgungsleistungen sind demnach vorzuziehen. Aus dem Datenmaterial ist nicht zu rekonstruieren, weshalb die Hilfe- und Versorgungsleistungen aus der Familie als

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besser zu bewerten sind als die gleichen Leistungen von Nichtverwandten. Deutlich wird jedoch, dass sie von allen Interviewpartnern als besser bewertet werden. In den Ausführungen der Interviewpartner verschmelzen der (türkische) Staat, die (türkische) Kultur, die eigene (türkische und muslimische) Familie und die (islamische) Religion sowie die muslimische Gemeinschaft zu einem Konglomerat, indem eher Analogien gesetzt als Differenzen gezogen werden. Ohne dass die Interviewpartner es deutlich aussprechen, deutet sich in den Rekonstruktionen eine Gemeinschaft der Muslime (Umma) an, die in Großfamilien, Staaten und tendenziell unterschiedliche Kulturen aufgegliedert ist, jedoch jedem Gemeinschaftsmitglied »Liebe und Respekt« entgegenbringt. Aus einer solchen Weltsicht erscheinen antizipierte Distinktionen zu Deutschen, die mit Christen und dem deutschen Staat gleichgesetzt werden, und in Deutschland herrschenden Versorgungsrealitäten logisch. Zusätzlich bringen alle Interviewpartner auch persönliche Erfahrungswerte an, indem sie selbst beobachtete Fälle der Versorgungsrealität Älterer und Sterbender in Deutschland berichten. Diese Beobachtungen führen bei ihnen nicht zu einer Verringerung oder Relativierung der Differenzwahrnehmung, sondern verstärkt sie. Angenommene Distinktionen sehen sie in der Realität bestätigt, teilweise sogar an Dramatik übertroffen. Diese verschiedenen Deutungen, Haltungen und Perspektiven konzentrieren sich in dem von den Interviewpartnern kommunizierten Narrativ, das auf die vorgestellten Motive der Vereinsamung Älterer und des unbemerkten Versterbens zurückgreift. Heruntergebrochen stellt sich für die Interviewpartner die Situation so dar, dass sie Teil einer Familienbande sind, die sich, gerahmt durch die muslimische Gemeinschaft und die türkische Kultur, einander unbedingte Fürsorge garantiert. Diese Fürsorge ist nicht an Altersgrenzen, also zeitliche Dimensionen, gebunden, sondern versteht sich in dieser Hinsicht als absolut. Gleichzeitig werden klare Rollenerwartungen kommuniziert. In der Position eines Verwandten ist man verpflichtet Fürsorgeleistungen zu erbringen. Geschieht dies nicht, wird die Nachbarschaft als nächste Versorgungsinstanz adressiert und als selbstverständlicher, helfender Akteur des sozialen Nahraums konzipiert. In dem Datenmaterial können keine Gründe identifiziert werden, die eine Relativierung dieser, sich aus der jeweiligen Rolle ergebende, Fürsorgeverpflichtung ermöglichen würden. Auch in dieser Hinsicht bleiben Versorgungserwartungen absolut. In diesem Narrativ ist die Fremdbeschreibung der Deutschen unerlässlich, denn durch die Beschreibung der schlechten Versorgungssituationen bei Deutschen stehen die sich selbst zugeschriebenen Normen und Versorgungsstandards als besser dar, einer Überhöhung gleich. Als schlecht an der Versorgungslage älterer oder sterbender Deutscher werden nicht Ausprägungen körperlicher oder

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häuslicher Verwahrlosung benannt, sondern Vereinsamung. Vereinsamung repräsentiert jedoch für die Interviewpartner den schlimmsten anzunehmenden Fall menschlichen Daseins. Dass Verstorbene erst mit erheblich zeitlicher Verzögerung in ihren Wohnräumen aufgefunden werden, muss für die Gesprächspartner wie eine zynische Überzeichnung der Versorgungslage Älterer, Kranker und Sterbender in Deutschland erscheinen. Durch die Bezugnahme auf Kultur und Religion grenzen die Interviewpartner ihre eigene von anderen sozialen Gruppen ab. Aus den von den Interviewpartnern konstruierten und kommunizierten Versorgungserwartungen lässt sich als normativer Kern rekonstruieren, dass es ihnen am wichtigsten ist, dass kein Mensch, auch nicht im höheren Lebensalter, bei Krankheit oder in anderen Notsituationen einsam ist. Als Maßnahme gegen Einsamkeit scheint eine hohe Kontaktdichte, also die Abwendung von Alleinsein, die präferierte Strategie. Am besten ist es, wenn er von seiner Familie umsorgt wird. In der weiteren Analyse des Datenmaterials wird jedoch ersichtlich, dass aus diesem kontinuierlich reproduzierten Narrativ und den ihm inhärenten sozialen Normen für die Interviewpartner keine eindeutigen Positionierungen hinsichtlich der konkreten Umsetzungsstrategien von Versorgungserwartungen gezogen werden. Vielmehr differenzieren sich Versorgungserwartungen jenseits dieses Kernnarrativs aus. 5.3.2 Versorgungserwartungen – Sorgearbeit zwischen familialer Fürsorge und medizinischer Krankenpflege »Also wenn ich Geld hätte, würde ich eine/n Bedienstete/n einstellen. […] Eine/n schöne/n Pfleger/in also. Dann gebe ich fünfhundert, achthundert, tausend Lira als Monatsgehalt und lasse mich pflegen.« »Ha param varsa bir hizmetçi tutarım. […] Güzel bakıcı yani. Veririm beşyüz, sekizyüz, bin Lira aylığına aylıkla bakıtırım.«

Teil des Erkenntnisinteresses dieser Studie ist, wie türkeistämmige, muslimische ältere Pendelmigranten selbst altersassoziierte Versorgungsbedarfe abgrenzen und inwiefern sie dazu eine Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme verschiedener Akteure (z. B. Familienmitgliedern, der Nachbarschaft, religiösen Gemeinschaften, sozial-staatlichen Strukturen) konstruieren und kommunizieren. Jenseits des Kernnarratives, dass muslimische und türkeistämmige Ältere Teil eines fürsorgenden Kollektivs sind, in das sie sozial inkludiert und in jeder Bedarfslage

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umfassend versorgt werden, finden sich im Datenmaterial weitere Differenzierungen und Aushandlungsprozesse. Die Aussagen der Interviewpartner eröffnen Perspektiven auf erhebliche Spielräume für pflegeassoziierte familienexterne Versorgungsleistungen. In der analytischen Ausmessung dieser Spielräume zeigt sich jedoch, dass diese pflegeassoziierten familienexternen Versorgungsleistungen, je nachdem, ob sie als Folge von Alter oder Krankheit gedeutet werden, unterschiedlich diskutiert und akzeptiert werden. Dieser Aufspaltung des Pflegeverständnisses wird in einem folgenden ersten Abschnitt nachgegangen. Dazu werden Ausführungen der Gesprächspartner mit weiteren Kontextinformationen aus den Experteninterviews zusammengeführt. Es zeigt sich dabei, dass die befragten Vertreter der untersuchten Gruppe Pflege im Kontext von Alter primär als psycho-soziale Fürsorge und haushaltsnahe Tätigkeiten konzipieren, während Pflege im Kontext von Krankheit als medizinische Behandlung und Versorgung kommuniziert wird. Somit werden über den Begriff »Pflege« beziehungsweise »bakım« von den Gesprächspartnern, je nach Gesprächskontext zwei unterschiedlich abgesteckte Versorgungserwartungen diskutiert und als Verantwortungsbereiche verschieden adressiert. Die Begriffe »Pflege« und »bakım« werden somit von den Gesprächspartnern in zwei Modi verwendet. Zusätzlich zeigt sich, dass der deutsche Begriff »Pflege« und der türkische Begriff »bakım« unterschiedliche inhaltliche Reichweiten haben. Die Ausdrucksmöglichkeiten für Versorgungsbedarfe variieren demnach im jeweiligen nationalen sowie sprachlichen Kontext. Wie sich andeutet, spielen institutionalisierte Versorgungsstrukturen (im jeweiligen Kontext von Pflege, Alter, Krankheit) dabei eine entscheidende Rolle. In einem weiteren Abschnitt wird ausgeleuchtet, inwiefern Ansprüche an eine familiale Fürsorge beziehungsweise Pflege im Kontext altersassoziierter Versorgungsbedarfe absolut gelten und inwiefern Alternativen zur rein familialen Versorgung als mögliche Option diskutiert werden. Dabei zeigt sich, dass sich die befragten Personen unterschiedlich positionieren und Alternativen zu einer ausschließlich familiären Versorgung mitnichten durchgängig tabuisiert sind. Damit stehen die Interviewaussagen der befragten Pendelmigranten im Widerspruch zu den Situationseinschätzungen und Fremdbeschreibungen der befragten Experten. Die feinen Unterschiede der Pflege: Fürsorge im Alter und medizinische Versorgung bei Krankheit »There is around 25.000 beds in nursing homes. And most of these beds are, they don’t provide care, they are just like a senior housing.«

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Im Rahmen dieser Studie sollten die von den befragten Personen kommunizierten Pflegeerwartungen nachgezeichnet werden. Von besonderem Interesse schien dabei die Frage, inwiefern sich die befragten Personen familienexternen pflegeassoziierten Versorgungsleistungen gegenüber aufgeschlossen zeigen. In der Auswertung des Datenmaterials irritierten zunächst widersprüchlich erscheinende Aussagen der Interviewpartner, die bei genauer Betrachtung auf eine wirkmächtige Unterscheidung im Kontext pflegeassoziierter Versorgungsleistungen schließen lassen. Stellvertretend für das ganze Sample wird der Fall Mustafa Güneş angeführt, denn seine Positionierungen illustrieren Konsequenzen aus den aufgesplitteten pflegeassoziierten Versorgungsverständnissen am deutlichsten. Befragt nach seinen Versorgungserwartungen, falls er oder seine Ehefrau zukünftig pflegebedürftig werden sollten, positioniert sich Mustafa Güneş eindeutig und undiskutabel. Er lehnt jegliche familienexternen Versorgungsleistungen im Kontext von Alter ab und erwartet im Falle eines zukünftigen dauerhaften Unterstützungsbedarfes, dass seine Kinder temporär und zirkulär in das ländlich gelegene Haus zu ihm und seiner Ehefrau kommen und alle anfallenden Versorgungsleistungen abdecken. Gleichzeitig drückt Mustafa Güneş im Interview aus, dass er, sollte er beispielsweise an kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs leiden, in Krankenhäusern in Deutschland behandelt werden möchte: »Also wenn ich hier [Türkei] schwer erkranke, gehe ich nach Deutschland, bleibe nicht hier. […] (I: Warum möchten Sie dorthin gehen?) Naja, sag mal jetzt. Ich könnte auch hier im Krankenhaus liegen, doch ist die Pflege hier nicht so. (.) Dort ist es für uns besser.« »Yani burada ben ağır hasta olursam Almanyaʼya giderim, burada durmam. […] (I: Ne için oraya gitmek istiyorsunuz?) Yahu, şimdi şöyle. Burada da yatarım hastahanede ama burada bakım o kadar değil. (.) Orda bizim için daha iyi.« (Mustafa Güneş, Z. 1490-1533)

Irritation löst zum einen aus, dass Mustafa Güneş scheinbar keinen inhaltlichen Widerspruch darin sieht, einerseits auf jegliche familienexterne Pflege zu verzichten, andererseits (von Fachkräften) gewährleistete stationäre Pflege nicht nur akzeptieren zu können, sondern auch in größerem Umfang zu wollen. Es irritiert auch, dass er, obwohl er seinen Lebensmittelpunkt auch zukünftig in der Türkei sieht, zum Interviewzeitpunkt keine nennenswerten organisatorischen Hürden darin zu sehen scheint, bei einer akuten oder auch mit zahlreichen Behandlungs-

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terminen verbundenen medizinischen Versorgung in Deutschland anwesend zu sein.47 Im hier verfolgten Fokus sind die von Mustafa Güneş kommunizierten Pflegeverständnisse von Relevanz. Es zeigt sich, dass er sowohl medizinische Akutversorgung als auch die Versorgung bei langfristig eingeschränkter Alltagskompetenz über den Begriff »bakım« beziehungsweise »Pflege« thematisiert. Im Falle einer möglichen schweren Erkrankung wünscht er sich eine von Fachkräften durchgeführte beziehungsweise beaufsichtigte medizinisch basierte Versorgung. Genau wie Mustafa Güneş streben alle anderen Interviewpartner bei krankheitsassoziierten Versorgungsbedarfen eine maximal mögliche, an der modernen westlichen Medizin orientierte Behandlung oder auch Pflege an.48 Während Mustafa Güneş eine solche Versorgung für sich eindeutig in Krankenhäusern in Deutschland sieht, kommen andere Interviewpartner bei einem Vergleich der Gesundheitssysteme Deutschlands und der Türkei zu einem differenzierten Fazit. Dabei beschreiben sie mehrheitlich einen Verschlechterungsprozess in Deutschland und eine gleichzeitige Verbesserung in der Türkei. Während beispielsweise Riza Ateş beklagt, dass in Krankenhäusern in Deutschland immer weniger Personal tätig ist, beschreibt Nuri İbrahimoğlu eine Qualitätsverbesserung des Gesundheitssystems in der Türkei: »Wirklich jetzt, jetzt ist das so, früher waren Gesundheitsfragen in der Türkei wirklich ein großes Problem. Der einzige Grund, warum die Alten, die ihre Rente aus Deutschland beziehen, nicht in die Türkei zurückgekehrt sind, war, dass Gesundheitsfragen hier ein Problem waren. (I: Ja) Aber jetzt hat sich die Türkei in Gesundheitsfragen ziemlich weiterentwickelt. (I: Ja) Deswegen, ein wenig ist es auch, wie sehen die Bedingungen hier aus, wofür entscheidet man sich, das weiß ich nicht. Aber was ich ausdrücken will, ist, die Gesundheitsproblematiken beginnen sich zu lösen in der Türkei. Hier ist es auch gut.«

47 Zumindest für Personen aus dem deutschen Kontext, die keine fortwährende Pendelmigration aufrechterhalten, scheint dies irritierend zu sein. 48 Alle Interviewpartner wurden gefragt, ob sie auch an alternativer und komplementärer Medizin oder der Heilung durch religiöse Gelehrte interessiert sind. Alle distanzierten sich von solchen Praxen und bekräftigten ihre Orientierung an der westlichen Schulmedizin. Dabei schien es, als ob sie jegliche Alternative zur Schulmedizin als Aberglaube deuten. Im Islam gilt Aberglaube, insbesondere Polytheismus, als schwere Sünde. Eine wissenschaftliche Untersuchung, wie sich gläubige Muslime zu verschiedenen Heilmethoden positionieren, scheint aus dieser Perspektive inhaltlich gehaltvoll sein zu können.

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»Valla şimdi, şimdi şöyleki eskiden Türkiyeʼnin sağlık sorunları çok büyük problemdi. Yaşlılar, Almanyaʼdan emekli olanlar sadece Türkiyeʼye dönememelerinin gayeleri buradaki sağlık sorunları bir problem olduğu için dönemiyorlardı. (I: Evet.) Ama şimdi Türkiyʼ'de sağlık sorunları bir hayli ilerledi. (I: Evet.) Onun için biraz da şartlar neyi gösterir neye karar verir onu bilmiyorum. Ama demek istediğim Türkiyeʼdeki sağlık sorunlarıda çözülmeye başladı. Burası da iyi.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1384-1395)

Die Gesundheitsversorgung bleibt als lokal gebundene Ressource ein Pendelmotiv, verliert jedoch an Relevanz, wenn in beiden Ländern der Pendelachse auf eine als gleichwertig bewertete Gesundheitsversorgung zurückgegriffen werden kann. Dies bedeutet für die Pendelmigranten, die zu beiden Systemen Zugang haben, dass sie im konkreten Krankheitsfalle stets individuell prüfen und abwägen, wo für sie die beste medizinische Versorgung zu erhalten ist. 49 Gemeinsam haben alle Interviewpartner den Anspruch an eine bestmögliche medizinische Versorgung für sich und ihre Angehörigen. Im Datenmaterial finden sich keine Anzeichen, dass sie medizinischen Behandlungen, Operationen oder Kuraufenthalten im Alter kritisch gegenüberstehen. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sie medizinische Leistungen zur Entlastung von altersassoziierten körperlichen Einschränkungen begrüßen. In diesem Zusammenhang fordern sie den Ausbau medizinischer Versorgung in Deutschland und der Türkei ein und signalisieren, dass sie entsprechende Leistungen auch nutzen würden. Dies schließt an die zweite Erfahrungsebene des Alter(n)s an, in dem Alter(n) und insbesondere Gesundheit als eine (teilweise) persönliche Verantwortung konzipiert werden (siehe Kapitel 5.2.2). Aus dem Datenmaterial ist erkennbar, dass sie bereit sind, längere Aufenthalte in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen50 zu vollziehen und sich dazu in dem aus ihrer Perspektiven jeweils notwendigen Land aufzuhalten. Für ein entsprechend medizinisch basiertes Versorgungsniveau sehen sie einen Bedarf an professionell ausgebildeten Fachkräften. Das bedeutet auch, dass die Interviewpartner Familienangehörigen ein entsprechendes Versorgungsniveau nicht zutrauen. Die Präferenz familiärer Versorgungsleistungen endet dort, wo medizinassoziiertes Pflege(fach)wissen beginnt, beziehungsweise dort, wo Versorgungsbedarfe auf Krankheit zurückgeführt werden.

49 Inwiefern solche Versorgungsstrategien transnationale Orientierungen beziehungsweise transnationale Wohlfahrtsmixe aufzeigen, wird an anderer Stelle reflektiert (siehe Kapitel 5.4.2). 50 Dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht mehr auf die Option zurückgreifen wollen, die an die deutsche Rentenversicherung entrichteten Arbeitnehmerbeiträge erstatten zu lassen (siehe Kapitel 3.3.2).

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Gleichzeitig verdeutlicht das Beispiel des Mustafa Güneş, dass Pflege im Modus Krankheit anders gedeutet und gerahmt wird als altersassoziiert Versorgungsbedarfe. Versorgungsleistungen im Kontext von Alter(n) werden zwar ebenfalls über »bakım« beziehungsweise »Pflege« diskutiert, jedoch stehen in Ausführungen in diesem Kontext nicht körper- oder krankenpflegerische Verrichtungen im Vordergrund. Vielmehr knüpft das Pflegeverständnis im Kontext von Alter an die bereits vorgestellte Kernkategorie »Verhinderung von Einsamkeit« an (siehe Kapitel 5.3.1). Sprechen die Interviewpartner von »bakım« beziehungsweise »Pflege« im Kontext von Alter(n), beziehen sie sich auf psycho-soziale und haushaltsnahe Versorgungsleistungen. Aspekte von Körperpflege oder der Sicherstellung von medikamentösen Therapien werden in diesem Zusammenhang nicht als Aufgabenbereiche von Pflege thematisiert. Alters- und pflegeassoziierte Versorgungsleistungen dienen aus dieser Perspektive primär der Ermöglichung sozialer Teilhabe Älterer (im Sinne von Verhinderung von Einsamkeit) und der alltäglichen Begleitung (im Sinne von Verhinderung von Verwahrlosung). Eine solche Aufspaltung von Pflegekonzepten in Pflege im Modus Krankheit und Pflege im Modus Alter, irritiert weiter, denn gegenwärtige Erfahrungswerte (in Deutschland) zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit zur Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit mit zunehmenden Alter ansteigen. Auch wenn sich die Zeit bei schlechter Gesundheit im Alter komprimieren sollte, unieren Alter und Krankheit in lebensweltlicher Erfahrung zum Lebensende hin. Es stellt sich daher die Frage, weshalb die Interviewpartner an dieser Aufspaltung des Pflegeverständnisses festhalten. Diese Frage erhält durch die von den Interviewpartnern kommunizierten und prädominant mit Alter assoziierten körperlichen Degenerationen an Gewicht. Im Datenmaterial finden sich einige Hinweise, die pflegeassoziierte Versorungserwartungen in weitere gesellschaftliche Kontexte stellen und in der Zusammenschau erklärende Rückschlüsse erlauben.51

51 In der Literatur und im fachöffentlichen Diskurs wird vermutet, dass die erste Generation der Arbeitsmigranten selbst kaum Erfahrungen mit eigenen, älteren Verwandten in Bezug auf Alterungs- Krankheits- und Sterbeprozesse sammeln konnten und sie daher nur bedingt auf biographisches Erfahrungswissen zu diesem Themenbereich zurückgreifen kann. Die Ausführungen der befragten Interviewpartner zeichnen in dieser Hinsicht ein differenziertes Bild. Einige, wie Sevim Öztürk, berichten, dass sie auch über die Distanz der internationalen Migration intensiv die Alterungsprozesse der eigenen Eltern verfolgen konnten. Andere, wie Nazım Yılmaz, scheinen über Jahre kaum Kontakt zu ihren eigenen Eltern gehabt zu haben. Die Hälfte des Samples konnte auf Erfahrungswissen zu Pflegebedürftigkeit im eigenen Umfeld zurückgreifen: Mustafa Güneş, der freundschaftlichen Kontakt zu einem pflegenden Ehemann unterhält, Kemal

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Einige Anhaltspunkte weisen darauf hin, dass die befragten Personen sich in ihren Pflegeverständnissen mehr an institutionalisierten Pflegestrukturen in der Türkei orientieren als an entsprechenden Strukturen in Deutschland. Dazu finden sich im Datenmaterial Hinweise zu unterschiedlichen sozialpolitischen Rahmungen von Pflegeverständnissen im jeweiligen nationalen Kontext. So verweist die im Experteninterview befragte Frau Demirci, die selbst zur Krankenpflegerin in der Türkei ausgebildet wurde, auf Krankenpflegestrukturen im stationären Setting in der Türkei. Dabei dient die Institution des refakatçilik dazu, zentrale Unterschiede zwischen Deutschland und der Türkei zu veranschaulichen. Frau Demirci stellt refakatçı wie folgt vor: »In der Türkei, in kleinen Krankenhäusern sind immer die Angehörigen dabei, wenn jemand im Krankenhaus ist und pflegebedürftig ist. Refakatçı. Da schläft eine Bekannte dort, wenn die Person im Krankenhaus immer irgendwelche Hilfe braucht, wenn sie was Wasser möchte oder wenn Windeln gewechselt muss, wenn sie eine Ente brauchen, dann ist die Familienangehörigen da. […] haben immer die Familienangehörige im Krankenhaus die Pflege übernommen. Und die Schwestern habend an nur die medizinischen Sachen gemacht.« (Frau Demirci, Z. 434-445)

Als refakatçı, was mit »Begleiter« übersetzt werden kann, werden die (zumeist weiblichen) Angehörigen bezeichnet, die mit einem Patienten in ein Krankenhaus gehen. Dabei sichern sie eine 24-Stunden-Begleitung über den gesamten Krankenhausaufenthalt ab.52 In ihren Aufgabenbereich fällt unter anderem die persönliche Betreuung des Patienten sowie das Bettenbeziehen, die Begleitung der Körperwäsche, die Unterstützung von Toilettengängen als auch die Sicherstellung der Medikamenteneinnahme. Die in Krankenhäusern tätigen Krankenpfleger

Koyun und Riza Ateş in der Pflege ihrer eigenen Ehefrauen und Duygu Çiçek, die ihren pflegebedürftigen Vater in einer Pflegeeinrichtung in Deutschland besucht. Die pauschale Aussage, dass türkeistämmige Ältere nicht einschätzen könnten, welche konkreten Bedarfe und Belastungen eine Pflegebedürftigkeit mit sich bringen kann, kann nicht gestützt werden. 52 Dabei haben die als refakatçı fungierenden Angehörigen in den Patientenzimmern zumeist kein eigenes Bett, so dass sie die Nächte auf Stühlen verbringen oder sich zu den Patienten ins Bett legen. Sie sichern die Einhaltung der Therapiepläne, berichten weiteren Verwandten telefonisch über den Gesundheitszustand des Patienten oder bestellen deren Lieblingsessen ins Krankenhaus.

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(hemşire)53 sind für solche Tätigkeiten nicht zuständig, sondern übernehmen, ermöglicht durch ihre stark medizinisch-basierte Ausbildung, Aufgaben, die in Deutschland Ärzten vorbehalten sind. Oftmals finden sich in türkischen Krankenhäusern auch angelernte Kräfte (hasta bakıcılar), die Aufgaben der refakatçılar übernehmen um diese zu entlasten oder zu ersetzen, falls es keine Verwandten gibt, die die Begleitung im Krankenhaus ermöglichen können.54 Nicht-medizinische Leistungen werden somit traditionell nicht vom türkischen Gesundheitssystem übernommen. Reproduktive Tätigkeiten, die in Deutschland unter den Begriff »Pflege« gefasst werden, fallen dort in den Verantwortungsbereich der Familie. Es ist Aufgabe der Familie einen Krankenhausaufenthalt eines Verwandten in verrichtungspflegerischen Aspekten abzusichern. Krankenpflege ist auf somit anders ausdifferenziert als in Deutschland. Auch der Bereich der Altenpflege basiert in der Türkei auf einer anders geprägten Institutionalisierungsgeschichte als in Deutschland. In Deutschland wird »Altersheim« für gewöhnlich als Oberbegriff für jede Form der stationären Fremdversorgung im höheren Lebensalter verwendet, ohne auf weitere begriffliche beziehungsweise konzeptionelle Abgrenzungen einzugehen. Dabei kann traditionell zwischen Wohneinrichtungen, Alters- oder auch Altenheimen und Pflegeheimen unterschieden werden. Mit Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995 hat sich der Sektor der stationären Wohn- und Pflegeeinrichtungen für Ältere dahingehend transformiert, dass Pflegeeinrichtungen die mit Abstand verbreitetste Einrichtungsart darstellen.55 Altersheime als Einrichtungen, in denen Personen wohnen bevor sie pflegebedürftig sind, sind kaum noch anzutreffen beziehungsweise von Konzepten wie dem Service-Wohnen, dem betreuten Wohnen oder den Senioren-WGs abgelöst worden. Eine stationäre Versorgung Älterer findet somit fast ausschließlich im Zusammenhang mit körperlicher Pflegebedürftigkeit statt. In der Türkei stellt sich die Situation diametral

53 Der Begriff hemşire wird genau wie der Begriff »Krankenschwester« nur für weibliche Personen verwendet. Während ihrer Einbindung in Altenpflegestrukturen in der Türkei konnte ich beobachten, dass der Begriff hasta bakıcı, der wörtlich mit Krankenpfleger übersetzt werden kann, sowohl für angelernte Krankenpfleger jeglichen Geschlechts als auch ausgebildete Krankenpfleger männlichen Geschlechts verwendet wurde. 54 Frau Demirci berichtet auch von ihrer Beobachtung, dass einige größere Krankenhäuser in Großstädten auf refakatçilik verzichten und die von ihnen übernommenen Aufgaben komplett durch bezahlte, angelernte Kräfte (hasta bakıcılık) sicherstellen. 55 Zur Vermeidung der Begriffe Alters- oder Pflegeheim haben Begriffe wie »Seniorenresidenz« oder »Domizil« in den Namensgebungen entsprechender Institutionen gegenwärtig Konjunktur.

