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German Pages 143 Year 2003
S ozial e Ori enti er ung Band 16
Religion – Gesellschaft – Demokratie Ausgewählte Aufsätze
Von
Jude P. Dougherty
Duncker & Humblot · Berlin
JUDE P. DOUGHERTY
Religion - Gesellschaft - Demokratie
Soziale O r i e n t i e r u n g Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach
In Verbindung mit
Karl Forster t · Hans Maier · Rudolf Morsey
herausgegeben von
Anton Rauscher
Band 16
Religion - Gesellschaft Demokratie Ausgewählte Aufsätze
Von Jude P. Dougherty
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6917 ISBN 3-428-11085-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @
Geleitwort Der vorliegende Band enthält ausgewählte Beiträge, die Jude P. Dougherty in den zurückliegenden Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlichte und die nunmehr in Übersetzung auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich sind. Der Autor gehört zu den profiliertesten Wissenschaftlern in den USA. Seit über drei Jahrzehnten lehrt er an der School of Philosophy der Catholic University of America in Washington DC. Schon 1967 wurde er zum Dean gewählt, ein Amt, das er bis zu seiner Emeritierung 1999 innehatte. Unter seiner Leitung ist die School of Philosophy zu einer im ganzen Land hochangesehenen Institution geworden. Mit zahlreichen Publikationen hat sich Dougherty in der philosophischen Fachwelt einen Namen gemacht. Seine Bücher, Abhandlungen und Artikel werden gelesen; sein Rat ist in der Wissenschaft, in der katholischen Kirche, in den Medien und auch in politischen Kreisen gesucht. Dougherty wird häufig zu Vorträgen eingeladen, weil er es meisterhaft versteht, die aktuellen Fragen, die sich heute auftun, auf dem Hintergrund der geistig-kulturellen Situation zu sehen und zu analysieren. Nicht minder pflegt Dougherty vielfältige Kontakte zu den wissenschaftlichen und philosophisch-theologischen Zentren in Europa. Von den philosophischen Ideen und Grundsätzen der griechischen und der römischen Klassik ist Dougherty fasziniert. Es ist die Suche nach Wahrheit und nach Gerechtigkeit, die an Aktualität bis heute nichts eingebüßt hat. Das, was die griechischen Philosophen und die Stoiker an Erkenntnissen über das Wesen des Menschen und seine Sozialität zutage gefördert haben, ist nicht veraltet, weil der Mensch, auch wenn er sich ständig ändert und weiterentwickelt, im Kern derselbe bleibt. Deshalb können wir von diesen Einsichten lernen, und wir würden einen unverzeihlichen Fehler begehen, das Wissen der Antike als einen Schrottplatz zu begreifen. Es waren die großen Theologen des Mittelalters, die auf den Fundamenten, die in der Antike gelegt wurden, aufbauten. Thomas von Aquin und die mittelalterlichen Theologen suchten eine Synthese zwischen der Weltsicht der Philosophen, allen voran des Aristoteles, und der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion. Sie griffen zurück auf die Bibel und auf die Schriften der Kirchenväter und der christlichen Denker der folgenden Jahrhunderte. Ihre Erkenntnisse über den Menschen und die Gesellschaft sind nicht ein grandioses Museum, vielmehr sind sie für Dougherty eine Fundgrube und zugleich Ansporn, die komplexe Wirklichkeit nicht dafür als Vörwand zu nehmen, wir könnten heute die Wahrheit nicht mehr erkennen, sondern müßten uns mit dem Diskurs und einer machtmäßigen Definition der Wirklichkeit begnügen.
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Geleitwort
Die Vertrautheit mit der philosophischen Klassik bewirkt bei Dougherty jedoch keine Blockade gegenüber den Reflexionen und Denkansätzen der verschiedenen philosophischen Strömungen in der Moderne. Er ist sich bewußt, wie sehr die Sichtweisen des Deutschen Idealismus, der Naturwissenschaften, der Human- und Sozialwissenschaften das Bewußtsein der Menschen und der Öffentlichkeit erfaßt hat. Dougherty weist allerdings auf die Problematik der Abkehr von der Metaphysik hin. Sie ist verantwortlich für den Verlust der inneren Einheit. Die Philosophie hat deshalb an Überzeugungskraft verloren. Die Folgen werden ganz konkret spürbar in der zunehmenden Unfähigkeit, die großen Herausforderungen, vor denen die pluralistische Gesellschaft und das demokratisch organisierte Gemeinwesen steht, zu bewältigen. Hier macht sich auch die mangelhafte oder gar bewußt zurückgewiesene Verknüpfung zwischen der Philosophie und der Theologie, zwischen Religion und Gesellschaft nachteilig bemerkbar. Dougherty, der persönlich tief im christlichen Glauben und in seiner katholischen Kirche verankert ist, markiert die Schwachstellen eindringlich. Wenn die Philosophie und die Wissenschaften nicht mehr die Fragen nach dem Sein, nach Gott als dem Erklärungsgrund der Welt, nach der Religion und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und den Staat stellen, wenn sie die naturrechtliche Erkenntnis und Argumentation in das Reich der Chimäre verweisen, dann zerfällt wie beim Turmbau zu Babel jedwede Einheit der Menschen und Völker und ebenso die Fähigkeit, einander zu verstehen, miteinander zu reden und gemeinsam zu handeln. Die Mehrzahl der Beiträge Doughertys, die in diesen Band aufgenommen wurden, kreisen um das Verhältnis von Gesellschaft und Religion sowie von Kirche und Staat. Mit feinem Gespür verfolgt er die zum Teil gravierenden Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten die geistig-kulturelle und die religiöse Landschaft der Vereinigten Staaten von Amerika befallen haben. Damit sind vor allem die Säkularisierungsschübe gemeint, die zunächst in den großstädtischen Zentren der USA auftraten, inzwischen aber auch in den vielen mittleren und kleineren Städten und in den ländlichen Gebieten sich bemerkbar machen. Daß die Massenmedien eine Vorreiterrolle spielen, ist bekannt. Wie aber war es möglich, daß die katholischen Universitäten, die seit dem Ersten Weltkrieg und noch in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten und wesentlich zur Formung und Profilierung des amerikanischen Katholizismus und der katholischen Kirche beigetragen haben, in verhältnismäßig kurzer Zeit dem Säkularisierungsdruck weithin erlegen sind und ihren konfessionellen Charakter fast eingebüßt haben? Wie konnte es zu der Krise der religiösen Männerund Frauenorden kommen, die lange Zeit das Rückgrat des katholischen Schulund Bildungswesens in den USA bildeten? Es ist nicht nur der fehlende Nachwuchs an Berufungen, der sich höchst nachteilig bemerkbar macht, es ist vor allem die geistig-religiöse Unsicherheit, ob die bisher vertretenen Positionen noch zukunftsfähig sind, die sich lähmend auf den Katholizismus und auf die Kirche gelegt hat.
Geleitwort
Bereits in seiner Dissertation befaßte sich Dougherty mit der Ideenwelt John Deweys, die er für die Säkularisierung zunächst des staatlichen, dann auch des konfessionell-freien Schul- und Bildungswesens verantwortlich macht. Dewey hat lange Jahre an der Columbia-Universität in New York gelehrt und einen großen Teil der künftigen Professoren der Pädagogik und damit der Lehrkräfte an den staatlichen Schulen ausgebildet. Darüber hinaus gewannen seine Ideen einen beherrschenden Einfluß auf die Schulbücher, die auch an protestantischen Schulen verwendet wurden. Die von ihm vertretene naturalistische Weltsicht verbreitete sich in vielen intellektuellen Kreisen. Die Liberalisierung der katholischen Schulen und Universitäten wiederum ist erst möglich geworden durch die Rechtsprechung des Supreme Court nach dem Zweiten Weltkrieg. Dougherty weist darauf hin, daß die nachgewachsene Richtergeneration dem säkularistischen und naturalistischen Denken Deweys folgte. Das für das Zusammenleben der Konfessionen und Religionen so entscheidende First Amendment wurde seit 1947 in einer Reihe von höchstrichterlichen Urteilen ganz neu interpretiert. Dougherty zeigt auf, daß die Vater der amerikanischen Verfassung und des First Amendment die Unabhängigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Staat und damit ihre volle Freiheit wollten, ohne jedoch den Staat und die Gesellschaft zu säkularisieren und ohne aus der weltanschaulichen Neutralität des Staats eine Wertneutralität zu machen. Im Gegenteil: Die Väter der Verfassung gingen davon aus, daß die Religion für Gesellschaft und Staat unverzichtbar sei, daß mit einer Gesellschaft ohne Gott kein Staat zu machen ist. Für Dougherty ist eine radikale Säkularisierung von Staat und Gesellschaft unvereinbar mit der amerikanischen Verfassung, die ihrerseits die religiösen Überzeugungen der großen Mehrheit des amerikanischen Volkes widerspiegelt. Die Interpretation des First Amendment durch den Supreme Court, als ob es eine areligiöse „Neutralität" verlange, beinhaltet einen Kulturbruch sondergleichen. Gesellschaft und Staat ohne Religion - und darin ist sich Dougherty mit den großen katholischen Denkern Jacques Maritain und John Courtney Murray einig - verlieren über kurz oder lang den inneren Zusammenhalt. Die Veröffentlichung der Beiträge Doughertys fällt in eine Zeit, in der auch in Deutschland eine ähnliche Weichenstellung erfolgt. Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus waren sich bei der Vorbereitung des Grundgesetzes alle Kräfte und Parteien darin einig, daß man zu den Werten zurückkehren müsse, die verraten worden waren. Das Grundgesetz bekennt sich in der Präambel zur Verantwortung vor Gott, zu der unantastbaren Würde und zu den Grundrechten des Menschen, die Gesellschaft und Staat vorgegeben sind. Seit der Kulturrevolution im Jahre 1968 sind Bestrebungen am Werk, das Grundgesetz, wenn man es schon nicht ändern kann, dann wenigstens neu zu interpretieren. Die Auseinandersetzung geht um die im Wesen des Menschen verankerten und damit vorgegebenen Werte. Man will selbst bestimmen, was unantastbar sein soll und was nicht. Der Ungeist der Machbarkeit zeigt sich bei den Diskussionen über den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens, über Abtreibung und Euthanasie, beim Schutz von Ehe und Familie
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Geleitwort
und bei der Selbstbestimmung des Menschen. Hier gibt es auffallende Parallelen der Entwicklung in Deutschland und in den USA. Hier wie dort kommen wir nicht umhin, die Grundfragen über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, von Religion und Politik neu zu überdenken und für eine gedeihliche Entwicklung der Lebensverhältnisse zu sorgen. Mit diesen grundsätzlichen Überlegungen über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, von Kirche und Staat eng verbunden ist ein Artikel über das Gemeinwohl. Dougherty zeigt, wie die Gemeinwohllehre, die in der aristotelisch-christlichen Tradition steht, ein Verständnis der staatlichen Gemeinschaft voraussetzt, das auf vorgegebenen Zielen und auf einem Konsens der Bürger beruht. Demgegenüber setzt Hobbes beim aufgeklärten Eigeninteresse der Staatsbürger an und weist der Regierung die Aufgabe zu, nicht etwa die gemeinsamen Ziele zu artikulieren, sondern sozusagen als Konflikt-Management zu agieren, um die Zustimmung möglichst vieler Einzelner zu erreichen. Hier wird das Dilemma sichtbar, das auch bei der These von der funktionalen Demokratie Regie führt. Aber ist Gemeinschaft, ist der Staat ohne innere Einheit und bei Verzicht auf die Moral der Staatsbürger möglich? Zwei weitere Beiträge des Autors befassen sich mit Fragen der beruflichen Ethik. Auf besonderes Interesse dürfte der Beitrag „Kollektive Verantwortung?" stoßen. Dougherty weist auf Trends hin, die in den letzten Jahren in den USA hervorgetreten sind, die auch in Europa inzwischen spürbar werden. Es ist nicht so sehr die Tatsache, daß das Richterrecht eine Macht geworden ist, die nicht selten von kleinen Minderheiten dazu mißbraucht werden kann, um Entscheidungen, die über die gesetzgebenden Körperschaften nicht durchsetzbar sind, auf diesem Wege, sozusagen durch die Hintertür, der Mehrheit aufzuzwingen. Noch gravierender sind jene Tendenzen, die eine neue Art von kollektiver Mitschuld bei Gemeinschaften, zunehmend auch bei Wirtschaftsunternehmen statuieren, ohne die Frage nach der persönlichen Schuld und darauf Bezug nehmend nach Wiedergutmachung zu stellen. Bekannt geworden sind Prozesse, die von „Opferanwälten" vornehmlich mit Hilfe von Sammelklagen angestrengt werden. In diesen Bereich fallen auch Verurteilungen von Unternehmen zu Entschädigungssummen, die jede Verhältnismäßigkeit vermissen lassen. Zugenommen haben ebenfalls Prozesse gegen Ärzte und andere Berufe, gegen Gemeinschaften, auch dann, wenn ein schuldhaftes Versagen nicht nachgewiesen werden kann. Zu Recht fordert Dougherty eine grundsätzliche Klärung auf diesem Feld und die Besinnung auf den Zusammenhang von Recht und Moral. Der letzte Beitrag des Sammelbandes befaßt sich mit dem Islam. Die Ereignisse des 11. September 2001 haben nicht nur in den Vereinigten Staaten die Frage nach dem Islam, seiner Geschichte und seines Verhältnisses zum Christentum und zu den übrigen Religionen aufgeworfen. Dougherty gelangt zu der Auffassung, daß der Islam die einzige Weltreligion ist, die die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele billigt und einen militanten Charakter besitzt. Auch wenn es lange Phasen der wechselseitigen Beeinflussung der christlichen und der isla-
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mischen Kultur gegeben hat, so sind doch unvereinbare Positionen geblieben: „Der Islam ist eine Religion, die auf Gehorsam, nicht auf Verstehen, die auf gewaltsame Bekehrung, nicht auf Überzeugen setzt". Sichtbar werden die Gegensätze unter anderem an der unterschiedlichen Stellung der Frau in Ehe und Familie wie in der Gesellschaft, an der Scharia, die im Gegensatz zum Römischen Recht und zum Common Law die universale Dimension des naturrechtlichen Denkens nicht kennt, an der Weigerung, die theokratischen Ansätze aufzulösen und die je eigenen Bereiche von weltlicher und geistlicher Macht und Zuständigkeit anzunehmen. Die moralische Stärke, die der Islam in vielen Ländern besitzt, ist freilich die Kehrseite der gegenwärtigen Krise der Christenheit in Europa und in Nordamerika. Man ist unsicher geworden, ob die Einsichten in die Schöpfungsordnung Gottes noch gelten und ob das Evangelium im Zeitalter des Fortschritts und der Machbarkeit den Menschen noch Wahrheit und Wertorientierung ist. Die wissenschaftlichen Kontakte zwischen der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach und der Catholic University of America in Washington DC, zwischen dem Autor und dem Herausgeber, bestehen seit vielen Jahren. Sie haben sich in den gemeinsam durchgeführten sieben Deutsch-Amerikanischen Kolloquien im Zeitraum von 1990 bis 2002 bewährt. In den vielen Gesprächen, die diesseits und jenseits des Atlantiks miteinander geführt wurden, wurden die Fragen erörtert, die Jude P. Dougherty seit langem beschäftigen. Dabei zeigt sich, wie aktuell das philosophische Interesse sein kann und wie sehr es mit den Fragen nach Religion und Moral, nach Recht und Gerechtigkeit verknüpft ist. Die Auswahl der Beiträge für diesen Band geschah in Absprache mit dem Autor. An der Übersetzung der amerikanischen Texte ins Deutsche waren beteiligt: Professor Dr. L. J. Eiders, Rolduc/Niederlande; Prälat Dr. Eugen Kleindienst, Augsburg; Weihbischof Dr. theol. Dr. rer. pol. Anton Losinger, Augsburg; Dr. Johannes Stemmler, Köln. Allen sei an dieser Stelle für ihre Mitwirkung herzlich gedankt. Für die sinngetreue und einheitliche sowie für eine dem deutschen Sprachempfinden angemessene Übersetzung tragen Dr. phil. habil. P. P. Müller-Schmid und der Herausgeber der Reihe die Verantwortung. Ein besonderer Dank gilt Frau Wilma Cremer, die das Übersetzungswerk mit großer Sorgfalt und Professionalität für den Druck vorbereitete. Mönchengladbach, im Oktober 2002
Anton Rauscher
Inhaltsverzeichnis Die westliche Kultur und die Suche nach ihrer Identität
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Der Verlust der Religion und das Problem der Säkularisierung
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John Courtney Murray über die Wahrheiten, an denen wir festhalten
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Die Trennung von Staat und Kirche
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Marx, Dewey und Maritain. Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft
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Das Gemeinwohl nicht vergessen
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Verantwortung im Beruf
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Kollektive Verantwortung?
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Unbezwingbarer Islam
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Zur Biographie von Jude P. Dougherty Von Anton Rauscher Quellenangaben
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Die westliche Kultur und die Suche nach ihrer Identität I.
Je näher die Jahrhundertwende rückt, um so häufiger ertönt der Ruf nach einer Erneuerung Amerikas. Die Meinung ist weit verbreitet, irgend etwas sei schief gelaufen und diejenigen, die die Politik des Landes bestimmen, hätten den Weg verloren. Dies ergibt sich deutlich aus der Verwendung eines neuen Wortes: procedural democracy (funktionale Demokratie), das jetzt zum Wortschatz der Politikwissenschaftler sowohl der Linken wie der Rechten gehört und eine demokratische Regierung bezeichnet, die sich gegenüber konkurrierenden Auffassungen des sittlich Guten neutral verhält, keine bestätigt, aber allen entgegenkommt. Eine funktionale Demokratie vermeidet Werturteile in der Annahme, daß es nicht die Aufgabe einer Regierung ist, eine Auffassung des sittlich Guten einer anderen vorzuziehen oder sich zu eigen zu machen. Auch wenn wir ihn noch nicht beschritten haben, dann ist diese Art der Demokratie sicher der Weg in eine Katastrophe, schreibt George Sher, dessen Buch Beyond Neutrality die Unmöglichkeit, wenn nicht die Absurdität einer Wertneutralität aufweist 1. Angesehene Politikwissenschaftler haben schon seit langem betont, daß Gesellschaftspolitik nicht neutral sein kann. Eine Politik, die auf den von John Stuart Mill entwickelten Grundsätzen beruht, dürfte in ihrer Art völlig verschieden sein von jener, die in der aristotelischen Auffassung über die menschliche Natur verankert ist 2 . Wenn die funktionale Demokratie nicht dafür taugt, wo sonst sollen wir allgemein anerkannte Prinzipien oder Auffassungen über das Gute suchen? Hier kann die Geschichte Amerikas lehrreich sein, insbesondere jene, die sich auf die Sicht der Gründungsväter und die grundlegenden Dokumente unserer Nation konzentriert. Sicherlich, die Wege, die zur Entstehung unserer Nation führten, geben Einblick in die Ziele, die bei der Gründung der Vereinigten Staaten angestrebt wurden. Aber auch diese Reflexion bleibt, wie Martin Marty meint, in der Schwebe. In sei1 Vgl. George Sher, Beyond Neutrality: Perfectionism and Politics (New York: Cambridge University Press, 1997). 2 Morton A. Kaplan, „The Right to be Left Alone Is the Right to be No One", in: Morality and Religion in Liberal Democratic Societies, Hg.: Gordon L. Anderson und Morton A. Kaplan (St. Paul, Minnesota: PWPA/Paragon House, 1992), 290. Es gibt gute Gründe für die Annahme, schreibt Kaplan, daß die Bedingungen, die Mill als wesentlich für seine Konzeption des Liberalismus betrachtete, in Wirklichkeit aber gerade jene Kontrolle fördern, die die Liberalen zu vermeiden suchen.
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ner Betrachtung über das öffentliche Leben in Amerika, The One and the Many 3, erinnert er daran, daß wir nicht mehr die Nation sind, die wir einst waren, ein Volk von Europäern, verbunden durch eine gemeinsame Kultur. Wir sind nicht länger ein Volk, sondern eine Vielfalt von Völkern, von denen jedes die eigenen Ziele unter Berufung auf seine Geschichte betont. Nun gibt es mehrere geschichtliche Betrachtungsweisen - Marty nennt sie „stories" - und nicht nur ein einziges Geschichtsbild, mit dem sich alle identifizieren könnten. Die jüdischen, schwarzen, katholischen und spanischen Erfahrungen lassen verschiedene Deutungen entstehen, die für andere Gruppen nicht immer schmeichelhaft sind. Marty sieht keine Möglichkeit, eine gemeinsame Deutung der Geschichte zu finden, die von allen angenommen werden könnte. Er kommt zu dem Schluß, daß wir mit widersprüchlichen Deutungen leben müssen, obwohl wir gleichzeitig zu einer offenen und, wo nötig, mitfühlenden Haltung den anderen gegenüber bereit sein sollen. Wir dürfen nicht auf der Überlegenheit der eigenen Deutung beharren, geschweige denn ihre praktischen Implikationen anderen aufzwingen. Sind wir somit ohne Ressourcen? Dies ist eine wichtige Frage, wenn man bedenkt, daß der Rechtsstaat eine gewisse Einheitlichkeit der Auffassungen erfordert. Das Recht setzt gemeinsam anerkannte Prinzipien voraus, denen gegenüber der Staat sich nicht neutral verhalten kann. Vielleicht gibt es in verborgenen Tiefen ein gemeinsames erkennbares Grundverständnis. Eine Generation früher hielt John Dewey eine Vortragsreihe, veröffentlicht in dem Buch A Common Faith . Darin kam er auf das Problem zu sprechen. Walter Lippmann schrieb ein Buch mit dem Titel The Public Philosophy. Mortimer Adler, Jacques Maritain, John C. Murray, Will Herberg, Sidney Hook und andere versuchten, die amerikanische Antwort zu formulieren. Heute gibt es nur wenige Autoren, die den Mut dazu aufbringen. Müssen wir mit Marty daran zweifeln, ob ein gemeinsames Grundverständnis noch artikuliert werden kann? Wir reden noch immer von der „westlichen Kultur", und sie bleibt eine Wirklichkeit, auch wenn ihre geistigen Grundlagen seit mehr als zwei Jahrhunderten in Kreisen der westlichen Intelligenz bekämpft werden. Die Zweifel am kulturellen Erbe, die seit langem in akademischen Kreisen gehegt wurden, haben in den letzten fünfzig Jahren die breiten Massen erreicht, die in sittlichen Fragen nicht mehr jene Gewißheit haben, die ihre Vorfahren besaßen. Müssen wir uns damit abfinden? In seinen Betrachtungen über den Lauf der Ereignisse im zwanzigsten Jahrhundert schrieb der englische Lord Patrick Devlin: Wenn die Sittlichkeit eines Volkes zerfällt, geraten auch die auf diesen sittlichen Auffassungen gegründeten Gesetze in Verfall 4. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man, wenigstens in diesem 3 Martin Marty, The One and the Many (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1997). 4 Lord Patrick Devlin, The Enforcement of Morals (London: Oxford University Press, 1968), 11.
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Land, einen schnellen Niedergang von Moral und Rechtsstaatlichkeit feststellen. Nach dem Urteil Devlins ist „eine anerkannte Moral für die Gesellschaft genauso notwendig wie eine anerkannte Regierung" 5. Historiker haben darauf hingewiesen, daß das zwanzigste Jahrhundert - falls es überhaupt etwas gelehrt hat - zu der Einsicht veranlaßte, daß Ideen Folgen haben und daß die Barrieren zwischen der Kultur und den zerstörerischen Kräften leicht durchbrochen werden. Die Barbarei ist kein bildreicher Mythos oder eine halb vergessene Erinnerung an ein längst vergangenes Zeitalter, sondern eine schlimme latente Realität, die zutage treten kann, wo immer die moralische Autorität einer Kultur die Kontrolle verliert. Es geht um etwas Entscheidendes. In gesellschaftlich unruhigen Zeiten ist eine klare Diagnose viel wert. Man hat das seit langem eingesehen. Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius (59 v. Chr. - 1 7 n. Chr.) empfahl einem im Niedergang befindlichen Rom: Er lade den Leser ein, mit viel größerer Aufmerksamkeit die Lebensweise der Vorfahren zu betrachten und zu studieren, wer die Menschen und welches die Mittel waren, sowohl in der Politik als auch im Krieg, wodurch Rom seine Machtstellung erlangte und dann weiter ausbaute. Er wolle den Leser auf den Prozeß des sittlichen Verfalls hinweisen, wie, sobald die überkommenen Lehren nicht mehr beachtet wurden, zuerst die moralischen Grundlagen ins Wanken gerieten, dann das ganze Gebäude zusammenbrach. Er sprach zugleich von einer düsteren Vorahnung, weil wir weder unsere Laster ertragen können noch über die Arznei verfügen, die wir zu ihrer Heilung benötigen.6 Der Rat ist alt, gleichwohl zeitnah. Kann man die eigene Identität begreifen ohne Verständnis für die Vorfahren, und zwar die näheren ebenso wie die entfernten? Wenn man die Frage so stellt, hat man sofort die Antwort. Um zu wissen, wer man ist, muß man sich selbst aus der Perspektive der eigenen Familie sehen. Die Bewohner der atlantischen Küstenregion Amerikas sprechen von Mr. Jefferson, als ob er noch unter ihnen lebte. Man lebt in einer ererbten Kultur, und um diese Kultur zu verstehen, muß man Sinn für die Geschichte haben. Man braucht kein Gelehrter zu sein, aber man muß um die geistigen Ziele, um die materiellen Voraussetzungen und um die gesellschaftlichen Entwicklungen wissen, die die Kultur geschaffen haben, seien diese nun religiösen oder säkularen Charakters. Um eine Identität zu finden, brauchen wir nicht nur, wie Marty meint, ein geschichtliches Wissen, sondern ein Gefüge von sittlichen und sozialen Grundsätzen. Die Art und Weise, wie man die Vergangenheit betrachtet, hat einen direkten Einfluß auf das gegenwärtige Handeln. Politisches Engagement und offene Parteinahme sind oft das Ergebnis dessen, wie man die Geschichte versteht oder mißver5 Ebd. 6
Titus Livius, Preface to his History (Cambridge, Mass.: Loeb Classical Library, Harvard University Press, 1924), 1.1.
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steht. Seine Stimme abzugeben bei einer Wahl oder einem Referendum dürfte mehr sein als nur ein politischer Akt; es läuft auf eine Art Bekenntnis im Rahmen einer bestimmten Sozialphilosophie oder Geschichtstheorie hinaus. Unter gewissen Umständen können derartige Entscheidungen sogar Urteile über sich gegenseitig ausschließende Formen der Kultur enthalten. Wie Lord Devlin in Erinnerung ruft, beruhen weitgreifende Änderungen in der Formulierung und Interpretation der Gesetze oft auf dem Wandel moralischer Überzeugungen. Die Geschichte lehrt, daß das soziale Bewußtsein nicht nur Einheit herbeiführen, sondern auch das Einfallstor zu sozialen Konflikten sein kann. Der dialektische Materialismus von Marx diente in der ganzen Welt als Katalysator für totalitäre Regierungen. Der Mythos der Überlegenheit der arischen Rasse hat zum Völkermord geführt. Der Mythos der Unterdrückung der Frauen hat die Geschlechter einander entfremdet. Die Lehre des sozialen Fortschrittes wurde benutzt, um gesellschaftliche Programme mit katastrophalen Folgen zu propagieren. Bilder und Metaphern können das Vorhandene zerfressen und die Gesellschaft nötigen, falsche Formen und Färbungen anzunehmen, und politisch engagierte Menschen dazu bringen, den gesunden Menschenverstand und kritische Zweifel beiseite zu lassen. Morton Kaplan, ein Gesellschaftstheoretiker an der Universität von Chicago, betont die Bedeutung eines breiteren kulturellen Kontextes, das heißt des sozialen Milieus, das bewußt oder unbewußt unsere Entscheidungen beeinflußt. Er wiederholt die mahnenden Worte von John Donne, daß „kein Mensch eine Insel ist", und weist darauf hin, wie es der Titel einer neueren Abhandlung suggeriert: „The right to be left alone is the right to be no one."7 Das Recht, in gesellschaftlichen und moralischen Fragen autonom zu sein, ist wohl ein populärer Wunsch8; aber nach Ansicht Kaplans ist diese Theorie kontraproduktiv, weil sie nicht sieht, wie Identitäten und Auffassungen des eigenen Selbst innerhalb des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges entstehen. „Äußere gesellschaftliche Zwänge und innere Hemmungen ergänzen die Sogwirkung und die Möglichkeiten, die das gesellschaftliche Gefüge, die eigene Persönlichkeit und die Umgebung uns bieten. Sie sind nötig, um Fehlentwicklungen vorzubeugen und die Integrität des Selbst, das wählen kann, zu wahren." 9 Die Freiheit, deren sich jeder von uns erfreut, ist von kulturellen Zwängen abhängig. Ein soziales System, das überhaupt keine Verhaltensweisen ausschließt, auch wenn sie den anderen nicht verletzen, ist undenkbar. „Wenn z. B. jede Verhaltensregel - ob man etwa vor dem Vorgesetzten eine Verneigung macht oder wie man sich für ein Festessen kleidet usw. - abhängig wäre von persönlicher Berechnung, würde die Gesellschaft vor dem Zusammenbruch stehen."10 Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Haben wir 7 Kaplan, Right to Be Left Alone, 290. s Ebd. 9 Ebd. 292. ίο Ebd. 297.
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heute ein allgemein anerkanntes Gesellschaftssystem oder ein Gefüge moralischer Normen, auf denen die Rechtsordnung beruht?
II. Wenn es schon in einer Periode des kulturellen Niedergangs problematisch ist, von nationaler Identität zu reden, so ist es geradezu abenteuerlich, von einer Identität des Westens zu sprechen. Dennoch unterscheidet sich der Westen, also Europa und die Länder, die von europäischen Nationen besiedelt wurden, geschichtlich betrachtet vom Osten. In einem seiner Werke erinnert de Rougemont daran, daß Hippokrates der erste war, der Europa als eine eigene Entität beschrieben hat 11 . Wir waren gewohnt, von der „Christenheit" zu sprechen, und meinten damit alle Länder, die von der westlichen Kultur beeinflußt waren. Trotz der Globalisierung der Wissenschaft, der Technologie und des Handels bleibt auch heute noch ein Unterschied bestehen zwischen europäischen und orientalischen Kulturen, zwischen lateinischer, islamischer und konfuzianischer Denkweise. Die Fortschritte der Telekommunikation haben zwar die Welt oberflächlich vereinigt, insbesondere durch die weltweite Verfügbarkeit des Fernsehens, und dennoch veranschaulicht die weltweite Berichterstattung die großen Unterschiede, die unverrückbar bestehen bleiben. Man wird zugeben müssen, daß trotz weltweiter Kommunikation, trotz der multinationalen Unternehmungen und trotz weltweiten Handels kulturelle Unterschiede vorherrschen. Obwohl die großen Kulturen der Welt in erster Linie mit bestimmten geographischen Regionen identifiziert werden, muß man doch feststellen, daß sie gleichzeitig die Grenzen der Kontinente überschreiten. Nord- und Südamerika führen die westliche Kultur auf eine Weise weiter, wie es Indonesien nicht tut. In ähnlicher Weise ist der Islam nicht auf Nordafrika und den Mittleren Osten beschränkt. Man kann chinesische und andere kulturelle Enklaven über die ganze Welt zerstreut antreffen. Diese Unterschiede lassen sich vom Soziologen beschreiben; aber auch andere Zugangsmöglichkeiten sind wichtig. Wenn der Soziologe von „Kultur" redet, meint er meistens eine gemeinsame Lebensweise, die ihre Grundlage in gemeinsamen Denkweisen und in gemeinsamer Arbeit hat, entstanden durch die Anpassung der Menschen an ihre natürliche Umwelt und wirtschaftlichen Bedürfnisse. Beide Quellen, die geistige wie auch die materielle, spielen eine Rolle. In der Einführung zu seiner Kritik der politischen Ökonomie betonte Marx, die materielle Produktionsweise bestimme die sozialen, politischen und geistigen Lebensprozesse. Nicht das Bewußtsein der Menschen bestimme das Sein, sondern das Sein bestimme das Bewußtsein.12 11 Denis de Rougemont, The Meaning of Europe, übers, von Alan Braley (New York: Stein & Day, 1965), 29. 12 Übersetzung: Karl Marx, Das Kapital: A Critique of Political Economy (Chicago: C. H. Kerr & Co., 1906).
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In seiner Kritik an Marx legt Christopher Dawson eine andere Deutung vor: Die großen kulturellen Änderungen und die geschichtlichen Revolutionen, die das Los der Nationen oder den Geist eines Zeitalters bestimmen, seien das gebündelte Ergebnis von geistigen Entscheidungen - Glaube und Einsicht oder Weigerung und Blindheit von Einzelnen. Aber niemand könne den geistigen Grund erfassen, der das Kräftegleichgewicht bestimme und dafür sorge, daß die äußere Ordnung einer Gesellschaft eine neue Form erhalte. 13 Niemand kann in Abrede stellen, daß wichtige Aspekte der Kultur eine materielle Grundlage haben im wirtschaftlichen Leben eines Volkes; aber die Wurzeln jeder Kultur reichen tiefer. In China haben wir zum Beispiel die konfuzianische Ethik, die seit mehr als zweitausend Jahren das moralische Fundament der chinesischen Kultur bildet. Deshalb ist es nicht möglich, auch nur einen Aspekt der chinesischen Geschichte zu verstehen, ohne mit dem Konfuzianismus vertraut zu sein. In seinen vielen Studien über die Kulturen des Westens und Asiens erinnert Dawson seine Leser oft daran, daß nicht die großen Kulturen der Welt die großen Religionen hervorgebracht haben, vielmehr waren es die großen Religionen, die die großen Kulturen schufen. In seinem Hauptwerk legt Werner Jaeger eine völlig andere, aber interessante Deutung von Kultur vor. Er unterscheidet zwischen Kultur als einem einfachen anthropologischen Begriff, wie Marx und Dawson von ihr reden, und Kultur als einem Wertbegriff, einem Ideal, das man bewußt erstrebt. 14 In einem unbestimmten analogen Sinn sei es möglich, von chinesischer, indischer, babylonischer, jüdischer oder ägyptischer Kultur zu sprechen, wenngleich keine dieser Nationen ein Wort oder ein Ideal besitze, um das, was Kultur wirklich beinhaltet, zum Ausdruck zu bringen 15 . Es waren die Griechen, die das Ideal der Kultur geschaffen haben. Die Kultur der Gegenwart, schreibt Jaeger, könne der ursprünglichen griechischen Form der Kultur keinen Wert hinzufügen, vielmehr müsse sie durch dieses Ideal erleuchtet und geformt werden, um den wahren Sinngehalt und die Orientierung zu gewinnen.16 „Menschliche Natur", „Objektivität", „Universalität", „zeitlos" und „Ideal" sind Begriffe, die wir von der Antike geerbt haben. Es ist nicht möglich, die klassische Antike nur als ein Stück Geschichte zu betrachten, denn Erziehung war, wie Jaeger schreibt, seit ihren Anfängen immer eng verbunden mit dem Studium der alten Welt. In den folgenden Epochen habe man immer die klassische Antike als eine unerschöpfliche Fundgrube von Wissen und Kultur betrachtet - zunächst als eine Sammlung wertvoller Werke und Künste, später dann als eine Welt der Ideale, denen man nacheifern sollte. 17 13 Christopher Dawson, The Historie Reality of Christian Culture (New York: Harper & Row, 1960), 18. 14 Werner Jaeger, Paideia: The Ideals of Greek Culture , übers, von Gilbert Highet (New York: Oxford University Press, 1939), xvii. 15 Ebd. 16 Ebd. XVIII. 17 Ebd. XVII.
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III. Unsere Überlegungen verfolgen nicht die Absicht, die Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen oder zwischen Judentum, Christentum und Islam zu untersuchen noch das orientalische mit dem westlichen Denken zu vergleichen. Unsere Arbeit konzentriert sich auf die Identität des Westens vor dem Beginn der Moderne. Die Geschichte soll den Maßstab abgeben. Die Kultur des Westens ist aus Fäden gewoben, die aus Athen, Rom und Jerusalem stammen. Auch wenn die Welt bereits eine lange Vorgeschichte hatte, als die griechische Wissenschaft und Philosophie aufkamen, ist die Originalität dieser Philosophie unumstritten. Trotz gewisser Anleihen bei den Ägyptern und Babyloniern in bezug auf Mathematik und Astronomie entstand die griechische Philosophie, ohne von anderen Kulturen beeinflußt zu sein. Für die Griechen war die Philosophie die Suche nach theoretischer und praktischer Weisheit. Sie beruhte auf der Annahme, daß die Natur verstehbar und der menschliche Geist kraftvoll genug ist, um den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen. Die Wissenschaft wird um ihrer selbst willen betrieben, und doch liefert sie eine nützliche Technologie, in dem Maße, wie der Mensch lernt, mit den Kräften der Natur umzugehen. Die Weltsicht der griechischen Philosophen war frei vom Nebel der Allegorie und des Mythos, im Gegensatz zu den Denkmodellen des Ostens, die sich auf die Religion stützten. Die volkstümliche griechische Religion, einfach und ohne spekulativen Gehalt, hatte nur geringen oder gar keinen Einfluß auf das Denken der Philosophen. In ihrem Ursprung und ihrer weiteren Entfaltung im Hellenismus war die griechische Philosophie davon bestimmt, mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes die Wirklichkeit zu erkennen. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß es Dinge gibt außerhalb des Verstandes und daß diese sind, was sie sind, unabhängig von menschlichen Vorstellungen oder Bestrebungen. Er sagt uns, daß wir mit genauer Beobachtung und durch Experimente eine gewisse Erkenntnis der Dinge erreichen können. Weiterhin lehrt uns der gesunde Menschenverstand, daß die systematische Erkenntnis der sicherste und zuverlässigste Führer für das menschliche Handeln ist. Diese grundlegenden Einsichten haben die Griechen dazu gebracht, zwischen dem Studium der Natur und dem Studium des Seins im umfassenden Sinn, später Metaphysik genannt, zu unterscheiden. Die Metaphysik hat als ihren Gegenstand nicht nur das materielle Sein, sondern auch die immaterielle Ordnung. Metaphysisches Denken erreicht im Bereich der Wirkursächlichkeit den Ersten Beweger und im Bereich der Zweckursächlichkeit das höchste Gut. 18 18
Joseph Owens, The Doctrine of Being in the Aristotelian Aufl. (Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 1978). 2*
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Piaton lehrte, daß die Natur verstehbar ist als die Wirkung des nous (Vernunft), eines gottähnlichen Baumeisters. Es gibt, so betonte er, jenseits der Erscheinungsform der Dinge eine Realität, die wirklicher ist als jene, die äußerlich den Anschein von Wirklichkeit weckt. Hinter dem fortwährenden Fluß des Werdens gibt es Dauerhaftigkeit und Universalität. Die Existenz solcher Universalien wie Gutheit, Wahrheit und Schönheit ist der Schlüssel zu Verstehen und Weisheit. Piaton dachte sich diese Universalien als Archetypen oder Ideen, die die Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, in verschiedenem Maße widerspiegeln. Augustinus, der dem Neuplatonismus seiner Zeit viel verdankte, sieht diese Ideen im Geiste Gottes als schöpferische Ideen. Sowohl Piaton als auch Aristoteles widerlegten die Behauptung der Sophisten, daß Sittlichkeit einzig auf sozialen Konventionen beruhe und daß „Macht Recht schaffe": es gebe bestimmte allgemeine Prinzipien des Guten und der Gerechtigkeit, die der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft entdecken könne. Von Natur aus ist der Mensch ein sittliches und soziales Wesen, das nicht von den Mitmenschen abgesondert leben kann. Sittlich sein bedeutet im vollen Sinne Mensch sein. Der oberste Zweck des Staates ist es, den Bürgern zu ermöglichen, das gute Leben zu erreichen. Nach der Lehre des Aristoteles entstehen Lebewesen in einem Prozeß, der auf einen natürlichen Zweck beziehungsweise ein Telos angelegt ist. Es gibt keinen Organismus, der durch Zufall entsteht. Er entwickelt und entfaltet sich von innen heraus, mehrere Stadien durchlaufend und einem Ziel zustrebend, nämlich dem vollkommen ausgebildeten Organismus. Es gibt ein natürliches Ziel des Entwicklungsprozesses. Nicht ohne Grund wird Aristoteles häufig „der Vater der westlichen Wissenschaft" genannt. Die beiden Begriffe des nous und des kosmos weckten die Zuversicht, daß der menschliche Verstand, wenn er sich Mühe gibt, in der Natur eine Ordnung entdecken kann mit Hinweisen, wie sie beherrschbar ist. Im Rückblick kann man den großartigen Realismus des Aristoteles dem im 2. Jahrhundert vertretenen Skeptizismus des Sextus Empiricus gegenüberstellen, der eine lähmende Wirkung auf vorwärtsstrebende Geister hatte und der, weil er das Animalische stärker betonte, schließlich zu einem sinnlosen Gehabe und kulturellen Verfall führte. Die Akademie Piatons und das Lykeion des Aristoteles überdauerten neun beziehungsweise sechs Jahrhunderte. Obwohl Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr. die von Piaton gegründete Akademie schloß, blieb die griechische Philosophie ein wichtiges Element des westlichen intellektuellen und kulturellen Lebens. Sie beeinflußte den Islam und wurde durch diesen Kontakt selbst bereichert. Die ganze europäische Philosophie ist von der griechischen inspiriert. Mit der Auflösung der griechischen Stadtstaaten und der Herrschaft Alexanders und später des Römerreiches entstanden verschiedene Schulen. Einige davon standen im Widerspruch zur Tradition, andere dagegen vertraten die überlieferten Grundanschauungen. Von den vielen Schulen, die in dieser Zeit entstanden, übte vor allem die Stoa auf die westliche Kultur einen tiefgreifenden Einfluß aus. Durch
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den Stoizismus wurde in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten ein großer Teil der griechischen Philosophie an Westeuropa weitergegeben. Der Stoizismus blühte etwa 500 Jahre lang, von den Lebzeiten seines Gründers Zenon (340-265 ν. Chr.) bis zum Tode des römischen Kaisers Marcus Aurelius (121 -180 n. Chr.). Die Stoiker lehren, daß das Weltall von Gesetzen der Vernunft regiert wird, die der Natur immanent sind. Der weise Mensch lebt im Einklang mit der Natur. Er bestimmt sein Verhalten, geleitet vom Verstand, und achtet darauf, seine Gemütsbewegungen in Schach zu halten. Indem er mit der Natur zusammenwirkt, erreicht er ein harmonisches Verhältnis zum Universum. Die vollkommene Tugend und das höchste Gut bestehen im Gehorsam gegen das allgemeine Gesetz der Vernunft. Selbstbeherrschung durch die Vernunft ist das höchste Gut. Der Mensch ist frei, wenn er aus freien Stücken das will, was die Vernunft sagt. Die Menschen sind einander verbunden durch die von allen empfundene Notwendigkeit, dem universellen Gesetz der Vernunft zu gehorchen. Damit ist die Brüderlichkeit aller Menschen anerkannt. Das wahre Gesetz, so lehrte Cicero, ist die rechte Vernunft im Einklang mit der Natur; es ist von allen erreichbar, konstant und ewig. Es ruft zur Pflichterfüllung durch seine Gebote auf und verhindert Täuschung durch seine Verbote (De Republica 3. 2). 1 9 Die Vernunft verbietet den Bürgern oder dem Senat, gegen die Gesetze der Natur zu handeln. Es gibt nur ein Gesetz, unveränderlich und ewig, das alle Völker aller Zeiten umfaßt. Es ist unmöglich, daß es ein Gesetz in Rom und ein anderes in Athen gibt. Diese Auffassung des Gesetzes und die Anerkennung seines göttlichen Ursprungs bestimmte das westliche politische Denken bis zur Zeit der Aufklärung. Erst dann zog man die Idee in Zweifel, daß es ein Gesetz der Vernunft gebe, das ewig, universell und unveränderlich ist. In der Auffassung der Stoa ist das Naturgesetz Gott und den Menschen gemeinsam. Es ist früher als der Staat und alle bürgerlichen Gesetze, die nur Ausdruck dieses natürlichen Gesetzes der Vernunft sind. Der Staat ist nichts mehr und nichts weniger als eine Teilhabe am Gesetz, ein Zusammenschluß von Menschen, der auf der Anerkennung des Gesetzes beruht. In der römischen Staatslehre geht der Mensch dem Staat voraus. So ist die römische politische Philosophie der Ursprung der modernen Auffassung, daß die Regierung auf der Zustimmung des Volkes beruht. Dies steht im Gegensatz zum griechischen Denken, das den Einzelmenschen als nicht vom Staat getrennt betrachtete. Man kann der Auffassung sein, daß die beiden Ideen - die Idee eines allgemeingültigen Gesetzes und die Idee, daß der Staat auf dem Konsens beruht - zusammen die Grundlage der in den vergangenen Jahrzehnten gepriesenen Theorie der individuellen Rechte bildeten. Diese Ideen wurden im Mittelalter von den großen Kano19
Cicero, On the Good Life: [ Selected Writings (London: Penguin Books, 1971).
of] Cicero , übers, von Michael Grant
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nisten übernommen und haben schließlich im englischen common law und im amerikanischen Verfassungsrecht ihren Widerhall gefunden. Dies zu betonen heißt nicht, die Bedeutung der Digesten des römischen Rechts, die im sechsten Jahrhundert von einer von Kaiser Justinian ernannten Kommission gesammelt und veröffentlicht wurden, zu unterschätzen.20 Neben den Digesten sind hierbei noch zu nennen die Institutiones, der Codex, eine Sammlung der damals gültigen Gesetze, und die Novellae, ein Anhang zum Codex, der die Dekrete des Justinian enthielt. Diese Texte haben die Rechtstheorie wie auch die Gesetzgebung in ganz Europa bis in die Zeit der Moderne beeinflußt. IV. Man kann vom Westen nicht sprechen, ohne das Christentum in Betracht zu ziehen. Vorbereitet von den Griechen, die Gott als den Inbegriff der kosmischen Vernunft, und von den Juden, die Gott als Inbegriff der Vollkommenheit sahen, war der westliche Mensch dazu bereit, in der Menschwerdung Jesu die Verkörperung vollkommener Weisheit und vollkommener Gerechtigkeit zu sehen. Der christliche Glaube lehrt, daß der Mensch Geschöpf Gottes ist, daß zu ihm wesentlich ein geistiges Sein gehört mit einer transzendenten Natur und Bestimmung. Jenseits des Reiches des Menschen liegt das Reich Gottes. Der Begriff des Naturgesetzes, so wie die Stoiker ihn entwickelt hatten, wurde ausdrücklich mit dem göttlichen Gesetz identifiziert. Die Brüderlichkeit der Menschen wurde zur Brüderlichkeit der Menschen, weil Gott unser Vater ist. Der christliche Glaube betont die unbedingte Anerkennung eines persönlichen Gottes und der göttlichen Vorsehung. Gott leitet die Welt mit liebevoller Fürsorge. Er hat sich selbst den Menschen durch die jüdischen Propheten und in der Person Christi offenbart. In ihrer judäischen Phase dürfte die Christenheit überlegt haben, ob ihr Glaube die Religion nur eines Volkes sei. Aber bald hat sie verstanden, daß das Evangelium sich an alle Menschen und alle sozialen Klassen wendet. Das Christentum hat die Traditionen des Römischen Reiches geerbt. Infolge seines missionarischen Charakters wurde die Kultur des Mittelmeerraumes bis zu den barbarischen Völkern des Nordens verbreitet, die bis zur Ankunft des Christentums keine geschriebene Literatur, keine Städte, keine Steinbauten kannten. Einzig durch das Christentum wurden die Elemente einer höheren Kultur dem Norden vermittelt mit der Folge, daß das westliche Europa seine Einheit und Formung fand. Aus diesen Elementen - dem hebräischen Sinn für Gerechtigkeit, dem Evangelium der Liebe, dem griechischen Vertrauen auf den menschlichen Verstand und dem hellenistischen Asketentum - bildeten die Kirchenväter ein organisches 20
Justinian, The Digest of Roman Law: Theft, C. F. Kolbert (New York: Penguin Books, 1979).
Rapine, Damage, and Insult, übers, von
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Ganzes, das wir unter dem Namen „Christentum" kennen. Der Historiker John H. Randall Jr., der von einem rein weltlichen Standpunkt aus schrieb, hat dies erkannt: Auf die barbarischen Völker wirkten der christliche Glaube und die antike Kultur als etwas Lebendiges und Schönes, das anziehend war, das sie aber jahrhundertelang nicht zu begreifen imstande waren. Als die allmähliche Entwicklung des sozialen Lebens so weit vorangeschritten war, daß sie sich all dies aneignen konnten, sahen sie hierin Möglichkeiten, die ihren eigenen Aspirationen und Energien entsprachen. Seit dem 13. Jahrhundert schließlich war der westliche Geist fest in der christlichen Ideenwelt verwurzelt. 21 Randall fügt hinzu, daß diese mittelalterliche Synthese eine große Anziehungskraft auf jene ausübt, die genug haben von den ständigen Auseinandersetzungen heute und der Verwirrung überdrüssig geworden sind. 22 Das Christentum nahm seinen Ursprung, so schreibt Randall, in der halb-orientalischen Welt der großen hellenistischen Städte, wo es neues Leben und neue Hoffnung jenen Bevölkerungsgruppen und Einzelnen versprach, denen die materialistische und seelenlose Kultur des Römischen Reiches geistig nichts mehr zu bieten hatte. Die Muttersprache der Kirche war das Griechische; ihre theologische Entwicklung verdankte sie hauptsächlich den ökumenischen Konzilien, die in Kleinasien stattfanden, und den östlichen Theologen.23 Die Annahme der Lehre Jesu gab den westlichen Völkern ihre geistigen Werte, ihre sittlichen Normen und ihre Auffassung eines göttlichen Gesetzes, aus dem alle menschlichen Gesetze letztlich ihre Gültigkeit und ihre Sanktionskraft schöpfen. Nach Dawson ist es nicht übertrieben zu sagen, daß die christliche Kultur den westlichen Menschen und die westliche Lebensweise hervorgebracht habe. Freilich, wir müssen, meint er, zugleich einräumen, daß der westliche Mensch der christlichen Tradition nicht die Treue gehalten hat. 24 Trotz des gemeinsamen Erbes kam es in Europa jahrhundertelang zu zerstörerischen Konflikten. In seinem Versuch, den angelsächsisch-deutschen Antagonismus im späten neunzehnten und im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu verstehen, schreibt Paul Knaplund: Wie diese großen Nationen Rivalen und schließlich Feinde geworden seien, dies zu erklären, sei eine Herausforderung für die Historiker gewesen und werde es wohl immer bleiben.25 21 John H. Randall Jr., The Making of the Modern Mind (New York: Houghton Mifflin, 1940), 49. 22 Ebd. 23 Vgl. Irena Backus (Hg.), The Reception of the Church Fathers in the West: From the Carolingians to the Maurists, 2 Bde. (Leiden: E. J. Brill, 1997). 24 Dawson, Christian Culture , 17. 25 P. Knaplund (Hg.), Letters from the Berlin Embassy : Selections from the Private Correspondence of British Representatives at Berlin and Foreign Secretary Lord Granville , 1871 -1874, 1880-1885, Annual Report of the American Historical Association for the Year 1942 (Washington, D. C.: American Historical Association, 1944), 5.
