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German Pages 351 [352] Year 1981
Peter Schulthess Relation und Funktion
Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper
113
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1981
Peter Schulthess
Relation und Funktion Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1981
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Schulthess, Peter: Relation und Funktion- : e. systemat. u. entwicklungsgeschichtl. Unters, zur theoret. Philosophie Kants / Peter Schulthess. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1981. (Kantstudien : E r g . - H . ; 113) ISBN 3-11-008439-2 N E : Kantstudien / Ergänzungshefte
© Copyright 1981 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer - Karl J. T r ü b n e r — Veit & C o m p . , Berlin 30 - Printed in Germany - Alle Rechte der Ubersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. D r u c k : Werner Hildebrand O H G , Berlin 65 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1 Berlin 61
VORWORT
Was ist eine Relation? Diese Frage zielt auf eines der schwierigsten philosophischen Probleme, das in engem Zusammenhang mit dem Universalienproblern steht. Von ihrer Struktur her ist die Relation leicht zu charakterisieren: Sie ist - wie die Logiker sagen - ein mehrstelliges Prädikat, und das wiederum meint, daß sie eine ungesättigte Funktion ist, die sich auf mehrere Variablen (Relate) bezieht. Allein, problematisch wird diese Bestimmung sofort, wenn man fragt, ob dem sprachlichen Ausdruck eines relativen Prädikates ein Designat entspricht, d.h. ob die Relation etwas von den Relaten Verschiedenes bezeichne oder ob sie gar nichts bezeichne. In scholastischer Terminologie fragt man damit, ob das Verhältnis zwischen Rei at und Relation eine Distinctio real is, formal i s oder rationis sei. Im Hintergrund dieser Fragen steht eigentlich das
Universalienproblem3
das auf die Frage zentriert ist, ob der ein- oder mehrstellige Prädikatsausdruck eine Referenz habe oder nicht. Referiert er nicht - im nominalistischen Ansatz etwa -, so bleibt die Frage offen, wie denn die Individuen beschaffen sein müssen, daß sie Argumente solcher Funktionen werden können, und was denn Funktionen sind, wenn nicht bloß Ausdrücke? Geht man dagegen von der konzeptualistischen oder realistischen Antwort-Variante aus und nimmt man also an, daß dem Relationsausdruck etwas entspreche, so ist zu fragen: Wie ist das Sein der Relation auszuzeichnen, wie sollen wir das eigenartige "hooking of the relation to the terms" (Russell) begreifen? Ist "Relatedness" (Whitehead) ein ideales Sein oder ist sie im Unterschied zur Existenz der Terme Subsistenz (Russell, Meinong)? Zwei naive Antworten sind schnell gegeben. In der Natur gibt es nur Partikuläres, Singuläres, dessen Verbindung die Mens leistet, und zwar entweder die Mens comparans oder die zu mehreren gleichursprünglichen Akten fähige Mens. Diese Antwort mag angehen für die Frage nach dem Sein der Relationen zwischen mentalen Tennen (Relationes rationis). Bezeichnen die Terme hingegen realiter Seiendes, d.h. handelt es sich um eine reale Relation, wie läßt sich dann der
VI
Vorwort
Wahrheitsanspruch relativer Aussagen über Sachverhalte, Tatsachen, relationale Fakten ausweisen? Die zweite naive Antwort versucht dieser Fragestellung nach der Realität der Relationen gerecht zu werden, indem sie den Relationen Realität, reales Sein zubilligt. Bedeutet das aber, daß die Relation ein realiter Vorfindbares ist, daß also die Aussage "A ist westlich von B" nicht nur A und Β als Designata hat, sondern auch: westlich von? Ist die Relation etwas Partikuläres, so etwa, daß je nach Einsetzungsfall
"west-
lich von" etwas anderes bedeutet? Oder aber sind die Relationen etwas Universelles, das nichtsdestoweniger reale Züge trägt? Lassen sich diese "realen Züge" dadurch erklären, daß die Relationen bloße Determinationen der Terme sind, sei es, daß sie Essentialien oder bloße Folgestücke davon sind, so daß deren Realität also die Realität der Qualität ist? So würde eine Ontologie, die vom Substanz-Qualität-Schema herkommt, argumentieren. Im Gefolge dieser Substanzontologie,
deren ausgezeichnete Kategorie eben
die der Substanz ist, steht die Subjekts-Prädikats-Logik,
die die Relations-
urteile nicht eigens auszeichnen kann. Der These der Substanzontologie, wonach die Realität der Relationen in Natura termini fundiert ist, stehen aber unüberwindbare Schwierigkeiten gegenüber: Die Richtung der Relationen (Sense of a relation, Russell), die vorzüglich bei den asyimietri sehen Relationen abgehoben werden muß, läßt sich nicht auf die Prädikation reduzieren. Denn wenn a und b in der asymmetrischen Relation "größer als" stehen, dann muß die Theorie, die Relationen auf Eigenschaften reduzieren will, zwei Prädikate α, β annehmen, derart, daß α (β) eine Quantität als Eigenschaft von a (b) bedeutete. Nun müssen aber aufgrund der Asymmetrie α und β different sein. Diese Differenz läßt sich aber wiederum nur durch Ansetzen einer asymmetrischen Relation ausdrücken, so daß die Prädikation allein nicht ausreicht. Das Faktum der asymmetrischen Relationen ist also von der Substanzontologie her nicht aufklärbar. Damit sind wir erneut vor die Frage gestellt, welche Realität, wenn nicht die der Qualität, denn den Relationen zukommt. Weiter kommt man, wenn man mit Kant eine kopemikanisahe lationstheorie
Wende in der
Re-
vollzieht und sich nicht vom dem Nominalismus und der Sub-
stanzontologie gemeinsamen Grunddogma, daß die Relation von den allein realen substanzialen Termen abhängig sei, blenden läßt. Dieses Grunddogma, das also das Sein der Relationen gegenüber demjenigen der Substanzen mini-
Vorwort
VII
miert, spricht Thomas in dem Satze aus: r e l a t i o est esse minimum. Demgegenüber macht Kant geltend, daß die Natura termini aus bloßen Verhältnissen bestehe und daß eo ipso die Relate durch die Relationen erst k o n s t i t u i e r t werden. Die Relationen sind also gegenüber den Relaten das ontologisch Primäre. Sie sind unversell und finden ihren Ausdruck in den Funktionen des Verstandes,
die erst die objektive Gültigkeit der Relate (Erscheinun-
gen) fundieren. Damit hat Kant die substanzontologische und auch die nominal i s t i s c h e Lösung unterlaufen, welch letztere darin bestehen würde, daß die Relationen unvollständige Symbole sind, die nicht referieren. Deren philosophische Problematik i s t aber genau darin f o k u s s i e r t , daß s i e I n d i viduen (Variablenwerte) unhinterfragt voraussetzen muß. Die Transzendentalnach den Individuen (Erscheinungen), a l s durch Kategorien und Funktionen (Relationen) bestimmter, nachgeht.
Die vorliegende Arbeit lag 1979 der Philosophischen Fakultät der Univers i t ä t Zürich a l s Dissertation vor. Für die stete Förderung und Anregung in dieser Thematik bin ich meinem akademischen Lehrer, Prof. Dr. R.W. Meyer, zu großem Dank v e r p f l i c h t e t . Ebenso danke ich Frau L. W i I d i , Fällanden, für das E r s t e l l e n des Typoskripts. Zürich, im September 1980
Peter Schulthess
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
V
0. EINLEITUNG
1
1. DIE EXTENSIONALE LOGIK KANTS
11
1.1. Exposition des Begriffsfeldes
14
1.2. Kants Urtei1stheorie in der Nova Dilucidatio
21
1.2.1. Die individual-intensionale Urteilstheorie
21
1.2.2. Kant und die analytische Logik
25
1.3. Die Urteilstheorie in der Zeit 1762-64
34
1.3.1. Darstellung der Urteilstheorie
35
1.3.1.1. Zentrale Stellung des Urteils in der Logik
35
1.3.1.2. Exkurs zu Reimarus
39
1.3.1.3. Form des Urteils
45
1.3.1.4. Deutlichkeit und logisches Wesen
47
1.3.2. Intensionale Logik und das Modalitätenproblem
51
1.3.2.1. Exposition der These
52
1.3.2.2. Intensionale Logik und Modalität im EMBG
57
1.4. Das Urteil als Grund-Folge-Beziehung
60
1.4.1. Der Begriff des Respectus
61
1.4.2. Form und Modalität
63
1.4.3. Der Ursprung der Unterscheidung von analytischen und thetischen Urteilen 1.5. Die extensionale Logik Kants 1769/70
syn66 70
1.5.1. Logik und Ästhetik
71
1.5.2. Die extensionale Logik 1769 (Phase «)
78
1.5.3. Die extensionale Logik in der Dissertatio
86
1.6. Das kritische Logikverständnis Kants
91
1.6.1. Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds. vor Kant 91 1.6.2. Extension und Intension bei Kant 1771/72
103
1.6.3. Extension und Intension beim Kritischen Kant
108
X
Inhaltsverzeichnis 1.6.3.1. Kants und Lamberts Formbegriff
108
1.6.3.2. Der Begriff der Extension
112
1.6.3.3. Intension
117
2. DIE PROBLEMATIK DER RELATION
123
2.1. Historische Skizze des Relationsproblems 2.1.1. Altertum und Mittel al ter
126 126
2.1.2. Die Tradierung der leitenden Bestimmungen in die Neuzeit (Suarez)
131
2.1.3. Der Niederschlag der neuzeitlichen Relationstheorie in den Léxica 2.1.4. Die Relationstheorie im 18. Jahrhundert 2.1.4.1. Locke
135 138 139
2.1.4.2. Leibniz
140
2.1.4.3. Wolff
144
2.1.4.4. Crusius
149
2.1.4.5. Lambert
154
2.2. Die Relation in Kants Denken 1762-66
156
2.2.1. Das Wesen als Relationsgefiige
158
2.2.2. Logische versus reale oder symmetrische versus asymmetrische Relationen
164
2.2.3. Die analytische Uneinsehbarkeit der realen Relationen ...
169
2.2.4. Die Realität der Relationen 1762-66
176
2.3. Form und Ordnung 2.3.1. Form und Beziehen
180 182
2.3.2. Ordnung
189
2.3.3. Die Genesis der Kategorien aus den Realverhältnissen
203
2.4. Funktion 2.4.1. Geschichte des Funktionsbegriffs
217 219
2.4.1.1. Der philosophische Funktionsbegriff
219
2.4.1.2. Der mathematische Funktionsbegriff
224
2.4.1.3. Der Funktionsbegriff in Kants Entwicklung
231
2.4.2. Das erste Auftreten des mathematisch-philosophischen Funktionsbegriffs 1772-75
233
2.4.3. Die Funktionsarten
240
2.4.4. Exponent und Regel
247
Inhaltsverzeichnis 2.4.5. Funktion und Realität der Relationen 3. FUNKTION UND RELATION IN DER KRV 3.1. Extension und Funktion
XI 254 259 261
3.1.1. Begriff und Quantitas v a r i a b i l i s
262
3.1.2. Functio und Quantitas v a r i a b i l i s
265
3.1.3. Funktion und Urteilstafel
276
3.1.4. Der Zusammenhang von mathematischem und philosophischem Funktionsbegriff 3.2. Funktion und Synthesis
283 290
3.2.1. Kategorie und Synthesis
291
3.2.2. Die Realität der Relationen
299
3.3. Implikationen für die Konzeption der Dialektik
307
3.3.1. Transzendente Funktionen
308
3.3.2. Intensionale Logik und Dialektik
317
SIGLENVERZEICHNIS
323
AUSGEWÄHLTE LITERATUR
327
NAMENVERZEICHNIS
337
0. EINLEITUNG
Kants Philosophieren hebt an und endet mit der Reflexion auf die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften. Seine Erstlingsschrift greift in den von Leibniz entfachten Streit zwischen Mechanismus und Dynamismus ein durch den Versuch, dem beiden Tendenzen gemeinsamen Grundbegriffs der Kraft einen metaphysischen Begriff (GWS, § 1 ) zu geben. In der Tat sind denn auch im Umfeld des Kraft-Begriffes die wesentlichen metaphysischen Probleme fokussiert: die Probleme von Substanz, Relation, Quantität und Qualität. Die Kraft bestimmt als Intension (Qualität) eines Körpers (Substanz) die Relation, die sich quantitativ durch Distanz und Bewegung in einem System von Körpern
ausdrücken läßt. Entscheidende Voraus-
setzung dieser Begrifflichkeit ist die seit Descartes zende mechanistische
und Galilei einset-
Tendenz in der Analyse der Qualitäten
der
Phänomen-
welt: Descartes reduziert die phänomenalen Qualitäten auf Extensio, die durch seine Entdeckung der analytischen Geometrie als Quantität interpretiert wird. Veränderungen werden eo ipso als bloße Ortsveränderungen (Bewegung) bestimmt. Leibniz' Reduktion der Quantität auf Relationen
durch
vertiefte Analyse des einen methodischen Axioms des Mechanismus - daß nämlich die Sprache der Naturwissenschaft die Mathematik ist -,d.h. also durch seine Analyse der Mathematik als Relationstheorie, impliziert einen neuen Naturbegriff: die Natur ist ein bloßes Relationsgefüge , das durch Gesetze, nicht durch Essenzen geregelt ist. Diese kategorial analytische, reduktionistische Schrittfolge vollzieht nun Kant voll umfänglich. Die Natur als "Inbegriff der Erscheinungen" (B 163) hat Relationscharakter oder ist ein Relationsgefüge, weil die Erscheinungen selbst Inbegriffe von lauter Relationen sind: "Dagegen sind die inneren Bestimmungen einer substantia phaenomenon im Räume nichts als Verhältnisse und sie selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen" (B 321). Diese These zur Natur ist erkenntnistheoretisch motiviert, denn das Er-
2
Einleitung
kennender Materie ist bloß relative möglich, nicht aber absolute: "Was wir auch nur an der Materie kennen, sind lauter Verhältnisse" (B 341). Die rationalistische, ontologische Rede von internen Bestimmungen wird von Kant gemäß seinem Ausgangspunkt von Newtons Physik kategorialanalytisch aufgelöst: die inneren Bestimmungen sind wesentlich relativ, denn die Natur ist ein System von wechselwirkenden Kräften. Dieser mechanistisch-dynamische Ansatz bestimmt denn auch wesentlich Kants begriff:
Relations-
"Ebenso kann man die Verhältnisse der Dinge in abstracto, wenn
man es mit bloßen Begriffen anfängt, wohl nicht anders denken, als daß eines die Ursache von Bestimmungen in dem andern sei; denn das ist unser Verstandesbegriff von Verhältnissen selbst" (B 341 f.). Die realen Relationen werden von der physikalischen Grundkategorie der Kausalität, welche ein Relationsbegriff ist, her gedacht. Dieser kategorialanalytische Ansatz mit seiner Auszeichnung der für die Naturwissenschaften fundamentalen Kategorie der Relation hat zwei ihm immanente Schwierigkeiten: zum einen ist das Verhältnis von Substanz und Relation
problematisch, zum an-
dern stellt sich die alte ontologische Frage nach der Realität der- Relationen im neuen Licht als Frage nach dem Sein der Natur. Diese Schwierigkeiten bei Kant vom ontologisehen, logischen und noetischen Standpunkt zu betrachten, ist das Ziel dieser Arbeit. Die Arbeitshypothese dabei ist folgende: Kants kritisch-theoretisches Problematik antwortung
Philosophieren
entzündet sich an der
der Realität der Relationen, und seine KrV ist wesentlich der Frage: wie sind reale Relationen
Be-
möglich?
Im folgenden sollen Kants Thesen zu diesen Problemen systematisch erörtert werden, indem wir von der Substanzkritik ausgehen und ihre Implikationen für die Logik, Ontologie und Erkenntnistheorie der ein- und mehrstelligen Prädikate (Relationen) darstellen. Zunächst jedoch müssen wir die Position der Schulphilosophie kurz skizzieren, um Kants Ansatz abheben und ins rechte Licht stellen zu können. Die Substanz wird seit Aristoteles und allem voran wieder im Rationalismus - wo allerdings meist von "res" die Rede ist - als Träger von schaften angesprochen. Als Träger ist sie zugleich Fundament
und
EigenEinigendes
der ihr inhärierenden Qualitäten (als solches heißt sie Wesen, Unitas).
Einleitung
3
Dieser Substanzbegriff nun hat Konsequenzen für die ein- und mehrstelligen Prädikate, d.h. - ontologisch ausgedrückt - für die Detenni nati ones intrinsecae und extrinsecae (Relationes). Die Fundierung der Prädikate (Determi nati ones) in der Res hat zur Folge, daß die gesamte Logik an der Prädikation orientiert ist, und zwar an einer intensionalen, nach der der Subjektsbegriff der Grund ist und die Prädikate als Folgen nach dem Satz der Identität analytisch aus dem Subjekt gezogen werden. Für die Logik der Relationen bedeutet das, daß sie ganz von der prädikativen Struktur her aufgebaut ist. Eine solche Relationstheorie vermag nicht die Eigenständigkeit des Problems der Realität der Relationen auszuweisen; vielmehr basiert sie auf dem Axiom, daß alle Relationen intern sind, d.h. daß sie ontologisch in zwei Determinationen, die in den Wesen (Natura) der Relate fundiert sind, und logisch in zwei prädikative Sätze (z.B. aRb in: a ε Rb & b ε Ra) aufgelöst werden können. In Bradiey-Russellscher Terminologie kann man diese Theorie Theorie der Internalitat aller Relationen nennen. Der erkenntnistheoretische Rationalismus, der solche Logik und Ontologie diktiert, geht aus von der Isomorphie^ zwischen Begriff und Sache, Conceptus und Res. Der vorherrschende prädikative Logos verwandelt alle Erkenntnis in analytische Urteile. Diese kurz skizzierte ontologisch-logische und noetische Position 2 ist scheinbar unvereinbar mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild. Doch nun wollen wir systematisch auf die Kantische Kritik an dieser Position eingehen und anschließend aus diesem Hintergrund die Entwicklung von Kants theoretischer Philosophie charakterisieren. Kants Substanzkritik ist getragen von den empiristischen, erkenntnistheoretischen Ansätzen eines Locke und Crusius. Sie setzt ein mit der Trennung des Grundbegriffes des Rationalismus, des Possibile, in Formales und Materiales der Möglichkeit. Demzufolge unterscheidet Kant scharf zwischen logischem und realem Wesen, eine Unterscheidung, die diejenige von analytischen
1
2
Der Ausdruck "Isomorphie" ist adäquater als der häufig gebrauchte der "Identität" zwischen D e n k e n und Sein, da letzterer allzuleicht auf nicht intendierte idealistische Konsequenzen schließen läßt. Isomorphie besagt bloß Strukturgleichheit, nicht aber ontologisches Einssein. Wir sagen "scheinbar", weil es Leibniz, der zeit seines Lebens u m diese Einheit kämpfte, auf seine Weise gelungen sein mag, Substanzontologie und Naturwissenschaft zu vereinen.