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entgegengesetzt dar.56 Auf diesen Aspekt macht der im Experteninterview befragte Herr Aslan aufmerksam. Er stellt im Interview heraus, dass die Mehrheit der Versorgungseinrichtungen für Ältere keine Pflegeleistungen anbieten: »There is around 25.000 beds in nursing homes. And most of these beds are, they don’t provide care, they are just like a senior housing. Very few of them are providing care and care and health services.« (Herr Aslan, Z.546-548)57

In der Versorgungslandschaft für Ältere in der Türkei ist zwischen dem huzur evi, was der in Deutschland bekannten Konzeption von Altersheimen ähnlich ist und von Herrn Aslan als »senior housing« beschrieben wird, und dem bakım evi, was dem in Deutschland bekannten Konzept eines Pflegeheims für Ältere nahekommt und von Herrn Aslan als »nursing home« bezeichnet, zu unterscheiden. Ein huzur evi ist traditionell eine kleine Wohneinrichtung, in die ältere Personen in Ein- oder Mehrbettzimmer ziehen können. Huzur kann mit »innerer Ruhe« übersetzt werden. Oftmals ist in einem traditionellen huzur evi in geringem Umfang Personal beschäftigt, das hauswirtschaftliche Dienstleistungen (Kochen, Putzen, Wäschewaschen) übernimmt. Weitere soziale, psychische, medizinische oder pflegerische Versorgungsleistungen werden nicht gewährleistet. Die Bewohner sind auf sich allein gestellt beziehungsweise auf den Einsatz von Bekannten und Verwandten angewiesen. Wird ein Bewohner eines huzur evis pflegebedürftig, muss er entweder ausziehen oder die pflegerische Versorgung mit seinem sozialen Umfeld individuell sicherstellen. In einem bakım evi, was mit Pflegeheim übersetzt werden kann, steht die Versorgung körperlich Pflegebedürftiger im Vordergrund. Hier ziehen Personen erst ein, wenn eine Pflegebedürftigkeit bereits vorliegt. Je nach Spezifizierungsgrad und Ausstattung kann in einem bakım evi von einer körperlichen Grundpflege bis zu einer medizinischen Intensivpflege alles angeboten werden. Während huzur evleri eine lange Tradition haben und staatlich, oftmals auch über Stiftungen, finanziert werden um allein stehenden Älteren ein Obdach

56 Siehe dazu auch Ausführungen von Sabine Prätor (2009, S. 92). 57 Duygu Cicek beschreibt huzur evi wie folgt: »Huzur Evi, ich war, wo ich wohne [Türkei], ich glaub da sind drei Stück da, bei mir oben. Die sind auch so mit Garten und so, aber sind auch viele, die sind nicht so pflegebedürftig wie meine Vater. Altenheim (I: Warum sind die da?) Die sind eh, entweder keine Familie, also die Kinder nicht mehr kümmern wollen oder meisten wollen auch selber eh, die wollen nicht alleine sein, weil die Kinder alle nicht mehr kommen oder nicht mehr kann. Sonst, also so ganz alte, wie jetzt meine Vater hier ist, habe ich selten.« (Duygu Cicek, Z. 453-461)

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zu ermöglichen, sind explizit ausgewiesene bakım evleri eine Neuerung in der Türkei. Als eine out-of-pocket-Leistung bedeutet die Versorgung in einer solchen stationären Pflegeeinrichtung für Pflegebedürftige und ihre Familie oftmals eine erhebliche finanzielle Belastung.58 Konzeptionelle Unterschiede, die sich in den unterschiedlichen Begrifflichkeiten sowohl inter- als auch intrasprachlich niederschlagen, spiegelten sich auch in den diese Studie begleitenden Translationsprozessen wider. Auch wenn diese Studie keine sprach- und translationswissenschaftlichen Perspektiven verfolgte, verdeutlicht sich in der Verwendung von zentralen Begriffen der Interviewpartner sowie in Übersetzungsprozessen während der Analyse und Berichtslegung, dass insbesondere der deutsche Begriff »Pflege« und der türkischen Begriff »bakım« im jeweiligen (nationalen) Kontext unterschiedliche Reichweiten beziehungsweise Spezifikationen transportieren. Während des Forschungsprozesses entstand so der Eindruck, dass insbesondere im Themenfeld von »Pflege« und »bakım« mit jeder Begriffsübersetzung ein Bedeutungsverlust unumgänglich war. Dabei sind die im Deutschen zur Verfügung stehenden Begrifflichkeiten im Themenfeld »Pflege« zahlreicher, differenzierter und fachwissenschaftlich spezifischer, damit aber auch immer enger in ihrer Bedeutung als die entsprechende Begriffsauswahl im türkischen Sprachgebrauch. Doch vor allem sind die deutschsprachigen Begriffe sozialrechtlich geprägt: Ebenfalls seit der Einführung des gesetzlichen Pflegeversicherung 1995 wird insbesondere das Verständnis von und die Kommunikation über Langzeitpflege (Älterer) durch das Sozialrecht geprägt. 59 So regelt die Gesetzgebung beispielsweise die Begriffsverwendung von »erheblicher«, »schwerer« oder auch »schwerster« »Pflegebedürftigkeit« bis hin zu

58 Während des Forschungsprozesses entstand der Eindruck, dass es in der Türkei eine Entwicklung hin zu bakım evleri (Pflegeheimen) konstatiert werden kann: Sie scheinen auf eine größere gesellschaftliche Akzeptanz zu stoßen, da sie eben nicht repräsentativ für Vereinsamung im Alter stehen, sondern für einen hohen finanziellen Einsatz der Familie, um eine hohe medizinisch-orientierte Pflegequalität bereitzustellen – also ein besonderes Bemühen der Familie signalisieren. 59 Pflegebedürftig sind entsprechend der deutschen Gesetzgebung Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Verrichtungen des täglichen Lebens werden in die vier Bereiche Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung unterteilt. (§ 14 Abs. 1 SGB XI beziehungsweise § 61 SGB XII).

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»Härtefällen« in der Pflege. Dabei ist der sozialrechtlich definierte Pflegebedürftigkeitsbegriff körperorientiert und verrichtungsbezogen.60 Auch wenn der Pflegebedürftigkeitsbegriff gegenwärtig in der deutschen Fachöffentlichkeit intensiv diskutiert wird, dominiert im deutschen Kontext ein Fokus auf einen körperzentrierten Pflegeprozess. Wird in den türkischsprachigen Interviews von den Gesprächspartnern der Begriff bakım verwendet, spaltete er sich zwar in der Verwendung in die Modi »Pflege im Alter« und »Pflege bei Krankheit« auf, scheint dann jedoch mehr Facetten zu vermitteln als der deutsche Begriff »Pflege«. Sprechen die Gesprächspartner von bakım, treten kaum Bezüge zu sozialrechtlichen Rahmungen hervor. Mit dem Begriff bakım konzipieren sie eine jeweils individuelle Mischung von Lebens- und Alltagsbegleitung, medizinischer Betreuung und Behandlung sowie hauswirtschaftliche Unterstützung. Bakım ist somit immer das, was der jeweils Bedürftige gerade braucht, also breiter im Spektrum und individueller in der Zusammensetzung.61 In den Bemühungen der Gesprächspartner, passende For-

60 Dies deckt sich mit der Entwicklungsgeschichte des Altenpflegeberufes. Während erste Ausbildungs- und Prüfungsordnungen die Altenpflege als einen sozial-pflegerischen Beruf konzipierten, gilt die berufliche Altenpflege heute als ein Heilberuf im Gesundheitswesen. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten sowie soziale Betreuung und Begleitung sind keine Kerntätigkeiten der beruflichen Praxis und werden gegenwärtig vom Tätigkeitsfeld der Altenpflege abgespalten. Mit den 1969 eingeführten Allgemeinen Prüfungsordnungen wurde Altenpflege in der Bundesrepublik Deutschland erstmals zu einem Ausbildungsberuf. Dabei unterschieden sich die Ausbildungsordnungen in jedem Bundesland erheblich und die Ausbildungszeit lag unter zwei Jahren. Der in den 1970er Jahren gegründete Deutsche Verband für Altenpflege (DBVA) setzte sich für eine staatliche Anerkennung der Altenpflegeausbildung sowie für eine tarifliche Bezahlung entsprechend der Gesundheits- und Krankenpflege ein. In den 1990er setzte sich die dreijährige Berufsausbildung in immer mehr Bundesländern durch und verstärkte einen Umorientierungsprozess der beruflichen Altenpflege, der mit der seit 2003 geltenden bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung zunächst abgeschlossen wurde. Altenpflege gilt nun als medizinisch-orientierter Heilberuf, so dass Altenpflegekräfte genau wie Gesundheits- und Krankenpfleger im ärztlichen Auftrag medizinische Behandlungspflege durchführen können. Eine weitere Transformation kann das Berufsfeld der Altenpflege durchlaufen, sollte es zu einer integrierten oder generalisierten Pflegeausbildung, also zu einer größtenteils vereinheitlichten Pflegeausbildung, kommen (vgl. Riedel 2007). 61 In gewisser Weise ist der türkische Begriff »bakım« dem englischen Begriff »care« näher als den deutschen Begriffen »Pflege«, »Sorge« und »Fürsorge«.

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mulierungen zum Ausdruck ihrer Versorgungserwartungen zu finden, aber auch in der Datenauswertung und insbesondere in der Berichtslegung zeigte sich, dass die zu verwendenden Vokabeln im jeweils nationalen Kontext mit unterschiedlichen Konzepten und sich daraus ergebenden Erwartungen und Strukturressourcen besetzt sind. Es kann an dieser Stelle zusammengefasst werden, dass die im deutschen oder auch deutschsprachigen Kontext verwendeten Konzepte von Versorgung und insbesondere von Pflege nicht reibungslos an vergleichbare Konzepte im türkischen oder auch türkischsprachigen Kontext anschließen. Komplexitätssteigernd wirkt dabei zum einen die Aufspaltung des Pflegeverständnisses in die Modi »Pflege im Alter« und »Pflege bei Krankheit«, wie es die Gesprächspartner vornehmen. Zudem schlagen sich unterschiedlich institutionalisierte Pflegestrukturen auch in den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen und türkischen Sprache nieder. Es kann festgehalten werden, dass der türkische Begriff »bakım« für die befragten älteren türkeistämmigen Pendelmigranten eine andere Schwerpunktsetzung hat als der gemeinhin im formellen Pflegesektor in Deutschland verwendete Begriff »Pflege«. Im Auswertungsprozess des Datenmaterials konnte rekonstruiert werden, dass die Gesprächspartner mindestens zwei Arten der Pflegebedürftigkeit differenzieren: Pflegebedürftig aufgrund von Krankheit auf der einen Seite und Pflegebedürftigkeit aufgrund von Alter auf der anderen Seite. Die Präferenz familiärer pflegeassoziierter Versorgungsleistungen endet dort, wo medizinassoziiertes Pflege(fach)wissen beginnt, beziehungsweise dort, wo Versorgungsbedarfe auf Krankheit zurückgeführt werden. Je nachdem ob die Pflegebedürftigkeit alters- oder krankheitsassoziiert ist, scheinen verschiedene Versorgungskonstellationen möglich. In Bezug auf die Frage, wie die befragten älteren Pendelmigranten altersassoziierte Versorgungsbedarfe abstecken und inwiefern sie familienexternen Versorgungs- respektive Pflegeleistungen aufgeschlossen gegenüberstehen, kann an dieser Stelle festgestellt werden, dass es zunächst so scheint als ob die Interviewpartner ausschließlich ihre Familie als Unterstützungsinstanz adressieren. Dabei erwarten sie von den Familienmitgliedern nicht professionelle Körperpflege, sondern Formen sozialer Fürsorge. Dies ist insofern nicht überraschend, da sie eine solche Orientierung im vorgestellten Narrativ, dessen Kern darin besteht, Einsamkeit, insbesondere von Familienangehörigen zu verhindern, zum Ausdruck bringen. Wie im nächsten Abschnitt jedoch dargestellt, sind die Positionierungen der Gesprächspartner in Bezug auf altersassoziierte Versorgungsleistungen insofern überraschend, als dass sie der Logik des Narrativs nicht bedingungslos folgen. Es zeigt sich, dass die Gesprächspartner durchaus Alternativen

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zur ausschließlich familiären (pflegeassoziierten) Versorgung im Alter suchen, sie abwägen und mögliche Umsetzungsstrategien entwickeln. Versorgungspräferenzen im Alter: Familie und Alternativen »Wenn nicht, dann nimm dieses Geld hier mein Bruder/meine Schwester, und Tschüss. Und dann suchst du dir jemand anderen.« »Bakmazsa, al kardeşim, şu paranı, güle güle. Başka birine geçersin.«

Wie dargestellt, changieren die jeweiligen inhaltlichen Bedeutungen in der Verwendung der Pflegebegriffe im Datenmaterial. Dies verdichtet sich zusätzlich durch die von den befragten Experten verwendeten Pflegebegriffe. Die als Experten Befragten fokussieren in ihren Ausführungen mehrheitlich einen körperlichen und verrichtungsbezogenen Pflegebegriff. Sie betonen medizinisch intendierte und verrichtungsorientierte Körperpflege auch im Kontext altersassoziierter Versorgungsbedarfe. Pflege im Modus Alter ist für die befragten Pendelmigranten jedoch vorrangig als psychosoziale und haushaltsnahe Versorgungsleistung konzipiert und als Verantwortungsbereich primär an die Familie adressiert. Hinsichtlich der Frage, inwiefern für die untersuchte Gruppe Alternativen zu einer rein familiären Versorgung im Falle von Unterstützungs- und Pflegebedarf im Alter möglich sind, ist im zur Verfügung stehenden Datenmaterial ein Widerspruch hinsichtlich der Aussagen der befragten Experten und den Ausführungen der älteren Pendelmigranten auffällig. Die befragten Experten skizzieren die Gruppe der älteren türkeistämmigen (Pendel-)Migranten als jede familienexterne pflegeassoziierte Versorgungsleistungen prinzipiell ablehnend. Herr Aslan, Vertreter eines Verbandes für häusliche Pflege, berichtet, dass in der Türkei das Primat der Familienpflege weiterhin so absolut ist, dass jegliche Versorgung von außerhalb der Familie, insbesondere stationäre Pflegeeinrichtungen, komplett abgelehnt werden: »Still people are saying that we are, our culture is different, we are taking care of our families, we are, you know, we don’t want to put our patients, our elderlies to nursing homes, we don’t want them to be cared by other people.« (Herr Aslan, Z.759-761)

Und auch Frau Ateş, Tochter eines pendelnden Vaters, beschreibt, dass türkeistämmige Ältere familienexterner Hilfe grundsätzlich distanziert gegenüberstehen:

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»Dieses, ich hab doch Kinder, die müssen mir doch beiseite stehen, warum muss jetzt ein Fremder kommen? Also diese Idee, dass jetzt jemand von außen kommt. Obʼs jetzt jemand türkisches oder deutsches ist, ist wurscht bei denen. Schon dass jemand von außen kommt, das ist schon schlimm.« (Frau Ateş, Z. 676-676)

Aus dieser Perspektive treten national-kulturelle sowie religionsbegründete Abgrenzungen in den Hintergrund, da jegliche Alternative zur Familie negativ bewertet wird. Auch in den Beschreibungen von Frau Demirci, Pflegedienstleitung eines ambulanten Pflegedienstes in Deutschland, werden türkeistämmige Ältere als absolut in ihren Versorgungserwartungen dargestellt: »Die fordern das natürlich in erster Linie von den eigene Kinder und manche sehen das auch nicht, dass die Kinder das nicht schaffen. Entweder sind die berufstätig, haben ihre eigene Familie, eigene Kinder. Aber trotzdem verlangen die das, dass die Familienangehörige die Pflege übernehmen.« (Frau Demirci, Z. 229-232)

Ihrer Beobachtung nach nehmen viele ältere Türkeistämmige die Überforderung ihrer Kindergeneration nicht wahr und halten an einem familiären Versorgungsideal ohne Abstriche fest. In den Beobachtungen der Experten verwirklicht sich das angeführte Narrativ vom Primat der Verhinderung von Einsamkeit und wird sogar noch stärker auf die Familie enggeführt: Die Familie scheint als ganzheitliche und primäre Versorgungsinstanz adressiert zu werden. Als Triebfedern einer solchen Anspruchshaltung beziehungsweise Handlungserwartung innerhalb einer Familie werden die Älteren dargestellt, die Ansprüche an ihre Kinder nicht relativieren können, obwohl alternative Versorgungsstrategien nötig sind. Jenseits dieser Beschreibungen von sozialen Normen hat jeder der befragten Experten beruflich mit Pflegeleistungen in Anspruch nehmenden türkeistämmigen Älteren zu tun. Aus den Ausführungen der Experten ergibt sich jedoch keine klare kategoriale Abgrenzung, die Rückschlüsse darauf zulässt, welche Familien entgegen den herrschenden sozialen Normen externe Hilfe- und Pflegeleistungen hinzuziehen. Dabei machen die Experten deutlich, dass weder die soziale Schicht (Bildung, finanzielle Ressourcen), noch die politische oder religiöse Orientierung, noch Distanzen zwischen Wohnorten darüber Aufschluss gibt, ob Familien externen Dienstleistungen offen gegenüberstehen. 62

62 So berichtet Frau Demirci, dass sich die Mehrheit ihrer türkeistämmigen Kunden aus Anhängern der Partei AKP und Recep Tayip Erdoğan zusammensetzt. Säkular beziehungsweise kemalistisch orientierte Kunden würden aus ihrer Perspektive ambulante

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Im Kontrast dazu ist aus dem Interviewmaterial mit den älteren Pendelmigranten zu rekonstruieren, dass sie sich in Aushandlungsprozessen befinden, in denen sie Alternativen zur rein familiären Versorgung abwägen und mögliche integrative Umsetzungsstrategien suchen. Während die befragten Experten Versorgungsdimensionen im Alter aufspalten und insbesondere körperlich-pflegerische Aspekte in ihren Ausführungen fokussieren, konzipieren die befragten Pendelmigranten altersassoziierte Pflege weniger körperlich, dafür eher als sozialpflegerische Betreuung. Schlussendlich findet sich im befragten Sample eine breite Spanne unterschiedlichster Positionierungen, wie im jeweiligen Falle mit einem potentiellen Versorgungsbedarf agiert werden soll – und welche Rollen dabei Familienmitgliedern zugedacht werden. Die Gesprächspartner diskutieren vier mögliche Szenarien. In zwei ersten Szenarien verbleiben sie in der eigenen Häuslichkeit und haben theoretisch die Wahl Versorgungsleistungen (1) nur von Familienmitgliedern einzufordern oder (2) auch nichtverwandte Personen in zu definierenden Ausmaßen an der Versorgung (in der eigenen Häuslichkeit) zu beteiligen. In zwei weiteren Szenarien diskutieren sie Möglichkeiten der Unterbringung in stationären Einrichtungen. Während auf Deutsch lediglich der Begriff Altersheim verwendet wird, differenzieren die Gesprächspartner in ihren Ausführungen auf Türkisch zwischen (3) Wohneinrichtungen, huzur evi, und (4) Pflegeeinrichtungen, bakım evi. Dabei wird insbesondere das huzur evi als schlechteste Option gewertet, da es nur dann gewählt wird, wenn jegliche familiäre Unterstützung ausbleibt.

Pflegedienste seltener in Anspruch nehmen. Dem entgegengesetzt vermutet Frau Ateş, dass vor allem säkulare beziehungsweise an der Moderne orientierte Türkeistämmige die Vorteile der professionellen Altenpflege schätzen könnten. Frau Schulz zieht aus ihrem beruflichen Alltag folgenden Schluss: »ob man bei Hilfebedürftigkeit im Alter auch Hilfe von außen, außerhalb der Familie in Erwägung zieht, das hat eher Ursachen in der Unabhängigkeit von sozialem Druck, also ob die Familie stark genug ist auch etwas zu machen, was vielleicht vom sozialen Umfeld abgelehnt wird, von welcher Art von Rationalität in der Familie vorherrscht und welches Vertrauen vielleicht auch zwischen den Generationen ist, das man sich nicht als pflegebedürftiger Elternteil von den Kindern verraten fühlt, wenn die Kinder mit dir bereden wollen, ob es jetzt nicht vielleicht doch besser wäre, wenn vielleicht auch jetzt einen ambulanten Pflegedienst mit einzuschalten. Also ich glaube, dass das der stärkere Faktor ist. Die Religiosität ist es nicht, sondern: wie stark ist die Familie verhaftet in Zusammenhängen, die ähm, die eher so traditionalistischen Vorstellungen verhaftet sind. Das kann doch auch Atheisten betreffen.« (Frau Schulz, Z. 657-665).

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Im Sample finden sich Personen, die sich tatsächlich entsprechend der von den Experten angeführten Skizzierung positionieren. Mustafa Güneş lehnt im Kontext Alter beispielsweise jegliche außerfamiliäre Hilfe ab. Die in der Interviewsituation anwesenden Verwandten bestätigen seine Aussage als Positionierung der ganzen Familie. Auch sie lehnen die Einbeziehung nicht-familiärer Personen in altersassoziierten Versorgungsbedarfen ab. Mustafa Güneş lebt mit seiner Frau abgelegen und mehrere hundert Kilometer von seinen Kindern entfernt. Als Lösung für den Fall der Hilfebedürftigkeit stellen sie sich vor: »Dann kommt einmal der/die aus Ankara und kümmert sich, dann kommt der/die aus Antalya und kümmert sich und dann kommt die/der aus Deutschland und kümmert sich. Wenn es so sein sollte, dann werden sie ihn in seinem Haus pflegen.« »Bi Ankaraʼdaki gelip bakar bi Antalyaʼdaki gelip bakar bi Almanyaʼdaki gelir bakar. Olursa da burada evinde bakar.« (Person 2 bei Mustafa Güneş, Z.1610-1611)

Das hier vorgestellte Versorgungskonzept sieht vor, dass die Kinder sich aufteilen und eine umfassende Versorgung in der Häuslichkeit von Mustafa Güneş ermöglichen werden.63 Nazım Yılmaz antwortet auf die Frage, ob er sich je überlegt habe, in ein huzur evi (Altersheim oder bakım evi (Pflegeheim)) zu ziehen: »Nein, nein, nein, ich kann nicht bleiben. Und wenn ich mich selbst umbringe, ich kann nicht bleiben. (I: Warum?) Ich möchte nicht. Seien Sie nicht ärgerlich mit mir, aber das geht an meinem Kopf vorbei. Wenn ich es erklären soll, das ist eine sehr schändliche Sache.« »Hayır, hayır, hayır kalmam. Kendimi öldürürüm gene kalmam. (I: Neden?) İstemiyorum. Kusura bakmayın, başımdan geçti, anlatsam çok ayıp bir şey.« (Nazım Yılmaz, Z. 11961200)

63 Mustafa Güneş hat vier Kinder. In einem theoretischen Modell würde das hier von Mustafa Güneş und seiner Familie vorgestellte Modell bedeuten, dass jeweils eines der Kinder drei Monate in den Wohnraum der Eltern in der Türkei einzieht. Es gibt keine Indizien dafür, ob diese Versorgungserwartung nur die Töchter und Schwiegertöchter trifft, oder auch die Söhne und (unwahrscheinlich) Schwiegersöhne. So oder so würde es für alle Familienmitglieder eine erhebliche Umstrukturierung des Alltags bedeuten, da bisher keines der Kinder (und deren Familien) in diesem Umfang Zeit bei Mustafa Güneş und seiner Frau verbringt.

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Für Nazım Yılmaz stellt sowohl das Altersheim als auch das Pflegeheim keine mögliche Option dar. Durch den Verweis auf einen zu bevorzugenden Freitod unterstreicht er seine Abneigung zu entsprechenden Institutionen maximal. 64 Aus dem weiteren Interviewverlauf wird ersichtlich, dass er diese Abneigung nicht nur in Bezug auf seine eigene Zukunft sieht, sondern sie als Teil seiner Lebensauffassung begreift. So berichtet er, dass er eine Beziehung mit einer Deutschen hatte, die er jedoch intuitiv und unmittelbar beendete, als er erfuhr, dass diese als Altenpflegerin tätig sei. In den Fällen von Nazım Yılmaz und Mustafa Güneş scheint sich zu bestätigen, dass das Primat der familiär gesicherten Versorgung im Alter Bestand hat und sogar hypothetische Auseinandersetzungen zu familienexternen oder auch professionellen Versorgungsleistungen von den Älteren selbst ablehnend behandelt werden. Doch lediglich bei Mustafa Güneş bleibt diese Positionierung im Interview absolut. Nazım Yılmaz wägt im weiteren Interviewverlauf realisierbare Versorgungsalternativen für seinen eigenen Fall ab und kommt zu dem Schluss: »Aber ich rede so bestimmt, es mag sein, dass ich vielleicht doch im Altersheim krepieren werde, das weiß ich auch nicht.« »Yani, ama ben böyle çok net konuşuyorum belkide huzur evide geberecem onuda bilmiyorum.« (Nazım Yılmaz, Z. 1208-1209)

Auch wenn er die Institution des Altersheims grundsätzlich ablehnt, scheint ihm jedoch bewusst zu sein, dass diese Institution auch für ihn eine wahrscheinliche Option darstellt, da er sich nicht auf die unbedingte Fürsorge seiner Familie verlassen könne65 – auch wenn dies seinen eigentlichen Erwartungen entspräche. Auch Sevim Öztürk hofft, falls bei ihr zukünftig ein Versorgungsbedarf entsteht, grundsätzlich auf ihre Familie:

64 Im Islam gilt der Freitod oder auch Selbstmord als Sünde. Nazım Yılmaz inszeniert sich im Interview nicht als strenggläubiger Muslim und berichtet freimütig von amourösen Beziehungen mit verschiedenen Frauen und kriminellen Tätigkeit. Dennoch greift er hier auf diesen in islamischen Kreisen verständliche Bild zurück. 65 Im Interview beschreibt er mehrfach eine aus seiner Perspektive schlechte Beziehung zu seinem jüngsten Sohn. Er berichtet zum einen, dass dieser Sohn und seine Familie ihn immer nur sehr kurz in dem Haus in der Türkei besuchten, obwohl er sie auch für einen längeren Zeitraum einlade. Außerdem habe sein Sohn schon in der Kindheit sich nicht von seiner im Sterben liegenden Großmutter verabschieden wollen, obwohl er ihn dazu (auch unter Gewalt) gedrungen habe. Zu seinen Kindern aus erster Ehe scheint er keinen Kontakt gehalten zu haben. Eins dieser Kinder ist bereits verstorben.