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In seinem Buch über Europa zögert de Rougemont, Europa mit dem Christentum zu identifizieren, wie dies Belloc oder Novalis getan haben, aber er wirft eine geschichtlich interessante Frage auf: Weshalb war Europa der einzige oder der erste Teil der Welt, der diese Religion annahm, die aus dem Nahen Osten und nicht aus Europa selbst kam? 26 Gewöhnlich antworten die Christen auf diese Frage, daß Christus in der Fülle der Zeit gekommen ist, als der Westen geistig dafür vorbereitet war, die Wahrheiten der göttlichen Offenbarung zu empfangen. De Rougemont wirft darüber hinaus noch eine weitere Frage auf: Steht die Identifikation mit Europa nicht dem universalen Anspruch des Christentums entgegen, nämlich eine überzeitliche Wahrheit zu verkünden, die nicht auf Europa beschränkt sei und worauf es auch keine exklusiven Ansprüche besitze?27 V. Zu diesen vielfältigen Überlegungen über die Identität des Westens - sie erinnern an die Farbenpracht in den Werken Chagalls - könnte man eine zehnbändige Arbeit mit wissenschaftlichem Apparat schreiben. Es sind Impressionen, die, wie ich meine, dem Verlauf der Geschichte nahekommen. Sie lassen Platz für andere Ideen. Wie Martin Marty schreibt, brauchen wir unsere Geschichte, um unsere Identität zu begreifen. 28 Diese Überlegungen sind freilich nur Anhaltspunkte. Es steht fest, daß es im Zeitalter der Aufklärung innerhalb der sogenannten Kultur des Westens einen einschneidenden Bruch mit der Antike gegeben hat. Die ererbten sakralen und politischen Ordnungen, durch Thron und Altar versinnbildet, wurden verworfen zugunsten dessen, was heute als „Moderne" bezeichnet wird. Der Konflikt fand im 18. Jahrhundert keine Lösung. Der Kampf um die Seele des Westens geht weiter. Ist der Mensch ein rein materieller Organismus ohne eine Bestimmung über das Grab hinaus oder ist er eine materiell-geistige Wirklichkeit mit einem transzendenten Ziel? Gibt es eine ewige Ordnung, der er Rechenschaft schuldet? Die Antwort der Moderne ist nur eine Antwort unter vielen. Aber man muß ganz verschiedene Linien betrachten. Das Studium der Antike, des Mittelalters und der Renaissance erinnert uns daran, daß viele Jahrhunderte hindurch der Westen von Prinzipien gelebt hat, die andere waren als diejenigen der Aufklärung. Obwohl die Moderne etwas Anziehendes besitzt, braucht man eine viel breitere historische Perspektive, um den Westen zu verstehen. Um das moderne Denken zu begreifen, muß man seinen Werdegang untersuchen und es in seinem breiten intellektuellen und sozialen Milieu studieren, wo es entstanden ist. Vor allem muß man, um die Moderne zu verstehen, sie auf dem Hintergrund dessen sehen, was sie verwarf und ersetzen wollte. In seiner verdienstvollen Schrift The Making of the Modern Mind widmet J. H. Randall Jr. die ersten 250 Seiten einer Beschreibung des 17. und 26
De Rougemont, Meaning of Europe, 16. ? Ebd. 28 Marty, One and the Many, 102. 2
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18. Jahrhunderts, d. h. dem unmittelbaren Kontext der Aufklärung. Gemäß dem Untertitel seines Werkes geht es um einen Überblick über den geistigen Hintergrund der heutigen Zeit. Christopher Dawson, ein auch in Philosophie und Theologie bewanderter Gesellschaftshistoriker, war der Überzeugung, daß für den Westen der Versuch kennzeichnend war, sich von den religiösen Wurzeln zu trennen, die den europäischen Völkern eine moralische Einheit gegeben hatten. Ob man nun Randall und Dawson zustimmt oder nicht, die Suche nach der Identität des Westens kann nicht von der Geschichte getrennt werden, die mit den Griechen anfängt. Man mag die Geschichte von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, aber die geschichtlichen Daten stehen jedem zur Verfügung, der sich mit uns auf den Weg der Forschung begibt. Die oben erwähnte Empfehlung des Livius sollte ernst genommen werden. Wie haben unsere Vorfahren gelebt?
Der Verlust der Religion und das Problem der Säkularisierung I.
Der in neuerer Zeit in Nordamerika erfolgte Umschwung von einer vornehmlich protestantischen zu einer säkularen und humanistischen Kultur hat für den religiösen Menschen neue Probleme hervorgerufen. Der religiöse Mensch sieht sich nicht länger vor die Aufgabe gestellt, das eigene Verständnis des Christentums oder des Judentums gegenüber anderen Religionen zu definieren. Vielmehr erblickt er seinen Auftrag darin, Glauben und religiöse Praxis gegen feindselige säkulare Angriffe zu verteidigen. Man muß wohl über ein großes Wissen und Unterscheidungsvermögen verfügen, um den vollen Umfang dieser Bedrohung für die Religion zu erkennen, aber es bedarf keiner großen Anstrengung, um ihre negativen sozialen Folgen zu erkennen, nämlich eine weitverbreitete Auflösung des Einflusses der Religion. Sie wird spürbar in der besorgniserregenden Zunahme der Promiskuität, von Abtreibungen und Ehescheidungen, in der weitverbreiteten Billigung von Pornographie und Homosexualität sowie in der wachsenden Duldung von abweichendem Verhalten, das von zivilem und religiösem Ungehorsam bis zum Drogenmißbrauch reicht. Das Schwinden biblischer Moralität äußert sich unwillkürlich im Verlust einer gewissen Loyalität zu den Werten der Familie. Mehr unterschwellig vollzieht sich der Verlust von Werten in den Schulen, weil grundlegende Elemente einer westlichen und weitgehend christlichen Sicht vernachlässigt oder aufgegeben wurden. Betroffen sind die humanistische Bildung, die klassischen und einige moderne Sprachen, Geschichte, Philosophie und Theologie, alles Disziplinen, die dazu beitragen, daß die geoffenbarte Religion aufgenommen und weiter entwickelt werden konnte. Außerdem hat die säkulare Gesinnung mit ihrer Deutung der Religion sich durchsetzen können, daß die Aufgabe der Religion hauptsächlich darin bestehe, sich um die physischen und ökonomischen Bedürfnisse benachteiligter Bevölkerungsschichten zu kümmern. Die Folge dieser Vernachlässigung ihres geistigen Erbes zugunsten eines sozialen Aktivismus war, daß es in weiten Kreisen der Christenheit versäumt wurde, mit hinreichender Klarheit und einheitlicher Stimme den Glauben zu verkünden und die Gläubigen sicher zu führen. Wie vielfach festgestellt wurde, kann eine Gemeinschaft nicht lange überleben ohne einen Kern gemeinsamer Überzeugungen. Ein Teil der sozialen Spannungen, die jetzt in Nordamerika aufgebrochen sind, widerspiegelt einen tieferen Konflikt
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zwischen religiösen und säkularen Auffassungen. Um zu verhindern, daß das Säkulare das Religiöse ganz verdrängt und zum Maßstab des Denkens und des Verhaltens wird, müssen sich die Vertreter der religiösen Überzeugungen bewußt der Herausforderung stellen. Die Gedanken, die im folgenden vorgelegt werden, sind ein Versuch, die Ursachen zu verstehen, die für die gegenwärtige Schwäche des religiösen Geistes verantwortlich sind, und die Perspektiven für die Zukunft darzulegen. II. Seit mindestens zwei Jahrhunderten hat sich unter den Intellektuellen der westlichen Welt eine skeptische Haltung gegenüber der christlichen Lehre breitgemacht. Bereits im 19. Jahrhundert stellte Nietzsche fest, daß die westliche Kultur nicht länger die geistigen Ressourcen besitze, die früher ihre Existenz gerechtfertigt hätten und ohne die sie, wie er meinte, nicht überleben könne1. Noch beunruhigender ist es, daß dieser Verlust des Sinnes für die Religion auch unter den einfachen Leuten eingetreten ist. In mehr als nur einer Hinsicht ist das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts das mißratene Produkt der Französischen Aufklärung 2. Ansichten, die im 18. und 19. Jahrhundert in den Salons und Akademien jener Tage die Runde machten, haben jetzt die Marktplätze erobert. Diderot gab den Ton an, als er im Vorwort seiner bekannten Enzyklopädie schrieb, alles müsse untersucht, an allem müsse ohne Ausnahme und Nachsicht gerüttelt werden. Voltaire plädierte für die Ausrottung des Christentums aus der Welt der höheren Kultur. Er war aber geneigt, es bestehen zu lassen in den Ställen und Spülküchen, und zwar hauptsächlich als eine sittliche Kraft, damit die Klasse der Dienstboten, von den Quellen der traditionellen Moral emanzipiert, nicht anfangen würde zu stehlen und zu plündern. Genau wie Diderot war er der Überzeugung, daß der kritische Geist erst dann seine konstruktive Aufgabe leisten könne, wenn er den Menschen von den Fesseln des traditionellen Glaubens befreit hat. Es gebe Zeiten, so schreibt er, in denen man zerstören müsse, bevor man aufbauen könne. Voltaire gab ohne weiteres zu, daß seine Haltung intolerant war, aber seine Intoleranz sei gegen eine Intoleranz gerichtet. Jeremy Bentham meinte, daß der Staat sich aktiv einsetzen sollte, um die Religion auszurotten. John Stuart Mill, sein Schüler, lehnte das Christentum ab, aber nicht eine Menschheitsreligion, die, wie er glaubte, vom Standpunkt des Staates 1
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche war im 19. Jahrhundert ein einflußreicher Kritiker der Kultur seiner Zeit und besonders des Christentums. Die Werke Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887) sind eine umfassende Kritik der westlichen Kultur. 2 Für eine geschichtliche Darstellung und Deutung der Französischen Aufklärung, die von der hier vertretenen abweicht, vgl. John H. Randall Jr., The Making of the Modern Mind (New York: Houghton Mifflin, 1940). Randalls Sichtweise ist rein naturalistisch. Er teilt die Thesen vieler der von ihm analysierten Theorien.
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aus nützlich sein könne. Auguste Comte zeigte größeres Wohlwollen dem christlichen Leben gegenüber als Voltaire oder Mill. Obwohl er jedwede metaphysische Geltung des religiösen Glaubens verneinte, war er bereit, die sittlichen und rituellen Traditionen, jedenfalls des katholischen Christentums, als ein gesellschaftliches Gut zu akzeptieren. Emile Dürkheim, der den Geist der Aufklärung vom ausgehenden 19. in das beginnende 20. Jahrhundert hinüberführte, dachte nicht so positiv über das Christentum. Nach seiner Meinung ist es eine wichtige Aufgabe des Staates, die Individuen aus Gemeinschaften wie der Familie, den religiösen Vereinigungen, den Gewerkschaften und Berufsvereinen zu befreien. Der moderne Individualismus, so meinte er, könne nur existieren, wenn man verhindere, daß die Individuen in sekundären oder intermediären Gruppen aufgehen. Feuerbach, dessen Materialismus einen bedeutenden Einfluß auf Marx und ebenso auf Freud hatte, betrachtete es als eine Aufgabe der Vernunft, die Illusion der Religion zu zerstören, eine Illusion, die jedoch keineswegs gering an Bedeutung sei, aber deren Einfluß auf die Menschheit sich als höchst verderblich erweise. Freud griff dieses Thema auf. In seinem Buch Die Zukunft einer Illusion beschreibt er den Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen den „Feind" Religion 3 . Die wissenschaftliche Kritik habe der Beweiskraft religiöser Dokumente den Boden entzogen. Die Naturwissenschaften hätten die Irrtümer, die sie enthalten, nachgewiesen. Vergleichende Studien hätten überraschend fatale Ähnlichkeiten zwischen religiösen Vorstellungen, die wir schätzen, und denjenigen bei primitiven Völkern und Zeiten festgestellt. Der religiös gesinnte Mensch habe dies erkannt und versucht, durch einen Rückzug auf sich selbst sein Image wieder aufzubessern. [ . . . ] Diesseits des Atlantiks konnte man viele dieser Ideen, wie das 20. Jahrhundert sie zum Ausdruck brachte, in den Werken von John Dewey finden, einem Philosophen, der eine wichtige Rolle spielte in der Entwicklung der Erziehungswissenschaften und der Gesellschaftspolitik in Amerika. In seiner Theorie der Pädagogik räumte Dewey der Religion oder religiösen Einrichtungen keinen Platz ein, ohne Rücksicht darauf, welche Rolle sie in der Vergangenheit gespielt haben. Er meinte, daß die Religion eine unzuverlässige Quelle der Erkenntnis und, trotz gegenteiliger Behauptungen, auch der Motivation sei. Er anerkannte zwar, daß viele der Werte, die den Gläubigen am Herzen liegen, beachtenswert seien und nicht preisgegeben werden sollten, aber er trat dafür ein, für diese empfehlenswerten Ziele eine angemessene rationale Rechtfertigung zu suchen. Mit seiner Religionskritik wollte Dewey nicht nur die Kirche jeden politischen Einflusses berauben, sondern sie auch als einen wichtigen Faktor im Privatleben ausschalten. Die Religion, dachte er, sei für die Gesellschaft gefährlich, insofern sie einem göttlichen Gesetz ver3
Freuds Angriff gegen die Religion, besonders gegen das Christentum, findet man verstreut in seinen Schriften, aber hauptsächlich in Die Zukunft einer Illusion. Für ein kritisches Studium Freuds vgl. Rudolph Allers, The Successful Error (New York: Sheed & Ward 1940). Zum Kontrast zwischen der Freudschen und der christlichen Auffassung über den Menschen vgl. Reinhold Niebuhr, The Nature and Destiny of Man, Bd. 1 (New York 1943).
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pflichtet sei und versuche, das persönliche und gesellschaftliche Verhalten in Einklang zu bringen mit Normen, die sich an einer transzendenten Wirklichkeit orientieren und deshalb das Leben in der Gesellschaft hier vernachlässigen4. Zur selben Zeit fand eine Reihe von Ideen, die für die Französische Aufklärung charakteristisch waren, Anhänger in einflußreichen akademischen Kreisen in Amerika. Die Schulen bekamen andere Trägerschaften. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die sogenannten „land-grant colleges"5. Weil diese Schulen nicht von religiösen Einrichtungen getragen waren und keine religiöse Identität besaßen, reflektierten sie die herrschende säkulare Geisteshaltung der Intellektuellen. Zu gleicher Zeit verloren die älteren, von den Protestanten gestifteten Hochschulen ihre konfessionelle Zugehörigkeit. Während noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fast jeder bedeutende Lehrstuhl für Philosophie in den USA mit einem Vertreter des Idealismus besetzt war, dessen Philosophie das Christentum stützen sollte, hat sich die Lage rasch geändert. Im Jahre 1916 war fast jeder Lehrstuhl von Vertretern des Naturalismus besetzt, deren Philosophie von einem doppelten Ansatz bestimmt war: erstens, daß die Natur durch sich selbst einsehbar sei und der Mensch seinen Ursprung, seine Entwicklung und seinen Verfall in der Natur habe, und, zweitens, daß die Wissenschaft, so wie sie idealtypisch in der mathematischen Naturwissenschaft praktiziert wird, die einzig verläßliche Forschungsmethode sei. Um es mit den Worten eines der Verfechter dieser Meinung zu sagen: Die Evidenz für die Existenz Gottes ist genauso groß wie für die Wirklichkeit von Gnomen und Feen. Jede Erklärung des Übergangs vom Idealismus zum Naturalismus muß in Rechnung stellen das weitverbreitete Vertrauen in gewisse soziale Theorien, die aus Europa kamen, in die Entdeckungen Darwins, in die Sichtweisen Freuds und in eine Art biblischer Gelehrsamkeit, die dazu neigte, die Einzigartigkeit des Christentums in Zweifel zu ziehen. Obwohl diese Ideen keine unmittelbaren sozialen oder kulturellen Auswirkungen hatten, wurde die Wissenschaft von ihrer christlichen Herkunft abgeschnitten. Nach Art der Aufklärung fing man an, sich selbst eher als Kritiker etablierter Institutionen denn als Träger einer Tradition und Kultur zu verstehen. Dewey und seine Schüler setzten Wissenschaft mit „kritischem Verstand" gleich. Ernest Nagel, dessen Arbeiten auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie Generationen von Studenten beeinflußt haben, veröffentlichte vor Jahren ein Buch mit dem Titel „Sovereign Reason"6. Alles, was bis jetzt als heilig galt, sollte mit empirischen Methoden untersucht werden. Es dauerte ein bis zwei Generationen, bis diese Kritik die 4 Von den vielen Werken Deweys seien folgende erwähnt, die einen Grundriß seiner Philosophie bieten: Experience and Nature (Chicago: Open Court, 1925); Theory of Valuation (Chicago: University of Chicago Press, 1939), und Reconstruction in Philosophy (New York: New American Library, 1939). 5 Neue Gesetze überließen den Staaten der Union Gelände, das im öffentlichen Besitz war, um dort höhere Schulen zu gründen, besonders für den Unterricht der Landwirtschaftskunde und der Technik. [Anm. des Hrsg.] 6 Sovereign Reason (Glencoe, 111.: Free Press, 1954).
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Handbücher erreichte, die in den Grund- und weiterführenden Schulen in Gebrauch waren. Eine Überprüfung dieser Bücher würde ergeben, daß sie nicht im Geiste der Neutralität geschrieben sind, sondern aus einer Perspektive verfaßt wurden, die den Säkularismus fördert und die in den letzten Jahren in allen sozialen und politischen Angelegenheiten wirksam geworden ist. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die öffentlichen Schulen überwiegend protestantisch. Von Beginn der Republik an war ihr protestantischer Charakter selbstverständlich. Aus Unzufriedenheit mit den protestantischen öffentlichen Schulen entstand das System der katholischen, an Pfarreien gebundenen Grundschulen. Diese Unzufriedenheit zusammen mit der massiven europäischen Einwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war verantwortlich für die Entstehung eines doppelten Erziehungssystems. Aber nach dem II. Weltkrieg wurde der protestantische Charakter der öffentlichen Schulen in Frage gestellt. Die säkulare Philosophie der akademischen Kreise machte sich bemerkbar in einer Reihe von Entscheidungen des amerikanischen Obersten Gerichtes. In seinen Entscheidungen zu religiösen Fragen berief sich das Gericht gewöhnlich auf das First Amendment, das dem Staat jedwede Bindung an religiöse Gruppierungen und Kirchen untersagt. Seit 1947 aber begann das Gericht, in dieses Amendment Dinge hineinzulesen, die von den Gründungsvätern nicht vertreten wurden und die sogar mit den Auffassungen der meisten von ihnen im Widerspruch stehen. Es ist hier nicht der Ort, um diese These weiter zu verfolgen, aber man kann nachweisen, daß im Verlauf von etwas mehr als 40 Jahren die Entscheidungen des obersten Verfassungsgerichts de facto die öffentliche Erziehung säkularisiert haben. Während die Schulen früher grundlegende protestantisch-christliche Werte pflegten durch ihre Tradition des gemeinsamen Gebets, der Bibellektüre, den Gebrauch von Textbüchern wie des McGuffy-Lesebuchs und die Feier religiöser Feste, werden diese Werte nicht länger ausdrücklich gepflegt. Sicherlich hat das Gericht den Unterricht über Religion oder die Lektüre der Heiligen Schrift als eine Form der Literatur nicht verboten, aber es kann keinen Zweifel geben, daß der Bezug zum protestantischen Christentum im Lehrplan nicht nur in Frage gestellt, sondern sein positiver Einfluß daraus entfernt wurde. In den Schulen wurde der Protestantismus ersetzt von einem säkularen Humanismus, der keine Religion, sondern eine Ideologie ist, die eine Metaphysik, eine Erkenntnislehre und eine Ethik mit antireligiösen Implikationen für die Gesellschaft und den Einzelnen enthält. Bezeichnend ist auch die Weigerung des Gerichts, den Zusammenhang zwischen Schule und Elternrecht anzuerkennen, wonach die Kinder im Einklang mit dem Glauben der Eltern erzogen werden sollen. Unter den jetzigen Bedingungen verfügen die Eltern über Optionen in bezug auf die Wahl der Schulen nur unter der Bedingung, daß sie auf ihren Anspruch auf eine vom Staat aus Steuermitteln getragene Schule verzichten und finanziell in der Lage sind, die Kosten für eine private Erziehung aufzubringen. Zur selben Zeit, als die Kontrolle der Eltern abnahm, hat die säkulare Kontrolle des Bundesstaates zugenommen. Er hat die Möglichkeit,
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soziale Ziele der Regierung in Programme zu fassen, die die Haltungen der Schüler verändern. Man kann sagen, daß in dem Maße, als der religiöse Einfluß zurückging, der Einfluß des Staates, und zwar im Sinne eines säkularen Dogmatismus, zugenommen hat. Nach dem Urteil von Christopher Dawson ist die säkulare staatliche Schule ein Instrument der Aufklärungsideologie 7. Insoweit der Staat im Bereich der Erziehung die ersten Rechte beansprucht, sind die Schulen zum Sitz einer neuen Ideologie geworden: der Ideologie des Säkularismus. Andere Autoren sind der Meinung, ein säkularer Staat brauche eine säkulare staatliche Schule; jedoch bedeute die Säkularisierung des Staates nicht die Säkularisierung der Gesellschaft. Wie von Walter Berns dargelegt wurde, teilte Rousseau jedoch diese Meinung nicht. Washington und sogar Jefferson hatten diesbezüglich ihre Zweifel, und Madison sprach von der Notwendigkeit verschiedener religiöser Bindungen. Die Erfahrung kann uns hier nicht weiterhelfen, weil wir keine Erfahrung haben, was es bedeutet, in einem völlig säkularisierten Klima zu leben8. Erst in unseren Tagen nähern wir uns einem säkularen Staat. Obwohl viele Entscheidungen des Verfassungsgerichts im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung der Bürger standen, begann die öffentliche Meinung in den letzten Jahren auf die Linien einzuschwenken, die das Gericht und jene Eliten, die dahinterstanden, vertraten. Amerika ist eine gleichgeschaltete Gesellschaft geworden, in welcher es für den Einzelnen oder eine soziale Gruppe schwierig ist, die eigenen Wertorientierungen oder eine unabhängige Lebensweise aufrechtzuerhalten. Der Staat, der fast ein Monopol in der Erziehung erlangt hat, und die von den Medien geförderte Uniformität haben in der amerikanischen Gesellschaft entscheidende Veränderungen hervorgerufen. Dieses Szenarium scheint darauf hinzudeuten, daß religiöse Bildung nur erreicht werden kann ohne die Unterstützung und oft genug gegen die Einmischung des Staates. Einst betrachteten die Amerikaner, wie de Toqueville berichtet, die Religion als unentbehrlich für das Funktionieren republikanischer Institutionen. Dieser Befund kann heute nicht mehr erhoben werden. Wenn der religiöse Mensch wieder eine geistige Führung zurückgewinnen will, muß er zuallererst die Exzesse des aufklärerischen Geistes, die jetzt in unserer westlichen Kultur so einflußreich sind, verstehen und ihnen entgegenwirken. Er wird hierzu nur in der Lage sein, wenn er Abstand nimmt von all dem, was tagtäglich auf einen zukommt, um einen objektiven Maßstab zu gewinnen für die Einordnung der Vergangenheit und dessen, was sie geleistet hat, um sich dann in Kenntnis der Situation mit der Gegenwart auseinanderzusetzen.
7 Für eine Auswahl der Werke Dawsons s. Christianity and European Culture , hg. Gerald J. Russello (Washington DC: The Catholic University of America Press, 1998). 8 Walter Berns, The First Amendment and the Future of American Democracy (New York: Basic Books, 1976), S. 18.
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III. Im Hinblick auf die Bedeutung der Tradition und ihrer Weitergabe hat Alasdair Maclntyre eine hilfreiche Analyse vorgelegt. In seinen Büchern Whose Justice, Which Rationality? und Three Rival Versions of Moral Enquiry 9 legt er dar, daß „philosophische Theorien den Begriffen und Auffassungen, die in der Praxis und in der Gemeinschaft schon vorhanden sind, einen organisierten Ausdruck verleihen. Sie schaffen Verständnis für die in einer Gemeinschaft lebendigen Auffassungen und ermöglichen damit eine rationale Kritik und eine weitere vernünftige Entwicklung derselben" 10. Maclntyre spricht von der „Illusion der Autonomie des philosophischen Denkens". In Wirklichkeit, so gibt er zu bedenken, sind Theorien über Gerechtigkeit und praktische Vernunft nur Aspekte der Bindung an eine Tradition, die spezifische soziale Beziehungen mit sich bringt, jede mit eigener Rechtfertigung und Interpretation. Ideen haben nicht nur Konsequenzen, sie brauchen auch einen geeigneten Nährboden. Man kann Aristoteliker oder ein Anhänger von Hume sein, aber nicht beides zusammen. Die Praxis zeigt, daß man weder ohne eine entsprechende gesellschaftliche Organisation noch ohne einen Staat (polis) auskommen kann. Die Bedingungen, unter denen die Gerechtigkeit nach Aristoteles gestaltet werden muß, sind andere als jene, unter denen dies nach der Theorie von Hume geschehen kann. Maclntyre würde sagen, beide Traditionen bestehen als aktuelle Formen des praktischen Lebens und haben eine große Anhängerschaft, auch wenn nur wenige sich der Quellen bewußt sein dürften, aus denen die Auffassungen über die Gerechtigkeit und die praktische Vernunft stammen. Jeder Mensch sieht sich einer Reihe miteinander wetteifernder Positionen und Traditionen gegenüber, die im heutigen gesellschaftlichen Dialog einen mehr oder weniger passenden Ausdruck gefunden haben. Alle haben ihre je eigenen Redewendungen, Argumente und Debatten, und alle erheben Anspruch auf die Loyalität ihrer Anhänger. 11 In seinem jüngsten Buch macht Maclntyre drei größere miteinander konkurrierende Traditionen aus: den Rationalismus des 19. Jahrhunderts, den Subjektivismus von Nietzsche und die aristotelisch-thomistische Tradition. Nach Ansicht Maclntyres gibt es Gründe, um den je eigenen Rahmen des Diskurses beizubehalten. Eine authentische intellektuelle Begegnung findet nicht statt und kann sich nicht ereignen auf allgemeine und abstrakte Weise. Je größer das Publikum ist, das wir erreichen wollen, desto weniger können wir den einzelnen ansprechen. Maclntyre räumt ein, daß heute die meisten Menschen irgendwo zwischen einander widersprechenden Traditionen stehen, daß wir aber nicht imstande sind zu verstehen, worum es geht, wenn die entgegengesetzten Traditionen nicht klar hervortreten. Im Sinne Maclntyres kann man in Hume ein Symbol der Aufklärung 9
Alasdair Maclntyre, Whose Justice, Which Rationality? (University of Notre Dame Press, 1988); Three Rival Versions of Moral Enquiry (University of Notre Dame Press, 1990). 10 Maclntyre, Whose Justice. 11 Maclntyre verteidigt seine These in den Schriften Whose Justice und Three Rivals.
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sehen, genau wie bei Diderot oder Voltaire. In der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie sind die wichtigsten alternativen Auffassungen ein von Hume inspirierter Empirismus einerseits und der aristotelische Realismus andererseits. Um sich eine Tradition anzueignen, sind bestimmte Geisteshaltungen erforderlich. Respekt für die Vergangenheit ist an die Überzeugung geknüpft, daß die Alten über die Jahrhunderte hinweg etwas zu sagen haben über die menschliche Natur, die in ihrem Wesen zeitlos ist. Die Bedeutung der Vergangenheit wurde von den Enzyklopädisten nicht geleugnet. In ihrer Achtung für die humanistische Bildung kann man sie schwer überbieten, aber es handelte sich um eine selektive Anerkennung. Die Urheber der Aufklärungsphilosophie suchten bewußt die Grundlagen christlicher Geschichtsschreibung umzustürzen, indem sie die Vergangenheit als gänzlich säkular und nicht als religiös hinstellten. Der Primat Griechenlands bedeutete den Primat der Philosophie, und der Primat der Philosophie wurde darauf verkürzt, als ob die Erkenntnis, daß die Religion die zentrale Frage des Menschen sei, Unsinn wäre. In den Jahrzehnten, als die vorhin erwähnten säkular orientierten Universitäten auf den vom Staat bereitgestellten Grundstücken errichtet wurden, vollzog sich auch die Umorientierung privater Hochschulen mit ursprünglich religiöser Ausrichtung hin zu säkularen Schulen; und die Verpflichtung der Zugehörigkeit des Lehrkörpers zu einer Religion wurde abgeschafft. Die frühere Sorge um die Religion hatte eine gewisse Uniformität des Glaubens zur Folge und eine Einheitlichkeit der Art und Weise, wie der Lehrplan aufgestellt, vorgelegt und durch Untersuchungen weiterentwickelt wurde. Daß die religiös gebundene Universität eine eigene Tradition wissenschaftlicher Forschung verkörperte, kann man an den Strukturen und Lehrplänen der konfessionsgebundenen Seminare in New England ablesen, die zunächst Hochschulen und später hervorragende Universitäten wurden. Man kann dasselbe feststellen, wie Maclntyre bemerkt, bei den schottischen Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts, die eine bestimmte Art protestantischer Tradition in der Forschung vertraten, ebenso bei den niederländischen Universitäten derselben Zeit. Dies kann man beobachten in Löwen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in vielen katholischen Universitäten Nordamerikas in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Als Universitäten ohne religiöse Bindung gegründet wurden beziehungsweise die Prüfung der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft nicht mehr vorgenommen wurde, kam es nicht, worauf Maclntyre hinweist, zu einem pluralen Aufbruch religiöser Anschauungen innerhalb der Universitäten; vielmehr wurden unter der neuen Regelung Universitätsprofessoren ohne jede Berücksichtigung ihrer Glaubensüberzeugung oder ihrer religiösen Bindungen angestellt. Bei der Berufung von Professoren war allein eine bestimmte Auffassung wissenschaftlicher Kompetenz maßgebend, nicht aber ein weltanschaulicher Standpunkt. Eine dementsprechende Auffassung über Objektivität verlangte von den Professoren, den Lehrstoff so zu präsentieren, als ob es wissenschaftliche Standards gäbe, die von sämtlichen Dozenten anerkannt und für alle Studenten zugänglich seien. Die 3 Dougherty
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Universitäten wurden Institutionen, die auf eine fiktive Objektivität verpflichtet waren. Die Rollen wurden als auswechselbar betrachtet, so daß ein Philosophieprofessor von einer säkularen an eine religiös gebundene Universität gehen konnte, ohne seine Vorlesungen zu ändern. Der umgekehrte Weg war nicht immer möglich. Für den Unterricht in den Naturwissenschaften machte dies keinen großen Unterschied, aber in den Humanwissenschaften hat der Verlust des von traditionellen Forschungsweisen geprägten Rahmens den Unterricht jener Kriterien beraubt, die es ermöglichten, einige Texte als wichtiger denn andere zu betrachten. Ohne daß man diesem Prozeß viel Aufmerksamkeit widmete, fand die Säkularisierung wichtiger katholischer Universitäten in den 1960er und 1970er Jahren in einer Weise statt, die daran erinnert, wie die protestantischen Anstalten am Anfang des Jahrhunderts säkularisiert wurden. Angesehene und wohlgesonnene Beobachter haben von einem unvermeidlichen Prozeß gesprochen. In manchen Situationen gerät man fast in Verlegenheit, darauf aufmerksam machen zu müssen, daß es eine weitgehende Inkompatibilität gibt zwischen dem Christentum und der Art und Weise, wie gegenwärtig im Unterricht, in der Diskussion und in den Debatten vorgegangen wird. Bei diesem Sachverhalt müssen die Verfechter der religiösen Tradition, wenn diese überleben soll, erkennen, daß sie in einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden und konfliktgeladenen Weltanschauungen stehen, die Maclntyure „rationalities" nennen würde. Selbst dann könnten sie womöglich nichts ausrichten. Es besteht kein Zweifel, daß religiöse Gemeinschaften viele der großen Erziehungsanstalten, die mit ihrer Hilfe errichtet wurden, verloren haben, ohne Hoffnung, sie zurückzugewinnen. Will man die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft in vernünftiger Weise geltend machen, wird der säkulare Geist selber die Initiative ergreifen müssen.
IV. Dies führt uns zu einer Frage von grundlegender Bedeutung: Müssen wir unsere Gesellschaft von jeder Religion befreien, um in wichtigen Fragen frei zu sein? Die Griechen und Römer waren anderer Meinung. In den alten Zeiten erstrebte der Staat die Einheit der Religion aus Gründen der Selbsterhaltung. In seinem „Timaios" forderte Piaton die Todesstrafe für das hartnäckige Verfechten des Atheismus. Die Verfolgung der Christen durch die Römer wird erklärlich, wenn man die kulturelle Rolle der Religion in ihrer Gesellschaft und den Wert berücksichtigt, den die Römer auf gemeinsame Überzeugungen und gemeinsames Handeln legten. Auch wenn wir heute bestimmte römische Handlungsweisen als abergläubisch bezeichnen würden, wird man zugeben müssen, daß der Grundgedanke, der die Menschen dazu führte, das ganze Leben mit den Göttern in Verbindung zu bringen, ein tiefes Verständnis für die menschliche Natur zeigte, wenn nicht sogar für das Göttliche. Der Augur, der die Zeichen und Perspektiven deutete, um zu bestimmen, ob man in zivilen oder militärischen Bereichen etwas unternehmen sollte, vertrat Denkweisen jenseits dessen, was momentan als nützlich erachtet wurde.
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In frühchristlichen Zeiten wurden von den Christen viele alte Gebräuche übernommen wie heidnische Feste und Riten, und sogar Tempel wurden umgewidmet zu Ehren des Gottes der Bibel. Die Weise, in der die Religion die Jahreszeiten prägte und die wichtigen Lebensphasen feierte, fand ihren Ausdruck in der Kunst, die den Menschen Eleganz und Freude schenkte. Im Lauf der Zeit hat das Christentum einige der größten Kunstwerke, welche die Welt je gekannt hat, hervorgebracht: Gemälde, Architektur, Musik, Dichtkunst und Drama. Das ererbte Vertrauen in die spekulative Vernunft, der Respekt für die natürliche Ordnung und die Hinneigung zur Praxis haben die Entwicklung der Naturwissenschaften begünstigt. Zu ihrer Ausbildung hat die alte Welt zwar den Anstoß gegeben, ohne sie, weil die Zeit dafür noch nicht reif war, verwirklichen zu können. Wie schon die frühen Kirchenväter bemerkt haben, besitzt das Christentum beides, sowohl eine spekulative wie eine praktische Weisheit. Es lehrt uns, wie die Dinge zu betrachten sind, und gibt vor allem Richtlinien, wie wir uns verhalten sollen. Durch die Sakramente ist es imstande, das nicht vermeidliche Versagen des Menschen zum Guten zu wenden und ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ein säkularisierter Geist nimmt an diesen Dingen Anstoß. Während er das, was die Geschichte uns lehrt, unzutreffend deutet, setzt er Wissenschaft und Religion in Gegensatz zueinander, verwechselt Moral mit Religion, und in manchen Fällen, in denen die Verbindung zu klassischer Bildung und zum Christentum abbricht, ist er allen möglichen Modeströmungen ausgesetzt. Abgesehen von einer Weltkatastrophe, wodurch die Menschheit an den Rand ihres Untergangs getrieben würde, ist es schwer vorstellbar, daß es dem Christentum oder dem traditionellen Judentum im 21. Jahrhundert noch schlimmer ergehen könnte als im 20. Jahrhundert. Es trifft zu, daß man das Christentum nicht mit dem Westen identifizieren kann, aber die westlichen Medien und die westlichen Universitäten sind tonangebend für einen großen Teil der Welt. Das evangelische Christentum dürfte seinen Einfluß bewahren und vielleicht vergrößern, indem es den Trost der Heiligen Schrift ins Leben vieler trägt; aber wegen seiner fideistischen Anlage ist es unwahrscheinlich, daß es einen größeren Einfluß auf die geistigen Kräfte der Kultur ausüben wird. Die Medien und die Universität werden wahrscheinlich in säkularer Hand bleiben, eine säkulare Kultur fördern, die es den religiös gesinnten Menschen schwermacht, sich auf einer höheren intellektuellen Ebene zu behaupten oder Einfluß auf die Massen auszuüben. Es gibt jedoch keinen inneren, zwingenden Grund, weshalb dies so sein sollte. Die Tage werden wohl nie wiederkehren, als der Abt von Saint-Denis zugleich Architekt und Regent Frankreichs war und Schöpfer des neuen gotischen Stils wurde, der sich bald über Europa ausbreiten sollte; aber etwas von vergleichbarer Bedeutung könnte sich gleichwohl ereignen. Man möchte hoffen, daß der säkulare Geist, wenn auch nur aus Selbstinteresse und durchdrungen von der Sichtweise eines Auguste Comte, aus seiner Sicht den Wert der Religion begreift. Aber zuvor sollte er in aller Ehrlichkeit den eigenen Status erkennen. Der moderne Atheismus und die Unwissenheit bezüglich Gott 3*
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sind nicht das Produkt einer Bewegung von unten, sondern sie wurden von oben propagiert. Vor einigen Jahren haben Stanley Rothman und S. Robert Lichter vom Research Institute der Columbia Universität eine Untersuchung durchgefühlt, die einen überraschenden Einblick in die Führungsgremien der einflußreichsten Medien gab. Aufgrund der Interviews mit 240 angesehenen Journalisten und Fernsehreportern kamen Rothman und Lichter zu dem Ergebnis, daß eine breite Kluft zwischen der Elite in den Medien und dem Durchschnitt der Amerikaner besteht12. Ein wichtiges Kennzeichen der Medien ist ihre säkulare Orientierung. Nur die Hälfte jener, die gefragt wurden, bekannten sich zu einer religiösen Bindung. Obwohl 23 % in jüdischen Familien aufgewachsen waren, bekannten nur 14 % von ihnen, jüdischen Glaubens zu sein. Einer von fünf identifizierte sich als Protestant, einer von acht als Katholik. Nur 8 % von ihnen gehen jede Woche zur Kirche oder zur Synagoge; 86 % besuchen selten oder nie eine religiöse Veranstaltung. Bezüglich sittlicher und sozialer Fragen sind 90 % der Meinung, daß eine Frau das Recht auf Abtreibung habe, 75 % glauben, daß Homosexualität nicht unsittlich sei, und 85 % verteidigen das Recht der Homosexuellen, in öffentlichen Schulen zu unterrichten. Weniger als 50 % sind der Ansicht, daß Ehebruch schlecht sei, und nur 15 % vertreten dezidiert die Meinung, daß außereheliche Beziehungen unsittlich seien. Die meisten denken, daß die Wirtschaft in unserem Lande einen zu großen Einfluß habe; aber nicht wenige meinen, die Medien sollten noch mehr Einfluß haben, auch wenn man darum weiß, daß dieser bereits sehr groß ist. Allerdings: trotz des Eintretens für die permissive society und der Bestrebungen, jede Autorität und die gemeinsamen Wurzeln in Frage zu stellen, haben sich die Erwartungen der Medien-Eliten nicht durchgesetzt. Die übergroße Mehrheit des Volkes hält am Glauben an Gott fest, auch wenn dieser Glaube unvollkommen ist oder nur vage formuliert wird. Eine Schlußfolgerung drängt sich auf. Wenn sich der religiöse Mensch in seinem ganzen Reichtum behaupten will, dann bedarf er der Unterstützung von hochangesehenen Wissenschaftlern. Christopher Dawson hat einmal bemerkt, daß der säkulare Leviathan nur geistig bekämpft werden kann. Dazu braucht man Wissenschaftler, wie man sie gewöhnlich nur in Forschungseinrichtungen von Universitäten vorfindet. Aber hier bewegen wir uns in einem circulus vitiosus. Während sich die Universitäten mit Begeisterung der Anliegen der Minderheiten und der Feministen angenommen haben, weisen sie beharrlich alle Ansprüche von religiöser Seite weit von sich. Ein von der Philosophie der Aufklärung geprägter Geist ist ganz eindeutig illiberal, wenn es darum geht, alternative Denkarten anzuerkennen, und er ist nicht bereit nachzugeben. Wegen ihres Einflusses auf die Medien-Eliten und das oberste Verfassungsgericht können die akademischen Kreise mit einer künstlich verstärkten Stimme sprechen. Unter ihrem Einfluß hat das Verfassungsgericht als höchster Schiedsrich12
S. R. Lichter, L. Lichter und S. Rothman, Prime Time: How T. V. Portrays American Culture (Washington, D. C.: Regnery, 1994).
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ter in den geistigen Konflikten unseres Volkes die Quellen der überlieferten Kultur verlassen. Das Verfassungsgericht hat nicht gezögert, diesen Weg zu gehen. Breite kulturelle Debatten, die vor keinem anderen Forum eine Lösung finden können, werden zwangsläufig dem Gericht als Verfassungsfragen vorgelegt. Die Fälle werden nicht nur formuliert, sondern auch begründet und beurteilt von Personen, die an den großen Universitäten ihre Ausbildung erhielten. Häufig werden die Streitfragen eigens formuliert, wenn interessierte Gruppen versuchen, einen weiteren Teil des christlichen Erbes auszulöschen. In seinem Aktivismus neigt das Gericht dazu, die Sache im Lichte desselben Zeitgeistes zu entscheiden, der die Frage hervorgebracht hat. Die Verfassung selbst, die geschichtlichen Umstände ihrer Entstehung und die Traditionen des Volkes fallen gar nicht ins Gewicht bei einem Gericht, das sich dem Programm der Sozialtheoretiker für eine Reform im säkularen Sinn verschrieben hat. Man sieht, wie der Kreis sich schließt: die Wissenschaft übt Einfluß auf das Gericht aus, und das Gericht fördert die Ziele der säkularisierten Wissenschaft. Jedoch kann der Kreis an mehr als nur einer Stelle durchbrochen werden. Die Universität ist nicht völlig immun gegen Kritik, und das Gericht selbst hört auf das, was sich im politischen Bereich tut. Kein Trend ist irreversibel. Wenn in den USA die Zuständigkeit für die Erziehung den Gläubigen zurückgegeben würde, ohne daß sie für die freie Ausübung dieses Rechtes finanziell in Anspruch genommen werden, würde die Wahlfreiheit der Eltern mit ihrem Welleneffekt bald den Trend zur säkularen Kontrolle der Erziehung umkehren. Der religiöse Geist könnte dann gleichberechtigt mit dem säkularen Geist wetteifern. Er müßte zwar seine Ideen und seine sittlichen Auffassungen an den Normen der Natur prüfen, aber unter Rückgriff auf seine reiche Tradition und auf die moderne Technik würde er ohne Zweifel imstande sein, eine lebensfähige Alternative für die heute vorherrschende säkulare Mentalität zu entwickeln. Es geht um eine sehr wichtige Sache. Wenn nicht eine sittliche und kulturelle Autorität die Aufmerksamkeit der Menschen erreicht, wird der Westen, weil er die aus der klassischen und biblischen Lehre hervorgegangene spekulative und praktische Weisheit preisgegeben hat, die Disziplin verlieren, die für seine Selbsterhaltung notwendig ist. Obwohl eigentlich die Philosophie im Prinzip in der Lage sein müßte, die erforderlichen intellektuellen und sittlichen Normen aufzuweisen, ist sie auffallend schwach, wenn es darum geht, die notwendigen Kräfte zu bündeln oder das Leben vieler Menschen zu bewegen. Die heutige Philosophie scheint sich in einer Periode des Zweifels und der Selbstbespiegelung zu befinden, und sie ist sich noch nicht einmal der eigenen Aufgabe als einer akademischen Disziplin sicher. Im Osten, und wo immer Orientalen sich niederlassen, können der Buddhismus und der Konfuzianismus die intellektuellen und kulturellen Traditionen tragen, die in der Tat das Leben gestalten und ihm Stabilität verleihen; im Westen aber gibt es außerhalb der biblischen Religion keine vergleichbare tragfähige Grundlage. Positiv zu bewerten sind bestimmte Änderungen im Verhalten. Der von vielen vermutete Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion ist seit langem begraben
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worden, wenigstens dort, wo echte Wissenschaft den Ton angibt. Die von Freud vorgelegten Interpretationen des religiösen Glaubens ermangeln, wie weithin erkannt, der Begründung aus der Erfahrung. Die vom säkularen Denken beanstandete Verschmelzung zeitlicher und geistlicher Gewalt findet man nur noch selten, nicht einmal in jenen Ländern, in denen es noch eine Staatskirche gibt. Angesichts des Zerfalls der persönlichen Moral und seiner Konsequenzen für die Gesellschaft beginnen verantwortungsbewußte Wissenschaftler - sogar unter jenen, die im vorherrschenden Naturalismus ausgebildet wurden - die Bedeutung der Religion für die Erhaltung der bürgerlicher Tugenden anzuerkennen. Diese noch nicht sehr ausgeprägten Trends geben bis jetzt noch wenig Anlaß zum Optimismus. Ohne politischen Einfluß ist der religiöse Geist nicht imstande, in der akademischen Welt Gleichberechtigung zu erreichen. Diejenigen in führenden Positionen, die um den Beitrag wissen, den die Religion in der Vergangenheit unseres Volkes zum Gemeinwohl geleistet hat, dürfen sich nicht passiv verhalten, wird doch die ererbte Kultur sonst weiter untergraben.
John Courtney Murray über die Wahrheiten, an denen wir festhalten Das amerikanische Time Magazine wählte für seine Titelgeschichte am 12. Dezember 1960 John Courtney Murray als Symbol für die kommende Ära des amerikanischen Katholizismus.1 John F. Kennedy war gerade zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden und sollte als erster Katholik dieses Amt bekleiden. Bezeichnenderweise war Murray abgebildet vor dem Hintergrund einer Handschrift von Robert Bellarmin aus dem 16. Jahrhundert: Disputationes de Controversiis Christianae Fidei. Auf einem gelben Querbalken wurde der Titel der Story angekündigt: „U.S. Catholics and the State". Murray, Theologieprofessor am Jesuitenseminar Woodstock College, beteiligte sich damals als einer der führenden Akademiker an der Debatte über das Wesen der amerikanischen Demokratie und ihrer Voraussetzungen. Es war die Zeit eines vitalen und selbstbewußten Katholizismus. Strittige Fragen wurden mit aller Schärfe definiert, da Murray sowohl die säkular-liberale als auch die protestantische soziale und politische Gedankenwelt in Frage stellte. I. Seitdem hat sich vieles geändert. Politisch gesehen stand Vietnam bevor; in religiöser Hinsicht sollten bis zum Konzil noch sechs Jahre vergehen. Murray erlebte weder den Fall Saigons noch eine Kirche, die „im Geiste" des Zweiten Vatikanischen Konzils erstanden ist. 1967 erlitt er im Alter von 63 Jahren einen tödlichen Herzanfall, als er sich gerade in einem Taxi in seiner Geburtsstadt New York befand. Daß die amerikanische Entschlossenheit, einen Krieg in Südostasien bis zum erfolgreichen Abschluß zu führen, auf der Strecke blieb, hätte ihn sicher nicht überrascht; aber der Zerfall seiner geliebten katholischen Kirche in eine freundliche, unbekümmerte, liturgisch verarmte Religionsgemeinschaft hätte ihn schockiert. Murray hatte grundsätzlich mehr Vertrauen in die katholische Kirche als in die Vereinigten Staaten, weil die Kirche seiner Ansicht nach eine viel umfassendere und stärkere Tradition besaß als alles, was Amerika zu Wege gebracht hatte, und weil sie mit einer um vieles längeren Geschichte über die geistigen Ressourcen verfügte, die zur Bildung einer Staatsphilosophie unerläßlich sind. Er gab sich nicht der Illusion hin, daß die Vereinigten Staaten wirklich eine Staatsphilosophie entwickeln könnten, aber er war überzeugt, daß das Land eine solche ι Time, 12. Dezember 1960, S. 65.
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brauchte. Er war zuversichtlich, daß die Naturrechtstradition, die innerhalb der geistigen Gemeinschaft der Katholiken weitergegeben wurde, dafür das erforderliche Rüstzeug bieten würde. Er stellte mit Freude fest, daß die katholische Kirche in Amerika, anders als in Frankreich, nicht in eine Linke und in eine Rechte gespalten war. Vertrauensvoll konnte er eine im wesentlichen geeinte Kirche vertreten und eine seiner Ansicht nach gemeinsame Weltanschauung im Hinblick auf die Rechtsgrundlage formulieren. Diese Grundlage in ihrer idealen Ausformung wurde von ihm „Staatsphilosophie" genannt, und er war gewillt, diese als „öffentlichen Konsens" zu bezeichnen, insofern sie von breiter Akzeptanz getragen war. Die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges hat ohne Zweifel zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens veranlaßt, über den Unterschied zwischen der amerikanischen Republik und den von ihr gerade besiegten totalitären Regimen und anderen, die im Entstehen begriffen waren, nachzudenken. Es wurde eine facettenreiche Diskussion geführt, an der sich die Vertreter vieler Disziplinen beteiligten, von der Philosophie und Theologie bis zur Soziologie und Ökonomie. Prominente Diskussionsteilnehmer waren Mortimer Adler, Will Herberg, Sidney Hook, Walter Lippmann, Jacques Maritain und Gustav Weigel.2 Man hatte das Gefühl, daß ein Wandel stattfand und daß es notwendig war, sich auf - wie Lincoln es nennt - „the American proposition" (die amerikanische Position) zu besinnen. Im Rückblick erkennt man, daß die Nation im Begriff stand, aus einer christlichen Vergangenheit in eine säkulare Zukunft zu schreiten, eine Entwicklung, die schon damals vage empfunden wurde. Viele dachten, Amerika gerate in einen Zustand ideologischer Verwirrung, weil es die innere Sicherheit, die ehedem durch Metaphysik und religiösen Glauben vermittelt worden war, verloren hatte. Noch in den 1950er Jahren konnte der Soziologe Will Herberg sagen: „Amerikaner zu sein heißt, religiös zu sein, und religiös zu sein heißt, auf eine der folgenden drei Arten religiös zu sein - als Protestant, als Katholik oder als Jude." Sidney Hook wäre damit nicht einverstanden. Für ihn ist Amerika eine pluralistische Gesellschaft, aber nicht im Sinne einer religiös definierten Vielfalt. Amerikaner zu sein bedeutete für Hook, entweder religiös oder nichtreligiös zu sein. Murray, ein fesselnder und geschliffener Redner, hielt überall im Lande häufig Vorträge. 1960 stellte er eine Reihe dieser Vorträge zusammen und veröffentlichte 2 Mortimer Adler, Philosophy, Law, and Jurisprudence (Chicago: Encyclopaedia Britannica, 1961), und Scholasticism and Politics (New York: Macmillan, 1940); Will Herberg, Judaism and Modern Man (New York: Atheneum, 1970), und Protestant - Catholic - Jew (Garden City, N.Y.: Doubleday, 1955); Sidney Hook, Political Power and Personal Freedom (New York: Criterion Books, 1959), Reason, Social Myths, and Democracy (New York: John Day, 1940), und Education for Modern Man (New York: Dial Press, 1946); Walter Lippmann, Essays in the Public Philosophy (Boston: Little Brown, 1955); Jacques Maritain, Christianity and Democracy (London: Geoffrey Bles, 1946), und Man and the State (Chicago: University of Chicago Press, 1951); Gustav Weigel, Faith and Understanding in America (New York: Macmillan, 1959).