4
Einleitung
und synthetischen Erkenntnissen nach sich zieht. Das rationalistische Essentiale wird zu einem bloß analytisch gedachten logischen Wesen, zum Komplex aller Merkmale, die man in einem Begriff denkt, die also nicht als in seiner bezeichneten Res seiend angesetzt sind; das Substantiale (reale Wesen) dagegen wird zum unerkennbaren Grund einer Sache. Es wird im Gefolge des naturwissenschaftlichen Ansatzes als Grund der Kraft gedacht, welche letztere aber nur an ihren Wirkungen (Bewegungsverhältnisse in einem System von Körpern)
erkannt werden kann. Diese Neutonsohe
These
verbindet Kant mit Lockes empiristischem Ansatz. Erkennbar sind also für uns nicht die substanzialen Relate, sondern bloß die Relationen zwischen empirisch Gegebenem. Kants Empirismus orientiert sich weniger an Locke als an zentralen methodologischen Prinzipien der modernen Naturwissenschaft. Nicht mehr das Was eines Körpers oder der Kraft ist zu erforschen, sondern bloß das K e des Gegebenseins
bzw. seines Beobachtetseins. Das naturwissenschaftliche
Erkennen zielt nicht auf das Wesen, sondern allein auf empirisch feststellbare Prädikate eines an sich (essentialiter) Unbestimmten. Daß wir die Kraft als die eigentliche Intension eines Substantiale nur an ihren Wirkungen erkennen können, bedeutet für den einfachen Aussagesatz über einen Körper, daß die Prädikate (Bewegungsakzidenzen) nun Erkenntnisgründe für das vorerst unbestimmt Gegebene sind, also für das Subjekt, das so für Kant zum Bestimmbaren = χ wird. Daraus resultiert das erkenntnistheoretische Pendant zur naturphilosophischen These - daß man die Kraft nur aus ihren Wirkungen kennt -, daß wir einen Gegenstand nur durch seine Prädikate erkennen.^ Diese erkenntnistheoretische, naturwissenschaftlich-methodologische Kritik an der traditionellen Substanzontologie hat nun logische und relationstheoretische Konsequenzen. Die logische Konsequenz
daraus ist, daß die Ab-
hängigkeitsverhältnisse einer Prädikation umgekehrt werden. Grund der Prädikation ist nicht mehr der Subjektsbegriff, sondern nunmehr der Prädikats-
3
Diese erkenntnistheoretische These vertritt auch Russell: "We experience qualities but not the subject in w h i c h they are supposed to inhere", B. Russell: A n inquiry into Meaning and truth, L o n d o n 1951, p. 98.
Einleitung
5
begriff. In der von F. Kaulbach eingeführten Terminologie könnte man vom Wandel der Subjektslogik zur Prädikatslogik sprechen (Kaulbach (1)). In der Prädikatslogik übernimmt das Prädikat die einende und begründende Funktion. Als Erkenntnismittel wird es zum Anteil des Verstandes an einer Erkenntnis schlechthin: zum Begriff. Der Begriff als Einheit, der also immer Prädikat ist, enthält das Gegebene, diskursiv zu Erkennende, unter sich, d.i. versammelt und ordnet es unter eine allgemeine, nicht singulare Einheit. Die logische Bedeutung dieser erkenntnistheoretischen These ist, daß die Logik extensional verstanden wird, was impliziert, daß die Prädikation zur extensionalen Subordination und der Begriff zur bloßen Repraesentatio communis, zur bloßen Extension wird. Wir haben bis jetzt ausschließlich von den Folgen der Substanzkritik für einstellige Prädikate gesprochen. Kant zieht nun dieselben Konsequenzen für mehrstellige, d.i. für Relationen. Die Relationen werden als bloß externe aufgefaßt, d.h. als Relationen in Raum und Zeit zwischen Erscheinungen, die aber als Relate nicht das Fundament der Relation sein können. Diese Befreiung des Relationsbegriffs aus der prädikativen Umklammerung läßt Kant unterscheiden zwischen logischen und realen Relationen, eine Unterscheidung, die in der Scholastik gängig war und vor allem von Crusius und Lambert erneuert wurde. Kant entdeckt zwischen den beiden einen formalen Unterschied: die einen nämlich (die logischen) sind,als bloß auf dem Satz der Identität beruhend, symmetrisch, die andern, die realen, sind asymmetrisch, da sie wesentlich auf dem Grund-Folge-Verhältnis zum einen, zum andern auf mathematischen Ordnungsrelationen beruhen. Die realen Relationen können nicht auf der Identität und analytischen Opposition beruhen, weil die logischen Relationen zur Beschreibung der physikalischen Phänomenwelt nicht ausreichen und weil die Relationen nicht in Natura termini fundiert sind, da die Relate, als bloße Erscheinungen, selbst des Fundamentes bedürfen. Kants These Uber die realen Relationen ist also, daß sie sämtlich extern sind, d.h. daß sie ihr Fundament nicht in den Relaten haben, sondern in der Vernunft. Aber nicht im Vergleichen, wie in den neuzeitlichen Ansätzen zur Relationstheorie behauptet wird, denn die empirische Kausalitätsrelation muß scharf von der logischen Notwendigkeit geschieden werden (Grund-FolgeVerhältnis ¿ Identität), sondern vielmehr in einer Ordnung, die die Vernunft
Einleitung
6
der Natur als dem Inbegriffe der Erscheinungen auferlegt. Damit aber erhebt sich mit aller Deutlichkeit die Frage nach der Realität bzw. Objektivität der Relationen, die nun nicht mehr in Substantia fundiert sein können. Diese Frage ist gleichsam schon die transzendentale Frage: wie ist Synthesis (Verbindung) a priori möglich? Was ermöglicht die objektive Gültigkeit gewisser Relationen, die ja nicht empirisch wahrnehmbar sind? Die transzendentale Frage ist also eine Frage nach der Realität der Relationen. Die Kantische Antwort geht vom physikalischen Naturbegriff aus: sie fundiert die Ordnung und Gesetzmäßigkeit
der Relationen, dadurch allein das
Wie eines Gegenstandes beschreibbar ist, in der Ordnung des Verstandes, der als Vermögen der Beziehung, des Referierens begriffen wird. "Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt" (A 125). Die Entdeckung der asymmetrischen realen Relationen legte den Begriff der Ordnung nahe (Ordnung = asymmetrische Relation). Denn eine Relation ist nicht einfach eine Menge von Paaren, sondern eben von geordneten Paaren. Die Relate, wenn sie nach einem Gesetz referiert sein sollen, verlangen eine Zuordnung. Diese Zuordnung dachte Kant im Begriff der Funktion, die Einheiten der Handlungen des Stellenanweisens in der Ordnung des Verstandes sind, einer Ordnung, die durch Urteilsarten vorgezeichnet ist. Das "Zwischen" der Relationen wird also durch die Mens geregelt, aber nicht durch die Mens comparans, sondern durch die Funktionen des Verstandes. Was aber folgt daraus für die Thematik der Realität, d.i. objektiven Gültigkeit der Relationen? Kants Frage nach den synthetischen Urteilen a priori ist die Frage nach der Realität konstituierenden, d.i. reale Relationen konstituierenden - also im mechanistisch-dynamischen Ansatz Natur konstituierenden - Synthesis. Diese wird fundiert in den Funktionen des Verstandes. Die Auflösung der Erscheinungen in Relationsgefüge verändert die Problematik der Realität der Relationen, insofern die Fundierung zu Phaenomena bene fundata nicht mehr in den Relaten geschieht, sondern vielmehr umgekehrt die Relate in den Relationen fundiert sind. Die Relationen selber haben ihr Fundament in den Funktionen des Verstandes und letztlich in der
Einleitung
7
ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption. Damit vollzieht Kant eine kopernikanische
Wende in der Relations the orí-e,
die der kopernikanischen Wende bezüglich Erkenntnis und Gegenstand vorgeordnet ist: erst jetzt wird es sinnvoll, die Gegenstände der Erscheinung, die ja bloß als Relate bestimmt werden können, als konstituierte anzusehen, nämlich konstituierte durch die Relation bzw. eben Funktion. Die kategoriale Konstitution der Gegenstände verlangt in diesem Ansatz eine Erklärung: Kant bestimmt die Kategorien als Argumenthereiahe
der Funktionen,
denn sie
regeln und bestimmen, was als mögliches Argument der Funktion, d.h. als Gegenstand zugelassen wird. Die Kategorien, als in Ansehung der Funktionen bestimmte, bestimmen also ihrerseits die Gegenstände. Damit ist also die kopernikanische Wende in einer tieferliegenden relationstheoretischen gegründet, die nämlich die Relate als in den Relationen bzw. Funktionen fundiert und nicht substanz-ontologisch die Relationen in Relaten (Substanzen). Gleichzeitig erhellt auch der entscheidende Punkt für die Frage nach der objektiven Gültigkeit der realen Relationen: sie sind objektiv gültig, weil sie die Objekte als Objekte überhaupt erst bestimmen, dadurch nämlich, daß sie Anwendungsfälle von Funktionen werden. Wir haben nun die ontologisch-noetisehen Thesen der Kantischen Relationstheorie aufgezeigt und wollen nun noch kurz auf die Implikationen für die Konzeption der formalen Logik eingehen. Die transzendentale untersucht
die Grundlagen
Logik, als Logik
der Relationen
bzw. Funktionen,
extensionalen.
Wir wollen diese These anhand der relationstheoretischen
der
formalen,
Grundbegriffe der Funktion und Kategorie kurz exponieren. Kants erkenntnistheoretische Einsicht, daß
wir die Gegenstände nur durch Prädikate erken-
nen, impliziert einerseits eine extensionale Konzeption der Logik, andererseits wird jeder Begriff Prädikat eines möglichen Urteils, ist also nur sinnvoll im Kontext eines Urteils. Der logischen Priorität des Urteils vor dem Begriff - diese Priorität sprengt das Aufbaumuster der klassischen Logik: Begriff, Urteil, Schluß - entspricht eine Priorität des Erkennens durch Funktionen vor dem Erkennen durch Begriffe. Der Begriff, logisch als Extension betrachtet, wird also fundiert in einer Funktion,
die das Gebrauchma-
chen von Begriffen regelt. Die rationalistische Einheit des Begriffs wird wie diejenige der Substanz aufgelöst in zugrundeliegende Relationen (Funktionen), die Sinnlichkeit (Argumente) und Verstand (Funktionen) vermitteln.
Einleitung
8
Dieser transzendentale Gedanke einer Funktion, die einem Begriff seine Extension bestimmt und die ungesättigt ist, entspricht genau dem von Frege und Russell in die Logik eingeführten. Kant übernimmt diesen Begriff von dem in der Mathematik geläufigen Begriff der mathematischen Funktion, der bei Euler 1748 zum Grundbegriff der Analysis avanciert, und macht ihn seinerseits zum Grundbegriff seiner transzendentalen Analysis. Diese Übertragung eines mathematischen Begriffs auf die Philosophie revolutionierte schon 1762 Kants Philosophie (NG), genau so wie sie ihm 1773 das Problem der transzendentalen Deduktion zu lösen ermöglicht. Die Bedeutung der mathematischen Begriffe für die Philosophie hat natürlich ihren Grund in der Absicht Kants, die transzendentalen Bedingungen der mathematischen Naturwissenschaft ausfindig zu machen. Eng mit dem Begriff der Funktion, die in transzendentaler Reflexion als Einheit der Handlung des Verstandes gedeutet wird, ist derjenige der Kategorie verknüpft. Die Kategorie, die den Anwendungsbereich der Funktionen regelt, ist extensional betrachtet ein Begriff von einem Gegenstand überhaupt, regelt also die Individueribereiohe der extensionalen Logik. Intensional betrachtet dagegen ist sie einfaches Inhaltselement der Begriffe, die immer Begriffe von Gegenständen sind. So verstanden, wird denn die transzendentale Logik Logik des transzendentalen Inhalts, also Fundament jeder intensionalen Logik. Daß als Grundbegriff der transzendentalen Logik die Funktion fungiert, zeigt sich auch darin, daß der Funktionsbegriff allein die Brücke zwischen transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik bildet: die Funktionen, auf denen die Synthesen des Verstandes beruhen, können unendlich iteriert werden, d.h. mathematisch betrachtet können sie zu transzendenten Funktionsausdrücken gemacht werden, die die Dialektik untersucht. Dem funktionalen überschritt zum unendlichen Funktionsausdruck entspricht der Oberschritt von der Kategorie auf die transzendente Idee, die sich - gemäß dem intensionalen Ansatz der transzendentalen Logik - als intensionale Interpretation des transzendenten Funktionsausdruckes ansetzen läßt. Diese Interpretation der transzendentalen Logik als einer intensionalen, vom Begriff der Funktion her aufgebauten, die die extensionale formale Logik begründet, ist unseres Erachtens die einzige, die einen Zusammenhang von Analytik und Dialektik auszuweisen vermag.
9
Einleitung Wir haben nun versucht, Kants Lösung des durch die Naturwissenschaft gestellten kategorialanalytischei. .'roblems des Verhältnisses von Substanz
und Relation mit seinen ontologischen, logischen und noetischen Implikationen systematisch zu skizzieren, und wollen nun noch die Hauptresultate für die Entwicklungsgeschichte
Kants kurz zusammenfassen.
Die Entwicklung zur kritischen Position in Kants Denken vollzieht sich am Leitfaden der Frage nach der Realität der Relationen. Die transzendentale Frage (wie sind Synthesen a priori, d.h. mit Realitätsanspruch möglich) leitet seit 1762 Kants Denken und ist die eigentlich relationstheoretische Frage nach dem Zwischensein
(Synthesis) der
Relationen.
1762 stellt sie Kant in der Form: Wie ist es zu verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes ist? Die Lösung dieser Frage führt ihn über zwei Etappen: Zunächst versucht er, dieses "Zwischen" als Form der Vernunft und Sinnlichkeit
zu fassen (bis 1772). Damit handelt er sich das Problem der
transzendentalen
Deduktion ein, mit dem Vorteil allerdings, daß er nun die
Frage nach der Realität der Relationen adäquat stellen kann. Die Form, die das "Zwischen" auszeichnet, wird zur Funktion, die eine Verstandeshandlung ist, welche die realen Relationen gesetzlich (a priori) fundiert und zugleich die Gegenstände überhaupt durch den Argumentbereich der Funktionen bestimmt (1773-75). Damit hat der den kritischen Grundgedanken, der ein Gedanke zur Realität der Relationen ist, gefaßt und braucht bloß noch die KrV detailliert auszuarbeiten. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten soll zu zeigen versucht werden, daß Kants kritische Logik wesentlich extensionale
ist und daß sie
entwicklungsgeschichtlich aus einer Trennung von Logik und Ontologie resultiert. Die Auseinandersetzung mit der Logik geschieht bei Kant im Kontext der Substanzkritik und der Kritik an der rationalen Erkenntnis, einer Kritik, die die rationalistische Einheit von Logik und Ontologie sprengt. Seine transzendental logischen Überlegungen führen ihn auf eine extensionale formale Logik. Auch noch in der KrV ist die transzendentale Logik wesentlich in Abhebung und in grundlegendem Bezug zur formalen konzipiert. Im zweiten Teil versuchen wir, das Problem der Realität der Relationen historisch und systematisch zu exponieren, um es hernach als fundamentale Thematik in der Entwicklung von Kants theoretischer Philosophie nachzuwei-
10 sen.
Einleitung Der dritte Teil untersucht die Lösung des Problems in der KrV.
Gleichzeitig wird die transzendentale Logik (Analytik und Dialektik) als Logik der Funktionen aufgewiesen und als Grundlagenreflexion auf die formale Logik ausgezeichnet.
1. DIE EXTENSIONALE LOGIK KANTS
Ziel dieses Teiles ist es, Kants vielzitiertes Diktum, daß die Logik seit Aristoteles keinen Schritt vorwärts und rückwärts getan h a b e \ zu widerlegen: einen großen Schritt vorwärts hat Kant selbst in seiner logischen Reflexion getan. Dieser Fortschritt hat sich in drei Stufen
vollzo-
gen: Kant verläßt 1762 bis 64 den Boden der individual-intensionalen Logik Wolffs (1.1.), die er selbst zur Zeit der Nova Dilucidatio (1755) vertrat (1.2.). Er befreit die Logik von ihren ontologischen Prinzipien und bildet eine rein intensionale
Logik aus. Diese Reinigung kann nur im Hinblick
auf eine Loslösung vom Rationalismus geschehen (1.3.), welche sich auch durch das Auftreten der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen (1764-66) anzeigt, einer Unterscheidung, die unter dem Titel der analytischen Urteile die rationalistische Metaphysik zu verorten und unter dem Titel der synthetischen Urteile das Problem einer empiristischen Ontologie zu lösen versucht (1.4.). Die Wendung zum Kritizismus, die sich in den Jahren 1768-70 am Problem der Abgrenzung von Cognitio sensual is und intellectualis manifestiert, hat für die Logik zur Folge, daß sie als rein extensionale Logik,
begriffen wird (1.5.). Der kritische
Begriff der
formalen
die immer im Zusammenhang mit der transzendentalen zu sehen ist,
vertieft mit einem geläuterten Begriff der Extension und Subordination das extensionale Urteilsverständnis (1.6.). Kant bereitet durch das extensionale Verständnis der Logik ein neues Fundament, und zwar auf mehrfache Weise. Er hat nicht nur fUr eine logik Fundamente gelegt, sondern auch die Prädikatenlogik 1
Klassen-
mit deren Grund-
"Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus ersehen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen ... Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können ..." (KrV, Β VIII). Dieses historische Urteil hat in bemerkenswerter Analogie A.F. Bök 1766 in der Edition der Ploucquetschen Logik vorweggenommen: "Die Geschichte der Logik hat seit dem Aristoteles keine recht große und merkwürdige Epoche gehabt, welche dem Verstand zu einem geschwinden und sicheren Fortgang (u.v.V.) im Reiche der Wahrheit einen neuen und bequemen Weg geöffnet hätte", Ploucquet (2), S. XXI.