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»So wie ich meine Nichten und Neffen und mein Kind, also mein Sohn denke, die würden mich nicht hinschicken. Erstmal. Die in Istanbul, die hier eh eh, diese meine Nichten, und Neffen, die sind da sehr, bisschen mich eingeprägt, die mögen gerne. Und die von mein Schwester die Kinder auch. Und die sagen jetzt schon, natürlich, denn denn wir werden dich nie in Altersheim hinschicken. Und mein Sohn genauso.« (Sevim Öztürk, Z. 1197-1201)

Sie beschreibt, dass nicht nur ihr Sohn von ihr als möglicher Versorger gehandelt wird, sondern auch ihre Nichten und Neffen. All diese würden ihr signalisieren, dass sie sie eher aufnehmen würden, als dass sie in ein Altersheim ziehen müsste. Doch bevor ihr Sohn seine Lebensträume aufgeben müsse, z. B. nach Australien oder Amerika zu gehen, damit er sich um sie kümmern könne, würde sie sich lieber darum bemühen, Unterstützung von Externen in der eigenen Häuslichkeit (in der Türkei) zu erhalten. So kann sie sich vorstellen, dass eine Studentin bei ihr einzieht oder dass andere Personen sie im Alltag begleiten und dafür eine Vergütung erhalten: »Und da gibtʼs auch dann mal auch, nicht hier, langsam kommt dann auch mal der hier Alter eh wie in Deutschland sozusagen, zum Hilfe. So. (I: Pflege.) Pflege. (I: Bakıcı.) Jaja. Pflegerin und so weiter, da sowas kann man ja holen.« (Sevim Öztürk, Z. 1214-1224)

Sevim Öztürk ist somit eins der Beispiele im Sample, die sich einerseits in ihren Familien- und Versorgungsauffassungen sehr stark von Deutschen abgrenzt, die unbedingte Solidarität und Fürsorgegemeinschaft der türkischen und muslimischen Familie betont. Jenseits dieser Abgrenzung sieht sie andererseits jedoch auch Konsequenzen, die eine totale Familienpflege für ihre Angehörigen bedeuten würde und die sie ihnen nicht zumuten möchte. Daher entwickelt sie bereits Versorgungsalternativen und würde, um ihre Familie nicht zu sehr zu belasten, auch freiwillig in ein betreutes Seniorenwohnheim oder auch Altersheim ziehen. Nuri İbrahimoğlu, der im Interview seine Familie als harmonisch und fürsorglich darstellt, äußert, dass er nicht unbedingt auf seine Familie vertraut und sie für eine zuverlässige Versorgungsinstanz hält: »Ach, wie ich vorhin gesagt habe, weiß man nicht, was in der Zukunft passieren wird, wenn es zu einer ernsthaften Krankheit kommen sollte. Meine Schwiegertöchter, meine Töchter, meine Jungs oder auch meine Enkelkinder könnten mich jetzt Vater Vater rufend umarmen, aber jetzt ist meine Gesundheit intakt. Wie ihr Verhalten sein wird, wenn ich morgen erkranke, und bettlägerig werde, kann man nicht erahnen. Aber die nächste die zur Hilfe eilt, wird wieder die Ehefrau sein.«

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»Ha ciddi bir hastalıkta demin söylemiş olduğum gibi ilerisinin ne getireceği belli olmaz. Şimdi, ı, gelinlerim, kızlarım, oğlanlarım veyahutta torunlarım baba baba diyerekten boynuma sarılabilirler ama şimdi sağlığım yeriden. Yarın hastalandım yatağa düştüğüm zaman tutumları ne olur onu bilemezsin. Ama insanın en yakın imdadına koşan gene hanımıdır.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1331-1334)

Vor allem in seiner (fast zehn Jahre jüngeren) Ehefrau sieht er eine Person, auf die er sich im Falle eines Versorgungsbedarfes verlassen kann. Auch Nuri İbrahimoğlu strebt nicht an, in einem Altersheim unterzukommen, sieht darin aber in bestimmten Fällen, eine mögliche Option – insbesondere dann, wenn eine familiale Fürsorge ausbleibt: »Also man weiß nie, was morgen ist, das ist Gott vorbehalten. Sagen wir, es geht einem schlecht, deine Frau ist bereits verstorben, was soll man denn als Mann an Dingen im Hause schaffen? Und dazu geht es einem noch schlecht. Dann ist man, wenn man dann niemanden unter den Kindern hat, die einen pflegen, die einem zu Hilfe eilen-, dann kann man schon drüber nachdenken. Ins Altenheim zu gehen.« »Yani şimdi yarının ne getireceği belli olmaz tabi bu Allah saklasın diyelim ki - rahatsızsın hanımın senden evvel vefat ederse bir erkeğin evde yapabilmesi icap eden ne iş olabilir? Bir de rahatsızlık var. O zaman insan eğer onu bakabilecek onu yardımına koşabilecek evlatlarından kimse yoksa- İnsan düşünebilir. Huzur evine gitmeyi.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1404-1410)

Aus dieser Perspektive bildet insbesondere für alleinstehende ältere Männer die Versorgung im Altersheim eine gangbare Option um Vereinsamung und Verwahrlosung abzuwenden. Auch wenn Nuri İbrahimoğlu sich selbst gegenwärtig in einer harmonischen und fürsorgenden Familie eingebunden sieht, scheut er sich hier, fixe Zukunftsantizipationen zu äußern. Ein wenig Unsicherheit beziehungsweise das Bewusstsein über eine Abhängigkeit von transzendentalen oder auch göttlichen Fügungen bleibt auch in Bezug auf die Versorgungserwartungen im Alter bestehen (siehe Kapitel 5.2.2). Ähnlich positioniert sich Yaşar Şahin. Zunächst drückt er die Hoffnung aus, möglichst kein Pflegefall zu werden: »Erste Mal beten wir zu dem Gott, da sollen wir nicht Pflegefall sein. Schnell zu sterben, wenn der unsere Zeit fertig ist. Wir glauben auch, dass die Zeit kommt ohne uns zu dem Pflegefall sterben wir.« (Yaşar Şahin, Z. 1692-1694)

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Ein Tod, dem keine Pflegebedürftigkeit vorangestellt ist, wird so als Zeichen göttlicher Güte gedeutet. Falls diese Güte Yaşar Şahin – aus welchen Gründen auch immer – nicht zuteilwird, so hofft er, dass sich die Töchter, zu denen er eine gute und enge Beziehung hat, als primäre Versorgungsinstanz begreifen: »Wenn bei die Pflegefall, die Kinder. Aber wir können auch nicht erwarten.« (Yaşar Şahin, Z. 1663-1664)

Konkret hofft er, so wird an einer anderen Stelle im Interview deutlich, dass die zweitälteste Tochter und ihre Familie, sollten er oder seine Ehefrau einen Versorgungsbedarf entwickeln, zu ihnen ziehen. Gleichzeitig, wie im angeführten Zitat deutlich wird, sieht er ein solches Verhalten seiner Töchter als nicht selbstverständlich an. Yaşar Şahin will nicht die Fürsorge seiner Töchter einfordern, sondern hofft, dass diese es aus freien Stücken tun. In diesem Sinne hofft er zunächst auf einen innerfamiliären Generationenvertrag: »Wenn man viele Menschen hilft, oder wenn man Älteren oder wenn man nicht aus einem Streit mit dem Älteren, das wird auch eine gute Zeit hat er sein auch. Wenn ich meine Älteren gekümmert habe, meine Kinder kümmert mich auch. Wir haben so eine Glaube.« (Yaşar Şahin, Z. 1706-1712)

Da er sich um seine Eltern und ältere Verwandten und Bekannte gekümmert habe (inwiefern, ist aus dem Interview nicht zu rekonstruieren), hofft er, dass sich auch seine Kinder um ihn kümmern werden. Sollte dies nicht so sein, hofft er auf nicht weiter definierte andere Personen. Dazu bezieht er sich auf ein im Transzendenten angesiedeltes Gerechtigkeitsprinzip: da er in seinem Leben viele gute Taten vollbracht und anderen Menschen geholfen hat, wird er im Alter nicht einsam und unversorgt sein. Im Zuge dieser Gerechtigkeit wird sich jemand um ihn kümmern – auch wenn es nicht seine eigenen Kinder sind. Zeki Akpınar ist im Sample die Person, die sich am deutlichsten als strenggläubiger und praktizierender Muslim positioniert. Entsprechend konsequent erscheint seine Äußerung in Bezug auf mögliche zukünftige Situationen mit Versorgungsbedarfen: »Bei uns ist das aber islamisch. Das ist das Gebot des Islam. Also wenn ich krank sein sollte, wird meine Frau für mich sorgen. […] Wenn meine Frau krank sein sollte, dann obliegt es mir das zu tun. Ihr die Suppe mit dem Löffel zu füttern, sie zu windeln und zu waschen, das alles ist meine Verpflichtung.«

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»Bizde ama İslami. İslamʼın emri budur. Ama ben hasta olursan benim hanım bakacak bana. […] Hanım hasta olsa mecburum ben buna. Kaşık ile çorbayı ağzına vermeye, altını temizlemeye, her şeye mecburum.« (Zeki Akpınar, Z. 2593-2599)

Zeki Akpınar stellt seine Versorgungserwartungen in einen islamischen Kontext und sieht eine gegenseitige Fürsorge- und Pflegeverpflichtung in der Ehe als daraus resultierende Selbstverständlichkeit. Im weiteren Interviewverlauf schließt er aus, dass seine Ehefrau und er im Bedarfsfalle zur Betreuung und Pflege bei einem der gemeinsamen Kinder einziehen. Zum einen sei er sehr pedantisch und würde deshalb kontinuierlich Konflikte mit seinen Familienangehörigen haben, zum anderen möchte er ihnen nicht zur Last fallen. Daher plant er sich um Pflege- oder auch Hilfskraft zu bemühen, die sie in ihrer Häuslichkeit umfassend begleiten und versorgen solle. Dazu will er zunächst sozialrechtliche Ansprüche in der Türkei wahrnehmen: »Meine Frau, also ich bin bei der SSK, also wenn meine Frau krank werden sollte, dann wende ich mich an das Sozialversicherungsamt. Also dann wird meiner Frau ein Bediensteter gestellt, eine Pflegekraft geschickt, dafür wird sie Steuern zahlen, also zahlt sie. Aber viele, viele unserer Landsmänner wissen über die Lage nicht Bescheid und übernehmen diese Aufgaben selber.« »Benim hanımım, ben SSKʼlıyım, ya benim hanımım hastalanırsa gidicem müracaat edicem Sosyal Sigortalar Kurumuʼna ama hanımıma tutucak bir hizmetçi gönderecek, bakıcı gönderecek, bunu sigorta ödeyecek, ödüyorda. Fakat bizim vatandaşın çoğu bilmiyor, bu durumu bilmediği için o görevi kendisi yapıyor.« (Zeki Akpınar, Z. 2620-2623)

Zeki Akpınar stellt die Inanspruchnahme externer Hilfen, ob professionell ausgebildet oder nicht, als Selbstverständlichkeit dar. Einen Widerspruch zum Islam oder zu einer türkischen Kultur thematisiert er nicht, vielmehr kennzeichnet er seine verfolgte Versorgungsstrategie als islamisch. Als Begründung, weshalb andere Türkeistämmige diese Möglichkeit nicht nutzen, führt er nicht herrschende soziale, religiöse oder auch kulturelle Normen an, sondern eine Unkenntnis über entsprechende sozialrechtliche Möglichkeiten. Sollten die von der türkischen Sozialversicherungsanstalt (SGK)66 garantierten Leistungen in Zeki Akpınars Be-

66 Zeki Akpinar stellt im Interview einen formal nicht richtigen Bezug her. Er bezeichnet sich und seine Frau als Mitglieder der SSK. SSK steht für die 1957 gegründete Sozialversicherungsanstalt für Arbeitnehmer (Sosyal Sigortalar Kurumu, SSK). Bereits 1999 wurde eine Zusammenführung der SSK mit der Bağ-Kur (seit 1971 Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige) in einer Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik

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wertung nicht ausreichend seien, würde er darüber hinaus – so es ihm finanziell möglich ist – eine weitere externe Kraft in die eigene Häuslichkeit holen: »Also wenn ich Geld hätte, würde ich einen Bediensteten einstellen. Ansonsten wird diese Sache- (..) Einen schönen Bediensteten also. Dann gebe ich fünfhundert, achthundert, tausend Lira als Monatsgehalt und lasse mich pflegen.« »Ha param varsa bir hizmetçi tutarım. Yoksa bu işi. (..) Güzel bakıcı yani. Veririm beşyüz, sekizyüz, bin Lira aylığına aylıkla bakıtırım.« (Zeki Akpınar, Z.2605-2609)

Er hat keine normativen Bedenken, eine Pflegekraft, die er als Bediensteten konzipiert, einzustellen und ist dazu auch bereit erhebliche Summen zu bezahlen.67 In Bezug auf die Realisierbarkeit seiner Versorgungserwartungen benennt Zeki Akpınar jedoch eine Schwachstelle: »Also in Großstädten würde das funktionieren, dass ich diese fünftausend Lira nehme und das dann auch sauber gemacht wird. So wie das. Aber in meiner Kleinstadt wird sich so jemand nicht finden lassen. Also deswegen, was will man machen? Ins Altersheim, Gott bewahre, möge Gott uns nicht fallen lassen! Das ist unser tiefer Wunsch, unser Gebet.« »Büyük şehirlerde olur ben bunun beşbin lira parasını alıyorum onuda temizler. Bunun gibi. Mesela benim kasabamda çıkmaz olmaz. Onun için ne yapıncaksın? Mecbur huzur evine, Allah muhafaza, Allah düşürmesin! Bizim temennimiz duamız bu.« (Zeki Akpınar, Z. 28012804)

Er hat Zweifel, ob er in der ländlichen Region, in der er in der Türkei wohnt, eine Person findet, die die Betreuungs- und Pflegeleistungen – gegen Vergütung, aber auch entsprechend seiner (pedantischen) Vorstellungen – übernehmen wird. Sollte dies nicht möglich sein, sieht er auch für sich und seine Ehefrau einen Umzug in ein Altersheim (huzur evi) als nicht ausgeschlossen an. Aus dem Interview entsteht der Eindruck, dass er den Einzug in ein Altersheim dem Einzug bei seinen Kindern bevorzugt.68 Auch hat er vorsorglich bereits die beiden ortsansässigen Altersheime

Kurumu, SGK) beschlossen. Obwohl es im Zeitraum der Datenerhebung bereits seit Jahren die Institutionen Bağ-Kur und SSK nicht mehr gab, bleiben Bezugnahmen darauf, wie im Beispiel von Zeki Akpinar, in der Türkei weiter aktuell. 67 Zum Interviewzeitpunkt geltenden Wechselkurs bedeutet dies eine Spanne von 250 – 500 EUR Monatsgehalt. 68 Zeki Akpinar stellt seine Beziehung zu seinen Kindern und Enkeln nicht als schlecht dar. Er inszeniert sich als strenges, auch auf Mittel körperlicher Züchtigung zurückgreifendes, Familienoberhaupt, der gerne Zeit mit seinen Familienmitgliedern verbringt.

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besucht und eines der beiden für gut befunden. Dabei strebt er eine solche Situation nicht an, sondern betet zu Gott, dass er ihm ein Lebensende im Altersheim ersparen möge. Duygu Çiçek macht im Interview deutlich, dass sie keinerlei Pflegeleistungen von nahen Verwandten in Anspruch nehmen möchte: »Ja, das möchte ich denn auch für mich denn nicht. Zum Beispiel, ich werde nicht sagen, wenn jetzt wirklich nicht mehr eh, meine Schwiegertochter mich kümmert. Das kann ich nicht. (I: Das möchten Sie nicht?) Nein.« (Duygu Çiçek, Z. 896-901)

Im angeführten Zitat benennt sie ihre Schwiegertöchter, an anderer Stelle schließt sie auch eine Pflege durch ihre Tochter und ihre beiden Söhne aus. Aus dem weiteren Interviewverlauf ist zu rekonstruieren, dass sie ihre Haltung nicht in einer schlechten Familienbeziehung oder der Sorge, dass sie für ihre Kinder eine Last darstellt, begründet, sondern sie die Inanspruchnahme von professionellen Pflegekräften als Prävention von familiärer Gewalt in der Pflege versteht.69 Duygu Çiçek kommuniziert somit nachteilige Aspekte, die aus einer rein familiären Versorgung im Alter entstehen können. Sie stellt mit Mustafa Güneş auf der anderen Seite, eine der beiden Extrempositionen im Sample dar. Dabei kann sie im Vergleich vielen anderen Interviewpartnern auf einen spezifischen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Duygu Çiçek ist eine der Personen im Sample, die nahestehende Verwandte haben, welche zum Interviewzeitpunkt körperlich pflegebedürftig sind. In all diesen Fällen wird Unterstützung von professionellen Institutionen oder auch Personen außerhalb der Familie bezogen: Der Vater von Duygu Çiçek lebt in einer Altenpflegeeinrichtung in Deutschland. Kemal Koyun und seine pflegebedürftige Ehefrau werden seit einigen Monaten von einer Frau aus der Nachbarschaft bei der Körperpflege und Haushaltsführung unterstützt, die für ihre Leistungen vergütet wird. Die schwerstpflegebedürftige Ehefrau Riza Ateşʼ wird vollständig von weiblichen Verwandten und Nachbarinnen versorgt, da Riza Ateş aufgrund eigener körperlicher Einschränkungen keine Pflegeleistungen erbringen kann. In Deutschland übernehmen die Pflege seiner Frau ihre Kinder und beziehen dazu Pflegegeld.

69 Duygu Cicek führt den Aspekt der Gewaltprävention nicht konkret aus, berichtet jedoch, dass sie bereits oft Überforderung in familiären Pflegesettings beobachtet habe. Dabei deutet sie an, dass es auch zu Gewaltsituationen beziehungsweise zu starker psychischer Belastung gekommen sei.

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In den Interviewausführungen dieser Gesprächspartner wird nicht primär diskutiert, ob eine Inanspruchnahme von familienexterner Unterstützung akzeptabel sein könnte70 – diese Frage ist bei ihnen bereits positiv beantwortet –, sondern sie setzten sich mit den Bedingungen auseinander, wie eine solche familienexterne Versorgung am besten ausgestaltet sein sollte. Während Duygu Çiçek (und ihre Mutter) den Vater auch während ihrer Aufenthalte in der Türkei in der Pflegeeinrichtung in Deutschland lassen,71 müssen sich Riza Ateş und Kemal Koyun damit auseinandersetzen, wie eine Versorgung auch in der Pendelmigration umgesetzt werden kann. Bemerkenswert ist, dass sie dies nicht als Problematik thematisieren. Kemal Koyun berichtet, dass lediglich der Transport zwischen den Wohnsitzen eine Herausforderung darstellt, die jedoch durch die verschiedenen Transport- und Servicedienste keine große Hürde ist. Zu der Versorgungssituation seiner Ehefrau in Deutschland äußert er sich nicht. In der Türkei benennt er Familienmitglieder nicht als existenzielle Ressource und erlebt sich trotz einer bezahlten Hilfe aus der Nachbarschaft in einer anstrengenden Situation: »Also darüber reden wir, also man hat jetzt eine Pflegerin. […] Also ich bin im Moment zum Beispiel halb Frau, halb Mann. Lass uns die Wahrheit sagen, also jetzt. Wenn diese Frau geht, helfen wir zwei uns gegenseitig.« »Yani onu konuşuyoruz, biz şimdi bakıcı kadın var, yani. […] Yani ben şimdi şu anda yarı kadın yarı erkeğim ben. Gerçeği konuşalım, yani şimdi. Yani o kadın gitse ikimiz birbirimize yardım edeceğiz.« (Kemal Koyun, Z. 256-257)

Er verdeutlicht, dass er sich trotz Einbeziehung einer externen Kraft belastet fühlt, schließlich übernehme er nun Aufgaben, die ansonsten Frauen obliegen. Seine Tochter, die in unmittelbarerer Nähe wohnt und sich in der Interviewsituation als sehr fürsorgend in Bezug auf ihre Eltern positioniert, wird von ihm nicht als zentrale oder auch im Alltag unterstützende Person benannt. Es ist zu rekonstruieren,

70 Lediglich Duygu Cicek berichtet von dem familieninternen Aushandlungsprozess, in dem schließlich entschieden wurde, dass der Vater in einer Langzeitpflegeeinrichtung untergebracht werden soll. Als relevante Faktoren benennt sie, dass ihre Mutter die häusliche Versorgung nicht gewährleisten könne und sie selbst ebenso wie ihre Geschwister jeden Abend in den eigenen Wohnraum, zu ihren eigenen Kindern, zurückkehren wollten. In der Türkei sahen sie keine Versorgungsmöglichkeiten in ausreichend guter Qualität. 71 Zunächst wollten sie ihn immer mit auf die Reise nehmen, haben dann jedoch, da seine Pflege körperlich zu anstrengend für sie sei, davon wieder Abstand genommen.