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sie unter dem Titel: We Hold These Truths .3 In seinem Buch beschrieb Murray für eine katholische Zuhörerschaft die Wahrheiten, zu denen man sich als Amerikaner, als Katholik und als katholischer Amerikaner bekannte. In gewisser Weise aber war Murray viel ambitionierter. Er wollte die Wahrheiten finden, die vermutlich von allen Amerikanern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit geteilt wurden. Er war überzeugt, daß nicht die Beziehung zwischen Kirche und Staat das Grundproblem war, sondern die Frage der geistigen Übereinstimmung, die für die Handlungsfähigkeit einer Nation erforderlich ist. In der Frage nach dem Wesen der „Staatsphilosophie" sehen sich Hook, Lippmann und Murray in derselben Diskussion vereint. Alle drei beschäftigte die Frage, ob es einen verfassungsmäßigen Konsens gibt, durch den die Menschen eine Identität erwerben, eine gemeinsame Sinnorientierung, die als Handlungsbasis ausreicht. Murray schrieb: „Sind wir in der Lage oder sind wir es nicht, unsere außen- und innenpolitischen Staatsgeschäfte erfolgreich durchzuführen, wenn ein Konsens fehlt, der uns Ziele setzt, Maßstäbe für die Beurteilung politischen Handelns an die Hand gibt und die adäquaten Bedingungen für den politischen Dialog festlegt?" 4 Für Murray wird der staatsbürgerliche Konsens weder durch psychologische Rationalisierungen noch durch wirtschaftliche Interessen noch durch rein pragmatische Arbeitshypothesen gebildet. „Er ist ein Gefüge von Grundwahrheiten, ein Raster von Basiswissen, eine Ordnung elementarer Einsichten, in denen sich die Wirklichkeiten widerspiegeln, wie sie der Lebensordnung zu eigen sind."5 Er erkannte jedoch, daß jede systematische Formulierung dieser Wahrheiten wohl auf Widerstand stoßen würde. Wenn es einmal einen amerikanischen Konsens gegeben hat und den Gründervätern bewußt war, was sie unter „Freiheit", unter „Recht", unter „Gott" verstanden, so gibt es einen derartigen Konsens heutzutage nicht. „Die Ethik, die den Anstoß zu der verfassungsmäßigen Regierungsform der westlichen Welt gab und als allgemeines Erbe lange genug anhielt, um dem amerikanischen Regierungssystem die notwendige Form zu geben, hat jetzt aufgehört, das Gefüge zu stützen und das Handeln dieses Verfassungsstaates zu bestimmen."6 Murray war überzeugt, daß in der Naturrechtsphilosophie des Aristoteles, der Stoiker und des Thomas von Aquin die Grundlage eines solchen Konsenses, zumindest ideell, weiterhin vorhanden ist. Es ist diese Tradition, die sich in den Schriften von Richard Hooker, John Locke und anderen findet, die die Prinzipien hervorbrachte, auf denen die Nation gegründet wurde. Es ist eine philosophische Tradition, die religiöse Unterschiede übersteigt, eine geistige Tradition, die davon überzeugt ist, daß die natürliche Ordnung erkannt und alles, was für den Menschen gut ist, arrangiert werden kann. Nach Murrays Ansicht bezieht sich das politische Leben auf ein Gemeinwohl, das mehr ist als die bloße Anhäufung individueller Güter. Die Früchte der gemein3 John Courtney Murray, We Hold These Truths (New York: Sheed & Ward, 1960). 4 Time, 12. Dezember 1960. 5
Murray, These Truths, 9. 6 Ebd.
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samen Bemühungen müssen natürlich wieder dem Einzelnen zugute kommen. Beunruhigend für Murray war jedoch folgende Frage: Kann es ein faßbares Gemeinwohl geben, wenn eine gemeinsame Sicht auf die Dinge fehlt? Murrays Antwort steht in scharfem Kontrast zu den Ansichten von John Dewey und Sidney Hook, die sich beide einer im wesentlichen Hobbes verpflichteten Interpretation der gesellschaftlichen Ordnung anschlossen. Hobbes vertrat den Standpunkt, daß die Gesellschaft kein einheitliches Gebilde, sondern eine Ansammlung von Gruppierungen ist, die alle auf ihren Vorteil bedacht sind. Für Hobbes ist der Staat auf die Zustimmung der von ihm regierten Individuen zurückzuführen. Einzig das Individuum ist die Quelle des Rechten oder des Guten; als autonom handelndes Wesen unterliegt das Individuum weder auferlegten Normen noch von Natur aus vorgegebenen Zwecken. Hobbes macht keinen Versuch, das selbstherrliche Handeln des Individuums dem Gemeinwohl unterzuordnen. Das Selbstinteresse, so behauptet er, ist nicht nur die Triebfeder in der Politik, vielmehr bietet das wohlverstandene Selbstinteresse auch die geeignete Abhilfe für soziale Mißstände. Er glaubt, daß die Menschen nach Biographie, Temperament und Intelligenz unterschiedlich beschaffen sind und daher in höchst unterschiedlicher Weise festlegen, was für sie gut ist. Selbstinteresse darf nicht als Beweis für moralische Unvollkommenheit angesehen werden, sondern als Zeichen grundverschiedener Mentalität. Wenn es an einem von den privaten Gütern gelösten und diesen überlegenen Gemeinwohl fehlt, wird der Staat zum Konfliktmanager. Geht man davon aus, daß streitbare Untertanen voraussichtlich auf Sonderrechte und Ausnahmen für sich selbst dringen, dann werden Feilschen und Verhandeln zu naturbedingten Merkmalen öffentlichen Lebens. Der Souverän ist nicht der Repräsentant des gemeinsamen Willens; er ist das gemeinsame Objekt der einzelnen Willensäußerungen. In der Ausübung seiner Autorität wird der Souverän durch die verschiedenen Vorhaben seiner Untertanen beschränkt. Der Souverän steht seinen Untertanen in ihrem Streben nach Glück dadurch bei, daß er die individuell definierten Hindernisse beseitigt, die dem Glück im Wege stehen, und nicht dadurch, daß er die Ziele festlegt, die von den Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam verfolgt werden müssen. Die öffentliche Ordnung entspringt somit den Verhandlungen zwischen politischen Akteuren, die individuell postiert sind. In Nordamerika wird Hobbes' Gesellschaftsanalyse nirgends deutlicher als auf dem Gebiet der Sexualmoral. Die geschlechtliche Vereinigung ist zu einer rein privaten Angelegenheit geworden, bei der das Interesse der Gesellschaft heruntergespielt wurde. Abtreibung, Scheidung, Homosexualität und Pornographie werden sanktioniert, als hätten sie keine gesellschaftlichen Auswirkungen. Hobbes' Analyse wird auch in verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen deutlich, in denen die Berufung auf das Gemeinwohl geradezu als Verrat an der eigenen Gesellschaftsidee angesehen wird. Die Verteidiger spezieller Interessen sehen weder theoretisch noch praktisch irgendeine Notwendigkeit, sich um die Vorstellungen oder Reaktionen anderer, die nicht ihrer Meinung sind, zu kümmern. Rechte müssen durchgesetzt werden, ohne Rücksicht auf die Folgen. Und dies trotz der Tatsache, daß
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viele Gemeinschaften heute unter den Auswirkungen eines einseitigen Pochens auf Recht leiden, das der Vorstellung entspringt, Erfolg sei mit dem Erreichen eines bestimmten Vorteils gleichzusetzen, auch wenn dieser Vorteil den Verlust des Umfeldes bedeutet, in dem dieser Vorteil hätte sinnvoll werden können. Um an ein bekanntes Beispiel zu erinnern: In den 1950er Jahren setzte ein Bundesrichter in Washington, D. C., ein sogenanntes Leistungsgruppen-System an den staatlichen Schulen des District of Columbia (D. C.) außer Kraft, weil dessen erklärtes Ziel, einen Unterschied zwischen den begabten und den weniger begabten Schülern zu machen, die Schwarzen zu benachteiligen schien. Das Ergebnis war die Flucht weißer Familien in andere Schulbezirke und ein staatliches Schulsystem im District of Columbia, in dem 97 Prozent der Schüler aus schwarzen Familien stammten. Die begabten schwarzen Schüler, die in dem Schulsystem geblieben waren, wurden durch die richterliche Entscheidung selbst benachteiligt, da diese einen auf Begabung abgestellten Unterricht verhinderte. Die von dem Richter betonte Gleichheit der Behandlung übersah, daß das Gemeinwohl einen angemessenen Unterricht auch für die begabten Schüler verlangt. Nach jahrzehntelangem mittelmäßigen Schulunterricht beginnt das Schulsystem im District of Columbia erst jetzt, seine Defizite zu überwinden. Es ist fraglich, ob Hobbes Gefallen gefunden hätte an extremen Positionen, zu deren Begründung seine Lehre herhalten mußte. IL Doch zurück zu meinem Thema. Wenn eine gemeinsame Sicht auf die Dinge fehlt, kann dann der Begriff des Gemeinwohls eine Rolle spielen, wenn man über die Ziele des Staates nachdenkt? Der englische Jurist Lord Patrick Devlin, der über die gesellschaftliche Ordnung in seinem Land reflektierte, erkannte - ähnlich wie Murray - die Notwendigkeit einer Staatsphilosophie, die anstelle des schwindenden christlichen ein säkulares Fundament für die Gesetze und die Kultur seiner Nation bieten würde. 7 Ähnlich wie Murray war Devlin der Meinung, daß es verschiedene Richtungen von „Staatsphilosophie" gibt und deshalb wohl keine auf allgemeine Akzeptanz stoßen würde. Man kann sich jedoch fragen, ob eine Philosophie die Oberhand haben muß, um einen günstigen Einfluß auf das soziale Umfeld auszuüben. Reicht es nicht aus, daß sie einen Vorteil durchhält und verteidigt? Können Aufrufe, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, nicht auch dann die Politik beeinflussen, wenn die dem Konzept zugrundeliegende Philosophie nur unvollkommen begriffen oder gar abgelehnt wird? Murray antwortet, daß ein ausreichender Konsens nicht unbedingt alle Bereiche der Gesellschaft und auch nicht alle, die ihn teilen, in gleicher Weise umfassen muß. Daß eine geistige Auseinandersetzung stattfindet, ist Murray zufolge kein Beweis dafür, daß man sich nicht über höchst 7
Lord Patrick Devlin, The Enforcement 1965).
of Morals (London: Oxford University Press,
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gewichtige Dinge einigen kann. Die Akzeptanz von Grundsätzen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung hängt nicht von einer metaphysischen Übereinkunft ab, obwohl diese Grundsätze offensichtlich der Verteidigung bedürfen. Sidney Hook - ansonsten ein Gegner - würde dem zustimmen. Die Gefahr liegt freilich darin, daß sich spezielle Interessengruppen durchsetzen können, wenn es an allgemein anerkannten Grundsätzen mangelt. Das erkannte Irving Babbitt, als er in Democracy and Leadership schrieb: „Keine andere als die angeblich demokratische Bewegung veranschaulicht deutlicher die Art und Weise, in der der Wille von hoch organisierten und entschlossenen Minderheiten über den Willen der trägen und unorganisierten Masse triumphieren kann."8 Wenn Murray versucht, die Wahrheiten zu formulieren, die wir als Volk festhalten, so ist die Liste überraschend lang. Aus seiner Sicht können wir die wichtigen Ziele der Nation oder, wenn man will, die Staatsaufgaben ohne weiteres identifizieren. Hinsichtlich der Mittel und Wege können die Maßstäbe der Beurteilung unterschiedlich sein und es wird politische Differenzen geben, aber wir können über diese Dinge sprechen, weil es eine Kommunikationsbasis gibt, ein gemeinsames Feld für den Diskurs. „Wir haben einen gemeinsamen Begriff von der Natur des Rechts und dessen Beziehung zu Vernunft und Wille, zu sozialer Wirklichkeit und politischer Zielsetzung. Wir begreifen das komplexe Verhältnis zwischen Recht und Freiheit." 9 Als Volk haben wir eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit, wir glauben an das Konsens-Prinzip, wir unterscheiden zwischen Recht und Moral, und wir verstehen die Beziehung zwischen Recht und Freiheit. Wir anerkennen gleichfalls Kriterien eines guten Rechtssystems, d. h. Normen des Rechts. Als Volk „begreifen wir Recht und Gesetz als Kräfte für geordneten Wandel und gleichzeitig auch für soziale Stabilität." 10 Das Recht wurzelt weithin in der gemeinsamen Idee von der persönlichen Würde oder Heiligkeit des menschlichen Lebens: res sacra homo. Diese Heiligkeit garantiert dem Menschen unantastbare Rechte und verleiht ihm gewisse Befugnisse; und dies wird allgemein anerkannt. Weder in ideeller Hinsicht noch im Falle der Vereinigten Staaten muß ein Konsens einen Dissens verhindern. In den Vereinigten Staaten werden keinem Andersdenkenden die gesellschaftlichen oder bürgerlichen Rechte entzogen. Diejenigen, die sich verweigern, kommen häufig aus den Kreisen der Literaten und haben die Medien zu ihrer Verfügung. Es sind nicht nur Akademiker und Studenten der Philosophie, Politikwissenschaft, Wirtschaft und Geschichte, sondern auch Politiker, Autoren, Journalisten und Geistliche. Murray bezeichnet sie als „clerks". John Gray, Professor in Oxford, nennt sie „Intellektuelle" und traut ihnen nicht, weil sie 8
Irving Babbitt, Democracy and Leadership (New York: Houghton Mifflin, 1924), 290291. 9 Murray, These Truths, 81. 10 Ebd.
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nonkonformistische Tendenzen verfolgen. 11 Ihnen fehlt das gleiche Interesse an der Gesellschaft, das diejenigen haben, die für die Wirtschaft oder für die Regierung verantwortlich sind. Ihr Denken hat meistens eine spaltende Wirkung. Wir müssen die so gewichtige Frage Murrays nochmals aufgreifen: „Sind wir in der Lage oder sind wir es nicht, unsere außen- und innenpolitischen Staatsgeschäfte erfolgreich durchzuführen, wenn ein Konsens fehlt, der uns Ziele setzt, Maßstäbe für die Beurteilung politischen Handelns an die Hand gibt und die adäquaten Bedingungen für den politischen Dialog festlegt?" Murrays Antwort lautet: „Nein". Nach Murrays Ansicht waren die Vereinigten Staaten zu seiner Zeit auf keinem guten Weg. Er spricht von „unsicher" und „politischem Bankrott". Dreißig Jahre später leitet John Silber sein Buch Straight Shooting mit folgender Beobachtung ein: „Unsere Gesellschaft hat Probleme, und das ist uns allen bekannt. Wir wissen, daß etwas schrecklich verkehrt läuft, etwa in der Art, wie wir an unserem Körper erkennen würden, daß wir schwerkrank sind." 12 Silber sah sich gezwungen, sich mit vielen Fragen zu beschäftigen, die schon Murray untersuchte, und er kommt vielfach zu denselben Schlußfolgerungen. Nur geht es jetzt mit der Nation noch weiter bergab und ihre Probleme sind viel ernster, was wiederum den Weitblick von Murrays Analyse zeigt. Murray dachte, daß die Ursache unserer Schwäche nicht einfach nur die sowjetische Bedrohung ist. Wenn das kommunistische Imperium und die kommunistische Ideologie über Nacht zerfallen würden, wäre unser Problem nicht gelöst. Wir wären in vieler Hinsicht noch schlimmer dran. Antikommunismus ersetzt keine Staatsphilosophie. Das wird nach Murrays Ansicht nirgends deutlicher als in den Diskussionen über Struktur, Inhalt und Ausrichtung der Militärpolitik. Wir haben beispielsweise nicht klargelegt, für welche politischen und moralischen Ziele wir bereit sind, militärische Gewalt anzuwenden. 1960 konnte Murray zur Untermauerung seiner eigenen Anschauung Henry Kissingers Buch Nuclear Weapons and Foreign Policy von 1957 und dessen Kapitel „The Need of Doctrine" zitieren. „Es ist nicht wahr, daß Amerika einsichtig und überzeugend eine Verteidigungsstrategie aufbauen und einsetzen kann, wenn eine Staatsphilosophie im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt und die moralische und politische Begründung fehlen." 13 Solange wir nicht einen amerikanischen Konsens in bezug auf unsere Wahrheiten, unsere Ziele und unsere Werte formulieren und uns über grundsätzliche Fragen einigen können, „wird die Politik weiterhin ein Vakuum bleiben, das sich von der Regierung ins Volk hinein erstreckt." 14 Der einzige Lichtblick in einer Situation, in der es an geistiger Übereinstimmung fehlt, ist, daß unsere instinktive Weisheit es uns gestattet, damit fertig zu werden und zu überleben. 11 John Gray, „Society and Intellectuals: The Persistence of Estrangement and Wishful Thinking"; in The Many Faces of Socialism (New Brunswick, N. J.: Transaction Books, 1987). 12 John Silber, Straight Shooting (New York: Harper & Row, 1989), XI.
ι 3 Murray, These Truths, 91. 14 Ebd. 95, 35.
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Murray weist ausdrücklich daraufhin, daß Konsens nicht mit Mehrheitsmeinung gleichzusetzen ist: Die öffentliche Meinung ist ein Kürzel für die Tatsache, daß eine große Gruppe der Gemeinschaft in einer besonderen Situation zu speziellen Schlußfolgerungen gelangt ist oder gelangen kann. Diese Schlußfolgerungen werden spontan, vielleicht sogar emotional, jedoch gewöhnlich bei Vorliegen von sehr realen, wenn auch nicht ausdrücklich definierten Bedingungen gezogen. Der „öffentliche Konsens" ist der Kern dieser allgemeinen, nicht ausdrücklich genannten Voraussetzungen, die akzeptiert werden. Er liefert die Ausgangsbasis für die öffentliche Meinung. 15 Der Konsens ist eine Doktrin oder ein Urteil, das für die öffentliche Verständigung über die Vorzüge der für eine Sache vorgebrachten Argumente bestimmend ist. „Der Konsens hat mit Ideologie nichts zu tun; sein enger Bezug zu einer konkreten Erfahrung bewahrt ihn vor diesem Schicksal."16 Der öffentliche Konsens ist ein moralischer Sachverhalt. „Nur die Theorie des Naturrechts kann über die Tragfähigkeit der öffentlichen Moral, nämlich den öffentlichen Konsens, Rechenschaft ablegen. Der Konsens selbst ist lediglich die überkommene Einsicht, wie sie sich unter den speziellen Voraussetzungen des amerikanischen politisch-ökonomischen Lebens entwickelt." 17 Murray ist sich bewußt, daß die Lehre vom Naturrecht mit dem Katholizismus assoziiert wird. Er bemüht sich sogleich, darauf hinzuweisen, daß diese Lehre keine katholischen Voraussetzungen hat. Ihre Voraussetzungen sind dreierlei: „daß der Mensch vernunftbegabt ist, daß die Wirklichkeit intelligibel ist, und daß die durch die Vernunft begriffene Wirklichkeit dem Willen eine Verpflichtung auferlegt, ihren Forderungen, zu handeln oder davon abzusehen, nachzukommen".18 Dies beruht auf der Annahme, daß der gesunde Menschenverstand bei den meisten Menschen ausreichend vorhanden ist, obwohl das Vernunfturteil allein nicht genügt. Nicht nur Wissen ist gefordert, sondern auch Redlichkeit im Urteil. „Die Theorie des Naturrechts maßt sich nicht an, mehr zu bieten, als sie zu leisten vermag, nämlich philosophische Rechenschaft über die moralische Erfahrung der Menschheit abzulegen und eine Charta dessen zu bilden, was wesentlich zur Humanität gehört." 19 Sie zeigt dem Individuum nicht den Weg zur Heiligkeit, sondern nur zur diesseitigen Erfüllung. „Sie verspricht nicht das Reich Gottes auf Erden, sondern schreibt für die Gesetze und sozialen Gepflogenheiten ein Minimum an Moral vor, das von den Mitgliedern der Gesellschaft befolgt werden muß, wenn das soziale Umfeld human und bewohnbar sein soll." 2 0 Fragt man danach, was Naturrecht ist, muß man einerseits fragen, was der menschliche Verstand ist 15 Ebd. 102-103. 16 Ebd. 106. 17 Ebd. 109. is Ebd. 19 Ebd. 297. 20 Ebd.
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und was er wissen kann, und andererseits, was die menschliche Gesellschaft ist und auf welche Ziele sie hinarbeiten soll. Kennzeichnend für das Naturrecht sind sein Erfahrungscharakter und seine Treue zu evidenten Einsichten, die sich aus der allgemeinen Erfahrung und aus den Wissenschaften herleiten. Am besten betrachtet man das Naturrecht als Meta-Ethik. Als Meta-Ethik läuft es auf folgenden Rat hinaus: Handle im Vertrauen darauf, daß die Vernunft auf allgemeine Weise bestimmen kann, was für die Menschheit gut ist. Anders ausgedrückt, ermutigt das Naturrecht den Beobachter, nach Regelmäßigkeiten in der menschlichen und außermenschlichen Natur zu suchen. Regelmäßigkeit deutet auf eine Struktur hin, und das Wissen um eine Struktur wird wiederum zu einer funktionalen Erklärung führen, die eine wichtige Rolle bei der Festlegung moralischer Normen spielt. Systematisches Nachdenken über die menschliche Natur wird bestimmte Konstanten ausweisen, die überall dieselben sind und von Generation zu Generation dieselben bleiben. Es gibt aber auch Variable, die sich je nach Kultur, wirtschaftlicher Situation und sogar Topographie unterscheiden. Aber Murray wollte eine Staatsphilosophie formulieren, und zwar für die Nation, nicht in globalem Maßstab.
III. Eine Prüfung der Ansichten von Murray und Sidney Hook führt zu einer interessanten Studie gegensätzlicher Auffassungen über das Wesen der Staatsphilosophie und deren Rechtfertigung. Für Murray ist Demokratie eine wirksame Form des Regierens. Die demokratische Verfassung darf nicht Gegenstand des Glaubens werden. Die Verfassung und die Artikel des First Amendment: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet...", sind Grundsätze des Friedens und nicht Teil eines säkularen Credos, das der Religion eine Rolle in staatsbürgerlichen Angelegenheiten abspricht. „Wenn die Geschichte eines deutlich macht, dann dies: diese Artikel waren die Zwillingskinder der sozialen Notwendigkeit, nämlich der Notwendigkeit, ein durch das Gesetz geschütztes gesellschaftliches Milieu zu schaffen, in dem Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich zusammenleben können." 21 Die amerikanische Lösung in bezug auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war eine rein politische. Keine der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, die um Loyalität wetteiferten, sollte für die Nation als solche eine bevorzugte Stellung einnehmen; auch wenn zu Beginn der amerikanischen Republik in neun Staaten kirchliche Gemeinschaften bereits bestanden, sollte das föderale Prinzip auch auf diese Staaten Anwendung finden. Das Ergebnis war politische Einheit und Stabilität ohne Uniformität des religiösen Glaubens und der Praxis. Das gallische „Ein Gesetz, ein Glaube, ein König" war durch „politische Einheit inmitten religiöser Vielfalt" ersetzt worden. Daraus folgt aber nicht, daß sich die politische Einheit lange halten kann, wenn ein moralischer Konsens fehlt. 21 Ebd. 57.
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„Auch hat die Erfahrung bisher nicht gezeigt, wie - wenn überhaupt - dieser moralische Konsens überleben kann inmitten von brüchigen religiösen Spaltungen, die schon an sich zu einer Zersetzung von Konsens und Gemeinschaft tendieren." 22 1960 konnte Murray schreiben: „In Amerika wurden wir vor dem Unheil ideologischer Parteien bewahrt." 23 Wo solche Parteien vorhanden sind, wird der Kampf um ein Amt zu einem Kampf um die Macht, um die Mittel, mit denen die gegnerische Ideologie vernichtet werden kann. Im Gegensatz zu gewissen lateinamerikanischen Ländern ist die amerikanische Erfahrung politischer Einheit frappierend gewesen, und zu dieser Einheit hat der erste Zusatzartikel der Verfassung in einzigartiger Weise beigetragen. Murray ist überzeugt, daß die katholische Kirche von der amerikanischen Lösung gewonnen hat. In den romanischen Ländern wurde die Kirche abwechselnd privilegiert und verfolgt. Wo man glaubt, daß es Sache des Staates sei, das Gemeinwesen so zu fördern, wie es die Kirche haben möchte, werden die Chancen der Kirche mit dem Wechsel der politischen Macht zu- oder abnehmen. „Demgegenüber hat sich die amerikanische Regierung nicht darauf eingelassen, die transzendente Wahrheit zu repräsentieren, und zwar in keiner der Versionen, wie sie derzeit in der amerikanischen Gesellschaft bestehen."24 Sie hat sich nicht mit einem Glauben gegen einen anderen verbündet, aber sie hat den Kern gemeinsam bejahter moralischer Werte vertreten. In einer religiös pluralistischen Gesellschaft muß der Staat neutral sein; er kann sich nicht zum Richter über religiöse Wahrheit aufschwingen. Der Pluralismus jedoch ist die Wurzel bestimmter Probleme. Wieviel Pluralismus und welche Arten von Pluralismus kann eine pluralistische Gesellschaft verkraften? An diesem Punkt entspringt die Debatte über das Erfordernis einer Staatsphilosophie. Wie bereits festgestellt, stützt sich Murrays Staatsphilosophie auf das Naturrecht, das seiner Ansicht nach allen zugänglich ist, Gläubigen und Nichtgläubigen, Protestanten und Katholiken, auch wenn er sich bewußt ist, daß die katholische Kirche in einzigartiger Weise Träger der naturrechtlichen Sicht ist. Die Hauptaufgabe der Staatsphilosophie ist die Formulierung von Normen, die über die staatsbürgerliche Ordnung hinausreichen und an denen das Handeln des Staates gemessen werden kann. Der Maßstab ist die geordnete Vernunft, geprägt durch zeitübergreifende Metaphysik und Anthropologie. In einer Schrift von 1856 sah sich Orestes Brownson in ähnlicher Weise mit der Frage nach der Zuständigkeit des Staates konfrontiert, aber er kam zu einer Schlußfolgerung, die von Murray abgelehnt wurde. In seinem Aufsatz „The Church and the Republic" argumentierte Brownson, daß die Kirche für den Staat notwendig sei 2 5 Bei der Beobachtung des politischen und sozialen Lebens von Amerika stellte Brownson zwei mächtige und gefährliche Tendenzen fest: auf der 22 23 24 25
Ebd. 73. Ebd. Ebd. 74. Quarterly Review, nachgedruckt in: Works,
12.409.
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einen Seite eine Übermacht des Staates, die zu sozialem Despotismus führe, auf der anderen Seite einen übertriebenen Individualismus, der zu Anarchie führe. Nach Brownsons Ansicht bot die katholische Kirche das erforderliche Korrektiv für beide Tendenzen. Als Institution mit einer moralischen Tradition konnte sie den Staat zur Rechenschaft ziehen; zudem konnte sie auf eine Art und Weise, die den Protestanten nicht möglich war, den destruktiven Individualismus mildern, indem sie die Achtung vor Autorität und Tradition förderte. Aber die Kirche hätte als Institution die Macht haben müssen, nicht nur zu lehren, sondern auch moralische Sanktionen zu verhängen. Im Interesse des Gemeinwohls konnte sie politisches Engagement nicht vermeiden. Brownson folgte dem klassischen Begriff von politischem Engagement, der sich bis zu den Griechen und den Römern zurückverfolgen läßt, der nach Murray in Amerika glücklicherweise fehlte. Brownson selbst reagierte auf die jakobinische Trennung von Kirche und staatlicher Ordnung und die Verweigerung irgendeiner Einflußnahme. Murray steht somit irgendwo zwischen Brownson und Sidney Hook, der als Vertreter der Aufklärung gelten kann. Für Hook kann es nur eine Gesellschaft, ein Recht, eine Gewalt und einen Glauben geben, nämlich einen zivilen Glauben, der die Gemeinschaft als einigendes Band umschließt. Hook wollte die spaltende Kraft der Religion aus dem politischen Milieu verbannen. Er hat an der Religion als „rein private Angelegenheit" nichts auszusetzen. Aber ihn beunruhigt die Religion als sichtbare, kollektive und organisierte Einrichtung, als Ideengemeinschaft, die sich anmaßt, über der Gemeinschaft demokratischer Ideen zu stehen und über diese zu urteilen. Hooks Begriff des staatsbürgerlichen Lebens ist eine Religion fremd, die soziale Strukturen besitzt, mit deren Hilfe sie ihre Meinung ausdrücken und möglicherweise durchsetzen kann. Die bürgerliche Gesellschaft ist die höchste gesellschaftliche Form menschlichen Lebens. Das Zivilrecht ist die höchste Rechtsform und nicht der Beurteilung nach rein ethischen Maßstäben unterworfen. Daher hat Hook zwar die Legalität des kirchlichen Schulsystems anerkannt, aber seine Existenz als „in erzieherischer und demokratischer Hinsicht ungesund" gebrandmarkt, weil es einen großen Teil unserer Jugend aussondere und ihr eine ganz andere Weltanschauung vermittle. 26 Für Hook gibt es keine ewige Ordnung von Wahrheit und Gerechtigkeit, gibt es keine universellen Wahrheiten, die Zustimmung gebieten, gibt es kein allgemeines Moralgesetz, das Gehorsam verlangt. Die Grundwerte, denen sich die Gesellschaft verpflichtet weiß, entspringen nicht der Anerkennung eines vorgegebenen Gemeinwohls. Vielmehr muß der Grundwert mit dem demokratischen Prozeß selbst gleichgesetzt werden. Vertrauen in die Demokratie heißt, an die Wirksamkeit dieses Prozesses zu glauben. Hook und Murray würden darin übereinstimmen, daß die Demokratie eine Form des politischen Urteils ist und als solche daran gemessen wird, inwieweit sie mehr Sicherheit, Freiheit und gemeinschaftliche Vielfalt gewährleistet als jede ihrer Alternativen. Aber Hook spricht von der Demokratie auch als einem „way of life", 26 Zitiert in: New York Times, 10. Oktober 1963. 4 Dougherty
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als einer Vorgabe von Verfahrensregeln für kritische Erörterungen und Entdeckungen, wie sie hauptsächlich in den Wissenschaften Anwendung finden. Selbst dann muß die Demokratie, sieht man in ihr eine Gesellschaftsphilosophie, als Hypothese verstanden werden. Betrachtet man sie als Hypothese, wird sie laut Hook durch Erfahrung gerechtfertigt. Für Hook besteht das Wesen der Demokratie in der Gleichbehandlung von Menschen unterschiedlicher Anlagen und Begabungen. „Diese Art der Behandlung menschlicher Wesen ist erfolgreicher als alle anderen, wenn es darum geht, ein Höchstmaß an kreativer, freiwilliger Leistung aller Mitglieder der Gemeinschaft zu wecken." 27 Sie erweitert unseren Erfahrungsbereich, weil sie uns zwingt, Bedürfnisse, Antriebe und Erwartungen anderer zu verstehen, ohne unseren eigenen Standpunkt zu verlassen. Da sie die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen fördert, vergrößert sie den vorhandenen Reichtum an Wahrem und Schönem. „Die Achtung vor den Entwicklungsmöglichkeiten aller Individuen sorgt für weniger Grausamkeit aller gegen alle, vor allem, wenn die Grausamkeit aus Blindheit oder Unkenntnis gegenüber den Bedürfnissen des anderen resultiert." 28 Wesentlich für den demokratischen Prozeß sind die Methoden öffentlicher Diskussion, Kritik und Argumentation. Zwar sind das bereits an sich Postulate, doch sind es auch Postulate der Demokratie. Läßt man sich auf deren Rechtfertigung ein, bedeutet das den Beginn „einer neuen Untersuchung eines neuen Problems." 29 Murrays Naturrechtsphilosophie und Hooks pragmatischer Naturalismus führen vielfach zu ähnlichen Schlußfolgerungen, und beide haben das auch so gesehen. Ihre Differenzen veranschaulichen die metaphysische und erkenntnistheoretische Differenz zwischen einem aristotelisch-thomistischen Naturrechtsansatz und einem Instrumentalismus im Sinne Deweys. Für Murray existiert ein Bündel von Wahrheiten über die menschliche Natur und über das, was für die menschliche Erfüllung notwendig ist und von Generation zu Generation weitergegeben werden kann. Somit können die Vorfahren, die nicht weniger intelligent und bedacht waren als wir, zu uns über die Jahrhunderte hinweg über eine im Wesen unveränderbare menschliche Natur sprechen, und es steht uns gut an, zu jenen Autoren zurückzukehren, deren Werke jahrhundertelang geschätzt und kommentiert wurden. Dieses Bündel von Wahrheiten beruht auf einer Reihe metaphysischer Annahmen, daß es beispielsweise so etwas wie die menschliche Natur gibt und daß bestimmte Ziele als ihr gemäß, und andere wiederum als ihr nicht gemäß ausgemacht werden können. Daher kann man sagen, daß ein Leben mit Verstand einem „schlichten Gefühlsleben" vorzuziehen ist, daß die Gesetze des Staates die Strukturen und Aktivitäten, die zur Selbstverwirklichung beitragen, fördern sollen, daß Selbstverwirklichung nicht außerhalb der Gemeinschaft stattfinden kann, daß der Staat beispielsweise verpflichtet ist, die Familie und die Rechte des Privateigentums zu schützen und 27 Sidney Hook, „The Justification of Democracy", in: Political Power and Personal Freedom (New York: Criterion Books, 1959); nachgedruckt in dem Sammelwerk: The American Pragmatists (New York: Meridian Books, 1960), 396. 28 Ebd. 397. 29 Ebd. 398.
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allen Bürgern Zugang zu elementarer Bildung zu sichern. Solche allgemein anerkannten Wahrheiten dienen als Grundsätze im Sinne von Klugheitsregeln. Das Klugheitsurteil selbst hat jedoch nicht Teil an der Gewißheit, die den allgemeinen und überzeitlichen Prinzipien eignet. Das Klugheitsurteil wird im Kontext bestimmt; sein Wert wird nicht nur vom Grundsatz, sondern auch von den verfügbaren empirischen Daten bestimmt. Konkrete Optionen können sogar eine Überprüfung abstrakter Prinzipien begünstigen. Je weiter eine Entscheidung von den Grundwahrheiten über die menschliche Natur und Gesellschaft entfernt ist, um so anfechtbarer wird sie. Murray, der die Bedeutung der Familie für die persönliche Entfaltung und für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung erkannte, konnte deshalb Empfängnisverhütung, Abtreibung, Scheidung oder aktive Sterbehilfe für unheilbar Kranke keinesfalls gutheißen, wie Hook es tat. Von anderer Art ist beispielsweise die Entscheidung, ein betagtes Elternteil in eine Pflegeeinrichtung zu geben, auch wenn es von der Familie versorgt werden könnte. „Die Achtung vor den eigenen Eltern", verstanden als Grundsatz, zwingt zu keiner speziellen Schlußfolgerung. Es sind die Umstände, von denen eine kluge Entscheidung abhängt. Die Vorliebe des Pragmatikers, jedes Problem in dem Zusammenhang, in dem es auftritt, zu lösen, bedeutet für ihn nicht, daß er auf Grundprinzipien verzichtet. Auch er wird sich auf Grundprinzipien berufen, ist aber nicht gewillt, diese Prinzipien zu einem konsistenten Ganzen zu verknüpfen oder sie in einer besonderen Sicht von der menschlichen Natur oder der menschlichen Selbstverwirklichung zu verankern. Daher kann man sich in verschiedenen Situationen auf widersprüchliche Prinzipien berufen, ohne deshalb inkonsistent zu sein. Wird ein Grundprinzip selbst in Frage gestellt, kann es auch im Kontext verteidigt werden, ohne daß man zu irgendwelchen Konstanten Zuflucht nimmt. Aus diesem Grund gilt der Pragmatiker bei einer Debatte häufig als aalglatt. Die Metaphysik, der er verpflichtet ist, bleibt oft unbemerkt und bleibt außerhalb der direkten Konfrontation. Die Geschichte der Philosophie in den Vereinigten Staaten kann viele Beispiele für Pragmatismus bieten. In seinem berühmten Werk zählte Lovejoy dreizehn Fälle auf. Die vorherrschende Strömung in Amerika war jedoch der Instrumentalismus oder pragmatische Naturalismus De wey-Hook'scher Prägung. Für Murray war diese Sichtweise geradezu „barbarisch". Er war freilich nicht der erste, der sie unzureichend fand. In der Generation vor Murray kam Irving Babbitt 1924 in seinem Werk Democracy and Leadership zu dem Schluß, daß der Einfluß von Dewey und seinesgleichen auf die Erziehung „alles in allem eine nationale Katastrophe bedeutet." 30 Die schädlichen Einflüsse der „progressiven Erziehung" waren für Murray schon in den 1950er Jahren sichtbar und treten heute noch deutlicher hervor. Der pragmatische Naturalismus De wey-Hook'scher Prägung reduziert die Wissenschaft auf Technologie, auf Problemlösungen, bei denen nicht so sehr Antworten als vielmehr zuverlässige Prognosen erwartet werden. Obwohl er die Meta30
Irving Babbitt, Democracy and Leadership Liberty Classics, 1979), 339. 4*
(1924; Nachdruck, Indianapolis, Ind.:
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physik scheut, handelt es sich hier dennoch um einen Materialismus, der die Existenz Gottes und damit das Bedürfnis nach Religion im Leben der Menschen ausschließt. Die mit dem Gotteshaus verbundene Schönheit, der Gottesdienst und der Feiertag scheinen auf trügerischem Fundament erbaut. Der Mensch wird als durch und durch physisch-chemisches Wesen angesehen, das in der Natur entsteht, wächst und vergeht. Das hat Konsequenzen für die Ethik, weil es für das Leben des Menschen kein transzendentes Ziel gibt. Wir können uns höchstens bemühen, das Diesseits zu einem besseren Ort für kommende Generationen zu machen - deshalb legt der Pragmatiker den Akzent auf Leistung und Macht. Deweys Bildungsphilosophie, die von der Annahme des „Fortschritts" ausgeht, auf persönlicher Erfahrung beharrt und auf eine idealisierte Zukunft ausgerichtet ist, tendiert zur Verunglimpfung des Ererbten und sogar des Studiums der Geschichte. Die klassischen Sprachen sind nicht notwendig, weil die Antike, zu der sie Zugang verschaffen, in dieser Sicht irrelevant ist. Für Dewey ist nämlich die Bekämpfung des Ererbten eines der Hauptziele der Erziehung. Bildung besteht nicht in der Aneignung der Literatur, die dem Abendland seit den Zeiten der griechischen Klassik Nahrung gab, sondern eher in einem Training für Veränderung. Daher konnte Murray von einer „neuen Barbarei" sprechen, die das durch Recht und Sitte bestimmte Leben der Vernunft bedrohte. Der Barbar arbeitet ständig daran, „die rationalen Maßstäbe der Beurteilung zu untergraben und ererbtes Wissen, wonach die Menschen stets gelebt haben, zu verfälschen, und zwar nicht durch die Verbreitung neuer Ansichten, sondern durch die Erzeugung eines Klimas von Zweifel und Verwirrung, in dem die Klarheit über die höheren Lebensziele getrübt und das Selbstvertrauen der Menschen zerstört wird." 3 1 Murray war zu seiner Zeit nicht so optimistisch, daß der Westen in naher Zukunft sein Erbe zurückgewinnen könnte. Heute hätte er noch weniger Grund zum Optimismus. Viele, die außerhalb der Kirche stehen, erwarten von ihr, daß sie das immer sichtbarer werdende geistige und moralische Vakuum füllt. Doch erscheint diese Kirche in der Form, wie sie als Organisation in Nordamerika präsent ist, genauso durcheinander und konfus zu sein, wie die Mehrheit der Gesellschaft, die sie eher widerspiegelt als daß sie sie herausfordert. Aber das Vermächtnis ist vorhanden und kann für die von ihm gewiesene Richtung nutzbar gemacht werden. Der Schlüssel dafür ist natürlich die Bildung, die uns Zugang zu Athen und Rom und zum mittelalterlichen Paris und Padua verschafft. Hat man erst einmal damit Bekanntschaft gemacht, folgt die Achtung vor dem zeitlosen Wissen der Vorfahren. Die Griechen können uns viel über die menschliche Natur, über das Wesen der Wissenschaft und über die Bedingungen der Tugend lehren. Die Römer können uns über das Thema des Rechts und über das Wesen der Religion und deren Bedeutung für das zivile Leben unterweisen. Und die Kommentatoren des Mittelalters können beides zu einer Synthese vereinen, die ein drittes Element enthält, nämlich die Offenbarungsreligion. 3i Ebd. 13.
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Trotz Revolution und Reformation gibt es eine großartige Literatur, die es durch den unvoreingenommenen Verstand zu erforschen gilt, doch Murray wollte sich nicht einfach mit ihrer Wiederentdeckung zufrieden geben. Ein Erbe muß man sich aneignen, darauf aufbauen und es nutzen. Und genau das hat Murray in seinem Leben getan.
Die Trennung von Staat und Kirche Die ersten zehn Zusatzartikel („Amendments") der Verfassung der Vereinigten Staaten sind gemeinhin als die „Bill of Rights" bekannt. Wie andere Rechtsdokumente dieser Art enthält sie die grundsätzlichen Freiheiten der Menschen und verbietet der Regierung, diese zu verletzen. Die ersten acht Zusatzartikel der Verfassung zählen die Rechte und Freiheiten auf, die jeder Bürger besitzt. Die Zusatzartikel IX und X verbieten dem Kongreß, Gesetze zu beschließen, die diese Rechte verletzen würden. Der Erste Zusatzartikel (First Amendment) lautet auszugsweise: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet." Die erste der Religionsklauseln ist als die „establishment clause", die zweite als die „free-exercise clause" bekannt geworden. Die Bedeutung dieser Klauseln, damals wie heute, soll Thema dieser Untersuchung sein. Dies will ich unter vier Gesichtspunkten behandeln: 1. Die Rolle der Religion in der Gesellschaft, wie sie von den Vätern der Verfassung verstanden wurde. 2. Die Bedeutung der Religionsklauseln, wie sie in der „Bill of Rights" enthalten sind. 3. Die Beziehung zwischen Kirche und Staat, wie sie vom Obersten Gerichtshof der USA in den letzten fünfzig Jahren festgelegt wurde (d. h. seit dem Everson-Fall von 1947, der einen Markstein bildet). 4. Die Folgen, die, wie ich meine, einen Verlust an Achtung für die geistige und kulturelle Rolle der Religion in unserer Gesellschaft mit sich bringen. Wir können uns die Vereinigten Staaten schwerlich ohne die vom Ersten Zusatzartikel garantierten Freiheiten vorstellen. Dennoch sind wir uns vage bewußt, daß, als unsere Nation entstand, Staatsreligionen nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonien selbst existierten. Die Siedler waren im großen und ganzen englischsprachige Leute, die von einem Land auswanderten, in dem die Anglikanische Kirche Staatsreligion war. Diese Kirche behielt ihre Stellung in der Neuen Welt bei. Beim Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 gab es in neun der dreizehn Kolonien Kirchen. Die Anglikanische Kirche existierte in Virginia seit 1609, in New York seit 1693, in Maryland seit 1702, in South Carolina seit 1706, in North Carolina seit 1711 und in Georgia seit 1758. Die Congregational Church gab es in Massachusetts, Connecticut und New Hampshire. Natürlich fanden sich auch Andersgläubige: Methodisten und Presbyterianer vertraten nicht dieselben Lehren wie ihre anglikanischen Brüder und lehnten gewisse Züge der anglikanischen Episkopalstruktur ab. Es gab auch verschiedene Formen des Pietismus, die in manchen Kolonien einflußreich waren.1
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Die Urheber der Verfassung gelangten im Blick auf die Uneinigkeit selbst innerhalb der Anglikanischen Kirche und auf die religiösen Konflikte auf dem Kontinent zu der Auffassung, daß es für die Nation im Ganzen keine Staatskirche geben sollte. Das Prinzip des Föderalismus gebot, daß es jedem Staat freistehen sollte, das zu tun, was er für richtig hielt. Die Urheber der Verfassung hatten nicht die Absicht, weder in New England noch im Süden die Kirchen abzuschaffen. Der Kongreß sollte sich nicht in die lokale Politik einmischen. Die Religionsklauseln des First Amendment sollten eine Trennung von Kirche und Staat auf nationaler Ebene gewährleisten und den Kongreß davon abhalten, sich in individuelle religiöse Überzeugungen einzumischen. Zur Zeit der Gründungsväter war die ganze Gesellschaft religiös geprägt, von der Schule bis zum Kongreß. Die Bedeutung der Religion und ihr wohltätiger Einfluß wurden bis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Frage gestellt. Erst seit diesem Krieg hat der Oberste Gerichtshof der USA das entwickelt, was ein Verfassungsrechtler eine „gloss on the First Amendment" nannte. Angesichts der Neigung des Gerichts, seine Entscheidungen in religiösen Fragen auf historische Vorgänge zu stützen, sollten auch wir auf die Vergangenheit blicken, um die ursprünglichen Intentionen zu erkennen. In den Debatten, die zur Annahme der Verfassung und nachfolgend der „Bill of Rights" führten, war James Madisons Rolle bedeutend. In den Eröffnungsdebatten des Ersten Kongresses machte Madison eine Reihe von Vorschlägen, darunter für einen Zusatzartikel, der die Errichtung einer Staatsreligion verbot. Der Ausschuß des Hauses stimmte der folgenden Formulierung seines Vorschlages zu: „Weder soll eine Religion gesetzlich anerkannt werden, noch sollen die gleichen Rechte des Gewissens [eines jeden] verletzt werden." Benjamin Huntington aus Connecticut befürchtete, daß eine derartige Formel interpretiert werden könnte als Verbot, mit Hilfe von staatlichen Gesetzen Beiträge zur Unterstützung von Kirchen und ihres Personals zu erheben. Er wollte jedwede Formulierung vermeiden, „die jene, die sich zu gar keiner Religion bekennen, als Begünstigung empfinden könnten." Huntington betrachtete es als selbstverständlich, daß die einzelnen Staaten die Religion unterstützen sollten. Genauso sahen es Samuel Livermore aus New Hampshire und Elbridge Gerry aus Massachusetts.2 Der Kongreß hatte drei Optionen: 1. Keine Religion auf nationaler Ebene, wobei die einzelnen Staaten frei wären, diejenige Struktur zu wählen, die sie für geeignet hielten. 2. Keine gesetzliche Anerkennung auf föderaler oder einzelstaatlicher Ebene, wobei die Regierungen die Religion unterstützen könnten, aber unparteiisch in bezug auf die Sekten bleiben müßten. 3. Keinerlei Unterstützung irgend1 Für das gründliche Studium dieser Thematik vgl. Robert L. Cord, Separation of Church and State (New York: Lambeth Press, 1982). Siehe auch Walter Berns, The First Amendment and the Future of American Democracy (New York: Basic Books, 1976). 2 Annals of Congress, 8. Juni 1789, 1.451; 15. Aug. 1789, 1.757, 758 (Washington, D. C.: U.S. Government Printing Office).
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einer Religion. Letztere Meinung wurde von einer Minderheit vertreten und bisweilen von Madison gestützt. Wir können die Entwicklung der Formulierung nachvollziehen, von Madisons anfänglichem Vorschlag vom 8. Juni über die am 20. August vom Abgeordneten-Haus angenommene Version, und weiter über die vom Senat gebilligte veränderte Version bis hin zur Annahme des endgültigen Textes durch beide Häuser am 24. und 25. September 1789: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet." Hätte sich der Kongreß von 1789 vorstellen können, daß die „establishment clause" - im Kontext ihrer Entstehung damals völlig eindeutig - sich eines Tages als mehrdeutig erweisen würde, um einer Politik Auftrieb zu geben, die, wie uns die Geschichte lehrt, diametral entgegengesetzt ist zu den ursprünglichen Intentionen?
I. Die Besinnung auf die Väter unserer Verfassung löst freilich keines der zeitgenössischen Probleme. Zu jeder Frage kann man fast immer eine passende Meinung finden, die von einem oder mehreren der Verfassungsväter gestützt wird. Der Vorzug der Besinnung auf die Geschichte ist es, daß eine Reihe von Behauptungen widerlegt werden können, die bisweilen als angeblich „ursprüngliche Intention" verteidigt werden. Die Verfassung zum Beispiel errichtete keine „Wand der Trennung zwischen Kirche und Staat". Das ist Thomas Jeffersons Metapher; aber während Jefferson die Hauptrolle beim Entwerfen der Unabhängigkeitserklärung zukam, hatte er keinen Anteil beim Entwurf der Verfassung. Ähnlicherweise waren Madisons Ansichten seine eigenen, nicht diejenigen des Kongresses. In Wirklichkeit setzte er sich nicht dafür ein, seine Ansichten durchzusetzen, sondern arbeitete daran, einen Konsens zu erreichen. In bezug auf die „establishment clause" ist die Verfassung, wie bei vielen anderen Aspekten auch, das Ergebnis von Kompromissen. Die Rolle der Religion in der Gesellschaft wurde von den Vätern der Verfassung richtig erkannt, aber das Verhältnis von Kirche und Staat war nicht leicht zu lösen; vielmehr war das Ergebnis eine gewollte Mehrdeutigkeit. Amerika konnte mit dieser Mehrdeutigkeit ungefähr hundertsechzig Jahre leben; aber in den vergangenen vierzig Jahren, als sich die geistigen und moralischen Fundamente der Gesellschaft verschoben, ist dieses Verhältnis schwierig geworden. Viele Dinge, die den Urhebern der Verfassung vertraut waren, können nicht mehr als selbstverständlich erachtet werden. Zum Beispiel wurde vorausgesetzt, wie es in der 1778 verabschiedeten Nordwest-Ordinance zum Ausdruck kommt, daß „Religion, Moral und Wissen, weil sie für eine gute Regierung und für das Glück der Menschen notwendig sind, in den Schulen und im Lernmittelbereich immer gefördert werden". 3 Wir mögen heute noch an den 3
Act of Congress, 7. Aug. 1789.
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Wert der Erziehung glauben, aber es ist eine technische Erziehung, die von Religion und Moral getrennt ist. Der durchschnittliche Student ist in Fragen der Religion nicht mehr gebildet und betrachtet Moral als eine subjektive Angelegenheit, als einen Wertekodex, den jemand für sich selbst bejaht, ihn aber keinem anderen auferlegen würde. Während die Einstellungen zur Religion in den einzelnen Staaten unterschiedlich waren (Massachusetts beharrte vielleicht am stärksten auf dem Gebet als einer öffentlichen Angelegenheit), betrachteten die meisten Väter der Verfassung die Religion als eine wohltätige Kraft in der Gesellschaft und beurteilten sie nach der Rolle, die sie für die Erhaltung von Moral und Anstand spielte. Washingtons Einstellung, die er in seiner Abschiedsrede zum Ausdruck brachte, ist dafür repräsentativ: Von allen Dispositionen und Verhaltensweisen, die zu politischem Wohlstand führen, sind Religion und Moral unentbehrliche Stützen. Derjenige würde den Patriotismus vergebens einfordern, dem es einfallen sollte, diese großen Pfeiler menschlichen Glücks, diese festen Stützen der Pflichten von Menschen und Bürgern zu untergraben. Der Politiker sollte diese ebenso wie der religiöse Mensch respektieren und schätzen. Ein ganzes Buch könnte all ihre Verbindungen zu privatem und öffentlichem Glück nicht nachzeichnen. Man braucht nur danach fragen, wo die Sicherheit für das Eigentum, für den guten Ruf und für das Leben bliebe, wenn der Sinn religiöser Verpflichtung den Eid nicht mehr bindet, auf den die Untersuchungen bei den Gerichten angewiesen sind? Und lassen Sie uns mit Vorsicht die These bedenken, man könne die Moral ohne die Religion bewahren. Wie groß auch die Wirkmöglichkeiten kultivierter Erziehung im einzelnen sein mögen, Verstand und Erfahrung verbieten uns zu erwarten, die Moral der Bevölkerung werde auch ohne Religion Bestand haben. Washington war überzeugt, daß es sich eine Regierung nicht leisten könne, im Hinblick auf Gläubige und Nicht-Gläubige neutral zu sein. Was nun die Verfassung betrifft, so haben die Gründungsväter, wie Walter Berns bemerkt, „anstelle einer Staatsreligion die Religions/raVie/f verankert, und dieses Prinzip leitet sich von einer nichtreligiösen Quelle ab". 4 Das Interesse am Gedeihen der Religion wurde ausschließlich von den weltlichen Zielen des Staates her bestimmt. Es sollte nicht übersehen werden, daß Washington ein Freimaurer war; Jefferson war Deist und glaubte nicht an die Gottheit Christi, obwohl er sich Christ nannte. Auch wenn sie nicht so zynisch waren wie Voltaire, hatten sie doch sehr ähnliche Beweggründe, um die Religion zu stützen. Voltaire wollte, daran sei erinnert, das Christentum aus der Welt der höheren Kultur ausrotten, war jedoch bereit, es in Ställen und in den Spülküchen aus praktischen Gründen zu belassen, da er nicht wollte, daß ihn seine Diener bestehlen. Der Staat benötigt ein gewisses Maß an Tugend bei seinen Bürgern, wenn die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden soll. Religion ist ein bewährter 4
Berns, First Amendment, 15.