12
Die extensionale Logik Kants
begriff der Funktion (3.1.) begründet. Ebenso wies er explizit auf den Unterschied von Aussagen- und Prädikaten- (bzw. Klassen-)logik hin, indem er die Relationsurteile auszeichnete: das kategorische wird mit Hilfe des Konditionals gedeutet, das hypothetische hat die Struktur der aussagenlogischen Implikation und das disjunktive ist ein Spezialfall der aussagenlogischen Disjunktion. Von Kants Beitrag zur Relationslogik werden wir 2 in den Teilen 2 und 3 sprechen. Auch mit seinem Begriff der formalen Logik hat Kant Bleibendes geschaffen. Seine 3 Bedeutung für die mathematische Logik wird erst heute langsam erkannt,
das hängt damit zusammen, daß Kant
die logische Schultradition bis ins 20.4 Jahrhundert (bis zu den Neukantianern) geprägt hat. Diese Kantrezeption jedoch, die sich leider vorwiegend 5 auf die Jäsche-Logik stützte,
welche die Kantischen Reflexionen zur Logik
vollkommen verdreht und das bahnbrechend Neue an ihr verkennt, kanonisierte Kants logische Reflexionen und ließ sie im traditionellen Gewand erstarren.
2
3
4
5
Diesen Begriff findet man nur einmal bei Kant: "Da gedachte, bloß formale Logik ..." (B 170). Doch ist er als gültiger angezeigt durch den häufigen Verweis auf die "logische Form der Erkenntnisse" (B 79) und auf die "formalen Regeln alles Denkens" (Β VIII). Peirce war wahrscheinlich der erste, der Kants Bedeutung für die moderne Logik erkannte: "Immanuel Kant ... had great power as a logician ... That opinion did not prevent his introducing a number of ideas which have indirectly more than directly affected the traditional logic" (Collected Papers, Cambridge 1933, Vol. IV, p. 26). Vgl. auch Menzel (1) und Menzel (2). Der Ruhm des Logikers Kant setzte schon früh ein: Der Rezensent von Lamberts Neuem Organon schrieb in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (Bd. 3, 1766, S. 13): "und erst letzthin (hat) ein Schriftsteller von Verdienst eine eigene Abhandlung geschrieben, um ihre Entbehrlichkeit (seil, die der 2.-4. syllogistisehen Figuren) zu beweisen." Vgl. weiter Kiesewetters Logik (Berlin 1797), die ohne Kant undenkbar wäre, Wenzels Kommentar zur Jäsche-Logik (Canonic des Verstandes und der Vernunft. Ein Commentar über I. Kants Logik, Wien 1801), Trendelenburgs Logische Untersuchungen (Berlin ^1870) und etwa Paul Natorps Logik, Marburg 1910. Wir werden im Folgenden nicht auf die Jäsche-Logik eintreten, da sie uns völlig unbrauchbar scheint. Zudem sind wir heute durch die Bände XVI und XXIV der Akademie-Ausgabe in der glücklichen Lage, über Jäsches Vorlage zu seiner Logik-Ausgabe zu verfügen. Bei G.E. Schulze (Grundsätze der allgemeinen Logik, Göttingen 1822) war die Einsicht in die Unbrauchbarkeit der Jäsche-Logik schon da: "denn was als dessen Logik herausgegeben worden ist, würde dieser systematische Kopf, als er noch nicht durch das Alter geschwächt war, gewiß Bedenken getragen haben, in der gegenwärtigen Gestalt dem Publicum mitzutheilen" (S. XIII). Dieses Urteil Schulzes hat in der Folgezeit leider kaum Früchte getragen
Die extensionale Logik Kants
13
Die These, daß Kant in der Logik in den Jahren 1755-81 eine weittragende Entwicklung vollzog, scheint denn auch wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, daß er seinen Begriff der transzendentalen Logik wesentlich aus der Abgrenzung von der formalen gewann und damit gezwungen war, die Bedeutung und die Grundlagen der formalen zu klären. Der 1. Teil dieser Arbeit versucht, diese Entwicklung mit Hilfe logischer Bestimmungen aus dem Umfeld der Unterscheidung von extensionaler und intensionaler Logik darzustellen. Die Theorie der extensionalen und der intensionalen Logik wird heute viel diskutiert (man denke etwa an Carnap), und zwar sicher deshalb, weil sie eine Nahtstelle zwischen Logik und Ontologie betrifft. Dies am Beispiel Kants zu zeigen, ist ein weiteres Ziel dieser Untersuchung.
1.1. Exposition des Begriffsfeldes
Die Unterscheidung von Extension und Intension ist so alt wie die Logik. Der Sinn dieser Termini und die Relevanz für logische und ontologische Fragestellungen ist dabei in der Literatur oft unklar, verschwommen und 2 irreführend.
Wir hoffen, in dieser Arbeit mehr Licht vor allem in die on-
tologische Bedeutung dieser Unterscheidung zu bringen. In der klassischen Logik wird die fragliche Differenz als Unterscheidung von Begriffsumfang und Begriffsinhalt thematisch. Frege nimmt die Diskussion wieder auf anhand seiner Terme "Sinn" und "Bedeutung" und weitet den Umfang von Intension und Extension aus auf Sätze oder Ausdrücke schlechthin, so daß sie also im semi otischen Rahmen nicht so sehr mit den Begriffen, als vielmehr mit den Zeichen verbunden werden. Wenn auch die Unterscheidung von Intension und Extension alt ist, so ist doch der Prioritätsstreit
um eine intensionale oder extensionale Logik
neueren Datums. Nach Leibniz' mehr oder weniger eindeutiger Festlegung auf eine intensionale Logik, die durch das Programm einer Characteristica universalis motiviert ist, traten im 18. Jhd. zunehmend die Forderungen nach 3 einer extensionalen Logik in den Vordergrund.
Die moderne Diskussion setzt
ein mit der pointierten Stellungnahme Couturats, der im Zuge der mengen1
2
3
Vgl. etwa Chr. Thiel: Die Quantität des Inhalts. Zu Leibniz 1 Erfassung des Intensionsbegriffs durch Kalküle und Diagramme, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 8: Die intensionale Logik bei Leibniz und in der Gegenwart, Wiesbaden 1979, S. 11. Vgl. U. Saarnio: Ueber den Begriff des Intensionalen in der Logik, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 37 (1949), S. 28: "Diese Entwicklung hat sicher viel dazu beigetragen, daß das Begriffspaar der Exfînsionalitât und der Intensionalität zusammengebracht und bisweilen sogar vermengt worden ist mit den Gegensätzen vom durch Figuren Darstellbaren und durch Figuren Nicht-Darstellbaren, von formal Ausdrückbaren und nicht formal Ausdrückbaren, von Zeichen und Bedeutung (bzw. Sinn), von der Möglichkeit und Unmöglichkeit der kalkulatorischen Operationen." Zu nennen wäre etwa Holland. Vgl. dessen Position in der Diskussion zwischen Lambert, Ploucquet und ihm über die geometrische Darstellbarkeit der logischen Relationen, in: Ploucquet (2).
Exposition des Begriffsfeldes
15
theoretischen Grundlegung der Mathematik die Priorität der extensionalen 4 mathematischen Logik verficht.
Nicht nur die mathematische Gestalt der
formalen Logik spricht für eine Beschränkung auf Extensionen als Gegenstand der Logik, sondern auch ökonomische Gründe sprechen dafür. So moniert z.B. Quine, daß Intensionen mehr individuieren und also5 weniger geeignet sind zu einer möglichst ökonomischen formalen Sprache.
Das Oekonomie-Kriterium
wird zudem von einem Standpunkt im Rahmen des Universal ienproblems erhoben, in welchen Rahmen denn unseres Erachtens auch der ganze Streit gehört. Die nominal istische Position verlangt gemäß Ockhams Rasiermesser eine Reduktion der Intensionen als überflüssiger Entitäten auf Extensionen. So vertritt beispielsweise Carnap die Extensionalitätsthese, die besagt, daß alle Propositionen, die in nicht-extensionaler Sprache ausgedrückt sind, in einer logisch äquivalenten Form in extensionaler Sprache ausgedrückt werden können.® Insbesondere gilt dies auch für Identitäten, die durch Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in intensionale und extensionale unterschieden wurden. Die Extensionalitätsthesen fordern also einerseits Reduktion des Gegenstandes der Logik auf Extensionen, andererseits Aufbau einer extensionalen logischen Sprache und schließlich Ausschaltung aller intensionalen Identität in der Logik.^ Als weiterer Entscheidungsgrund kommt noch dazu, daß
4
"Quoi qu'il en soit, il (seil. Leibniz) a été constamment tiraillé entre deux tendances contraires: l'une, provenant de la tradition, qui le portait à considérer surtout les rapports de compréhension; l'autre, plus conforme à son esprit mathématique, qui l'amenait parfois à préférer la considération de l'extension. Or celle-ci est la seule qui permette de soumettre la logique au traitement m a t h é m a tique ...", Couturat, La logique de Leibniz, Paris 1901, p. 32.
5
"There are good reasons for being discontent with an analysis that leaves us w i t h propositions, attributes and the rest of the intensions. Intensions are less economical than extensions, (truth v a lues, classes, relations), in that they are more narrowly individuated." Quine, Quantifiers and propositional Attributes, in: The Journal of Philosophy 53, 1956, p. 184. "I have the impression that so far nobody has actually refuted the assumption, sometimes called 'thesis of extensionality', which says that every proposition expressible in a non-extensional language is also expressible in a suitable extensional language." Carnap, in: The Philosophy of Rudolf Carnap, ed. Schilpp, Illinois 1963, p. 950 f. Zur Diskussion dieser Extensionalitätsthesen vgl. Weingartner (1), S. 127 ff. Weingartner hält den Extensionalitätsthesen entgegen:
6
7
16
Die extensionale Logik Kants
intensionale Sprachen leicht antinomisch werden, was Kant wohl als erster sah (vgl. 3.3.2.)· Versucht man nun, das Gemeinsame in den Extensionalitätsthesen festzuhalten, so scheint sich dazu der nominal isti sehe Standpunkt aller Postulanten anzubieten, so daß also das Problem, ob die Logik intensional oder exo tensional sei, letztlich ein ontologisches wäre. Dieser ontologische Grundzug des Problems wird in der folgenden Untersuchung Kants sehr deutlich zu Tage treten. Es sollen nun einige begriffliche Festsetzungen getroffen werden, die in der Untersuchung immer wieder auftauchen. Dabei beschränken wir uns auf die Differenz von Extension und Intension von Begriffen, was für die Erörterung der Kantischen Logik auch angemessen erscheint. Zwei Arten der Extension können voneinander unterschieden werden: die extensionale und die intensionale. Die extensionale Extension ist die Menge aller Dinge, die unter einen Begriff fallen, d.h. unter ihm enthalten sind. Die intensionale Extensión ist die Menge aller Begriffe, die unter einem Begriff enthalten sind. Die extensionale Relation in einem Urteil ist die Subordination·, χ enthalten unter y. Mit dem Auseinanderfallen des Extensionsbegriffes in extensionale und intensionale Extension gibt es folglich auch zwei Arten der Subordination: die extensionale und die intensionale. Es sollen nun folgende Definitionen gegeben werden: (Die Dingvariablen werden mit Kleinbuchstaben, die Begriffsvariablen mit Großbuchstaben notiert) Extensionale Extension (eP :
eE(B): = {χ/ χ ist Ding & Χ ε Β}
wobei χ ε Β : = χ extensional subordiniert unter Β Intensionale Extension (iE):
iE(B): = {Χ/ Χ ε: Β}
wobei Χ ε: Β : = Χ intensional subordiniert unter Β
8
"Da sich also g e g e n alle ... Formen der Extensionalitätsthese b e rechtigte Einwände und Gegenbeispiele erbringen lassen, ist die ... erschlossene Konklusion (seil. Also soll sich die Logik nicht mit Intensionen befassen) ... nicht bewiesen" (ib. S. 140). Zur modallogischen Komponente vgl. 1.3.2.
Exposition des Begriffsfeldes
17
Die Relationen ε und ε: sind also Arten der Subordination. Intension eines Begriffes
(Int):
Int(B) : = {Χ/ X 5 B}
wobei X 5 Β : = X enthalten in Β oder etwa: X ist ein Merkmal von B. ">*heißt
auch Inklusion.
Extensionale und intensionale Subordination und Inklusion sind Ordnungsrelationen. Eine extensionale
Logik ist eine Logik, der die Relationen "enthalten un-
ter" (ε und ε:) als Urteilsrelationen zugrundeliegen. Eine intensionale
Logik ist eine Logik, der die Relation "enthalten in"
(>) zugrundeliegt. Das Reziprozitätsgesetz,
das das umgekehrte Verhältnis von Extension und
Intension ausdrückt, kann folgendermassen formalisiert werden: Β ? A genau dann, wenn Α ε: Β genau dann, wenn gilt: für alle a: aeB Im wesentlichen besagt es, daß
die Inklusion (enthalten in) und die Sub-
ordination (enthalten unter) inverse Relationen sind. In der klassischen Formulierung lautet es etwa: Je größer
die extensionale Extension ist,
desto kleiner ist die Intension. Kant formuliert es so: "Je größer
der Umfang eines Begriffes ist, desto
kleiner ist sein Inhalt, d.i. desto weniger enthält er in sich" (Wiener Logik, S. 911). 9 Die Gültigkeit des Reziprozitätsgesetzes setzt voraus, daß keine widersprüchlichen Begriffe im intensionalen Falle zugelassen werden, denn widersprüchliche Begriffe hätten notwendig
keine Intension. Hingegen kann man
sich im extensionalen Falle sehr wohl zufällig
leere Begriffe denken, die
nicht widersprüchlich sind. Daran sieht man, daß das Reziprozitätsgesetz eine ontologische Voraussetzung macht: Der Bereich von Begriffen, in dem es gilt, setzt sich nur aus Begriffen von wirklichen Dingen zusammen. Will man aber im intensionalen Falle auch bloß
mögliche Begriffe zulassen,
dann muß man fiktive Elemente in den Bereich der extensionalen Logik mit aufnehmen: So ist z.B. Kentaur ein fiktives Element, das intensional mög9
Kant war wohl einer der ersten, der diesem Gesetz eine gewisse Popularität verschaffte (vgl. Jäsche-Logik, § 7). Peiroe bezeichnet es sogar als "Kants law" (Coli. Pap. II, 246). Das Gesetz ist aber selbst alt, schon Porphyr kannte es.
Die extensionale Logik Kants
18
lieh, d.i. widerspruchsfrei ist, aber im extensionalen Falle leer ist. Diese ontologische Problematik der Gültigkeit des Reziprozitätsgesetzes kann hier nur angetönt werden; an gegebener Stelle werden wir wieder darauf zurückkommen. Eine Modifikation der intensionalen Logik ist die Wolffsche. Sie ist ontologische Logik, denn sie behauptet eine Uebereinstimmung der ontologischen inesse-Relation mit der logischen enthalten-in-Relation. Dieser Typus der intensionalen Logik wird hier individual-intensionale Logik genannt. Um zu zeigen, was eine individual-intensionale Logik ist, soll im folgenden eine kurze Exposition der Wolffschen Logik vorausgeschickt werden; danach werden die Kriterien der individual-intensionalen Logik namhaft gemacht. Wolff definiert das Urteil im § 39 seiner lateinischen Logik: "Atque actus iste mentis, quo aliquid a re quadam diversum eidem tribuimus vel ab ea removemus, judicium appellatur." Das Urteil ist gattungsmäßig ein actus mentis. Diese Bestimmung ist eine 10 Anleihe aus der Psychologie, wie überhaupt das ganze erste Kapitel (De tribus mentis operationibus in genere) aus der Logik, in dem diese Definition gegeben wird. Ferner ist Judicium judicium de re quadam, wobei res hier nicht Notio, nicht Terminus, sondern ein Seiendes meint: "Subjectum enim est terminus, quo indicatur res, de qua judicium fertur" (Wolff, LL. § 240). Ein Urteil ist nicht Urteil über den Subjektsbegriff, sondern über die vom Subjektsbegriff bezeichnete Sache. Dabei ist die inesse-Relation nicht unterschieden von der ontologisehen inesse-Relation:
"Si ad ea atten-
dimus, quae rebus insunt, alia constantia deprehendimus, quae tamdiu insunt, quamdiu speciem ac genus non mutant; alia vero mutabilia, quae salvis specie ac genere entis mutantur" (ib. § 60). Das Prädikat oder "aliquid a quadam re diversum" bezeichnet "illud quod subjecto inest" ist ein "intrinsecum rei", d.h. ein Merkmal der Sache. "Notas appello rebus intrinseca, unde agnoscuntur & a se invicem discernuntur" (ib. § 79). Der Prädikatsbegriff bezeichnet also ein Merkmal einer Sache. So wird das logische Urteil bloße Indikation der ontologisch an der res, de qua judicium fertur, 10
"Patet itaque ad demonstrationes regularum Logicae petenda esse principia ex Ontologia" u n d "Patet igitur porro, quod ad demonstrationes Logicae petenda sint ex Pschologia principia" (Wolff, LL. § 89).
Exposition des Begriffsfeldes
19
bestehenden Strukturen. Man kann also sagen: praedicatum inest subjecto ist eine bloße Indikation (oder wie es im § 199 der LL heißt: Significatio) der ontologischen inesse-Relation. Daraus ist ersichtlich, daß
für Wolffs
Urteilslehre das scholastische Diktum gilt: "Modus praedicandi sequi modum essendi" (ib. § 219). Die Logik ist so bloße Darstellung der am Seienden vorfindlichen ontologischen Strukturen. Deshalb kann man Wolffs Logik als eine ontologischintensionale betiteln. Intensional ist sie deshalb, weil die Begriffe als strukturanalog zur Res angesetzt werden: sie sind Merkmal skomplexe. Gemäss dem obigen scholastischen Diktum werden die Merkmale und Prädikate in Essentialia, Attributa, Modi und Relationes eingeteilt. Dies ist der Grund, warum die Wesenslehre in der Ontologie und in der Logik abgehandelt wird (LL §§ 59 ff., Ontologie §§ 143 ff.). Der ontologische Charakter dieser Urteilslehre wird noch dadurch verstärkt, daß das Urteil nur von
Qualität
her definiert wird, die Quantität aber nicht erwähnt ist. Eigentlich werden also nur judicia indefinita^
definiert.
Es bleibt noch zu zeigen, weshalb die Wolffsche Logik
individual-inten-
sionale genannt wird. Grundbegriffe der Logik sind die einzelnen Begriffe (Conceptus singulares). Also sind Grundurteile die singulären. wird verständlich aufgrund des Wolff sehen "prinaipium
Diese These
analytiaum".
Im § 34
der Ontologie wird gezeigt, daß man alle Arten von Widersprüchen auf Widersprüche zwischen singulären Urteilen zurückführen kann. In diesem Zusammenhang heißt es in der Anmerkung: "Notandum hic est prineipium analyticum, quod non exigui usus genus & speciem in sua individua resolvit, ex quibus veluti totum quoddam ex partibus componitur." Das Ganze - man kann es auf allgemeine oder partikuläre Begriffe oder Urteile beziehen - ist also zusammengesetzt aus singulären Begriffen (oder Urteilen), d.h. es beruht auf ihnen. So meint "componere" zugleich "deducere", denn als Randtitel zum Paragraphen 34 schreibt Wolff: "Contradictio universalium et 12 particularism ex contradictione singularium dedueta." Der quantitative 11
12
"Propositio vero indefinita appellator, cujus subjectum est terminus communis sive absolute positus, sive cum certa determinatione, sed absque signo quantitatis" (Wolff, LL § 244). Ganz deutlich wird die Deduktion der universellen Propositionen aus singulären im § 35 der Ontologie: "Ponamus vi prineipii analytic!