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dass Kemal Koyun eine stärkere Zuverlässigkeit dieser bezahlten Frau aus der Nachbarschaft einfordern möchte, sieht dazu jedoch keine Handhabe. Aus den Ausführungen von Riza Ateş wird ersichtlich, dass er die Ressourcen und Kosten der Betreuung und Pflege seiner Ehefrau über die sozialstaatlichen Möglichkeiten der Inanspruchnahme oder einfach Unterstützungsmöglichkeiten der Länder Deutschland und Türkei abwägt. Während aus dem Datenmaterial nicht zu rekonstruieren ist, inwiefern sich die Interviewpartner in Bezug auf Regelungen der Sozialgesetzgebung in Deutschland (z. B. Pflegeversicherung (SGB XI), Krankenversicherung (SGB V), Vorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX)) auskennen, zeigt sich bei Riza Ateş Detailkenntnis. Er diskutiert die Möglichkeiten und Grenzen der ambulanten Pflege (Pflegegeld, Pflegesachleistungen) der Pflegeversicherung in Deutschland und kommt zu dem zu dem Schluss: »Entweder du gehst in die Türkei, sagt er/sie. Oder du legst sie/ihn ins Altersheim, sagt er/sie.« »Ya Türkiyeʼye git diyor. Veyahutta huzurevine yatır diyor.« (Riza Ateş, Z. 773-774)

Dies begründet er damit, dass die finanziellen Kosten für eine häusliche Versorgung seiner Ehefrau in Deutschland für ihn zu hoch sind, sodass sich aus seiner Perspektive lediglich das Altersheim in Deutschland als Option bietet. Wer dies, wie er ablehnt, der müsse eben in die Türkei zurückkehren. Auch andere Interviewpartner führen einen Systemvergleich zwischen Deutschland und der Türkei an. Dabei werden formalisierte Versorgungsangebote für Ältere in Deutschland nicht negativ bewertet, sondern als vorbildlich dargestellt. So beispielsweise von Nuri İbrahimoğlu: »Alt, Altenheim möchte ich sagen, um genau zu sein. Altenheim, solche Orte entstehen langsam, jedoch sind es nicht allzu viele. Also (..) und das kommt so langsam auf die Schiene. Und so viel ist es nicht, aber in Deutschland ist dieses System schon lange etabliert, also vor Jahren. Dort gibt es keinerlei Probleme, dort und dann. In Hinblick auf hier, ist Deutschland in diesem Thema höher, besser.« »İhtiyar, ihtiyarlar-Heimi diyim daha doğrusu. İhtiyarlar-Heim öyle yerler yaılıyor yavaş yavaş. Ama Almanyaʼda tabii rayına oturmuşlar bu sistemi tee seneler evvel. Orda herhangi bir sorun yok, orda odan sonra. Buraya nazaran bu Almanya bu konuda daha üstün, daha iyi.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1362-1372)

Dabei identifizieren die Gesprächspartner unterschiedliche Versorgungsleerstellen in der Türkei. Sevim Öztürk zählt eine umfassende Liste von Unterversorgung

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in der Türkei, ausgehend von Frauenhäusern, über Paar- und Familientherapie, Rehabilitationsangeboten sowie einer umfassenden Altenhilfe bis hin zur Prävention von Altersarmut auf. Dabei sei es in der Türkei durchaus möglich, solche Leistungen zu erhalten, jedoch gäbe es darauf keinen Rechtsanspruch, denn sie sind Angebote des privaten Marktes: »Das müsste immer selbst besorgen, selbst haben und wenn du Geld hast, dann hast duʼs und wenn du nicht, dann hast du nicht. Das ist das, was du nämlich hier fehlt.« (Sevim Öztürk, Z. 2502-2504)

Dieser Perspektive folgend bewerten, bis auf Duygu Çiçek, alle Gesprächspartner die Versorgungssituation Älterer in der Türkei als grundsätzlich gut.72 Schließlich sei dort unter der Bedingung, dass ausreichend Finanzierung für das gewünschte Versorgungsmodells zu Verfügung steht, jegliche Konstellation umsetzbar. Da viele der Gesprächspartner lediglich knappe ökonomische Ressourcen zur Verfügung haben, ist es nicht verwunderlich, dass sie eine Ausweitung der Leistungsansprüche in der Türkei begrüßen, so wie beispielsweise Nuri İbrahimoğlu: »Früher gab es hier für Behinderte [Krüppel] kein monatliches Auskommen. Auch nicht für die Pflegenden. Jetzt bekommt jeder Behinderte [Krüppel] ein monatliches Auskommen und ist versichert. Zudem eh ist jeder Pflegende versichert und bekommt ein monatliches Auskommen. Das ist genauso wie in Deutschland. Da ist kein Unterschied.« »Daha evvelce bizim burada sakatara aylık yoktu. Bakana da yoktu. Şimdi hem sakata aylık veriyor, sigortası var. Hem de eh onu bakanın sigortasını ıı yapıyor bir de ona yalık veriyor. Aynı Almanya gibi değişen bir şeysi yok.« (Nuri İbrahimoğlu, Z.1470-1484)

72 In diese Richtung argumentiert auch Nuri İbrahimoğlu: »Im Hinblick auf andere Länder ist es besser in der Türkei alt zu werden. (I: Aus welchen Gründen?) Aus folgendem Grund, das Klima ist hier besser und dann scheint es auch so, dass das Alter hier mit Verspätung einsetzt. Früher, also so viel wie wir wissen, war die durchschnittliche Lebenserwartung sechzig, fünfundsechzig. Jetzt ist sie bei achtzig. Die Lebensbedingungen in der Türkei sind langsam besser geworden. Das Einkommensniveau ist gestiegen.« »Türkiye'de yaşlanmak diğer devletlere nazarken daha iyi. (I: Hangi açıdan?) Şu açıdan çünkü buranın hava şartları daha iyi olduğu için ondan sonra burada yaşlılık birazcık daha gecikme gibi bir durum oluyor. Eskiden ondan sonra bizim bildiğimiz kadarıyla ortalama ölüm yaş sınırı altmış, altmışbeşidi. Şimdi sekzene çıktı. Yavaş yavaş Türkiyeʼde hayat şartları güzelleşti. Gelir sevyesi yükseldi.« (Nuri İbrahimoğlu, Z.1253-1261)

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Bis auf Mustafa Güneş und Nazım Yılmaz begrüßen alle Interviewpartner ein ausdifferenziertes und qualitativ hochwertiges formalisiertes Altenhilfe- und Altenpflegesystem. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass ältere Türkeistämmige zwar altersassoziierte Fürsorge- und Pflegeleistungen primär aus der Familie beziehen möchten, dies jedoch nicht absolut und unter allen Umständen. Im Sample findet sich eine vielschichtige Heterogenität in Bezug auf die kommunizierten Versorgungserwartungen. Dabei zeigt sich eine Spanne zwischen der Ablehnung jeglicher außerfamiliärer Versorgungsleistungen bis hin zum anderen Extrem, der Ablehnung der (rein) familialen Versorgung. Bis auf Ausnahmen, verdeutlichen die Interviewpartner, dass ihre antizipierte Versorgungserwartungen mit den Lebensbedingungen ihrer Kinder und weiterer Verwandten in Bezug setzen. Fast alle sind mit der Ergänzung einer familialen Versorgung durch externe (professionelle) Kräfte einverstanden, beziehungsweise halten dies unter bestimmten Bedingungen für sinnvoll. Altersheime gelten zwar bei allen Interviewpartnern als Ultima Ratio, jedoch nicht als verwerfliche oder gar sündige Institutionen. Einen angemessenen Ausbau von Regelversorgungsstrukturen in der Türkei betrachten sie nicht als kulturellen Verlust, sondern können ihm positive Aspekte abgewinnen. Dieses Bild steht im Gegensatz zu den Thesen der befragten Experten. In ihren Ausführungen entsteht der Eindruck, dass die Elterngeneration ihre Kinder in rein familiale Versorgungskonstellationen zwingt, obwohl die Kinder dies eigentlich nicht erfüllen können. Aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial zeigt sich jedoch, dass die Situation wahrscheinlich komplexer ist: Ältere sind bereit zu Alternativen jenseits der Familie und stellen sich entsprechenden Aushandlungsprozessen. Es kann nun gefragt werden, ob die Kindergeneration der Elterngeneration eine entsprechend unflexible Haltung zuschreibt oder von sich selbst verlangt, angenommenen sozialen Normen zu entsprechen und eine rein familiale Versorgung der (Schwieger-)Eltern zu gewährleisten. Als weitere Komplexitätsverdichtung können noch differente Situationseinschätzungen hinzukommen, wenn beispielsweise Ältere Versorgungsleistungen beziehungsweise -situationen als noch zumutbar bewerten, während die Kinder dies bereits als nicht mehr tragbar einschätzen. Dazu kann auf Basis des zur Verfügung stehenden Datenmaterials keine Antwort gegeben werden. Jedoch zeigt sich, dass ältere Türkeistämmige verhandlungsbereit in Hinblick auf unterschiedliche Versorgungsszenarien sind. Dabei bleibt das Primat der Familienpflege bestehen, so wie es bei Zeki Akpınar zum Ausdruck kommt: »Wenn es jetzt meinen Verwandten gibt, warum sollte ich, mein Geld jemandem nehmen, jemand anderes in die Hand nehmen? Wenn ich gebrechlich und krank sein sollte und ein(e)

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Verwandte(r) meinen Anforderungen gerecht wird, dann soll mein(e) Verwandte(r) das Geld verdienen.« »Şimdi benim akrabam olursa niye benim paramı el alsın, başkası alsın. Akrabam gelir benim emrime oynarsa ben ihtiyaç olduğum muhtaç olduğum zamanda akrabam kazansın.« (Zeki Akpınar, Z. 2868-2869)

Für den Fall, dass Zeki Akpınar Versorgungsleistungen bedarf und er sich eine Hilfe in die Häuslichkeit holt, bevorzugt er es, einem Verwandten diese Einkommensmöglichkeit zu eröffnen. Sollte die verwandte Person in der Tätigkeit jedoch nicht seinen Ansprüchen genügen, so würde sich nicht verpflichtet fühlen, sie weiter zu beschäftigen. »Wenn nicht, dann nimm dieses Geld hier mein Bruder/meine Schwester, und Tschüss. Und dann suchst du dir jemand anderen.« »Bakmazsa al kardeşim, şu paranı, güle güle. Başka birine geçersin.« (Zeki Akpınar, Z. 2872)

Er würde sie bezahlen und sich anschließend eine neue helfende Person in die Häuslichkeit holen. 5.3.3 Fürsorge nach dem Leben – Sterben und danach »Da, überall wo du betest, ist es gut, aber das Beste ist die Erde deines Heimatlandes.« »Nerede dua etsen orayı da bulur burayı da bulur da fakat en alası kendi memleketinin toprağı.«

Während die Ausführungen der Interviewpartner zu ihren Plänen, Wünschen und Ängsten in Bezug auf das Alter(n) und alters- sowie krankheitsassoziierten Versorgungsleistungen nur wenig detailliert sind, beschreiben sie Versorgungserwartungen im sepulkralen Kontext konkreter. Zentrale Themen sind dabei die Orte des Versterbens und des Grabes, die Art der Bestattung sowie eine erwartete Fürsorge von Familienangehörige beziehungsweise der Umma nach dem Versterben. In den Ausführungen der Interviewpartner zeigt sich bei allen befragten Personen in diesem Punkt eine Orientierung an einer ihnen bekannten islamischen Glaubenspraxis oder auch einem Volksglauben, die sich auch in ihrer tatsächlichen Handlungsplanung sowie -ausführung niederschlägt. Während der Ort des Versterbens als nicht beeinflussbar gedeutet wird, bestehen insbesondere Erwartungen an einen »muslimischen Generationenvertrag«, der beinhaltet, dass sich

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die jeweils jüngere Generation für das jenseitige Seelenheil der älteren Generation(en) einsetzt. Eine, diesen Versorgungserwartungen zunächst vorgelagerte Sorge der Gesprächspartner betrifft den Ort, an dem sie versterben werden. Als Pendelmigranten, die auch im Falle einer Pflegebedürftigkeit und/oder schweren Krankheit ihre physische transnationale Mobilität nicht aufgeben wollen, erfahren die Befragten den Ort des Sterbens als kontingent. Die Deutung, dass das Leben, also auch Alter(n) und Sterben, letztlich immer in einer transzendenten Abhängigkeit steht (siehe Kapitel 5.2.2), findet sich auch in den Planungen zum Lebensende wieder. So beispielsweise Duygu Çiçek: »Man kann nicht urteilen, wo man sterbt, man weiß ja nicht. Das ist geschrieben, aber man muss nur abwarten, wie das kommt.« (Duygu Çiçek, Z. 1014-1016)

Duygu Çiçek sieht, wie andere Interviewpartner, keine Steuerungsmöglichkeiten für den Ort (und den Zeitpunkt) des Versterbens. Dabei diskutieren die befragten Personen den Ort nicht hinsichtlich der Frage, ob sie im Krankhaus oder in der eigenen Häuslichkeit versterben wollen,73 sondern hinsichtlich der Frage, ob sie in Deutschland oder der Türkei versterben. Nuri İbrahimoğlu berichtet im Interview, dass seine Bekannten, die ebenfalls zwischen Deutschland und der Türkei pendeln, sich zur medizinischen Behandlung in Deutschland aufhalten, schließlich jedoch ein Versterben in der Türkei anstreben: »Ja gut, sie gehen auch dorthin [Deutschland], aber jedoch sterben sie denn dort? (I: Das ist auch nicht sicher.) Mit einem Ziel denken sie, dass es gut ist. Dann kommt der Mensch raus, kommt hierher [Türkei] und stirbt. (I: Ja.) Mein Freund ist am Flughafen gestorben.« »Tamam, da oraya gidiyorlar ama fakat acaba orda mı ölüyorlar. (I: Oda da belli değil.) Bir vesileyle bir iyi olduğunu zannediyor. Çıkıp geliyor adam burada ölüyor. (I: Evet.) Benim arkadaşım havaalanında öldü.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1897-1905)

Ein Versterben in der Türkei – und sei es am Flughafen – wird von vielen der Gesprächspartner ausdrücklich angestrebt. Dies ist vor allem darin begründet, dass sie sowohl ihre Bestattungszeremonie als auch ihre Grabesstelle in der Türkei wünschen. Lediglich Duygu Çiçek macht deutlich, dass sie in Deutschland, neben

73 So wie beispielsweise kritische Diskussionen über die Normalität des Sterbens in Institutionen, nachgezeichnet beispielsweise von Matthias Hoffmann (2011).

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ihrem bereits verstorbenen Mann, begraben werden möchte.74 Entsprechend des Erfahrungswertes, dass nicht alle türkeistämmigen Pendelmigranten in der Türkei versterben, treffen die befragten Personen Vorsorge. Um sicherzustellen, dass eine Bestattung am Ort ihrer Wahl umgesetzt werden kann, haben alle eine entsprechende Überführungsversicherung abgeschlossen.75 Aus dem Datenmaterial ist zu rekonstruieren, dass die befragten Personen ausnahmslos eine traditionell-konservative Erdbestattung entsprechend einer in der Türkei präsenten islamischen Eschatologie wünschen. Zentrale Elemente sind dabei die rituelle Waschung und Versorgung des Leichnams, die Rezitation von entsprechend vergebenen Koransuren und das Sprechen von Gebeten, am besten von einem Geistlichen, sowie eine Erdbestattung in Leinentüchern.76 Alternativen zu einem solchen Bestattungsritus werden von allen Gesprächspartnern abgelehnt. Mehrere Gesprächs-

74 In Absprache mit ihrem verstorbenen Mann hat sie ein Doppelgrab auf einem muslimischen Friedhof nahe ihres Wohnortes in Deutschland angeschafft. Sie möchte neben ihm beerdigt werden. 75 Yaşar Şahin begrüßt wie viele andere Gesprächspartner die Etablierung von Versicherungsanbietern für internationale Überführungen Verstorbener: »Deswegen hatten wir damals Schwierigkeit, Geld gesammelt. Wenn eine Sterbefall dagewesen, haben wir miteinander geholfen, Geld gesammelt, dann überführt. […] Jetzt haben wir die Möglichkeit, von der DITIB-Moschee, da kannst du hingehen, Mitglied werden, europaweit, 50 Lira bezahlen.« (Yaşar Şahin, Z. 1369-1379) Zu Beginn seiner Zeit in Deutschland wurden Überführungen Verstorbener von Bekannten gemeinschaftlich finanziert. Die Verbreitung von Versicherungsanbietern scheint Familien zu entlasten – DITIB-Verband wird als Versicherungsanbieter scheinbar nicht kritisch, sondern selbstverständlich gedeutet. 76 Yaşar Şahin berichtet, welche Prozesse nach dem Versterben in seinem Stadtteil in Gang gesetzt werden: »Wenn irgendso eine Sterbefall ist, dann kommen sie dahin. Hier wird zum Beispiel von der Moschee wird Ruf gemacht. Erste Mal ṣalāt sagt man, lesen sie von Koran so eine Teil, und dann am Schluss sagen sie von [Stadtverwaltung von Stadtteil X], der Sohn von sowieso und verstorben. Und da hört Nachbarn oder was. Alles nehmen sie Teil, wenn sie Gebet ist. Und dann wird den Nachbarn, oder von Verwandte zu Verwandten wird benachrichtigt. Da kommen sie alle. Enge Verwandte kümmert sich, sein Sohn oder sein Bruder. Sein Bruder macht so. Seine Sachen wie ich, es gibt jetzt sehr einfache Sachen, ich glaube die Telefonnummer 186 oder 184 rufst du an, zu dem Gemeinde, wir haben eine Leiche oder einen Sterbefall. Wo ist die Adresse, gibst du die Adresse, dann kommt eine Auto. Wird er in diesem Auto gewaschen« (Yaşar Şahin 1613-1622). Über die Stadtverwaltung und die lokale Moschee wird das Versterben der jeweiligen Person öffentlich bekannt gegeben. Yaşar Şahin ist besonders

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partner drücken eine Distanzierung zu Feuerbestattungen aus, wie sie sie in Deutschland – entsprechend der wiederkehrenden Analogsetzung: bei Christen – beobachtet haben. So führt beispielsweise Yaşar Şahin aus: »Das kommt nicht in Frage. Auch wenn eine Deutsche verbrennt zum Beispiel, dann macht sie uns so ein bisschen unangenehm. Es gibt unsere Nachbar zum Beispiel, zum Beispiel mit dem Urnenbeerdigung, das ist billiger. Es gibt auch viele Gründe wegen Billigkeit so beerdigt. Katholisch. Da machen sie ok, ja ok, katholische Religion, machen sie meistens mit dem Urne, ja. Aber jetzt Evangelische machen sie auch mit dem Urne, aber wegen Platzmangel und auch wegen diese Billigkeit. Weil das, aber das ist von unserer Seite unangenehm. Da hat dann zum Beispiel, der hatte eine französische Namen, hatten wir einen Nachbar. Oder Frau [X] auch, beerdigt in dieser Urne, und die war katholisch, ja. […] Wir hatten so viel Kontakt gehabt. Jetzt eine Überlegung, da denke ich mir, verbrennt, das wird doch wehgetan haben? Ist eine Leiche, trotzdem.« (Yaşar Şahin, Z. 1474-1485) 77

Aus dem Datenmaterial wird ersichtlich, dass die Mehrheit der Interviewpartner das Ende des Lebens im Kontext einer islamischen Eschatologie deuten und ihr Handeln entsprechend ausrichten. Die von ihnen angeführten sepulkralen Rituale sind ihnen sowohl liebgewonnene Traditionen als auch Teil ihrer für sie existenziellen Jenseitssorge. In den Interviewverläufen nehmen parallel zu den Ausführungen islamischer Diesseits- und Jenseitsvorstellungen die Abgrenzung zum Christentum und den Deutschen zu. In diesem Sinne adressieren sie ihre Versorgungserwartungen im Kontext von Tod und Sterben im Speziellen an ihre (muslimische) Verwandtschaft, im Allgemeinen an die Gemeinschaft der Muslime, der Umma. Dabei enden die formulierten Versorgungserwartungen nicht nach der Bestattung, sondern setzten sich fort, bei den meisten Interviewpartnern prinzipiell bis zum Jüngsten Tag.

stolz auf das der Stadtverwaltung gehörende Fahrzeug, das es ermöglicht, den Verstorbenen in direkter Nähe zu seiner eigenen Häuslichkeit zu waschen und für die Beerdigung vorzubereiten. Er strebt auch die Anschaffung eines solchen Fahrzeugs für seine Moscheegemeinde in Deutschland an. 77 Die Interviewpartner formulieren es nicht ausdrücklich, jedoch weist die ausgedrückte Abneigung darauf hin, dass alternative Bestattungsformen als haram, also als aus islamischer Perspektive verboten gedeutet werden.

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Bei einigen Interviewpartnern konkretisieren sich diese Versorgungserwartungen in Gebeten beziehungsweise Koranrezitationen,78 die insbesondere von direkten Nachfahren am Grab gesprochen werden (sollten) und dabei eine Fürsorge über den Tod hinaus darstellen. Eine eindrückliche Phänomenbeschreibung bietet ein Interviewausschnitt von Zeki Akpınar: »Und wenn sie [Angehörige] kommen, dann lesen sie ihm aus dem Koran, oder eine Messe, aber im Islam gehört es dazu, aus dem Koran zu lesen, ein mevlüt zu veranstalten, das ist in etwa wie eine Messe. Wenn es soweit ist, lässt man für seinen Vater, seine Mutter oder seinen Opa aus dem Koran lesen. Man lässt das zum Beispiel für sein Wohl machen. Nun ja, das sagt auch unser Glauben so, der Koran so. (…) Ich gehe voran, und ich werde für dich den Koran, die Ya Sin-Verse79 lesen. Mein Kind. Sein Kind, seine Frau oder ihr Mann, wenn diese aus dem Koran lesen, ist das eine gute Tat, das wird dann im Heft der Guten Taten aufgeschrieben.« »Geldiği vakit geldiği vakit ona Kuran lesen, bir ayin diyelim ama İslamiyetʼte Kuran okutmak, mevlüt okumak şeyde ayin denir mesela. Geldiği vakit geçmişte annesine babasına veyahut dedesine Kuran okutur. Hayrına mesela yapar. E zaten dinimiz, kuranda öyle diyor. (…) Ben önden, geride sana bir Ya Sin kuran okuyacağım. Evlat vasil bırsak ki amel defteri, öldükten sonra, kapanmaması ona bir sevap ver. Onun çocuğu, hanımı mesela beyi, evvela ona bir Kuran okuduğu vakit onun sevap, kar, amel defterine savap yazılıyor.« (Zeki Akpınar, Z. 1314-1319)

Ein erster Erklärungsrahmen für diese Versorgungserwartung findet sich in der islamischen Eschatologie. Demnach endet das menschliche Dasein nicht mit dem irdischen Leben, sondern dem Grabesleben kommt eine wesentliche Rolle zu. Das Leben im Grab, welches nach der Bestattung beginnt, gilt als eine erste Stufe zum Jenseits, als Zwischenphase vor der Endzeit. Durch den Richtspruch der beiden Engel Munkar und Nakir werden bereits vor dem Jüngsten Gericht, vor dem Beginn der Ewigkeit, Sünder für ihre Taten bestraft und gute Muslime für ihre Werke und ihren Glauben belohnt (Vgl. Werner 2002). Prekär erscheint die Situation für gläubige Muslime, die in ihrem Leben erhebliche Sünden angehäuft haben beziehungsweise nicht ausreichend gute Werke im Heft der Guten Taten vermerken

78 Wie in Kapitel 4.2.1 bereits als Beispiel angeführt, beinhaltete die Translation von »kuran okumak« ins Deutsche immer auch eine inhaltliche Interpretation, denn den »Koran lesen« bedeutet immer auch eine Rezitation, was auch als Gebet gedeutet wird. 79 Die 36. Sure des Korans wird Ya Sin genannt und wird traditionell im Bestattungskontext rezitiert.

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konnten. Ihr Schicksal in der Ewigkeit scheint zum Todeszeitpunkt nicht final entschieden. Hier knüpft ein zweiter Erklärungsrahmen für die von manchen Interviewpartnern kommunizierten Versorgungspraktiken an: Für diese spezielle Gruppe, deren Status noch nicht geklärt ist, bietet die Grabeszeit einen Graubereich, in dem noch ein Handlungsspielraum besteht und Sünden vor dem Jüngsten Tag noch im Grab abgegolten oder geschmälert werden können. 80 An dieser Stelle, so geht aus den Ausführungen der Befragten hervor, knüpft die Hoffnung an, durch Andachten und Gebete beziehungsweise Koranrezitationen (am Grab) im Diesseits positiv auf das Heft der Guten Taten oder auch das Sündenverzeichnis Verstorbener und des eigenen einwirken zu können: »Zum Beispiel, mein Vater ist gestorben. Auch wenn mein Vater ein Mensch voller Sünden war, wenn ich aus dem Koran lese und er zu der Zeit in der Hölle sein sollte, holt ihn das aus der Hölle raus. Ich bin sein direkter Nachfahre.« »Mesala benim babam öldü. Babam ne kadar günahkarda olsa ben o kuranı okuduğum vakit cehennemde de olsa onu cehennemden çıkarır. Ben onun evladı arkasında.« (Zeki Akpınar, Z. 1323-1324)

Diese angenommene Option der Einflussnahme ist für diesen Glaubenspraktiken Nahestehenden nicht nur eine theoretische Option, sondern in die Alltagsstruktur eingebunden. Nazım Yılmaz, der sich hauptsächlich in Deutschland verortet und zumindest zu Beginn des Interviews den Eindruck vermittelt, nur widerwillig jährlich in die Türkei zu kommen, antwortet auf die Frage, was ihn dazu bringe, es dennoch zu tun:

80 In den Ausführungen Zeki Akpinars finden sich beide Erklärungsrahmen wieder: »[…], denn diese Qualen, denn die Qualen, werden in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ein wenig leichter und vor allem wenn man dann den Koran und die Gebete liest wird vollständig das, eh, eine Pause von dings, also die machen dann eine Pause. Das ist natürlich (.) ein Glaube, für den, der nicht glaubt. Der der an die Existenz Gottes glaubt, die Einheit, die Propheten, das Buch [den Koran], wird bis das die Schuld, die Schuld, bis die Strafe beendet ist, in der Hölle bleiben sie nicht für immer.« »[…] çünkü o azapları, azapta olanlar perşembeyi cumaya bağlayan gece biraz hafifliyorlar hele bide arkasından kuranı kerim okunuyorsa tamamen o ııı şeyden mola diyelim yani mola veriyorlar. […] Bu tabi (.) bir inançtır, inanmayan, inançlı olan Allahın varlığına, birliğine, peygamberine, kitabına inanlar orada suç, suç, cezası bitinceye kadar cehennemde temelli kalmıyorlar.« (Zeki Akpınar, Z. 1391-1398)

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»Der Grund, warum ich hier bin, wirklich ich spreche ein wenig draufgängerisch, ich bin siebzig Jahre alt. Ich komme um am Grab meiner Eltern zu beten. Ich gieße ihr Grab, das ist jetzt gar nicht so sehr wegen der Religion, ich konnte meinen Eltern bei nichts helfen, dann will ich wenigstens beten, damit sie mir vergeben können, komme ich.« »Geldiğimin sebebide valla delikanlıca konuşuyorum, yetmiş yaşındayım. Annemin-babamın mezarını okumaya geliyorum. Onların mezarını sulamaya geliyorum bu da dini biraz ağırlığından falan değil de anama babama hiç bir şey yardım edemediğim için bari okuyanımda beni affetsinler diye geliyorum.« (Nazım Yılmaz, Z. 420-423)

Während Nazım Yılmaz seinen Eltern zu ihren Lebzeiten anscheinend nur wenig Unterstützung zukommen ließ (oder zukommen lassen konnte), sieht er nun eine Option sich für sie einzusetzen. Durch Gebete beziehungsweise Koranrezitationen am Grab versucht er die Position seiner Vorfahren im Jenseits und in der Ewigkeit zu verbessern. Gleichzeitig verdeutlicht er, dass er die Gebete nicht aus einer religiösen Motivation, aus einem religiösen Pflichtverständnis heraus verrichtet, sondern dies als Beziehungsarbeit zu seinen Eltern konzipiert. Durch seine nun geleistete Fürsorge möchte er scheinbar Fehlverhalten kompensieren und eine Bereitschaft zur Vergebung bei seinen Eltern fördern. Dabei gibt er sogar die Gebete beziehungsweise Koranrezitationen am Grab seiner Eltern als primären Grund für sein Pendeln an. Auch andere Interviewpartner erwähnen, dass der Besuch am Grab der Eltern oder anderer Angehöriger ein wichtiges Element während der Aufenthalte in der Türkei sind. Zeki Akpınar geht möglichst alle sechs Wochen donnerstagsabends am Grab seiner Eltern beten beziehungsweise den Koran rezitieren. Yaşar Şahin besucht gezielt Gräber seiner Vorfahren um dort aus dem Koran zu lesen und Fotos zu machen.81 Riza Ateş, Kemal Koyun und Nuri İbrahimoğlu berichten, dass sie regelmäßig das Grab ihrer Eltern aufsuchen. Während aus dem Datenmaterial nicht eindeutig zu rekonstruieren ist, inwiefern die hier zum Ausdruck gebrachten Versorgungserwartungen Ausdruck von Religiosität, tradiertem Volksglauben oder einer Suche nach einem religiösen Resonanzraum zu werten sind, können andere relevante Aspekte hervorgehoben werden. Die von den Interviewpartnern im sepulkralen Kontext angebrachten Versorgungserwartungen verwenden sie für Distinktionen. Zum einen werden über die Wahl des Landes für die Bestattung Unterschiede innerhalb der türkeistämmigen Migranten markiert, zum anderen werden die Deutschen, die wieder mit Christen gleichgesetzt werden, beschrieben und abgegrenzt.