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Grund, um jene moralischen Prinzipien einzuprägen, die zur Tugend führen. Als die Verfassung entworfen wurde, waren die meisten Schulen der neuen Nation religiös. Die öffentlichen, keiner Religion zugehörigen Schulen wurden erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur Norm. Und selbst diese Schulen waren religiös ausgerichtet, freilich in einem allgemein protestantischen Sinne. Es war in der Tat der Schulstreit, der das Gericht 1947 veranlaßte, eine Reihe von „Glossen" zum First Amendment zu formulieren. Katholiken, hauptsächlich Immigranten vom Kontinent, scheuten davor zurück, ihre Kinder auf öffentliche Schulen zu schicken, die in Wirklichkeit protestantische Schulen waren. Sie gründeten ihre eigenen Schulen und begannen im Laufe der Zeit zu fordern, daß ein Teil ihrer Steuergelder zu deren Unterstützung verwendet werde. Im Fall Ever son ν. Board of Education entschied das Gericht, daß je nach Art staatliche Hilfe für religiöse Grund- und weiterführende Schulen problematisch, wenn nicht gar verfassungswidrig sei. Eine Gesetzesbestimmung im Staat New Jersey aus dem Jahre 1941 ermächtigte die Schulbezirke, den Transport von Schülern zu ihren Schulen zu subventionieren, wobei es den Bezirken überlassen blieb, ob sie für die Transportkosten der Kinder auch zu privaten (einschließlich kirchlichen) Schulen aufkommen wollten. Der Schulbezirk von Ewing in New Jersey entschied, die Eltern für die Transportkosten ihrer Kinder zu privaten Schulen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu entschädigen. Als gegen diese Entscheidung Einspruch erhoben wurde, gab das Gericht dem Einspruch statt unter Berufung auf die Verfassung des Staates. Doch das Berufungsgericht von New Jersey hob die Entscheidung wieder auf. Schließlich kam der Fall vor den Obersten Gerichtshof der USA. Die mit der knappen Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen gefällte Entscheidung des Gerichts begründete der Richter Hugo Black mit der „establishment clause", die mindestens besage, daß weder ein Einzelstaat noch die föderale Regierung eine Staatskirche errichten könne. Sie können auch keine Gesetze verabschieden, die eine Religion oder alle Religionen unterstützen oder die eine Religion einer anderen vorziehen. ... Keine Steuergelder, egal in welcher Summe, groß oder klein, können erhoben werden, um religiöse Aktivitäten oder Institutionen zu unterstützen, wie auch immer sie heißen mögen oder in welcher Form sie Religion unterrichten und ausüben.... Um an die Worte von Jefferson zu erinnern: Die establishment clause gegen die Staatsreligion wurde eingefügt, um „eine Trennwand zwischen Kirche und Staat" zu errichten. 5 Kaum hatte er dies gesagt, beschloß die Mehrheit, daß die Rückerstattung der Transportkosten die Frage der Staatskirche nicht betreffe, und daß der EwingSchulbezirk frei sei, für den Transport von Privatschülern, einschließlich konfessioneller Schüler, aufzukommen. Die „Trennwand"-Metapher blieb jedoch haften ebenso wie die merkwürdige Geschichtsdeutung, die sich in Blacks Meinung eingeschlichen hatte. Beide haben 5 Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1 (1947), 15-16.
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sich seitdem als problematisch herausgestellt. Robert L. Cord hat überzeugend nachgewiesen, daß Blacks Verwendung von historischen Dokumenten selektiv war. Blacks Meinung folgte unkritisch der Argumentation von Leo Pfeffer, dessen Ansicht keineswegs wissenschaftliche Objektivität beanspruchen kann.
II. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des dreiteiligen amerikanischen Regierungssystems, daß Interessengruppen, deren Anträge in den gesetzgebenden Versammlungen abgelehnt wurden, trotzdem erreichen können, daß ihre Vorstellungen über Entscheidungen eines aktivistischen Gerichts Gesetzeskraft erlangen. Eine Gesetzgebung, die sich um den Bestand einer religiösen Haltung kümmert, wird typischerweise von jenen in Frage gestellt, die ihren Wert nicht sehen. Seit dem Everson-Fall erhalten sie gewöhnlich ein günstiges Gehör bei den höchsten Gerichten. Ob Gebet und Bibellesen in öffentlichen Schulen stattfinden dürfen, waren Fragen, die den Obersten Gerichtshof der USA in den frühen 1960er Jahren erreichten. Beide Fälle wurden gemäß den Prinzipien entschieden, die zuerst im Falle Everson angewandt wurden. Das Gericht entschied in beiden Fällen negativ, aber die Probleme blieben auf der Tagesordnung. 1985 wurde das Gericht wieder mit der Notwendigkeit eines Entscheids zum Gebet in den Schulen konfrontiert, diesmal als Folge einer Klage gegen ein Staatsgesetz in Alabama, das eine kurze Meditation oder ein stilles Gebet zu Beginn des Schultages vorsah. Das Gericht entschied, daß die Bestimmung in Alabama verfassungswidrig sei. Die Entscheidung des Gerichts 1987 in bezug auf den Unterricht über die Schöpfungslehre („creationist science") mag als ein symbolischer Versuch betrachtet werden, Gottes Existenz in öffentlichen Schulen anzuerkennen. Wie dem auch sei, eine Rückschau auf die Entscheidungen von 1962, 1963 und 1985 kann uns viel über den religiösen Pluralismus und die Erziehung in den Vereinigten Staaten sagen. Die Entscheidungen zu Gebet und Bibellesen lassen verschiedene Vorstellungen über Erziehung und über die Rolle der Religion im amerikanischen Leben erkennen. Natürlich werfen sie auch Fragen auf, wie das Gericht die Verfassung interpretiert. Am 25. Juni 1962 beschloß der Oberste Gerichtshof im Fall Engle v. Vitale, daß das Sprechen eines offiziellen Gebets in öffentlichen New Yorker Schulen die Verfassung verletze. Das Gebet war von der New Yorker „Board of Regents" verfaßt und allen Lehrern und Kindern zu Beginn jedes Schultages empfohlen worden. Das kurze, nichtkonfessionelle Gebet lautete: „Allmächtiger Gott, wir erkennen, daß wir von Dir abhängig sind, und wir erbitten Deinen Segen für uns, unsere Eltern, unsere Lehrer und unser Land." Mit 6 zu 1 Stimmen hielt das Gericht das Sprechen des Gebets als unvereinbar mit dem Ersten Zusatzartikel zur Verfassung. Mit der Mehrheitsmeinung, geschrie-
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ben von Richter Black, bestätigte das Gericht, daß das „Verbot von Gesetzen, die die Religion betreffen, mindestens beinhalten müsse, daß es in diesem Land nicht zu den Regierungsgeschäften gehört, offizielle Gebete für eine Gruppe von Amerikanern zu verfassen, was darauf hinausliefe, religiöse Programme durch die Regierung zu betreiben." 6 Das Gericht erklärte weiter: „Es kann keinen Zweifel geben, daß das staatliche New Yorker Gebetsprogramm den religiösen Glauben im Gebet der ,Regenten' ausdrückt." 7 Ergänzend schrieb Richter William O. Douglas: Der Erste Zusatzartikel verpflichtet die Regierung, kein Interesse an Theologie oder an Ritualen zu haben. ... Der Erste Zusatzartikel sieht die Regierung nicht in einer Position von Feindschaft gegenüber der Religion, sondern von Neutralität. Diese Philosophie besagt, daß der Atheist oder der Agnostiker - also der Nichtgläubige dazu berechtigt ist, seinen eigenen Weg zu gehen; die Regierung würde zu einer spaltenden Kraft, wenn sie sich in geistliche Angelegenheiten einmischt. Der Erste Zusatzartikel lehrt, daß auf dem Feld der Religion eine neutrale Regierung allen religiösen Interessen besser dient.8 Die oben zitierten Passagen sagen mehr aus als die Kommentare, die viele religiöse Führer, als sie von der Presse daraufhin angesprochen wurden, zur Gerichtsentscheidung abgaben. Die von der Presse entlockten Bemerkungen spiegelten wahrscheinlich die Palette an Meinungen wider, wie man sie wohl in der gesamten Nation finden konnte. Religiöse Führer hatten unterschiedliche Meinungen. Francis Kardinal Spellman sagte dazu klipp und klar: „Die Entscheidung trifft das innerste Herz der gottesfürchtigen Tradition, in der die Amerikaner bisher großgeworden sind."9 Einige Protestanten sahen in der Entscheidung eine Begünstigung für einen vollkommen säkularen Staat, in dem die moralischen Grundstützen der freien Demokratie geschwächt würden. Andere fühlten sich nicht gestört, und einige begrüßten sogar diese Entscheidung. Dean M. Kelly aus Chicago, damals Direktor des National Council of Churches's Department of Religious Liberty, sagte: „Viele Christen werden diese Entscheidung begrüßen... Sie schützt das religiöse Recht von Minderheiten und bewahrt vor einer Entwicklung hin zu einer public school religion, die weder christlich noch jüdisch, sondern weniger von alledem ist." 1 0 Einige erkannten sofort die Implikationen des Urteils, daß nämlich nachfolgende Entscheidungen gleichfalls das Lesen der Bibel im Klassenzimmer verbieten würden - eine weitverbreitete Praxis in einem Drittel der Vereinigten Staaten, besonders im Süden, wo drei Viertel der öffentlichen Schulen zu jener Zeit Gottesdienste und Bibel-Stunden durchführten. Eine nationale Umfrage, die kurz vor dem Gerichtsentscheid im Fall Engle gemacht wurde, zeigte, daß 30 Prozent aller 6 Engle v. Vitale, 370 U.S. 421, 425 (1962). 7 Engle, 430. 8 Engle, 443. 9 Zitiert in: New York Times, 26. Juni 1962, S. 1, 17. 10 New York Times, 26. Juni 1962, S. 17.
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öffentlichen Schulen ein Morgengebet praktizierten; zwischen 40 Prozent und 50 Prozent aller Schulen pflegten das Bibel-Lesen. Ungefähr 85 Prozent aller öffentlichen Schulen begannen mit einer religiösen Morgenfeier, und viele wurden in lokalen Kirchen abgehalten. Eine Entscheidung über die Bibel-Stunden, ungefähr ein Jahr nach der „Regents' prayer-Entscheidung", bewies, daß die Ängste vieler begründet waren. Am 17. Juni 1963 beschloß der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten mit 8 zu 1 Stimmen im Fall Abington v. Schempp, daß staatliche und lokale Regelungen, die das Sprechen des Vater Unser und das Lesen von Bibelversen zu Beginn der öffentlichen Schule vorsahen, das Verbot der Verfassung im Hinblick auf die Religion verletzten. Die Mehrheitsentscheidung war von Richter Clark geschrieben. Wieder waren die religiösen Führer geteilter Meinung. Im großen und ganzen brachten einflußreiche protestantische Organisationen ihre Zustimmung zur Entscheidung zum Ausdruck. Etwa eine Woche vor der Gerichtsentscheidung gab der National Council of Churches eine Stellungnahme heraus, die alle Bürger daran erinnerte, daß das „Lehren zugunsten der religiösen Praxis eher in den Verantwortungsbereich des Elternhauses und der Glaubensgemeinschaft fällt als in den der öffentlichen Schulen."11 Der Rat schrieb weiter: „Weder die Kirche noch der Staat sollte eine öffentliche Schule dazu benutzen, die Akzeptanz irgendeines Glaubensbekenntnisses oder die Übereinstimmung mit irgendeiner Glaubenshaltung zu erzwingen." Eugene Carson Blake, damals führender Repräsentant der Vereinigten Presbyterianischen Kirche (United Presbyterian Church), und Silas G. Kessler sagten in einer gemeinsamen Erklärung, die Entscheidung habe die gemeinsame Überzeugung betont, daß die religiöse Unterweisung zur heiligen Verantwortung von Familie und Kirche gehöre. Sie sagten: „Es muß daran erinnert werden, daß das Überleben des moralischen und religiösen Erbes dieser Nation nicht von diesen Entscheidungen abhängig ist. Das Gebet wird in seiner Bedeutung verkannt, wenn es dazu benutzt wird, widerspenstige Kinder zu disziplinieren, und die Bibel verliert ihre wahre Bedeutung, wenn sie als ein moralisches Handbuch für Minderjährige angesehen wird." 1 2 Bischof Fred Perce Corson hingegen, Präsident des Weltrats der Methodisten (World Methodist Council), widersprach dem Gerichtsentscheid, indem er erklärte, daß er „die religiösen Menschen, die zweifellos in den Vereinigten Staaten in der Mehrheit sind, benachteilige."13 Die katholische Reaktion auf diese Entscheidung war etwas differenzierter. Die Stellungnahme von Monsignore John J. Voight, dem Sekretär für Erziehung der Erzdiözese New York, war repräsentativ für die meisten Kommentare: Er bedauere das Vorgehen des Gerichts zutiefst. Er sage dies aus zwei Gründen: erstens, weil es die vollständige Säkularisierung der öffentlichen Erziehung in Amerika bewirken werde, was für ihn ein radikales Abrücken von dem traditionellen und historischen h New York Times, 11. Juni 1963, S. 12. 12 Ebd. 13 Ebd.
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religiösen Erbe bedeute. Und zweitens, weil es die elterlichen Rechte in der Erziehung und die Wünsche eines großen Teils der amerikanischen Eltern, die darauf Wert legen, daß ihre Kinder an der religiösen Praxis in öffentlichen Schulen teilnehmen, vollkommen mißachte.14 Die meisten jüdischen Führer begrüßten allerdings die Gerichtsentscheidung. Wenn ein ausländischer Beobachter mit diesen Entscheidungen konfrontiert würde, möchte er wissen, ob sie wirklich aus der Verfassung der USA selbst erwachsen oder ob sie Frucht einer bestimmten Rechtsphilosophie sind, die den Vätern der Verfassung unbekannt war, jedoch heute weit verbreitet ist. Er könnte die Frage stellen: Sichern diese Entscheidungen religiöse Freiheit, oder hindern sie die Religion, eine ihrer rechtmäßigen Funktionen auszuüben? Wird der Säkularismus auf den Thron gehievt? Zunächst einmal gibt es kaum einen Zweifel, daß der Oberste Gerichtshof bei der Überprüfung der Praxis, die er jetzt für verfassungswidrig erklärte, ein Jahrhundert früher diese nicht für verfassungswidrig befunden hätte. Das Gericht ist wie jede andere Institution ein Produkt seiner Zeit. Seine Richter wurden in den Schulen ihrer Generation erzogen. Sie wurden von den Rechtsphilosophien geformt, die in diesen Schulen vorherrschten, und Rechtsphilosophien ändern sich. Zur Zeit gibt es etwa zwei Meinungsgruppen in der Frage, wie die Verfassung interpretiert werden sollte. Die eine behauptet, daß sich das Gericht der Intention der Väter der Verfassung vergewissern und dementsprechend urteilen müsse. Die andere betrachtet die Verfassung als ein lebendiges Dokument, das im Licht zeitgemäßer Erfordernisse interpretiert werden müsse. Danach sind die Absichten der Verfassungsväter nicht einfach zu ignorieren, jedoch bekämen sie ein geringeres Gewicht als die Frage nach ihren Vorstellungen, wenn sie die Verfassung in unserer Zeit geschaffen hätten. Diese Meinung wurde von Richter William Brennan öffentlich artikuliert, als er Mitglied des Obersten Gerichtshofs war. Vor hundertfünfzig Jahren wäre es unmöglich gewesen, das Gebet in öffentlichen Schulen zu beanstanden. Vor einem Jahrhundert hatten die Katholiken wenig Erfolg, als sie den protestantischen Charakter amerikanischer Schulen beanstandeten. Im Gegensatz dazu kann heute eine statistisch bedeutungslose Anzahl von Nichtgläubigen eine Tendenz in den Schulen umkehren, die seit der Gründung zur Tradition des Landes gehört. Es ist nicht unsere Absicht, alle Gründe zu prüfen, wie dies möglich geworden ist, aber eines steht fest: es ist die Veränderung des geistigen Klimas an den Universitäten und folglich auch in den Medien und an den Gerichten. Es sind diese meinungsbildenden Zentren, die das allgemeine Denken über Gesetz, Moral und Religion beeinflußt haben. Diese Zentren haben die Glaubwürdigkeit der Religion in Zweifel gezogen. Das Ergebnis ist eine wachsende Zahl von Säkularisten und Nichtgläubigen. Es ist die Meinung dieser Minderheit, die das Gericht in seinen jüngsten Entscheidungen respektieren wollte. Mit diesen Ent14 Ebd.
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Scheidungen habe das Gericht den Gläubigen eindrucksvoll gezeigt, daß auch der Nichtgläubige ein Mitglied der Gemeinschaft ist. Die Verfassung, so haben die Gerichte gesagt, sei kein Instrument der Mehrheit; eher sei sie auf das hingeordnet, was die Gründungsväter zur Verteidigung von Minderheiten bestimmt haben, mögen sie noch so unbedeutend oder unbeliebt sein. Es entsteht der Anschein, das Gericht habe die einzige ihm mögliche Entscheidung getroffen, wenn es Stillschweigen im Hinblick auf die religiösen Fragen an unseren öffentlichen Schulen verlangt. Eine andere Seite der Debatte wird von Richter Potter Stewart repräsentiert, der sowohl 1962 als auch 1963 anderer Meinung war. Abweichend von der Mehrheitsentscheidung im Fall Engle v. Vitale (1962), schrieb Richter Stewart: Bei allem Respekt glaube ich, daß das Gericht ein großes Verfassungsprinzip falsch angewandt hat. Ich kann nicht sehen, wie eine Staatsreligion dadurch errichtet wird, wenn man diejenigen, die beten wollen, beten läßt. Im Gegenteil: Ich denke, die Mißachtung des Wunsches dieser Schüler, sich im Gebet zu vereinen, ist dasselbe, wie ihnen die Gelegenheit zu versagen, am geistigen Erbe unserer Nation teilzuhaben.15 Richter Stewart wies auch darauf hin, daß der Kongreß jede seiner Sitzungen mit einem Gebet beginnt; daß zu Beginn einer jeden Sitzung des Obersten Gerichtshofs selbst gerufen wird: „Gott schütze die Vereinigten Staaten und dieses ehrenvolle Gericht"; und daß die Münzen des Landes, seine Nationalhymne und sein Treueid Hinweise auf Gott enthalten. „Zahllose ähnliche Beispiele könnten aufgelistet werden", sagte er, doch muß das Selbstverständliche nicht bewiesen werden. Das alles sei von diesem Gericht erst vor zehn Jahren in einem einzigen Satz zusammengefaßt worden: Wir sind ein religiöses Volk, dessen Institutionen ein höchstes Wesen voraussetzen (Zorach). Ich glaube nicht, sagte er, daß dieses Gericht, der Kongreß oder der Präsident bei den Aktionen, die ich erwähnt habe, eine Staatsreligion errichten wollten und damit gegen die Verfassung verstießen. Und ich glaube nicht, daß der Staat New York dies in diesem Fall getan hat. Was getan wurde, war, die tief verwurzelten und hochgeschätzten geistigen Traditionen unserer Nation anzuerkennen und ihnen zu folgen - Traditionen, die uns jene überlieferten, die vor fast zweihundert Jahren ihr „festes Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vorsehung" offen bekannten, als sie die Freiheit und Unabhängigkeit dieser großartigen neuen Welt verkündeten. 16 Auch in seinen nachfolgenden Kommentaren zum Fall Abington v. Schempp (1963) vertrat Richter Stewart mehr oder weniger dieselbe Auffassung. „Wir irren," sagte er, „wenn wir nicht anerkennen - und zwar als eine Frage der Geschichte und der Imperative unserer freien Gesellschaft - , daß Religion und Regieren notwendigerweise auf ungezählten Wegen ineinandergreifen" 17. Richter 15 Engle v. Vitale, 370 U.S. 421,425 (1962). 16 Engle, 450. 17 Abington v. Schempp, 314 U.S. 203, 309.
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Stewart schrieb: Religiöse Übungen sind, was die Verfassung angeht, nicht ungültig, wenn sie einfach die Unterschiede widerspiegeln, die in der Gesellschaft bestehen, aus der die Schüler kommen. Sie werden erst dann verfassungsrechtlich ungültig, wenn die Schulverwaltung ihre rechtliche Autorität zugunsten einer oder mehrerer religiöser Überzeugungen einsetzt. Um genau zu sein: Es leuchtet mir ein, daß gewisse Übungen Situationen von der Art sind, daß man in sie keinen Zwang seitens weltlicher Behörden hineinlesen könnte. Wenn also solche Übungen entweder vor oder nach der Schule abgehalten werden, oder wenn die Stundentafel derart ist, daß die Teilnahme daran eine unter mehreren wünschenswerten Alternativen ist, könnte wohl kaum bestritten werden, daß die Übungen lediglich eine Gelegenheit für die freiwillige Ausübung des religiösen Glaubens bieten. 18 Richter Stewart erkannte die praktischen Schwierigkeiten an, die die Durchführung einer solchen Politik bei Christen verschiedenen Bekenntnisses, bei Juden, bei Agnostikern, bei Atheisten und bei Moslems hervorrufen könnte, doch er drückte sein Vertrauen aus, daß die Verantwortlichen für die Schule mit Erfindungsgabe und gutem Willen die Probleme vor Ort selbst lösen könnten. Richter Stewarts abweichende Meinung widerspiegelte in gewisser Hinsicht die Meinung von Erwin Griswold, damals Dekan der Harvard Law School. In einer bald nach der Zsrcgfe-Entscheidung veröffentlichten Stellungnahme (und somit vor der Abington-Entscheidung) erklärte Griswold, es sei bedauerlich, daß diese Frage überhaupt vor den Obersten Gerichtshof gekommen sei. Griswold argumentierte, daß das amerikanische Volk eine geistige und kulturelle Tradition habe, die ihm nicht vorenthalten werden dürfe von Richtern, die sich von absolutistischen und nicht in der Verfassung begründeten Vorstellungen leiten lassen. Er sagte weiter: „Es gibt einige Angelegenheiten, die im wesentlichen auf der lokalen Ebene anstehen, wichtige Dinge, aber nichtsdestoweniger Dinge, die von den Bürgern selber in ihren eigenen Gemeinschaften gestaltet werden sollen, wenn nicht Grundrechte anderer beeinträchtigt werden." 19 In der gleichen Stellungnahme stellte Griswold die Schlüsselfrage: Erfordert unsere fest verwurzelte Toleranz gegenüber allen Religionen - oder in gleicher Weise keiner Religion gegenüber - , daß wir alle religiösen Bezüge bei öffentlichen Aktivitäten aufgeben? Warum? Die Gründungsväter hätten dies als völlig unverständlich gefunden. Es ist kaum anzunehmen, daß diese Fragen in den ersten einhundertfünfzig Jahren unserer Verfassungsgeschichte nur zufälligerweise nicht vor Gericht kamen.20 Griswold kommentierte: Dies, ich erlaube mir, es nochmals zu sagen, war und ist ein christliches Land seit seiner Gründung und in seiner Geschichte, Tradition und Kultur. Aus der christlichen Lehre und Ethik, so kann man sagen, entwickelte es die Idee der Toleranz. Man kann von niemandem in diesem Land eine besondere Form von religiösem Glauben verlangen; und niemand darf gesetzlich diskrimi18 Abington, 317-318. 19 Nach einem Bericht in America, 16. März 1963, S. 374. 20 Ebd.
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niert werden, weil er einen bestimmten religiösen Glauben hat oder nicht hat. Aber beinhaltet die Tatsache, daß wir die Toleranz offiziell als Grundbedingung angenommen haben, daß wir unsere Geschichte und unsere Tradition aufgeben müssen? Der Moslem, der hierher kommt, möchte Gott anbeten, wie er es für richtig hält, oder ein öffentliches Amt bekleiden können, ohne diskriminiert zu werden. So sollte es sein. Aber warum sollte daraus folgen, daß andere ihre christliche Tradition aufzugeben hätten, nur deshalb, weil er ein toleriertes und willkommenes Mitglied der Gemeinschaft ist? 21 Die Ansichten von Richter Stewart und Dekan Griswold stellen, obwohl sie nicht die Entscheidungen des Gerichtes widerspiegeln, wahrscheinlich die Meinung der Mehrheit der US-Bürger dar. Sie verweisen mit Bestimmtheit darauf, daß das Gericht in diesen zwei Entscheidungen weiter ging, als nur die Existenz einer großen Gruppe von Nichtgläubigen anzuerkennen. Stewart und Griswold sind der Auffassung, das Gericht habe die „no-establishment clause" so völlig überzogen ausgelegt, daß jedwedes Engagement einer Regierung für die Religion illegal zu sein scheint. Die Prinzipien, die in den damaligen Entscheidungen von 1962 und von 1963 ihren Niederschlag gefunden haben, wurden zu ihrem logischen Abschluß gebracht, als das Gericht im Fall Wallace v. Jaffree (1985) beschloß, daß die Gesetzesbestimmung in Alabama, die eine Minute der Stille in allen öffentlichen Schulen „für Meditation oder freiwilliges Gebet" vorsah, verfassungswidrig sei. Das Gericht behauptete, daß die Bestimmung der Errichtung einer Staatsreligion gleichkomme und damit gegen den Ersten Zusatzartikel verstoße. Die von dem First Amendment geschützte individuelle Gewissensfreiheit beinhaltet das Recht, einen religiösen Glauben zu wählen oder nicht. Im Hinblick auf die Kriterien, die zuerst in dem als Lemon v. Kurtzman (1971) bekannten Fall artikuliert wurden, erklärte das Gericht, daß die Satzung in Alabama deutlich den Ersten Zusatzartikel verletze. Die Kriterien waren, daß jede Satzung: 1. einen weltlichen gesetzlichen Zweck haben muß; 2. als Primärwirkung eine Religion weder bevorzugen noch benachteiligen darf und 3. ein Übermaß an Verquickung der Regierung mit der Religion vermieden wird. Nach Meinung des Gerichts wurde dem ersten Kriterium beim Alabama-Statut nicht entsprochen, weil sein Zweck die Förderung von Religion war, nämlich die Wiedereinführung des Gebetes in den öffentlichen Schulen. Die Billigung eines Gebets sei „nicht mit dem bestehenden Prinzip vereinbar, daß die Regierung der Religion gegenüber vollkommen neutral sein muß." 22 Der Streit um das Gebet von 1985 hatte auch etwas Gutes, nämlich die Minderheitenmeinung von Richter Rehnquist, der die Absurdität der radikalen Trennung von Kirche und Staat im Lichte der amerikanischen Geschichte und der Absicht 21 Ebd. S. 375. 22 Wallace ν. Jaffree, 5 Dougherty
472 U.S. 38, 60.
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der Verfasser der „Bill of Rights" aufzeigt. Seiner Meinung nach hat diese Vorstellung zu zahlreichen Ungereimtheiten bei Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs seit seiner Anrufung im Fall Everson vor vierzig Jahren geführt. Rehnquist fertigte eine interessante Liste der Ungereimtheiten an, die er in den Entscheidungen des Gerichts seit Everson vorfand: ein Staat könne Schülern kirchlicher Schulen Geographietextbücher, die Landkarten der Vereinigten Staaten enthalten, ausleihen, aber nicht Landkarten der Vereinigten Staaten zur Verwendung in Geographieklassen; ein Staat dürfe amerikanische Textbücher der Kolonialgeschichte ausleihen, aber nicht einen Film über George Washington oder einen Filmprojektor, um ihn zu zeigen; ein Staat dürfe Klassenarbeitsbücher ausleihen, aber keine Arbeitsbücher, in die Schüler kirchlicher Schulen hineinschreiben, weil sie dadurch nicht wiederverwendbar werden; ein Staat dürfe für Bustransport zu kirchlichen Schulen aufkommen, aber nicht für den Bustransport von der kirchlichen Schule zu einem öffentlichen Zoo oder Museum für einen Ausflug. Rehnquist schlußfolgert unverblümt: „Die radikale Trennung zwischen Kirche und Staat ist eine Metapher, die auf mangelhafter Geschichtskenntnis beruht, eine Metapher, die sich als nutzloser Wegweiser für die Rechtsprechung erwiesen hat. Sie sollte offen und ausdrücklich aufgegeben werden." 23 Gegen jene, die einwenden möchten, daß die Verfassung das meint, was die Richter herauslesen, betont Rehnquist: Die wahre Bedeutung der Establishment Clause kann nur in ihrer Geschichte ermittelt werden. ... Beim Entwurf unserer Bill of Rights schrieben die Gründungsväter die Prinzipien hinein, die das Heute steuern. Jegliche Abweichung von ihren Intentionen macht die Dauerhaftigkeit jener Charta zunichte und wird nur zu einer Art von Entscheidungsmechanismus ohne Prinzipien führen, die unsere Establishment Clause seit Everson belastet hat. 24 Er kommt zu der Schlußfolgerung, die von der Geschichte gestützt wird: Die Gründungsväter wollten die Establishment Clause, um die Schaffung einer „nationalen" Kirche zu verhindern. Sie war auch dazu bestimmt, um die Bundesregierung davon abzuhalten, eine religiöse Konfession oder Sekte über eine andere zu stellen. Die Establishment Clause findet im Vierzehnten Zusatzartikel ihre Ergänzung (Fall Everson), wonach es auch den Einzelstaaten verboten ist, eine Staatsreligion zu etablieren oder Sekten zu diskriminieren. Wie jedoch die Geschichte überreich zeigt, enthält die Establishment Clause nichts, was die Regierung dazu verpflichten würde, neutral zwischen Religion und Nichtreligion zu sein, noch verbietet sie dem Kongreß oder den Staaten, legitime säkulare Ziele auf nichtdiskriminierendem konfessionellem Wege zu erreichen. 25 Die säkulare Speerspitze (des dreiteiligen Lemon-Tests) hat sich in seiner Anwendung als nicht tragfähig erwiesen, weil er niemals eindeutig definiert wurde, und es wurde niemals umfassend 23 Ebd. 107. 24 Ebd. 113. 25 Ebd.
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festgestellt, wie der Test geschehen soll. ... Der Lemon-Test bietet keine Grundlage mehr für die geschichtliche Erklärung des First Amendment, ebensowenig wie die Theorie der radikalen Trennung, auf der er beruht. 26 In Anbetracht der historischen Tatbestände und der zwingenden Logik der abweichenden Meinung von Rehnquist könnte man zuversichtlich sein, daß eine nur leichte Verschiebung des ideologischen Trends des Gerichtes zu einem ganz und gar unterschiedlichen Verständnis der Verfassung führen könnte, das sich günstig auf die elterliche Kontrolle der Erziehung auswirken würde. Der Oberste Gerichtshof neigt dazu, das geistige Schlachtfeld für die Seele der Vereinigten Staaten zu sein, und seine Entscheidungen führen oft zu größeren Verschiebungen in der Gesellschaftsordnung. Deshalb kann man sicher sein, daß die Debatte über das Verhältnis von Kirche und Staat vor dem Gericht und das Ringen um die Erziehungskontrolle weitergehen werden. Die nachfolgenden Entscheidungen des Gerichts haben - zum Schrecken vieler - die logischen Folgerungen der vorausgehenden Entscheidungen gezogen; sie haben sogar zur Verbannung der Zehn Gebote geführt. Zu wissen, was ist, sagt uns nicht automatisch, was sein sollte. Die weiterreichende Frage, mit der wir konfrontiert sind, kann unterschiedlich formuliert werden: Hat die Gesellschaft ein Interesse an der An- oder Abwesenheit einer Religion? Macht es einen Unterschied für die Gesellschaft, ob Menschen Gott verehren oder an Gott glauben? Sollten Regierungen die Religion fördern, ihr gleichgültig gegenüberstehen oder sie aktiv bekämpfen? Diese Art von Fragen zu stellen heißt nicht, eine romantische Interpretation von Religion vorzunehmen. Es gibt in diesem Lande mehr als 215 Religionsgemeinschaften; diese Vielfalt erleichtert es nicht gerade, in der Religion eine Quelle der Weisheit oder gar des moralischen Wissens zu sehen. Man kann darüber streiten, ob die Religion heute in der Lage ist, wenigstens jene Aufgaben zu erfüllen, von denen Voltaire dachte, daß sie enorm wichtig seien und weshalb die Religion aus der Sicht des Staates gefördert werden sollte. Der religiöse Geist, der von den Ressourcen des Wissens abgeschnitten ist, ist ein verarmter Geist. John Dewey dachte, daß die Philosophie die von der Religion nicht mehr wahrgenommene Aufgabe übernehmen könnte, einen gemeinsamen Bürgerglauben zu entwickeln, der als notwendige Grundlage für Moral und Gesetz dienen könnte. Aber außerhalb der marxistischen Schule des Denkens würden heutzutage wenige seine Zuversicht teilen. Die philosophische Gemeinschaft ist genauso gespalten und unsicher über sich selbst wie die religiöse. Die westliche Kultur mag in der Tat im Todeskampf liegen, wie Nietzsche behauptete; aber es ist ein Lichtblick, daß es zu Beginn des neuen Jahrtausends zu einer Gewissensprüfung gekommen ist, die uns veranlaßt hat, auf unsere Wurzeln als eine Nation zu blicken. Wir sind in der Lage zu sehen, wie weit wir von der 26 Ebd. 108, 110. 5*
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von unseren Gründungsvätern festgehaltenen Weltanschauung abgekommen sind. Bis in die Gegenwart hinein hat die Weisheit ihren politischen Weitblick nicht verloren. Um diese überzeitlichen Prinzipien, die ihre Überlegungen leiteten, wieder zu erneuern, bedarf es nur eines kleines Schrittes, dem weder die Logik noch die Erfahrung entgegenstehen.
Marx, Dewey und Maritain De i B e d e u u tn g der R e g i lo i n für de i G e s e s lc h a f t Innerhalb weniger Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg wurde dieses Land - wie ein Großteil des Westens - geistig säkularisiert, mit Auswirkungen für die gesellschaftliche Ordnung. Es ist eine historische Erfahrung: Wenn die Gesetze einer Gesellschaft auf einer bestimmten Weltanschauung beruhen und diese Weltanschauung zusammenbricht, dann werden auch die Gesetze selbst in sich zusammenfallen 1. Wir konnten beobachten, wie dies in den Vereinigten Staaten allmählich geschehen ist, als die Universitäten, von denen viele von religiösen Organisationen gegründet waren, säkularisiert wurden und zur Säkularisierung der Nation beigetragen haben. Es würde zu weit führen, die Geschichte dieser Entwicklung hier darzustellen, aber ihre Konturen sind wohlbekannt. Weitgehend durch Gerichtsbeschlüsse und mit Unterstützung der Massenmedien haben unsere geistigen Eliten ein Bündel von Gesetzen zustande gebracht und die Akzeptanz eines Lebensstils bewirkt, der jedem, der Erinnerungen an die Vorkriegszeit hat, als fremd erscheinen muß. Aus einer christlichen Sicht des Lebens und vom Standpunkt der Gesetze, die diese Sicht begünstigten, ist dieses Land einer säkularen Geistigkeit und Gesetzen verfallen, die einem fast ungezügelten Hedonismus frönen. Mit dem gesetzlichen Schutz des Sonntags proklamierten wir öffentlich den Tag des Herrn; mit Gesetzen gegen den Verkauf von Verhütungsmitteln bestätigten wir den Zeugungszweck der Ehe; mit Gesetzen gegen die Pornographie unterstrichen wir die Sinnhaftigkeit des Geschlechtsaktes; mit Gesetzen gegen die Abtreibung traten wir für die Heiligkeit menschlichen Lebens ein, und mit strengen Strafen für Verbrechen - vom Mord bis zum Drogenhandel - schützten wir andere unbestrittene Werte. Der Lauf der Ereignisse gab Lord Patrick Devlin Recht: Die Voraussetzungen dieser Gesetze wurden von wichtigen Teilen der Gesellschaft angezweifelt und die Gesetze aufgeweicht. Die Ethik unserer intellektuellen Eliten heute hat sich in den Vordergrund gespielt - mit tragischen Folgen für unser Volk. Heute bedarf es des Einkommens zweier Berufstätiger, um einen Haushalt zu finanzieren, dessen Bestand aber bei einer Scheidungsrate von nahezu 50% nicht gesichert ist; die Reproduktionsrate liegt weit unter dem Niveau der Bestandserhaltung der Bevölkerung. 1 Patrick Devlin: The Enforcement 1-25.
of Morals (London: Oxford University Press, 1965),
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Was ist schief gelaufen? Die Antwort ist naturgemäß komplex, und es gibt viele Betrachtungsweisen dieser Periode. Wir wollen uns einer Antwort nähern, indem wir zwei Grundideen westlicher Kultur, die Demokratie und die Religion, aus drei verschiedenen Perspektiven untersuchen, die immer noch sehr einflußreich und zugleich repräsentativ für die Kluft zwischen der heutigen und der vorhergehenden Periode sind: jene von Karl Marx, John Dewey und Jacques Maritain. Angesichts seines historischen und weltweiten Einflusses in unserer Zeit bedarf die Wahl von Karl Marx keiner Erklärung. Dewey vertritt die Sicht eines säkularen Humanismus, den er nicht nur mitdefinierte, sondern von seinen geistigen Wurzeln bis hin zu einem Gesellschaftsprogramm mitgestaltete. Maritain vertritt einen historisch und religiös geprägten Denkansatz; in der Tradition seines Landsmannes de Tocqueville sieht er eine enge Verbindung zwischen religiöser Praxis und der Lebensfähigkeit einer Demokratie. Wir beschränken uns nicht auf eine bloße Textanalyse; wenn man sich nämlich auf die globale Situation konzentriert und hier auf den Wettstreit zwischen zwei Supermächten stößt, dann besteht der entscheidende Faktor wohl kaum im Vorhandensein oder Fehlen einer Marktwirtschaft. Man muß jenseits des Ökonomischen ansetzen. Unter dieser Rücksicht kann man feststellen, daß sich die Positionen unserer führenden Intellektuellen nicht sonderlich von der Marxschen unterscheiden. Und Dewey und Marx stehen sich geistig näher als Dewey und Maritain. Es ist kein Zufall, daß die Sowjetunion allen Formen der Religion, die sich nicht in das System einfügen, mißtraut und sie unterdrückt. Wie weit sie sich auch vom ursprünglichen marxistischen Manifest entfernt hat, sie ist und bleibt einer Ideologie verhaftet, der alle intermediären Institutionen verdächtig sind. Von Beginn der bolschewistischen Macht an war Religion nicht nur eine alternative Ideologie, sondern ein Hindernis für den Fortschritt staatlicher Beherrschung. Im Machtbereich der Sowjetunion wissen die „Gläubigen", was sie von ihrer Regierung zu erwarten haben. Im Westen ist dies weniger klar. In den meisten westlichen Ländern geht man davon aus, daß die Beziehungen zwischen der kirchlichen und der staatlichen Ordnung vor langer Zeit zum beiderseitigen Vorteil ausgestaltet worden sind. Ich bin überzeugt, daß dies nicht der Fall ist. Tatsächlich besteht nämlich eine tiefe Kluft zwischen dem Agnostizismus der Intellektuellen, die die Politik bestimmen, und den religiösen Überzeugungen der gläubigen Bevölkerung. Und erstere scheinen ihren Einfluß auf die Gesetze in den meisten westlichen Ländern ständig zu verstärken. In einem früheren Jahrhundert hätten wir vielleicht das Auf und Ab der Kulturen mit der Zuversicht betrachtet, daß sich die Dinge im Laufe der Zeit von selbst regeln werden. Aber mit einem mächtigen militärischen Gegner im Osten, der entschlossen ist, den Westen zu unterwerfen, ist die Lage heute anders. Der Westen muß sich über seine materiellen und geistigen Ressourcen klar werden. Die Grundfrage lautet: Kann ein westlicher Materialismus, ein liberaler Säkularismus dem ideologischen Angriff des Ostens widerstehen, von dem er sich in wichtigen Punkten nicht unterscheidet? Eine Gewissenserforschung ist seit langem überfällig. Wir
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müssen uns den Quellen unserer Kultur zuwenden sowie der Bedeutung der Religion bei der Gestaltung dieser Kultur.
M a r x ' R e g i lo in s k r t i k i Hinsichtlich seiner Auffassung von Religion war Marx ein Produkt der Literatur seiner Zeit, stark beeinflußt von Hegel, aber auch von den Theologen und Exegeten David Friedrich Strauß und Bruno Bauer.2 Von Hegel übernahm er die Vorstellung, daß Religion ein umfassender Ausdruck der menschlichen Existenz sei, etwas verfeinerter und genauer als die mehrdeutige Auslegung aus dem Reich der Dichtung, aber ohne die Stringenz und Präzision, die nur die Philosophie biete. Diese Auffassung von der quasipoetischen Natur der Religion wurde von Strauß und Bauer verstärkt vertreten, die Marx zeigten, wie biblische Texte zu verstehen seien. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als dieser Gedanke noch relativ neu war, überzeugten Strauß und Bauer Marx, daß die Heilige Schrift lediglich ein Werk menschlicher Einbildungskraft sei. Die Botschaft der Heiligen Schrift sei reine Metaphorik; sie sei ein erfundener Ausdruck menschlicher Moralvorstellungen. Strauß und Bauer stimmten mit Hegel überein, daß Gott nur eine erdachte Vorstellung des Absoluten ist. Demzufolge waren sie überzeugt, daß wir über die traditionelle Vorstellung von Gott hinausgehen und erkennen müssen, daß Religion nur ein Weg ist, um die Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Moralvorstellungen darzustellen - ein unvollkommener Weg, wie Feuerbach sagen würde, weil Religion die Moralvorstellungen in ein separates und entferntes Reich verlagert. Nach Feuerbach besteht die Aufgabe darin, die rein menschliche Bedeutung der Religion wieder zu entdecken. Die Religion müsse wieder auf ihre eigentlichen Proportionen als Ausdruck menschlicher Moralvorstellungen zurückgeführt werden.3 Marx stimmte den Ideen Feuerbachs voll und ganz zu. Er erklärte, in Deutschland sei die Religionskritik im wesentlichen abgeschlossen, und Religionskritik sei die Prämisse jedweder Kritik. 4 Von nun an würde die Religionskritik auf die Kritik 2 David Friedrich Strauß (1808-1874) verneinte in seinem ersten größeren Werk: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde. (1835-1836; übersetzt ins Englische von George Eliot: The Life of Jesus, Critically Examined, 1846) den historischen Wert der Evangelien. Er verwarf ihren übernatürlichen Anspruch, beschrieb sie als historische Mythen, die unbeabsichtigt entstanden und die die ursprünglichen Hoffnungen der frühen christlichen Gemeinden enthalten. Kurz bevor er starb, veröffentlichte er das Buch: Der alte und der neue Glaube (1872; übersetzt ins Englische: The Old Earth und The New, 1873), in dem er das Christentum durch einen darwinistisch beeinflußten „wissenschaftlichen Materialismus" ersetzen wollte. Bauer (1809-1882) kam zu einem ähnlichen Schluß: Die Evangelien berichten nicht über ein historisches Ereignis, sondern entspringen der menschlichen Phantasie. Als Student in Berlin belegte Marx Bauers Kolleg über den Propheten Jesaja. 3
Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841, 2. Auflage 1843).
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an der Politik und an der Gesellschaftsordnung übertragen. Marx wollte damit sagen, daß er das säkulare Religionsverständnis akzeptiere und nicht die Absicht habe, die Arbeit von Hegel, Strauß, Bauer und Feuerbach zu wiederholen. Er hielt es jedoch für wichtig, eine Anmerkung hinzuzufügen. Feuerbach hatte sich äußerst unklar über den Grund geäußert, warum die Menschen dazu neigen, ihre Ideen auf die objektive Ordnung zu projizieren oder sie in Gott zu personifizieren. Marx griff die Idee von Feuerbach auf und kam zu dem Schluß, daß die Menschen wegen der von der kapitalistischen Wirtschaft verursachten unerträglichen sozialen Verhältnisse gezwungen waren, ihre moralischen Ideale auf ein Jenseits zu projizieren. Diese Ergänzung verdeutlicht die Marxsche Religionsvorstellung. In seinem Essay über Hegel bezeichnet Marx die Religion als das theoretische Gegenstück des Privateigentums. Er benutzt die Vorstellung von einem falschen Bewußtsein in einer verkehrten Welt 5 . In der praktischen Ordnung herrscht das unmenschliche kapitalistische System, das in der theoretischen Ordnung oder in unserem eigenen Denken den Trost der Religion hervorgebracht hat: Religion „ist Opium des Volkes". Die zur Gewohnheit gewordene religiöse Bindung wird nicht durch einen gegen sie geführten Frontalangriff aufgebrochen, sondern durch Beseitigung der Verhältnisse, die das religiöse Ideal hervorbringen. Die wirkliche Abschaffung der Religion wird automatisch als Ergebnis sich verändernder wirtschaftlicher und sozialer Strukturen erfolgen. Schließlich wird die Religion absterben, wie der Kapitalismus abstirbt. Marx schrieb: Radikal zu sein bedeutet, die Dinge bei der Wurzel zu erfassen. Für den Menschen freilich ist die Wurzel der Mensch selbst. Die Kritik der Religion endet mit der Doktrin, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist; sie endet mit dem kategorischen Imperativ, alle jene Verhältnisse über Bord zu werfen, in denen der Mensch ein unterdrücktes, versklavtes, entfremdetes und verachtetes Wesen ist. 6 Wenn der Mensch sich und seine Welt selbst erschaffen hat, dann kann und sollte er nicht darauf warten, von seinen Leiden durch eine übermenschliche Kraft - gut oder böse - befreit zu werden, sondern er muß sich selbst befreien. Mit anderen Worten: Der Glaube an die Selbstschöpfung impliziert, daß man auch den Gedanken der Emanzipation akzeptieren muß. Indem das Proletariat die ganze Menschheit befreit, kann es sich selbst als Klasse befreien. Dies ist die Grundlage des Marxschen Sozialismus. Der Kampf um seine Verwirklichung fordert einen militanten Humanismus; sein Ziel ist nichts geringeres als die klassenlose Gesellschaft. Dieses Ziel wird nicht nur für die deutsche Gesellschaft angestrebt, sondern für die ganze Menschheit. Kampf ist unvermeidbar. Marx zögert nicht, im Namen der Nächstenliebe Feindeshaß zu schüren. Dies ist nur bei oberflächlicher Betrach4
Übersetzung: Karl Marx, „Contribution to the Critique of Hegel's Philosophy of Law: Introduction", in: Karl Marx and Friedrich Engels, Collected Works (New York: International Publishers, 1976), 3.175. 5 Ebd. 3.175. 6 Ebd. 3.182.
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tungsweise ein Widerspruch. Nach Marx muß der Humanist die Nächstenliebe nicht abstrakt, sondern konkret angehen. So fördert er Aktionen, die all jene frustrieren und unschädlich machen, die um ihrer privaten Interessen wegen die Wege des Menschen zu seinem Glück blockieren. Denn in einer durch Klassen bestimmten Ordnung sind sie - bewußt oder unbewußt - Feinde der Menschheit. Jeder, der diese Wahrheit versteht, muß auch erkennen, daß die Feinde der Brüderlichkeit - die Feinde der Sache der Menschheit - aktiv bekämpft werden müssen und daß dieser Kampf untrennbar mit Gefühlen des Hasses verbunden ist. Die Liebe zur Menschheit setzt in der Tat den Haß jener voraus, die objektiv im Namen der Unterdrückten handeln. Das D e n k e nJ o h nD e w e y s John Dewey, ein anderer Schüler von Hegel und Feuerbach, lehrte ein halbes Jahrhundert an drei bedeutenden Universitäten und spielte eine kritische Rolle bei der Ausbildung von Lehrern an öffentlichen Schulen. Die längste Zeit seiner Lehrtätigkeit verbrachte Dewey an der Columbia University, die zeitweilig 95 % aller Schulleiter öffentlicher Schulen in den USA ausbildete. Dewey verbreitete seine Gedanken unter Pädagogen, die ihrerseits die im ganzen Land benutzten Handbücher für Lehrerbildung verfaßten. Der missionarische Charakter seiner Philosophie - mit der Betonung auf Nützlichkeit, Wandel, Fortschritt und mehr auf Zukunft als auf Vergangenheit - fand Anklang und wurde zum amerikanischen Credo. Den Kern der Philosophie Deweys findet man in einem kleinen Buch, das er gegen Ende seiner Lehrtätigkeit verfaßte: A Common Faith. Dewey beginnt das Buch mit der Feststellung, daß sich im Laufe der Geschichte die Menschheit über die Frage der Religion in zwei Lager gespalten hat.7 Der entscheidende Punkt hierfür ist seiner Meinung nach „das Übernatürliche" 8. Religionswissenschaftler vertreten die Auffassung, daß ohne Verbindung zum Übernatürlichen ein Glaube nicht wahrhaft als religiös bezeichnet werden kann. Unter den Gläubigen gibt es ein weites Spektrum von Positionen: von jenen der griechischen und römischen Kirchen, die ihre dogmatischen und sakramentalen Systeme als den einzig sicheren Zugang zum Übernatürlichen betrachten, bis hin zu den nicht-doktrinären Theisten oder gemäßigten Deisten. In diesem Spektrum befinden sich auch zahlreiche protestantische Überzeugungen, denen zufolge die Heilige Schrift und das Gewissen angemessene Wege zur religiösen Wahrheit sind. Die Gegner der Religion glauben, daß die moderne Anthropologie und Psychologie hinreichend die allzu menschlichen Quellen dessen aufgedeckt hätten, was herkömmlich dem Übernatürlichen zugeordnet wurde. Die Extremisten dieser Gruppe glauben, daß mit der Verdrängung des Übernatürlichen nicht nur die historischen Religionen, sondern das Religiöse schlechthin verschwinden müsse. 7
John Dewey, A Common Faith (New Haven, Conn.: Yale University Press, 1934). » Ebd. 1.