Die extensionale Logik Kants
20
Aspekt ist also für das Wesen des Urteils sekundär, d.h. deduzierbar aus einem singulären - als indefinit verstandenen - Urteil. Diese Tendenz zeigt sich auch bei der Bestimmung des universellen Urteils: "Judicium sale
est,
univer-
cujus subjectum est notio communis, species nempe vel genus,
praedicatum autem convenit singulis speciei individuis, vel generis speciebus harumque individuis" (Wolff, LL § 242). Auch hier wird die SubjektPrädikat-Struktur in einem universellen Urteil im Modus praedicandi: Individuum - nota fundiert. Damit erklärt sich auch das Beiwort "individual" in der Titelbezeichnung "individual-intensionale Logik": Ihre fundierenden Begriffe sind also Conceptus singulares, die fundierende Urteilsrelation ist die ontologische inesse-Relation zwischen einer Nota rei und einer Res. Als Wesensbestimmungen der individual-intensionalen Logik seien festgehalten: (1) Begriffe sind Merkmal s komplexe und, qua fundierende, einzelne Begriffe, d.h. Begriffe von Individuen. (2) Urteile sind immer Urteile de re quadam. Die fundierende Urteilsrelation ist die logische inesse-Relation, die aber nur Ausdruck ist der ontologischen zwischen Res und Nota. Metaphysische Voraussetzung dieser Logik ist die Isomorphie
zwischen
logischen
und
ontologischen
Strukturen.
... omne A constare ex C, D, E, F. Propositiones adeo universales Omne A est Β et Nullum A est Β, ubi una earuin veluti Ornne A est Β vera, aequivalent hisce singularibus simul sumtis, C est B, D est Βy E est B, F est B, & C non est Β, D non est Β, E non est Β, F non est B." Dieses analytische Verfahren verwendet Wolff auch in der Logik, so z.B. in den Paragraphen 294 f., 308 f. In diesem Sinne muß man wohl auch das "idem" als Singulum in der Formulierung des Satzes vom Widerspruch verstehen: "Fieri non potest, ut idem simul sit & non sit" (Wolff, Ontologie, § 28).
1.2. Kants Urteilstheorie in der Nova Di luci dati o
Es gilt zunächst, den ersten Aspekt der Gesamtthese des ersten Teils (1.) zu begründen, daß nämlich Kants Logikverständnis Jahre sieh gänzlich an demjenigen
in der Mitte der 50er
Wolffs orientiert.
In 1.2.1. wird sich
zeigen, daß Kants Urteilstheorie eine individual-intensionale ist und daß zudem Kant auch in der Begriffs- und Beweistheorie auf Wölfischem Boden steht. 1.2.2. bringt eine Auseinandersetzung mit der These Gottfried Martins^ 2 und seines Schülers W. Lenders, die besagt, daß der vorkritische Kant eine analytische Logik vertreten habe, welche auf Leibniz zurückgehe und alle Abweichungen Wolffs, speziell in der Begriffs- und Urteil stheorie wieder annulliere. Analytische Logik faßt nach G. Martin analytische Begriffs-, Urteils- und Beweistheorie in sich.
1.2.1. Die individual-intensionale Urteilstheorie
Von den drei Teilen der prinzipientheoretischen Schrift ND ist für unsere Belange vor allem der erste über das Widerspruchs- und Identitätsprinzip wichtig, von dem Kant in der Ratio instituti sagt: "Primo itaque quae de principii contradictionis supremo et indubitato supra omnes veritates principatu confidentius vulgo quam verius perhibentur, ad trutinam curatioris indaginis exigere, deinde quid in hoc capite rectius sit statuendum, brevibus exponere conabor" (ND, S. 387).
1
2
Diese These verficht G. Martin in Martin (1) und (2); vgl. v.a. den Anhang von Martin (1): Die Bedeutung der analytischen Urteilstheorie im 18. Jhd., S. 211 ff., und Martin (2), S. 245 ff. W. Lenders: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G.W. Leibniz und Chr. Wolff, Hildesheim/New York 1971, S. 1-7. Vgl. auch Lenders 1 resümierenden Artikel: The analytic logic of G.W. Leibniz and Chr. Wolff: A problem in Kant-Research, in: Synthese 23, 1971/72, p. 147-53.
22
Die extensionale Logik Kants Das Ziel dieses ersten Teiles ist es also, in die Rangordnung
heiten
der
Wahr-
mehr Licht zu bringen, wie Kant das auch im Schlußabschnitt der
Sectio I zum Ausdruck bringt: "Verum nonne ideo digna erit disquisitione materia, aatenam
veritatum
ad summum usque articulum sequi?" (ND, S. 391;
u.v.V.)· Die Ausdrücke "catena veritatum" und "summum articulum" legen nahe, daß das Problem der Beweisführung mit in die Untersuchung der Principia 3 prima einbezogen wird, wie das ja auch bei Wolff
und seinen Schülern üb-
lich ist. In der Formulierung des Wesens der obersten Prinzipien steht Kant ebenso in Wollfscher Schultradition: Sie sind Principia prima nostrae
oognitionis,
wie der erste Satz der Ratio instituti sagt (ND, S. 387). Bei Baumgarten etwa ist Metaphysik definiert als: "scientia primorum seu humana cognitione principiorum" (Bg, Mp., § 1). Man muß also von vornherein im Auge behalten, daß es sich bei der ND nicht um eine logische oder beweistheoretische Untersuchung, sondern - gemäß der rationalistischen Tendenz dieser Schrift - zugleich Die Beweistheorie
um eine metaphysische handelt. nun, die Kant für diese Schrift voraussetzt, entspricht
ganz der Wolffschen. Dies läßt sich am besten durch eine Analyse des Beweises der Proposito II (ND, S. 389) zeigen, die zugleich die entscheidende 4 Stelle für die Exposition der kantischen Urteilstheorie ist. Bei der Be5 Stimmung der ostensiven Beweisart lehnt sich Kant sehr eng an Wolff an,
3
4 5
So schreibt Wolff in bezug auf das Verhältnis von Principium contradictionis und Tertium non datur in der Anmerkung zum § 54 seiner Ontologie: "Latet adeo in modo, quo principium contradictionis ex principio exclusi medii inter duo contradictoria colligitur aliquis circulus. Idem ex eo patet, quod modus iste sit demonstratio per indirectum; haec autem valida vi principii contradictionis." Es handelt sich dabei um die Stelle, die auch G. Martin anzieht, u m seine These zu beweisen. Vgl. 1.2.2. Eine ähnliche Uebereinstimmung von Kants und Wolffs Beweistheorie gilt für die Bestimmung der apagogischen (indirekten) Beweisart. So wird das "Fundamentum demonstrationis per indirectum" im § 556 der Wolffschen Logik wie folgt bestimmt: "Si ex propositione aliqua colligitur, quod propositioni cuidam verae vel notioni subjecti verae contradicit, propositio illa falsa est, ejus autem contradictoria vera." Bei Kant heißt es im 2. Abschnitt der Fropositio II: "Si de indirecta concludendi ratione quaeras ... Etenim semper provocandum est in hasce binas propositiones: 1) cuiuscunque oppositum est falsum, illud est verum ... 2) cuiuscunque oppositum est verum, illud est falsum" (ND, S. 389).
23
Die individual-intensionale Urteilstheorie der in seiner praktischen Logik (Wolff, LL, Caput II, De Demonstratione § 549) schreibt: "Demonstratio ostensiva
sive diveata est, qua ex notione
subjecti colligitur, praedicatum convenire subjecto". Aus Kants Überlegung, die für das Ziel der Untersuchung entscheidend ist, daß es sich nämlich bei den Beweisarten um "veritates demonstrandi genera" handelt, folgt dann, zusammen mit Wolffs Bestimmung des ostensiven Beweises, konsequent die Aussage: "Prior concludendi ratio ex convenientia notionum subiecti et praedicati veritatem colligit" (ND, S. 389). Dieser Ansatz der Beweistheorie ist nun für die Urteilstheorie entscheidend, denn Kant fährt fort mit einer Angabe der Bedingungen eines wahren Urteils. So unterlege die Ratio concludendi folgende Regel: "quandocunque subiectum, vel in se vel in nexu spectatum, ea ponit, quae notionem praedicati involvunt, vel ea excludit, quae per notionem praedicati excluduntur, hoc illi competere statuendum est" (ib.). Das ist nun nichts anderes als eine Formulierung des Satzes der Identität, dessen Sinn und dessen Zusammenhang mit der Beweis- und Urteilstheorie nun anhand dreier Schwierigkeiten der Interpretation verdeutlicht werden soll. (1) In der Formulierung "vel in se vel in nexu spectatum"
denkt Kant die
Baumgartensche Unterscheidung von "Possibile in se" und "Possibile in nexu": "Quod spectatur, sed non in nexu cum iis, quae extra illud ponuntur, SPECTATUR IN SE" (Bg, Mp. § 15; u.v.V.). Diese Unterscheidung kann man sachlich auf die Wolffsche Wesenslehre zurückführen, die - bezeichnenderweise für die individual-intensionale Logik - sowohl in der Logik als auch in der Ontologie abgehandelt ist. So setzt sich bei Wolff das Subjectum in se spectatum aus Essentialia, Attribute und Modi (Mutabilia) zusammen, das Subjectum in nexu spectatum aus Relationes. Modi und Relationes machen zusammen die "determinatio subjecti" aus (Wolff, LL § 229). Hier wird deutlich, daß Kant den Ansatz einer individualintensionalen Logik mitmacht, indem er als Subjekt ein Possibile (Res) ansetzt und nicht irgendeinen Begriff qua Merkmalskomplex. Die Prädikate fungieren dann als Merkmale (Realitates, nicht bloß logische Determi nati ones) dieses Subjekts. (2) Eine weitere Schwierigkeit bietet die Interpretation von
"ponere".
In der Logik von Baumgarten, die allerdings erst 1761 erschien, werden die Termini "ponere" und "tollere" im § 151 - innerhalb der Erörterungen
24
Die extensionale Logik Kants
liber Propos i ti ones compositae - in einer für den Rationalismus wohl klassischen Weise definiert: "Quae vera iudicamus, PONIMUS (setzen), quae falsa, TOLLIMUS (heben wir auf)." "Ponere" meint also hier: etwas als wahr denken (urteilen). In der Ontologie Baumgartens ist "ponere" ein - wie wir heute sagen würden - Undefinierter Grundbegriff. Hier tritt der fragliche Ausdruck in der gleichen Bedeutung wie in der Logik vor allem im Zusammenhang mit dem Satz vom Grund auf. So heißt es etwa im § 30: "Posita ratione, hinc et sufficiente, ponitur rationatum."® Diese Bedeutung hat "ponere" wahrscheinlich durch den Ausdruck "modus ponens" bei hypothetischen Urteilen in der Scholastik bekommen.^ Sie ist mit der in der Logik angegebenen identisch, weil ja auch etwas als wahr gesetzt - hier speziell der Grund - wird, und mit diesem darüberhinaus noch ein anderes. (3) Die Bedeutung von "ponere" im Urteil wird allerdings erst ganz klar durch die Bestimmung dessen, was gesetzt wird. "Quandocunque subiectum ea ponit, quae notionem praedicati involvunt, vel ea
excludit, quae per
notionem praedicati excluduntur ..." (u.v.V.). Daß es sich beim Gesetzten nicht um Individua
unter dem Subjektsbegriff handelt, sondern um die Merk-
male des Subjektes selbst, zeigt sich in folgendem Zitat: "In priori solum de ea praedicati positione agitur, quae efficitur per notionvm, quae subjeato vel absolute vel in nexu involvuntur, cum praedicato identitatem" (ND. S. 398; u.v.V.). Setzt man also ein Subjekt, so setzt man alle in ihm g
enthaltenen Merkmale.
Aus dem Angeführten ergibt sich also, daß Kants
UrteilVerständnis ein intensionales ist.
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7
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In dieser Bedeutung verwendet auch noch der kritische Kant d e n Terminus "ponere": "Grund ist (im allgemeinen) das, w o d u r c h etwas anderes gesetzt w i r d (quo posito determinate ponitur aliud)" (Brief a n Reinhold v o m 12. Mai 1789, A A 11, S. 35). Daß ihn auch der vorkritische Kant in dieser Bedeutung braucht, zeigt eine Stelle aus der Mp Herder: "Grund ist also aliquid, quo posito, ponitur aliud" (Mp. Herder, S. 11). Dies entspricht in etwa der Verwendung, w i e wir sie in Wolffs Logik im Rahmen des Kapitels über zusammengesetzte Syllogismen antreffen: "Fcrni dicitur m e m b r u m aliquod praemissae, quod ita repetitur, ut in eadem habetur; removeri autem, cujus contradictorium asseritur. E. gr. poni dicitur antecedens propositionis hypotheticae ..." (Wolff, LL, § 406). Im selben Sprachgebrauch heißt es in der Bg. Mp.:"Posito ente, ponitur essentia, ergo complexus essentialium, hinc posito ente simul ponuntur essentialia omnia ..." (Bg. Mp. § 73).
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Kant und die analytische Logik
Als Resultat dieser Interpretation halten wir fest: Kants Urteilstheorie weicht im wesentlichen nicht
von der Wolffschen ab. Sie kann auch mit dem
Titel "individual-intensional" ausgezeichnet werden. Daß sie
intensional
i s t , zeigte die Analyse des "ea ponit", wo mit "ea" die Merkmale des Subjektbegriffes gemeint waren und nicht etwa die unter den Subjektsbegriff fallenden Individua, wie im extensionalen F a l l . Daß sie individuale
Urteils-
theorie i s t , d . i . daß das Urteil a l s Judicium de re quadam verstanden wird, zeigte sich im Ausdruck: "vel in se vel in nexu spectatum", der nach WolffBaumgartenscher Tradition anzeigt, daß es sich um eine Res handelt. In der Beweistheorie geht Kant nicht Uber Wolff hinaus, er treibt einzig die prinzipientheoretische Reflexion voran und nähert sich so auch der Eins i c h t , daß logische (hier noch beweistheoretische) Prinzipien von andern gesondert werden müssen, wenn sie auch noch r a t i o n a l i s t i s c h a l s Principia nostrae cognitionis verstanden werden.
1.2.2. Kant und die analytische Logik Kant scheint sich also ganz auf dem Boden der Wolffschen Logik zu befinden, von einer Rückkehr zur analytischen Urteilstheorie Leibniz 1 i s t n i r gends ein Anzeichen. Gottfried Martin sieht aber ein solches in dem oben in drei Hinsichten interpretierten Satz der Identität: ' " P r i o r concludendi ratio ex convenientia notionum subiecti et praedicati veritatem c o l l i g i t . . . ' ; diese Formulierung erweckt zunächst den Anschein, als wolle Kant, im Sinne von Wolff, bloß die convenientia zwischen Subjekt und Prädikat fordern. Aber Kant fährt unmiüverständlieh
fort: 'et idem paulo explicatius: quandocunque
identitas subjecti inter ac praedicati notiones reperitur, propositio est vera.' Es i s t also in der Tat das Principium i d e n t i t a t i s , wie Kant ausdrücklich sagt, das das Prinzip a l l e r Wahrheiten d a r s t e l l t " (Martin (1), S. 226 f . ; u.v.V.). Dieses Zitat gehört zur ßelegstellenkette, um die These zu beweisen: "Man kann doch die Rückkehr zur Leibnizischen analytischen Urteilstheorie nicht bestimmter ausdrücken" (ib. S. 226). Gegen diese These sollen im folgenden
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Die extensionale Logik Kants
vier Einwände erhoben werden. Ein Exkurs liber eine mögliche extensionale Interpretation der Identität soll zeigen, daß mit dem Terminus "Identität" im 18. Jhd. Heterogenstes gemeint sein kann und daß deshalb von einem "unmißverständlichen" Fortfahren Kants nicht die Rede sein kann. (1) Es genügt nicht, wenn man als Kriterium für eine analytische Urteilsg theorie die Identität von S und Ρ nennt, wie Gottfried Martin dies tut. Die Schwäche der Martinschen These liegt u.E. darin, daß er sich nicht fragt, was Identität denn meine; auf unseren Text angewendet, weshalb Kant dazu komme, eine Identität zwischen S und Ρ zu fordern. Hier vermißt man bei G. Martin vor allem den Hinweis, daß das Prinzip der Identität in einer Doppelgestalt ("principium identitatis geminum") auftritt. Die beiden Formen des Prinzips der Identität lauten: "Quidquid est, est" und "Quidquid non est, non est". 10 Kommt dazu, daß Kant die Relation "inesse", die nach G. Martin ebenfalls Kriterium der analytischen Urteilstheorie ist 1 1 , nirgends explizite verwendet. (2) Die Frage ist nun also: Wie kommt Kant dazu, die Convenienza zwischen Subjekt und Prädikat "Identitas" zu nennen? Die Gründe dafür liegen in der Beweistheorie, die ja dem fraglichen Passus zugrundeliegt. Zum Beweis des Satzes: "Veritatum omnium bina sunt principia absolute prima ..." (Prop. II,
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Stellvertretend für viele Definitionsversuche der analytischen Urteilstheorie seien hier zwei Zitate aus d e m Leibniz-Buche G. Martins angegeben: "Wir sahen bereits, daß der eigentliche Sinn der analytischen Urteilstheorie in der Identitätsthese liegt, in der Identität des Prädikatsbegriffs entweder mit dem Subjektsbegriff im Ganzen oder mit e i n e m Teilbegriff des Subjekts" (ib. S. 225). "und der Kern der analytischen Urteilstheorie besteht in der These der Identität" (ib. S. 215). Man darf sich nicht etwa verleiten lassen, die F o r m "Quidquid n o n est, n o n est" als Satz v o m Widerspruch zu verstehen. D e n Satz des Widerspruchs führt Kant zurück auf die erste Form des Satzes der Identität. Martin (2), S. 292: "Die These der analytischen Urteilstheorie: praed i c a t u m inest subjecto ist unzweifelhaft die These v o n Leibniz ..." Zu dieser Formulierung ist im wesentlichen dasselbe zu bemerken wie zu der Formulierung, daß die Identitätsthese der Kern der analytischen Urteilstheorie sei: sie reicht überhaupt nicht aus, w e n n nicht bestimmt wird, was "inesse" meint. Doch auch dies unterläßt G. Martin. So w ä r e n beispielsweise manche Logiken des 18. Jhds. analytische, etwa diejenige v o n Darjes: "Rerum combinatarum una est in altera, seu praedicatum est in subjecto" (J.G. Darjes: Introd. in a r t e m inveniendi seu logicam, Ienae, 1747, S. 9;u.v.V.).