81 So beispielsweise das Grab seiner 1973 verstorbenen Eltern: »Die sind dreiundsiebzig, ich war letzte Jahr, nein, diese Jahr im Februar besuchte ich die Grabe. Habe ich Korane gelesen und da habe ich Bilder gemacht.« (Yaşar Şahin, Z. 1586-1587)

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Zur Veranschaulichung der Distinktionen innerhalb der Gruppe der türkeistämmigen Migranten in Deutschland können die konträren Positionierungen von Zeki Akpınar und Mustafa Güneş auf der einen Seite und Duygu Çiçek auf der anderen Seite herangezogen werden. Zeki Akpınar und Mustafa Güneş – sowie andere Interviewpartner – streben eine Grabstätte in der Türkei an. In den Begründungen ihrer Wahl beziehen sie sich auf die bereits dargestellten islamischen Jenseitsvorstellungen sowie ein Vertrauen in die eigene Familie (im Speziellen) und in die Umma (im Allgemeinen). So beispielsweise Mustafa Güneş: »Erde ist überall auf der Welt. Du kannst überall sterben. Aber du hast keinen, der für dich betet. Wenn du beispielsweise hierhergekommen bist [Türkei], kommen sie her und halten an deinem Grab Andacht. Da, überall wo du betest, ist es gut, aber das Beste ist die Erde deines Heimatlandes.« »Dünyanın her tarafı topraktır. Nerde ölürsen olabilirsin. Ama dua eden olmaz. Mesela buraya geldin, mezarın burada gelir dua ederler. Nerede dua etsen orayı da bulur burayı da bulur da fakat en alası kendi memleketinin toprağı.« (Mustafa Güneş, Z. 1663-1665)

Mustafa Güneş ist es auch für sich selbst wichtig, dass nach seinem Tod für ihn aus dem Koran gelesen und Andachten an seinem Grab gehalten werden. Dies hält er mit einer Grablegung in der Türkei am wahrscheinlichsten. Die Ortswahl der Grabstätte wirkt stringent, da auch die Mehrheit seiner jüngeren Verwandten in der Türkei lebt. Auch Zeki Akpınar erwartet, dass seine Verwandten regelmäßig und eng getaktet sein Grab aufsuchen. Auf die Frage im Interview, ob eine Grabstätte in der Türkei denn gut gewählt sei, wenn fast alle seiner jüngeren Verwandten in Deutschland leben würden, antwortet Zeki Akpınar, dass es für ihn selbstverständlich sei, dass auch folgende Generationen regelmäßig in die Türkei kämen – und sei es nur, um zu beten beziehungsweise am Grab aus dem Koran zu lesen: »Sie sind gezwungen. Sie kommen zweimal im Jahr. […] Selbstverständlich kommen sie.« »Mecbur. Senede bir iki kere geliyor. […] Yani mutlaka geliyorlar.« (Zeki Akpınar, Z. 1310-1314)

Wie im weiteren Interviewverlauf deutlich wird, geht er davon aus, dass, selbst wenn seine Kinder und Enkelkinder sich final in Deutschland niederließen, sie dennoch aus normativen Absolutheiten gezwungen seien, sein Grab in der Türkei regelmäßig zu besuchen. Sowohl Mustafa Güneş als auch Zeki Akpınar gehen davon aus, dass, sollten die eigenen Kinder ihnen diesen Respekt nicht erweisen und diese Fürsorge nicht erbringen, andere Muslime, als Vertreter der Umma, diese

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Leistung verrichten werden. Eine solche Positionierung transportiert auch essentialistische Weltdeutungen. Erkennbar wird eine von ihnen angenommene territoriale Aufteilung der Welt in Religionsgemeinschaften. Die Türkei gilt in dieser Deutung – im Vergleich zu Deutschland – als ein muslimisches Kernland. Ein Grab in der Türkei scheint so zu garantieren, dass, sollte die eigene Familie dies nicht tun, so doch andere Muslime als Vertreter der Umma präsent sein werden und einem »muslimischen Generationenvertrag« gleich, als Fürsorgeleistung an den Gräbern Gebete sprechen beziehungsweise den Koran rezitieren werden. Ein Grab in Deutschland bietet diese Garantie scheinbar nicht. In konsequenter Fortführung dieser Deutung werden Türkeistämmige, die sich in Deutschland bestatten lassen, kritisch betrachtet. So bezeichnet Zeki Akpınar Personen, die diesen Weg wählen, als Atheisten, die bereits zu Lebzeiten nicht am Gemeindeleben teilgenommen hätten. Von den Türkeistämmigen sei dies seiner Einschätzung nach nur ein Prozent. Er begrüße es, wenn diese auch im Todesfalle keinen Anschluss an seine Gemeinde suchen: »Ich habe Respekt gegenüber einem jeden Leben, er hat es sich so ausgesucht. Aber nach dem Tod soll mir das keine Last sein.« »Ha sayğım var herkesin yaşantısı, o öyle seçmiş. Ama öldükten sonra da bana yük olmasın.« (Zeki Akpınar, Z. 1219-1220)

Im Kontrast zu den Ausführungen von Zeki Akpınar und Mustafa Güneş steht die Positionierung von Duygu Çiçek. Sie und ihr bereits verstorbener Ehemann haben gemeinsam beschlossen, sich nicht in der Türkei beerdigen zu lassen. Sie haben ein Doppelgrab auf einem für islamische Bestattungen vorgesehenen Gräberfeld erworben, in dem später auch Duygu Çiçek beigesetzt werden soll. Duygu Çiçek berichtet im Interview, dass ihr Mann zwar zunächst in der Türkei versterben und auch dort begraben sein wollte, sich jedoch umentschieden habe. Als ihr Vater erkrankte und pflegebedürftig wurde habe sie sich auch mit ihrer Mutter über die Wahl einer Grabstätte unterhalten, denn die Mutter wollte sowohl für ihren Mann als auch für sich selbst zunächst ein Grab in der Türkei. In Duygu Çiçeks Argumentation, die wahrscheinlich auch ihren Mann beeinflusste, verweist sie auf die mangelnden Möglichkeiten zur Grabpflege in der Türkei: »Meine Schwester und mein Cousin, mein Bruder, alle sind wir hier. Wenn wir jetzt den Vater rüber bringen, mal ein Jahr, einmal im Jahr fahren wir vielleicht eine Woche oder zwei Wochen, zwei Monate, man geht nur einmal im Jahr. Und da gibt es keine so ne extra Pflege oder sowas. Es gibt welche, natürlich, aber nicht jetzt sagen kann eh, hier [Deutschland] zum Beispiel, ich lass immer eh im Jahr, in Sommerzeit, sechs Monate lang, da sind

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Blumenladen, da kann ich eh die Leute sagen hier, kostet Geld, aber ich hab den Ruhe, dann weiß ich, dass jederzeit gepflegt ist und die Blumen alles gemacht ist und dann brauche ich nicht so viel was machen. Aber drüben [Türkei] kann man nicht.« (Duygu Çiçek, Z. 10221030)

Duygu Çiçek berichtet weiterhin, dass ihre Mutter nun entschieden habe, in dem Land begraben zu werden, in dem sie versterben werde. Ihr Vater werde im Todesfall in Deutschland bestattet. Aus den Aussagen von Duygu Çiçek wird ersichtlich, dass auch ihr eine Fürsorge nach dem Leben über die Bestattung hinaus wichtig ist. Dazu vergleicht sie an einer anderen Stelle im Interview ihren optischen Eindruck von Friedhöfen in Deutschland und der Türkei. Als charakteristisch für türkische Friedhöfe empfindet sie eine Ungepflegtheit. Sie beschreibt die Friedhöfe als lieblos gestaltet und dass dort viel seltener Menschen anzutreffen seien, weil sich niemand um eine Bepflanzung des Friedhofs und der Gräber kümmere. In Deutschland erfährt sie die Sorge für Verstorbene im Vergleich zur Türkei als für sich sympathischer. Duygu Çiçek teilt die Auffassung, durch Gebete ihren Verwandten im Jenseits einen Dienst zu erweisen, nicht. Doch auch sie besucht ein- bis zweimal wöchentlich das Grab ihres Ehemannes und betet dort. Jedoch betont sie, dass sie keine ausgelernten Gebete oder Koransuren vorträgt, sondern mit Gott und ihrem Mann ins Gespräch trete. Auch wenn sich die Positionierungen von Mustafa Güneş und Zeki Akpınar sowie Duygu Çiçek in markanten Punkten konträr gegenüberstehen, verbindet alle ein starkes Interesse an einer guten Versorgung oder auch Fürsorge nach dem Leben über die Bestattung hinaus. Während Zeki Akpınar und Mustafa Güneş die beste Fürsorge für (muslimische) Verstorbene in der Türkei gewährleistet sehen, sind in der Perspektive von Duygu Çiçek in Deutschland bessere Versorgungsmöglichkeiten gegeben. Dabei begründet sich die Polarisierung der beiden Länder in den von den Interviewpartnern angeführten und als lokal gebunden angenommene Ressourcen. Duygu Çiçek betont das Diesseits betreffende Versorgungsaspekte: Eine Grabstelle soll für die noch Lebenden gut erreichbar sein. Ist die Familie beispielsweise in Deutschland, hält sie eine Grablegung in Deutschland für sinnvoll. Eine begrünte und gepflegte Grabstätte versteht sie als eine Form der Respektsäußerung, da es ausdrücke, dass ein Verstorbener noch über seinen Tod fürsorgende Angehörige hat. In diesem Zusammenhang begrüßt sie die institutionalisierte Friedhofsgärtnerei in Deutschland, für die sie kein Äquivalent in der Türkei sieht. Die Ausführungen von Mustafa Güneş und Zeki Akpınar haben hingegen einen Schwerpunkt auf jenseitige Versorgungsaspekte. Ihnen ist die Verrichtung

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von Gebeten beziehungsweise die Koranrezitation am Grab ein zentrales Anliegen. In Umsetzungsverantwortung sehen sie zunächst direkte Verwandte, also die Familie. Auch wenn die Familienmitglieder in Deutschland lebten, seien sie durch eine Grabstätte eines Verwandten in der Türkei unlösbar an die Türkei gebunden. Doch auch wenn die Familie ihren Versorgungspflichten nicht gerecht werden (könne), vertrauen sie auf eine Art Generationenvertrag unter türkeistämmigen Muslimen. Entsprechend dieser Vorstellung gehen Mustafa Güneş und Zeki Akpınar davon aus, dass muslimische Türkeistämmige von einer Grablegung in der Türkei profitieren. Entweder werden Familienmitglieder weiterhin das Grab aufsuchen, oder andere in der Türkei beheimate Muslime werden diese Fürsorgeleistung übernehmen. Mustafa Güneş und Zeki Akpınar postulieren damit eine auch zukünftig geltende Zugehörigkeit in eine angenommene Solidargemeinschaft, die sie sowohl über die Zugehörigkeit zur muslimischen Glaubensgemeinschaft (»Glaubensbruder«) als auch über eine gleiche ethnisch-kulturellnationale Herkunft (»Landsmann«) gerahmt sehen. Duygu Çiçek sieht eine solche oder gleichwertige Einbindung weder für sich selbst noch für ihre Familienmitglieder. An den Ausführungen der Interviewpartner wird auch deutlich, dass sie sepulkrale Rituale in Deutschland beobachtet haben und diese für Vergleiche, Kontrastierungen und Positionierungen heranziehen. Die von Mustafa Güneş und Zeki Akpınar vorgebrachte Präferenz, in der Türkei als ein Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung begraben zu werden, knüpft unproblematisch an ebenfalls von ihnen vorgebrachte Differenzbeschreibungen an: »Zum Beispiel samstags, sonntags gehen alle Deutschen zu den Gräbern. Mein Herr, lass mich sagen, sie legen Blumen ab, machen sauber, pflegen die Ansichten ihres eigenen Glaubens. Aber nun ist ihre Glaubensauffassung eine andere, das ist nur- (.) schön. Nun hat es bei uns aber auch eine seelische Seite.« »Mesela cumartesi, pazar bütün Alman vatandaşı kabirlere gidiyor. Efendime şöyleyim, çiçek koyuyor, temizliyor, bakıyorlar kendi inançlarına göre. Ama şimdi onun inancı görüşü ayrı, o sadece- (.) güzel. Bir de bizim manevi yönü var.« (Zeki Akpınar, Z. 1265-1267)

Christen und Deutsche werden von Zeki Akpınar analog gesetzt. Er kann an dem von ihm beobachteten Verhalten auf Friedhöfen scheinbar auch positive Aspekte abgewinnen, sieht dennoch in sepulkralen Kontext eine unüberwindbare Distanz zwischen dem Islam und dem Christentum sowie Türkeistämmigen und Deutschen. Auch Mustafa Güneş hat die Besuche von als Christen gedeuteten Deutschen auf Friedhöfen beobachtet, doch auch er sieht eindeutige Abgrenzungen:

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»Was den Besuch angeht sind sie auch gleich, jedoch ist der Besuch etwas anderes und das Beten ist anders. Es gibt heutzutage Unterschiede zwischen den Christen und Muslimen. Sie haben ihre eigenen Gebete und wir unsere, nicht wahr?« »Bunlar da aynıdır mesela ziyaret etmek için ama bunlar tabi ziyaret başka dua etmek yine başka. Bugün Müslümanla Hristiyan arasında fark vardır. Bunların kendine göre bi duası vardır bizim ayrı. Değil mi?« (Mustafa Güneş, Z.1682-1701)

Bei Mustafa Güneş und Zeki Akpınar haben die von ihnen in sepulkralen Kontexten gemachten Beobachtungen angenommene Differenzen bestätigt. Die von Duygu Çiçek gemachten Beobachtungen auf Friedhöfen in Deutschland und der Türkei führen hingegen zu kritischen Reflexionen von Selbstverständnissen (als »Mohammedaner« und »bei uns in Deutschland«) und fließen als adaptive Prozesse in ihre Zukunftsplanung mit ein. »Sie sehen manchmal wie die Elend da [Türkei] ist, ja. Weil wir sagen wir sind Mohammedaner, ja. Also ehm, wenn ich die Friedhof sehe, manche Leute gehen einmal im Jahr, wennʼs nur Feiertag ist. Die kümmern nicht so wie bei uns in Deutschland, um die Friedhof und ehm pflegen auch, da wird auch die Steine manchmal weggenommen auf dem Friedhof, ne.« (Duygu Çiçek, Z. 1000-1004)

Der Umgang mit Grabstätten wird so für Duygu Çiçek zu einer Reflexionsfläche, auf der sie »Deutschland« mit der Performanz von »Mohamedanern« abgleicht. Fürsorge über Tod hinaus wird so zu einem konstitutiven Moment der Konstruktion von Nationalkultur und Religionsgemeinschaft. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Datenmaterial eine Dimension von Versorgungserwartungen rekonstruiert werden kann, die psychosoziale und religiös-transzendete Aspekte von Unterstützung im Kontext von Sterben und Tod aufgreift. Dabei teilt das befragte Sample die Erwartung an Versorgungsleistungen über den Tod hinaus. Alle schreiben sepulkrale Riten eine hohe Relevanz zu. Jedoch enden bei ihnen Fürsorgeleistungen nicht mit der Bestattung, sondern setzen sich prinzipiell bis zum Jüngsten Tag fort. Diese Form der Fürsorge wird deutlich von volksreligiösen Auffassungen geprägt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das sich (fast) alle Interviewpartner in dieser Versorgungsdimension von Deutschen, die sie mit Christen gleichsetzen, abgrenzen. Es wird eine Glaubensgemeinschaft konstruiert. Gleichzeitig wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass die eigenen Familienmitglieder diese volksreligiöse Glaubenspraxis weiterhin praktizieren werden und damit in der Sorgeverantwortung stehen.

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5.3.4 Zwischenfazit – Versorgungserwartungen Im wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Fachdiskurs Diskurs interessiert die Frage inwiefern ältere (türkeistämmige) Migranten bereit sind, außerfamiliäre Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Bisherige Forschungsergebnisse haben bereits aufgezeigt, dass eine stationäre Unterbringung in Altenpflegeheimen möglichst vermieden werden soll, jedoch eine duales System, das Familienpflege und Leistungen professioneller Pflege im ambulanten Dienst verbindet, von eben jener Gruppe begrüßt wird. Zur Erklärung dieser Positionierungen wird sowohl mit lebenspraktischen Zugzwänge als auch mit kulturellen und religiösen Überzeugungen der älteren Türkeistämmigen argumentiert. (siehe Kapitel 3.3.3). Die hier erarbeiteten Ergebnisse können diese Situationsbeschreibung ausdifferenzieren, teilweise erklären und um weitere Dimensionen ergänzen. Dazu können folgende prägnante und verallgemeinerbare Aspekte in den rekonstruierten Versorungserwartungen der Untersuchungsgruppe zusammengetragen werden. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Kommunikation von Versorgungserwartungen im Vergleich zu Alter(n)serwartungen in den Interviewaussagen der befragten älteren Türkeistämmigen. Während in den Alter(n)serwartungen keine Vergleiche zu »anderen« kommuniziert werden, greifen die Befragten im Kontext von Versorgungserwartungen auf Abgrenzungen und Fremdbeschreibungen zurück. Insbesondere das Narrativ, dass ältere Deutsche alleine und unbemerkt in der eigenen Häuslichkeit versterben – Türkeistämmige jedoch nicht – ist von zentraler Bedeutung. Über die Fremdbeschreibung der Deutschen wird eine eigene national, kulturell und religiös gerahmte kollektive Identität begründet, aus der auch Versorgungserwartungen abgeleitet werden. Darüber hinaus findet sich im Datenmaterial eine von den Interviewpartnern eingebrachte Versorgungsdimension, die bisher im wissenschaftlichen und fachöffentlichen Diskurs über Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger (Pendel-)Migranten nicht thematisiert wurde. So stellt sich heraus, dass für einige der Befragten religiös-transzendentale Jenseitsvorstellungen in der diesseitigen Lebenswelt eine kontinuierlich berücksichtige Dimension in der Handlungsplanung von Versorgungsleistungen – im Sinne von Gebeten und Fürbitten, möglichst am Grab der Verstorbenen – darstellen. Doch auch wenn die Selbstpositionierung der befragten Gruppe eindeutige Abgrenzungen zu den angenommenen Versorgungsselbstverständlichkeiten der Deutschen beziehungsweise Christen konstruiert, ist nachzeichenbar, dass sich die spezifischen Versorungserwartungen der befragten Personen deutlich ausdifferenzieren. In der Analyse des Datenmaterials wird zum einen ersichtlich, dass die

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Befragten älteren Türkeistämmigen einen anderen Pflegebegriff verwenden als der deutschsprachige wissenschaftliche Diskurs. Während in Deutschland die Diskussion über Pflege die deutschen sozialrechtlichen Definitionen berücksichtigt werden, finden sich im Datenmaterial anders zugeschnittene Pflegebegriffe. Dabei zeigt sich, dass Gesprächspartner zwischen Pflege bei krankheitsassoziierten Versorgungsbedarf und Pflege bei altersassoziiertem Versorgungsbedarf unterscheiden. Während eine Pflege aufgrund von Krankheit aus Perspektive der Befragten selbstverständlich möglichst mit professionellem (medizinisch-pflegerischen) Fachwissen ausgeführt werden soll, wird bei Pflege im Falle von Alter ein anderer Schwerpunkt gesetzt. In einer logischen Wendung des zentralen Narrativs werden hier die Verhinderung von Einsamkeit und eine primär psychosoziale Fürsorge als vorrangig gewertet. Die Interviewpartner präferieren bei altersassoziierter Pflege Versorgungsleistungen aus ihrem Familienkreis. Im Datenmaterial zeigt sich jedoch auch, dass unterschiedliche Versorgungsmodelle für fast alle Interviewpartner diskutierbar sind. Dabei ist eine Spanne zwischen maximaler Ablehnung von familienexternen Pflegeleistungen und dem Interesse, Familienmitglieder möglichst nicht mit Pflegeaufgaben zu belasten, nachzuzeichnen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durchaus Alternativen zur (reinen) Familienpflege bereits praktiziert werden und nicht nur als »Notlösung« kommuniziert sind, sondern auch als akzeptable Alternative. Jedoch scheint es die Bedingung zu geben, dass das Narrativ der unbedingt für einander sorgenden Gemeinschaft, nicht in Zweifel gezogen wird. Die Pendelmigration als markanter Aspekt im Lebensstil der befragten Personen wird erstaunlicherweise von ihnen nicht als herausstellenswerte Hürde im Kontext von Versorgungserwartungen thematisiert. Weder wird eine antizipierte Versorgungsbedürftigkeit als Ende des Pendelns diskutiert, noch hindert eine bereits bestehende Pflegebedürftigkeit einige der Interviewpartner am Fortsetzen der Pendelmigration. Dies steht im Widerspruch zu der in der Literatur mehrheitlich vertreten Annahme, dass eine Pendelmigration nur bei guter körperlicher Gesundheit praktiziert werden kann. Jedoch zeichnet sich ab, dass die verschiedenen Ansprüche an Pflege im Falle von Krankheit und Pflege im Falle von Alter und den sich daraus ergebende transnational aufgestellten Wohlfahrtsmixen der Pendler die national orientierten Wohlfahrtssysteme herausfordern.

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5.4 D AS B ESONDERE

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P ENDELNS »Ob du in der Türkei oder im Ausland bist, du wirst immer altern.« »Türkiye’de de olsan yurtdışında da olsan yine yaşlanacaksın.«

Mit der Auswahl der Untersuchungsgruppe waren zu Beginn des Studienprojektes verschiedene Vorannahmen verbunden. Angelehnt an transnationale Perspektiven wurde vermutet, dass bei Personen mit einem hochmobilen Lebensstil im Alter, transformierte und damit neuartige Alter(n)s- und Versorgungserwartungen rekonstruierbar sind. Dabei wurde kein Nachweis von Transnationalität, Transkulturalität oder Transreligösität angestrebt, sondern entsprechende transformative Prozesse als Möglichkeiten in einer ergebnisoffenen Auswertung in Betracht gezogen. Schließlich wurde untersucht, inwiefern Zusammenhänge mit der Entscheidung zur Pendelmigration und den (jeweiligen) Alter(s)- und Versorgungserwartungen rekonstruierbar sind. Im folgenden Kapitel wird dargelegt, inwiefern die Pendelmigration die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der befragten älteren, türkeistämmigen und muslimischen Pendelmigranten beeinflusst – und andersherum. In diesem Sinne wurde das Besondere des Pendelns aus den Ausführungen der Interviewpartner herausgefiltert. Dazu werden im Folgenden zwei Anknüpfungspunkte aufgegriffen: In einem ersten Abschnitt wird die Thematisierung der Pendelmigration, wie sie die Interviewpartner selbst anführen, aufgegriffen. Dabei wird deutlich, dass sie die Pendelmigration als einen sowohl mit positiven als auch negativen Aspekten verbundenen Gestaltungsspielraum begreifen. Im Kontrast zur wissenschaftlichen und fachöffentlichen Vermutung, dass unzureichende ökonomische Ressourcen und ein schlechter Gesundheitszustand Ausschlusskriterien der Pendelmigration darstellen, zeigt sich im Datenmaterial, dass die Pendler gerade bei schlechten ökonomischen Ressourcen die Pendelmigration als Option begreifen. Auch diskutieren die befragten Pendelmigranten einen schlechten Gesundheitszustand nur bedingt als Grund, eine Pendelmigration aufzugeben. Individuell unterschiedlich konzipieren sie Aspekte der Pendelmigration entweder als Freiheit oder als Zwang. In einem zweiten Abschnitt wird die im wissenschaftlich interessante Fragestellung, inwiefern transformative Prozesse in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen rekonstruierbar sind, an das Datenmaterial herangetragen. Dabei zeigt sich, dass die befragten Personen zunächst kein Potential für transkulturelle

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und transreligiöse Prozesse sehen. Zu manifest sind ihrer Auffassung nach kulturelle und religiöse Differenzen zwischen Deutschland/Deutschen/Christen und der Türkei/Türken/Muslimen. Während die von ihnen beschriebenen Wandlungen bezüglich Alter(n)s- und Versorgungserwartungen sich in modernisierungs-theoretische Thesen einfinden, kann aus einer differenzierten Perspektive ein Spannungsverhältnis mit einem Prozess hin zum Aktivierungsdiskurs in den kommunizierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen identifiziert werden. In einem abschließenden Zwischenfazit werden die vorgestellten Aspekte zusammengetragen und in Hinblick auf die aufgeworfene Frage, inwiefern Interdependenzen zwischen der Pendelmigration und den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen rekonstruierbar sind, beantwortet. 5.4.1 Zwischen Freiheit und Armut »Mein Sohn, du bist in Rente, wenn du keine feste Arbeit hast, kannst du frei überall hingehen, wohin du möchtest.« »Oğlum, emeklisin sen bir belirli işin olmadı mı istediğin yere serbest gidersin.«

Im wissenschaftlichen und fachöffentlichen Diskurs setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Entscheidung für und die Aufrechterhaltung einer Pendelmigration multifaktoriell bedingt sind (siehe Kapitel 3.2). Dies bestätigt sich auch im zur Verfügung stehenden Datenmaterial: So finden sich im Sample Personen aller drei identifizierten Pendeltypen (Rückkehr, Verbleib, Bi-lokal, siehe Kapitel 3.3.1). Einige der Interviewpartner drücken aus, dass sie mit ihrem Migrationsmodus glücklich sind, andere hingegen verdeutlichen, dass sie das Pendeln gerne aufgeben oder lieber in einem anderen Modus umsetzen wollen würden. In ihrer Auseinandersetzung zeichnet sich ein jeweils individuelles Abwägen von harten und weichen Faktoren ab. Aus dieser Perspektive kann eine die Gruppe der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten kennzeichnende Heterogenität auch aus dieser Studie heraus bestätigt werden. Dennoch werden für gewöhnlich die Faktoren Gesundheit und Finanzierungsmöglichkeiten als Ausschlusskriterien zur Pendelmigration gehandelt. All diese Aspekte bringt die im Experteninterview befragte Frau Schulz zusammen: »Fast jeder, der in der Türkei noch irgendwelchen sozialen Kontakt hat, es müssen ja keine Verwandten sein, noch gute Freunde hat, der würde schon gerne auch Teil seines, des Jahres im Herkunftsland verbringen, aber es geht nicht mehr, wenn du zu krank bist, es geht nicht mehr, wenn du zu wenig Geld hast.« (Frau Schulz, Z. 217-220)

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Pendeln wird so als relativ teuer und körperlich anstrengend gedeutet. Personen mit schlechter Gesundheit oder unzureichenden finanziellen Mitteln gelten gemeinhin als von der Option des Pendelns ausgeschlossen, sodass das Pendeln als »ein Migrationsmodus vor allem für die jungen Alten« (Dietzel-Papakyriakou 1999, S. 151) bewertet wird, die auch noch in Relation finanziell besser gestellt sein müssen. Als Voraussetzung für eine Pendelmigration gelten so relativer Wohlstand und gute Gesundheit. Auf Basis des zur Verfügung stehenden Datenmaterials scheint es angeraten, diese Einschätzung kritisch und ergebnisoffen zu hinterfragen. Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern die befragten Personen in der Pendelmigration einen Gestaltungsspielraum sehen, den sie nutzen, um sich ihren präferierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen strategisch nähern zu können. In diesem Sinne erfahren sie das Pendeln als einen Gewinn an Lebensqualität, da es ein Freiheitsgefühl vermittelt. Gleichzeitig fühlen sie sich zur Pendelmigration gezwungen, da es für sie die beste Option darstellt, mit materiellem Mangel umzugehen. Diese Ambivalenzerfahrungen werden im Folgenden an einigen beispielhaften Interviewausschnitten vorgestellt. Abschließend wird die Frage nach Gesundheit und Finanzierungsmöglichkeiten nochmals aufgegriffen. Mustafa Güneş begreift sein Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei nicht als einen Lebensstil, den er erst mit der Verrentung begonnen hat, sondern als eine Fortsetzung einer lebenslangen Verhaltensweise. Die Verrentung eröffnete ihm jedoch neue zeitliche Spielräume für seine jeweiligen Aufenthalte: »Genau, seitdem ich in Rente gegangen bin, komme und gehe82 ich. Während ich arbeitete, hat man zum Beispiel, wenn sie es gegeben haben, fünfunddreißig, vierzig Tage bezahlten Urlaub. Im Urlaub komme ich und fahre wieder. (I: Und wann haben Sie damit angefangen, zum Beispiel nachdem sie verrentet waren?) Auch als ich nicht verrentet war, bin ich gekommen und gegangen.« »Emekli olduktan sonrada aynı gelir giderim, çalışırken de mesela otuzbeş kırk gün ne izin veriyorlarsa mesela şey paralı izin. İzinle gelir tekrar giderim. (I: Ne zaman başladınız böyle mesela emekli olduktan sonra?) Emekli olmadan da gelir giderdim.« (Mustafa Güneş, Z. 626-633)

82 Der türkischsprachige Ausdruck für Pendeln gidip-gelmek ist wörtlich mit »Kommenund-Gehen« zu übersetzen. Das Zitat von Mustafa Günes könnte so auch mit: »Genau, seitdem ich in Rente gegangen bin, pendle ich.« übersetzt werden. Die gewählte Übersetzung gibt dem deutschsprachigen Leser jedoch einen weiteren Einblick in die türkische Ausdrucksweise.