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Im Anschluß an die Situationsanalyse untersucht Dewey den Wurzelgrund der Spaltung der Menschen über die Frage der Religion. Er versucht, die Gründe der Identifikation des Religiösen mit dem Übernatürlichen und die sich daraus ergebenden Folgen zu erforschen. Dabei bietet er ein anderes Konzept vom Wesen religiöser Erfahrung an, eines, das sie vom Übernatürlichen und seinen Herleitungen trennt. Erst durch diese Trennung kann sich eine wirklich religiöse menschliche Erfahrung aus eigener Kraft frei entfalten. Zu diesem Zweck führt Dewey im ersten der drei Kapitel des Buches A Common Faith eine Unterscheidung zwischen dem Substantiv Religion und dem Adjektiv religiös ein.9 Diese Unterscheidung liefert ein hermeneutisches Instrument, um das, was in „religiöser" Erfahrung gültig ist, festzuhalten. Zugleich wird sie von der Last befreit, die aus den Erklärungsversuchen verschiedener historischer Religionen erwächst. 10 Es gibt nach Einschätzung Deweys eine Gültigkeit dessen, was man weltweit unter religiöser Erfahrung versteht. Diese kann freilich auch außerhalb historischer Religionen wahrgenommen werden, zumal diese die ganze Tragweite solcher Erfahrungen eher verdunkelt haben.11 Wenn dieser gültige Kern ans Licht befördert werden kann, werden die Menschen erkennen, daß sie für religiöse Erfahrungen keine Religionen brauchen. Dewey gesteht zu, daß Religion im Leben der meisten Menschen eine Rolle spielt. Wird sie ernst genommen, kann sie die Einstellung des Menschen zum Leben bedeutsam und dauerhaft verändern. Im Unglück kann Religion ein Gefühl des Friedens und der Sicherheit vermitteln; in Zeiten des Wandels kann sie Anpassung erleichtern. Indem sie die verschiedenen Elemente der Erfahrung vereint, kann sie eine Vision erzeugen, die eine freiwillige Unterwerfung unter die Wirklichkeit zur Folge hat - nicht in stoischer Hinnahme des Unabänderlichen, sondern durch eine innere Umleitung des Willens und der Einstellung.12 Wenngleich Dewey nicht leugnet, daß eine religiöse Einstellung diese und viele andere Vorteile hat, leugnet er jedoch, daß diese Auswirkungen religionsspezifisch sind. Die Religionen beanspruchen, eine Haltungsänderung zu bewirken; Institutionen nutzen aber diese Haltungen, um etablierte Kirchen zu schaffen, indem sie statt des moralischen den spekulativen Glauben und das Dogma setzen. Moralischer Glaube umfaßt die Überzeugung, daß irgend ein geistiges Ziel dem eigenen Verhalten übergeordnet sein sollte. Im Gegensatz dazu schreibt der spekulative Glaube diesem Ziel Existenz zu, objektiviert es und macht es zu einer Wahrheit für den Verstand. Moralischer Glaube ordnet sich einem Ziel unter, das einen rechtmäßigen Anspruch auf die Wünsche und Absichten des Einzelnen erhebt. Er ist praktisch, nicht verstandesmäßig. Und da er keines Beweises bedarf, hat er nur die Autorität eines frei gewählten Ideals, nicht diejenige einer Wirklichkeit. Institutionelle Religionen haben diese Einstellung, verleihen dem, was ein moralisches Ideal 9 Ebd. 10 Ebd. 2. h Ebd. 3. 12 Ebd. 16-17.
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war, objektive Wirklichkeit und erklären es zur letztgültigen Wirklichkeit im Innersten alles Bestehenden. Die Religion hat damit keine Schwierigkeiten, denn Wunschvorstellungen üben einen mächtigen Einfluß auf intellektuelle Glaubensüberzeugungen aus. Die Menschen neigen dazu zu glauben, was sie innig erstreben. Jedenfalls ist es immer leichter zu glauben, daß das Ideal schon eine Wirklichkeit ist, als es dazu machen zu wollen. 13 Dewey betrachtet das Ideal des moralischen Glaubens im Grunde als mehr religiös als seine Verdinglichung in formalen Religionen; denn das Ideal weist auf Möglichkeiten hin, und alles menschliche Streben ist durch Glauben an das Mögliche besser motiviert als durch Verhaftetsein dem bereits Bestehenden gegenüber. Ein solches Ideal kann ferner auf Vorgänge im Bereich der Natur verweisen. Es ist in Übereinstimmung mit der Natur und trennt uns nicht von ihr. Er schreibt: „Der Glaube an die fortwährende Aufdeckung der Wahrheit durch gemeinsames menschliches Bemühen ist in religiöser Hinsicht qualitativ mehr als jeder Glaube an eine Offenbarung." Somit werden die Natur und die Erfahrung des Menschen in ihr zur Quelle und zum Gegenstand des Ideals, das das Leben leitet. Jede Tätigkeit für ein ideales Ziel ist wesenhaft religiös. Irreligiös ist eine Haltung, die menschliche Leistung und Zielsetzung ohne Verbundenheit mit der Natur und den Mitmenschen bewertet. So gesehen, vermeidet religiöses Handeln den Antagonismus von Religion und moderner Wissenschaft: Die positive Lektion besagt, daß religiöse Qualitäten und Werte, wenn es sie überhaupt geben sollte, nicht an irgendein Element verstandesmäßiger Zustimmung gebunden sind, nicht einmal an das der Existenz Gottes wie im Theismus; und daß unter bestehenden Bedingungen die religiöse Funktion erfahrungsgemäß sich nur emanzipieren kann durch Preisgabe des gesamten Rasters von Wahrheiten, die von ihrer Natur aus religiös sind, zusammen mit der Vorstellung besonderer Zugänge zu diesen Wahrheiten. Denn nur, wenn wir annehmen, daß es nur eine Methode zur Ermittlung von Wirklichkeit und Wahrheit gibt - das bedeutet das Wort „wissenschaftlich" im allgemeinen Sinn - , wird es keine Entdeckung in irgendeinem Wissensbereich und keine Forschung mehr geben, die dann den Glauben, er sei religiös, verwirren könnte. 14 Es ist bemerkenswert, daß Dewey von William James' pragmatischem Ansatz zum religiösen Glauben abrückt. James war bereit, einem Glauben, der im Leben des Glaubenden befriedigende Ergebnisse hervorbrachte, eine gewisse Gültigkeit und Bedeutung beizumessen. Dewey ist vorsichtiger. Er fragt, ob James die pragmatische Methode anwendet, um einen Wert in den Konsequenzen einer religiösen Formel, die ihren logischen Gehalt schon bestimmt hat, zu entdecken, oder ob er seine pragmatische Methode benutzt, um die Formel zu kritisieren, zu revidieren und letztlich ihre Bedeutung festzulegen. 15 Dewey befürchtet, einige könnten den 13 Ebd. 22. 14 Ebd. 32-33. 15 Vgl. auch Dewey's Essays in Experimental Press, 1916), 313.
Logic (Chicago: University of Chicago
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Pragmatismus im ersteren Sinne verstehen und geneigt sein, festgelegten Dogmen, die die Wissenschaft als unhaltbar erkannt hat, einen existentiellen Wert beizumessen. Sofern Pragmatismus im Bereich des Religiösen von irgendwelchem Wert ist, besteht sein Beitrag darin, den Glauben an die übernatürliche Ordnung, begründet in der traditionellen Religion, durch einen Glauben an die religiösen Möglichkeiten, begründet in der gewöhnlichen Erfahrung, zu ersetzen. Es kann Glauben an die Vernunft geben und eine Hingabe an den Prozeß der Wahrheitsfindung, der eine Verpflichtung gegenüber der Wissenschaft wie dem Wert und der Würde des Menschen einschließt. Auf diese Weise werden Moral und Religion zu einem integralen Bestandteil des täglichen Lebens, der der Natur entspringt und sie erneuert. Die idealen Ziele, an denen unser Glaube hängt, sind nicht verschwommen oder schwankend. Sie nehmen eine konkrete Form in unserem Verständnis unserer wechselseitigen Beziehungen und der in ihnen enthaltenen Werte an. Wir, die wir jetzt leben, sind Teil einer Menschheit, die sich auf die Natur eingelassen hat. Die Dinge, die wir in der Zivilisation am meisten schätzen, stammen nicht von uns. Sie verdanken sich dem unaufhörlichen Handeln und Erleiden in der menschlichen Gemeinschaft, der wir angehören.16 Obwohl Deweys Naturalismus einen Gott, der für die Schöpfung und die Herrschaft über das Universum verantwortlich ist, ausschließt, versucht er dennoch, den Begriff „Gott", seinen Ursprung und seine Funktion zu verstehen. In diesem Bemühen ist seine Arbeit der von Feuerbach ähnlich, obwohl nicht sicher ist, ob Dewey jemals „Das Wesen des Christentums" gelesen hat. Indem er sich selbst fragt: „Sind die Ideale, die uns bewegen, wirklich ideal, oder sind sie es nur im Gegensatz zu unserer derzeitigen Befindlichkeit?", erklärt er, daß die Antwort die Bedeutung des Wortes „Gott" bestimmt. Für Dewey bedeutet das Wort „Gott" die Einheit aller idealen Ziele, die unser Wollen und Handeln bewegen.17 Dewey zufolge ist der Ursprung des traditionellen Gottesbegriffs leicht zu erklären. Immer schon hat es in der menschlichen Natur eine Tendenz gegeben, den Objekten des Wollens eine vorausgehende Existenz zuzuschreiben. Qualitäten werden in der Natur entdeckt; Güter werden auf Grund von Erfahrungen entwickelt. Physische und psychische Tendenzen und Aktivitäten werden beobachtet. Diese werden im menschlichen Gemüt und Handeln verflochten und vereint. Es überrascht überhaupt nicht, daß man sie sich vereint in einem vollkommenen Zustand vorstellt, losgelöst von den Bedingungen, unter denen wir sie in der Erfahrung vorfinden. Die verschiedenen Qualitäten wieder zu trennen, mag in der Tat eine schwierige Aufgabe sein, aber die Vorteile eines solchen Bemühens sind vielfacher Art. Zunächst wird eine solche Trennung die religiöse Einstellung von Lehrsätzen befrei16 Dewey, Faith , 87. 17 Ebd. 42.
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en, die von Tag zu Tag zweifelhafter werden. Man denke an die Zweifel, die Entdeckungen in der Geologie und Astronomie auf die Schöpfungslehre geworfen haben, oder an die Forschungsergebnisse der modernen Biologie, die frühere Vorstellungen von Seele und Leib widerlegten, sowie an psychologische Erklärungen von Erscheinungen, die vormals als übernatürlich betrachtet wurden. Es gibt noch eine andere inhärente Schwierigkeit bei der Suche nach einem persönlichen Gott. Eine solche Suche lenkt notwendigerweise die Aufmerksamkeit und Energie des Menschen ab von idealen Werten und Bedingungen, durch die sie gefördert werden könnten. In dem Maße, wie wir über die Existenz Gottes diskutieren, entscheiden wir uns, wertvolle Zeit für etwas aufzuwenden, das nichts einbringen kann, anstatt diese Zeit für nutzbringendere Vorhaben zu verwenden. Die Geschichte hat gezeigt, daß die Menschen ihre Macht, das gute Leben voranzubringen, nie voll genutzt haben, solange sie auf eine Macht von außen gewartet haben, welche die Verhältnisse zum Guten lenkt. Eine solche Einstellung vernachlässigt zwangsläufig den der natürlichen Ordnung innewohnenden Wert. Sie überläßt die Welt sich selbst und sucht eine Lösung für Schwierigkeiten anderswo. An die Stelle gemeinsamen Bemühens setzt sie das persönliche Gebet. Wenn wir andererseits das Ideal nicht als persönliches Wesen identifizieren, dann kann man es sich auch als in der Natur verwurzelt vorstellen. Das Ideal geht aus der Einbildung des Menschen hervor, der die Existenz im Hinblick auf die durch Denken und Handeln gebotenen Möglichkeiten idealisiert. Es gibt Werte, Güter, die auf natürlicher Basis gewonnen werden. Hierzu gehören die Güter menschlichen Zusammenlebens, der Kunst und des Wissens. Die idealisierte Einbildung richtet sich auf die kostbarsten Dinge, die wir in der Erfahrung gewahr werden, und hält sie fest. Wir brauchen keine äußeren Kriterien und Garantien für ihre Gutheit. Sie sind gut und sie gehen in unsere idealen Ziele ein. 18 Es ist auch wahr, daß diese Ideale in einem gewissen Sinne wirklich existieren. Sie leiten unser Handeln und bestehen in den Bedingungen, die zu ihrer Erfüllung antreiben. Mit einem neuen idealen Ziel tritt eine neue Vision hervor, und vertraute Dinge werden in neuen Beziehungen im Dienste dieses Zieles gesehen. Dadurch, daß über diese Werte und Ideale nachgedacht wird und sie in der Praxis getestet werden, werden sie geläutert und gestärkt. Die Werte werden klarer und verständlicher und gewinnen damit an Einfluß auf die bestehenden Verhältnisse. Werte und Situationen verändern sich wechselseitig. Wir haben weder Ideale, die als solche zur Wirklichkeit geworden sind, noch Ideale, die nur grundlose Phantasiegebilde sind. Die aktive Beziehung zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit nennt Dewey „Gott". Mit dieser Gottesvorstellung versucht er, den Menschen zum Erdenbürger zu machen und ihn zu dem Vaterland zurückzubringen, in dem er seine Wurzeln und seine Bestimmung hat. ι» Ebd. 36.
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Dieser Gottesbegriff umfaßt alle Möglichkeiten, die die Natur hervorbringt. Diese Möglichkeiten stehen jedem Menschen offen. Sie weisen hin auf die Möglichkeit einer vollkommeneren Welt als Ergebnis eines Handelns, das auf eine Verbesserung der Natur ausgerichtet ist. Sie werden wahrgenommen durch Einbildung, die wissenschaftlich geklärt wird, sowie geprüft und abgeändert durch Erfahrung. Umgestaltet und gereinigt, gestalten und reinigen sie ihrerseits das von ihnen inspirierte Handeln. In seiner Kritik an der traditionellen Gottesidee kann Dewey nicht sehen, wie ein vom Universum getrennter Gott überhaupt ein Gott für die Menschen sein kann. Vom Menschen zu fordern, an einen solchen Gott zu glauben, heißt, ihn zu entmenschlichen und seiner Natur zu berauben. Dewey dachte, daß selbst der absolute Geist in der Philosophie Hegels, der als der Natur immanent gedacht ist, die Wirklichkeit des Endlichen und des Natürlichen leugnete. Im dritten und letzten Kapitel des Buches A Common Faith befaßt sich Dewey mit der Religion und ihrem Sitz im Leben. Hier beobachtet er, daß der Kern der Religion allgemein in Riten und Zeremonien zu suchen ist. Angesichts des säkularen Charakters der modernen Gesellschaft können jedoch nur wenige Menschen verstehen, was es für eine Religion gesellschaftlich bedeutet, alle Sitten und Aktivitäten gesellschaftlicher Gruppen zu durchdringen. Seit der Renaissance gibt es eine Verlagerung des gesellschaftlichen Gravitätszentrums vom Sakralen auf das Säkulare. Heute sind die Bedingungen, unter denen sich Menschen treffen und arbeiten, vollständig säkular. Interessen und Werte sind weder von der Kirche abgeleitet noch haben sie Bezug zu ihr. Religion ist Privatsache und keine Angelegenheit der Gesellschaftsordnung. Dies sei jedoch nicht zu bedauern. Als die Religion im Übernatürlichen begründet war, gab es eine scharfe Trennung zwischen dem Religiösen und dem Säkularen. Nach Auffassung Deweys bedarf die Religion keiner solchen Trennung, denn wenn sich die religiöse Funktion von der Religion emanzipiert, schwinde die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Säkularen. Der Protestantismus habe zu Recht die Tatsache betont, daß die Beziehung des Menschen zu Gott primär eine Sache des Einzelnen sei, eine Frage der persönlichen Wahl und Verantwortung. Glaubensinhalte und Riten, die die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu einer kollektiven und institutionellen Angelegenheit machen, errichten Barrieren zwischen der menschlichen Seele und dem göttlichen Geist. Wenn die direkte Beziehung des Gewissens und Willens zu Gott den Vorrang hat, befindet sich die Religion auf ihrer einzig realen und soliden Grundlage. Sozialer Wandel wird besser durch das gemeinsame Bemühen von Männern und Frauen bewirkt als durch institutionelle Maßnahmen. Dewey will einer weitverbreiteten Fehleinschätzung entgegentreten, wenn er behauptet, daß die Säkularisierung der Gesellschaft nicht von einer zunehmenden Degeneration begleitet sei. Es seien vielmehr die von der organisierten Religion unabhängigen Kräfte, die sich auf eine Verbesserung der menschlichen Beziehungen und damit auf die geistige und
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ästhetische Entwicklung ausgewirkt haben. In der Tat seien die Kirchen hinter den meisten sozialen Entwicklungen hergehinkt. Dewey ist überzeugt, daß eine Abwertung natürlicher gesellschaftlicher Werte von dem Bezug auf eine übernatürliche Quelle herrührt. Sein Einwand gegen den Kult des Übernatürlichen ist der, daß dieser einer wirksamen Realisierung des Elans und der Tiefe menschlicher Beziehungen im Wege stehe. „Er steht der Nutzung der Mittel im Wege, die in unserer Macht stehen, diese Beziehungen radikal zu verändern." 19 Obgleich Dewey der Religion als „einziger letztlich zuverlässiger Quelle der Motivation" mit Vorbehalt begegnet, würde er ein aktiveres Interesse der Kirchen an sozialen Fragen begrüßen. Dies müsse jedoch auf gleicher Ebene mit anderen Institutionen geschehen. Diese Teilnahme würde den Verzicht auf exklusive und autoritative Ansprüche voraussetzen. „Säkulare Interessen und Aktivitäten sind außerhalb der organisierten Religionen gewachsen und sind unabhängig von deren Autorität. Der Einfluß dieser Interessen auf menschliches Denken und Wünschen hat die gesellschaftliche Bedeutung organisierter Religionen in eine Ecke gedrängt, und der Wirkraum dieser Ecke wird kleiner." 20 Dewey schlägt vor, daß sich ideenreiche Köpfe damit befassen sollten, wie man die religiöse Qualität der Erfahrung von den Überwucherungen befreit, die ihre Glaubwürdigkeit und ihren Einfluß begrenzen. Philosophen sollten die Prinzipien und Werte entwickeln und erklären, die der Zivilisation inhärent sind, Werte, die fortwährend von Generation zu Generation der menschlichen Gemeinschaft innewohnen. Sie würden alle Elemente eines religiösen Glaubens, der nicht auf eine Sekte, Klasse oder Rasse begrenzt sei, enthalten. „Ein solcher Glaube war immer schon implizit der gemeinsame Glaube der Menschheit. Jetzt muß er explizit und offensiv gemacht werden". 21 Die Demokratie ist nach Auffassung Deweys nicht nur eine Frage des Wahlsystems. Sie ist auch keine Regierungsform mit „checks and balances", die vermeiden sollen, daß sich eine Mehrheit rücksichtslos über die Rechte einer Minderheit hinwegsetzt.22 Sie ist vielmehr eine Methode zur Auflösung von Mehrheiten und Minderheiten; sie ist ein Weg zur begrifflichen Lösung von Differenzen. Die Mehrheit muß ihren Anspruch auf Wahrheit, Richtigkeit oder Recht angesichts ernsthafter Herausforderungen aufgeben. Zahlenmäßige Überlegenheit bedeutet keine Vollmacht. Eine unbeschränkte Gesetzgebung, die einen Standpunkt begünstigt, ist nicht dadurch gerechtfertigt, daß eine überwältigende Mehrheit diesen Standpunkt teilt, solange eine Minderheit anderer Meinung ist.
19 Ebd. 80. 20 Ebd. 83. 21 Ebd. 87. 22
Jacques Maritain, Democracy and Education (New York: Macmillan, 1961), 88 ff.
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Demokratie fordert den Kompromiß, begrifflich und praktisch. Die „Wahrheit" liegt zwischen Zustimmung und Ablehnung. Die Wahrheit ist nicht einfach zweckmäßig, noch muß sie in einer historisch gegebenen Verfassung verankert sein. Eine Verfassung ist als solche - streng genommen - kein unveränderliches Dokument; sie muß im Lichte zeitgenössischer Umstände interpretiert werden. Appelle an eine christliche Vergangenheit, an ein christliches Erbe, an ein christliches Grundprinzip sind für unsere jetzigen Gesetze nicht zulässig. Die Probleme müssen im derzeitigen Kontext gelöst werden. Unsere Vorfahren haben keinen Anspruch auf uns. Ebenso wie Marx liefert Dewey eine rein naturalistische Deutung der Religion, die auf eine progressistische Sicht der menschlichen Natur und Geschichte beschränkt ist. J a c q u e sM a r i t a i n Die Sichtweise Jacques Maritains entwickelte sich aus seinem Studium von Aristoteles und Thomas von Aquin. In Übereinstimmung mit den Griechen betont er die moralische Tugend als eine Voraussetzung für das Gelingen des Gemeinwesens. Als Philosoph vertritt er eine naturrechtliche Sicht; als Christ glaubt er an die göttliche Offenbarung. In dem schmalen Band: „Man and the State", der seine „Walgreen Lectures" an der University of Chicago umfaßt, trifft er eine wichtige Unterscheidung zwischen „Nation", „Gemeinwesen" und „Staat". 23 Nach der Definition von Maritain ist eine Nation ein ethisch-soziales Gebilde. Sie ist eine natürliche Struktur, eine Gemeinschaft. Als solche hat sie ihre Grundlage in regionalen, ethnischen, sprachlichen, klassenmäßigen und/oder religiösen Affinitäten. 24 Sie ist nicht mit Gesellschaft identisch. Eine Gesellschaft wird von ihren Mitgliedern mit Bedacht gegründet, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Maritain schreibt: Im allgemeinen kann eine ethnische Gemeinschaft als eine Gemeinschaft der Zusammengehörigkeit bestimmt werden, deren Ursprünge im Heimatboden der Gruppe und in moralischer Hinsicht in der Geschichte liegen. Sie wird eine Nation, wenn diese ethnische Gemeinschaft zum Selbstbewußtsein gelangt, wenn die ethnische Gruppe sich der Tatsache bewußt wird, daß sie eine Gemeinschaft der Zusammengehörigkeit bildet und ihre eigene Einheit und Individualität besitzt, ihren eigenen Willen, um das Dasein zu meistern. 25 In der Begrifflichkeit von Maritain ist das ukrainische Volk offensichtlich eine Nation; nicht so eindeutig ist dies im Falle der Vereinigten Staaten. Obwohl die Begriffe „Gemeinwesen" und „Staat", beides Gesellschaftsbegriffe, oft synonym gebraucht werden, sollten sie dennoch unterschieden werden. Sie verhalten sich zueinander wie das Ganze zu seinen Teilen. Das „Gemeinwesen" ist 23 Jacques Maritain, Man and the State (Chicago: University of Chicago Press, 1951). 24 Ebd. 2 ff. 25 Ebd. 5.
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das Ganze. Die primäre Bedingung für die Existenz des „Gemeinwesens" ist ein gemeinsames Rechtsempfinden, wenngleich Freundschaft ihr lebensspendendes Element sein mag. Eine bürgerliche Einstellung erfordert beides: den Sinn für Hingabe und gegenseitige Zuneigung, ebenso wie den Sinn für Gerechtigkeit und Gesetz. Diese Einstellungen des Geistes und des Willens entwickeln sich als Teil eines Erbes, das durch sekundäre Institutionen erhalten wird. Nichts zählt für das Leben und die Bewahrung des Gemeinwesens mehr als die angesammelte Energie und die historische Kontinuität der nationalen Gemeinschaft, die es begründet hat. Gemeinsam ererbte Erfahrung sowie moralischer und geistiger Instinkt sind seine Grundlage. Das politische Leben wie die Existenz und Wohlfahrt des Gemeinwesens hängen ab von der Lebenskraft der Familie sowie des wirtschaftlichen, kulturellen, erzieherischen und religiösen Lebens.26 Der Staat ist in Maritains Analyse jener Teil des Gemeinwesens, der für die Wohlfahrt seiner Bürger, die öffentliche Ordnung und die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten zuständig ist. Er handelt im Interesse des Ganzen. Er ist keine Summe von einzelnen, sondern ein Gefüge von Institutionen, die in einem Rahmen vereint sind. Die Ziele des Staates werden von Experten oder Spezialisten der öffentlichen Ordnung und Wohlfahrt konkretisiert und verwirklicht. Der Staat ist eine unpersönliche dauerhafte Superstruktur. Wenn er richtig funktioniert, ist der Staat rational und an das Gesetz gebunden. Als ein Instrument des Gemeinwesens ist der Staat berechtigt, Macht und Zwang auszuüben. Der Staat umfaßt die Gesellschaft, ohne jedoch die Einzelnen aufzusaugen; er besteht um der Menschen willen. Der Staat ist weder ein Ganzes noch eine Person, noch hat er Rechte. Das Gemeinwohl der politischen Gemeinschaft ist das oberste Ziel des Staates; es steht höher als die Erhaltung der öffentlichen Ordnung. Der Staat verkennt seinen Auftrag, wenn er sich selbst lediglich das Ziel der Selbsterhaltung und des Wachstums setzt. Wenn sich der Staat mit der Gesamtgesellschaft identifiziert und selbst die Erfüllung von Aufgaben, für die normalerweise die Gesellschaft oder ihre Organe zuständig sind, übernimmt, so haben wir das, was Maritain den „paternalistischen Staat" nennt. Vom Standpunkt der Politik ist es um den Staat dann am besten bestellt, wenn er sich bei der Definition des Gemeinwohls so weit wie möglich zurückhält. Übernimmt er selbst die Organisation, Kontrolle und Leitung in Wirtschaft, Industrie oder Kultur, hat er seine Möglichkeiten und seine Kompetenz überschritten. Wenn sich der Staat zum Wirtschaftsboss oder Kunstmäzen aufspielt oder in Fragen der Kultur, Wissenschaft und Philosophie eine führende Rolle beansprucht, verrät er sein eigenes Wesen.27 Der Staat rekurriert für seine Autorität auf eine vom Volk gebildete Gemeinschaft. Das Volk hat ein natürliches Recht auf Selbst-Regierung. Dieses Recht wird mit der Bildung einer - geschriebenen oder ungeschriebenen - Verfassung aus26 Ebd. 11. 27 Ebd. 21. 6 Dougherty
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geübt. Das Volk setzt sich aus einer Vielzahl von Personen zusammen, die sich unter dem Gesetz in Achtung vor dem Gemeinwohl vereinen. Die Menschen bilden jedoch nicht nur ein Gemeinwesen; jeder Einzelne hat eine Seele und eine übernatürliche Bestimmung. Die Menschen stehen über dem Staat; der Staat ist für die Menschen da. Maritain gibt sich alle Mühe, den Primat des Geistigen zu betonen. Aus religiöser Sicht impliziert das Gemeinwohl des Gemeinwesens eine innere, wenngleich indirekte Hinordnung auf etwas Transzendentes. Der Staat ist keiner höheren Instanz unterstellt, aber die Ordnung des ewigen Lebens ist der Ordnung des zeitlichen Lebens übergeordnet. Zwischen beiden Ordnungen braucht es keinen Konflikt zu geben. Aus säkularer Sicht ist die Kirche eine Institution, die sich mit dem geistlichen Leben der Gläubigen befaßt. „Aus der Sicht des politischen Gemeinwohls haben die aus ihrer Zugehörigkeit zur Kirche erwachsenden Aktivitäten der Bürger einen Einfluß auf dieses Gemeinwohl". 28 Somit dient die Kirche einerseits dem Gemeinwesen, aber in anderer, wichtigerer Hinsicht transzendiert sie es. Die Kirche und das Gemeinwesen können nicht in völliger Isolierung und Unkenntnis voneinander leben und sich entwickeln. Dieselbe Person ist gleichzeitig Angehöriger des Gemeinwesens und Mitglied einer Kirche. Eine absolute Trennung ist unmöglich und absurd. Es muß eine Zusammenarbeit geben, aber welche Form sollte sie annehmen? Es versteht sich, daß wir nicht mehr in einem sakralen Zeitalter leben. Wenn das klassische Altertum oder die Christenheit des Mittelalters durch eine Einheit des Glaubens gekennzeichnet waren und diese Glaubenseinheit für die politische Einheit erforderlich war, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Religiöser Pluralismus ist eine Tatsache, und die heutige Situation demonstriert geradezu, daß religiöse Einheit keine Voraussetzung der politischen Einheit ist. Auch kann die Kirche keine Autorität über den Staat ausüben, indem sie Präsidenten, Premierminister, Diktatoren oder Nationen zur Rechenschaft zieht. In Wirklichkeit ist häufig das Gegenteil der Fall, insofern die Kirche die Freiheit fordert, innerhalb der politischen Ordnung ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Ungelöst läßt Maritain das Problem der moralischen Einheit eines Volkes. Da er nicht für den von John Dewey beschriebenen „gemeinsamen Glauben" optieren kann - ein naturalistisches Credo, das weit über das Politische hinausreicht - , neigt er dem „bürgerlichen Glauben" (civic faith) zu, wie ihn sein Freund John Courtney Murray in seinem Buch „We Hold These Truths" entworfen hat. 29 Aber wie können die Quellen des Gewissens und des bürgerlichen Glaubens erhalten werden? Maritain wurde noch Zeuge des Zusammenbruchs der ererbten Moral, von der er in dem erwähnten Essay spricht. Eine gemeinsame christliche Sicht zu Fragen der bürgerlichen Tugend, der Empfängnisverhütung, der Ehescheidung, Abtreibung, 28 Ebd. 152. 29 John Courtney Murray, We Hold These Truths (New York: Sheed & Ward, 1960).
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Homosexualität, Pornographie und Todesstrafe löste sich auf. Die im 19. Jahrhundert noch allgemein anerkannte Moral wurde weitgehend abgelehnt. Seitdem hat die Ablehnung Eingang in das Gesetz gefunden, wenn nicht durch die Gesetzgebung, dann durch die Auslegung des Gesetzes durch die Gerichte. Maritain erkennt, daß religiöse Institutionen nur in dem Maße Autorität haben, als ihr moralischer Einfluß durch ihre Lehren das Gewissen der Menschen bewegt. Dieser geistige Einfluß kann jedoch durch einen von anderen Bürgern vertretenen Gegenkurs geschwächt werden. Maritain glaubt aber, daß trotz möglicher Rückschläge ein freier Gedankenaustausch der sicherere Weg ist, um auf lange Sicht Einfluß zu nehmen. Die Kirche ist weniger in Gefahr, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Würde der Staat dazu gebraucht, kirchliche Aufgaben zu erfüllen, wäre damit zu rechnen, daß er zuvörderst seine eigenen Ziele verfolgen würde. Die Geschichte lehrt uns, daß der säkulare Arm, immer auf die Ausübung von Kontrolle bedacht, die Initiative ergreift. Maritain schlägt vor, daß die Kirche für das Bildungswesen frei sein und in der Lage sein sollte, als Gleicher auf dem Markt der Ideen zu konkurrieren. Er ist sich jedoch bewußt, daß dies wohl nicht einmal auf sein Musterbeispiel, die Vereinigten Staaten, zutrifft. Im 20. Jahrhundert haben die Staaten in zunehmendem Maße die Rolle eines mächtigen Vormundes übernommen, der sich um alle Bedürfnisse kümmert. Zu Zeiten einer begrenzten Staatstätigkeit, bevor der Staat bei der Regulierung einer Vielzahl sozialer und wirtschaftlicher Aufgaben eine Rolle zu spielen begann, mag die Doktrin einer „strengen Trennung" oder einer „wohlwollenden Neutralität", die jede staatliche Hilfe an religiöse Gemeinschaften verbot, irgendwie sinnvoll gewesen sein. Aber im Zeitalter umfassender Staatstätigkeit dürfte die Gleichsetzung von Neutralität mit der Position eines strikten „no aid" weniger haltbar sein. Die Väter der Verfassung erwarteten von der Religion, daß sie ihren Teil zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beiträgt, vom Staat aber eine nur minimale Rolle bei der Gestaltung dieser Ordnung. In unserer Zeit ist die Frage der Behandlung religiöser Gruppen und Interessen eine grundsätzlich andere. Das Problem ist nicht geklärt. Einerseits bestätigt Maritain, daß „die Freiheit des Denkens, selbst auf das Risiko des Irrtums hin, die normale Situation für den Zugang des Menschen zur Wahrheit ist; so daß die Freiheit der Suche nach Gott auf ihre Weise für diejenigen, die in Unkenntnis von ihm erzogen wurden, die normale Bedingung ist, um die Botschaft des Evangeliums aufzunehmen". 30 Er ist jedoch überzeugt, daß „Staaten, ob sie es wollen oder nicht, verpflichtet sind, sich für oder gegen das Evangelium zu entscheiden. Sie werden entweder von einem totalitären oder einem christlichen Geist geprägt sein". 31 Der Westen läßt auf vielfache Weise, zumindest symbolisch, sein christliches Erbe erkennen. So glaubt Maritain, daß die öffentliche Anerkennung der Existenz 30 Maritain, Man and the State, 161-62. 31 Ebd. 159. 6*
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Gottes gut sei und beibehalten werden sollte. Es ist zu erwarten, daß eine öffentliche Bekundung eines gemeinsamen Glaubens diejenige Form der christlichen Religion annimmt, mit der die Geschichte und die Tradition eines Volkes am lebendigsten verbunden sind. Jene Bürger, die nicht gläubig sind, werden zu bedenken haben, daß das Gemeinwesen als Ganzes in gleicher Weise ihnen die freie private Äußerung ihrer nichtreligiösen Überzeugung gewährleistet. Wenn Maritain eine Schwäche hat, so liegt sie in seinem Idealismus, in seinem Optimismus, daß guter Wille und gesunder Menschenverstand obsiegen werden und daß die öffentliche Einschätzung des Wertes der Religion schließlich zu Folgerungen führen wird, die den seinen ähnlich sind. Er glaubt, daß in allen Abschnitten der Geschichte des Westens bedachtsame Menschen zu diesen Schlußfolgerungen gelangt sind. Man kann Maritain auch eine höchst optimistische Sicht der Vereinigten Staaten vorhalten. Er scheint die Tatsache zu übersehen, daß es eine Vielfalt religiöser Ausdrucksformen gibt, aber nicht alle dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Wenn diejenigen, die den Wert der Religion nach ihren Beiträgen zur sozialen Ordnung messen, nicht einer Meinung sind, mag der Grund dafür zum Teil in der Spaltung und Schwäche religiöser Überzeugungen und Institutionen selbst liegen. Die Religion scheint mehr im Schlepptau zu sein als zu führen, eher das Bestehende zu sanktionieren als den Fortschritt zu ermutigen. Aber selbst wenn diese nüchterne Sicht zutreffender wäre als die Maritains, muß die Frage gestellt werden: Welches Verhältnis sollte der Staat gegenüber der Religion einnehmen? Wenn Gesellschaftskritiker Recht haben, die den Verlust einer gemeinsamen religiösen Vision beklagen, dann sollte die Bewertung dieser gesellschaftlichen Tatsache zu einem öffentlichen Anliegen gemacht werden. Denn es kann nicht angenommen werden, daß es für die Gesellschaft gut ist, wenn die Religion ihren kulturellen Einfluß verliert. Maritains Beitrag zu diesem Thema zeigt die unverzichtbare Funktion der Religion in der Gesellschaft und die gleichzeitige Pflicht des Staates, eine unparteiische und unbeschwerte Hilfe zu leisten, um innerhalb religiöser Gemeinschaften eine innere geistliche Entwicklung zu sichern, die einen höheren kulturellen Beitrag ermöglicht. Maritains Stärke liegt in seiner Interpretation einer Tradition, die ihre Wurzeln im Evangelium hat, sich jedoch durch zwanzig Jahrhunderte im Westen entwickelt hat. Es ist dies jene Tradition, die die beiden aufeinanderbezogenen Ordnungen von Kirche und Staat sowie das Gemeinwohl anerkennt; dies muß bestimmend bleiben, wenn unvermeidliche Spannungen entstehen. Während sich der politische Kontext verändert, ist der Mensch naturgemäß ein Bürger zweier Welten. Nach Maritain trägt eine gute Regierung dieser Tatsache Rechnung und stört in keinem Bereich die Entwicklung.
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S c h u lß f o g le r u n g Wenngleich Dewey, Marx und Maritain nicht das ganze Spektrum theologischer und gesellschaftlicher Auffassungen abdecken, so vertreten sie jedoch sehr unterschiedliche geistige Richtungen. Offensichtlich ist Religion mehr als eine Gemeinschaft von Betern, die sich einem unsichtbaren Gott gegenüber in der Pflicht weiß. Religion trägt in sich selbst ihre geistige Tradition. Schon das Bewußtsein um die Existenz Gottes setzt eine irgendwie geartete Überlegung voraus, sei sie im klassischen griechischen Sinne metaphysischer oder im hebräischen Sinne hermeneutischer Art. Diese Traditionen umfassen auch Einstellungen zu ritueller oder sakraler Kunst, zu Gewändern, Bildhauerei, Architektur bis hin zur Malerei und Musik. Da sich Offenbarung in der Zeit vollzieht, hat die Religion einen historischen Sinn und eine Beziehung zur Vergangenheit. Wie Dewey richtig sah, beraubt die Religion die Gegenwart ihrer Einmaligkeit, denn sowohl die spekulative als auch die praktische Weisheit legen nahe, daß sich die menschliche Natur seit der Antike nicht geändert hat und daß sie in der Zukunft mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird. Niemand, der das hebräische Schrifttum kennt, kann an die unbegrenzte Fähigkeit der Vervollkommnung des Menschen oder der Gesellschaft glauben. Und es wird nicht genügen, den heiligen Texten und Riten eines Volkes eine Interpretation im Sinne Voltaires zu geben, die sie als dichterischen Ausdruck von etwas betrachtet, das von der Philosophie besser erklärt werden könnte. Für den religiösen Geist gilt: „Gott ist", und gewisse Dinge entspringen diesem Glauben. Eine glatte Verneinung, daß ein solcher Glaube wahr sein kann (niemand gibt vor, einen Beweis liefern zu können), ist mehr als ein intellektueller Taschenspielertrick. Im politischen Bereich werden dem Gläubigen die vollen Bürgerrechte verweigert und seine Sicht nicht ernst genommen. Während es letztlich um die Frage nach der Existenz Gottes geht, betrifft die unmittelbare Auseinandersetzung die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Wer die Meinung vertritt, daß sich der religiöse Geist irrt, wird kaum großes Vertrauen in seine Rolle als Kulturträger haben. Marx und Dewey glaubten, daß sich die Menschen auf dem Wege in eine Zukunft bewegen, die, vom technischen Fortschritt geprägt, die Vergangenheit überholt. Dewey und Marx mögen sich für berechtigt gehalten haben, die Religion von der Bildung auszuschließen; aber die Kosten dieser Position in der modernen Gesellschaft sind hoch. Nicht nur besteht die große Mehrheit des Volkes aus religiösen Analphabeten, sondern umgekehrt, die Religion wird der Hilfe durch die besten Köpfe beraubt. Die Menschen, die von der Tradition, die ihre Kultur hervorgebracht hat, abgeschnitten sind, suchen nach einer Quelle der Erleuchtung. Wer möchte behaupten, daß die Weltsicht, die vormals vom Christentum geprägt wurde, vom säkularen Geist, der sie in Frage stellte, auch nur annähernd ersetzt worden ist? Deweys „Gemeinsamer Glaube" hat das Christentum in keinem wichtigen Punkt ersetzt, und er inspiriert auch nicht mehr das Vertrauen des Volkes. Die Frage lautet: Kann die europäische oder westliche Zivilisation getrennt von ihren historischen Wur-
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zeln überdauern? Muß der Nichtgläubige, um sich sicher zu fühlen, darauf bestehen, daß das von der großen Mehrheit anerkannte Erbe eine dunkle und machtlose geistige Kraft bleibt, oder ist Annäherung möglich? Kann der säkulare Geist die kulturelle und moralische Bedeutung der westlichen religiösen Tradition anerkennen und ihr gestatten, ungehindert voranzuschreiten, oder muß er für sich die ausschließliche Kontrolle über die Quellen der Kultur beanspruchen? Diese Fragen müssen neu gestellt werden.
Das Gemeinwohl nicht vergessen I. Als Leitfaden für die Formulierung von Verordnungen oder die Forderung von Rechten hat der Begriff „Gemeinwohl" nur heuristischen Wert. Er sagt nichts darüber aus, welche Güter konkret anzustreben sind; wohl aber sagt er etwas darüber aus, daß etwas Gemeinsames den Ansprüchen von Sonderinteressen vorzuziehen ist. Der Begriff ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Er setzt eine philosophische Sichtweise voraus, bei der die Betonung auf der persönlichen Tugend liegt, die wiederum eine realistische Epistemologie und hinsichtlich des persönlichen Wollens einen gemäßigten Indeterminismus erfordert. Im Gegensatz dazu ermangelt es einem Großteil der Literatur über die Menschenrechte an einer zusammenhängenden Sicht der Natur und der Bestimmung des Menschen. Rechte werden gefordert und verkündet ohne Bezug auf ein klares Menschenbild, auf das Gemeinwohl, auf Tugenden, Pflichten oder ein womöglich transzendentes Ziel des Menschen. Gemessen an der klassischen Tradition scheinen viele Rechtsansprüche willkürlich, intellektuell modisch oder bloß politisch opportun zu sein. Ohne die klassische oder christliche Sicht des Menschen grenzen Rechtsansprüche oft ans Absurde. Rechte werden für Tiere gefordert, für die Umwelt, für die künftigen Generationen, und fast im gleichen Atemzug werden die Rechte dem ungeborenen Leben verweigert. Offensichtlich gibt es eine erhebliche Verwirrung, insofern nicht genügend unterschieden wird zwischen der moralischen Ordnung und den bürgerlichen Ansprüchen. Obwohl letztere in ersterer begründet sein mögen, ist es nicht die gleiche Sache. In seinem Buch Natural Law and Natural Rights bedient sich John Finnis der Metapher der „Wasserscheide", um die beiden Hauptschulen in der Geschichte der Philosophie zu trennen: Francisco Suârez auf der einen und Hobbes auf der anderen Seite.1 Finnis stellt fest, daß sich im 17. Jahrhundert in der Diskussion über den Einzelnen und das Gemeinwohl das Vokabular von „Freiheit" und „Verpflichtung" hin auf „Rechte" und „Ansprüche" verlagert hat. Auf der klassischen Seite der Wasserscheide wurden die Freiheiten und Leistungen betont, die für den Lebensunterhalt, die Sicherheit, die Entwicklung und die Würde des Einzelnen unabdingbar sind. Demgegenüber führt die moderne Redeweise über das, was rechtens ist, zu einem Denken, das vom Einzelnen ausgeht, was ihm geschuldet wird und was ihm an Unrecht geschähe, wenn man es ihm vorenthielte. Finnis ι Oxford: The Clarendon Press, 1980, S. 205 ff.
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zufolge ist die Verschiebung der Bedeutung drastisch, weil sie den Rechtsträger und sein Recht gänzlich außerhalb der vom Gesetz bestimmten Rechtsbeziehung sieht. Finnis bezieht sich auf eine aufschlußreiche Textstelle bei Hobbes, um diese Verschiebung zu verdeutlichen. Ein Recht zu beanspruchen bedeutet für Hobbes, einen moralischen Anspruch zu stellen. Das Gesetz mag das beanspruchte Recht oder eine Vielzahl anderer beanspruchter Rechte widerspiegeln oder auch nicht. Es ist ein vertretbares Ziel, wenn nicht gar die Pflicht des Bürgers, Rechtsansprüche in Gesetze zu übertragen. 2 II. Im klassischen Altertum gehören die meisten Rechte, die wir heute „Menschenrechte" nennen, zur Kategorie der politischen Rechte. Alle Rechte setzen die Gesellschaft voraus und sind von bestehenden Gesellschaftsstrukturen abhängig. Somit können Rechte nicht abstrakt diskutiert oder als unabänderlich betrachtet werden. Für Aristoteles sind Rechte in einer anthropozentrischen Teleologie begründet. Es wird eine universal gültige Hierarchie von Zielen angenommen, auch wenn es keine universal gültigen Regeln des Handelns gibt. Kennt man die Ziele einer Regierung, so weiß man noch nicht, wie und in welchem Ausmaß diese Ziele hier und jetzt unter gegebenen Umständen verwirklicht werden können. Normalerweise gültige Regeln mögen in extremen Situationen mit Recht in Frage gestellt werden. Politische Rechte können ein Segen oder ein Fluch sein. Steht die Existenz einer Gesellschaft auf dem Spiel, kann es zu einem Konflikt zwischen den Anforderungen der Selbsterhaltung und denen der kommutativen und distributiven Gerechtigkeit kommen. In extremen Situationen ist die öffentliche Sicherheit das oberste Gesetz. Eine gesittete Gesellschaft wird nur für eine gerechte Sache einen Krieg beginnen, gleichwohl ist es ihre Pflicht, mit angemessenen Mitteln das Gemeinwohl zu verteidigen. Für Aristoteles steht auf alle Fälle das Gemeinwohl über dem Wohl des Einzelnen. In welchem Maße ist der Begriff eines Gemeinwohls von einem moralischen Konsens abhängig? Setzt der Begriff eine öffentliche Philosophie oder gemeinhin 2 Ende des 18. Jahrhunderts bestätigte Fichte in seinem Werk „Grundlage des Naturrechts" die althergebrachte Unterscheidung von Moral und Gesetz; aber er identifiziert das Recht ausschließlich mit dem Gesetz. Nach Fichte sagt uns eine moralische Vorschrift, was wir moralisch tun müssen. Im Gegensatz dazu haben es bürgerliche Gesetze mit Rechten zu tun. Moralische Vorschriften sind Verpflichtungen; bürgerliche Gesetze stellen Optionen dar. Moralische Vorschriften sind vom guten Willen abhängig, dem Willen etwas zu tun, was als verpflichtend angesehen wird. Die Verfügungen des Zivilrechtes hängen vom gesellschaftlichen Zwang in Bezug auf das Handeln, nicht auf die Motive des Einzelnen ab. Fichte wollte alle Rechte auf Bürgerrechte zurückführen. Allgemeine moralische Grundsätze und guter Wille - so meinte er - seien zu formlos, um die Moral des Einzelnen oder einer Gruppe zu leiten. Klare Schlußfolgerungen und Entscheidungen sind erforderlich; diese werden durch Überlegung und Bemühen im Prozeß der Gesetzgebung erreicht und nicht durch natürliche Neigungen. Nur rechtliche Ordnungen halten ein Gemeinwesen zusammen.
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anerkannte Richtlinien des Handelns voraus? Setzt er innerhalb eines Volkes eine kulturelle Einheit im Sinne einer Mehrheit von Bürgern voraus, die ein gemeinsames Erbe, eine Tradition oder eine Weltanschauung hat? Kann es ein erkennbares Gemeinwohl geben ohne eine gemeinsame Weltanschauung? Aus der Sicht von Hobbes ist die Antwort: nein. Die Gesellschaft ist nicht eine Einheit (entity), sie besteht vielmehr aus einer Vielzahl von Gruppen, die alle ihren Vorteil verfolgen. Für Hobbes liegt die Quelle der Regierung in der Zustimmung der Regierten, jedes Einzelnen für sich genommen. Das Individuum ist die einzige Quelle des Rechts oder des Guten, und als autonom handelnd ist es weder vorgegebenen Normen noch einem naturgegebenen Ziel unterworfen. Hobbes versucht nicht, die Selbstmacht des Einzelnen dem öffentlichen Wohl unterzuordnen. Das Eigeninteresse ist für ihn nicht nur das vorherrschende Motiv in der Politik; aufgeklärtes Eigeninteresse ist auch das beste Heilmittel für soziale Übel. Eigeninteresse ist keineswegs ein Zeichen moralischer Schwäche, sondern Ausweis von Klugheit. In Ermangelung eines Gemeinwohls, das vom Wohl der einzelnen Menschen unterschieden und ihm übergeordnet ist, wird die Funktion der Regierung zum Konflikt-Management. Angesichts der Tatsache, daß streitbare Subjekte dazu neigen, für sich um Privilegien und Ausnahmeregelungen zu kämpfen, sind Handeln und Verhandeln natürliche Prozesse des öffentlichen Lebens. Der Souverän ist nicht der Vertreter des gemeinsamen Willens. Er verhilft seinen Staatsangehörigen zu ihrem Glück nicht dadurch, daß er Ziele definiert, die von den Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam angestrebt werden sollen, sondern indem er Hindernisse zu deren privat definiertem Glück aus dem Wege räumt. Somit wurzelt die öffentliche Ordnung in Verhandlungen zwischen den Individuen als politischen Akteuren.3 Eine kluge zeitgenössische Analyse, die der von Hobbes völlig entgegensteht, findet sich bei Lord Devlin, der als Vertreter der Gemeinwohl-Tradition angesehen werden kann. Devlin hat mit dem Konsens-Problem als Grundlage für konzertiertes politisches Handeln gerungen. Er ist überzeugt, daß die politischen Institutionen des Westens aus einer allgemein anerkannten christlichen Sicht der Natur des Menschen und der Ziele des menschlichen Lebens hervorgegangen sind. Mit dem Niedergang der Religion als geistiger und moralischer Kraft wurde die Grundlage der Tradition des common law untergraben. Kann ein auf dem geistigen und moralischen Konsens gründendes Gesetz überdauern, nachdem dieser Konsens in Frage 3 In einem jüngeren Essay präsentiert Roger Scruton eine interessante Gegenanalyse. Scruton zufolge ist ein Mensch in dem Maße frei, wie er in der Lage ist, das zu erhalten, was er sich wirklich wünscht. Wünsche können vergänglich oder beständig sein. Es besteht ein Unterschied zwischen ernsthaftem Verlangen und einer bloßen Wunschvorstellung. Letztere besteht nur vorübergehend und hat minimale Motivationskraft. Eine Politik, die sich um solche Wunschvorstellungen kümmert und damit die Erfüllung wesentlicher Wünsche behindert, würde uns unserer Freiheit berauben. Es ist die Aufgabe unserer Vordenker, uns mit unserem tieferen Verlangen vertraut zu machen und uns nicht zur Erfüllung jeden beliebigen Wunsches anzustacheln. „Freedom and Custom", Of Liberty, ed. A. P. Griffiths (Cambridge: Cambridge University Press, 1983), S. 183.
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gestellt wurde? Devlin hält dies nicht für möglich. Er ist überzeugt, daß wir den Wurzeln des Konsenses und der Rolle der Religion in der Gesellschaft nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet haben. Devlin schreibt: Moral und Religion sind im Denken des einfachen Menschen so untrennbar miteinander verwoben, daß der kluge Soziologe darum weiß, daß sie nicht auseinandergerissen werden können. Es gibt Menschen, die ein vollkommenes Leben führen können allein durch die Übung der Nächstenliebe; aber für die Männer und Frauen insgesamt, und damit für die Gesellschaft, muß es auch Glaube und Hoffnung geben. Der Einzelne kann sich seine eigene Philosophie machen. Eine Philosophie für die Gesellschaft zu entwickeln ist weitaus schwieriger; bis jetzt war in der westlichen Welt nur das Christentum darum bemüht - ob richtig oder falsch, auf jeden Fall unverzichtbar. 4 An anderer Stelle schreibt er: „Wer zugibt, daß die Gesellschaft der Moral bedarf, muß auch für jene Instrumente Sorge tragen, ohne die die Moral nicht aufrechterhalten werden kann. Die beiden Instrumente sind die Lehre (Doktrin) und die gesetzliche Durchsetzungskraft. Wenn die Moral lediglich wegen ihrer Notwendigkeit für die Gesellschaft gelehrt werden würde, gäbe es für die Religion kein gesellschaftliches Bedürfnis; sie bliebe reine Privatsache. Aber Moral kann so nicht gelehrt werden. Auch Treue kann so nicht gelehrt werden. Noch keine Gesellschaft hat bis jetzt das Problem gelöst, wie man Moral ohne Religion lehren kann. So muß sich das Gesetz auf christliche Wertvorstellungen gründen und sie so weit wie möglich durchsetzen; nicht nur, weil sie der Moral der meisten Menschen entsprechen, noch weil diese Moral von den Kirchen gelehrt wird - in diesen Punkten anerkennt das Gesetz das Recht auf Abweichungen - , sondern aus dem zwingenden Grund, daß ohne die Hilfe der christlichen Lehre das Gesetz keine Kraft haben wird." 5 Eine solche einheitliche Perspektive mag in einer Zeit religiöser und philosophischer Vielfalt nahezu unmöglich sein. Weder eine christliche noch eine klassische Perspektive kann vorausgesetzt werden. Dies wurde von einigen Gesellschaftstheoretikern in der Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt. Philosophen und Theologen wie John C. Murray, Sidney Hook, Mortimer Adler und Walter Lippmann setzten sich für eine öffentliche Philosophie ein, die anstelle des schwindenden christlichen eine säkulare Grundlage für die Gesetze und Kultur des Landes bereitzustellen hätte. Die entscheidenden Elemente hätten zweifellos von einer öffentlichen Philosophie, wie sie diese Denker im Sinn hatten, erbracht werden können, aber die vorgeschlagene gemeinsame demokratische Philosophie hat nie eine weitverbreitete Akzeptanz gefunden. Rückblickend mag man sich fragen, ob es einer Leitphilosophie bedarf, um einen segensreichen Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben. Genügt es nicht, daß diese lebendig ist und eine Position verteidigt, selbst wenn sie keine Überlegenheit besitzt? Können nicht Appelle zu Gunsten des Gemeinwohls ihren Einfluß auf die 4 London: Oxford, 1965, S. 84. 5 Ebd. S. 25.