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Kant und die analytische Logik
ND, S. 389) setzt Kant beim direkten Beweis an und sagt, daß derselbe auf der oben ausführlich in drei Hinsichten interpretierten Regel
(Quandocunque
subjectum ea ponit ...) beruht. Wenn man nun zeigen kann, daß Wolff alle direkten Beweise auf den Satz der Identität gründet, dann ist der Ausdruck "identitas", den Kant, der wie hingewiesen in 1.2.1., ganz auf dem Boden 12 der Wolffschen Beweistheorie steht
, für "convenientia" einsetzt, völlig
konsequent und verständlich. Den direkten Beweis behandelt Wolff in den §§ 551 f. seiner LL. Im § 551, der vor der "Forma demonstration!s ostensivae propositionis categoricae" handelt, wird gesagt, daß man die Defini ti o integra notionis subiecti in propositiones minores auflösen müsse, um anschließend daraus eine Concat e n a l o syllogismorum zu machen, die dann zur Conclusio die zu beweisende Proposition habe. Hierbei wird nur die Analysis notionum vorausgesetzt, die selbst wiederum einzig und allein auf der Identität gegründet ist. Der Beweis eines hypothetischen Urteils (kategorisches mit Conditio adiecta, Wolff, LL § 218)
geschieht aufgrund derselben Prinzipien
(§ 552). Neu 13 kommt hinzu, daß die Conditio adiecta in ludicia intuitiva aufgelöst
wird, die dann wieder im Kettenschluß als Propositiones minores dienen. Dasselbe Verfahren nun wird etwas kürzer beschrieben in der "Brevis com14 mentatio de methodo mathematica" : "Perfecta autem ut sit demonstratio, praemissae syllogismorum novi s syllogismis tamdiu probandae sunt, donec perveniatur ad syllogismum, in quo praemissae sunt vel definitiones, quas jam constat esse possibiles, vel propositiones aliae identicae" (§ 45).
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Kants Beschäftigung mit Wolffs Beweistheorie muß in dem Jahre 1755 sehr intensiv gewesen sein, da er im WS 55/56 zum ersten Mal eine Mathematik-Vorlesung über die Wolffschen "Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften" hielt, in denen ja eine detaillierte Beweistheorie enthalten ist. - Ueber Kants Vorlesungstätigkeit vgl. G. Martin: Die mathematischen Vorlesungen Kants, Kantstudien 58 (1967), S. 58-62. "Iudioium istud dicimus intuitivum, quo enti cuidam tribuimus, quae in ipsius notione comprehensa intuemur. Istud autem judicium discursivum appellamus, quod per ratiocinium elicitur. Posset quoque dici dianoetiaum." Chr. Wolff: Elementa Matheseos Universae, Halae Magdeburgicae, 1742, S. 1-17, vgl. auch: "Notandum nimirum, eo minorem fieri axiomatum numerum, quo sufficientius notiones evolvuntur. Iramo si verum fateri fas est, vera axiomata non sunt nisi propositiones identicae" (ib. § 33).
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Die extensionale Logik Kants
Also beruhen letztlich alle Demonstrationen auf identischen Sätzen. Daß Kant also von "identitas" zwischen Subjekt und Prädikat spricht, hat seinen Grund einzig in der Ausarbeitung des doppelten Identitätssatzes in der Wolffschen Beweistheorie, nicht aufgrund des als Wahrsein verstandenen In-Seins Leibniz'. "Principium identitatis" hat er ihn wahrscheinlich neben beweistheoretisehen Rücksichten - deshalb genannt, weil Baumgarten den Satz "Quidquid est, est" im § 11 seiner Mp als "principium positionis seu identitatis" bezeichnete. (3) Kants Reflexion auf die Prinzipien von Wolffs Beweistheorie führt ihn zu einer analytischen Konzeption des Beweises. Soweit besteht Einigkeit mit G. Martin. Kann man aber daraus schließen, daß diese analytische Beweistheorie eine analytische Urteilstheorie impliziere? Kaum, denn die Funktion der Beweistheorie in der Urteilstheorie ist bei Kant und Wolff dieselbe. Der Beweis ist ein Sichversichern, Vergewissern. Bei Wolff ist der Satz der Identität und mithin das beweisende Rückführen auf Identität ein Prinzip der Gewißheit
(Principium certitudinis, Ontologie, § 55), d.h.
es ist vom Erkenntnisgrund her gesehen hinreichendes Prinzip der logischen Wahrheit, wobei die logische Wahrheit "in determinabili tate praedicati per notionem subiecti" (Ontologie § 499) besteht. Das bedeutet nun aber nicht, daß der Satz der Identität auch hinreichendes Prinzip der transzendentalen 15 Wahrheit ist, denn die transzendentale Wahrheit, die Ordo , wie Martin behauptet, Seinszusammenhang, ist, ist vielmehr der Grund für die logische. So ist der § 499 überschrieben: "Veritatis logicae a transcendental i dependentia." Der Satz der Identität hat also bloß die Funktion, Wahrheiten darzustellen und sich derer zu versichern. In der ND Kants nun kann man dieselbe Funktion des Satzes der Identität feststellen: "Verum ad veritatem firmandam non ratione antecedenter determinante opus esse, sed identitatem praedicatum inter atque subiectum intercedentem sufficere constat" (ND, S. 396 f., u.v.V.). Von den Rationes consequenter determinantes aber wird gesagt, daß sie die Wahrheit nicht hervorbringen, sondern bloß dar-
15
"Veritas adeo, quae transcendentalis appellatur & rebus ipsis inesse intelligitur, est ordo in varietate eorum, quae simul sunt ac se inv i c e m consequuntur, aut, si mavis, ordo eorum, quae enti conveniunt" (Wolff, Ontologie § 495).
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Kant und die analytische Logik stellen und erklären:"siquidem ratio consequenter determinans veritatem non efficit, sed explanat" (ND, S. 394). 1 6 Eine solche Abschwächung der
Begründungskraft des Satzes der Identität ist unverträglich mit einer logisch-metaphysischen analytischen Urteilstheorie. Bei Leibniz sind logische und metaphysische Wahrheit nicht in solcher Weise trennbar. Der Satz der Identität ("omnis propositio identica est vera") ist zusammen mit dem Satz vom Grund ("omnis propositio vera est identica") - nicht nur in dieser logischen Formulierung - konstitutives Moment der Wahrheit s e l b s t . ^ Die Einheit der beiden Wahrheitsbegriffe beruht zudem auf der Annahme ein18 facher Begriffe, die Kant in der ND als hoffnungslose zurückweist, in eins Ideen und Realitates sind. Doch die metaphysischen
die
Implikationen
der Leibnizschen inesse-These,19die wesentlich zu ihr gehören, können hier nicht weiter verfolgt werden. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, daß Kant seine analytische Beweistheorie nicht zu einer analytischen Urteilstheorie ausweitet, vielmehr in letzterer ganz auf dem Boden der Wolffschen indi vidual-intensionalen Logik verbleibt. 16
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Kants Ausgang vom Wolffschen Begriff der logischen Wahrheit und die wahrheitsindikative, nicht wahrheitsfundierende Funktion des Satzes der Identität bzw. der beweistheoretischen Prinzipien zeigt sich auch in folgendem Zitat: "Omnis propositio vera indicai subiectum respectu praedicati esse determinatum, i.e. hoc poni cum exclusione oppositi: in omni itaque propositione vera oppositum praedicati competentis excludatur necesse est. Excluditur autem praedicatum, cui ab alia notione posita repugnatur vi principii Contradictionis" (ND, S. 393). Vgl. G.W. Leibniz: Essais de Théodicée ... ed. J. Jalabert, Aubier, Edition Montaigne 1962; Anhang: Remarques sur le livre de M. King, § 14: "Car l'on peut dire, en quelque façon, que ces deux principes (scil. principe de l'identité et principe de contradiction) sont renfermés dans la définition du vrai et du faux." Vgl. ND, S. 389 f. Die Stellen aus der DTL, die Martin (1), S. 228 angibt, um zu zeigen, daß Kant eine Theorie der einfachen Begriffe vertritt, befragt er nicht auf den Unterschied von unauflöslichen und einfachen Begriffen, den Crusius einführt. Blendet man in einer analytischen Urteilstheorie den metaphysischen Aspekt der Identitätsthese aus, dann ist die analytische Logik eine bloß intensionale, denn in ihr lassen sich alle Gesetze aus dem Satz der Identität herleiten. Zum Wesen einer analytischen Urteilstheorie gehört mit die metaphysische Reflexion auf die individuelle Substanz und auf den Satz vom Grund. Es ist kaum ein Zufall, daß Leibniz die analytische Urteilstheorie (Generales Inquisitiones) im selben Jahr entdeckte, in dem er auf seine These über die individuelle Substanz stieß (Discours de Métaphysique).
30
Die extensionale Logik Kants
(4) Auch in den Reflexionen zur Logik findet sich nirgends eine Stelle, die andeuten würde, daß Kant eine analytische Urteilstheorie vertritt. Hingegen gibt es erstaunlich viele Reflexionen (3074-3079) aus der Mitte der 50er Jahre, also der Zeit der ND, zum typisch Wolffschen Thema "Bedingung der Urteile", einem Thema also, das nur in einer nichtanalytischen Urteilstheorie auftreten kann. Die genannten Reflexionen explizieren ganz im Wolffschen Sinne - die unklaren und allzu knappen Erörterungen Meiers (Logik, § 297-99) hiezu. "Wolff fordert in der Tat nicht die Identität, sondern er fordert nur, daß im Subjektsbegriff ein Grund für den Prädikatsbegriff enthalten ist" (Martin (1), S. 217). Bei dieser Gegenstellung von Identitätsthese bei Leibniz und Bedingungsthese bei Wolff scheint sich Kant also auf die Seite Wolffs geschlagen zu haben. Dieser vierte Einwand mit Zuhilfenahme der Reflexionen trifft allerdings G. Martin nicht, da er seine These - was mir ein fragwürdiges Unterfangen zu sein scheint bei der großen Zahl der gutdatierten Logik- und Metaphysikreflexio20 nen - auf die publizierten Schriften Kants einschränkt.
Es soll nun ein kleiner Exkurs angeschlossen werden, der zeigt, daß der Ausdruck "Identität" in den Logiken vor Kant durchaus nicht in einer Bedeutung gebraucht wurde. Damit soll gezeigt werden, daß es zur Aussage: "Diese Urteilstheorie ist analytisch" viel schärferer Kriterien bedarf als des Kriteriums:
Identität.
Wir wollen eine im 18. Jhd. gängige Urteilstheorie anführen, die alle wahren Aussagen auf die Identität von Subjekt und Prädikat zurückführt, aber auf einer komplett extensionalen Logik aufbaut, wogegen die Identitätsthese (inesse-These) der analytischen Urteilstheorie nur auf der Basis eines intensionalen Kalküls möglich ist. Erstmals wird diese Identitätstheorie
formuliert in der Logique de
Das XIII. Kapitel der Urteilstheorie 20
21
21
extensionale
Port-Royale.
handelt von der Konversion und
"Faßt man zusammen, so wird man sagen können, daß Kant in diesen vorkritischen Untersuchungen durchaus auf dem analytischen Boden steht, und zwar sowohl in der Begriffstheorie, als auch in der Urteilstheorie, als auch in der Beweistheorie" (ib. S. 229). L'Art de penser. La logique de Port Royale, ed. B. Baron von Freytag Löringhoff et H. Brekle. Nouvelle impression en facsimile de la première édition de 1662, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, p. 160 ff.
31
Kant und die analytische Logik
dem damit verbundenen Verständnis von Affirmation und Négation. In diesem Zusammenhang stellen Arnauld und Nicole eine in der Geschichte der Logik wahrscheinlich völlig neue extensionale Identitätstheorie auf: "Et de la, il est clair que la nature de l'affirmation est d'unir et
d'identifier
(u.v.V.), pour le dire ainsi, le sujet avec l'attribut, puisque c'est ce qui est signifié par le mot est"
(p. 161).
Von den am Schluß des Kapitels folgenden vier Axiomen, die verdeutlichen, was mit Identität gemeint ist, stellt das 4. Axiom den Sachverhalt am klarsten ins Licht: "L'extension sujet,
en sorte qu'il
convient
au sujet"
ne signifie
(p. 164).
de l'attribut plus que
Subjekt.
la partie
par celle
de son extension
du qui
Daraus ergibt sich, daß im Gegensatz zur
traditionellen Logik auch das Prädikat 22
est resserré
quantifiziert
wird, nicht nur das
Weiter erhellt, daß die Extension des Prädikats z.B. in einem
urwersell affirmativen
Urteil eingeschränkt ("resserré") auf die Extension 23 des Subjektes, d.h. partikulär verwendet wird. Entsprechend wird in einem 24 negativen
Urteil das Prädikat universell
verwendet,
denn im negativen
Urteil sind die Extensionen des Subjektes und des Prädikates disjunkt; das aber bedeutet, daß man sie nicht aufeinander einschränken kann, weil
22
Die Quantifizierung des Prädikats wird in den meisten Logiklehrbüchern als Entdeckung Hamiltons gepriesen. Ein differenzierteres historisches Urteil hat - unseres Wissens " einzig A. Menne in seinem Buche: Logik und Existenz, Meisenheim/Glan 1954: "George Bentham (1800-1884), der 1827 die Quantifikation des Prädikates entdeckte, fand fast kaum Beachtung, und so konnte 1846 eine Jahre dauernde Kontroverse zwischen William Hamilton (1788-1856) und Augustus de Morgan (1806-1878) u m die Priorität dieser Entdeckung ausbrechen ..." (ib. S. 10). Diese historische These wird noch weiter spezifiziert: "Wenn sie (seil, die Q u a l i fikation des Prädikates) sich auch schon gelegentlich bei Lambert und Ploucquet fand, so darf doch als ihr eigentlicher Entdecker, der sie explizite lehrt, G. Bentham gelten" (ib. S. 64 f.). Die Wurzeln dieser Entdeckung, die erst so etwas wie eine extensionale Interpretation der Identität ermöglicht, liegen aber schon in der Logik von Port-Royale und etwas später bei Rüdiger und Crusius.
23
Dies geht deutlich aus dem zum Axiom 4 angegebenen Beispiel hervor: "comme quand on dit que les hommes sont animaux, le mot d'animal ne signifie plus tous les animaux, mais seulement les animaux, qui sont hommes" (p. 164). "L'attribut d'une proposition négative est toujours pris generalement" (p. 169).
24
32
Die extensionale Logik Kants
der Durchschnitt leer ist.
25
Identität in einem affirmativen Urteil ist nun also so zu verstehen: die Individua, die unter den Subjektsbegriff fallen, sind identisch (d.h. dieselben) mit denjenigen, die unter den Prädikatsbegriff fallen. Aus der solcherart verstandenen Identität ergeben sich ohne zusätzliche Axiome die Konversionsregeln, weshalb ja auch Affirmation und Negation im Kapitel über die Konversionen abgehandelt werden. Die extensionale Identitätsthese fand im 18. Jhd. viele Anhänger. So verficht Titius gegen Rüdiger, seinen Schüler, in der Ars cogitandi von 26 27 1702 anläßlich dessen Lehre von den Konversionen die These von der Quantifizierung des Prädikats. In der Rüdiger-Schule (unter anderen bei Hoffmann und seinem Schüler Crusius) schließt man sich der These von Titius an. Crusius verwendet in seiner Logik den Ausdruck "Identität" in der eben erläuterten extensionalen Bedeutung: "Die Anfänger können die Abstracta logica am leichtesten dadurch lernen, wenn sie Achtung geben, welche Begriffe sich durch das Wörtlein ist voneinander sagen lassen. Denn weil dasselbe in seiner eigentlichen Bedeutung nicht anderes anzeiget, als die Identität der Individuorum, so schicket es sich zu keinen anderen als zu den Abstractis logicis" (Crusius, Logik, § 135; u.v.V.). Diese extensionale 25 26
27
"Tout attribut nié d'un sujet, est nié de tout ce qui est contenu dans l'étendue q u ' a ce sujet dans la proposition" (p. 170). Gottlieb Gerhard Titius: Ars cogitandi, sive scientia cogitationum cogitantium, Lipsiae 1702. Der Ausdruck "Ars cogitandi" für "Logik" ist natürlich die lateinische Übersetzung des zweiten Titel-Teils der Logique de Port-Royale: "La Logique o u l'art de penser". D a nach Titius auch der Wolffschüler Bilfinger eine "Ars cogitandi" schrieb, muß wohl das Urteil v o n Heinrich Scholz revidiert werden: die Logique v o n P o r t Royale sei "das Werk, das wahrscheinlich mehr als irgend ein anderes logisches Werk des 17. Jhds. zur Einbürgerung des Logik-Titels b e i g e tragen hat" (H. Scholz: Geschichte der Logik, Berlin 1931, S. 9). Es scheint, daß auch der Titel "Ars cogitandi" Früchte trug. Vgl. die ausgezeichnete Darstellung der Rüdigerschen Logik v o n H. Schepers: Andreas Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen, K ö l n 1959 (Kant-Studien Ergänzungsheft 78). Für den Zusammenhang Rüdigers m i t Kant vergleiche m a n die auf S. 91 vertretene These Schepers', daß Kants Auffassung, die Verstandesschlüsse seien Schlüsse und keine "Affectiones iudicii", wie sie in der Schullogik bezeichnet wurden, w e s e n t lich von Rüdiger vorbereitet wurde.
Kant und die analytische Logik
33
Interpretation der Identität bedeutet wie bei Arnauld/Nicole Selbigkeit der Elemente des Subjekts- und Prädikatsbegriffs. Dazu ist anzumerken, daß sich alle Sätze in Ansehung der Kopula auf sogenannte "Sätze der logikalischen Abstraction" oder kürzer auf "logikalische Sätze" zurückführen las28 sen.
Also kann in jeder Subordination (d.h. in jedem Urteil) das Ver-
hältnis der Subordinata als eine Identitas individuorum gedeutet werden. Aus diesem Exkurs ist ersichtlich, daß es nicht ausreicht, von der Bezeichnung des S-P-Verhältnisses als Identität auf eine analytische Urteilstheorie zu schließen, ohne spezielles Gewicht auf die intensionale und extensionale Betrachtungsweise zu legen, was G. Martin denn auch nirgends tut.
28
"Von diesen (seil, den logikalischen Sätzen) ist z u merken, daß sich alle andere Sätze durch die zufällige Art zu d e n k e n darein v e r w a n d e l n lassen" (Crusius, Logik, § 223).