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Während Mustafa Güneş keinen grundsätzlichen Wandel in seinem Lebensstil, sondern nur eine Erweiterung seiner strukturellen Ressourcen sieht – er ist beispielweise nicht mehr an die Bewilligung von begrenzten Urlaubstagen gebunden – konzipiert Duygu Çiçek die Pendelmigration als ein neues positives Element in ihrem Leben, das sie erst mit dem Alter gewonnen hat. Für sie repräsentiert Pendeln Genuss und Selbstbestimmung: »Also pendel, für mich ist es pendeln ein bisschen anders komisches Wort. (I: Welches Wort finden Sie besser?) Ja, also mal, die Rentenzeit zu genießen, sagt man so. […] Die Kinder sind alle außer Haus, alle verheiratet und wenn die Ehepaar noch zusammen sind, dann versuchen sie was von seine Alter zu genießen. Und das finde ich auch sehr schön. (I: Und so sehen Sie das auch?) Ja, ich sehe das auch so. Also ich finde, das ist jetzt gerade was man machen muss. (I: Warum? Oder inwiefern machen muss?) Weil die Leute früher hat man nicht so viel Zeit gehabt. Also man hat gearbeitet erstmal. Mit den Kindern, wenn die Kinder gehabt haben, mit der Schule und mit der irgendwie weiter zu kommen, mussten wir ein bisschen was durchsetzen für die Kinder. […] Aber wenn eh jetzt ist soweit, wenn man auf Rente ist, kann man sich bisschen was anders machen. Für sich selbst bisschen was.« (Duygu Çiçek, Z. 648-677)

Auch Duygu Çiçek stellt eine Erweiterung zeitlicher Ressourcen heraus, die sich durch das Alter beziehungsweise durch Verrentung im Alter ergibt. Sie benennt dabei nicht nur die Restriktionen des Erwerbslebens, sondern auch sich aus der Kindererziehung ergebende Einbindungen. Da sie solchen Verpflichtungen nicht mehr unterliegt, kann sie nun über größere Zeitfenster verfügen. In der Option jederzeit in ihre Wohnung in der Türkei, zu ihren in der Türkei lebenden Kindern oder auch in andere Länder reisen zu können, erfährt sie Freiheitsgewinn, den sie durch das Alter erreicht hat – und den sie auch nutzen will. Die (mögliche) hohe Mobilität begrüßt sie als eine positiv zu bewertende Nutzung der Lebenszeit im Alter. Einen Freiheitsgewinn durch die Freistellung von der Erwerbsarbeit betont auch Riza Ateş: »Mein Sohn, du bist in Rente, wenn du keine feste Arbeit hast, kannst du frei überall hingehen wo du möchtest.« »Oğlum, emeklisin sen bir belirli işin olmadı mı istediğin yere serbest gidersin.« (Riza Ateş, Z. 344-345)

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Auch Sevim Öztürk, die die Strecke zwischen Deutschland und der Türkei mit dem Auto zurücklegt, berichtet, dass sie mit dem Pendeln Positives assoziiert. Auf die Frage, ob sie auch in Zukunft pendeln möchte, antwortet sie: »Die Pläne ist immer hinfahren, wieder zurückkommen. Hinfahren, wieder zurückkommen. Das ist so. Solange das meine Knie mitmachen.« (Sevim Öztürk, Z. 1028-1029)

So lange es ihr gesundheitlich möglich ist, möchte sie die Pendelmigration – mit dem Auto – aufrechterhalten. Im weiteren Interviewverlauf wird deutlich, dass sie insbesondere im Prozess des Pendelns einen Gewinn an Lebensqualität erfährt: »Schönste Traum ist weiter mitmacht. Das ich hin- und herfahre. Das ist von, wenn ich Auto fahre, dann denke ich, ich lebe.« (Sevim Öztürk, Z. 1076-1077)

Auch in Interviewausschnitten weiterer Gesprächspartner finden sich Aussagen, die Pendeln als einen emotionalen Gewinn darstellen: weil es schön ist, bei den Kindern und Enkelkindern sein zu können (z. B. Nuri İbrahimoğlu), weil man in jedem Land andere Freunde und Verwandte trifft und andere Aufgaben hat (z. B. Yaşar Şahin), weil man jedem unterschiedlichen Wohnraum (Wohnung, Haus, Gartenhaus) Positives abgewinnen kann (z. B. Riza Ateş), weil die jeweilige geographische Lage Vorteile birgt. Kemal Koyun begrüßt für sich ebenfalls die Möglichkeit in zwei Ländern leben und altern zu können: »(I: Ja, in Ordnung, ist es Ihrer Meinung schwerer in einem Land zu altern oder ist es schwerer in zwei Ländern alt zu werden?) Für mich ist das Wandern83 besser. (I: So? Das macht es leichter?) Natürlich mein Lieber, natürlich.« »(I: Evet, peki, sizce bir ülkede mi yaşlanmak daha zor yoksa iki ülkede yaşamak mı daha zor?) Benim için gezmek daha iyi. (I: Öyle mi? Daha kolay oluyor mu?) Tabi canım, tabi.« (Kemal Koyun, Z. 1666-1673)

Auf die Frage, inwiefern das Wandern, also das Reisen und Pendeln gut sei, führt er aus, dass er schon früher gerne gereist sei und sich daher freue, dass er nun sowohl zwischen Deutschland und der Türkei als auch innerhalb der Türkei reisen könnte. Dies ist ihm jedoch nicht mehr so möglich, wie er es sich wünscht, da seine Frau durch ihre Knieprobleme immobil geworden ist. Nun kann er zwar nicht mehr spontan mit seiner Frau zusammen zu Sehenswürdigkeiten innerhalb der Türkei fahren, das Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei geben sie 83 Die türkischsprachige Vokabel gezmek wird bei Übersetzungen ins Deutsche sowohl für »spazieren gehen«, »wandern« als auch »verreisen« verwendet.

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jedoch nicht auf.84 Durch die nutzbaren Serviceleistungen während der Reise sei es keine Belastung. Auch Nazım Yılmaz sieht in der Pendelmigration keine Belastung, die sich negativ auf das Alter(n) auswirkt: »Nein, Pendeln macht nicht alt. Eigentlich, wenn ich auf diese Frage eine Antwort geben soll, macht nur das Materielle eine Niedergeschlagenheit.« »Hayır gidip gelme yaşlandırmıyor aslında sadece ben buna cevap verirsem maddi bir çöküntü veriyor.« (Nazım Yılmaz, Z. 877-878)

Nicht das Pendeln sei belastend, sondern die materielle Situation. Wie dargestellt, stehen alle Interviewpartner vor der Herausforderung, ihren Lebensunterhalt mit recht knappen, teilweise unzureichenden materiellen Mitteln zu bestreiten. Der Umgang mit Armut ist somit ein Teil ihres Alter(n)serlebens (siehe Kapitel 5.2.3). Dabei beschreibt keiner der Interviewpartner das Pendeln als eine finanzielle Belastung, vielmehr verstehen sie es als einen (präventiven oder auch proaktiven) Umgang mit materiellen Engpässen. In diesem Zusammenhang fühlt Nuri İbrahimoğlu sich zur Pendelmigration gezwungen: »(I: Ja. Und sind Sie denn zufrieden mit dem Pendeln?) Tja, man ist nicht zufrieden damit, aber es muss ja, es muss ja. (I: Ja.) Denn, wenn man sechs Monate überschreitet, verliert man den Anspruch, du weißt. Nachdem wie die türkische Beratung oder die Sozialberater oder nach dem wie die deutschen Gesetze damit dingsen. […] Jetzt nehmen viele von der Polizei ein Papier.« »(I: Evet. Peki, gidip gelmekten memnun musunuz?) Ha memnun değilsin ama mecburiyet var, mecburiyet var. (I: Evet.) Çünkü altı ay geçirdiğin zaman hakların ölüyor biliyorsun. Türk danışın veyahutta bu sosyal danışmanların veyahutta Alman kanunlarının şey ettiğine göre. […] Şimdi çokları da polisten kâğıt alıyorlar.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 744-759)

84 Frau Demirci berichtet ebenfalls, dass in Deutschland anerkannte Pflegebedürftigkeit mitnichten ein Grund ist, die Pendelmigration einzustellen: »Das heißt aber, die, die pendeln, sind meistens noch körperlich mobil. Die sind teilweise noch körperlich mobil, es gibt auch Schwerpflegebedürftige manchmal dabei, dass die von eigenen Ehefrau gepflegt wird, dann ist die Ehefrau auch mit. Aber die sind dann wirklich auch, die im Rollstuhl sitzen, Schwerpflegebedürftige fahren auch in die Türkei.« (Frau Demirci, Z. 91-94) Und auch Frau Yılmaz berichtet, dass Personen, die bereits mit einer Pflegebedürftigkeit in das Pflegeheim eingezogen sind, im Sommer mit Unterstützung der Familie für einige Monate in die Türkei gehen und dann wieder nach Deutschland ins Heim zurückkommen.

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Nuri İbrahimoğlu bezieht sich in diesem Interviewausschnitt auf die (zum Interviewzeitpunkt) geltende Rechtslage in Deutschland. Entsprechend der deutschen Gesetzgebung dürfen Ausländer Deutschland für maximal sechs Monate im Jahr verlassen, ohne ihre Niederlassungserlaubnis zu verlieren. Für Personen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis besteht die Möglichkeit, bei der Polizei, Ausländerbehörde oder einem Bürgeramt eine Ausnahmegenehmigung für einen längeren Auslandsaufenthalt zu beantragen. Diese Ausnahmeregelung wird zumeist dann erteilt, wenn die beantragende Person keine staatlichen Transferleistungen (hier: Grundsicherung im Alter) bezieht (siehe Kapitel 3.3). Aus diesem Zusammenhang heraus erfahren sich Pendler durch die deutsche sozial- und ausländerrechtliche Lage in ihrem Pendeln erheblich beeinflusst. Alle Pendler haben das Interesse, sich unter möglichst geringen Auflagen zwischen Deutschland und der Türkei bewegen zu können – am liebsten entsprechend eines selbstgewählten Rhythmus. Wer jedoch kein deutscher Staatsbürger ist, sondern die vergangenen Jahrzehnte mit einer Niederlassungserlaubnis in Deutschland lebte, versucht diese nicht zu verwirken.85 Personen mit einer beschränkten Aufenthaltsberechtigung sind somit auf einen Pendelrhythmus festgelegt, der einen mindestens sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland erfordert. Um eine Freizügigkeit zwischen beiden Ländern aufrechterhalten zu können, passen diese Personengruppen ihr Pendelverhalten entsprechend an.86 Während Personen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sich zwar eine längere Abwesenheit genehmigen lassen können, stehen auch sie vor der Frage, wie sich die Pendelmigration auf ihr Einkommen auswirkt. Beziehen Personen staatliche Transferleistungen, um ein Einkommen auf dem Grundsicherungsniveau zu erhalten, sind sie in der möglichen Aufenthaltszeit in der Türkei beschränkt, denn die Ausnahmegenehmigung wird mehrheitlich nur mit einem Negativbescheid für staatliche Transferzahlungen erteilt. Je nachdem über welche Einkommensmöglichkeiten und weiteren Vermögenswerte die Interviewpartner verfügen, fühlen sie sich aus dem Kontext

85 Erfahrungsgemäß werden Visa für einkommensschwache ältere Ausländer nicht unproblematisch von der deutschen Botschaft erteilt. Dies ist eine Ursache dafür, dass in Deutschland bisher nur wenige der Generation Zero (Eltern der ersten Einwanderergeneration, die im Alter ihren Kindern ins Migrationsland folgen) anzutreffen sind. 86 Frau Demirci beobachtet, dass Personen, die eigentlich remigriert sind, den Verlust der Niederlassungserlaubnis in Deutschland möglichst verhindern wollen und so zu Pendlern im Typ Pendeln bei Rückkehr werden: »Ja, die gehen dann für immer zurück, aber die haben trotzdem immer irgendwo eine Anmeldung bei einem Bekannten, dass die dann einmal im Jahr für ein paar Wochen trotzdem herkommen können, ne.« (Frau Demirci, Z. 147-149).

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der sozialen Sicherung heraus in unterschiedlichem Ausmaß in einen Pendeltyp (Rückkehr, Verbleib, Bi-lokal, siehe Kapitel 3.3.1) gezwungen, den sie sonst nicht wählen würden. Der erfahrene Freiheitsgewinn durch den Ausstieg aus dem Erwerbsleben wird durch neue Restriktionen im Bereich des Sozial- und Ausländerrechtes wieder relativiert. Riza Ateş führt in diesem Zusammenhang beispielsweise aus, dass Personen mit einem Renteneinkommen von unter 600 EUR vor der Wahl stehen, ob sie staatliche Hilfe in Deutschland (hier: Grundsicherung) beantragen und sich somit an die Ortsanwesenheitsvorgaben der jeweiligen Verwaltungseinheiten halten müssen, oder ob sie die finanzielle Unterstützung nicht beanspruchen und damit freier über ihren Aufenthaltsort entscheiden können: »Welche, die sechshundert Euro bekommen, vierhundert, dreihundert Euro, für was soll das reichen? Oder man bekommt Hilfe vom Staat. […] Wenn man vom Staat [Deutschland] Unterstützung bekommt, dann kann man hier [Türkei] nicht lange bleiben.« »Altıyüz Euro alan, dörtyüz, üçyüz Euro ne yetecek ona? Ya devletten yardım alacak. […] Devletten de yardım aldı mı uzun kalamıyor burda.« (Riza Ateş, Z.257-259)

Die Interviewpartner differenzieren in ihren Ausführungen nicht zwischen steuerfinanzierten und beitragsfinanzierten staatlichen Transferleistungen und verwenden pauschal das Wort »yardım« beziehungsweise »Hilfe«. Aus dem Datenmaterial heraus entsteht der Eindruck, dass einige der Interviewpartner, soweit es irgend möglich ist, lieber auf Hilfe, also Transferleistungen aus Deutschland, verzichten, als weitere Restriktionen in der Wahl ihres Aufenthaltsortes zu erfahren. Die Pendelmigration ist dabei sowohl Grund für die Nichtinanspruchnahme der Transferleistungen als auch der gewählte Umgang mit den daraus folgenden Konsequenzen: »Ja, in Deutschland habe ich ein […] Problem. Ich sehe das so: Das Geld das sie mir geben reicht so oder so nicht. Meine Jungs helfen mir dort. Aus diesem Grund bin ich hierher [Türkei] gekommen. Natürlich bin ich zufrieden, dass ich hier keine Miete zahlen muss.« »Evet, Almanya’da […] bir duruma düşüyorum. Şöyle düşüyorum: verdikleri para zaten bana yetmiyor. Oğlanlarım yardım ediyor orda bana. O sebepten dolayı ben buraya gelimiydi. Tabii kira ödemediğimden dolayı memnunum.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1772-1774)

Nuri İbrahimoğlu gibt an, in Deutschland mit seinem (Haushalts-)Einkommen87 nicht auszukommen. An anderer Stelle im Interview macht er deutlich, dass er

87 Auch seine Ehefrau bringt ein Einkommen in den Haushalt ein.

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auch keine Hilfe, also Transferleistungen, beantragen möchte, dass er sich nicht weiter in seinem Aufenthaltsort bestimmen lassen möchte. Daher unterstützen die Söhne die Eltern finanziell wenn sie in Deutschland sind. Seine Lebenshaltungskosten in der Türkei stellt Nuri İbrahimoğlu als wesentlich geringer da – obwohl sie dort über mehr Wohnraum und ein Auto verfügen sowie Reisen innerhalb des Landes unternehmen. Dies führt er vor allem auf die nicht anfallenden Mietkosten zurück. Auch die Aussagen von Riza Ateş deuten an, dass in der Türkei sowohl mit dem geringen Einkommen aus Deutschland als auch mit einem geringen Einkommen für türkische Verhältnisse, ein Leben in der Türkei im Vergleich zu einem Leben in Deutschland besser zu gestalten ist: »Also wenn man das Leben in Deutschland so leben würde, wie man es hier lebt, das schafft man in Deutschland nicht. Da benötigt man Hilfe.« »Eğer buranın yaşantısını yaşarsan Almanyaʼda şimdi yaşayamazsın sen. Yardım alman lazım.« (Riza Ateş, Z. 187-188)

In diesem Sinne stellen die Interviewpartner die Aufenthalte in der Türkei auch als finanzielle Kompensation der höheren Ausgaben in Deutschland dar, also als Möglichkeit, gar nicht erst Transferleistungen beziehen zu müssen. Pendeln erscheint so als eine Chance, mit dem zur Verfügung stehenden Einkommen und Vermögen auskommen zu können. Eine Notwendigkeit zum Sparen ergibt sich bei einigen der Interviewpartner aus der Bevorzugung der rechtlichen Möglichkeit zur Freizügigkeit als Ermöglichung des Pendelns. Doch erkennbare Abneigung betrifft nicht nur deutsche Transferleistungen. Obwohl alle Interviewpartner jeglichen Ausbau des Sozialen Sicherungssystems in der Türkei der vergangenen Jahre begrüßen, verdeutlichen mehrere Interviewpartner, dass sie auch keine entsprechenden Leistungen in der Türkei in Anspruch nehmen wollen. Dies kann am Fall des Kemal Koyun exemplifiziert werden: »Der muhtar stellt ein Papier aus. Das Papier listet auf, hast du Geld? Nein, sagst du. Hast du ein Haus? Nein, schreibst du. Dann unterschreibst du und man kriegt Haushilfe. Also die selber bekommen das. Ich bekomme das nicht. Da ich über genug Geld verfüge, bekomme ich das nicht. Also um es zu bekommen, müsste ich lügen. Verstehst du, ich bekomme dieses Geld nicht. Es war sogar so, dass mein Sohn zum muhtar gegangen ist und meinte so und so ist es und er meinte, dein Vater müsste eigentlich das Geld bekommen. Warum hat er das nicht bekommen, fragte er. Er meinte, mein Vater braucht das nicht. Macht das nicht jeder Türke, meinte er, wieso macht das denn dein Vater nicht?«

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»Muhtarlık kâğıt veriyor. O kâğıt yazıyor, paran var mı? Yok diyor. Evin var mı? Yok, diye yazıyorsun. Bide imza ediyorsun adamlar ev yardımı alıyor. Kendi alıyor yardımı. Ben bunu almıyorum. Benim param yeterli olduğu için almıyorum. Yani almam lazım için, almam için yalan söylemem lazım benim anladın mı, almıyorum ben bu parayı. Hatta benim oğlan gitmiş muhtarlığa söylemiş böyle böyle babanın alması lazım demiş. Neden almadı demiş? Babamın ihtiyacı yok demiş. Bunu her Türkler yapmıyor mu, baban nasıl yapmıyor demiş?« (Kemal Koyun, Z. 885-894)

Auch in der Türkei können die Befragten (zum Zeitpunkt der Datenerhebung) unter bestimmten Bedingungen einkommenserhöhende Transferleistungen in Anspruch nehmen. Kemal Koyun könnte, wie es scheinbar verbreitet ist, durch Betrug diese Leistungen unproblematisch beziehen. Zur Verwunderung seines Sohnes und des lokalen Muhtars möchte er dies nicht tun. Auch bei anderen Interviewpartner deutet sich eine solche Positionierung an. Während Transferleistungen aus Deutschland sozialrechtliche Folgen haben, denen sich die Interviewpartner gerne entziehen möchten, lehnen sie Transferleistungen aus der Türkei ab, da sie sich nicht als bedürftig begreifen. Kemal Koyun verweist im Interview darauf, dass auch Gott ihn im Jenseits zur Rechenschaft ziehen würde, wenn er jetzt unrechtmäßig an diesen monetären Hilfsleistungen bereicherte. Aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial kann nicht geschlussfolgert werden, wie es um die finanzielle und materielle Lage der befragten Pendelmigranten tatsächlich bestellt ist. Deutlich wird jedoch, dass sie sich in Deutschland durchaus in prekären Lagen sehen, sich in der Türkei jedoch im Vergleich zur älteren Mehrheitsbevölkerung wesentlich bessergestellt erfahren. 88 Die Entscheidung zur und die Aufrechterhaltung der Pendelmigration sowie der jeweilige Pendelrhythmus sind mit Aspekten der sozialen Sicherung und ausländerrechtlichen Rahmungen eng verwoben, können aber wahrscheinlich nicht erschöpfend aus ihnen erklärt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die befragten Personen ihr Pendeln durch positive und negative Push- und Pull-Faktoren ambivalent erfahren. Einerseits hat die Pendelmigration für die Befragten eindeutige Positiva. Die Option, in zwei Ländern leben zu können und Restriktionen des Erwerbslebens

88 Hinweise während der Datenerhebung dazu waren, dass die Pendler meistens die ansehnlichsten Häuser in ihrem Dorf bewohnten oder in bessergestellten Wohnvierteln in der Türkei wohnten, während ihre Wohnsitze in Deutschland mehrheitlich in als prekär geltenden Wohngegenden lagen. Darüber hinaus fielen die Interviewpartner durch ihre gepflegten Zähne oder auch Zahnprothesen auf, während Gleichaltrige in der Türkei mehrheitlich mit erheblichen Zahnlücken anzutreffen sind.

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nicht mehr beachten zu müssen, erfahren sie als einen Gewinn an Lebensqualität. Auch, dass sie in beiden Ländern ein Zuhause aufgebaut haben, beschreiben sie mit Stolz. Andererseits fühlen sich einige zum Pendeln gezwungen. Knappe bis mangelhafte ökonomische Ressourcen beziehungsweise Abhängigkeiten von staatlichen Transferleistungen und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen hindern sie daran, ihren Pendelrhytmus sowie die Ausgestaltung des Pendelns wirklich frei gestalten zu können. Sozialrechtliche und finanzielle beziehungsweise wirtschaftliche Abwägungen, die Pendelmigranten treffen, wurden in dieser Studie nicht im Detail ausgeleuchtet. Jedoch deutet sich eine erhebliche Komplexität zwischen Faktoren der sozialen Sicherung, weiteren Vermögenswerten, der sozialen und emotionalen Einbindungen und ausländerrechtlichen Beschränkungen der Freizügigkeit an. Je nachdem ob sich Personen zum Pendeln (oder zu einem gewissen Rhythmus) gezwungen fühlen, oder es eher als eine mit Freiheit verbundene Wahl deuten, bewerten sie die Pendelmigration. Entsprechend einer Deutung von Frau Schulz sind sie entweder »glückliche Pendler«89 oder eben nicht, also mit der Pendelmigration unzufrieden. Auch in Bezug auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen setzt sich die ambivalente Bewertung der Pendelmigration fort. Aus dem Datenmaterial entsteht der Eindruck, dass viel des von älteren Pendelmigranten Gelebten nicht unbedingt Gewolltes ist. Dabei inszenieren sich die befragten Pendelmigranten in ihren Interviews nicht entsprechend des Narrativs der »tragische Gestalten«, überhaupt beziehen sie sich kaum auf ihre Biographie, deuten ihr Pendeln nicht als Ausdruck ihrer Identität. Vielmehr lässt sich aus dem Datenmaterial rekonstruieren, dass sie die Pendelmigration als eine Erweiterung ihres Gestaltungsspielraums unter anderem für Alter(n)s- und Versorgungserwartungen begreifen. Sie sind nicht darauf angewiesen entweder die (Lebens-, Alter(n)s- und Versorgungs-)Bedingungen in der Türkei oder in Deutschland zu akzeptieren, sondern können aus prinzipiell mehr Möglichkeiten wählen: Sie können die Länder wechseln, zwischen der Nähe unterschiedlicher Verwandter und der Einbindungen in nationale Wohlfahrtssysteme wählen, sie können die Staatsbürgerschaft und den Aufenthaltsstatus zwischen (meistens drei) Wohnsitzen wechseln – und somit schließlich zwischen

89 Frau Schulz beschreibt glückliche Pendler wie folgt: »Menschen, die so jetzt glücklich diese zwei Welten leben, also die, sag ich mal, glücklichen Pendler, die das ganz bewusst machen, als was, was ihnen einen Vorteil verschafft im Leben« (Frau Schulz, Z. 987-989). Für die Glücklichen überwiege das Freiheitsgefühl, die Unglücklichen fühlten sich (aus finanziellen oder aufenthaltsrechtlichen Erwägungen) zur Pendelmigration gezwungen.