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Politik haben, selbst wenn die dem Konzept zu Grunde liegende Philosophie nur unvollkommen verstanden oder glatt abgelehnt wird? In Beantwortung dieser Frage sei darauf hingewiesen, daß ein funktionierender Konsens nicht gleichermaßen alle umfassen muß, die ihn teilen. Geistige Auseinandersetzung besagt nicht, daß es in sehr wichtigen Fragen keine Übereinstimmung geben kann. Die Akzeptanz der Grundsätze wie etwa die Herrschaft des Gesetzes, die Gewaltenteilung, die Glaubensfreiheit, die Koalitionsfreiheit und die Vertretung von Überzeugungen und Interessen sind nicht von metaphysischer Übereinstimmung abhängig, obwohl diese Prinzipien offensichtlich verteidigt werden müssen.
III. Eine der ersten Voraussetzungen für eine Theorie des Gemeinwohls ist eine realistische Epistemologie. Eine Theorie des Gemeinwohls muß auf der Überzeugung gründen, daß die Wirklichkeit einsehbar ist, daß Dinge und gesellschaftliche Prozesse die Ursache und das Maß unseres Wissens über sie sind. Eine solche Erkenntnistheorie vermeidet die Extreme des Empirismus, der eine über den Einzelfall hinausreichende Erkenntnisfähigkeit leugnet, und des Rationalismus, der die Bedingungen und das Maß der Erkenntnis in den Intellekt mit seinen subjektiven Formen hineinlegt. Sein realistischer Ansatz ermöglichte es Aristoteles, nicht nur die Schwierigkeiten, die dem System Piatos und der Sensualisten inhärent waren, zu überwinden, sondern auch den Irrtum zu vermeiden, das Sein der Dinge sei nicht einsehbar und deshalb habe auch der Verstand nicht die Macht, seine Erkenntnis an der Wirklichkeit zu überprüfen. Aristoteles' Erkenntnistheorie ist von seiner Theorie über das Werden nicht zu trennen; und während es zweifelhaft ist, ob er in seiner Ethik alle Einsichten seiner Metaphysik voll nutzte, hinterließ er ein Vermächtnis für eine Anzahl von Begriffen, die für die Entwicklung der moralischen und politischen Theorie unverzichtbar sind. Es handelt sich um die Begriffe „Substanz" und „Zweckursache" sowie in Verbindung damit die Begriffe „Potenz" und „Akt". Beim Versuch, Veränderung zu verstehen, unterscheidet Aristoteles zwischen der relativ sich durchhaltenden Essenz und ihren Modifikationen. „Werden" wird verstanden als ein Mehr an Aktualität. Durch ihre Aktivität tritt eine Substanz aus der Isolierung heraus und tritt mit anderen Substanzen in Verbindung, sei es passiv, indem sie in aktiver Offenheit unter ihren Einfluß gerät, oder indem sie auf eine Weise handelt, die letztlich durch ihre Essenz bestimmt wird. Jede Wesenheit (entity) tendiert zu einem Mehr an Aktualität, als sie bereits besitzt. Für Aristoteles ist die ganze Wirklichkeit durchsetzt mit der Unterscheidung von Potentialität und Aktualität, zwischen dem, was möglich, und dem, was tatsächlich ist. Das Potentielle verhält sich zum Aktuellen wie das Unvollkommene zum Vollkommenen, das Unvollständige zum Vollständigen. Mit Hilfe dieser Einsichten können wir eine Sache nicht nur statisch, sondern auch dynamisch, d. h. als dem Wandel unterworfen, verstehen. Wandel wird ein-
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sichtig gemacht durch das Ziel des Wandels. Das, woraufhin ein Ding wesensgemäß angelegt ist, gilt als das ihm eigene Gute. Es gibt eine Beziehung der Eignung. Die Gutheit kann nicht mit einem Ziel identifiziert werden; es ist eine Erfüllung, die auf der Wesenheit und ihren Strebekräften begründet ist. Als gut bezeichnen wir, was dem entspricht, das seinem Wesen gemäß ist, dessen Fortentwicklung seine Grundstrebungen vervollständigt und auch seine weiteren Ziele begünstigt, sofern diese nicht mit ersteren sich in Widerstreit befinden. Der wahre Grund des Strebens ist der, daß das angestrebte Sein dem Wesen dessen entspricht, der es anstrebt. Ein teleologischer Naturbegriff, unterstützt von einer realistischen Epistemologie, ist deshalb die Grundlage der Einheit von „Sein" und „Sollen", von „Wirklichkeit" und „Wert", von „Sein" und „Gutheit". Die ontologischen und die moralischen Ordnungen sind letztlich eins. Eine Wertgrundlage besteht nur in dem Streben von etwas Unvollkommenem, sich zu vervollkommnen. Das Wesen einer Sache umfaßt das Ziel seines Werdens. Hier ist die Feststellung wichtig, daß das Wesen nicht etwas ist, das wir zunächst für sich allein verstehen und von dem wir dann eine Tendenz ableiten. Wir erfahren Seiendes und schließen von seinem Wesen her auf etwas, indem wir es im Prozeß der Erfüllung dieser Strebungen beobachten. Dinge befinden sich immer im Stadium des Werdens und der Entwicklung. Das so erfaßte Wesen ist kein unveränderliches Substrat, noch ist es durch subjektive Interessen hervorgebracht; noch ist es eine Art Kurzschrift, mit der wir Eigenschaften oder Beobachtungen im Gedächtnis bewahren, die wir jetzt nicht angemessen artikulieren können. Das Wesen wird vielmehr in Erfahrung vermittelt und durch Reflexion entdeckt. Es kontrolliert unser Bemühen, zwischen Peripherem und Zentralem zu unterscheiden, die Ordnung und die Ursache der Eigenheiten zu entdecken, welche die Wissenschaften aufweisen. Bei Beantwortung der Frage „Was ist es?" wird das von anderen Seinsformen abgehobene Wesen ermittelt. Und am wichtigsten für die Werttheorie: Das Wesen in seiner tendenziellen Ausrichtung gibt Aufschluß darüber, was gut ist. In diesen Überlegungen können wir die Grundlagen für eine Theorie des Gemeinwohls erkennen. Sie bestehen in dem Rat, 1. auf die menschliche Natur zu rekurrieren, um zu bestimmen, was gut für den Menschen ist, und 2. die Strukturen der Gesellschaft zu analysieren, wie wir sie durch Erfahrung und durch das Studium der Geschichte kennen, um zu bestimmen, welche dem Wohl des Menschen zuträglich sind. Es gibt keine vorgefertigten Schlußfolgerungen. Das gilt sowohl für Aristoteles als auch für Thomas v. Aquin, wenn letzterer sich bei der Entwicklung einer eigenen Moralphilosophie die Einsichten des griechischen Philosophen zu eigen macht. Damit soll nicht der Unterschied in den Ausgangspunkten und bei der Gewichtung beider ignoriert werden. Aristoteles setzt in seiner Ethik beim Menschen inmitten einer Gesellschaft mit bestimmten Sitten an. Diese Sitten, die ihn schon erheblich geprägt haben, spielen bei der Bestimmung der Werteordnung
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eine wichtige Rolle. Andererseits geht der Aquinate von der Überzeugung aus, daß der Geist Gottes die Wurzel einer natürlichen Ordnung ist, die der menschliche Geist - mit angemessenem Bemühen - wahrnehmen kann. Diese Ordnung muß - mit Hilfe aller einschlägigen Wissenschaften - entdeckt werden. Sowohl Aristoteles als auch Thomas betonen stark die Vernunft. Owens hat gezeigt, daß Aristoteles die rechte Vernunft mit praktischer Klugheit gleichsetzt. In seinem berühmten Gesetzestraktat identifiziert Thomas stillschweigend das Gesetz mit der Vernunft; an anderer Stelle entwickelt er eine Methodologie, der die Vernunft folgen soll. Thomas' weitere Ausführungen sind interessant, weil sie Aristoteles in logischer Weise weiterführen. Bei der Benutzung der Schriften von Aristoteles fällt auf, daß Thomas keine klare Unterscheidung zwischen Naturrecht und Zivilrecht trifft. Seine berühmte Definition des Rechts, die für jedwedes Recht gelten sollte, ist primär eine Definition des Zivilrechts. Wo das sogenannte Naturrecht aufhört und das Zivilrecht beginnt, ist nicht klar zu erkennen. Allerdings besteht folgender Unterschied: Das Zivilrecht wird vom Staat artikuliert, das Naturrecht nicht. Aber dieser Unterschied ist nicht entscheidend. Naturrecht kann von einer Kirche oder einer akademischen Gemeinschaft artikuliert werden, bevor es sich in den Ordnungen eines Gemeinwesens widerspiegelt. Von wem es artikuliert wird, ist nicht von Bedeutung. Ebensowenig ist von Belang, daß der Staat nicht alles artikuliert, was von den Gelehrten erarbeitet wird. Betont zu werden verdient indes die Tatsache, daß sowohl das natürliche als auch das bürgerliche Gesetz ein Produkt der Vernunft ist, die erklärt, was für den Menschen als Einzelwesen oder als Mitglied einer Gemeinschaft, die gemeinsame Interessen verfolgt, gut ist. Dies deutet darauf hin, daß der wesentliche Unterschied zwischen Naturrecht und Zivilrecht im Bereich des Konstanten und des Variablen liegt. Wie Aristoteles anerkennt auch Thomas, daß es im Menschen gewisse Konstanten gibt, die ausgemacht werden können. Diese Konstanten sind der Grund für jene normativen Festlegungen, die über Generationen hinweg die gleichen bleiben. Die Variablen sind kultureller, wirtschaftlicher und topographischer Art. Das Verhältnis zwischen den Konstanten und den Variablen liegt nicht fest; aber Thomas ist bei der Erwähnung von Konstanten eher zurückhaltend. Die Behauptung, daß das Naturrecht unveränderlich sei, kann leicht seinen Standpunkt in einem falschen Licht erscheinen lassen. So wie er seine Ansichten im Gesetzestraktat darstellt, ist der größte Teil des Naturrechts zeitbedingt; d. h., daß man, was die inhaltlichen Implikationen betrifft, zurückhaltend sein sollte, weil sich das Gesetz ständig weiterentwickelt. Das kann nur unterstrichen werden, denn es besteht Anlaß zu vermuten, daß eine erneute Lektüre von Thomas v. Aquin zeigen wird, daß man in die Unterscheidung von Naturrecht und Zivilrecht zuviel hineingelegt hat. In dieser Abhandlung bekräftigt Thomas grundsätzlich, daß das Gesetz in etwas anderem als dem Willen des Gesetzgebers wurzelt. Wo er zwischen den unwandelbaren und den zeitlichen Aspekten des Gesetzes unterscheidet, ist er sich bewußt, daß in bestimmten Grundzügen die Menschen überall gleich sind. Aber der Schwerpunkt in
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dieser Abhandlung liegt auf der Vernunft als dem richtigen Weg, um herauszufinden, was für den Menschen gut ist. Deshalb ist Thomas mehr bedacht auf die Methodologie als auf den Inhalt. Es sollte klar sein, daß nicht alles, was als Gesetz erlassen oder von einem Gericht zum Gesetz erklärt wird, auch tatsächlich als Gesetz zu behandeln ist. Thomas will jenen Beschlüssen, die der Vernunft und der Erfahrung entgegenstehen, nicht Gesetzeskraft verleihen. Man kann jedoch annehmen, daß gesetzgebende Körperschaften, die interessiert sind, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen, unter günstigen Bedingungen weitgehend Erfolg haben. Damit soll nicht verkannt werden, daß die Gesetzgebung zum Teil ein feines Gewebe von Kompromissen ist, die oft widerstreitende und gegensätzliche Einsichten und Grundsätze widerspiegeln. Freie Intelligenz und guter Wille bringen gute Gesetze hervor, zwar nicht immer, aber meistens. Solche Gesetze befinden sich, so behaupte ich, im Einklang mit der Natur oder, wenn man so will, mit dem Naturrecht. Eine indirekte Bestätigung findet diese These durch H. L. A. Hart. Obwohl er an der Unterscheidung zwischen den positiven Gesetzen eines Gemeinwesens und seinen Sitten festhält, merkt er an, daß sie sich häufig überschneiden oder gar decken. Der Unterschied liegt m. E. hauptsächlich in der Art der Artikulation. Es verdient betont zu werden, daß für Thomas v. Aquin Vernunft nicht mit Deduktion gleichgesetzt werden darf. Das Naturrecht kann nicht aus intuitiv oder vorgängig erkannten Prinzipien abgeleitet werden. Die Anthropologie spielt in seiner Ethik die gleiche Rolle wie bei Aristoteles. Hier ist die Moralphilosophie eines Aristoteles oder Thomas der rein formalen Ethik von Kant gegenüberzustellen, in der die Anthropologie nur eine geringe oder überhaupt keine Rolle spielt. Durch Induktion, nicht durch Deduktion, wird sich der Ethiker gewisser Konstanten im Menschen bewußt. Durch Induktion kann der Philosoph allgemeine Schlüsse über den Menschen in einer sich wandelnden Umwelt ziehen. Wie groß die Beständigkeit und wie groß der Wandel ist, diese Fragen müssen mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung beantwortet werden.
IV. Was dem Gemeinwesen von Nutzen ist, kann ohne eine eingehende Untersuchung nur sehr allgemein gesagt werden; und selbst die so ermittelten Güter sind oft nur das Ergebnis der Reflexion von früheren Erfahrungen, die mit Hilfe der Geschichte und der philosophischen Anthropologie gewonnen werden. Man könnte versuchen, eine Liste aufzustellen; aber eine solche wäre relativ kurz, wenn sie das Ziel hätte, Gemeinschaftsgüter aufzuführen, die überall und zu allen Zeiten angestrebt werden. Während man von allen Gesellschaften sagen kann, daß das Gemeinwohl eine stabile und gerechte Regierung verlangt, die fähig ist, wesentliche gemeinsame Dienste zu organisieren, sind Umfang und Qualität dieser Dienste von Wirtschaft und Kultur des Gemeinwesens abhängig. Selbst die angemessene Re-
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gierungsform wird von der geographischen Lage und dem kulturellen Erbe mitgeprägt. Wenn es stimmt, daß der Begriff des Gemeinwohls keine spezifischen Inhalte hat, wozu dient er dann? Wozu verpflichtet er uns? Welche seiner Grundzüge können uns als Ziel und Quelle des Handelns dienen? Wenn man sich der Gefahr der Unvollkommenheit oder der unangemessenen Betonung bewußt bleibt, kann man versuchen, eine solche Liste aufzustellen, die folgende Aspekte berücksichtigen sollte: 1. Zum einen: Die Gemeinwohl-Tradition weiß um die materiellen Voraussetzungen für die persönliche Entfaltung. Sie betont deshalb die Pflicht des Staates, die Wohlfahrt aller Bürger zu gewährleisten. Ohne die Güter, die sie zum Leben brauchen, können die Menschen nicht tugendhaft sein. Umgekehrt erfordert das Gemeinwesen zur Erfüllung seiner Aufgaben von seinen Bürgern ein gewisses Maß an Tugend. Somit hat das Gemeinwesen als Ganzes ein Interesse am Wohlergehen - einschließlich der Bildung - jedes einzelnen Mitglieds. Wie diese materiellen Bedingungen günstig zu verwirklichen sind, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Eine Konstante ist das Bedürfnis des Menschen. Allgemein anerkannt ist das Recht des Kindes auf Leben, Lebensunterhalt und Bildung. Damit sind Forderungen an die Gesellschaft verbunden. Die Mittel für den Lebensunterhalt werden als ein weiteres Grundrecht betrachtet. Die Gemeinwohl-Tradition fordert die gesellschaftliche Anerkennung dieser Ansprüche oder Rechte seitens ihrer Mitglieder. 2. Zum Gemeinwohl gehört eine Lehre vom Eigentum. In Industrie- wie in Agrargesellschaften ist Eigentum eine Voraussetzung für den Lebensunterhalt. Für die Mehrheit der Menschen ist Arbeit die einzige verfügbare Einkommensquelle, um die existentiellen Bedürfnisse zu decken. In einer Agrargesellschaft sind die Erzeugnisse das direkte Ergebnis der Arbeit. Im Handwerk gibt es einen ähnlichen Bezug zur Produktivität. In der Industriegesellschaft verteilen sich die Kosten des Kapitals, der Rohmaterialien und des Marketing auf viele Ansprüche auf den Wert des Produktes. Die Rechte eines Arbeiters, der an der Herstellung eines Produktes beteiligt ist, sind nur anteilig das Ergebnis eines verdienten Anspruchs. Die Gerechtigkeit verpflichtet den Eigentümer, diesen Anspruch anzuerkennen und den Arbeiter nicht auszubeuten. Es überrascht nicht, daß die Gemeinwohl-Tradition die Rechte des Arbeitnehmers, die Pflichten des Arbeitgebers und die gesellschaftlichen Aspekte der natürlichen Ressourcen betont. 3. Ein Element dieser Eigentumslehre ist die Überzeugung, daß Unabhängigkeit, Selbstverantwortung, Selbstachtung und wirtschaftliche Macht nur durch Besitz von Eigentum entstehen. Es wird anerkannt, daß weder eine Versicherung noch ein Lohnvertrag den Menschen mit diesen Qualitäten ausstatten kann, die als integraler Bestandteil des normalen Lebens in ihrer Bedeutung gleich nach Nahrung, Kleidung und Wohnung rangieren. 4. Die Vereinbarkeit von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen steht außer Frage. Jeder trägt zur Lebensfähigkeit des anderen bei. Individualität ist die Quelle
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von Initiative, Unternehmungsgeist und Verantwortlichkeit. Gemeinschaft bedeutet nicht, daß man alles gemeinsam besitzt. Die Privatsphäre einer Person wird als Voraussetzung für die Lebensbereiche des Studierens, des Nachdenkens, der Erholung und der Intimität gesehen. Das Private ist keine Gefahr für die Gemeinschaft. 6 Eine Gemeinschaft verliert nicht, wenn ihre Mitglieder gewisse Lebensbereiche für sich reklamieren. Eine Gruppe wird durch die Güter gestärkt, die ihre Mitglieder als Ergebnis ihrer individuellen Aktivitäten sowie durch die Teilnahme in unterschiedlichen, aber nicht gegensätzlichen Gruppen in sie einbringen. Die Gemeinschaft ist keine totale Einheit, sondern ein Gleichklang komplementärer Interessen. Die Gefahr des Individualismus liegt im Übermaß der Konzentration auf die eigenen oder familiären Interessen. Radikaler Individualismus führt tendenziell zum „Massenmenschen", zum atomisierten Individuum, dessen Beschäftigung mit sich selbst ihn für totalitäre Kontrolle anfällig macht. Wer die konstitutionellen Regierungsformen kennt, warnt vor den Gefahren des Individualismus. Edmund Burke bezeichnete den reinen Individualismus, den er mit entfesselter Demokratie verglich, die schmählichste Sache der Welt. Wie Burke beobachtete, kann der Tyrann in Ungnade fallen und geächtet werden, aber der Einzelne, der einer tyrannischen Mehrheit angehört, die eine schwächere Minderheit ausbeutet, weiß, daß er als Einzelner nie beschuldigt oder bestraft wird, besonders dann nicht, wenn er den Diebstahl durch geheime Wahl begeht. Burke zufolge besteht die Tradition des common law darauf, daß ein Wähler nicht nur ein Privatmann, sondern ein Staatsbürger ist. Die Demokratie erweitert die Teilnahme an der Regierungsverantwortung so weit wie möglich. Dazu bedarf es des Gemeinsinns und des Interesses für das Gemeinwohl. 5. Ein weiteres Merkmal der Gemeinwohlorientierung besteht darin, daß das Gemeingut nicht mit bestimmten Gütern hier und jetzt identifiziert wird. Die Gesellschaft wird als eine identifizierbare Einheit erkannt, die sich über Raum und Zeit erstreckt, die nicht nur geographische Grenzen, sondern auch ein Vorher und ein Nachher hat. Jede Gemeinschaft lebt nicht nur in der Gegenwart, sie hat auch eine Geschichte. Sie ist das Produkt von Wahlakten und Entschei6
Maritain schreibt hierzu in „ The Person and the Common Good": „Das Gemeinwohl des politischen Gemeinwesens besteht nicht nur in der Gesamtheit öffentlicher Güter und Dienstleistungen - Straßen, Häfen, Schulen usw., was die Organisation des öffentlichen Lebens voraussetzt, eine gesunde finanzielle Lage des Staates und seiner Streitkräfte, gerechte Gesetze, gute Sitten und kluge Institutionen, die dem Land seine Struktur geben, das Erbe seiner großen historischen Erinnerungen, seine Symbole und Errungenschaften, seine lebendigen Traditionen und kulturellen Schätze. Das Gemeinwohl umfaßt dies alles - und noch mehr, etwas Tieferes, Konkreteres und Menschlicheres... Es schließt ein die staatsbürgerliche Verantwortung, die politischen Tugenden sowie den Sinn für Recht und Freiheit, Engagement, materiellen Wohlstand und geistliche Reichtümer, eine unterbewußt wirkende Weisheit, moralische Redlichkeit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Glück, Tugend und Heroismus im Leben seiner Mitglieder. Diese Dinge sind alle in gewissem Sinne vermittelbar und helfen dem einzelnen Mitglied, sein Leben und seine Freiheit zu vervollkommnen. All dies macht das gute menschliche Leben des Volkes aus." (London: Geoffrey Bles, 1948) S. 37-38.
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düngen, die im Laufe der Zeit getroffen wurden. Nur die Beachtung dieser geschichtlich vermittelten Entscheidungen offenbart ihre soziale Struktur und macht sie somit einsehbar. Eine Gemeinschaft ist eine Einheit, weil sie eine Geschichte hat, die sie bis heute prägt. Die Frage kann gestellt werden: „Was ist für diese Gemeinschaft mit ihrem Erbe gut?" In vielerlei Hinsicht ist eine bestehende Gemeinschaft anders als jede andere. Sie hat ihre eigenen Überzeugungen, ihre politische Struktur und ihre Handlungsweisen. Man kann nicht für Pamplona und Padua die gleichen Gesetze machen, auch wenn alle Gemeinschaften in mancherlei Hinsicht ähnlich sind. Menschen sind überall Menschen, mit denselben natürlichen Neigungen und folglich mit Bedürfnissen, sowohl was die Ordnung der Ziele als die der Mittel anbetrifft. Die Einzelnen werden von der Gemeinschaft und diese wird von ihrer Vergangenheit geprägt. Eine Betonung des „Gemeinsamen" führt zu einer Anerkennung der Relevanz des Ererbten. V. Alessandro Passerin d'Entrèves hat einmal darauf hingewiesen, daß der Begriff „Gemeinwohl" im politischen Denken eine ähnliche Rolle spielt wie der des „Naturrechts" in der Rechtstheorie.7 Eine Gefahr für beide Ordnungen besteht dann, wenn man von der heuristischen Regel her spezifische Schlußfolgerungen durchsetzen will. Beide Begriffe dienen als korrektive oder adjudikative Mittel. Man kann darüber streiten, ob dieses oder jenes vom Gemeinwohl gefordert oder vom Naturrecht vorgegeben wird. Wenn zwei Parteien über den Weg streiten, der eingeschlagen werden soll, und beide eine gemeinsame Bezugsbasis anerkennen, ist der Verhandlungston ein anderer, als wenn es eine solche Anerkennung nicht gäbe. Vernünftige Menschen mögen hinsichtlich der Mittel verschiedener Meinung sein, wenn nur das Ziel allseits anerkannt wird. In einem solchen Falle können sich ihre verschiedenen Vorstellungen produktiv für das Gemeinwohl auswirken. Wenn man aber denkt, es gibt kein Gemeinwohl, das anzustreben ist, oder daß dieses sich zufällig oder als Ergebnis einer Vielfalt vom Eigeninteresse motivierter Bestrebungen einstellt, dann geht dies zu Lasten des Gemeinwohls. Diese Lektion hat uns die Geschichte erteilt. Wenn als Ergebnis der Erfahrung der Begriff des „laissezfaire" in der Wirtschaftstheorie fallengelassen wurde, darf man wohl auch erwarten, daß die von Hobbes inspirierte Theorie des Rechts den Rückzug antritt. Die Aufklärung trug auf dem Gebiete der politischen Theorie gute und schlechte Früchte. Man kann sagen, daß die besten Früchte auf dem Boden der klassischen und religiösen Tradition des Westens gewachsen sind. Angesichts der herrschenden Verwirrung im Westen mag es klug sein, den Boden wieder zu bestellen, der einmal sein Leben so sehr bereichert hat.
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The Notion of the State: An Introduction to Political Theory (Oxford: Oxford University Press, 1967), S. 222. 7 Dougherty
Verantwortung im Beruf I. Kaum jemand würde bestreiten, daß Immanuel Kant zu den großen Denkern gehört. Zu seinen bedeutendsten Werken zählt seine „Metaphysik der Sitten". Seine Erörterung der Tugend, der Pflichten des Einzelnen gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist von zeitloser Gültigkeit. Kant ist überzeugt, daß eine Tugendlehre vermittelt werden kann. Allerdings kann Tugend nicht durch Begriffe der Pflicht oder durch Ermahnungen gelehrt werden; sie muß vielmehr eingeübt und gepflegt werden. Man kann nicht alles, was man möchte, im gleichen Atemzug tun. Aber die Entscheidung, den Pfad der Tugend einzuschlagen, muß ein für allemal getroffen werden. Eine Gewohnheit zu entwickeln, bedeutet eine dauerhafte Neigung zu begründen, ohne sich auf eine Maxime zu berufen. Die Betonung liegt auf „Neigung"; aber Kant war nicht gegen die Formulierung von Maximen, vorausgesetzt, daß sie systematisch und empirisch begründet sind. Kants Betonung des Dialogs bei der methodischen Erörterung der Tugend fand Zustimmung in den Lehrbüchern und Anthologien vieler zeitgenössischer Morallehrer. Dies wird nirgendwo deutlicher, als in der Diskussion der Berufsmoral, besonders in der Medizin, in der Jurisprudenz und in den akademischen Berufen. Die folgende Abhandlung konzentriert sich auf den Begriff der Verantwortung im Beruf, und zwar allgemein. Es geht, in Kant'scher Weise, um Tugenden, die für die hier zu behandelnden Berufe wichtig sind. Berufliche Verantwortung meint ein Gefüge von Tugenden. Sie ist ein moralisches Erfordernis, das mit der vom Amt verliehenen Autorität und Macht verbunden ist. Ich kann mir keine Tugend vorstellen, die einer, der verantwortlich seinem Beruf nachgeht, nicht haben sollte; aber es gibt Tugenden, die mit bestimmten Berufen verbunden sind und deren Fehlen verhängnisvolle Folgen haben kann. Auf diese werde ich mich konzentrieren. Zuvor jedoch möchte ich erklären, was gemeinhin unter „Beruf 4 und unter „Verantwortung" verstanden wird. Obgleich wir dazu neigen, das Wort Beruf in einem weiten Sinne zu gebrauchen, kann nicht jede Beschäftigung als Beruf bezeichnet werden. Die Etymologie des Begriffs und seine historische Verwendung können uns zu einer brauchbaren Definition verhelfen. Traditionell wurde der Begriff jenen Tätigkeiten zugeordnet, in denen jemand „sich ausweist", ein spezielles Wissen erworben zu haben, das vor allem im Bereich der Führung und des Lehrens, aber auch für jene Künste und Dienste nützlich ist, die solches Wissen voraussetzen. In der Antike schloß dies rein kommerzielle, mechanische, landwirtschaftliche und ähnliche Betätigungen
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aus. Drei altehrwürdigen Berufen, der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin, wurde die Bezeichnung „gelehrt" zuerkannt. Während die Antike nur wenige Berufe kannte, sind die heutigen Wünsche auf Zuerkennung eines professionellen Status zahlreich; und es wäre verwegen, wollte jemand darüber befinden, welcher Beruf rechtens ist und welcher nicht. Offensichtlich kann die Liste der in der Antike anerkannten Berufe analog auf viele moderne Tätigkeiten hin erweitert werden. Der Status dieser Tätigkeiten wird an ihrem geistigen Gehalt, ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft und ihrer Geschichte gemessen. Normalerweise betrachten wir die Tätigkeit eines Elektrikers oder Klempners nicht schon als Beruf, obwohl wir die Dienste dieser Handwerker schätzen. Ein Beruf schließt offenbar auch eine theoretische Dimension ein. Das Wort „Verantwortung" selbst kann uns dazu einen Schlüssel geben. Obwohl die Etymologie des Wortes verschwommen sein mag, gibt es Grund zu der Annahme, daß es von dem lateinischen respondeo herkommt, ähnlich dem französischen répondre, wie in „répondez s'il vous plaît". Im Lateinischen impliziert es eine Bereitschaft, auf einen Ruf zu antworten. Verantwortlich zu sein bedeutet, zu einer Antwort fähig zu sein. Als Adjektiv bezeichnet verantwortlich das, was Aristoteles phronimos nannte, Vernunftbegabung und Zuverlässigkeit. Als moralische Qualität ist Verantwortung nicht auf eine bestimmte Situation begrenzt; sie bezeichnet vielmehr eine Disposition und vielleicht die Ausübung einer Funktion. Verantwortung im Beruf beinhaltet nicht nur eine Disposition, sondern auch ein Bündel von Tugenden. Davon sind einige auf den Beruf bezogen, andere auf die Person qua Person. Berufliche Kompetenz besteht zum Teil in der Übung erworbener Fertigkeiten auf hohem Niveau. Dazu muß man sich mit der neuesten Literatur auf dem Fachgebiet vertraut machen und wohl regelmäßig an Kongressen und Fachtagungen teilnehmen. Wenngleich die Übung beruflicher Fähigkeiten von höchster Priorität ist, reicht das technische Wissen und Können allein für den Erfolg auf längere Sicht nicht aus. Es gibt eine Verpflichtung, die Wahrheit über den eigenen Beruf zu kennen. Man muß etwas über seine Geschichte wissen sowie über seine Einordnung in den größeren Rahmen von Wissen und Handeln. Der Wert der Vertrautheit mit der Geschichte des Berufes mag von einer Disziplin zu einer anderen variieren, aber eine gewisse Kenntnis der Entstehung und Entwicklung ist für die Identität relevant. Das gilt auch im Hinblick auf die Zukunft. Derjenige, der einen Beruf ausübt, hat auch eine Verpflichtung gegenüber denen, die ihm nachfolgen. Schon der Begriff „Beruf impliziert Kontinuität: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man kann eine Geschichte der Medizin, des Rechts oder des Priestertums schreiben. Wir diskutieren über die Zukunft des Ingenieurwesens oder der Krankenpflege als Beruf. Die Berücksichtigung langfristiger Bedürfnisse bestimmt unser jetziges Handeln. Es ist schwer, sich eine Tätigkeit vorzustellen, die als Beruf bezeichnet wird, der aber diese kognitive Dimension fehlt. In den traditionell anerkannten Berufen der Theologie, des Rechtes und der Medizin wurde die Gelehrsamkeit prämiert. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen Lernen und Erfolg besteht - historisch 7*
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gesehen - immer dort, wo der hinreichend Befähigte für das Richteramt, für ein Amt der Verwaltung oder für das Bischofsamt gesucht wird. Von Ambrosius bis Kilwarby und Scalia finden wir Beispiele hierfür. Das Lernen ist auch ein maßgebliches Element für moderne Berufe, die es in der Antike nicht gab. Ähnlich wie es viele Arten und Stufen der Autorität gibt sowie verschiedene Vorkehrungen ihrer Verleihung, erwirbt man Verantwortung auf vielerlei Wegen: sei es durch Wahl oder Ernennung für ein bestimmtes Amt, aber auch auf anderen Wegen. Die Eltern sind verantwortlich für das Kind, selbst im Mutterleib, und Eltern mögen sich fragen, ob diese Verantwortung jemals aufhört. Verwandtschaft begründet eine Verantwortung, die anders ist als die rechtliche und sogar die moralische Verantwortung. In einem modernen Unternehmen gibt es verschiedene Ebenen der Verantwortung vom Werkmeister bis zum Vorstandsvorsitzenden. Und selbst zwischen diesen Ebenen kann es verschiedene Grade der Verantwortung geben. Ähnlich gibt es innerhalb eines Berufes Grade der Verantwortung.
II. Erste Berufspflicht ist es, seiner Berufung entsprechend eine hervorragende Leistung zu erbringen. Die Pflicht umfaßt nicht nur die Beherrschung der relevanten Technik (und in manchen Berufen der sich ständig verändernden Techniken), sondern auch der theoretischen Dimension seiner Arbeit. Die Anerkennung jener Wahrheiten, die sich auf die Hauptarbeitsfelder und auf die Beziehungen der Arbeit zum Leben insgesamt auswirken, ist Teil des spekulativen und praktischen Wissens, das ein Beruf erfordert. Praxis gründet auf Theorie. Man braucht Prinzipien, um zu urteilen und zu weiten. Diese stammen durchweg von Quellen, die außerhalb der Empirie liegen. Erfahrungen aus der Vergangenheit sind unverzichtbar, wenn man bedenkt, daß gewisse Gesetzmäßigkeiten die Natur und das menschliche Verhalten leiten, die durch Generationen hindurch, ja über Jahrtausende hinweg unverändert bleiben. In fast jedem Beruf ist die Vertrautheit mit seiner Geschichte ein Vorteil. Ein Ökonom kann nicht erwarten, ernst genommen zu werden, wenn er nicht Adam Smith gelesen hat. In einigen Disziplinen und damit in einigen Berufen ist die Kenntnis der Geschichte des Faches wichtiger als in anderen. Die menschliche Natur, wie die Natur überhaupt, hat sich seit der Antike nicht geändert. Die Naturwissenschaften sind im Rückenwind der technologischen Entwicklung vorangeschritten. Demgegenüber konnte man zum Verständnis der menschlichen Natur auf solchen Fortschritt nicht zurückgreifen. So sind wir immer wieder auf das Studium von Werken wie die „Nikomachische Ethik" und die „Politik" von Aristoteles, Ciceros „De re publica" und den „Gottesstaat" von Augustinus verwiesen. Wenn die Standards nicht trivial werden sollen, müssen sie gewissermaßen die Gegenwart transzendieren und auf dem jeweils bestverfügbaren Wissen aufbauen. Wenn Handlungsmuster beurteilt, wenn die Sitten und Gewohnheiten eines Berufes oder gar eines Volkes
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bewertet werden sollen, muß es eine Perspektive geben, die eine solche Bewertung ermöglicht. Livius sagte von der Stadt Rom seiner Zeit, die sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert schon ihrer Vergangenheit bewußt war: Was das Studium der Geschichte wirklich heilsam und nützlich macht, ist die Erkenntnis, daß die Geschichte die unendliche Vielfalt menschlicher Erfahrung spiegelt, die allen zugänglich ist; und darin kann man für sich und sein Land Vorbilder und Warnungen finden. 1 Was das Wesen des Gesetzes und die Verantwortlichkeiten des Magistrats betrifft, bleibt Cicero nach wie vor ein Klassiker. Für Cicero ist die Sorge für das Öffentliche der höchste Ausdruck beruflicher Verantwortung, eine Berufung, die er für sich selbst reklamierte. In De officiis, wo er einerseits zwischen Dienst an der Gemeinschaft, andererseits vom Fortschritt des Einzelnen spricht, trifft er eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem bonum honestum und dem bonum utile, wobei ersteres mit dem Gemeinwohl, letzteres mit dem Interesse des Einzelnen identifiziert wird. 2 Was gerecht ist, dient der res publica. So wie das Eigeninteresse nicht über das Gemeinwohl gestellt werden darf, sollten auch die Interessen der Gruppen nicht dem Wohle des Staates übergeordnet werden. Ciceros Betonung der Gemeinwohlverantwortung ist so stark, daß man sich oft (fälschlich) auf ihn berief, sogar um Gesetzesverstöße zu rechtfertigen, wenn sie nur dem Gemeinwohl nützten. Im Geiste Ciceros sind Weisheit und Klugheit für den, der im Staat Verantwortung übernimmt, erforderlich. Wer für das Gemeinwohl arbeiten will, muß unterscheiden können zwischen dem, was wahrhaft gut ist, und dem, was nur scheinbar nützlich ist. Eine mit Autorität ausgestattete Person muß immer danach streben, gerecht zu sein; aber man muß sich bewußt sein, daß viele ihrer Taten, gemessen am Maßstab des absolut Guten, unzulänglich sind. Der gerechte oder rechtschaffene Mensch hat Grundsätze und denkt an die langfristigen Wirkungen. Das Streben nach Nützlichkeit, losgelöst von allem honestum, bedroht die Lebensfähigkeit der Gesellschaft. Selbsterhaltung ist abhängig vom Gemeinwesen; die Verteidigung der Gesellschaft ist deshalb von höchster Priorität. Die Relevanz dieser Gedanken Ciceros für unsere Zeit ist nicht zu übersehen. Die Herrschaft des Gesetzes hat Vorrang, aber die Grundsätze, auf denen das Gesetz beruht, sind ihrerseits abgeleitet. Sie setzen eine Philosophie und eine Tradition voraus. Eine göttliche Ordnung wird von Cicero ausdrücklich anerkannt. Er betont das Erfordernis des Lernens und die Achtung vor dem Ererbten; er hält die Gemeinsamkeit der menschlichen Natur für selbstverständlich und begründet auf ihr seine Achtung für die Lektionen der Geschichte. Jedes Gemeinwesen, erklärt er, dem an seinem Fortbestand gelegen ist, bedarf der Tradition. Das Gleiche kann 1 Titus Livius, Preface to his History (Cambridge, Mass.: Loeb Classical Library, Harvard University Press, 1924), 1.7. 2 Cicero, On the Commonwealth, übers, von C. H. Sabine und S. Β. Smith (Indianapolis, Ind.: Bobbs-Merrill, 1950).
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hier und heute von unserem Gemeinwesen, seinen Organisationen und Berufen gesagt werden. Verantwortung im Beruf findet man zu allen Zeiten. Denken wir an die drei erwähnten Berufe. Der Eid des griechischen Arztes Hippokrates, als Verhaltenskodex für den ärztlichen Beruf durch die Jahrhunderte praktiziert, wird immer noch bei Studienabschluß an zahlreichen Universitäten und Medizinischen Hochschulen geleistet. In einem Hippokrates zugeschriebenen Buch heißt es: „Das Leben ist kurz und die Kunst lang; die Chancen sind wechselnd; Experimentieren ist gefährlich und das Urteilen schwierig". 3 Das Gleiche kann man von vielen Berufen sagen. Ihre Kunst ist in der Tat „lang", d. h. sie haben eine Geschichte. Oft schwindet die Gelegenheit zu handeln dahin - leider. Wer würde in Zeiten der Krise nicht erkennen, daß das Bewährte und Wahre zum Maßstab wird? Und wer hätte noch nicht erfahren, daß das kluge Urteil mit Gefahren behaftet ist? Es gibt keine Regel für die Anwendung von Regeln. Hippokrates kann nicht widersprochen werden. Die Eide, Kodices und Regeln beruflichen Verhaltens, die von den wichtigsten Berufen über Jahrhunderte praktiziert wurden, können als Ausdruck gemeinsamer Verantwortung gewertet werden. Der Eid des Hippokrates ist nur der berühmteste. Rabbinische Kodices sind älter als das Christentum. Vorschriften und Verhaltenskodices für Priester aus den frühen christlichen Jahrhunderten gelten heute noch oder haben ihre zeitgenössischen Entsprechungen. Die Regel des hl. Benedikt ist voll des gesunden Menschenverstandes. Juristische Vereinigungen bieten ein weiteres Beispiel für die Annahme und sogar Durchsetzung von Verhaltenskodices. In den Vereinigten Staaten haben die Juristen schon im 18. Jahrhundert einen für ihren Berufsstand relevanten Verhaltenskodex entwickelt. Viele Jahre blieb dieser Kodex ungeschrieben, aber im späten 19. Jahrhundert begann die Gerichtsbarkeit, geschriebene Kodices als Grundlage der Prozeßordnung anzunehmen. Kurz nach der Jahrhundertwende schlug die American Bar Association (ABA) eine Reihe schriftlich fixierter Richtlinien vor, die, 1970 überarbeitet, fast überall in den Vereinigten Staaten übernommen wurden. Der derzeitige Code of Professional Responsibility ist in drei Teile gegliedert: (1) Richtlinien oder axiomatische Erklärungen, die die allgemeinen Standards beruflichen Verhaltens betreffen; (2) als relevant betrachtete ethische Überlegungen; (3) disziplinarische Vorschriften, die ihrem Charakter gemäß verbindlich sind und die in den meisten Gerichtsbezirken Gesetzeskraft haben. Der Kodex von 1970 wurde durch die „Model Rules of Professional Conduct" erweitert. 1983 von der ABA angenommen, kann er als eine erklärende Kommentierung des vorherigen Textes betrachtet werden. Einige Beispiele mögen den Charakter dieser Richtlinien beleuchten. Kanon I fordert, daß ein Rechtsanwalt dazu beitragen sollte, die Integrität und Kompetenz seines Standes zu erhalten; Kanon IV: daß ein Rechtsanwalt vertrauliche Mitteilun3
„Medicine, History of," The New Encyclopedia Britannica , 11.827.
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gen und Geheimnisse eines Klienten nicht preisgeben darf; Kanon V: daß ein Rechtsanwalt im Interesse seines Klienten unabhängig urteilen sollte; Kanon VIII: daß ein Rechtsanwalt sich für eine Verbesserung der Rechtsordnung einsetzen sollte; Kanon IX: daß ein Rechtsanwalt auch nur den Anschein beruflicher Unkorrektheit vermeiden sollte. Diese Richtlinien können als Regeln der Vernunft angesehen werden, die analog auf andere Berufe anwendbar sind.4 Die Verantwortung geht Hand in Hand mit entsprechender Autorität und der damit verbundenen Macht; aber Autorität ist auf vielfältige Weise erworben. Die De-jure-Autorität wird durch Ernennung oder Wahl in ein Amt erlangt; andere Arten von Autorität bedürfen der Akzeptanz. Dies gilt zum Beispiel für die Druckund Fernseh-Medien. Die Autorität der Medien ist zum Teil selbst verliehen (die New York Times erklärt sich selbst als „the paper of record"), zum Teil von der Leserschaft oder von den Zuschauern zuerkannt. Eine wichtige Form von Autorität - mitunter als Wissens-Autorität bezeichnet entsteht mit der Beherrschung einer Fachdisziplin oder Technik. Auch wenn die Wissens-Autorität erworben wird, bringt sie, einmal anerkannt, gleichwohl Verantwortung mit sich. Solche Autorität darf weder in Wort noch in Schrift leichtfertig ausgeübt werden. Der weniger Informierte ist von ihrer Genauigkeit und Sorgfalt abhängig. Jede Schlampigkeit in Berichten, in Beurteilungen und bei Ratschlägen wird als Betrug empfunden. Die Menschen müssen sich auf Autoritäten verlassen können. Und sie tun es auch. Was für die Verantwortung des Einzelnen gilt, gilt auch für eine Gruppe oder einen Berufsstand insgesamt. In der Werbung wird oft versucht, Wissensautorität von ihrem angestammten Bereich auf ein bestimmtes Produkt zu übertragen. Der „Mann im weißen Kittel" ist eine bekannte Figur im Fernsehen. Als in den späten dreißiger Jahren eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Gründen der nationalen Sicherheit die Aufmerksamkeit von Präsident Roosevelt wecken wollte, entwarf sie einen Brief, den einer der damals bedeutendsten Mathematiker und Physiker, Albert Einstein, unterschreiben sollte. Die Autorität des Physikers reichte aus, um die gesuchte Aufmerksamkeit zu erreichen. Die wissenschaftliche Autorität wurde anerkannt, und die überbrachte Botschaft hatte Erfolg. Bekanntlich änderte das Manhattan Projekt den Verlauf des Krieges im Pazifik. Neben der de jure bestehenden und der auf kognitiven Fähigkeiten beruhenden Autorität gibt es eine weitere Art, die oft als „moralisch" oder „charismatisch" bezeichnet wird, auch wenn beide Begriffe nicht identisch sind. Jemand, der mit rhetorischer Begabung dramatisch die Aufmerksamkeit auf die moralische Dimension zu lenken vermag, kann oft eine enorme Macht ausüben. Wenngleich man zögert, hier die Kategorie des Berufes anzuführen, handelt es sich um eine Macht, die man häufig bei einem Amtsträger findet: z. B. Benjamin Spöck im medizinischen Bereich, Mahatma Gandhi in der Politik oder Mutter Theresa auf sozialem 4 Multistate Professional Responsibility (New York: SMH, 1987), 17-84.
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Gebiet. Die Autorität von Johannes Paul II., soweit sie über die Katholiken hinausreicht, kann als ein weiteres Beispiel gelten. Es gibt aber noch eine Art von Autorität, die zwar wahrnehmbar, aber schwer zu definieren ist. Sie entspringt einer gefühlsmäßigen Neigung - man mag sie Wohlwollen nennen - , für jemanden zu sorgen und sich seiner anzunehmen sowie Verantwortung zu tragen für die Mitarbeiter, für einen Verein oder für die Gemeinde. Dies zeigt sich in einer Großfamilie, deren Mitglieder im Laufe des Jahres wenig Kontakt miteinander haben, in einem Notfall aber überraschend einander beistehen. Die verantwortliche Tochter, der Bruder oder die Tante, obgleich sie weit entfernt voneinander wohnen und sich nur selten besuchen, übernehmen Aufgaben, die selbst Nachbarn oder enge Freunde nicht für verpflichtend halten. Die Erfüllung einer Pflicht seinen Verwandten gegenüber ist gewiß verantwortliches Handeln, wenn auch nicht beruflicher Art. Aber dieses Pflichtbewußtsein hat Auswirkungen im staatsbürgerlichen Bereich wie auch im Beruf. Cicero ortete die Grundlage des Gerechtigkeitsstrebens in unserer natürlichen Neigung zur Nächstenliebe. Kant erkannte, daß Pflichtbewußtsein und Selbstbeherrschung die persönliche moralische Grundlage bilden, die konzertiertes oder gemeinsames Handeln möglich macht. Unsere moralischen Gefühle veranlassen uns zu handeln, aber nicht in eine bestimmte Richtung; sie entstehen im Kontext unserer natürlichen Sozialität und werden von der vorherrschenden Kultur beeinflußt. Auf der anderen Seite bedarf es keiner großen Erfahrung, um zu erkennen, daß ohne die Orientierung an objektiven Normen Gefühle zerstörerisch wirken können. Aus Mitgefühl oder im Namen der Fairneß kann sich eine Gesellschaft selbst zerstören. Ohne feste Bezugspunkte oder Zuordnung der Ziele werden alle Ansprüche eingeebnet. Ohne die Anerkennung überzeitlicher moralischer Normen werden Entscheidungen nur noch ad hoc getroffen und führen zu einem zusammenhanglosen Aktionismus. Verantwortliches Handeln, persönliches oder gemeinsames, setzt Verantwortlichkeit voraus, selbst wenn es von Mitgefühl motiviert ist. Wir mögen einer Person oder Autorität gegenüber nicht verantwortlich sein und dennoch unsere Verantwortung, die eine unabhängige moralische Ordnung fordert, anerkennen. Wer oder was diese Ordnung bestimmt, ist eine andere Frage. Im Osten mag es die Tradition des Konfuzianismus sein; im Westen wird diese Ordnung wohl vom Christentum getragen. Die Philosophie war immer schon schwach in der Beförderung moralischer Normen. Von einigen Berufen erwarten wir exemplarisches Verhalten. Die Ärzte legen größtenteils noch den Eid des Hippokrates ab; die Mitglieder der Anwaltskammer unterziehen sich der Überprüfung ihrer moralischen Integrität, und für die Soldaten gibt es klar definierte Verhaltenskodices. Am meisten erwartet man ein hohes moralisches Niveau von der Geistlichkeit.