1.3. Die Urteilstheorie in der Zeit 1762-64 Der von Cohen^ initiierte Streit um die Reihenfolge der vier Schriften: FS, EMBG, DTL, NG spielt für unsere Frage nach der Kantischen Urteilstheorie dieser Zeit keine Rolle, da die Definition des Urteils in allen Schriften fast wörtlich übereinstimmt. Am Kant-Kongress 1974 wurden bezüglich der Urteilstheorie dieser Jahre zwei kontradiktorische Aussagen gemacht: Tillmcmn Pinder schreibt: "Der Begriff der unerweislichen Urteile war von Kant nämlich in einer der Preisschrift vorangegangenen logischen Abhandlung - der Schrift über 'Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistisehen Figuren1
... - aus dem Zusam-
menhang mit einem Begriff des Urteils überhaupt entwickelt worden, der die 2 ..." (S. 216).
gesamte Sahullogik verläit
Offenbar auf den Pinderschen Vortrag bezogen, meint A. Menne in seinem 3 Referat: Kants Kritik der Syllogistik: "In seiner erwähnten Schrift erklärt Kant zunächst, was er unter 'urteilen' versteht: 'Etwas als ein Merkmal mit einem Ding vergleichen heißt urteilen.1 Das stellt nun keine neue Theorie dar, sondern ist offensichtlich von Wolff übernommen: O m n e judicium ex duabus constat notionibus, notione scilicet rei, cui aliquid tribuitur, ve! a qua aliquid removetur, et notione illius, quod eidem tribuitur, vel ab ea removetur'" (S. 130). Im Folgenden wird eine These vertreten, die beiden Referenten gerecht wird: Kant steht noch durchaus auf dem Boden der Wolffschen Logik, nämlich insofern sie intensionale ist, "reinigt" diese aber von ontologischen und psychologischen Zusätzen und Gründen. Dies wirkt sich darin aus, daß er 1 2
3
H. Cohen: Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften, Marburg 1873, S. 15 ff. T.Pinder: Das logische P r o b l e m der realen Grund-Folge-Beziehung in Kants D e n k e n 1763, in: A k t e n des 4. Internationalen Kant-Kongresses, M a i n 1974 Teil II.l; Berlin/New York 1974, S. 214-21. Pinder setzt sich kritisch mit Henrichs Aufsatz: Kants Denken 1762/63 (in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, hg. v. Heimsoeth, Hildesheim 1967, S. 9-38) auseinander. Akten, vgl. Anm. 2, S. 130-35.
Zentrale Stellung des Urteils in der Logik
35
die ontologisch verstandene individual-intensionale Logik Wolffs ausarbeitet zu einer rein intensionalen
Logik.
Diese These soll in zwei Schrit-
ten begründet werden: Im Kapitel 1.3.1. soll anhand der Darstellung der Kantischen Urteilstheorie der Jahre 1762-64 die intensionale Interpretation der Logik gezeigt werden. In Kapitel 1.3.2. wird der gleichsam indirekte Beweis für die These versucht mit Hilfe des bestimmten Verhältnisses von Modalität und intensionaler Logik.
1.3.1. Darstellung der Urteilstheorie
1.3.1.1. Zentrale Stellung des Urteils in der Logik
In seinem Handexemplar zu Meiers "Auszug aus der Vernunftlehre" notiert Kant zu dem im § 292 - wo das Urteil eingeführt wird - vorkommenden Ausdruck: "logisches Verhältnis der Begriffe" folgendes: "Wenn etwas als Merkmal eines Dinges kan angesehen werden" (R 3032). Diese Reflexion präzisiert also das logische Verhältnis zweier Begriffe, denn bei Meier ist Urteil nur vage definiert als: "Vorstellung einiger Begriffe"
eines logischen
Verhältnisses
(Meier, Logik, § 292), wobei zwei Modi des Verhältnisses
unterschieden werden: Übereinstimmung der Begriffe oder Streit derselben. Auch hier ist eine Präzisierung, was Einstimmung, was Widerstreit von Begriffen sei, unterlassen. Die zitierte Reflexion Kants stammt aus der Mitte der 50er Jahre. Aus diesem Grunde scheint Kants Äußerung durchaus berechtigt: "Ich habe mich niemals
im § 19 der KrV
(u.v.V.) durch die Erklärung,
welche die Logiker von einem Urteil überhaupt geben, befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen ... merke ich nur an, daß, worin dieses Verhältnis
bestehe, hier
nicht bestimmt ist" (B 14C f.). In der obigen Reflexion meint "etwas" - das "aliquid diversum" bei Wolffdas Prädikat, das "Ding" - bei Wolff "quadam res" - das Subjekt eines Urteils (vgl. 1.1.). Die Urteilsrelation S R Ρ
heißt explizit: Ρ wird ange-
sehen als Merkmal von S. Dabei muß man im Auge behalten, daß der Subjektsbegriff etwas, eine Sache, ein Ding vorstellt, und zunächst - genau wie bei Wolff - ganz unquantifiziert in Ansatz gebracht wird, wie die bei Kant
36
Die extensionale Logik Kants
nachfolgenden Beispiele zeigen: "Ein Körper ist teilbar" und "Die Sonne ist kugelrund" (R 3032). Dieselbe Definition der Urteilsrelation findet man auch in den Schriften der Jahre 1762-64: - in der FS: "Etwas als ein Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urteilen"
(FS, S. 47),
- im EMBG: "Nun kann etwas als blos beziehungsweise gesetzt, oder besser blos die Beziehung (respectus logicus) von etwas einem
Dinge
als einem Merkmal
zu
gedacht werden ..." (EMBG, S. 73),
- in der DTL: "Weil die Form
einer jeden Bejahung
darin besteht, daß etwas
als ein Merkmal von einem Dinge, d.i. als einerlei mit dem Merkmale eines Dinges vorgestellt werde ..." (DTL, S. 294). Doch damit sind wir noch kaum über die Wolffsche Urteilsdefinition hinaus. Anders als bei Wolff ist einzig das "als", dessen Funktion in der Urteilsrelation zu bestinmen wir aber erst weiter unten in der Lage sein werden. In der R 3032 schreibt Kant nach der Urteilsdefiniton: "also durch ab4 straction und comparati on".
Durch diese zwei Akte ist also ein Urteil
Urteil, d.i. kann etwas als ein Merkmal von einem Ding angesehen werden. Diese doppelte Bestimmung des Urteilsaktes ist erstaunlich, denn die Akte der Abstraktion und Komparation gehören in der Wolffschul e zum Erzeugen der Begriffe, also zum Hauptlehrstück in der Begriffstheorie,
deren Unter-
suchungsfeld etwa durch den Rahmen der Frage: "wie gelange ich zu Begriffen?" abgesteckt wird und das bei Kant seit Beginn der 70er Jahre durch die Theorie des logischen Ursprungs der Begriffe abgelöst wird. Man kann nun daraus den Schluß ziehen, daß Kant Begriffe, Urteile und Schlüsse nicht solcherart gesondert behandeln will, sondern nur im Blick auf eine logi5
sehe Einheit, etwa auf die in der KrV sogenannte "analytische Einheit". 4
5
In einer intensionalen Logik wird die Abstraktion als Subtraktion verstanden, weil sie von einem Begriff eines Dinges ein Merkmal herauszieht (subtrahiert). "Absonderung ist Subtraktion" (R 2855; 1755). In einer extensionalen Logik ist die Absonderung nicht ein Subtrahieren eines Merkmales von einem Begriff, sondern eine Handlung, die durch Vergleichung vieler Individuen ein allen gemeinsames Merkmal hebt. Den Begriff der analytischen Einheit hat Kant schon in R 4273 (1770-78) gewonnen: "Man stellt sich in jedem Urtheile eine analytische Einheit
Zentrale Stellung des Urteils in der Logik
37
Dies entspricht auch Kants Logikverständnis in der FS, die wir nun zur Erläuterung des Urteilsverständnisses, das in der Reflexion 3032 ja nur in nuce angelegt, aber nicht ausgeführt ist, heranziehen. In der FS äußert sich die Tendenz auf so etwas wie analytische (logische) Einheit darin, daß für Kant das Urteil - bereits wie beim kritischen Kantim Zentrum der Logik steht und nicht mehr der Begriff wie im Rationalismus. "Drittens ist hieraus auch abzunehmen, daß die obere Erkenntniskraft schlechterdings nur auf dem Vermögen zu urteilen beruhe" (FS,S. 59). Diese Einfachheit der oberen Erkenntniskraft ist insofern möglich, als deutliche Begriffe nur durch Urteile und vollständige Begriffe nur durch Schlüsse möglich, Schlüsse ihrerseits aber Urteile durch mittelbare Merkmale sind.6 So kann Kant den Logikern vorwerfen, daß sie ihren Logiklehrbüchern eine falsche Reihenfolge der Gliederung in Begriff, Urteil und Schluß zugrundelegen: "Hieraus erhellt auch ein wesentlicher Fehler der Logik, so wie sie gemeiniglich abgehandelt wird, daß von den deutlichen und vollständigen Begriffen eher gehandelt wird, wie von Urteilen und Vernunftschlüssen, obgleich jene nur durch diese möglich sind" (FS, S. 59). Diese Grundlegung des Urteils hat zur Folge, daß die Begriffsrelationen nicht mehr von Urteilsrelationen unterschieden werden können. Will ich beispielsweise einen Begriff deutlich machen und also ein Merkmal als enthalten in ihm betrachten, dann urteile ich bereits. Also ist die Begriffsrelation "enthalten in" eine Urteilsrelation. In einer intensionalen Logik brauchen keine speziellen Begriffsrelationen wie etwa die Gattung-Art7 8 Beziehung,
Subordination
etc. ausgezeichnet zu werden, denn eine inten-
sionale Logik kennt nur eine logische Relation und deren Negation: A enthalten in B. Diese Vereinfachung der logischen Verhältnisse zeigt an, daß Kants Logik zu dieser Zeit eine intensionale ist. Dies ist ja auch bereits
6 7
8
v o r . " Z u m Begriff der analytischen Einheit vergleiche: K. Reich: (1) S 14 ff. Vgl. FS, S. 48: "Ein jedes Urteil durch ein mittelbares Merkmal ist ein Vernunftschluß." Die Gattung-Art-Relation ist eine Ordnungsrelation innerhalb des Systems des Arbor porphyriana, das von Extensionen ausgeht, lieber d e r e n Verhältnis zur intensionalen Logik, vgl. Leibniz: NE, IV, 17. M a n vergleiche etwa die große Anzahl v o n Subordinationsarten in der Logik v o n Crusius in dem Kapitel: "Von d e n Unterschieden und V e r h ä l t n i s sen der Begriffe", S. 203-318.
38
Die extensionale Logik Kants
in der Formulierung der Urteilsrelation "Etwas als Merkmal von etwas" angetönt. Zum Schluß soll eine Reflexion angeführt werden, die anhand des Verständnisses des partikulären Urteils zeigen s o l l , daß Kants Logik eine intensionale i s t . In vielen Fällen kann man einen intensionalen Kalkül der S y l l o g i s t i k an der Fassung des partikulären Urteils erkennen: Das p a r t i kuläre Urteil SiP muß sich konvertieren lassen in PaS. Die Quantität i s t ein irrelevanter Faktor in einem intensionalen Kalkül, der von der q u a l i tativen Relation "enthalten in" ausgeht. Das partikuläre Urteil muß sich also durch ein universelles ausdrücken lassen, wenn man die s y l l o g i s t i schen Modi in einem intensionalen Kalkül darstellen w i l l . Das universelle Urteil kann dann seinerseits durch die Relation "enthalten in" ausgedrückt werden. Es gelten also in einem intensionalen Kalkül folgende Äquivalenzen: SiP
Pas
S enthalten in Ρ
Diese Äquivalenzen, die in einer intensionalen Logik gelten, scheint nun auch Kant für seinen logischen Kalkül vorauszusetzen, wenn er in der R 3036; (1764-70?) zwischen " z u f ä l l i g e r Weise particulären" und partikulären Urteilen, die eine "rationale, nicht bloß intellectuale (abstrahirte) Form haben", unterscheidet. Als Bedingung an die rationale Form des p a r t i kulären Urteils soll gelten, daß das "Subject conceptus l a t i o r als das Prädikat" i s t . Das aber heißt nichts anderes, als daß gelten s o l l : SiP
PaS
Berücksichtigt man die Gleichsetzung von "rational" und "logisch" in den Jahren, in denen diese Reflexion geschrieben wurde, so erkennt man, daß die logische Form des partikulären Urteils auf eine intensionale Logik schließen läßt. Es i s t nun der Punkt erreicht, an dem ein Exkurs über die Logik des Reimarus eingeschoben werden s o l l . Reimarus war wegweisend für die Logik Kants in den Jahren 1762-64, und zwar in folgenden Punkten: Merkmalsbeg r i f f , Einstimmung, Widerstreit, affirmative und negative Urteile. Damit soll keineswegs behauptet werden, Reimarus sei die einzige Quelle für Kants Logik gewesen. Das Urteilsverständnis - Urteilen i s t Vergleichen
39
Exkurs zu Reimarus nach den beiden Hinsichten der Einerleiheit und des Widerspruchs - beispielsweise wurde sicher auch von Locke vorbereitet (Essay, IV.3.9), der wahrscheinlich ebenso auf Reimarus einen bestimmenden Einfluß ausübte (vgl. auch 1.4.3.).
1.3.1.2. Exkurs zu Reimarus
Die Vernunftslehre von Reimarus gründet die Logik auf zwei Prinzipien, was schon im Titel zum Ausdruck kommt: "Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganzg natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet".
Diese Regeln sind Grundregeln der Vernunft, und durch sie
wird Vernunft definiert: "Demnach ist die Kraft, nach den Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs
über die vorgestellten
Dinge zu
reflectaren,
diejenige, welche wir Vernunft heißen" (Reimarus, Logik, § 15). Logischer Grundakt, der geregelt ist durch Einstimmung und Widerspruch, ist also das Reflektieren, das Reimarus auch als Vergleichen bestimmt.^ 0 Vernunft ist also, ganz wie bei K a n t ^ in den Jahren 62-64, ein Vermögen des Vergleichens nach den Regeln der Identität und des Widerspruchs. Diese Regeln stehen also notwendig am Anfang der Vernunft}ehre,
die eine
von dem rechten Gebrauche der Vernunft im Erkenntniß
"Wissenschaft 12 der Wahrheit" ist
(§ 3). Die Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs lauten: "Ein jedes Ding ist das, was es ist. Man könnte auch sagen: Ein jedes Ding ist mit sich selbst einerley, oder sich selbst ähnlich und gleich ... Ein Ding kann nicht zugleich seyn und nicht seyn" (§ 14). 9
10
11 12
Hermann Samuel Reimarus: ..., 2. Aufl. Hamburg, 1758. Die Logik von Reimarus war sehr verbreitet, was sich daran ablesen läßt, daß sie bis 1790 sechs Auflagen erlebte. "So heißt eine Kraft zu reflectiren so viel, als ein Vermögen und Bemühen des menschlichen Verstandes, durch Vergleichung der vorgestellten Dinge einzusehen, ob und wie weit sie miteinander einerley sind, oder nicht, sich einander wiedersprechen, oder nicht" (Reimarus, Logik, § 12). Vgl. 1.3.3. und "Menschen vergleichen die Dinge (ohne dies Vermögen wären die Menschen bloß Monaden vielleicht)" (Mp. Herder, S. 857). Diese Definition der Logik findet man im wesentlichen auch bei Kant: "Logic ist eine Wissenschaft, wie man seine Vernunft brauchen soll" (R 1574, 1760-75). Oder: "Die Wissenschaft von (objectiven) Regeln des richtigen Gebrauchs der Vernunft überhaupt ist Logic" (R 1579; 1760-75).
40
Die extensionale Logik Kants 13
Es ist erstaunlich,
daß der Wolffschüler Reimarus die Regel der Ein-
stimmung (= Principium identitatis nach § 14) dem Principium contradictio14 nis nebenordnet und nicht nach Wolffscher Tradition unterordnet. Dies könnte man auf den Einfluß
der Prinzipienlehre, die die Bedeutung des
Satzes der Identität herausstreicht, in der ND Kants zurückführen. "Eben diese Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs sind zureichend, alle Wahrheit und Richtigkeit aller unserer Gedanken auszumachen" (§ 18). Da die "Wahrheit aller unserer Gedanken" aber die logische Wahrheit (vgl. § 17) ist, handelt es sich also bei den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs um logikinterne Prinzipien, die nicht von der Ontologie oder Psychologie übernommen werden. Diese Hervorhebung des logischen Charakters der Prinzipien wird sich dann bei Kant durchsetzen zusammen mit der Crusia15 nischen Unterscheidung von formalen und materialen Prinzipien. Was aber heißt Einstimmung, was Widerspruch? Für die Einerleyheit^ gibt Reimarus implizite ein hinreichendes Kriterium: "weil ... Eins in dem Anderen enthalten, und also mit demselben einerley ist ..." (§ 18). Diese Einerleyheit (Enthaltensein in) spricht man in einem bejahenden Urteil aus. Also ist der Satz der Einstimmung Prinzip der bejahenden Urteile (ib.). Die Relation "enthalten in" zeigt ihrerseits das Verhältnis von allgemeinen und besonderen (oder einzelnen) Begriffen a n : ^ "Die ganze Vorstellung der allgemeineren Begriffe ist in allen ihren Besonderen enthalten, wovon sie abgesondert ist ... Was die besonderen Begriffe vorstellen, das ist nicht alles
in ihren allgemeinen enthalten ... Der ganze allgemeine Be-
griff ist also nur mit einem Theile der besondern Begriffe einerley" (§ 57, 13
14
15 16
17
Dies rechtfertigt u.E. auch die Feststellung v o n Risse: "In einiger Selbständigkeit gegenüber der Wolffschen Schule behandelt Reimarus die Logik oder Vernunftlehre ..." (W. Risse, Logik der Neuzeit, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1970, Bd. II, S. 654). Bei k e i n e m Wolffschüler findet m a n diese Koordination, nicht einmal bei Darjes oder Schierschmiedius, die doch der Logik ihr eigene P r i n zipien voranstellen. Vgl. zu Darjes: J.G. Darjes: Introductio in a r t e m inveniendi seu logicam, Ienae 1747, §§ 1 ff., u n d z u Schierschmiedius W. Risse, ib. S. 639. Vgl. Crusius, Logik, §§ 421, 433. "Einerleyheit" ist die Wolffsehe Uebersetzung v o n "identitas". Vgl. Chr. Wolff: Vernünftige Gedanken v o n Gott, der Seele des Menschen, auch aller Dinge überhaupt, 3. Aufl. Halle 1725, § 17. Die dazu inverse Relation im Falle der Relata einzelnes Ding-allgemeiner Begriff heißt "gehören unter".