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unterschiedlichen Rahmenbedingungen für gewählte Lebensstile im Alter. Deutlich wird, dass die befragten Pendelmigranten diese prinzipielle Multioptionalität und Kontingenz genießen, es als Freiheit konzipieren. Gleichzeitig wird diese empfundene Freiheit, auch in Bezug auf Alter(n)s- und Versorgungserwartungen überdeckt von materiellem Mangel, teilweise von Armut. Selbst wenn die Befragten zaghaft Pläne und Visionen für ihr Alter(n) entwickelt haben,90 kann dies meistens aus finanziellen Gründen nicht umgesetzt werden. Sind sie zur Wahl gezwungen, wählen sie lieber Armut als die Option zu verlieren bei Belieben in das jeweils andere Land gehen zu können. 5.4.2 Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in einem transkulturellen und transreligiösem Prozess? Im Kontext dieser Studie stellt sich die Frage, ob bei den Befragten transformative Aspekte, konkret transnationale, transkulturelle oder auch transreligiöse, in den kommunizierten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen identifizierbar sind. Wie bereits argumentiert, ist es wissenschaftlich zu vermuten, dass solche Prozesse auch – oder gerade – in der gewählten Untersuchungsgruppe zu finden sein sollten. Jedoch ist die Frage an welchen konkreten Inhalten diese Annahme evidiert werden kann. Aus dem Datenmaterial ergeben sich zwei mögliche Betrachtungsperspektiven, durch die die aufgeworfene Frage beantwortet werde kann. In einer ersten Perspektive sind Selbstpositionierung und daraus ableitbare Einschätzungen der Interviewpartner rekonstruierbar. In einer zweiten Perspektive können Muster in den Aussagen der Interviewpartner gesellschaftsdiagnostisch gewendet werden. Diese beiden Betrachtungsebenen werden in den folgenden beiden Abschnitten vorgestellt. 5.4.2.1

Eindeutige Selbstpositionierungen »Aber! Es kommt der Moment, da bist du die Grenze, also Grenze, da bist du Ausländer.« »Ama! Bir an geliyor sınırsın yani Grenze, orda yabancısın.«

In einer Analyse des Datenmaterials inwiefern sich die untersuchte Gruppe in ihren Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in sozialen, kulturelle oder auch

90 So das Beispiel von Nuri İbrahimoğlu, der mit Freunden in einer Siedlung oder einem gemeinsamen Haus an der Küste wohnen wollte.

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religiösen Dimensionen als besonders, vielleicht sogar hybrid versteht, sticht zunächst hervor, dass sie eine solche Fragestellung nicht aufgreifen. In den Selbstpositionierungen der Interviewpartner fällt auf, dass diese selbst nichts Neuartiges im Kontext ihrer Pendelmigration identifizieren. Sie kommunizieren das Pendeln nicht als einen innovativen Alter(n)sstil, der sich von unilokoal lebenden Älteren (in Deutschland oder der Türkei) markant unterscheidet. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, das sich im Datenmaterial nicht andeutet, dass ältere Pendelmigranten (zwischen Deutschland und der Türkei) sich selbst als ein soziales Kollektiv konstruieren. Sie scheinen kein gemeinsames Gruppengefühl zu haben und formulieren keine gemeinsamen beziehungsweise sie verbindenden Interessen. Im Kontext ihrer gegenwärtigen Pendelmigration gemachte Erfahrungen sind für sie nicht Anlass einer gemeinsamen Identitätsbildung, die abgrenzende Selbst- und Fremdbeschreibungen hervorbrächte. Die Interviewpartner selbst thematisieren sich, ihren Migrationsstil, ihre Alter(n)sund Versorgungserwartungen nicht als etwas Besonderes, was (eventuell) als transnational, transkulturell oder auch transreligiös bezeichnet werden könnte. Im Gegenteil: sie sehen kein Potential zu Transformationen und beschreiben eine aus ihrer Perspektive absolute und unüberwindbare Differenz zu allem, was sie als deutsch beziehungsweise christlich kennengelernt haben. So beispielsweise Zeki Akpınar: »So zuvorkommend du da [Deutschland] auch bist, bist du Ausländer. Ausländer. Oder was sagen sie? Im Türkischen dings, Ausländer, Migrant. Und dann Besuch, Besucher. So schaut man mit den Augen eines Ausländers. Aber dort [Deutschland], wie vertraut du auch mit deinen Nachbarn bist! Mit den deutschen Nachbarn kommt ein Punkt und dann Grenze. […] (I: Dort hört es auf.) Es hört auf. Schau, man ist so vertraut, ohne Einladung gehe ich zu ihnen nach Hause, man kommt zu uns. Ob nun zum Beispiel Kind und Kegel, Frau, Mann, da mache ich keinen Unterschied. Aber! Es kommt der Moment, da bist du die Grenze, also Grenze, da bist du Ausländer.« »Sen yabancı orda ne kadar saygılıda olsan yabancıdır. Yabancı. Veya ne diyorlar? Türkçe şeyi yabancı, göçmenler. Ondan sonra Besuch misafir. Böyle bakıyor yabancı gözüyle. Ama şurda; Ne kadar samimi olsan komşularınla! Alman komşularıyla bir an geliyor ki yani Grenze. […] (I:Bitiyor orda.) Bitiyor. Bak o kadar samimisin, hiç teklifsiz ben onun evine gidiyorum, o bize gelir. Çoluk çoçuk, hanımı, beği mesela hiç bir ayrım yok. Ama! Bir an geliyor sınırsın yani Grenze, orda yabancısın.« (Zeki Akpınar, Z. 321-337)

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Zeki Akpınar beschreibt hier, dass er in all den Jahren, die er in Deutschland verbrachte, zwar enge persönliche Beziehungen zu Deutschen91 aufbauen konnte, sich jedoch nie als zugehörig beziehungsweise Teil einer gemeinsamen Einheit erfahren hat. Wie sich aus dem Datenmaterial rekonstruieren lässt, transportiert für die Interviewpartner das Faktum einer ausländische Herkunft immer auch eine kulturelle und religiöse Differenz und begründet so eine nichtauflösbare Unterschiedlichkeit zwischen Türkeistämmigen und aus Deutschland Stammenden. Der Inhalt des angeführten Zitates ist repräsentativ für Selbstpositionierungen aller Interviewpartner. Die von allen beschriebenen nichtauflösbaren Unterschiede werden zwar nicht exemplifiziert beziehungsweise ausbuchstabiert, jedoch in Ursache und Ausprägung (national-)kulturell und religiös etikettiert. Dabei positionieren sich die Interviewpartner, essentialistischen Konzepten folgend, als türkisch und muslimisch und damit als grundsätzlich anders als Deutsche beziehungsweise Christen. Auch wenn Yaşar Şahin, Sevim Öztürk und Duygu Çiçek im Interview ihre beruflichen, persönlichen und ehrenamtlichen Einbindungen in Deutschland betonen, kommunizieren (und reproduzieren) sie Distinktionen, die eben nicht im zeitlichen Verlauf beziehungsweise über gemeinsam gemachte Erfahrungen an Relevanz verlieren oder relativierbar wären. Dabei findet sich diese Differenzbeschreibung in den Ausführungen der Interviewpartner auch in Ausführungen, die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen betreffen, so wie beispielsweise bei Kemal Koyun: »Ich kann deutsch leben, aber das Alter trägt es nicht. Beispielsweise kann ich, wenn ich möchte, mit ihnen schwimmen, mit Deutschen zusammen, mit Touristen zusammen kann ich ans Meer gehen, aber mein Alter zeigt mir das nicht. […] Brauch, meine Sitte sind es nicht. […] Ich bin zur Kur gegangen, ich bin einundneunzig nach dem ich in Dings, nachdem ich in Rente gegangen bin. […] mit Deutschen zusammen bin ich dort hingegangen, gelaufen, zusammen gewesen. Deshalb, aber jetzt in diesem Alter, in diesem Alter, lass mich sagen, da fehlt etwas. […] Ja selbst wenn ich wollte, wie sie es wieder, wie sie machen, das Alter bringt es nicht.« »Şimdi Alman şeklinde ben yaşayabilirim ama yaş itibarıyla götürmüyor onu. Mesela ben şimdi istesem yüzmesinde biliyorum Almanlarla beraber, turistlerle beraber girebilirim denize ben ama yaşım götürmüyor benim. […] Örf âdetim olmuyor yani. […] gittim Kura ben dokzanbir’de şeye gittikten sonra, emekli olduktan sonra. […] Almanlarla beraber girdim, yüzdüm ettim kıldım. O zaman için ama şimdi o yaş götürmüyor açık söyleyeyim. […] Ya

91 Erinnert sei hier nochmals an Zeki Akpınars enge Freundschaft zu einem Deutschen, welcher zunächst Geistlicher werden wollte, sich dann jedoch als Bauingenieur selbstständig machte und Zeki Akpınar über Jahre beschäftigte (siehe Kapitel 5.1).

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istesem onlar gibi şu anda yine yaparım ben ama yaş itibariyle götürmüyor.« (Kemal Koyun, Z. 1799-1816)

Alle Interviewpartner drücken aus, dass sie in einem engen Kontakt mit Deutschen stehen beziehungsweise standen – so wie hier Kemal Koyun, der von Eindrücken während seiner Kuraufenthalte in Deutschland berichtet. Die Gesprächspartner inszenieren sich in den Interviews als mit Lebensweisen, Werten und Sitten »der Deutschen« vertraut, die sie durchgängig mit Christen gleichsetzen. In ihren Ausführungen ist erkennbar, dass sie ihre Gesellschaftsdiagnose als valide einschätzen, da die Differenzbeschreibungen auf persönlichen Erfahrungswerten beruhen. Auch wenn der hier zitierte Kemal Koyun nicht benennen kann, worin sich der von ihm beobachtete Mangel im Altern der Deutschen auszeichnet, wird das von ihm empfundene Störgefühl über die essentialistische und dichotomisierende Differenzbeschreibung von Deutschen und Türken begründet und erklärt. Aus den Aussagen der Interviewpartner ist dabei zu rekonstruieren, dass Verweise auf Deutschland und die Türkei nicht nur Verweise auf nationalstaatliche Strukturen sind. Sie verweisen damit auch auf geschlossene (aber nicht unbedingt homogene) Gesellschaftssysteme – wie im »Kugelmodell« der Kultur nach Herder (siehe Kapitel 2.3.1) oder dem »Containermodell« (siehe Kapitel 2.2.3). Deutschland und die Türkei werden dabei zu Synonymen von sich gegenüberstehenden sozial-kulturellen-religiösen Einheiten. Der geographische Ort, die Kultur, Religion und soziale Normen scheinen in einem solchen Verständnis reibungsfrei aneinander anzuschließen. Im Datenmaterial wird auch deutlich, dass sich alle Interviewpartner selbst als türkisch identifizieren und kein Potential sehen, dass sie das, was sie als deutsch ansehen, in ihre Identität beziehungsweise in ihre Handlungsorientierung aufnehmen. Während die Interviewpartner ihre eigene (türkische und muslimische) Identität(-sbeschreibung) durch ihre Migrationserfahrung nicht angetastet, sondern eher bestärkt erleben, schließen sie bei nachfolgenden Generationen transformative Prozesse nicht aus. Dies veranschaulicht sich am eindrücklichsten in einem Interviewausschnitt von Nuri İbrahimoğlu: »Also die erste Generation wird mit Sicherheit in ihre Heimat zurückkehren, tot oder lebendig. Aber die, die dort [Deutschland] geboren und aufgewachsen sind- […] So werden sie sich dort [Deutschland] einrichten und die Generationen nach uns- (.) Also ja, die haben türkische Wurzeln. Das sind keine Deutsche, sie sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber ihre Wurzeln sind türkisch. Man wird sagen, deutsche Türken. Also was ich sagen möchte ist, wie ich schon meinte, ich habe meine Kinder jedes Jahr in die Türkei mitgenommen, sie lieben die Türkei. Aber nun zahlen sie dort [Deutschland] Miete, um dem

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zu entkommen kaufen sie ein Haus, kaufen ein Grundstück, ein Heim, was weiß ich, sie richten sich dort [Deutschland] ein. (I: Ja.) Aber morgen, später, das Alter- (..) Wenn sie in Rente sind, wird sich zeigen wie die Lage ist. Ihre Kinder werden dann dort bleiben. Also das wird sich wie eine Mühle drehen und stehen. Und die danach Geborenen, danach Geborenen, danach Geborenen, danach Geborenen werden dann dort Einheimische sein.« »Şimdi birinci kuşak ister istemez memleketine dönecek ölüsü veya da dirisi. Ama orda doğup büyüyenler- […] O zaman oraya yerleşecekler ondan sonra bizden sonraki gelen nesiller... Ha bunun kökü Türk yav. Alman değil, Almanyaʼda doğmuş, büyümüş ama kökü Türk, Alman Türkʼü diyecekler. Ha şimdi e demek istediğim ben söylemiş olduğum gibi çocuklarımı her sene Türkiyeʼye getirdim, Türkiyeʼyi seviyorlar. Ama şimdi kira orda ödüyorlar kiradan kurtulmak için ev alıyorlar, yer alıyorlar, yurt alıyorlar efendim ne bileyim oraya yerleşiyorlar. (I: Evet.) Ama yarın ilerde yaş- (..) Emekli oldukları zaman durum neyi gösterir. Ondan doğanlar da orda kalacak haliyle. Yani bu değirmen gibi dönüp duracak. Ondan doğan, ondan doğan, ondan doğan ondan sonra oranın yerlisi olup gidecek.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1680-1691)

Nuri İbrahimoğlu beschreibt hier Migration beziehungsweise Einwanderung als einen Generationen überspannenden unidirektiven Prozess von einer nationalen Identität (Türke) zu einer anderen nationalen Identität (Deutscher), der jedoch auch Zwischenstufen umfasst (in Deutschland geboren, aber kein Deutscher, da türkische Wurzeln). Als letztlich identitätsoffenbarendes Kennzeichen kommuniziert er hier den Ort, resp. das Land, resp. den damit verbundenen gesellschaftlichen (kulturellen und religiösen) Kontext, an dem man sich im Alter aufhalten möchte. Die Gestaltung der Lebensphase Alter wird so als (national-)kulturelles und religiöses Identitätsbekenntnis gedeutet. Für seine eigene Kohorte, die der ersten Einwanderungsgeneration, sind seiner Ansicht nach die Identitätsfragen zwischen »Deutschland« und der »Türkei« beantwortet: alle werden »tot oder lebendig« in die Türkei zurückkehren. Auch die anderen Interviewpartner positionieren sich in den Interviews nicht als hybride Identitäten. Lediglich Duygu Çiçek bildet hier in manchen Bereichen eine Ausnahme im Sample. Da die Gesellschaft in Deutschland in der Selbstpositionierung der Interviewpartner vor allem der Abgrenzung dient, diskutieren sie Alter(n)s- und Versorgungserwartungen offener in türkischen Kontexten. Entsprechend ihrer Wahrnehmung ist in der Türkei die Rolle der Älteren in der Familie in einem Wandlungsprozess, wie es beispielsweise in einem Interviewausschnitt von Nuri İbrahimoğlu deutlich wird: »Also unsere alten gelebten oder die alten Bräuche oder die alten [unverständlich] meines Vaters oder die alten [unverständlich] meines Opas, die Liebe, der Respekt der ist überhaupt

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nicht mehr auf dem Markt. Jetzt sitzt der Sohn hier [Türkei], in einem Kaffeehaus, spielt [Steine/Okey/Tavla]. Sein Vater kommt, schaut so, es ist kein freier Stuhl mehr da zum Hinsetzen. Der Sohn sieht, dass sein Vater steht und er steht nicht auf um ihm seinen Stuhl zu überlassen. (I: Ja.) Wir sind früher an dem Kaffeehaus vorbei gelaufen und wenn unsere Väter drin saßen, dann hätten wir nicht rein gehen können. Mein Opa, oder mein Onkel väterlicherseits, oder mein Onkel mütterlicherseits, oder andere Verwandte, also von uns aus Ältere, wenn wir einen von denen dort gesehen hätten, wären wir dort nicht reingegangen, nicht ins Kaffeehaus gegangen. Und jetzt ist diese frühere Liebe und der Respekt gegenüber Älteren nicht mehr da.« »Bizim eskini yaşadığımız veyahut eski atalara veyahut eski babam [unverständlich] veyahutta dedem [unverständlich] olan evgimi saygımı şimdi piyasada hiç yok. Şimdi şurada bir kahvede oturuyor oğlu, taş oynuyor. Babası geliyor, şöyle bir bakıyor, oturacak sandalye yok. Oğlu orda babasını ayakta kaldığını görüyor babasına kalkıpta sandalye vermiyor. (I: Evet.) Biz eskiden kahvenin önünden geçerdik eğer babamız içerdeyse biz içeri giremezdik. Dedem, veyahutta amcam, veyahutta dayım buna benzer kendi akrabalarımızdan, büyüklerimizden ondan sonra orda birisi görürsek oraya giremezdik, kahveye giremezdik. Şimdi ondan sonra eskinki sevgi saygı kalmamış yaşlılara.« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 2012-2022)

Nuri İbrahimoğlu exemplifiziert hier einen von ihm beobachteten gesellschaftlichen Wandel in der Türkei im Umgang mit Alter und Älteren an der Frage, ob und wie Jüngere Älteren Respekt erweisen. Er illustriert dazu zwei Szenarien im Setting Kaffeehaus, die veranschaulichen sollen, wie sich dieser Wandel bereits innerhalb von ein bis zwei Generationen vollzogen habe. Dazu kontrastiert Nuri İbrahimoğlu zu seiner Jugend geltende Verhaltensnormen, nämlich, dass Jüngere gar nicht erst das öffentliche Kaffeehaus zu betreten hätten, wenn dort ältere männliche Verwandte anwesend waren, mit einem von ihm gegenwärtig beobachteten Verhalten Jüngerer. Diese beträten das Kaffeehaus, auch wenn sich dort ältere Verwandte aufhielten. Darüber hinaus böten sie ihren Sitzplatz noch nicht einmal dem eigenen Vater an, selbst wenn dieser auf keine andere Sitzmöglichkeit zurückgreifen könne. Dieses Verhalten wird von Nuri İbrahimoğlu nicht weiter auf mögliche Ursachen hin reflektiert, sondern veranschaulicht aus seiner Perspektive einen zu beklagenden Respektsverlust jüngerer gegenüber älteren Generationen. Ähnlich Veränderungen beschreiben auch andere Interviewpartner und führen dies auf einen Modernisierungsprozess zurück, wie es beispielsweise in einem Interviewausschnitt von Duygu Çiçek ersichtlich wird: »Also mit Lebenart, was modernisiert ist. […] Jeder, eh wie soll ich sagen, jeder hat jetzt seine eigene Tasche. Also keine Familienbeziehung mehr. Die Familienbeziehung ist wie

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Deutschland jetzt gewesen. Jeder arbeitet und jeder geht nicht mehr gerne zum Besuch.« (Duygu Çiçek, Z. 286-289)

Die Interviewpartner deuten, wie hier Duygu Çiçek, Veränderungen im intergenerationalen Zusammenleben im Kontext modernisierungstheoretischer Thesen. Das familiären Pflegepotential beziehungsweise die Inanspruchnahme familienexterner pflegeassoziierter Versorgungsleistungen wird dabei als Ausdruck des Modernisierungsstands einer Gesellschaft gedeutet. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Interviewpartner in ihren Ausführungen nicht ein sinkendes familiäres Pflegepotential beklagen, 92 sondern einen Rückgang von (symbolischen) Respektserweisungen gegenüber Älteren sowie einen Wandel in intergenerationalen Familienbeziehungen. Es kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass wahrgenommene Unterschiede in Alternsprozessen von den Interviewpartnern nicht hinsichtlich weiterer Erklärungsmöglichkeiten diskutiert werden. Ihre Analyse endet dabei Unterschiede zwischen deutsch/Deutschen/Deutschland und türkisch/Türken/der Türkei festzustellen. Dabei positionieren sie sich eindeutig auf der Seite des als türkisch Etikettierten. Dennoch halten sie transformative Prozesse (im Kontext von Migration) sowohl für sich selbst als auch für nachfolgende Generationen als wahrscheinlich – in ihrer Selbstbeschreibung sehen sie bei sich selbst jedoch keine deutschen oder christlichen Einflüsse. 5.4.2.2

Aktivitätsansprüche als Anzeichen des sozialen Wandels? »Im Koran steht, bis du letzter Atem, dein letzter Atem musst du lernen. Musst du mobil sein. Musst du vom Welt mitkriegen.«

Verlässt man die Perspektive, die die Selbstbeschreibung und Selbstpositionierung der Interviewpartner fokussiert, treten andere Aspekte in den Vordergrund. Allein die kontinuierliche physische Mobilität, die sozialen Netzwerke der Interviewpartner als auch deren Nutzung lokalgebundener in Ressourcen in Deutschland und der Türkei zeigen auf, in welch transnationalen Räumen sie sich bewegen. Die befragten älteren Pendler können so – zumindest auf einer strukturellen Ebene – recht unproblematisch als Transmigranten bezeichnet werden. Jenseits dieser offensichtlichen strukturellen Dimension scheint es jedoch fraglich

92 Diese Sorge äußern nur die als Experten Befragten.

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woran auch transkulturelle oder auch transreligiöse Aushandlungsprozesse hinsichtlich der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen festgemacht werden könnten – insbesondere, da die Interviewpartner sich entsprechendes gar nicht zuschreiben. Entsprechend der Tradition des wissenschaftlichen Diskurses zu älteren Migranten erscheint es naheliegend modernisierungstheoretische Thesen deduktiv an das Datenmaterial heranzutragen. Induktiv, also die Inhalte der Daten aufgreifend, findet sich jedoch ein ganz anderer Anknüpfungspunkt, um sowohl die Frage nach transkulturellen als auch transreligiösen Phänomenen in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der untersuchten Gruppe zu umreißen. Konkret geht es um das gegenwärtig neoliberale Gesellschaften kennzeichnende Aktivierungsparadigma. Entsprechend dieser Logik werden Individuen zunehmend (sozial-) politisch responsibilisiert. Im Diskurs der sich als kritisch verstehenden Gerontologie wird dabei auch das sozialpolitisch und wissenschaftliche Ideal des »aktiven (und somit erfolgreichen) Alterns« problematisiert (siehe Kapitel 2.1.1). Das hier zur Verfügung stehende Datenmaterial kann als Querschnitterhebung keine langfristigen Prozesse nachzeichnen. Jedoch finden sich in den Interviewaussagen sowohl der befragten Experten als auch der älteren Pendler Hinweise, dass Phänomene der »Aktivierung des Alters« auch in der untersuchten Gruppe verhandelt werden. Am deutlichsten zeichnet sich dies in den Aussagen der befragten Experten ab. So berichtet beispielsweise Frau Demirci: »Und früher war das auch so in der Großfamilie. Die Älteren haben gar nichts gemacht, nur die Wünsche gesagt und die jüngeren Familienangehörigen habend dann alles für die älteren Leute gemacht. Das war traditionell so.« (Frau Demirci, Z. 324-326)

Im zeitlich nicht genauer definierten Früher wird eine von Großfamilien in der Türkei gelebte Tradition angeführt, die es den Älteren ermöglichte, sich weitgehend nicht an alltäglichen Verrichtungen zu beteiligen. Daraus ergibt sich, dass die typische Altersrolle beziehungsweise ein dem höheren Alter angemessenes Verhalten von einer möglichst ausgeprägten Passivität gekennzeichnet war. Ohne den Entstehungskontext und die Funktion eines solchen gesellschaftlichen Umgangs mit Älteren zu reflektieren, bewerten die befragten Experten die beschriebene Tradition überwiegend kritisch, da sie im diametralen Gegensatz zu als zeitgemäßen geltenden aktivierenden Ansätzen (z. B. aktivierende Pflege, Förderung von Partizipation und Teilhabe etc.) stehe: »Und die Pendelpatienten, mal zu sagen, entweder kommen sie sehr in schlechtem Zustand wieder nach Berlin. Wir haben auch solchen gehabt, dass die nicht gut versorgt wurden in der Türkei und von den Familienangehörigen, die haben entweder keine Ahnung gehabt,

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wie das geht. Und das die Patienten so schlecht abgebaut hat, weil die Familienangehörigen auch denken, die sind nur ein paar Monate da und nehmen auch vieles von den Pflegebedürftigen ab und machen dann selbst. Und dann gewöhnen auch die Patienten daran und dann machen sie auch gar nichts. Ach, das ist doch jemand und die macht doch alles für mich und dann kann ich auch hier in meine Ecke oder Stuhl sitzen, es wird schon alles bedient, kommt auf den Tisch. Und dann bauen die Patienten ganz schnell ab. Und wir müssen dann auch wieder von Anfang an, wieder anfangen reden: Manche Sachen müssen sie selbst machen, um sie zu motivieren, um die zu aktivieren, dass sie dann nicht abbauen.« (Frau Demirci, Z. 300-309)