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III. Eine verantwortliche Person handelt in einem bestimmten Kontext. Moralisches Handeln impliziert freien Willen, Intentionalität und eine vorgegebene moralische Ordnung. In Ausübung ihrer Freiheit sträubt sich eine moralische Person nicht gegen die Übernahme eines Amtes, sondern wird ihrer Verantwortung gerecht. Die Mitwirkung, ob zum Guten oder zum Bösen, bringt ihr Lob oder Tadel. Im Bewußtsein um seine Verantwortung bedenkt der moralisch Handelnde, was er tut; er handelt aus Gründen, die er für sachlich richtig hält, nicht aus Gründen, für die er sich womöglich schämen müßte. Überlegtes Handeln liegt im Widerstreit mit gedankenlosem oder impulsivem Handeln. Sorgfältiges Nachdenken motiviert zum Handeln und dazu, nichts ungetan zu lassen, was getan werden muß. Läuft etwas verkehrt, muß der moralisch Handelnde bereit sein, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Eine verantwortliche Person ist eine, der man etwas anvertrauen und auf die man sich verlassen kann, die ihre Arbeit nicht ungetan liegen oder sich von vordergründigen Dingen ablenken läßt. Die verantwortliche Person kommt ihren Pflichten nach, ohne daß mit Belohnungen gelockt oder mit Sanktionen gedroht wird. Die Übernahme von Verantwortung mag nicht immer angenehm sein. Verantwortliches Handeln kann einem den Vorwurf einbringen, unfreundlich, unsympathisch oder schlimmer zu sein. Aber eine Person wäre nicht gut beraten, einem bettelnden Gauner mit Sympathie entgegenzutreten und ihm Unterstützung zu gewähren. Wenn der Wunsch dominiert, sozial angesehen und beliebt zu sein, kann die Verantwortung auf der Strecke bleiben. Rücksicht zu nehmen auf Gefühle von Freunden oder Benachteiligten kann zwiespältige Reaktionen hervorrufen. Freilich, die verantwortliche Person wird auch unter schwierigen Umständen das Gute tun, auch wenn es gilt, eine schlechte Nachricht zu überbringen oder die Disziplin anzumahnen. Der richtige Weg ist nicht immer selbstverständlich. Es muß zwischen Weisheit und Klugheit unterschieden werden. Theoretisch mag ein Grundsatz klar sein; mit der Anwendung jedoch hat es seine eigene Bewandtnis. Bei Entscheidungen, jedenfalls in schwierigen Fällen, kommt dem Denken eine wichtige Aufgabe zu. Wir wägen pro und contra ab und bewerten konkurrierende Optionen. Haben wir dann eine Entscheidung getroffen, können wir sie erklären und rechtfertigen, indem wir die befolgten Grundsätze und die Gründe für die Wahl des beschrittenen Weges darlegen. Bisweilen scheint unsere Entscheidung unausweichlicher als sie in Wirklichkeit war. Im Rückblick vergessen wir die negativen Faktoren, die Anlaß hätten sein können, anders zu entscheiden. Dieser Denkfehler ist nicht mit einem Mangel an Freiheit zu verwechseln. Diesen Prozeß kennen wir nur zu gut von persönlichen Entscheidungen. Wie J. R. Lucas in seiner ausgezeichneten Studie über die Verantwortung sagt: „Das Nachdenken über praktische Dinge ist dialektisch, d. h. alles hat seine zwei Seiten. Es geht nicht einfach um Folgerungen, die man - will man Widerspruch vermeiden -
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ziehen muß, sobald man sich auf die Prämissen eingelassen hat; vielmehr ist es eine Sache von Argumenten und Gegenargumenten."5 Was auf den ersten Blick einleuchtet ist oft widerlegt worden. Dem anscheinend vernünftigen Argument kann durch weitere Überlegung wirksam begegnet werden. Wir erkennen, daß Feststellungen über die Wirklichkeit in sich korrigierbar sind. Wir suchen ständig nach immer mehr Informationen, aber oft genug muß eine Entscheidung aufgrund der verfügbaren Information getroffen werden. Mitunter ist es wichtiger zu handeln als zuzuwarten, bis man völlig sicher ist, den richtigen Kurs gefunden zu haben. Dies führt uns zu einer anderen Überlegung. Argumente können von allen nachvollzogen werden; dies gilt auch für das Handeln, soweit es auf Vernunftüberlegungen beruht. Ich kann für eine Handlung Verantwortung übernehmen, ohne einen anderen seiner Verantwortung dafür zu berauben. Ich kann für etwas verantwortlich gemacht werden, das ein anderer getan hat, ohne daß er deshalb weniger verantwortlich wäre. Wir können gemeinsam verantwortlich sein. Wenn ich jemanden bitte oder veranlasse oder ihm befehle, etwas zu tun, kann ich dafür verantwortlich gemacht werden; aber dies schließt nicht aus, daß auch der andere verantwortlich bleibt. Ein anderes Beispiel: Angenommen, ich bin nicht der Urheber einer Aktion, sondern lediglich Mithandelnder. Meine Zustimmung mag nur flüchtig sein; wir können Teilhaber an einem gemeinsamen Unternehmen, Kollegen oder Mitglieder derselben Familie sein. Wenn es um Politik geht, ist die Annahme vernünftig, daß jeder von uns die Pflicht hat, offen seine Meinung zu sagen; tun wir es nicht, kann unterstellt werden, daß wir zustimmen. Im beruflichen Bereich kann es erforderlich sein, an der Erarbeitung von Resolutionen mitzuwirken, die im Namen der Berufsgruppe der Öffentlichkeit übergeben werden. Es kann notwendig sein, Gruppen innerhalb des Berufsstandes aufzufordern, sich von Dokumenten zu distanzieren, die in sich unmoralisch oder nicht im Sinne des Berufsstandes sind. In manchen Fällen kann der Austritt aus dem Berufsverband das einzige Mittel sein, die abweichende Meinung kundzutun. Wir können nicht für alles, was aus unserem Handeln folgt, verantwortlich sein. Wir sind nur für jene Folgen verantwortlich, die wir vernünftigerweise vorhersehen können. Die Berufsmoral verpflichtet einen, über wahrscheinliche Folgen seines Handelns nachzudenken. Umgekehrt muß man bei der Beurteilung der Moralität des Handelns eines anderen dessen Absicht berücksichtigen. Absicht ist freilich nicht alles. Die gute Absicht macht eine in sich schlechte Handlung nicht gut. Die Umstände können die Verantwortung positiv oder negativ beeinflussen. Uns werden oft Dinge angelastet, die außerhalb unserer Kontrolle liegen; und umgekehrt wird uns manchmal größeres Lob zuteil, als wir es verdienen. Bei der Beurteilung von Intentionen müssen wir das ganze Umfeld im Blick haben. Das utile ist nicht das Gleiche wie das honestum. Bei gemeinsamem Handeln macht es keinen Unterschied, ob die Folgen aus eigenem Handeln oder in Verbindung mit dem Handeln anderer hervorgehen. Wie Lucas sagt: „Verantwortung ist nicht vergleichbar einem 5 Responsibility (Oxford, U.K.: Clarendon Press, 1993), 59.
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Kuchen. Es gibt immer genug davon, und die Größe ist unabhängig von der Zahl der beteiligten Personen"6. Ganze Berufsgruppen können Verantwortung tragen oder sie nicht tragen. Positive und negative Beispiele gibt es in Fülle. Man kann sich fragen, ob die American Medical Association verantwortlich handelte, als sie 1994 unter dem Druck der Gay and Lesbian Medical Association ihre bisherige Position preisgab und für eine wertfreie Sicht der sexuellen Orientierung bei den Ärzten eintrat. Dieselbe Frage stellt sich im Hinblick auf die American Psychiatric Association, die bis 1973 Homosexualität als eine behandelbare Form von Geisteskrankheit betrachtete7. Beispiele für berufliche Verantwortungslosigkeit gibt es viele. Geistliche nutzen Jugendliche sexuell aus, Psychiater die Hilflosigkeit ihrer Patienten, Rechtsanwälte die Unwissenheit ihrer Klienten, Professoren die Einfalt ihrer Studenten. Viele verstoßen nicht nur gegen berufliche Verhaltenskodices, sondern werden auch strafrechtlich schuldig. Vielleicht die schlimmste Mißachtung beruflicher Standards findet man in den Medien. Medienleute bezeichnen sich selbst oft als Angehörige des „vierten Standes". Allgemein gelten sie als eigene Berufsgruppe. Eine 1980 von S. Robert Lichter und Stanley Rothman abgeschlossene Untersuchung berichtet über die moralischen und politischen Ansichten von mehr als 240 Personen, die sie zwar nicht als Kandidaten für Spitzenpositionen, wohl aber als Mitglieder der Medienelite der Vereinigten Staaten beschreiben. Zu den vielen Aspekten, die sie ermittelten, gehört der Tatbestand, daß Medienleute sich bewußt sind, einen enormen Einfluß auszuüben, und daß sie trotzdem meinen, dieser sollte noch weiter reichen. In dieser Denkweise liegt offensichtlich eine Art von Bevormundung. Dieser Einfluß gründet nicht auf Geld oder politische Macht, sondern auf Informationen und Ideen, die die Medien den gesellschaftlichen und politischen Führern und der Öffentlichkeit vermitteln. 8 Es wäre in der Tat naiv zu glauben, daß die Medien keine gesellschaftliche und kulturelle Zielvorstellung haben. Lichter und Rothman stellten in ihrer Studie fest, daß die von ihnen interviewten führenden Journalisten zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen überwiegend „liberale" Ansichten vertreten: „Die Ansichten der Medienelite des Landes sind nicht nur Wünsche und Meinungen derer, die an die Macht wollen, sondern die Stimme einer neuen Führungsschicht, die bereits zu einer wichtigen Kraft in der amerikanischen Gesellschaft geworden ist. Kosmopolitisch von ihrem Ansatz und liberal in ihren Ansichten, sind sie sich ihres öffentlichen Einflusses bewußt, den sie auch zu verteidigen wissen. Der Aufstieg dieser Elite erfolgte kaum unbemerkt. Die einen begrüßen sie als Forum der Öffentlichkeit gegen die Mächtigen - unverzichtbare Verteidiger der Benachteilig6
Vgl. „Shared and Collective Responsibility", Responsibility, Kap. 5, 75-85. American Psychiatric Report, Washington Times, 22. Dezember 1994, S. A9. 8 Public Opinion, Oktober-November 1981, S. 60.
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ten und Unterdrückten. Die anderen bezichtigen sie einer Gegenkultur, die sich an den traditionellen Werten vorbeimogelt." 9 Es gibt wenige Seiten des Lebens, mit denen sich die Medien nicht befassen. Man sollte glauben, daß diese Mächtigen um ihre Verantwortung wissen, wahrheitsgetreu in Wort und Bild zu sein und Untugenden zu meiden wie z. B. Verdrehungen, Rufmord und eine Propaganda, die die hergebrachten Verhaltensweisen verändern will. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Nach dem Urteil jener, die berufsmäßig die Medien betrachten, finden sich dort selten Gewissenhaftigkeit im Umgang mit der Wahrheit, die Bereitschaft, Fehler einzugestehen oder ein Gespür für mögliche Folgen. Vierzehn Jahre nach der ersten Untersuchung erstellten Lichter und Rothman, nunmehr unter Mitarbeit der Ehefrau von Lichter, eine weitere Studie über die Medien, wobei sie sich ausschließlich auf das amerikanische Fernsehen konzentrierten. Während die Studie von 1980 keine Bewertung vorgenommen hatte, hält die Untersuchung von 1994 mit moralischen Urteilen nicht zurück. Sie gelangen zu dem Ergebnis, das Fernsehen sei völlig aus dem moralischen Gleichgewicht geraten, das früher einmal vorhanden gewesen sein mag. Sie begründen ihr Urteil mit Hinweis auf die exzessive Darstellung von Gewalt, auf die fehlende Mißbilligung oder Hinterfragung von vor- oder außerehelichem Geschlechtsverkehr sowie auf die Verurteilung jedweder Kritik an Homosexualität.10 Aus den Fernsehsendungen verschwunden sind Darstellungen über den heroischen Einsatz eines Arztes, Lehrers oder Priesters, die mehr als ihre Pflicht taten. Berufliche Verantwortung wird durchweg als langweilige Sache angeboten. Zwei kleinere Beispiele können zeigen, was ich unter beruflicher Verantwortung verstehe. „Deaccessioning" ist der von Kunstmuseen benutzte Begriff, wenn sie ein Stück verkaufen, um ihr Stiftungskapital zu erhöhen, oft auch, um einen bestimmten neuen Kauf zu tätigen oder auch die laufenden Kosten zu decken. In Kunstkreisen scheint man über diese Praxis nicht glücklich zu sein, weil damit oft gegen die Absicht eines lange verstorbenen Stifters verstoßen wird. In Ausübung ihrer beruflichen Verantwortung haben die American Association of Museums und die American Association for State and Local History ausdrücklich diese Praxis verurteilt, obwohl beide Vereinigungen anerkennen, daß es legitime Gründe für ein solches Verfahren geben kann. Ein weiteres Beispiel. Es gehört zum Beruf des Arztes, beim Verschreiben von Medikamenten auf die langfristigen Wirkungen, Nebenwirkungen sowie die Verträglichkeit mit anderen Medikamenten zu achten. Computer-Programme signalisieren Gefahr. Für den viel beschäftigten Arzt kann es zu einem Mechanismus werden, der Sicherheit verspricht. Der Zyniker wird sagen, daß das System zur Ver9 S. R. Lichter, L. Lichter und S. Rothman, Prime Time: How TV. Portrays American Culture (Washington, D.C.: Regnery, 1994). 10 Ebd.
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meidung von Rechtsstreitigkeiten eingeführt wurde; es dürfte sich jedoch eher um eine Form der Verantwortung von Hersteller, Arzt und Apotheker handeln, die gemeinsam an guten Ergebnissen interessiert sind.
IV. Der Physiker Erwin Schrödinger schrieb einmal seinem Kollegen Hans Reichenbach: „Denn schließlich muß man sich darüber klar sein, daß alle Spezialkenntnis überhaupt nur im großen Zusammenhang des Weltbildes Bedeutung und Interesse hat." 11 Was für die Physik gilt, kann auch von anderen Berufen gesagt werden. Das Fachwissen, die beruflichen Ziele und die Verantwortung in einem Beruf sind eine Sache; aber der Beruf steht in einem größeren gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Der Beruf existiert sicherlich nicht, um dem, der ihn ausübt, zu einem höheren Ansehen zu verhelfen - obwohl dies auch der Fall sein kann - , sondern um einer Gemeinschaft oder der Gesamtgesellschaft zu dienen. Seine Standards liegen in dem Bereich, der von der Gesellschaft als gut anerkannt wird, d. h. im Rahmen der gemeinschaftlich verfolgten Ziele. Das erinnert an Piatos Bemerkung: „Was in einer Gemeinschaft Ansehen hat, wird dort auch gepflegt." Jeder Beruf kann korrumpiert werden, wenn überzogene, womöglich idealistische Ziele für die Mitglieder aufgestellt werden. Kann auch ein Staat oder ein Regime korrumpiert werden? Die Antwort dürfte „ja" lauten. Man kann an Deutschland unter Hitler, an die Sowjetunion unter Stalin und an Kuba unter Castro denken. Bei diesen Regimen finden sich zahlreiche Beispiele, wo das Berufliche den politischen Zielen untergeordnet wurde. Auf dem Gebiet der Philosophie ist es die berüchtigte Kapitulation Heideggers vor dem Naziregime. Auf allen Seiten des Konfliktes, den wir als Zweiten Weltkrieg kennen, gab es Chemiker, Physiker und Ingenieure, die den Bedürfnissen der Kriegsmaschinerie gemäß handelten. Diese Reaktion spiegelte in einigen Fällen zweifellos Eigeninteresse wider, aber man kann wohl davon ausgehen, daß sie zum größten Teil patriotisch motiviert war. Das führt mich zu einem letzten Punkt. Der Angehörige eines Berufes muß sich an der Moral orientieren. Wie jeder andere kann er der sokratischen Suche nach der Weisheit nicht entrinnen: sich zu erkennen in bezug auf sich selbst, auf die Natur, auf andere und auf Gott. Verantwortung im Beruf umfaßt nicht nur die Beherrschung der Technik, sondern Aufmerksamkeit für das, was Russell Kirk das Bleibende nannte. Die bleibenden Dinge sind der innere Antrieb unserer Bemühungen. Indem sie auf das, was das Zeitliche transzendiert, verweisen, werden sie häufig zum Wegweiser für gemeinsame und persönliche Erfüllung.
u Erwin Schrödinger, Brief vom 25. Oktober 1926, Archiv der University of Pittsburgh. Zitiert mit Genehmigung der University of Pittsburgh; alle Rechte vorbehalten.
Kollektive Verantwortung? Zwei Fragen möchte ich im Folgenden aufgreifen. Zunächst möchte ich die philosophische Stimmung skizzieren, die in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung der Rechtsordnung beeinflußt hat. Sodann möchte ich mich der Idee der „Kollektivschuld" zuwenden, die zu jenen Wortprägungen gehört, die zuerst in der philosophischen Denkwelt entstanden sind, bevor sie sich auf das Recht auswirkten. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Begriff der Kollektivschuld, insofern er im Unternehmensrecht eine Rolle spielt.
I. Wenn, wie allgemein anerkannt wird, die Gesetze einer Gesellschaft auf einer besonderen kulturellen Prägung beruhen und diese zusammenbricht, dann ist es auch um die Gesetze geschehen.1 Ronald Dworkin stellt in seinem Werk Law's Empire die gegenteilige These auf, daß in einer pluralistischen Gesellschaft nur das Gesetz die einheitliche Grundlage abgeben kann, die für die soziale Ordnung erforderlich ist. 2 Für Dworkin erhält das Gesetz seine moralische Kraft gerade daraus, daß es diese Einheit stiftende Funktion erfüllt. Er weiß, daß die westliche Gesellschaft ideologisch gespalten ist mit der Folge, daß ihre Gesetze nicht länger aus einer gemeinsamen Sicht kommen. Das Gesetz kommt zustande aus einem Geflecht von Kompromissen zwischen den Interessengruppen, und deshalb bietet es nur jene Ordnungselemente an, auf die man sich geeinigt hat und die für eine konzertierte Aktion tauglich sind. Die Frage bleibt freilich offen, ob das auf diese Weise zustande gekommene Gesetz entweder dem Gemeinwohl verpflichtet ist oder den edelsten menschlichen Zielen dient. In seinem Buch Whose Justice, Which Rationality? weist Alasdair Maclntyre darauf hin, daß die Theorien der Gerechtigkeit und der praktischen Vernunft nur verschiedene Aspekte sind, die zu einer viel breiteren geistigen Tradition gehören.3 Er spricht von der Illusion der Autonomie des philosophischen Denkens. „Philosophische Theorien", meint er, „bieten Begriffe und Ansätze, die bereits in der Praxis und in verschiedenen Typen von Gemeinschaft vorkommen. Auf diese Wei1 Lord Patrick Devlin, The Enforcement of Morals (London: Oxford University Press, 1965). 2 Ronald Dworkin, Law's Empire (London: Fontana, 1986). 3 Alasdair Maclntyre, Whose Justice, Which Rationality? (Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press, 1988).
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se ermöglichen sie die rationale Kritik und die weitere rationale Entwicklung jener in der sozialen Wirklichkeit gewachsenen Theorien und Begriffe, deren Verständnis sie dienten."4 Man kann sich, sagt Maclntyre, auf Aristoteles oder auf Hume berufen, aber nicht auf beide zugleich. Des weiteren kann man nicht ohne eine angemessene gesellschaftliche Organisation oder ohne eine entsprechende städtische Struktur sein. Die Bedingungen für ein Vorgehen im Sinne der aristotelischen Gerechtigkeit unterscheiden sich von jenen der Humeschen Gerechtigkeit. Auch wenn diese Gesichtspunkte in öffentlichen Debatten kaum eine Rolle spielen, so kommen sie gelegentlich doch im Obersten Gericht der Vereinigten Staaten und im Justizausschuß des Senats zur Sprache. Hauptsächlich in Eingaben, die dem Gericht zugehen, werden Ideen, die fundamentale Lebensvollzüge berühren und die Kultur der Nation und die Herrschaftsformen betreffen, angefochten. Niemand leugnet, daß das Richterrecht eine Macht geworden ist, die auf die nationale Kultur einwirkt - vielleicht mehr als die Beschlüsse der gesetzgebenden Körperschaften, sei es auf der nationalen, sei es auf der einzelstaatlichen Ebene. Sogenannte Interessengruppen finden es selbstverständlich, daß sie ihre Ziele eher auf dem Weg über die Gerichte denn auf dem Weg über die gesetzgebenden Körperschaften durchsetzen können. Ein Prozeß wird mit Absicht angestrengt. Geschäftspraktiken gehören zum Repertoire von Aktivisten, die gleichgesinnte Richter suchen. Die Richter neigen dazu, die intellektuellen Trends an den Hochschulen zu reflektieren, von denen auch die Gruppeninteressen und ihre Umsetzung in die Praxis inspiriert sind. In den letzten Jahrzehnten kam der Moralismus zumeist von links; er zielte auf die Veränderung bestehender Verhaltensweisen ab. Während die Gesetzgebung auf ein Ergebnis wechselseitiger Übereinstimmung abstellt, reflektiert das Richterrecht oft ausgesprochen utopische Ideen, wie sie an den Hochschulen vertreten werden. Es sind soziale Theorien, von Intellektuellen erdacht, die vom Leben und von der Arbeitswelt unberührt sind, die aber in ihrer Klarheit bestechen und mit Leichtigkeit von einer aktivistischen Richterschaft in ein Gesetz umgemünzt werden können. Zum Verständnis der Entwicklungen an den heutigen Gerichten muß man die gängigen Rechtstheorien untersuchen und sie, wie Maclntyre dies macht, in einen größeren kulturellen Rahmen - oder sollte ich sagen, in ihren philosophischen Kontext - stellen. Maclntyre ist nicht der einzige, der zu dem Schluß kommt, daß das Recht, ob es nun durch die Legislative oder durch Gerichtsbeschluß zustande gekommen ist, nur ein Ausschnitt aus jenem Ganzen ist, das „geistige Tradition" genannt wird. Peter W. Huber stellt bei der Diskussion der im Wandel befindlichen Vorstellungen über „Haftung" ähnliche Überlegungen an. Er spricht von einer konzertierten Aktion einer Handvoll von Rechtsgelehrten, die aus philosophischen Gründen „das Schadensersatzrecht aushebeln wollen" 5 . Ted Honderich legt überzeugend die 4 Ebd. 390. 5 Peter W. Huber, Liability: The Legal Revolution and Its Consequences (New York: Basic Books, 1988).
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rechtlichen Implikationen von Theorien des psychischen Determinismus dar und ihre Tendenz, eher liberale als konservative Politikelemente in die soziale Ordnung einzufügen. 6 Zwei andere Werke, die Philosophen wie Juristen interessieren dürften, sind von Peter A. French und Larry May geschrieben.7 French schreibt über kollektive und korporative Verantwortung. Er entwickelt ein rationales Schema, um Unternehmen sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich zu belangen. May legt dar, daß viele soziale Gruppen, die keine ausgeprägten organisatorischen Strukturen haben, eine kollektive Verantwortung für gemeinsame Handlungen ihrer Mitglieder tragen; er argumentiert in ähnlicher Weise, daß soziale Gruppen geschädigt werden können, auch wenn einzelne Mitglieder die Schädigung gar nicht wahrnehmen. „In nicht organisierten Gruppen", schreibt May, „wird das Handeln und die Durchsetzung von Interessen durch Solidarität und andere interne Beziehungen auch dann ermöglicht, wenn keine Entscheidungsstruktur in der Gruppe gegeben ist." 8 Dies sind nur einige wenige unter den vielen philosophischen Werken, die bewußt versuchen, das gemeinsame Rechtsdenken und die Ziele der Gesetzgebung zu verändern. Bei einem Überblick über die neueren Rechtstheorien kann man leicht den Eindruck gewinnen, daß die Diskussion oft nicht unparteiisch in professioneller Art erfolgt, sondern die Darlegung der Theorie und plausibler Erklärungen einer regelrechten Parteilichkeit gewichen ist. Die Literatur bleibt nicht ohne Wirkung. Die amerikanischen Unternehmen sind zunehmend die Opfer der neuen Art und Weise, wie eifernde Staatsanwälte vorgehen und versuchen, philosophische Diskussionen irgendwie mit Bundesgesetzen zu verknüpfen, um die zivilen Regelungen in strafrechtliche Gesetze umzuformen. Auch ungezählte staatliche und lokale Regelungen wurden kriminalisiert. Indem sie Unternehmen für Regelverstöße verantwortlich halten, verlangen viele Staatsanwälte nicht mehr die Evidenz einer böswilligen Absicht, die bisher Bedingung für ein strafrechtliches Vorgehen ist. Ob Zweifel bestehen oder nicht, der Begriff der „corporate criminal liability" (korporative strafrechtliche Haftung) macht den Weg frei, um einem unvernünftigen Staatsanwalt Macht zum Mißbrauch an die Hand zu geben. Wenn ein Unternehmen sogar für eine irrtümliche Entscheidung, die im guten Glauben begangen wird, der Bestrafung ausgesetzt ist, dann wird das bisherige Gewohnheitsrecht in wichtigen Teilen verlassen. Vor diesem Hintergrund möchte ich die philosophische Herkunft bestimmter Ideen prüfen, insbesondere des Begriffs der Kollektivschuld, die sich in die Rechtstheorie eingeschlichen haben mit Folgen für das Privatrecht. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Es sei daran erinnert, daß die Ablehnung des traditionellen 6 T. Honderich, A Theory of Determinism: The Mind, Neuroscience, and Life Hopes (Oxford, U.K.: Clarendon Press, 1988). 7 Peter A. French, Collective and Corporate Responsibility (1984); Larry May, The Morality of Groups: Collective Responsibility, Group-Based Harm, and Corporate Rights (1987). 8 May, Morality of Groups, 180.
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Verständnisses dessen, was es bedeutet, eine Person zu sein, in der Philosophie schon stattgefunden hatte, ehe der Fall Roe ν. Wade verhandelt wurde. In ähnlicher Weise war die Begründung für die Todesstrafe in den Sozialwissenschaften bereits ausgehöhlt, ehe der Supreme Court die Gesetze der Einzelstaaten, die ihre Anwendung bislang erlaubt hatten, für ungültig erklärte. Wenn die Vergeltung aus philosophischen Gründen nicht mehr plausibel erscheint und die abschreckende Wirkung der Strafe von der Sozialwissenschaft in Zweifel gezogen wird, dann wird es schwierig, die Todesstrafe zu verteidigen. Folglich wird sie selten angewandt, auch wenn neue Verordnungen ihre Gesetzmäßigkeit vorsehen. Es ist merkwürdig: Während man im Strafrecht von der Vergeltung abrückt, ist Peter French darauf bedacht, sie ins Privatrecht hineinzuschreiben, und zwar vor allem dann, wenn es um die Bestrafung von Unternehmen geht. Das Schadensersatzrecht ist ein weiterer Bereich, bei dem die veränderte Großwetterlage die bestehenden Gesetze ausgehöhlt hat. Die traditionelle Sicht der Haftung hängt von der Akzeptanz des Kausalitätsprinzips und des freien Willens ab. Mit dem Aufkommen verschiedener psychologischer und soziologischer Determinismen hat sich das Schadensersatzrecht dramatisch verändert. Früher war das Gesetz weitgehend klar: Wenn jemand kausal verantwortlich war, dann war er haftbar. Heute verlangt man für jeden Schaden eine Wiedergutmachung; und wenn der Täter dazu nicht in der Lage ist, dann soll diese Last auf die Gemeinschaft übertragen werden. Begriffe wie „Verantwortung", „Verursachung", „Absicht" haben offenkundig nicht mehr dieselbe Bedeutung, die sie einmal hatten. Soziale Belange erscheinen übergeordnet und überlagern die legitime Zurechenbarkeit oder die Schuld. Der frühere Ausgangspunkt des Schadensersatzrechtes: „Der Schaden ist dort zu suchen, wo er verursacht wird", wurde ersetzt durch die Formel: „Der Schaden liegt bei der Gemeinschaft". Ein anderes Beispiel für eine veränderte Denkrichtung, die das Oberste Gericht beeinflußt, findet sich, wenn man die Meinungen des Gerichts Revue passieren läßt, wie es in den vergangenen vierzig Jahren bei der Interpretation der religiösen Klauseln des First Amendment verfahren ist. In dem Maße, wie die akademische Welt zunehmend säkular geworden ist und die Bindungen an die christliche Vergangenheit aufgegeben wurden, hat das Gericht das First Amendment, das zum Schutze der Religion gedacht war, ins Gegenteil verkehrt, als ob es ihren Einfluß zu beschränken gelte. Dabei darf man nicht übersehen, daß viele Änderungen das Ergebnis eines politischen Aktivismus von Gruppen ist, die erfolgreich Lobby-Arbeit vor Gericht getan haben; aber Aktivismus allein war es nicht. Ehe eine rechtliche Änderung durchkommt, muß der geistige Boden dafür bereitet sein. Es ist sicherlich leichter, das Denken derjenigen zu ändern, die mit der Interpretation von Gesetzen befaßt sind, als das Denken jener, die für die Erlassung von Gesetzen verantwortlich sind. Die Spaltung zwischen den Intellektuellen und dem Volk im Hinblick auf grundsätzliche soziale Fragen ist allbekannt. So kann eine Handvoll von Sozialwissenschaftlern, indem sie in ausgewählten juristischen Zeitschriften mehr oder weniger 8 Dougherty
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denselben Artikel - mit Statistiken angepaßt an die örtlichen Verhältnisse - plazieren, den Eindruck erwecken, wie nutzlos die Todesstrafe als Abschreckung sei. Es ist ihnen gelungen, über wohlgesonnene gerichtliche Instanzen das Oberste Gericht zu veranlassen, die meisten Gesetze der Einzelstaaten zu kassieren. Man sieht sich zu dem Urteil gezwungen, daß in der Englisch sprechenden Welt seit den 1960er Jahren eine konzertierte Aktion im Gange ist, die über die Änderung von Gesetzen die sozialen Strukturen verändern will. Das neue Recht ist das Produkt einer „neuen" Sichtweise. Ich sage mit Bedacht „neu", weil das Neue nicht viel anders ist als die Denkweise der Aufklärung. Maclntyre beruft sich auf Aristoteles und David Hume, um den Unterschied zwischen alt und neu zu markieren.
II. Während viele dieser philosophischen Überlegungen die Aufmerksamkeit beanspruchen, wende ich mich jetzt dem Hauptthema dieser Untersuchung zu, nämlich dem Begriff der „Kollektivschuld". Überraschenderweise wird diese Frage nicht in Schriften aufgegriffen, wo man dies vermutet hätte. Völker, Generationen, Klassen, Rassen, Industrien, geographische Regionen, Berufszweige und Religionsgemeinschaften werden für verantwortlich gehalten, und zwar nicht in gemutmaßter „öffentlicher Meinung", sondern vor Gericht. Vom Schadensersatzrecht bis hin zu einer bestimmten politischen Aktion wird die Schuld oft Gruppen zugewiesen, manchmal Gruppen, die gar nicht mehr existieren, manchmal gar nur begrifflichen Konstrukten. Zur Wiedergutmachung werden nicht selten Gruppen oder ihre Erben herangezogen, ohne daß ihre Verantwortlichkeit für den Schaden festgestellt worden ist. Beklagte Unternehmen wurden zur Entschädigung verpflichtet, obwohl nachgewiesen wurde, daß sie den Schaden gar nicht verursachen konnten. Erinnert sei an den folgenden Fall: Seit den 1940er Jahren bis 1971 nahmen annähernd zwei Millionen Frauen das synthetische Hormon Diethylstilbestrol (DES), um Fehlgeburten und die Morgen-Übelkeit während der Schwangerschaft zu vermeiden. Das Mittel war von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) genehmigt und wurde von etwa dreihundert pharmazeutischen Unternehmen auf den Markt gebracht, oft als Generika. Im Jahre 1970 fanden Wissenschaftler heraus, das Mittel wirke krebserregend und andere Probleme würden bei den Töchtern der Frauen, die es einnahmen, hervorgerufen. Das FDA verhing 1971 ein Verbot. Die Fälle gelangten schnell vor Gericht. Viele Mütter, die DES eingenommen hatten, konnten sich nicht erinnern, welches Fabrikat sie gekauft hatten. Die Gerichte in verschiedenen Staaten gingen davon aus, daß alle DES-Pillen im Kern gleich waren und ließen die Marktlage testen, so daß die Schäden den Pillen-Produzenten im Verhältnis zu ihrem Marktanteil zugewiesen werden konnten. Im Fall Hymowitz v. Lilly ging das höchste Gericht im Staat New York einen Schritt weiter. Es wandte das Konzept einer Marktanteil-Verantwortung auf einen Produzenten
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an, der den Nachweis erbringen konnte, daß die klagende Mutter die Pille gar nicht genommen hatte.9 Die Fragen, die sich stellen, sind diese: Kann es eine kollektive Mitschuld und deshalb eine kollektive Haftung geben ohne persönliche Schuld beziehungsweise ohne Schuld des Unternehmens? Kann ein Unternehmen haftbar gemacht werden auch dann, wo nicht nachgewiesen ist, daß es oder irgend jemand von den Risiken wußte, die mit dem Produkt gegeben sind? Allgemeine Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit der Entstehung von Gesetzen sich ergeben, sind fast immer das Nebenprodukt vorausgegangener akademischer Diskussionen. Bevor sich das Konzept des „Marktanteils" allgemein durchsetzte, mußten bestimmte philosophische Diskussionen über Kollektivschuld, kollektive Verantwortlichkeit und Bestrafung erfolgt sein. Es würde zu weit führen, die Geschichte all dieser Konzepte zu erforschen; es braucht jedoch wenig Mühe, um zu zeigen, daß der Begriff der Kollektivschuld eine lange Vergangenheit hat. Diskussionen hierüber können in der klassischen und mittelalterlichen ebenso wie in der gegenwärtigen Literatur gefunden werden. Die Menschen der Antike erkannten nicht weniger wie wir heutzutage, daß Gesellschaften aus gemeinsamen Überzeugungen und Traditionen hervorgehen, die dann von den Individuen unbewußt weitergegeben werden. Emile Dürkheim, der Geschichte studierte und im ausgehenden 19. Jahrhundert ein einflußreicher Sozialtheoretiker war, dachte, daß Traditionen in Gruppen existieren können, auch wenn nicht jeder Einzelne darüber Bescheid weiß. In seinem Werk „Les règles de la méthode sociologique" (1895) weist er den sozialen Traditionen und den sozialen Beziehungen sogar einen ontologischen Status zu, unabhängig von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe. 10 In einem berühmt gewordenen Artikel, der kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges geschrieben wurde, versuchte Karl Jaspers, sich mit der Schuld des deutschen Volkes auseinanderzusetzen.11 Die furchtbaren Verbrechen in den Konzentrationslagern waren inzwischen allgemein bekannt. Was man vermutet hatte, konnte jetzt dokumentiert werden. Jaspers stellte die Frage nach der Schuld im Kontext der Wiedergutmachungs-Forderungen. Bis zu welcher Grenze war das deutsche Volk als Ganzes schuldig, und bis zu welcher Grenze konnte man Sühne erwarten? Die Frage, die Jaspers stellte, war nicht diejenige nach der Verantwortlichkeit des deutschen Staates. Niemand bezweifelte die nationale Verantwortung oder die Notwendigkeit von „Reparationen". Jaspers' Frage ging viel tiefer. Auch wenn sein Vortrag den Titel „Moralische Schuld" trug, so war sich Jaspers bewußt, 9 Hymowitz v. Lilly and Co., 73 N.Y. 2 n d 487, 539 N.E. 2 n d 1069, 541 N.Y.S. 2 n d 1941 (1989). 10 Emile Dürkheim, The Rules of Sociological Method, übers, von S. Solovay und J. Mueller, ed. George E. G. Catlin (New York: Free Press, 1964), 7. 11 „Moral Guilt", reprinted in Crimes of War, ed. R. A. Falk, G. Kolko, and R. J. Lifton (New York: Vintage Books, 1971), 476 ff. 8*
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daß die große Mehrheit des deutschen Volkes moralisch nicht verantwortlich war für die Grausamkeiten, die im Dritten Reich begangen wurden. Wenn aber die große Mehrheit des deutschen Volkes weder rechtlich noch moralisch schuldig war, konnte dann das deutsche Volk noch verantwortlich sein? In dem Bemühen, die Dinge zu ordnen, sprach Jaspers von Kollektivschuld auf seelischem Grund. In dem Maße, als das deutsche Volk eine gemeinsame Sprache und Kultur hatte, und in dem Maße ihm eine gemeinsame Literatur, eine gemeinsame Musik und eigene Verhaltensweisen eigen waren, konnte man von einem Kollektiv sprechen. Aus der Analyse Jaspers' ergibt sich, daß genug Solidarität lebendig war, um eine nationale Seele zu begreifen, die in gewisser Weise verantwortlich war, und zwar so, daß eine Generation Forderungen an die andere stellen konnte. Jaspers erkannte die Schwierigkeit, den Begriff einer seelischen Schuld zu verteidigen abseits von der rechtlichen oder moralischen Schuld. Mit dem Aquinaten konnte er daran festhalten, daß „niemand eine Ungerechtigkeit tun kann, wenn nicht willentlich" 12 . Auch wenn er es nicht tat, so hätte er sich auch in anderer Hinsicht auf den Aquinaten berufen können, wenigstens um eine gewisse Unterstützung für seine Betrachtungsweise zu erhalten. Die Auffassung des hl. Thomas über die Frage der Kollektivschuld mag den modernen Leser überraschen. Er schreibt: „Wenn alle sündigen, müssen sie bestraft werden". Er spricht sogar von der Tugend der Vergeltung. Die moralische Tugend der Tapferkeit bewegt einen dazu. Von den beiden Lastern, die der Vergeltung im Wege stehen, ist dies auf der einen Seite die Grausamkeit, auf der anderen Seite die Nachgiebigkeit.13 Strenge Vergeltung sollte die Rädelsführer treffen, wenn sie ermittelt werden können. „Manchmal werden sogar die Guten in zeitlichen Dingen bestraft zusammen mit den Übeltätern, weil sie deren Sünden nicht vereitelt haben." 14 Allerdings fügt der hl. Thomas hinzu: „Ein Mensch sollte niemals verurteilt werden zur Todesstrafe, zur Verstümmelung oder zur Prügelstrafe, wenn er sich nichts zuschulden kommen ließ; er kann jedoch zu einer Geldbuße verurteilt werden, auch wenn er keinen Fehler gemacht hat - jedoch nicht ohne Grund." Zum Beispiel im Falle des Hochverrats, wenn ein Sohn durch die Sünde seiner Eltern sein Erbe verliert. 15 Der hl. Thomas schreibt auch: „Es ist ein Naturgesetz, daß man das Böse, das man getan hat, bereuen soll, indem es einem leid tut und indem man es auf irgendeine Weise gutzumachen sucht und Zeichen der Betrübnis zeigt." 16 Die Liebe verlangt beides, daß das Unrecht einem leid tut und man zugleich um Wiedergutmachung bemüht ist. „Zur Besserung im Fall eines Unrechts, das gegen jemand begangen wurde, genügt es nicht, damit Schluß zu machen, viel12 Summa Theologiae, Übersetzung: Fathers of the English Dominican Province (New York: Benzinger Brothers, 1947), I I - I I , q. 59, a. 3. 13 Ebd. q. 108, a. I,ad5. 14 Ebd. q. 108, a. 4. 15 Ebd. q. 108, a. 4, ad 2. 16 Ebd. III, q. 84, a. 7, ad 1.
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mehr ist irgendeine Kompensation notwendig." 17 Jaspers tendiert zu derselben Lösung. Während Jaspers das Wort „Liebe" in seiner Analyse der deutschen Schuld und Wiedergutmachung nicht gebraucht, gelangt er in seiner Analyse zu einem ähnlichen Ergebnis. Thomas erinnert an vielen Stellen an das Prinzip der Liebe, wo moderne Autoren sich auf das „Recht" berufen. Für die folgende Diskussion ist es wichtig, eine Reihe von Unterscheidungen und Annahmen offenzulegen. Niemand bestreitet, daß Schuld Verantwortung impliziert. Verantwortung wiederum setzt die Freiheit zu handeln oder nicht zu handeln voraus. Wenn man von Freiheit spricht, muß man unterscheiden: 1. Zwischen Freiheit im moralischen Sinn und Freiheit unter dem Gesetz; 2. die rechtliche und die moralische Dimension von Schuld. Man kann vor dem bürgerlichen Gesetz zur Verantwortung gezogen werden, ohne moralisch dafür verantwortlich zu sein. Das bürgerliche Gesetz anerkennt selbst diese Tatsache, wenn es die Motivation und mildernde Umstände in Betracht zieht und bisweilen deshalb eine Schuldminderung zuläßt. Der Zusammenhang zwischen dem moralischen und dem zivilen Bereich ist so eng, daß in der Praxis der Unterschied oft verwischt oder gar verkannt wird. Nicht selten wird versucht, eine moralische Entrüstung unmittelbar in ein Gesetz einzubringen. Appelle an den Gesetzgeber berufen sich gerne auf Gefahren für die Gesundheit oder Schäden für die Umwelt, oder man bezieht sich auf andere Bereiche oder soziale Benachteiligungen, wenn nicht etwas geschieht; dennoch handelt es sich um Appelle an die moralische Ordnung. Eine andere Einsicht, die man nicht außer acht lassen darf, bezieht sich darauf, daß das Handeln dem Urteil folgt, dieses aber notwendigerweise im kulturellen Kontext erfolgt. Wie man eine Handlungsweise bewertet, hängt zum Teil von der eigenen Erziehung ab, nämlich von den Unterscheidungen, die man zu machen gelernt hat, und von den Grundsätzen, auf die man sich zu berufen pflegt. Bestimmte Handlungsweisen, die im Westen hingenommen werden, sind im Osten undenkbar und umgekehrt. In westlichen Ländern mögen manche in der Käuflichkeit von Pornographie oder in der Ehescheidung oder Abtreibung nichts Schlimmes erkennen. Dies gilt jedoch nicht für eine islamische Gesellschaft. Es wäre bedenklich, jenen eine moralische Schuld zuzumessen, die nach ihrem Gewissen handeln, auch wenn das Gewissen, was den überzeitlichen Moral-Kodex betrifft, nicht geschärft ist; aber das bedeutet nicht, daß jemand für seine Überzeugungen überhaupt nicht verantwortlich wäre. Jeder ohne Ausnahme ist verpflichtet, sein Gewissen zu formen. Auch der Grundsatz, daß nicht alle Gesetze im Gewissen binden, ist anerkannt. Eine gute bürgerliche Ordnung wird darauf bedacht sein, die moralische Ordnung einsichtig zu machen oder auszuprägen. Baurichtlinien zum Beispiel, Verkehrsvorschriften und Regeln, die die Sicherheiten im Wertpapierhandel betreffen, sind in gewisser Weise moralische Gebote, bevor sie Vorschriften werden. Ein Gesetz, das gemeinsame Empfindungen über Richtig und Falsch nicht beachtet, wird nicht als 17 Ebd. q. 85, a. 3.
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moralisch angesehen. Die Unterscheidung zwischen bürgerlichem und moralischem Gesetz ist, auch wenn sie gelegentlich von intellektuellen Kreisen in Frage gestellt wird, allgemein anerkannt. Aber diese Unterscheidung beweist noch nichts. Ein Unternehmen, das sich völlig im Rahmen des Gesetzes bewegt, kann dennoch gegen die Moral verstoßen. Der Verkauf von pornographischen Erzeugnissen, Werbemethoden, die die Wahrheit manipulieren, oder eine verzerrende Darstellung in den Medien zugunsten einer Partei sind dafür Beispiele. Man kann sagen, daß die Herstellung minderwertiger Ware, die einen Markenartikel vortäuscht und dem wenig Gebildeten oder Nichtsahnenden verkauft wird, gegen die Moral verstößt. Einige würden die moralische Schuld auf diejenigen ausdehnen, die Tabakprodukte oder Alkohol herstellen oder Pelzmäntel aus Tierfellen machen. Niemand würde zögern, einem Unternehmen eine moralische Schuld zuzuweisen, das wissentlich ein fehlerhaftes und womöglich gefährliches Produkt herstellt und zwar unabhängig davon, ob dieses Handeln strafbar ist oder nicht. Aber auch für den Fall, daß eine Unmoral auf Seiten des Unternehmens vorliegt, stellen sich folgende Fragen: Wo liegt die moralische Schuld? Sind alle, die mit dem Unternehmen verbunden sind, gemeinsam schuldig? Wenn nicht, wie weit reicht die Verantwortung nach unten in der Unternehmenshierarchie? Bis zum Arbeiter am Fließband? Bis zum Großhandel? Bis zum Einzelhandel? Bis zum Aktionär? Wenn Schuld dem Wissen folgt, dann könnte es sein, daß nur wenige in einem Laboratorium oder in einer Führungsetage eingeweiht sind, ob ein bestimmtes Produkt Probleme bereiten oder ob dieses Risiko durch einen zusätzlichen Kostenaufwand verringert werden könnte. Zwar kann das Unternehmen vor dem Gesetz für Nachlässigkeit zur Rechenschaft gezogen werden; aber es ist schwer, sich vorzustellen, daß ein einfacher Arbeiter in der Fabrik oder in der Verkaufsabteilung darüber etwas weiß, so daß man von krimineller Komplizenschaft sprechen könnte - es sei denn, das Unternehmen besäße bereits einen zweifelhaften Ruf. Natürlich gibt es Ausnahmen. Wir alle kennen Geschichten von Spaßvögeln, die Fragwürdiges ans Licht brachten, wofür das Management bisweilen sogar dankbar ist. Wenn die Schuld eines Unternehmens festgestellt wird, ist es unwahrscheinlich, daß die gesamte Belegschaft dafür zur Verantwortung gezogen würde - weder durch eine verärgerte Gruppe von Aktionären noch vor einem Gericht. Wenn ein einzelner gegen die Unternehmenspolitik verstoßen hat und schuldig geworden ist, macht es wenig Sinn, das Unternehmen dafür verantwortlich zu machen und kollektiv Strafen zu verhängen, die auch unschuldige Teilhaber träfen. Die Bereitwilligkeit, den Begriff der „Kollektivschuld" zu akzeptieren, resultiert ohne Zweifel aus einer Reihe von außergewöhnlichen Fällen, in denen Gesellschaften als Ganze verantwortlich erscheinen. Das 20. Jahrhundert bietet zahlreiche Beispiele von Gesellschaften, die, wenn nicht als Ganze, dann wenigstens in ausreichendem Maße eine moralisch verwerfliche Politik verfolgt haben: z. B. Deutschland unter Hitler und die Sowjetunion unter Stalin, zwei Regime, die systematisch die sogenannten Staatsfeinde ausgerottet haben. Man denkt auch an das Apartheid-System in Südafrika, das die Teilhabe am bürgerlichen Leben auf die
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Weißen beschränkte, ebenso an die Versklavung der Schwarzen in den Südstaaten der USA vor dem Kriege und an die Gesetze der Rassentrennung nach dem Kriege. Bis zu welcher Grenze wollen wir das deutsche oder das sowjetische Volk für die Grausamkeiten, die in ihren Nationen begangen wurden, haftbar machen? Kann derjenige, der im 19. Jahrhundert eingewandert ist und als Küfer in seinem Geschäft in Minneapolis arbeitete, für die Sklaverei in Mississippi oder nach dem Krieg für die Rassentrennung in den Südstaaten zur Verantwortung gezogen werden? Die Art und Weise, wie wir über diese Dinge sprechen, ist oft irreführend. Wir sprechen davon, „an der Größe einer Nation teilzuhaben", oder wir „sind stolz, zu einer berühmten Schule zu gehören"; aber wir müssen vorsichtig sein, Abstraktionen nicht zu verselbständigen oder sie zum Träger von Werten zu machen. Wie H. D. Lewis in seinem Artikel „Collective Responsibility" darlegte, sollten Wortschöpfungen, die kurz und bündig etwas ausdrücken, in ihrer metaphorischen und elliptischen Bedeutung und nicht wörtlich genommen werden. 18 Eine Familie oder eine Nation, so möchte ich behaupten, kann nicht Träger von Schuld sein; weder im einen noch im anderen Fall besteht eine hinreichende Einheit oder eine Beteiligung an einer vorsätzlichen Handlung, um eine Verantwortlichkeit zu begründen. Wirtschaftsunternehmen sind verschieden. Es handelt sich nicht einfach um Aggregate von Menschen, vielmehr besitzen sie eine metaphysisch-logische Identität. Otto von Gierke vertrat die Auffassung, daß das Gesetz, wenn es dem Unternehmen den Status einer juristischen Person zubilligt, damit im Grunde nur anerkennt, was an sozialer Struktur schon da ist. Das Unternehmen ist Ergebnis bestimmter sozialer Aktionen und besitzt eine de-facto-Personalität, die das Gesetz zu einem juristischen Tatbestand erklärt. 19 Nach Brian Tierney reicht der Begriff der „corporate personality" auf das mittelalterliche Kirchenrecht und auf die Lehre über die Vertretung zurück. „Im Römischen Recht", schreibt Tierney, „konnte ein einzelner oder eine Gruppe einen Vertreter ernennen, der mit Dritten Geschäfte machte; als Ergebnis eines solchen Vorgangs entstand eine Verbindlichkeit zwischen dem Dritten und dem Vertreter, nicht direkt zwischen dem Dritten und demjenigen, der den Vertreter bevollmächtigte. Das Kirchenrecht sah vor, daß eine Körperschaft, wenn sie einen Vertreter „plena potestas" etablierte, für die Geschäfte des Vertreters verantwortlich war, auch wenn sie diese vorher nicht gebilligt hatte.20 Das alte römische Prinzip: Quod omnes tangit ab omnibus approbatur (Was alle betrifft, muß auch von allen gebilligt werden) wurde durch die Norm ersetzt, die es dem Vertreter erlaubte, im Auftrag des Ganzen zu handeln. Deshalb is H. D. Lewis, „Collective Responsibility", Philosophy 23, no. 84 (1948): 47. Vgl. auch Joel Feinberg, „Collective Responsibility", Journal of Philosophy 65, no. 21 (1968): 674688, Virginia Held, „Can a Random Collection of Inviduals Be Morally Responsible?", Journal of Philosophy 67, no. 14 (1970): 471 -481. ι 9 Political Theory of the Middle Ages, übers, von F. W. Maitland (Cambridge, U.K.: Cambridge University Press, 1900). 20 B. Tierney, Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought (Cambridge, U.K.: Cambridge University Press, 1982), 23.
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bleiben Verpflichtungen, die im Namen einer organisierten Gruppe eingegangen werden, auch dann gültig, wenn sich die Zusammensetzung der Gruppe und ihr „Wille" geändert haben. Wenn eine Gruppe eine Verpflichtung nicht einhält, so muß die Schuld nicht bei einem Einzelnen liegen, die Verantwortung für den Vertragsbruch jedoch fällt auf die Gruppe als Ganze zurück, und die fälligen Belastungen treffen unvermeidlich auch die schuldlosen Mitglieder. Peter A. French vertritt in seiner umfassenden Analyse der Verantwortlichkeit von Unternehmen die Auffassung, daß man ein Unternehmen nur dann als eine moralische Person behandeln kann, wenn man ihm ein Unternehmensziel (corporate intention) zuzuweisen vermag. Hierin liegt ein Unterschied im Vergleich zu den natürlichen Personen, aus denen der Vorstand oder das Spitzenmanagement sich zusammensetzt.21 Unternehmen, wenigstens die größeren, haben eine innere Entscheidungsstruktur, die sich in ihrer Organisation und in den Methoden, wie Unternehmenspolitik formuliert wird, widerspiegelt. In vielen Fällen kann man sogar von einer Unternehmensphilosophie sprechen, von der besondere Impulse ausgehen. Von dem Augenblick an, in dem die Unternehmenspolitik ignoriert oder verletzt wird, ist es nicht länger mehr die Politik des Unternehmens. AußenseiterAktivitäten können nicht der Körperschaft zugerechnet werden. Deshalb ist es möglich zu unterscheiden zwischen der Nachlässigkeit von Einzelnen und der Körperschaft. Wenn Vorstandsmitglieder nach den Regeln des Unternehmens bestimmte Ziele festlegen, dann fällt dadurch eine Entscheidung, die das Unternehmen betrifft. Ein Vorstandsmitglied, das die Unternehmenspolitik ignoriert, womöglich unter Berufung auf Zweckmäßigkeiten, mag moralisch dafür die Verantwortung tragen, wohingegen das Unternehmen vom Vorwurf des moralischen Versagens frei bleibt, auch wenn das Unternehmen unweigerlich zur Rechenschaft gezogen werden kann. Nehmen wir die Ölverschmutzung durch die Exxon Valdez als Fallstudie. Die noch zu beantwortende Frage stellt sich wie folgt: Ist die Verschmutzung des Prince William Sound eine Angelegenheit, die nur den Kapitän und sein Schiff oder die das Unternehmen und seine Politik betrifft? Der damalige Kapitän der Valdez wurde strafrechtlich belangt. Normalerweise - trotz des Anwalts der National Wildlife Federation, der denjenigen, der an der Spitze verantwortlich war, belangen wollte 22 - würde man nicht erwarten, daß die Exxon strafrechtlich und nicht zivilrechtlich zur Rechenschaft gezogen würde. Das Gesetz bietet einen Weg, Unternehmen durch Haftpflicht-Verfahren zu bestrafen. Gewöhnlich sagt man, daß die Verurteilung eines gesetzwidrigen Verhaltens eines Unternehmens dazu dienen kann, eine operationale Politik der Risikobegrenzung einzuführen. Im Fall der Valdez muß noch nachgewiesen werden, daß Exxon als Unternehmen schuldig geworden ist. Die strafrechtliche Verfolgung mag eher politisch bedingt sein als vom Gesetz her gefordert. Der Valdez-Fall und die Folgen illustrieren eine Neigung bei 21 22
French, Collective and Corporate , 39. New York Times, 11. Februar 1990.