41
Exkurs zu Reimarus U.V.V.). Was sind nun aber Teile eines Begriffes! 18 eines Dinges:
"Das Verschiedene,
Sie sind die Merkmale
welches in einem deutlichen
Begriff
befasset wird, bestehet in dessen Theilen, die zusammen genommen, Merkmaale des Ganzen sind" (§ 69). Den Ausdruck "Theilbegriff" als diskursiver Charakter des Merkmals findet man - soweit wir 19 sehen - nur bei Reimarus, von woher ihn Kant wohl auch übernommen hat. Der Teilbegriff impliziert denn auch eine partielle Identität: "Die Einstimmung der Begriffe hat verschiedene Schranken: der Begriff Β kann mit dem ganzen A, oder nur mit einem Theile des A, oder mit einem Umstände des A einerley seyn" (§ 118). Einstimmung mit dem ganzen A ergibt einen im Wolffschen Sinne identischen Satz. So besteht also etwa in einer Definition totale Einstimmung. Zwei Begriffe heißen partiell einerlei, genau dann, wenn Β ein von A abgesonderter Begriff ist, wie aus der Erläuterung des zitierten § 118 hervorgeht. Analog werden die Stufen des Widerspruchs beschrieben: "Der Wiederspruch der Begriffe hat gleichfalls verschiedene Schranken. Der Begriff ß kann dem ganzen Begriffe A, oder einem Theile des Begriffs A, oder einem Umstände desselben, wiedersprechen" (§ 119). Bejahende Urteile beruhen also auf dem Satz der Einstimmung, verneinende auf dem Satze des Widerspruchs, weil z.B. in den bejahenden das Prädikat ein Teilbegriff des Subjektes ist, und also partielle oder bestenfalls totale Einstimmung vorherrscht. Aus diesem Verständnis der Qualitas ludici i erhellt nun sogleich die Definition des Urteils im § 115: "Wenn man zween Begriffe mit einander vergleicht
(u.v.V.).und dadurch einsieht, daß die
eine Vorstellung mit der anderen einerley sey, oder der andern wiederspreche: so urtheilet man. Ein Ortheil (Judicium) ist demnach die Einsicht von der Einstimmung oder dem Wiederspruche zweyer Begriffe." Weil die Vergleichung die logische Operation überhaupt ist, kommt dem Urteil, das ja Vergleichung ist, eine zentrale Stelle in der Reimarischen Logik zu. Festzuhalten ist auch, daß Begriffs- und Urteilsrelationen identisch gesetzt werden, und zwar immer im Blick auf die Einheit des logischen Grundaktes. 18
19
"Ein Merkmal oder Kennzeichen (Notam, seu characterem) nennet man dasjenige, woran man ein Ding kennet und von anderen unterscheidet" (§ 68). So auch im § 75: "Was von der Deutlichkeit in den Theilen eines Begriffes, als Merkmaalen der Dinge ..." "Der Theilbegriff als Erkentnisgrund der ganzen Vorstellung ist das Merkmal" (R 2283; 80er Jahre?).
42
Die extensionale Logik Kants
Damit ist bereitet
in Grundzügen
die
Kantische
Logikposition
der Jahre
62-64
vor-
. 20
Diesen Einfluß von Reimarus auf Kant
belegen noch zwei mehr formale
Fakten: - Kant besaß die Logik von Reimarus in seiner Privatbibliothek. Dies ist nennenswert, denn neben den Logikbüchern von Crusius und Corvinus besaß Kant keine weiteren Logiken, wahrscheinlich nicht einmal die Wolffsehen, die ja in unzähligen Auflagen, die deutsche Logik Wolffs jedenfalls, 21 erschienen. - Kant erwähnt Reimarus des öftern in der Mp-Vorlesung Herder. In den NG wird sogar die Vernunftlehre von Reimarus genannt: "Man kann unter anderen hierüber (seil, über die in den Tiefen unseres Geistes verborgene Geschäftigkeit) die Logik des Reimarus nachsehen ..." (NG, S. 191). Im folgenden soll noch über einige auffällige sachliche Übereinstimmungen mit Kant berichtet werden, die aber für den weiteren Gang der Untersuchung nicht von Bedeutung sind. (1) Reimarus unterscheidet Vernunftschlüsse (auch mittelbare nannt) und unmittelbare.
Schlüsse ge-
"Die unmittelbaren Schlüsse, von einem Urtheile
auf das andere, führen uns auf die mittelbaren Schlüsse, welche in der deutlichen Einsicht des Zusammenhangs zweyer Urtheile mit einem dritten bestehen, und eigentlich, oder ausnehmend, Schlüsse nennet sie auch deutliche oder förmliche schlüsse
Schlüsse,
genannt werden. Man imgleichen
Vernunft-
" (§ 172). Das Kriterium der Mittel barkeit und Unmittelbarkeit gibt
auch für Kant die Unterscheidung von Verstandes- und Vernunftschlüssen ab. (2) Das Principium aller Vernunftschlüsse drückt Reimarus vermittelst der Transitivität der Identität aus, nicht durch das traditionelle Dictum de omni et nullo, wie etwa Wolff. "Die Grund-Regeln der Vernunftschlüsse sind demnach keine andere, als die Regeln
der Einstimmung
und des
Wiederspruchs.
Denn was die Messkünstler in Grössen zur Regel der Gleichheit oder Ungleich-
20
21
Diese These spricht auch Ueberweg - allerdings ohne sie zu begründen in seinem System der Logik 4 , Bonn 1874, S. 44 aus: "In mehrfacher Beziehung schließt sich Kant (theils bestimmend, theils polemisch) zunächst an Reimarus an." Vgl. A. Warda, Kants Bücher, Berlin 1922.
Exkurs zu Reimarus
43
heit annehmen, das wird hier zur allgemeinen Regel aller mittelbaren Einsicht der Vernunft: Wenn swey Dinge mit einem dritten einerley sind, so sind sie auch soferne unter sich einerley. Wenn aber eins mit dem dritten einerley, das andere nicht einerley ist, so sind sie beide auch mit einander nicht einerley, sondern wiedersprechen sich vielmehr" (§ 176). So begnügt sich auch Kant nicht mit der Unerweisbarkeit des Dictum de omni et nullo; er führt es zeit seines Lebens (d.h. von der Textlage her: bis zur Wiener Logik) auf das dem Dictum Grund gebende "nota notae est nota 22 rei ipsius, repugnans notae répugnât rei ipsi" , das in der Terminologie der Schriftengruppe von 1762/63 nichts anderes meint als die Transi ti vi tat der Relation Nota notae oder Nota/Res, die ja eine Identitätsrelation ist. (3) Die Hauptmomente der Einteilung der Urteile werden im Kapitel über die Form der Sätze (Kap. 6) unter dem Randtitel: "Was ferner bey der Form der Sätze zu beobachten" bei Reimarus aneinandergereiht: "Nachdem wir nun die verschiedenen Formen der Sätze, und was zu ihrer Zergliederung gehöret, erkannt haben, so wird es auch nicht schwer seyn, dadurch eines Theils die Verwirrung in der Qualität, Quantität und Verbindung der Sätze, wodurch die Einsicht des Wahren gehindert wird, vorzubeugen" (§ 150). Mit "Verbindung" meint Reimarus Verbindung von einfachen Sätzen zu vielfachen: "Weil aber die beiden einfachen Sätze, durch ihre Verbindung, ein einiger vielfacher Satz werden: so kommt das Wesentliche eines vielfachen Satzes nicht auf die Theile, an sich und besonders betrachtet, sondern auf die Verbindung des Hintertheils mit dem Vordertheile, an" (§ 144). Die Arten der Verbindung, die nicht "in der Vernunftlehre übergangen werden" (§ 145) können, sind hypothetische und disjunktive Sätze: "Die bedingten Sätze, (Conditionatae s. hypotheticae), welche durch wo —
so verbunden werden, und die
theilenden Sätze (disjunctivae Propositiones), welche durch Entweder - oder zusamnen hängen, sind wohl unstreitig die vornehmsten, weil sie auch in 22
Analog in der FS: "Aus dem Angeführten erkennet man, daß die erste und allgemeine Regel aller bejahenden Vernunftschliisse sei: Ein Merkmal vom Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst ...; von allen verneinenden: Was dem Merkmal eines Dinges widerspricht, widerspricht dem Dinge selbst ... Allein, daß diese Regeln den allgemeinen und letzten Grund aller vernünftigen Schlußart enthalten, erhellet daraus, weil diejenigen, die sonst bis daher von allen Logikern für die erste Regel aller Vernunftschlüsse gehalten worden, den einzigen Grund ihrer Wahrheit aus den unsrigen entlehnen müssen" (FS, S. 49).
44
Die extensionale Logik Kants
Schlüssen gebraucht werden, und das Erkenntniß ihrer Qualität sowohl als Wahrheit einige Vorsicht gebraucht" (§ 145). Die hypothetischen Sätze können nicht, wie das Wo!ffsehe Tradition wäre, auf kategorische zurückgeführt werden. Ihre Form ist die Folge. Bei den disjunktiven Sätzen besteht die Form in der Relation eingeteiltes Glied/eingeteiltes Ganzes. Halten wir fest: Die Verhältnisse sind im Falle der Verbindung von Sätzen den Kantisahenj dem Hauptmoment der Relation unterstellten
analog, mit
der einzigen Ausnahme, daß die einfachen (kategorischen) Sätze nicht unter den Gesichtspunkt der Verbindung gestellt werden. Es ist erstaunlich, daß Tonelli in seinem Aufsatz: "Die Voraussetzungen 23 zur Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jhds." , der auf Vol 1 24 ständigkeit und Endgültigkeit bedacht ist, Reimarus wie folgt behandelt: "REIMARUS (1756) kennt hauptsächlich 1. die Qualität - bejahend, unbestimmt, verneinend (unendlich), geradeverneinend -: und 2. die Quantität der Urteile - allgemein, besonders, einzeln - ... Das Uebrige in der Einteilung von Reimarus ist von minderer Wichtigkeit"
(S. 141, u.V.V.). Tonelli übergeht
also die Reimarsche Einteilung der Urteile nach dem Gesichtspunkte der Verbindung und kann so auch behaupten, daß Kant der erste war, der hypothetische und disjunktive Urteile als Urteile der Relation auszeichnete. Kant selbst kommt zum ersten Mal in der Logik Blomberg darauf zu sprechen: "man nennt nemlich diejenigen Urtheile, wo man sich das Verhältniß zweier Urtheile mit einander denckt, Verhaltniß-Urtheile {relative), diese Urtheile nun betrachten das Verhältniß eines Urtheils zum anderen, entweder der Verknüpfung nach, und alsdenn sind sie Hypothetische
Urtheile, oder dem Wieder-
streit nach, und sie sind sodan disjunctive urtheile"
(Logik Blomberg, S.
276). Wenn man nun Tonellis Einzel Untersuchungen - außer derjenigen über 23 24
In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achzigsten G e burtstag. Hg. v. F. Kaulbach und J. Ritter, Berlin 1966, S. 134-58. So schreibt Tonelli S. 134: "Wir haben deshalb eine eingehendere Untersuchung unternommen, in deren Laufe wir die wichtigsten deutschen Lehrbücher der Logik v o m Anfang des 18. Jhds., fast die sämtlichen deutschen Lehrbücher der Logik zwischen 1725 und 1777 (einschließlich), und die wichtigsten ausländischen Lehrbücher der Logik zwischen 1700 und 1777 in Hinsicht auf unsere Frage durchgesehen haben." Daß Tonelli das Kap. 6 der Reimarischen Logik übersehen hat, zeigt sich auch darin, daß Reimarus nicht unter die Autoren aufgenommen wird, die von der "Form der Sätze" sprechen (S. 150).
Form des Urteils
45
Reimarus - glauben darf, so wäre der einzige Logiker im 18. Jhd. Reimarus, der den Gesichtspunkt der Verbindung aufgestellt hätte und zugleich einer der wenigen, die die hypothetischen und disjunktiven Urteile zusammen unter einen Gesichtspunkt stellten. Dies wirft ein neues Licht auf die Entstehung der Urteilstafel, ein Thema, das aber in diesemRahmen nicht behandelt werden kann. 1.3.1.3. Form des Urteils Es gilt nun aufzuzeigen, wie Kant die von Reimarus entdeckte Fassung der Qualität der Urteile, die die Theorie der Prinzipien der Einstimmung und des Widerspruchs, der Bejahung und Verneinung und die des Urteils als Vergleichung voraussetzt, aufnimmt und zu einer intensionalen Logik ausgestaltet. Auf die zentrale Stellung, die das Urteil qua Vergleichung in der Logik von Kant und Reimarus einnimmt, wurde hingewiesen. Daß dafür der eigentliche Grund in der Definition des Urteils liegt, kann jetzt auf dem Hintergrund der Reimarschen Vernunftlehre deutlich gemacht werden. Die Urteilsdefinition in der FS lautet: "Etwas als ein Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urteilen" (FS, S. 47). Damit ist die Frage, was ein Urteil sei, verschoben auf diejenige: Was ist Vergleichung? Aufschluß darüber gibt die Bestimmung der Modi der Qualitas judicii: "Weil die Form einer jeden Bejahung darin besteht, daß etwas als ein Merkmal von einem Dinge, d.i. als einerlei mit dem Merkmale eines Dinges, vorgestellt werde, so ist ein jedes bejahende Urteils wahr, wenn das Prädikat mit dem Subjekte identisch ist" 25 (DTL, S. 294). Die Form eines Urteils ist offensichtlich ein neuer Gesichtspunkt in Kants Logikverständnis. Es kündigt sich hier eine Weiterentwicklung der Position der ND an. Denn dort war der doppelte Identitätssatz ein metaphysischer Grundsatz, aus konsequenter Reflexion auf die Beweistheorie gewonnen. Daß Kant ihn nun zu einem Formprinzip der Urteile (speziell der 25
Analoges gilt natürlich für die negativen Urteile: "Und da der Satz welcher das Wesen aller Verneinung ausdrückt: keinem Subjekte k o m m t ' ein Pradikat zu, welches ihm widerspricht, der Satz des Widerspruchs ist, so ist dieser die erste Formel aller verneinender Urteile" (DTL
46
Die extensionale Logik Kants
affirmativen) macht, zeigt, daß er Logik und Ontologie zu trennen und sich eo ipso vom Rationalismus zu emanzipieren beginnt. Was nun "Form eines Urteils" meint, definiert Kant in der Mp. Herder so: "forma ist die Art, wie ich das Subjekt und prädicat vergleichen soll" (Mp. Herder, S. 8). Aufgrund dieses Formbegriffs kann Kant nun den Satz der Identität und den Satz des Widerspruchs "principia formalia" nennen. Was ist nun aber der Grundbereich, auf dem die Form des Urteils, d.i. die Vergleiahungsart als Urteilsrelation definiert ist? Die Identität besteht darin, daß "etwas als einerley mit dem Merkmale eines Dinges vorgestellt werde". Was ist aber womit einerlei? Doch wohl das Prädikat mit einem Merkmal (Teilbegriff) des Subjektsbegriffes. "Weil bejahen heißt: ein Merkmal für identisch mit dem Merkmal einer Sache ausgeben. Diese Identität ist a) aut totalis - ein Mensch ist ein Mensch - b) aut partialis -" (Mp. Herder, S. 158). Daß Sache hier den Subjektsbegriff meint und nicht etwa die Res, daß Merkmal ein Teilbegriff und nicht etwa die Nota rei ist, zeigt folgender Passus: "Einen bejahenden Satz zu beweisen, muß man also zeigen, daß das praedicat dem subject identisch ist: dies geschieht dadurch, daß ich das subject zergliedere und das identische des praedicats in ihm deutlich mache" (Mp. Herder, S. 8). Diese Identität ist also nicht so zu verstehen, daß ein diskursives Merkmal (Teilbegriff) mit einer realen Eigenschaft eines Dinges identisch ist, oder ihr etwa adäquat wäre, sondern so, daß das Prädikat mit einem Teil begriff (Kant spricht ja von Identitas partialis) des Subjektsbegriffes identisch ist. Identität ist also eine rein begriffliche Relation. Damit ist eine erste Bestimmung der Qualität der Urteile gewonnen. Die affirmativen Urteile beruhen auf dem Formprinzip der Identität, die negativen auf demjenigen des Widerspruchs. Das Prädikat ist identisch mit einem Teilbegriff des Subjekts. Also ist das Vergleiohen eine Operation, die zwei Hinsichten hat: Identität und Widerspruch. Dies ist aber im wesentlichen die Reimarische Position bezüglich der Qualität der Urteile. Diese Position fällt aus der Wolffschen Tradition heraus. Sie ist aber auch nicht der Ansatz einer analytischen Urteilstheorie, denn die Prinzipien sind ja bloße Formprinzipien. Es bleibt noch zu zeigen, daß Kant wie Reimarus die Urteilsrelation als Enthalten-in-Relation
versteht: "Bejahen heißt vorstellen, daß das Prädi-
Deutlichkeit und logisches Wesen
47
kat dem subjecte identisch, d . i . in ihm schon enthalten sey" (Mp. Herder, S. 8). Da die Identität eine rein begriffliche Relation i s t , muß auch die Relation "enthalten in" bloß b e g r i f f l i c h verstanden werden. Hierbei zeigt sich deutlich ein weiteres Moment der Loslösung von der rationalistischen Tradition: Es werden nur noch Begriffe und deren Verhältnisse, die durch die Relation "enthalten in" geordnet werden, betrachtet. Kants Logik i s t also eine rein intensionale. Diese Tendenz der Logik zur Form hin v e r h i l f t nun auch zur Einsicht in die Bedeutung des "als" in der Urteilsdefinition. Das " a l s " meint " g l e i c h sam". Es will die Urteilsrelation "enthalten in" versinnlichen, d . i . sie durch die ontologische inesse-Relation, die ja dem philosophischen Zeitgeist geläufig war, verständlich machen, nicht aber "enthalten in" und "inesse" gleichsetzen. Deshalb gibt es für Kant auch nur noch einen Modus praedicandi, nicht mehr deren drei wie bei Wolff, und das Dictum "modus praedicandi sequi modum essendi" v e r l i e r t seine Gültigkeit. In der FS deutet Kant diese Einsicht so an: "Man verstehet l e i c h t , daß, wenn man das Prädikat ein Merkmal nennet, dadurch nicht gesagt werde, daß es ein Merkmal des Subjekts s e i , . . . " (FS. S. 47). Gemeint i s t dabei, daß der Terminus "Merkmal" seine Bedeutung a l s I n t r i n secum rei,
die er noch bei Wolff hatte, verloren hat und in einer rein l o -
gischen Bedeutung, als Teil begriff, genommen wird. 1.3.1.4. Deutlichkeit und logisches Wesen Der Fortschritt des Systems 1762/63 gegenüber etwa der ND besteht sicher zum Teil in der Wendung von der ontologischen Logik zur intensionalen Log i k , d.h. in der Trennung von Logik und Ontologie. Das Vorurteil, daß das wahre Urteil diejenige inesse-Relation ausdrücke, die am Seienden selbst bestehe und eo ipso das Vorurteil, daß das Seiende von begrifflicher Struktur s e i , löst Kant auf durch sein neues Urteilsverständnis: Etwas wird als etwas angesehen: das bedeutet die Rücknahme der inesse-Relation in die Logik, genauer ins U r t e i l , mit dem Bewusstsein, daß man diese U r t e i l s r e l a tion nur als
inesse-Relation ansehe.