So begrüßen es Frau Demirci und die eine stationäre Pflegeinrichtung leitende Frau Yılmaz, wenn Familienmitglieder den Ansatz der aktivierenden Pflege (z. B. Zentrum für medizinische Bildung 2011) unterstützen und beispielsweise älteren (pflegebedürftigen) Personen erklären beziehungsweise sie dazu auffordern sich ein Glas Wasser soweit wie möglich eigenständig zu holen. Auch die in der offenen Altenarbeit tätige Frau Schulz, freut es, wenn sich Personen in Seniorengruppe Neuem gegenüber aufgeschlossen und lernbereit zeigen: »Wir haben ja Gruppen aufgebaut und wir mussten teilweise Leute sehr überzeugen, dann, wenn sie in der Gruppe waren, auch noch mehr zu machen als nur Kaffee und Tee zu trinken. […] Wir wollten ja auch so nach dem Motto lebenslanges Lernen auch so bestimmte Sachen anbieten und das war dann teilweise Überzeugungsarbeit, dass die Leute gesagt haben: Jetzt noch in dem Alter, ja. Deutschkurse für Ältere hatten wir auch mal angeboten, einige meinten: was soll ich denn jetzt noch lernen? Oder irgendwelche Seidenmalgruppen, […] was dann so Aha-Erlebnisse diese Menschen bekommen haben, die so ein Altersbild hatten, son, ja, man ist alt, wenn man, wenn die Enkelkinder sind, wenn man aus dem Produktionsprozess raus ist. Wenn wir uns mit deutschen Seniorengruppen getroffen haben, zum zum Beispiel, und da trat dann eine Stepptanzformation auf, sehr beliebt unter deutschen Senioren, wo dann auch gesagt wurde: Hier, unser ältester Stepptänzer ist achtzig und hat vor fünf Jahren angefangen. Das war, das war dann so ein richtiger heilsamer Schock, sozusagen.« (Frau Schulz, Z. 458-473)

Darüber hinaus berichtet Frau Schulz, dass die Zuschreibung »Alt sein«, in Gleichsetzung von mit Jugend ausgeschlossen zu sein, auch bei der Untersuchungsgruppe nicht erstrebenswert ist: »man darf nicht, genau wie bei deutschen Senioren, in ihrem Beisein auch nicht von alten Menschen sprechen oder von Älteren, also da ist es eben ganz gut, dass es diesen Ausdruck

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emekliler gibt. Das ist ja völlig ok, denn wie gesagt, emekli war man schon mit fünfundvierzig, die Frauen in der Türkei früher. Also jetzt sehen sie sich wirklich noch, solange sie gesundheitlich, also so lange sie noch mobil sein können und die Krankheiten sie nicht so einschränken, sehen sie sich noch, glaub ich, als nicht so alt.« (Frau Schulz, Z. 482-487)

Der türkische Begriff emekli bezeichnet Rentner und Ruheständler, ohne dass der Begriff mit einer Ausgliederung aus dem Produktionsprozess assoziiert wird.93 Er bietet so eine Möglichkeit den Sozialstatus »älter« zu bezeichnen, ohne jemanden direkt als »alt« zu kennzeichnen. Die Impulse aus den Experteninterviews zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es Frau Schulz begrüßt, wenn auch Türkeistämmige sich dem Anspruch an ein lebenslanges Lernen stellen, während Frau Demirci und Frau Yılmaz es beklagen, dass ältere Türkeistämmige (insbesondere in Pflegekontexten) nicht aktivitätsorientiert sind. Aus den Experteninterviews entsteht so der Eindruck, dass Alter(n)sbilder der Türkei vorrangig passivierend wirken und ein Einfluss aus Deutschland mehr Aktivität, Prävention und Aufgeschlossenheit fördere. Die im Datenmaterial bereits bekannte Kontrastierung von Deutschland und der Türkei setzt sich auch hier fort. Jedoch nicht absolut essentialistisch, da die hier zitierten Experten auch die Option zur Entwicklung bei älteren Türkeistämmigen mit einbeziehen. Auch bei den befragten Pendelmigranten finden sich Interviewpassagen, die hinsichtlich einer Präsenz von aktivierungsorientierten Perspektiven untersucht werden können. So kann beispielsweise eine Aussage von Nuri İbrahimoğlu angeführt werden, der in Bezug auf Erwartungen an das Alter ausführt: »Also zu sagen, jetzt ich bin verrenntet, von Gott die Gesundheit, vom Staat das Einkommen. Iss, schlaf, iss, schlaf, iss, schlaf. Und was ist dann?« »Ha şimdi ben emekliyim diyerekten Allahtan sağlık, devletten aylık. Ye, yat. Ye yat, ye yat. O zaman ne olur?« (Nuri İbrahimoğlu, Z. 1142-1143)

Im weiteren Interviewverlauf kritisiert Nuri İbrahimoğlu ein inaktives Verhalten im Alter, denn es würde krank machen. Er betont, dass er sich nicht so verhalten

93 Das Wort emekli ist abgeleitet von emek, welches »Mühe, Arbeit, Bemühung, Anstrengung« bedeutet. Wörtlich bedeutet emekli also mit »Mühe, Arbeit«. Der Neologismus »emekli« wurde 1935 gebildet und hat das Osmanische mütekait (pensioniert) ersetzt. Die Bildung ist scheinbar von dem Wort emektar/emekdar inspiriert worden: -dar ist eine persische Endung; emektar bedeutet »altbewährt, verdient« (Steuerwald 1988, Nisanyan 2009).

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möchte und daher nach Beschäftigung sucht. Das exemplarische Zitat von Nuri İbrahimoğlu zeigt auch auf, dass die befragten Pendler Fragen der Aktivität im Alter nicht im Kontext einer Gegenüberstellung von Deutschland und der Türkei thematisieren, sondern im Kontext der gestaltbaren Erfahrungsebene des Alter(n)s – wieder im Bereich Gesundheit. In einer Reflexion der hier bisher dargestellten Ergebnisse muss anerkannt werden, dass die Frage nach Aktivität und Passivität im Alter(n) von Türkeistämmigen eher ein Bild über den Alter(n)sdiskurs in Deutschland zeichnet. Denn, wie die Analyse der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der hier untersuchten Gruppe bereits aufgezeigt hat, werden Fragen von Aktivität, Planung und Prävention von älteren Türkeistämmigen nicht prominent verhandelt. In diesem Sinne sollte überlegt werden, ob der Aktivierungsdiskurs als Ausprägung von zeitgenössischer Kultur in Deutschland diskutiert werden kann. Lediglich eine Stelle im gesamten Interviewmaterial sticht in diesem Zusammenhang heraus und soll im Folgenden angeführt werden. Denn Sevim Öztürk formuliert eine an den Aktivierungsdiskurs anschlussfähige alternative Auslegung des Korans: »Im Koran steht, bis du letzter Atem, dein letzter Atem musst du lernen. Musst du mobil sein. Musst du vom Welt mitkriegen. Das aber leider unser Hocas übersetzen ganz anders. Und dadurch, passiert ja diese Sachen. Ach! Jetzt bin ich in dem Alter, mache ich gar nichts mehr. Mein Sohns, mein Sohns Freund hat geheiratet, dessen eh eh Oma war meinem Alter. Und sie hat sich hingesetzt, hat sie gesagt, sie möchte bedient werden. Und kam er nach Hause, also sie saß da und sie hat nicht bewegt und tut ihr alles weh und so weiter. Ich hab was gekocht, hat gesagt, Mama, sie ist genau in deinem Alter. Du machst alles, du fährst nach der Türkei, du fährst Fahrrad, du machst das, du machst jenes. Und sie sitzt da und sagt, ach, da tut’s mir weh, da tut’s mir weh. Ist das normal?« (Sevim Öztürk, Z. 1983-1990)

Über die Beschreibung einer mit ihrem Sohn erlebten Szene positioniert sich Sevim Öztürk zunächst möglichst positiv, da sie den Koran richtig auslegen und in ihren Alter(n)sstrategien umsetzen kann. Sie inszeniert sich als der profunden Koranexegese fähig und entwertet gleichzeitig die Expertise der gemeinhin angenommenen Islamexperten, der Hocas. Darüber hinaus resultiert aus dieser ihrer Perspektive nach falschen, aber verbreiteten Koranauslegung ein passivierend wirkender Einfluss auf alternde Muslime. Dies führe zu Alter(n)svorstellungen, die jegliches Aktivitätspotenzial in Passivität umwandle. Dabei, so ihre Deutung, sei die Orientierung am lebenslangen Lernen, an Mobilität und gesellschaftlicher Partizipation auch im Alter Teil einer muslimischen Glaubenspraxis. Die ihr eigene, und auch von ihrem Sohn ihr gespiegelte, Aktivitätsorientierung kennzeich-

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net sie aus dieser Perspektive sowohl als interessierte und eigenständige Person als auch als gute praktizierende Muslima. Und dies auch, obwohl sie weder die Namaz-Gebete einhält, noch eine Pilgerreise nach Mekka geplant hat. Dieses, wenn auch als einziges im Datenmaterial zu findende Beispiel verdeutlicht, dass tatsächlich Prozesse in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nachzeichenbar sind, die sogar transkulturelle und transreligiöse Aspekte ineinanderfließen lassen. Selbstermächtigend deutet Sevim Öztürk, die sich deutlich als Anhängerin des Kemalismus positioniert, Aktivitätsansprüche an das Alter(n) als grundlegend im Islam. Weitergehende Forschung sollte daher sowohl den wissenschaftlichen Diskurs über ältere Migranten im Kontext des Aktivierungsparadigmas kritisch reflektieren als auch Selbstbeschreibungen und Performanz älterer (türkeistämmiger) Pendelmigranten hermeneutisch und sensibel untersuchen. 5.4.3 Zwischenfazit – Alter(n)s- und Versorgungserwartungen in Pendelmigration Inwiefern die fortwährende Pendelmigration sich in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der untersuchten Gruppe niederschlägt wurde in diesem Abschnitt untersucht. Dabei lässt sich zunächst festhalten, dass die Pendelmigration aus Perspektive der Befragten nicht unbedingt in einem Widerspruch zu den bereits nachgezeichneten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen steht. Die hier durchgeführte Analyse bestätigt bereits von Krumme (2004) und Yılmaz (2011) zusammengetragenen Ergebnisse: die Motivation zur Pendelmigration bei älteren Türkeistämmigen speist sich aus einer die gesamte Biographie prägenden transnationalen Orientierung und aus von Pendler genutzten lokal gebundenen Ressourcen als Push- und Pull-Faktoren (siehe Kapitel 3). Jedoch zeigt sich im hier ausgewerteten Datenmaterial, dass die Pendelmigration noch aus weiteren Perspektiven betrachtet werden muss: Für ältere Türkeistämmige bietet sie einen erweiterten Gestaltungsspielraum – sowohl um Freiheiten auszuleben als auch um mit finanziellen und ausländerrechtlichen Begrenzungen umgehen zu können. Dabei ist die Pendelmigration für die Befragten nicht unbedingt ein zu gestaltendes »Projekt« im Sinne des aktiven und erfolgreichen Alterns, sondern eher eine Folge aus ihrer Lebenssituation. Aus einer reflektierenden Perspektive muss daher die Frage aufgeworfen werden, ob die befragten Pendelmigranten aufgrund von (drohender) Armut überhaupt dazu kommen, ihre Alter(n)s- und Versorgungserwartungen ausleben zu können. Inwiefern türkeistämmige Ältere durch die Pendelmigration Abstriche in der medizinischen und pflegefachlichen Versorgung (werden) machen müssen, kann auf Basis des zur Verfügung stehenden Datenmaterials nicht rekonstruiert werden.

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In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass bei den Pendlern keine Tendenzen zur Entwicklung einer »imagined community« zu beobachten sind (siehe dazu Karl 2012). Im gesamten Material teilen die Interviewpartner kein Erfahrungswissen einer sich abgrenzenden sozialen Gruppe der Alterspendler. Ihre Lebenssituation im Alter wird von ihnen nicht als etwas Besonderes wahrgenommen. Es kann vermutet werden, dass dies auch damit im Zusammenhang steht, dass die Untersuchungsgruppe bei sich keine Anzeichen für Hybridisierung feststellt. Im Gegenteil: die Interviewpartner positionieren sich zu dem zugehörig, was sie als Türkisch beziehungsweise auch Muslimisch kennzeichnen. Beschreibungen von zwei Kulturen verbindenden Identitäten oder auch Identitäten zwischen den Kulturen, wie dies bei anderen (jüngeren) Migrantengruppen dokumentiert ist, berichten die hier Befragten nicht. Sie grenzen ihre Alter(n)s- und Versorgungserwartungen von dem ab, was sie in Deutschland kennengelernt haben. Dies verwundert, denn bei der gewählten Untersuchungsgruppe wurde zunächst vermutet, dass gerade sie »Transmigrantisches« (Herz und Olivier 2013) (siehe Kapitel 2.2.3) entwickeln würden. Denn die Pendelmigration ist potenziell verdächtig eine Katalysatorfunktion für transnationale, transkulturelle oder auch transreligiöse Prozesse in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen haben zu können. Dennoch finden sich im Datenmaterial deutliche Hinweise darauf, dass als Transkulturation zu bezeichnende Prozesse im Themenfeld »Alter, Kultur, Migration und Kultur« im Kontext der älteren türkeistämmigen Pendelmigranten nachzeichenbar und gesellschaftsdiagnostisch zu wenden sind. Die kontinuierliche Frage nach den Alter(n)s- und Versorungserwartungen älterer Migranten im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs zeigt eine starke Vereinnahmung eben jenes Diskurses in aktivierungspolitische Strukturen auf. Die Nichtplanung des Alterns und möglicher Versorgungsbedarfe älterer Türkeistämmiger führt primär zu Irritation des Diskurses in Deutschland. In diesem Sinne bewahrheitet sich die Formel, dass Fremdbeschreibung immer auch Selbstbeschreibung ist. Gleichzeitig zeigt der Interviewausschnitt von Sevim Öztürk auf, dass die Aktivierung des Alters auch an der Gruppe der älteren Türkeistämmigen nicht vorbei geht. In weiterführender Forschung kann nun gefragt werden, inwiefern ein Aktivitätsanspruch für das Alter tatsächlich, wie von Sevim Öztürk behauptet, im Koran gefunden werden kann. Dem säkularen Imperativ zum Trotz wird in ebenjenem Zitat von Sevim Öztürk, als bekennende Anhängerin des Kemalismus, die Vermengung von Religion, Kultur und Alter offensichtlich.

6. Als Fazit: drei Thesen zu Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer, türkeistämmiger und muslimischer Pendelmigranten im Kontext von Alter(n), Migration, Kultur und Religion

Aus einer systematischen Zusammenführung der über die empirische Untersuchung nachgezeichneten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten (siehe Kapitel 5) mit den aufgezeigten Diskursen zu Alter(n), Migration, Kultur und Religion (siehe Kapitel 2 und 3) konnten drei zentrale Thesen abgeleitet werden. Diese Thesen sind so zugeschnitten, dass sie zum einen die spannungsreichsten Punkte zwischen dem Forschungsdiskurs und den hier erarbeiteten empirischen Befunden herausstellen. Zum anderen zeigen sie über Kritik am bisherigen wissenschaftlichen Diskurs zu älteren Migranten in Deutschland weiterführende Forschungsperspektiven auf. Gleichzeitig dienen sie auch dazu, die in dieser Arbeit aufgeworfenen Fragestellungen zu bündeln und zu einer abschließenden Betrachtung zu kommen.

T HESE 1: »AKTIVES ALTERN «

IST ALS KULTURELLES

P HÄNOMEN

ZU DISKUTIEREN Die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der untersuchten älteren, türkeistämmigen und muslimischen Pendelmigranten schließen nicht an aktivgesellschaftliche Konstruktionen des »erfolgreichen Alter(n)s« an. Um auch die Erkenntnismöglichkeiten kulturwissenschaftlicher Perspektiven

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zur Untersuchung dieses Sachverhaltes nutzen zu können, sollte die »Aktivierung des Alter(n)s« als Ausdruck einer Kultur des Alter(n)s in Deutschland konzipiert werden. Im Laufe des Forschungsprozesses dieser Studie wurde eine Perspektivverschiebung ein Teil des zentralen Erkenntnisgewinns. Den bisherigen wissenschaftlichen Diskurs zu älteren (türkeistämmigen) Migranten in Deutschland aufgreifend wurde zunächst die Frage verfolgt, inwiefern »türkische« Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nachgezeichnet werden können. Während des empirischen Forschungsprozesses bewahrheite sich jedoch die Erkenntnis, dass jede Fremdbeschreibung immer auch eine Selbstbeschreibung ist. Je mehr die Andersartigkeit der Alter(n)s- und Versorgungserwartungen (z. B. beim Pflegebegriff) älterer türkeistämmiger Migranten herausgearbeitet wurde, umso deutlich kristallisierten sich auch Profilierungen von womöglich als »deutsch« zu beschreibenden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen heraus. Es ist zwar durchaus möglich Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer Migranten aus narrativem Datenmaterial heraus zu rekonstruieren, jedoch gewinnt eine solche Arbeit erst durch eine Rückbindung an Alter(n)s- und Versorgungserwartungen anderer sozialer Gruppen an Relevanz und Klarheit. Am Ende dieses hier dokumentierten Forschungsprozesses steht daher unter anderem die Erkenntnis, dass der bisherige wissenschaftliche Diskurs über ältere Migranten in Deutschland auch gegen den Strich gelesen werden muss: wie in diesem wissenschaftlichen Diskurs Kulturkontakte verhandelt werden, bedarf einer kritisch Aufarbeitung. Denn erst durch den Vergleich fällt auf, wie Alter(n)sund Versorgungserwartungen sich auch jenseits kultureller Selbst- und Fremdzuschreibungen zwischen gesellschaftlichen Mehr- und Minderheiten ausdifferenzieren. Durch eine solche Perspektivverschiebung kann sowohl ein Anschluss an Erkenntnismöglichkeiten entsprechend der Post-Colonial-Studies gewonnen als auch ein methodologischer Nationalismus abgebaut werden. Darüber hinaus eröffnet eine Diskussion über kulturell gerahmte Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der deutschen Mehrheitsbevölkerung (und eben nicht nur der als kulturell fremd gewerteten Migranten) die Möglichkeit transkulturelle Prozesse in diesem Feld tatsächlich zu untersuchen. Denn die beispielsweise bereits von Peter Zeman aufgeworfenen Frage, inwiefern ältere Migranten in Deutschland Anteil an den Leitbildern der »schönen neuen Welt des Alters« (2011, S. 190) haben, kann so tatsächlich gewinnbringend untersucht werden. Genauso wie die Frage, ob die Idee des »erfolgreichen und aktiven Alter(n)s« als neuer kultureller Exportschlager des Westens zu werten ist.

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T HESE 2: »R ELIGION MATTERS « – D AS B EISPIEL DES I SLAM Islamische Vorstellungen überformen die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der befragten Personen. Aus Religionen transferierte Kosmologien sind auch in der Alter(n)s- und Versorgungsforschung zu berücksichtigen. Zu Beginn des Forschungsprozesses wurde das Problem des säkularen Imperativs im bisherigen wissenschaftlichen Diskurs über ältere Migranten unterschätzt. Gleichzeitig wurde vermutet, dass die Zusammenstellungen zu Vorstellungen des Alter(n)s und von Versorgung im Alter, wie sie aus dem Koran und den Hadithen rekonstruiert werden, sich nicht in den gegenwärtig zu findenden Alter(n)s- und Versorgungserwartungen von Türkeistämmigen wiederfinden. In der Auswertung des erhobenen Datenmaterials überraschte mich jedoch, wie sehr sich islamische Vorstellungen in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen der befragten türkeistämmigen Muslime wiederfinden. Zwar argumentieren die Befragten nicht mit einem theologischen Fachwissen, jedoch schlagen sich volksreligiöse Ansichten eindeutig in den hier untersuchten Alter(n)s- und Versorgungserwartungen nieder. An diese Erkenntnis schließen sich weiterführende Fragestellungen an: Aus dem hier untersuchten Forschungsfeld ergibt sich zunächst die Frage, inwiefern christliche (und auch jüdische) Aspekte die Konstruktion von und Kommunikation über Alter(n) und Versorgung im Alter überformen, wo Gemeinsamkeiten und Differenzen liegen. Im Zusammenhang dieser Fragen fällt auf, wie stark in den vergangen Jahrzehnten religiöse Dimensionen in Alter(n)s- und Versorgungserwartungen im wissenschaftlichen Diskurs »wegerklärt« wurden. Dabei wirkt die Verhandlung der Kategorie Religion im Diskurs über ältere Migranten schizophren. Auf der einen Seite wird die Bedeutung der (islamische) Religion in Alter(n)s- und insbesondere in den Versorgungserwartungen älterer Migranten betont. Auf der anderen Seite wird bei Türkeistämmigen argumentiert, dass der Kemalismus mit seinem säkularen Selbstverständnis keinen Platz für religiöse (hier: islamische) Dimensionen in den Alter(n)s- und Versorgungserwartungen lässt. Dabei zeigt die hier dokumentierte Studie auf, dass Religion (hier: Islam) eine erhebliche Wirkmacht in der Konstruktion von und Kommunikation über Alter(n) hat – auch wenn das Substrat religiöser Prägung verdrängt wird (vgl. Hock 2014b, S. 55). Sehr deutlich zeigt die hier dokumentierte Studie, dass bisher nicht wahrgenommene Versorgungsdimensionen – eine im Jenseits wirkende Fürsorge durch Gebete am Grab – sichtbar werden, wenn Religiöses nicht systematisch ausgeblendet wird.

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Die hier angeführte Argumentation darf jedoch nicht missverstanden werden. Das empirische Material hat sehr wohl aufgezeigt, wie vulnerabel die Lebenslagen der hier untersuchten Gruppe oftmals sind. Aus (drohender) Armut und sich aus rechtlichen Vorgaben ergebenden Zugzwänge prägen die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen älterer türkeistämmiger Pendelmigranten ebenfalls. Dennoch stellt sich das die Frage nach dem Zusammenwirken von Alter(n), Versorgung im Alter und Religion nochmals neu. Dies ist muss sowohl theoretisch-konzeptionell als auch empirisch ergebnisoffen untersucht werden. Eine stärkere Einbindung religionswissenschaftlicher Perspektiven ist dabei von Nöten, auch um nicht – aus Versehen – essentialistische Vorstellungen »des Islams« zu reproduzieren.

T HESE 3: D ER NATIONALE W OHLFAHRTSSTAAT ALS B EGRENZUNG VON ALTER ( N ) S - UND V ERSORGUNGSERWARTUNGEN Die Pendelmigration bietet türkeistämmigen Älteren einen Gestaltungsspielraum zur Umsetzung ihrer Alter(n)s- und Versorungserwartungen. Dabei müssen sie mit Begrenzungen durch national gerahmte Wohlfahrtssysteme umgehen. In den sich daraus entwickelnden transnationalen Wohlfahrtsmixen findet Alter(n)s- und Versorgungsforschung findet neue Artikulationsräume. Zentralen, bereits vor dem Abschluss der hier dokumentierten Untersuchung vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnissen muss auf Basis des hier zur Verfügung gestandenen Datenmaterials nicht widersprochen werden (siehe Kapitel 3): Es bestätigt sich, dass ältere türkeistämmige Pendelmigranten in transnationalen Räumen verortet sind und sich in ihnen bewegen. Auch im hier untersuchten Sample erschließt sich Pendelmigration Älterer im Kontext einer biographisch, sich oftmals über Jahrzehnte, entwickelten transnationalen Orientierung. Die bereits herausgearbeiteten drei Pendeltypen (Pendeln bei Verbleib, Pendeln bei Rückkehr und Pendeln bei bilokaler Orientierung) (Krumme 2002) sowie unterschiedliche soziale Milieus (traditionsverwurzelt, bürgerlich und intellektuell-kosmopolitisch) (Yılmaz 2011) in der Gruppe der Pendler finden sich auch in dieser Studie wieder. Und wie bereits von Rita Paß (2006) angebracht, begreifen sich ältere Migranten nicht als Marginalisierte. Die empirischen Ergebnisse der hier dokumentierten Studie zeigen jedoch deutlich auf, dass weder finanziell angespannte Lagen noch tatsächlich bereits bestehende Unterstützungs- und Pflegebedarfe physische Pendelmigration unbe-

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dingt beenden. Eine Faktorenanalyse, inwiefern eine Pendelmigration im Alter auch unter widrigen Bedingungen aufrechterhalten wird, konnte und sollte mit dem erhobenen Datenmaterial nicht erfolgen. Jedoch zeichnet sich ab, dass auch wenn bestehende administrative Bedingungen eine Pendelmigration Älterer erschweren, sie als Phänomen gegenwärtiger und zukünftiger sozialer Wirklichkeit Bestand haben wird. In diesem Zusammenhang sind die bereits von von Kondratowitz (2000) angebrachten Ausführungen zur Ausdifferenzierung des höheren Lebensalters als sozialpolitisches Problem beachtenswert (siehe Kapitel 2.1.1). Sich in Erinnerung rufend, dass das Alter und Versorgungserwartungen im Alter durch gesetzgeberische und sozialpolitische Maßnahmen überformt sind, wird ersichtlich, dass in transnationaler Pendelmigration Lebende mit diesen national unterschiedlichen Strukturen des Umgang mit Alter und Altern umgehen müssen. Problematiken und Möglichkeiten kristallisieren sich besonders bei Versorgungsfragen heraus. Im Anschluss an die hier dokumentierte Studie bietet es sich daher an, Fragen zu verfolgen, die die Rollen von ausdifferenzierten Wohlfahrtssystemen in diesen transnationalen Versorgungskontexten beleuchtet.

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Soziologie Heidrun Friese

Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden August 2017, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3263-7 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3263-1 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3263-7

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

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Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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