Kollektive Verantwortung?
einigen, die Schuldfrage über die Grenzen, die das Gesetz an die Hand gibt, hinaus zu verfolgen. In diese Richtung läuft der Vorschlag, die Küstenwache dafür zur Verantwortung zu ziehen, daß sie das Schiff nicht vor dem Riff gewarnt hat. Der erhobene Zeigefinger ersetzt nicht das Gesetz; Schuldzuweisungen, ohne den Ursachen auf den Grund zu gehen, muß man entgegentreten. Man kann nur schmunzeln, wie überholt die oft zitierte Bemerkung von Baron Thurlaw ist. Der ehemalige Lordkanzler von England ist berühmt geworden für seinen Ausspruch: „Hast du jemals von einem Unternehmen erwartet, ein Gewissen zu haben, wenn es keine Seele hat, um verdammt zu werden, und keinen Leib, um getötet zu werden?" Aber die Zeiten haben sich geändert. Man erwartet von Unternehmen, eine Seele zu haben. Sie können von Richtern zum Tode verurteilt werden. Auch wenn die Verantwortung wesentlich individuell ist, so kann man doch an ihr teilhaben, sowohl moralisch als auch vor dem Gesetz. Bis hin zu dem Punkt, wo jemand gemeinsame Vorstellungen und Ziele einer Gruppe teilt, hat jemand auch teil an der Schuld der Gruppe. Wenn jemand die Lehre der natürlichen Sklaverei unterschreibt und mit den Trennungsgesetzen voll sympathisiert, ist man geistig mit den Gleichgesinnten vereint und kann des moralischen Versagens angeklagt werden. Eine andere Frage ist diejenige nach der Zurechenbarkeit. Hier müssen wir zwischen aktiver und passiver Teilhabe unterscheiden. Aktive Teilhabe beinhaltet volle Verantwortung; passive Teilhabe besagt eine geringere Verantwortung. Es ist möglich, daß jemand einer Gemeinschaft angehört, die durch ihre Führung Unrecht stiftet, ohne daß er selbst in irgendeiner Weise schuldig wird. In einer Demokratie muß man unterscheiden zwischen der Nation, dem Gemeinwesen und dem Staat. Eine Nation entsteht durch gemeinsame Sprache und Kultur und kann die politisch bestehenden Ländergrenzen überschreiten. Ein Gemeinwesen deckt sich mit den geographischen Grenzen, auch wenn das Wahlrecht nicht jedem innerhalb dieser Grenzen zusteht. Der Staat ist die umfassende Gemeinschaft; auch wenn er letztlich seine Autorität vom Volke hat, so bedeutet das nicht, daß er sich ständig nach der Mehrheitsmeinung richten müßte, ist er doch dem Volk als Ganzem verpflichtet. Eine Nation ähnelt mehr einem Aggregat von Menschen; und es gibt Gründe dafür, daß moralische Verantwortung nicht einem Aggregat, einem Kollektiv zugeschrieben werden kann. Ein Aggregat kann tätig werden; aber ohne eine Organisation, die Entscheidungen fällt, fehlt das Bewußtsein für die Aktion und für die moralische Natur dieser Aktion. Auch im Fall der repräsentativen Demokratie gibt es enge Grenzen für den einzelnen, um die Tätigkeit des Staates zu beeinflussen. Man kann sich leicht eine Situation vorstellen, wo abweichende Meinungen oder Proteste zu strengen Bestrafungen führen würden. Die Pflicht, für einen Wechsel in der Politik zu arbeiten, ist von Situation zu Situation verschieden und hängt von der Position ab, die einer im öffentlichen Leben bekleidet. Mentale Vorbehalte sind immer möglich, aber aktiver Widerstand kann lebensgefährlich werden. Es klingt sehr idealistisch, die
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Schuld dem Ganzen zuzuweisen, obwohl eine Situation eintreten könnte, in der Sanktionen unvermeidlich dem Ganzen von außen auferlegt werden - ohne Unterschied für Schuldige und Nichtschuldige. Die Sanktionen, die ein Land einem anderen aufbürdet, hängen von der Schwere des begangenen Unrechts ab. Sie reichen vom Krieg bis hin zu Zöllen und Importquoten. Mit Blick auf die Ontologie von Gruppen: eine Gruppe entsteht durch ein gemeinsames Ziel. Eine Gruppe hat nur ein intentionales Sein. Die Ziele können in verschiedenem Maße bejaht werden. Persönliche Verantwortung ergibt sich aus der inneren Zustimmung zum Ziel und muß nicht deckungsgleich sein mit der gesetzlichen Verantwortung. Während man sich die Mitgliedschaft in einer Nation oder im Gemeinwesen nicht aussuchen kann, hat man eine Wahlmöglichkeit im Hinblick auf kleinere Gemeinschaften und Organisationen. Es ist allgemein anerkannt, daß man sorgfältig sein muß bei der Auswahl der Organisationen, denen man beitritt oder mit denen man seinen Namen verbindet. Wiederum: Verantwortlichkeit ist gebunden an die Absicht. Wenn diese Analyse korrekt ist, dann kann man von Kollektivschuld nur unter bestimmten Bedingungen sprechen; nämlich nur, wenn es einen gemeinsamen Willen, einen gemeinsamen Zweck gibt, der das Ergebnis eines bewußten Prozesses ist, und wenn man diejenigen, die zu dem Kollektiv gehören, aufzählen kann. Es kann verschiedene Grade von Verantwortlichkeit geben, aber diese müssen aufgewiesen werden. Auch lose Verbindungen sind Verbindungen. Sie mögen moralisch und rechtlich ins Gewicht fallen oder auch nicht. Die Umstände wirken auf unser Urteil ein. Das „Kollektiv" muß nicht eine Person im rechtlichen Sinne sein. Ich halte deterministische Vorgehensweisen, seien sie psychologischer oder soziologischer Art, für nicht stimmig, weil sie einerseits die personale Verantwortung zu negieren scheinen, weil sie andererseits auf kollektive Verantwortung setzen. Deterministische Vorgehensweisen verfehlen gewöhnlich das, worauf es im Entscheidungsprozeß ankommt. Entscheidungen stehen immer innerhalb eines Kontextes; ob und wie er sich jedoch auf dieselben auswirkt, hat seine eigene Ursächlichkeit. Dies hängt auch mit unserer Fähigkeit zusammen, sich von einem schlechten Milieu abzusetzen - wenn nicht physisch, dann wenigstens mental. In einem Aufruf zur Solidarität warnte Karol Wojtyla seine Landsleute vor den Gefahren einer seelischen Wanderschaft, die ein Hemmnis für politisches Engagement ist. 23 Seine Mahnung mag als eine Bestätigung dafür gelten, daß man durch Vernachlässigung seiner Pflichten für den Schaden, den ein Kollektiv anrichtet, mitverantwortlich werden kann. Aber seine Analyse deutet auch auf eine fundamentale Freiheit hin. Wir achten darauf, wie Dinge uns präsentiert werden. Wir wollen uns engagieren für Anliegen, indem wir sie ins richtige Licht setzen; das Streben folgt der Erkenntnis.
23
Sollicitudo Rei Socialis, erschienen am 30. Dezember 1987. Origins 17, no. 38 (1988): 656-57.
Kollektive Verantwortung?
Man hat den Eindruck, daß der Begriff „Kollektivschuld" - ähnlich wie der Begriff „rechtens" - vor allem benutzt wird, um Konzessionen oder Reparationen von den für schuldig gehaltenen Gruppen herauszuholen. Dies ist besonders problematisch, wenn einer Generation die Fehler einer anderen angelastet werden und Forderungen gegenüber einer Generation erhoben werden, die noch gar nicht geboren war, als das Unrecht begangen wurde. Natürlich können Forderungen über Generationen hin gestellt werden, wenn die Linien und die Ursachen ermittelt werden können. Wenn ein einzelner erben kann in positivem wie im negativen Sinn, dann kann etwas Ähnliches geschehen bei natürlichen Strukturen wie der Familie, dem Land oder auch bei Unternehmen. In den meisten Fällen freilich ist das Erbe ein Geflecht von beidem. Während ins Auge fallende Fehler nicht vertuscht und großes Mißgeschick nicht weggedeutet werden können, so ist doch das soziale Milieu selten weder schwarz noch weiß. Die Vernunft muß uns leiten bei der Festlegung der Verantwortung und der Zurechenbarkeit. Man kann nicht Teil eines Kollektivs sein ohne Absicht. Wenn von Kollektivschuld die Rede ist, sei es bei dem erwähnten Fall von „Marktanteil" oder bei der Zurechenbarkeit im Falle eines Unternehmens, so erfordert die Klugheit, daß nicht nur die kausalen Zusammenhänge, sondern auch die Motive der Kläger berücksichtigt werden. Das Konzept der „Kollektivschuld" dürfte mehr ein politisches oder ein Hebel für Umverteilung sein denn eine nützliche moralische Einsicht.
Unbezwingbarer Islam Unsere Einstellung zum Islam ist vornehmlich vom christlichen Standpunkt aus bestimmt. Die westliche Kultur ist mit den Quellen der antiken Klassik und des Christentums so eng verknüpft, daß sie aus einer historischen Perspektive untrennbar erscheinen. Romantische Interpretationen des Islam sprechen von seiner wohltuenden Gegenwart im Westen, wobei man die Geschichte der Eroberungen, Unterwerfungen und der Intoleranz übersieht. Von dem Augenblick an, als der Prophet Mohammed zu predigen begann, war der Islam willens, das Schwert einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen; er zwang die eroberten Völker, entweder den Islam anzunehmen oder Strafen auf sich zu nehmen, die von der Besteuerung bis zur Todesstrafe reichten. Die Neigung, im Islam nur eine andere Religion zu sehen, die neben dem Christentum als Teil westlicher Kultur einen gewissen Stellenwert hat, verkennt seinen andersartigen Charakter.
I. Bei der zur Zeit herrschenden politischen Sorglosigkeit gilt es als schick, zwischen den an die westliche Kultur angepaßten „gemäßigten" Muslimen und den „radikalen" oder „extremen" Muslimen zu unterscheiden. Die Unterscheidung mag einiges für sich haben, aber sie täuscht über eine Grundwahrheit hinweg. Alle Muslime sind den Prinzipien verpflichtet, wie sie im Koran genannt sind, Prinzipien, die - wie auch immer interpretiert - sie zu Brüdern für eine gemeinsame Sache und zu einer geistlichen Kraft vereinen. Diese geistliche Kraft ist auf Weltbeherrschung ausgerichtet, die durch und durch feindselig gegenüber dem Westen eingestellt ist, insbesondere gegenüber dem Christentum, das ursprünglich den Westen einte. Man kann nicht die Augen verschließen vor diesen Lehren, die der Islam überall in der Welt verbreitet, noch kann man übersehen, daß der gemäßigte Islam es nicht vermochte, die Rhetorik und Gewalt des extremen Islam zu verurteilen. Einmal abgesehen von den Terror-Angriffen des 11. September 2001, muß eine zeitnahe Sicht des Islam seinen militanten Charakter anerkennen. Der Islam ist die einzige Weltreligion, die die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele billigt. Nur dort finden wir einen fanatischen Bekehrungseifer in Verbindung mit einem Drang zur Weltherrschaft. Im Sudan werden heute Christen angegriffen, getötet und gemordet im Namen des Islam; Frauen und Kinder werden in die Sklaverei verkauft. In Nigeria greifen Gemeinden mit muslimischer Mehrheit christliche Gemeinden an, die Widerstand leisten gegen die Aufzwingung des islamischen
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Gesetzes. In Saudi Arabien und anderen Ländern des Mittleren Ostens sind Kirchen nicht erlaubt, christliche Symbole in jeder Form verboten wie auch christliche Literatur. Nach christlichen Kunstgegenständen wird gefahndet, und sie werden zerstört. Während des Golfkrieges war es den amerikanischen Soldaten nicht gestattet, an der hl. Messe teilzunehmen; sogar die Feier am „Thanksgiving Day" aus Anlaß des Besuchs des Präsidenten der Vereinigten Staaten war verboten. Während des Iran-Irak-Krieges und des Golfkrieges ließ Saddam Hussein die Christen als Minensucher einsetzen. In Indonesien wurde die Tötung von Christen mit Aussagen des Korans gerechtfertigt, die ein militantes Vorgehen gegen jene erlauben, die Allah zurückweisen. Für diese Aktionen beruft man sich auf die Scharia, das islamische Gesetz. Den umfassendsten Ausdruck des Islam, und zwar in praktischer Hinsicht, stellt ohne Zweifel die Scharia dar: „Der hohe Weg des rechten Lebens, der zu Gott führt", die Summe der gottgegebenen Gebote für den Menschen. Sie enthält das Recht, die moralischen Prinzipien und das Credo, was jeder Muslim unterschreiben muß. Die Scharia hat vier Quellen: den Koran, die Tradition, den Konsens der Gemeinschaft und die persönliche Interpretation. Deshalb ist es abwegig, abstrakt vom islamischen Gesetz zu sprechen. Auch wenn es im Koran wurzelt, so ist doch das islamische Gesetz heute von Land zu Land und Region zu Region verschieden. Die Versuche, die Scharia an die modernen Zeiten anzupassen und sie als ein praktisches System von Regeln zu deuten, stoßen auf eine abgrundtiefe Kluft zwischen einer westlich angepaßten modernistischen Minderheit und den konservativen Massen der muslimischen Bevölkerung. Die Reformen, die fortschrittliche städtische Muslim-Schichten angenommen haben, haben wenig Bedeutung für die traditionell orientierten Gemeinschaften in den ländlichen Gebieten, die die große Mehrheit ihrer Anhängerschaft bilden. Von den offiziellen Vertretern wird das islamische Gesetz im Licht ihrer eigenen Erziehung und Schulung interpretiert. Das islamische Gesetz schreibt strenge Strafen für Übertretungen vor. Die Scharia ist in Pflichten eingeteilt, die der Einzelne einerseits Allah und andererseits seinen Mitmenschen schuldet. Für bestimmte Verbrechen ist die Strafe festgelegt. Es ist Tradition, Verstöße gegen eine Person, angefangen von tätlicher Beleidigung bis hin zum Mord, zu vergelten, so daß der Täter genau derselben Behandlung unterworfen wird wie das Opfer. Vergehen dieser Art werden als ziviles Unrecht, aber nicht als Verbrechen im eigentlichen Sinn erachtet; die Familie, nicht der Staat, ist zur Vergeltung berechtigt. Der Abfall vom Glauben, außerehelicher Geschlechtsverkehr und Homosexualität werden mit dem Tode bestraft; dasselbe gilt für Straßenraub. Für Diebstahl ist das Abschlagen der Hand vorgeschrieben; für Unzucht 100 Hiebe; für unbewiesenes Beschuldigen wegen Unkeuschheit und für das Trinken berauschender Getränke 80 Hiebe. Der Koran verkündet die Gleichheit; jedoch wird in den meisten Muslim-Ländern die Position der Frau vom Gutdünken des Mannes bestimmt. Nach dem Koran
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kann ein Ehemann seine Frau daran hindern, zu verreisen; ein Vater kann seine Tochter auch gegen ihren Willen verheiraten, und sie ist durch das Gesetz verpflichtet zu gehorchen. Der Koran gibt einem Ehemann das Recht, eine nicht folgsame Frau zu schlagen oder zu züchtigen. Eine Frau, die Ehebruch begangen hat, verfällt der Todesstrafe durch Steinigung. Auf der anderen Seite weigern sich die Anhänger des Islam, Gesetze, die sich von den ihrigen unterscheiden, anzuerkennen, und sie nennen andere Menschen, die nicht nach ihrer Art Gott verehren, „Ungläubige". In eine muslimische Gesellschaft hineingeboren zu werden bedeutet: Muslim zu sein für das ganze Leben - mit entsprechenden Konsequenzen für den Abfall vom Glauben. Wenn man den militanten Charakter des Islam bedenkt, kommen einem unwillkürlich Aussagen wie diese in den Sinn: „Es ist Pflicht jedes Muslim, an der Seite des afghanischen Volkes zu stehen und gegen Amerika zu kämpfen." Als Scheich Hamoud al-Shuabi gefragt wurde, ob alle Amerikaner das Ziel sein sollen, antwortete er: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, der den Krieg bejaht oder ihn mit Geld unterstützt, und demjenigen, der aktiv kämpft." 1 In Saudi-Arabien wurden die jungen Menschen gelehrt, nicht nur Amerika zu hassen, vielmehr sei jeder, der kein Muslim ist, ein Feind. Es wird ihnen beigebracht, daß ihre Feinde zu töten den Weg zur Heiligkeit durch das Martyrium öffne. 2
II. Wie hat sich das alles entwickelt? Ist Gewaltanwendung ein untrennbarer Bestandteil der Lehre des Propheten? Die Geschichte des Islam ist lehrreich. Seine Ära beginnt im Jahre 622, als Mohammed von Mekka, wo er verfolgt wurde, nach Medina flüchtete. Zunächst unterwies er seine Jünger, beim Gebet sich in Richtung Jerusalem zu wenden. Später unterrichtete er seine Jünger, sich nach Mekka zu richten und hier den alten Pilgerriten zu folgen, die auf Abraham und Ismael zurückgehen. Aber Mekka war beherrscht von einem feindlich gesinnten Stamm und für die Jünger Mohammeds unzugänglich. Diese Situation gab den Anstoß zur Unterwerfung Mekkas. Mohammed ermutigte seine Jünger, nicht nur Mekka zu erobern, sondern auch die Karawanen der Kaufleute auf dem Weg zu und von diesem Ort abzufangen und auszurauben. In der Folge gelang es, durch militärischen Druck und diplomatisches Geschick die Stämme in den arabischen Ländern zu vereinen. Mohammed betonte den Stolz der eigenen Überzeugung und die gemeinsame Solidarität. Er lehrte, daß Glaubensbrüder durch die Religion enger verbunden seien als durch das Blut. Es wurde ihnen verboten, gegeneinander zu streiten, aber sie konnten Nicht-Muslime überfallen. Auf diese Weise konnte sich die Gemeinschaft durch Unterwerfung anderer ausdehnen. ι New York Times, December 5, 2001, B l . Vgl. Dr. Sahr Muhammad Hatem aus Riad in der Londoner arabischsprachigen Tageszeitung, Al-Sharq Al-Awsat, 21. Dezember 2001. 2
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Zur Glaubensgemeinschaft gehörten ohne Zweifel jene, die sich ernsthaft bekehrten und wirklich gläubig wurden, aber es gab viele andere, die, ähnlich wie die Mekka-Kaufleute, die äußerliche Anpassung profitabel fanden und die dann Zeit und Kraft für die Ausbreitung des Islam aufwendeten. Mohammed richtete seine Predigt an eine Gesellschaft, die der Reformen bedurfte. Der Niedergang des Römischen Reiches hatte eine komplizierte und ermattete Gesellschaft zurückgelassen. In Ägypten, Syrien und im Osten gab es überall Sklaverei, ein Übermaß an Besteuerung und ein bürokratisches Regime, das sich in die Lebensvollzüge des Volkes einmischte. In dieser Situation, schrieb Hilaire Belloc, erschien der Islam als eine Reformkraft zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Der Sklave, der bekannte, daß Mohammed der Prophet Gottes sei und die neue Lehre sich auf göttliche Autorität stütze, hörte auf, Sklave zu sein. Der Sklave, der den Islam annahm, war von da an frei. Dem Schuldner, der ebenso handelte, wurden die Schulden erlassen... Der kleine Bauer wurde nicht nur von seinen Schulden, sondern auch von der drückenden Besteuerung frei. 3 Vieles in der Lehre Mohammeds bestand aus Ideen, die dem Christentum eigen waren - Ideen, die das Christentum vom Heidentum unterschieden: z. B. Gott in seiner Einheit und Allmacht, seine Personalität, Gutheit, Zeitlosigkeit und Vorsehung. Mohammed anerkannte die Schöpfermacht Gottes als den Ursprung aller Dinge, der auch all das, was er ins Dasein gerufen hat, erhält. In seiner Lehre anerkannte er gute und böse Geister, wie dies im Christentum der Fall ist, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die personale moralische Verantwortung und das Gericht nach dem Tode, einschließlich der Bestrafung und der Belohnung. Auch wenn er seine Gottheit leugnete, so erwies Mohammed Christus die höchste Ehre und verehrte seine Mutter, die Jungfrau Maria. Anfänglich wurde der Islam von den Christen in Byzanz als eine christliche Irrlehre angesehen, nicht als eine neue Religion; aber schon bald haben ihm Vitalität und Widerstandsfähigkeit die Gestalt einer neuen Religion gegeben. Christen, die damals seinen Aufstieg miterlebten, sahen darin keine Verneinung, sondern eine Anpassung und eine Fehlinterpretation der Evangelien und der Lehren der Apostel. Innerhalb eines Jahrhunderts eroberten islamische Krieger Syrien, Mesopotamien, Ägypten, ganz Nordafrika, Spanien. Eine Generation nach dem Tode Mohammeds befand sich die Hälfte der Besitztümer und fast die Hälfte des römischen Imperiums in den Händen islamischer Gelehrter und Regenten. Arabische Militärmacht verlieh den Kalifen, die zugleich Generäle und Nachfolger des Propheten waren, nicht nur absolute Autorität, sondern auch großen Besitz. Die arabische Eroberung im siebten Jahrhundert war der Beginn einer neuen Kultur im ganzen südlichen Mittelmeerraum. Abu Bakr, der erste Nachfolger Mo3 Hilaire Belloc, The Great Heresies (Rockford, III.: Tan Books, 1991), S. 45 f.; Neudruck von 1938.
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hammeds, befehligte während seiner kurzen Regierungszeit (632-634) die Armeen der Muslime, die den südlichen Irak und Palästina erreichten. Umar ibn alKattab (634-644), der zweite Nachfolger Mohammeds, eroberte Syrien, Palästina, Persien und Ägypten bis nach Cyrene und sogar Tripolis. Als die Ommiad-Kalifen unter Mo'awiya ihre Residenz 661 in Damaskus errichteten, begann der Kampf mit Konstantinopel. 672 wurde die Stadt vom Land und vom Meer her belagert, was sieben Jahre dauerte. Im Westen fiel Karthago in ihre Hände und wurde 698 dem Erdboden gleichgemacht. Es folgte die Eroberung Andalusiens, wobei die islamischen Truppen 731 weit nach Norden bis an die Loire vorstießen. Es kam zu einer Vermischung mit den Völkern, die sie unterworfen hatten; dabei zeigten die Araber eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Assimilation. Ihre Kultur war nicht auf eigenem Boden gewachsen; aber sie waren in der Lage, aus der hellenistischen Kultur großen Nutzen zu ziehen, indem sie sich die Schätze der griechischen Ideenwelt aneigneten. Und was den Osten betrifft, befähigte das intellektuelle und künstlerische Erbe der Vergangenheit, das besonders die hochintelligenten Syrer gepflegt hatten, die Araber, es in Bagdad, Damaskus, Kairo und Cordoba weiterzuentwickeln. In diesen Zentren entwickelte sich eine glänzende Kultur - weit höher als alles, was im Westen anzutreffen war. In seiner Frühzeit, also in jener Periode, die im Westen als das „saeculum obscurum" galt, vor allem im achten und neunten Jahrhundert, brachte der Islam die Zivilisation zur höchsten Entfaltung in der damaligen Welt. Damals war der Islam viel gelehrter als das Christentum. Für Jahrhunderte wurde er zum Sachwalter der Texte des Aristoteles, der Mathematik und der Naturwissenschaft der frühen griechischen und römischen Denker. Niemand, der diese Periode bedenkt, kann den gesellschaftlichen Reichtum und die Brillanz des muslimischen Spanien, des Fatimiden-Kalifats in Ägypten und des Kalifats von Cordoba im 10. und 11. Jahrhundert leugnen. Sogar die normannischen Könige von Sizilien übernahmen die äußerlichen Formen des Hoflebens von der islamischen Welt und wurden generöse Förderer der muslimischen Gelehrten und Gebildeten.4
III. Das mittelalterliche Europa ererbte die griechische Philosophie auf indirektem Wege über Syrien, Persien und die arabischen Gelehrten, Wissenschaftler und Philosophen. In den frühen Jahrhunderten des Christentums wurde die griechische Philosophie nach Asien gebracht durch christliche Gelehrte, die in Athen studiert hatten, bevor Kaiser Justinian 529 die Schließung der philosophischen Schulen anordnete. Die christliche Schule in Edessa, 563 gegründet, lehrte die Philosophie des Aristoteles und das medizinische Wissen des Hippokrates und des Galenus. 4
Vgl. Christopher Dawson, Religion and the Rise of Western Culture , Gifford 1948 - 49 (London: Sheed & Ward, 1950), S. 184 ff.
Lectures,
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Als die Syrer das Christentum annahmen, mußten sie Griechisch lernen, um die Heilige Schrift zu lesen. Die griechische Theologie folgte und mit ihr die griechische Kultur. Als die Schule von Edessa geschlossen wurde, gingen ihre Professoren nach Persien. Zu dieser Zeit wurden viele philosophischen und naturwissenschaftlichen Werke aus dem Griechischen ins Syrische übersetzt. Dies erklärt die Tatsache, warum auch ein so epochemachendes Ereignis wie die Entstehung der islamischen Welt die Ausbreitung der griechischen Philosophie nicht aufhielt. Die Dynastie der Abbassiden-Kalifen, die 750 durch Aboul-Abbas entstand und dessen Nachfolger von 762 bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts in Bagdad residierten, wurde ein wichtiger Katalysator für die Vermittlung griechischer Gelehrsamkeit. Syrische Gelehrte wurden alsbald als Übersetzer von den Kalifen in Bagdad angeworben. In der Fortführung ihres Werkes unter ihren neuen Herrschern begannen die persischen Gelehrten, die griechischen Texte ins Arabische zu übersetzen, manchmal direkt aus dem Griechischen, bisweilen auch aus früheren syrischen Übersetzungen. Zu den Autoren, die übersetzt wurden, gehörten Aristoteles, Euklid, Archimedes, Ptolemäus, Hippokrates, Galenus und Theophrastus. Syrische Gelehrte vermittelten mit Erfolg die griechischen Lehren den Arabern, die sie weitergaben an die Juden und dann auch an die Theologen des christlichen Westens. Der im 20. Jahrhundert lebende Philosophiegeschichtier Etienne Gilson hat die Chronik dieser Entwicklung aufgezeichnet. In seiner History of Christian Philosophy in the Middle Ages schreibt Gilson: „Ähnlich wie der christliche Glaube verspürte auch der islamische Glaube schon bald die Notwendigkeit einer verstandesgemäßen Interpretation, auch wenn es nur um die Korrektur der wörtlichen Interpretationen des Koran ging, an die sich die damaligen Fundamentalisten klammerten." 5 Schnell wuchs eine Schule von muslimischen Theologen heran, die die griechischen philosophischen Erkenntnisse bei der Interpretation des Koran zur Geltung brachten, die jedoch von anderen Theologen, die die griechische Philosophie zurückwiesen, bestritten wurden. Diese Kontroverse ist noch bei einer anderen Generation von arabischen Denkern wirksam geworden, die, ohne die Bindung an ihre Religion zu verlieren, eine eigene Philosophie zu entwickeln begannen. Ibn Rusd (1126-1198), in der lateinischen Welt als Averroes bekannt, war ein Philosoph, der darauf bedacht war, die Türe für die Offenbarung offenzuhalten. Aber mit diesem Vorgehen war der Theologe al-Ghazzali nicht einverstanden, der sich gegen Averroes stellte. In der muslimischen wie in der jüdischen Welt und ihren tief religiösen Kulturen entstand für Philosophen ein neues Problem, das in der klassischen Antike unbekannt war, nämlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Gilson weist auf eine merkwürdige Folge dieser Situation hin: Während die islamische Theologie sich zunehmend von der griechischen Philosophie entfernte bis hin zu deren Zurückweisung, wurden die großen christlichen Theologen Schüler der islamischen Philosophen - viel 5 Etienne Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages (New York: Random House, 1955), S. 182.
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mehr als die islamischen Theologen.6 Die arabische Philosophie wurde zu einer Hauptquelle der mittelalterlichen Scholastik. Nachdem Aristoteles ins Arabische übersetzt war, breitete sich sein Einfluß bis an die Grenzen der islamischen Herrschaft aus. Josef Pieper hat diese geistige Herkunft des langen und breiten beschrieben: Innerhalb dieses Kulturkreises wurden damals die großen Kommentare zu Aristoteles geschrieben von Autoren, die fast auf jeder Seite der theologischen Summen des 13. Jahrhunderts erwähnt werden.7 Al Kindi, Al Farabi, Avicenna, Averroes sind Namen, deren Philosophie den seinerzeitigen Studenten des hl. Thomas von Aquin bekannt war. Wer Thomas studiert, muß sich auch mit der mittelalterlichen arabischen Philosophie befassen. Keine katholische Universität von Bedeutung ist ohne ihren Spezialisten für mittelalterliches arabisches Denken. Es ist Teil des scholastischen Curriculum geblieben. Man mag darüber erstaunt sein, auf welchem Wege die westliche Christenheit das verlorene hellenistische Wissen zurückgewonnen und die fremde Welt des muslimischen Denkens sich angeeignet hat, ohne ihre geistliche und religiöse Integrität zu verlieren. Der Kulturhistoriker Christopher Dawson gibt Aufschluß über die höfische Kultur des mittelalterlichen Europa in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, indem er sie als eine Frucht der Kreuzzüge betrachtet. Er beschreibt die Entwicklung einer neuen aristokratischen Kultur, die sich in der Gegenrichtung der Kreuzzüge bewegte entlang den gleichen Wegen vom Mittelmeer ins nördliche Frankreich und nach Italien, schließlich nach Deutschland, England und Wales.8 Hinzukamen die Einflüsse der Musik und der Dichtkunst, die Vision eines neuen wundervollen Lebens, die vom südlichen Mittelmeer her die ganze ständische Gesellschaft erfaßte. In den Fußstapfen von Cordoba wurde Toledo ein Zentrum für die Übersetzung im 12. Jahrhundert. Erzbischof Raymund von Sauvetât gründete eine Übersetzerschule, die ihre Tätigkeit mehr als ein Jahrhundert ausübte. Gelehrte übersetzten das gesamte Werk des Aristoteles vom Arabischen ins Lateinische. Desgleichen machten sie Übersetzungen der Hauptwerke der großen muslimischen und jüdischen Philosophen, einschließlich A l Kindi, Al Farabi, Avicenna, Ibn Gabriol und al-Ghazzali. In einer kosmopolitischen Anstrengung arbeiteten Juden, Araber und Griechen mit Spaniern, Italienern und Engländern zusammen. Averroes, geboren 1126 in Cordoba, Jurist, Arzt und Philosoph, wurde für den Westen im 13. Jahrhundert „der Kommentator" zu Aristoteles. Sein Einfluß war so groß, daß die Philosophie der italienischen Renaissance mit gewisser Berechtigung als Averroismus bezeichnet wurde. 9 Moses Maimonides, der große jüdische Denker des 12. Jahrhun6 Ebda., S. 183. 7
Josef Pieper, Scholasticism: Personalities and Problems of Medieval Philosophy. Aus dem Deutschen übersetzt von Richard und Clara Winston (London: Faber & Faber, 1960). 8 Christopher Dawson, Religion and the Rise of Western Culture , S. 185. 9 Paul Oskar Kristeller greift französische Forschungen auf und bezieht sich auf den „Padua-Averroismus". Sein Ursprung liegt bei Salerno und reicht zum Beginn des 12. Jahr-
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derts, war gleichfalls in Cordoba geboren (1135). Ähnlich wie Averroes wandte sich Maimonides der Lehre des Aristoteles zu, als er sein Werk „Führer der Unschlüssigen" verfaßte - ein Buch an jene gerichtet, deren Glaube an die biblische Offenbarung durch Philosophie und Wissenschaft erschüttert war. Bisweilen die jüdische scholastische Summa genannt, war es in Arabisch geschrieben. Josef Pieper vergleicht den Stand des Wissens damals zwischen Cordoba und Paris: Hier war auf der einen Seite ein großer Reichtum arabisch-jüdischer Philosophie; und auf der anderen Seite brachten die Schulen des Westens zur selben Zeit wenig Bedeutendes zustande - außer den theologischen Studien im engeren Sinne. Die Bildung, die um 1200 in Paris die Artistenfakultät vermittelte, beruhte vor allem auf dem Kult der Logik, enthielt nichts, das auch nur entfernt an eine philosophische Sicht der ganzen Wirklichkeit erinnerte. 10
IV. Warum übernahmen nicht die Araber die Führung der Kulturwelt, obwohl sie im Mittelalter über die am meisten fortgeschrittene Zivilisation verfügten und obwohl sie so machtvoll auftraten? Bernard Lewis schreibt in dem lehrreichen Buch „What Went Wrong?": Im Verlauf des 20. Jahrhunderts stellte sich im Mittleren Osten und in allen Ländern des Islam heraus, daß in der Tat vieles schief gelaufen war. Im Vergleich zum Christentum ist die Welt des Islam, die 1000 Jahre sein Rivale war, arm, schwach und unwissend geworden. 11 Vom 16. Jahrhundert an, als Europa militärisch, wirtschaftlich und politisch Fortschritte machte, erlitt das Schicksal des Islam eine dramatische Wende. Wie Lewis bemerkt: Die im Mittleren Osten verbreitete Technik und Wissenschaft hörten auf, sich weiterzuentwickeln, genau zu dem Zeitpunkt, als Europa, genauer gesagt Westeuropa, neue Höhen erklomm. 12 Gustav Schnürer, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewirkt hat, vermutet innere Gründe. Da ihm die Tiefe des Christentums abgeht, fehlt dem Islam die bestimmende Kraft der Weltgestaltung, die mit dem Evangelium einherging. Weil der Islam, schreibt Schnürer, sich auf das Prinzip stützte, den Glauben mit Hilfe des Schwertes auszubreiten, fehlte ihm die Besonnenheit und die organisatorische Kraft des Christentums, die auf die Entfaltung der Vernunft und auf die Schulung des Willens setzt.13 Gemäß der christlichen Lehre besaßen die Frauen denselben Status wie die Männer; weil sie nicht Krieg, sondern Frieden verkündete, gab sie hunderts zurück. Er breitete sich im 13. Jahrhundert an anderen Universitäten Italiens aus. Er blühte in Padua im 15. und 16. Jahrhundert, wo er sich bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts weiterentwickelte. 10 Josef Pieper, Scholasticism. 11 Bernard Lewis, What Went Wrong? (New York: Oxford University Press, 2002), S. 151. 12 Ebda., S. 125 13 Gustav Schnürer, Church and Culture in the Middle Ages, übersetzt aus dem Deutschen von George J. Undreiner (Paterson, N. J.: St. Anthony Guild Press, 1956), S. 440.
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der sozialen Ordnung mächtige Impulse. Weil sie auf Selbstdisziplin pochte und eine Gewissensbildung im Einklang mit dem Evangelium, formte das Christentum eine Gesellschaft, die sich vom Islam erheblich unterschied, der - ohne diese Prinzipien - nur despotische Regierungsformen hervorbrachte. Das Christentum legte den Grund für die Entwicklung des einzelnen und nicht weniger der Nation, wobei es nationale Stärke mit der größtmöglichen Freiheit für den Einzelnen verband im Einklang mit Frieden und Ordnung. 14 Bernard Lewis bietet keine eindeutige Antwort auf seine Frage: „What Went Wrong?" Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis, daß der Unterschied zwischen dem Islam und dem Westen das Ergebnis eines Niedergangs des Islam einerseits und eines westlichen Aufbruchs andererseits sei, weil sich dieser erst im 18. Jahrhundert, frühestens seit der Renaissance ereignete. Er betont eine Reihe von Faktoren: wirtschaftliche, militärische und politische, die ohne Zweifel eine Rolle spielten; zugleich deutete er an, daß die Ursachen viel tiefer liegen mögen, auch wenn er nicht wie Schnürer zu einem Ergebnis gelangt. „Wenn man Lewis' Buch liest", bemerkt Karen Elliot House, „wird man daran erinnert, daß viele Gründe für den Niedergang des Islam und den Aufbruch des Westens angeführt werden können, die von der Überlegenheit im Schiffbau - sie ermöglichte es kleinen Ländern wie Holland und Portugal, Seemächte zu werden - bis zur Unterwerfung der Frauen reichen, wodurch die Talente der halben Bevölkerung vergeudet werden. Der entscheidende Grund freilich, der sich ergibt, wenn man das Buch ,What Went Wrong?' zwischen den Zeilen liest, liegt bei tieferreichenden Unterschieden zwischen dem Christentum und der islamischen Welt". 15 Diese Unterschiede können nicht ignoriert werden. Der Islam ist eine Religion, die auf Gehorsam, nicht auf Verstehen, die auf gewaltsame Bekehrung, nicht auf Überzeugen setzt. Vielleicht liegt zwar nicht der tiefste, aber der auffälligste Unterschied zwischen der islamischen und der christlichen Kultur in der Stellung der Frau. Der türkische Schriftsteller Evliya Celebi schilderte anläßlich eines Besuchs des katholischen Wien im Jahre 1665, daß die Frauen geehrt und geachtet würden aus Liebe zur Mutter Maria. Die Unterwerfung der Frau im Islam wirkt sich nicht nur in der Familie aus, sondern in der ganzen Gesellschaft. In diesem Bereich, wie in so vielen seiner Vorschriften und Verbote, kennt der Islam keine im Grundsätzlichen verankerten Gesetze. Das islamische Gesetz ist positives Recht. Es wurzelt nicht in einer Metaphysik oder in einer Philosophie der Natur und des Menschen. Hier unterscheidet es sich vom römischen Recht und vom britischen Common Law, aus denen die Rechtsstaatlichkeit des Westens erwächst. Ein anderer Unterschied betrifft die Rolle des islamischen Geistlichen hinsichtlich der Regierung des Staates. Das Christentum folgte von Anfang an der Aufforderung Christi: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" 1 6 14 Ebda. 15 Wall Street Journal, 1. Januar 2002, S. W - 10. 16 Lk 20, 25.
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und entwickelte ein Verständnis für die verschiedenen Aufgaben, die der Kirche und dem Staat obliegen. Wie Augustinus in seinem Werk über den Gottesstaat darlegt, ist es Sache der Kirche, sich um den Gottesdienst und um die geistliche und geistige Nahrung der Gläubigen zu kümmern; der Staat ist für das Gemeinwohl verantwortlich, für die materielle Wohlfahrt der Bürger. Der Islam hat diese Dichotomie nicht akzeptiert; die Kirche ist der Staat; der Staat ist die Kirche. Diese Unterschiede lösen Unbehagen bei den Muslimen aus, wenn sie unter Ungläubigen und unter einem fremden Gesetz leben. Während der Islam Jahrhunderte hindurch zur Anpassung an jene Völker, die er erobert hatte, in der Lage war, gelang ihm dies nicht bei jenen, die er nicht erobern konnte. Man braucht nur an seine Bestrebungen in Bosnien, Griechenland, auf den Philippinen und in Indonesien zu denken, eigene Staaten mit eigener Ordnung zu errichten, oder gar eine eigene Gemeinde in Birmingham in England zu bilden.
V. Es hat sich herumgesprochen, daß sich der Islam schwertut, eine moderne Gesellschaft aufzubauen, und sich einem friedlichen Zusammenleben verweigert. Was bedeutet dies für die Zukunft? In der Mitte des 20. Jahrhunderts warnte Hilaire Belloc, daß die Macht des Islam jeden Moment wieder aufbrechen könne. 17 Wie wäre das möglich? Der Islam, meinte Belloc, sei unbezwingbar: Er habe jene christlichen Lehren, die unbezweifelbar wahr sind und den Gemeinsinn von Millionen ansprechen, behalten, dagegen das Priestertum, die Mysterien, die Sakramente und damit das Ganze abgestoßen. Er fordere und praktiziere menschliche Gleichheit. Er wisse sich der Gerechtigkeit verpflichtet und verbiete den Wucher. Im eigenen Licht betrachtet, bringe er eine Gesellschaft hervor, in der die Menschen glücklicher scheinen und sich ihrer eigenen Würde bewußt seien - mehr als in jeder anderen Gesellschaft. 18 Die Diskrepanz zwischen der Scharia der Gelehrten und der aktuellen Praxis ist ohne Bedeutung. Die Lehren des Islam, sagt Belloc, sind seine Stärke, und deshalb bekehre er immer noch Völker und behaupte sich, bis er vielleicht wieder an die Macht in naher Zukunft zurückkehre. 19 Belloc stellt mit Nachdruck die Frage: Wird nicht vielleicht die zeitliche Macht des Islam wiederkehren und mit ihr die Drohung einer bewaffneten islamischen Welt, die die Herrschaft der Europäer, die nur noch dem Namen nach Christen sind, abschütteln und erneut als der Feind unserer Zivilisation erscheinen wird? 20 Belloc ist davon überzeugt, daß wir nicht erkennen wollen, wie sehr die Religion die Wurzeln aller politischen Bewegungen 17 Hilaire Belloc, The Great Heresies, S. 42. ι» Ebda., S. 55. 19 Ebda. 20 Ebda., S. 73.
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und Veränderungen ist; Dawson würde hinzufügen: die Wurzel aller großen Kulturen. Der Islam mag äußerlich paralysiert sein, aber moralisch ist er höchst lebendig. Es mag ein Ungleichgewicht bestehen zwischen dem materiellen Unvermögen und der moralischen Kraft, aber dies wird voraussichtlich nicht so bleiben. Niemand kann die Vitalität des Islam leugnen. Seine Lehren sind verhältnismäßig einfach. Sein heiliges Buch, sein Moralkodex, sein organisiertes System des Gebetes ziehen suchende Menschen an, vornehmlich dort, wo das Christentum nicht bekannt ist. Die Krise der Christenheit in Europa hat auch den Verfall der darauf basierenden Kultur nach sich gezogen. Dasselbe gilt nicht für den Islam. Die ganze geistliche Kraft des Islam, von Ägypten bis Indonesien, ist ungebrochen. Ein Zeitgenosse Bellocs, der in Spanien geborene Professor an der Harvard Universität George Santayana bemerkte 1937: „Die gegenwärtige Zeit ist eine kritische, aber es ist interessant, sie zu erleben. Die christliche Zivilisation ist nicht verschwunden, aber eine andere Zivilisation schickt sich an, ihren Platz einzunehmen. Wir begreifen noch den Wert des religiösen Glaubens... Auf der anderen Seite ist die Schale des Christentums zerbrochen. Der nicht bezwingbare Geist des Ostens, die heidnische Vergangenheit, die industrielle sozialistische Zukunft stehen ihm entgegen und beanspruchen eine gleiche Autorität. Unser ganzes Leben und Denken ist gesättigt mit einer unaufhaltsam voranschreitenden Infiltration eines neuen Geistes - nämlich einer „emanzipierten, atheistischen, internationalen Demokratie". 21 Seit dem 11. September sind wir gewohnt, die „Terroristen" und die Taliban vom eigentlichen Islam zu unterscheiden, einem Islam, der in den Hallen der Wissenschaft oft romantisch verklärt wird. Aber ist der Westen ohne das Christentum fähig, sich gegen den Islam zu verteidigen? Ist die von Santayana befürchtete „emanzipierte, atheistische, internationale Demokratie" ein Gegengewicht gegen einen militanten Islam, der die neue Barbarei, der der Westen verfallen ist, abschreckend findet? Belloc und andere wie Lewis würden sich darauf nicht verlassen. B b io i lg r a p h e i Belloc, Hilaire: The Great Heresies (Rockford, 111.: Tan Books, 1991), Neudruck von 1938. Coulson, Noel James: „Islamic Law", in: Encyclopedia Britannica, 15. Aufl. Chicago, IL: Encyclopedia Britannica, Inc., 1974, S. 938-943. Crespi, Gabriele: The Arabs in Europe (New York: Rizzoli, 1979). Dawson, Christopher: Medieval Essays (London: Sheed & Ward, 1953). - Religion and the Rise of Western Culture, Gifford Lectures, 1948-49 (London: Sheed & Ward, 1950). 21 George Santayana, „Winds of Doctrine". The Works (New York: Charles Scribner's Sons, 1937), S. 5.
of George Santayana, Bd. VII
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Ellul, Joseph: „God and Time: Islamic Philosophy and Mysticism ", in: Angelicum 78,4 (2001)651-668. Gilson, Etienne: History of Christian Philosophy in the Middle Ages (New York: Random House, 1955). Kristeller, Paul Oskar: Medieval Aspects of Renaissance Learning, hrsg. und übersetzt von Edward P. Mahoney (New York: Columbia University Press, 1992). Lewis, Bernard: What Went Wrong? (New York: Oxford University Press, 2002). Mahdi, Muhsin S.: „Islamic Theology and Philosophy ", in: Encyclopedia Britannica, 15. Aufl. Chicago, II.: Encyclopedia Britannica, Inc., 1974, S. 1012-1025. Pieper, Josef: Scholasticism : Personalities and Problems of Medieval Philosophy. Aus dem Deutschen übersetzt von Richard und Clara Winston (London: Faber and Faber, 1960). Santayana, George: „Winds of Doctrine". The Works of George Santayana, Bd. V I I (New York: Charles Scribner's Sons, 1937). Schimmel, Annemarie: Islam: An Introduction (Albany: State University of New York Press, 1992). Schnürer, Gustav: Church and Culture in the Middle Ages, übersetzt aus dem Deutschen von George J. Undreiner (Paterson, N.J.: St. Anthony Guild Press, 1956). Van Steenberghen, Fernand: Aristotle in the West (Louvain: E. Nauwelaerts, 1955). - The Philosophical Movement in the Thirteenth Century (London: Nelson, 1955). Williams, John Α.: „History of Islam", in: Encyclopedia Britannica, 15. Aufl. Chicago, IL: Encyclopedia Britannica, Inc., 1974, S. 938-943.
Zur Biographie von Jude P. Dougherty Von Anton Rauscher
Jude Patrick Dougherty wurde am 21. Juli 1930 in Chicago/Illinois geboren. Der Vater Eduard Timothy Dougherty kam als Einwanderer aus Irland nach den USA und hatte eine Stelle als Hotelier in Chicago. Die Mutter Cecilia Anastasia, geborene Loew, stammte aus dem bayerisch-österreichischen Raum. Zur Familie gehört eine Schwester: Inez Juanita. Der irische Katholizismus prägte das Elternhaus. Jude P. Dougherty besuchte die Volksschule und die höhere Schule in Louisville/Kentucky. Er entwickelte frühzeitig ein großes Interesse an philosophischen Fragestellungen. Da die Catholic University of America in Washington DC in jenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg landesweit in hohem Ansehen stand, entschied sich Jude für diese Universität, an der er den Β. A (1954) und den M. A. (1955) erwarb. Am Beginn seiner akademischen Laufbahn übernahm Dougherty die Stelle eines Instructors an der Jesuiten-Universität Marquette in Milwaukee (1957-1958). Am 28. Dezember 1957 heiratete er Patricia Ann, geborene Regan. Aus der Ehe gingen vier Söhne hervor: Thomas (1960), Michael (1962), John (1963) und Paul (1968). Von 1958 bis 1960 war Dougherty Instructor am Bellarmine College in Louisville. In dieser Zeit bereitete Dougherty seine Dissertation zum Thema „Recent American Naturalism" vor. Die Promotion zum Dr. phil. erfolgte 1960 an der Catholic University of America. Es folgten weitere Jahre am Bellarmine College als Assistenzprofessor (1960 bis 1963) und als Associate Professor (1963 bis 1966). Im Sommer 1965 hatte er eine Gastprofessur (Visiting Associate Professor) an der Georgetown University in Washington DC inne. Es folgte die Berufung an die Catholic University of America zunächst als Associate Professor (1966 bis 1976). Bereits 1967 wurde er zum Dean der School of Philosophy gewählt - ein Amt, das er bis 1999 behielt. 1976 wurde Dougherty Ordinarius für Philosophie, wo er auch nach seiner Emeritierung noch tätig ist. Zu erwähnen ist eine weitere Gastprofessur, die er von 1975 bis 1976 an der Katholischen Universität in Löwen/Belgien versah.
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Zur Biographie von Jude P. Dougherty
Veröffentlichungen - Recent American Naturalism. Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1960. - Hg: The Theological Directions of the Ecumenical Movement. Louisville, Kentucky, Bellarmine College Press, 1964. - Hg.: The Impact of Vatican II. St. Louis, B. Herder, 1966. - Approaches to Morality. With L. Dupre et al, New York: Harcourt, Brace and World, 1966. - Hg.: The Good Life and Its Pursuit. New York, Paragon, 1984. - Western Creed, Western Identity. Essays in Legal and Social Philosophy. Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 2000. - Jacques Maritain: La Vie Intellectuelle. Im Druck. - The Logic of Religion. Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 2003. Verantwortlich für die Herausgabe von „The Review of Metaphysics" (seit 1971) sowie der Reihe „Studies in Philosophy and the History of Philosophy" seit 1974 (35 Bände bisher). Mehr als 80 Abhandlungen und Artikel einerseits zu philosophischen Fragestellungen, andererseits zu aktuellen Problemen in Gesellschaft, Kirche und Demokratie. Ehrenämter - Mitglied der American Philosophical Association seit 1962 - Gründer und erster Präsident der Kentucky Philosophy Association (1966) - Präsident der American Catholic Philosophical Association (1974-75) - Präsident der Society for Philosophy of Religion (1978 - 79) - Präsident der Metaphysical Society of America (1983 - 84) - Mitglied der European Academy of Sciences and Arts
Auszeichnungen für herausragende Leistungen - Ehrendoktor des Thomas More College - Ehrendoktor der Katholischen Universität von Lublin/Polen (2001) - Cardinal Wright Award, Fellowship of Catholic Scholars (1994) - Aquinas Medal, American Catholic Philosophical Association (1994)
Zur Biographie von Jude P. Dougherty
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- Auszeichnung für besondere Verdienste, verliehen von der Graduate Student Association und vom Undergraduate Student Government, Catholic University of America, 1998 - President's Medal, 1999 - Ritter des St. Gregorius-Ordens, 1999 - Cardinal Gibbons medal, Alumni Association, the Catholic University of America - Jacques Maritain Scholarly Excellence Award (2000), American Maritain Association
Quellenangaben Die westliche Kultur und die Suche nach ihrer Identität Übersetzung des Beitrags „Western Creed, Western Identity". In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity. Essays in Legal and Social Philosophy. Washington, D.C., The Catholic University of America Press, 2000, 3 - 1 7 . Der Verlust der Religion und das Problem der Säkularisierung Übersetzung des Beitrags „What was Religion? The Demise of a Prodigious Power". In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 28-43. John Courtney Murray über die Wahrheiten, an denen wir festhalten Übersetzung des Beitrags „John Courtney Murray on the Truths We Hold". In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 66-82. Die Trennung von Staat und Kirche Übersetzung des Beitrags „Separating Church and State". In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 83-99. Marx, Dewey und Maritain. Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft Übersetzung des Beitrags „Marx, Dewey, and Maritain. The Role of Religion in Society". In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 44-65. Das Gemeinwohl nicht vergessen Übersetzung des Beitrags „Keeping the Common Good in Mind." Studi Tomistici, Bd. 25, The Ethics of St. Thomas Aquinas, 188-201. Verantwortung
im Beruf
Übersetzung des Beitrags „Professional Responsibility." In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 183-198. Kollektive
Verantwortung?
Übersetzung des Beitrags „Collective Responsibility." In: Jude P. Dougherty: Western Creed, Western Identity, 119-135. Unbezwingbarer Islam Übersetzung des Beitrags „Indestructible Islam." Im Druck.