Diese Loslösung des Merkmalsbegriffs
von der Nota rei wird sich noch fortsetzen in der Bestimmung des Merkmals als Erkenntnisgrund in der Dissertatio.
48
Die extensionale Logik Kants Die Trennung von Logik und Ontologie zeigt sich in der Mp. Herder bei
der Behandlung der § 192 ff. von Baumgartens Metaphysik, die von der Substantia
handeln. Kant sagt dazu: "Die eOentialia
terminirt - nicht accidentien, sondern logische ein Ding nicht gedacht
ettentiae
sind nicht de-
praedicate:
ohne sie kann
werden" (Mp. Herder, S. 25, u.v.V.). Essentialia
sind nach Baumgartens § 39 "Determi nati ones possibilis internae", die "rationes reliquarum internarum" sind. Durch die Kantsche Auflösung des ontologischen Möglichkeitsbegriffes in einen bloß logischen (vgl. dazu 1.3.2.) wird das Essentiale ein bloß logisches Prädikat, d.i. es ist eine bloße Möglichkeit qua Begriffsintension. Essentialien sind also nur noch konstitutiv für das Denken eines Dinges, nicht mehr für das Ding selbst. oc
Kant fährt fort: "Das substantiate Das Eßentiale
enthält den ersten Realgrund ...
den ersten logischen Grund" (ib.).
Diese Unterscheidung von Essentiale und Substantiale entspricht Kants Unterscheidung von Wesen und Natur, die er in derselben Vorlesung macht: "Uesen betrifft den logischen
begrif,
dem alle übrige subordinirt sind,
ein Merkmal waz die Sache von allen übrigen unterscheidet. Der Wesentliche Begrif ist die bestimmte Vorstellung einer Sache, die sie von allen andern unterscheidet ... Aus der Natur
kann man nicht blos die Sache unterschei-
den, sondern auch Gründe der Veränderung davon geben ... E. des Quecksilbers Natur muß den realgrmd
von allen folgen deßelben enthalten" (Mp.
Herder, S. 49; u.v.V.). Das Wesen ist also der bloß logische
Grund eines
Begriffes, aus dem andere Prädikate in Urteilen logisch abgeleitet werden können. Natur
ist der Realgrund
einer Sache, aus der reale Folgen (Verän-
derungen) abgeleitet werden können. Die Unterscheidung von Wesen und Natur 27 ist nun in nuce diejenige von logischem und realem Wesen, die Kant später 26
Baumgartens Definition von "Substantiale" lautet folgendermaßen: "Id in substantia, cui inhaerere possunt accidentia, s. substantia, quatenus est subjectum, id ... vocatur substantiale" (Bg., Mp., § 196).
27
Wie gezeigt w e r d e n wird (1.6.1.), hat Kant den Terminus "logisches Wesen" von Crusius übernommen. Bei Kant taucht er unseres Wissens erstm a l s auf in der R 2311: "Das logische W e s e n kann sie v o n allen B e g i f fen finden, aber nicht das realwesen." Die Datierung (1755-70) ist fraglich. Niemals trifft 1755 zu, sonst hätte wohl Kant in den Stellen der Mp. Herder schon den T e r m "logisches Wesen" verwendet. Die R 3884, in der diese Unterscheidung erstmals in den Metaphysik-Reflexionen auf-
Deutlichkeit und logisches Wesen
49
treffen wird. Essentiale ist also das Konstituens der Begriffsintension. Es betrifft allein den logischen Begriff und hat überhaupt nichts mit der Sache (Ding) zu tun. 28 Vor Kant hat Locke
Namenwesen ("nominal essence") und Sachwesen ("real
essence") unterschieden. "Fürs Erate, es kann für das Seyn genommen werden, wodurch ein Ding das ist, was es ist ... Allein da es offenbar ist, daß die Dinge, vermittelst gewisser Namen, in Gattungen und Arten gebracht werden, bloß nachdem sie mit gewissen abgesonderten Begriffen übereinkommen, mit denen wir solche Namen verknüpfet haben: ... Diese zwo Gattungen des Wesens können, meines Ermessens, gar wohl ihre besondere Namen haben, so daß man das eine nicht unfüglich das Sachwesen, das andere das Namenwesen nennete" (3. Buch, 3. Kap. § 15). Das Nominalwesen, das etwa durch Angabe von Gattungen und Arten expliziert wird, ist für Locke deshalb nur nominal, weil die Gattungen und Arten bloße Namen des abstrahierenden Verstandes sind. Der Schritt zu einer Interpretation des Nominalwesens als logisches Wesen liegt also auf der Hand: Die Gattungen und Arten sind bloße Prädikate des Subjektsbegrtffs, um dessen Wesen es ja geht. Die Bestimmung des wesentlichen Begriffes als "bestimmter Vorstellung einer Sache, die sie von allen andern unterscheidet" (Mp. Herder, S. 49) führt nun auf den Zusammenhang des logischen Wesens mit dem Problem der Deutlichkeit (distinctio von: distinguere) der Begriffe. "Einen deutlichen Begriff falsch erklären in dem die Merkmale klar sind, sondern wenn man etwaz als ein Merkmal sich klar vorstellt, und dies, wenn einer sich der ganzen Vorstellung bewust ist, und das als ein partial Begriff von der ganzen. - E. Tugend, waz denke (u.v.V.) ich dabei: ich mache also meine eigne Vorstellung zum Objekt der Vorstellung - und denn deutlich" (Mp. Herder, S. 868). Das Beispiel der Tugend verdeutlicht den ersten Satz des Zitats: Die Deutlichkeit wird nicht durch klare Merkmale erreicht, wie dies etwa Kant selber noch erklärte Mitte der 50er Jahre: "Die Merkmale sind klar,
28
tritt, ist datiert: 1766-70? Erste sicher datierte Reflexion ist R 3966 (1769). Diese Unterscheidung dürfte wohl, d a sie in der Mp Herder noch terminologisch die Unterscheidung zwischen Natur und W e s e n ist, in die Zeit zwischen 1766 und 1778 fallen. Zur Unterscheidung v o n W e s e n und Natur vgl. R 4095 (64-69?). J. Locke: Versuch v o m m e n s c h l i c h e n Verstände. Aus dem Englischen ü b e r setzt und mit Anmerkungen versehen von E.H. Poley, Altenburg 1757.
50
Die extensionale Logik Kants
deutlich" (R. 3370). Das bedeutet aus dem Zusammenhang der Reflexion: Wenn die Merkmale eines Begriffes klar sind, dann ist der Begriff deutlich. Mit dem Ausdruck: "falsch erklären" richtet sich Kant gegen Meier, der im § 147 seiner Vernunftlehre sagt: "Die Merkmale einer deutlichen Erkenntniß sind klar." Dagegen nennt Kant einen Begriff deutlich, "wenn man 29 etwas als ein Merkmal sich klar vorstellt, was aber, gemäß der Urteilsdefinition dieser Jahre, nur durch ein Urteil geschehen kann. Wenn ich etwas als
ein Merkmal (Teilbegriff) von anderem vorstelle, muß ich mir
natürlich der ganzen Vorstellung bewußt sein, d.i. ich muß eine klare Vorstellung haben. Die ganze Vorstellung ist nun das, "was ich dabei
denke"
und ist so wohl unterschieden von der ontologischen Struktur des Dinges. Später unterscheidet Kant zwei Arten von Deutlichkeit: "Man kann sich zweyerley Bemühungen geben: 1. das klar zu erkennen, was man nicht weis, oder 2. das klar zu erkennen, was man schon weiß ... Die erste Handlung 30 ist synthetisch, die andre analytisch" (R 2355, 1769/70?). Dieser Unterscheidung von analytischer und synthetischer Deutlichkeit entspricht diejenige von "einen deutlichen Begriff machen" (synthetisch) und "einen Begriff deutlich machen" (analytisch). Der Zusammenhang mit der "klassischen" Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen liegt auf der Hand und wird auch früh von Kant ausgesprochen: "Alle analytische Urteile lehren, was in den Begriffen, aber verworren gedacht ist; die synthetische, 31 was mit dem Begriffe soll verbunden gedacht werden" (R 3738; 1764-66). Diese Unterscheidung am Begriff der Deutlichkeit wird dann in der Dissertation von Kant wieder aufgenommen in der Form: "Die Deutlichkeit durch 29
Vgl. Mp. Herder, S. 869: "Die Deutlichkeit ist die Klarheit des Merkmals, als Merkmal, und ist also die Klarheit des Begriffs: durch ein Urtheil." Vgl. Logik Philippi, s.409. 30 Vgl. R 2392 (60er, 70er Jahre?): "Nicht alle Deutlichkeit entspringt analytisch, nemlich durch Merkmale, die schon in dem Begriffe einer Sache lagen, sondern viele synthetisch durch Merkmale, die man in dem Begriffe nicht einschließt, sondern als dazu gehörig damit verknüpft." Reusah inauguriert die für Kants Unterscheidung von analytischen und und synthetischen Urteilen wichtige Differenz von analytischer und synthetischer Klarheit in Kap. III (De claritate idearum analytica et synthetica) seiner Logik. Reusch: Systema logicum, Ienae 1734, S. 171ff 31 Vgl. auch R 3749 aus derselben Zeit: "Man kann Begriffe miteinander verknüpfen, um so daraus einen größeren Begriff zu machen (synthetisch); oder man kann Begriffe miteinander verknüpft gedenken, um dasjenige, was in ihnen ist, zu erkennen."
Intensionale Logik und das Modalitätenproblem
51
coordination geschieht per synthesin. durch subordination per analysin" (R 2357; 1770-72). Es ist kein Zufall, daß gerade aus dem Problem der Deutlichkeit von Begriffen die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen hervorgeht. In 1.4. werden wir nochmals darauf zurückkommen. Als Ergebnis halten wir fest: Kants Urteilsverständnis ist ein intensionales. Wegbereiter war Reimarus. Die intensionale Logik Kants ist ein Resultat der Trennung von Logik und Ontologie. Damit mußte auch die ontologische individual-intensionale Urteilstheorie der ND wegfallen. Eine weitere Folge der Abkehr von der rationalistischen Philosophie ist die tiefgreifende Veränderung in den Begriffen der Deutlichkeit und des Wesens.
1.3.2. Intensionale Logik und das Modalitätenproblem Nachdem eine Analyse der Kantischen Urteilstheorie 1762-64 zeigte, daß Kants Logik eine intensionale ist, soll nun noch mit Hilfe einer notwendigen Bedingung der intensionalen Logik eine indirekte Bestätigung dieser These gegeben werden. Zuerst wird versucht, die These, daß in einer intensionalen Logik notwendig das Problem der Modalitäten auftaucht, d.i. daß ihr Gegenstandsbereich die Sphäre der bloßen Möglichkeiten ist, mit Hilfe des Leibniz-Textes "Quaedam difficultates logicae" und der Lewissdnen Modallogik zu exponieren. Es geht dabei nicht darum, die Begründungen der These etwa bei Leibniz 32 und Lewis
darzustellen, sondern bloß um den Aufweis dieser These. Als
Begründung möge für den Rahmen dieser Untersuchung folgende Ueberlegung dienen: In einer intensionalen Logik kommt nur die Relation "enthalten in" vor, die auf dem Satz der Identität beruht. Sie ist zugleich Begriffs- und Urteilsrelation. Weil sie eine bloße Identität (partielle oder totale) 32
Vgl. hierzu die verwandten T h e s e n Beckers, Carnaps, Quines und W e i n gartners, die im folgenden noch referiert werden. Wenn hier von einer notwendigen Bedingung die Rede ist, dann ist mit intensionaler Logik bloß die klassische Logik der Begriffsintensionen gemeint. Was n e u e r dings seit Carnap zur selben These gesagt wird, ist immer mit Berücksichtigung der Ausweitung der Begriffe Extension und Intension auf Zeichen überhaupt zu lesen.
52
Die extensionale Logik Kants
ausdrückt, ist sie genau dann wahr, wenn ihre Relata einander nicht widersprechen, denn die Negation in einem intensionalen Kalkül ist nicht Satznegation, sondern Prädikatsnegation. Also wird ein Prädikat, das nicht im Subjektsbegriff enthalten ist, als non-S verstanden, das dem Subjekt widerspricht. Der komplexe Subjektsbegriff ist ein bloß Widerspruchsfreies, d.h. ein Mögliches.
Die Objekte der intensionalen Logik sind bloße Möglich-
keiten, d.h. Begriffskomplexe von einander nicht widersprechenden Teil begriffen. In diesem Kalkül ist die Notwendigkeit qua logische Modalität leicht einzuführen. Die These besagt also kurz: Die modale Interpretation ist notwendige Bedingung einer intensionalen Logik. Eine extensionale Logik dagegen bezieht sich immer auf wirkliche, d.i. faktisch existierende Gegenstände. Das Problem der Möglichkeit taucht in diesem Falle nicht auf. Diese These wird auch dadurch bestätigt, daß Leibniz1 Philosophie im Ausgange von seiner intensionalen analytischen Logik in einer Modalitätentheorie kulminiert und daß andrerseits der Grundbegriff des Rationalismus, dessen Logik ebenfalls intensional ist, der des "possibile" ist. In 1.3.2.1. wird die These von der notwendigen Bedingung einer modalen Interpretation der intensionalen Logik entfaltet. Danach gilt es in 1.3.2.2 aufzuzeigen, daß Kants intensionales Urteilsverständnis zur Ausgrenzung einer Sphäre der logischen Möglichkeit führt, deren Grenze allein durch den Respectus logicus abgesteckt ist. Textgrundlage ist hier der EMBG. Dieser Teil läßt sich auch als historischer Beleg für die im ersten Teil exponierte These betrachten.
1.3.2.1. Exposition der These Den Zusammenhang von Modalität und intensionaler Logik hat zuerst Leibniz klar gesehen und bestimmt. Aufschluß darüber gibt der Kalkül der Entia, etwa in seiner Darstellung in den "Quaedam difficultates logicae", die Raspe aus der Masse der Leibnizschen Manuskripte zu Hannover herausgriff 33 und 1765 edierte, was eigentlich erstaunt, wenn man bedenkt, daß der 33
G.W. Leibniz: Oeuvres philosophiques latines et françaises de feu Mr. de Leibnitz, tirées de ses Manuscrits qui se conservent dans la Bibliothèque royale â Hannovre et publiées par M . Rud. Eric Raspe. Avec une Préface de Mr. Kaestner, Professeur en mathématiques à Göttingue. A
Exposition der These
53
Kalkül der Entia völlig aus dem Rahmen der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts betriebenen logischen Reflexion fällt. In neuerer Zeit hat wohl zuerst C.I. Lewis auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. 3 4 Damit inspirierte er Carnap, der dem Problem in seinem 35 Buch Meaning and Necessity nachgeht.
34
35
Amsterdam et à Leipzig 1765. Diese Edition von Raspe ist in der Kantforschung viel zu wenig beachtet. Als einzige stets wiederholte Tatsache wird jeweils darauf hingewiesen, daß Raspe die Nouveaux Essais edierte. Daß aber noch andere Leibniz-Texte sich in dieser Sammlung befinden, die sicher ebenso bedeutungsvoll für Kants Entwicklung waren, bleibt ungenannt. So etwa die "Quaedam difficultates logicae", die bei Ploucquet großen Anklang fanden in den "Anmerkungen über Leibnizens Difficultates lógicas ..." (erschienen in: Ploucquet (1) S. 260 ff.); oder der "Dialogue de connenxione inter res et verba", auf dessen Bedeutung für das Schematismuskapitel einzig G. Martin aufmerksam machte, aber leider keine weiteren Ausführungen dazu gab (G. Martin: Leibniz (1) S. 68). Es ist bezeichnend für die Ignoranz gegenüber der Raspenschen Sammlung, daß Couturat (L. Couturat: La Logique de Leibniz, Paris 1901, p. 358) schreibt: "ces difficultés sont examinees dans le fragment qu'Erdmann a intitulé Difficultates logicae...". Das Fragment wurde ja schon von Raspe so betitelt. So etwa in C.I. Lewis, C.H. Langford: Symbolic Logic, New York & London 1932, p. 66 ff. und p. 278 ff. Und in C.I. Lewis: Notes on the Logic of intensions, in: Structure, Method and Meaning, Essays in honor of H.M. Sheffer, ed. Henle, Kallen and Langer, New York 1951, p. 25-3A. Carnap führt in Carnap (1) die Differenz von Extension und Intension auf state-descriptions zurück, die Leibniz' mögliche Welten repräsentieren (Kap. I-IV). Diese möglichen Welten sind die Grundlage der possible-worlds semantics. Im Kapitel V versucht er, die genannte Unterscheidung auf die Modalität "notwendig" zurückzuführen. Zu dieser Thematik vgl. Weingartner (1) (S. 141 ff.), der die These, daß es nötig sei, "den Unterschied zwischen Extension und Intension auf modallogische Unterscheidungen zurückzuführen" (S. 141), so modifiziert: "Für gewisse Arten von Extension und Intension ist es nicht nötig, ihren Unterschied auf modallogische Unterscheidungen zurückzuführen ... ; für andere Arten ist das nötig" (S. 143). Dabei ist vorausgesetzt, daß nur für Intensionen Modalbegriffe nötig sind, nicht für Extensionen. Vgl. auch 0. Becker: Einführung in die Logistik, vorzüglich in den Modalkalkül, Meisenheim 1950. Und 0. Becker: Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim 1952, S. 51 f. Beckers These lautet ähnlich: "Wir sehen also, daß es bei dieser ganzen Frage der Umfangs- und Inhaltslogik ... auf den Unterschied von Wirklichkeit und idealer Möglichkeit (Denkbarkeit) hinausläuft. Hier tritt also ungesucht das Problem der logischen Modalitäten hervor" (0. Becker, Einf. in die Logistik, S. 33). Vgl. auch Quine: Word and Object, Cambridge 1960. Vgl. das Kapitel: "Flight from Intension", v.a. p. 202). Das historische Urteil über Lewis findet sich hier bestätigt: "Modal logic as we know it was started by Lewis 1918 ..." (p. 195). Und Kauppi (1) S. 243 ff.
54
Die extensionale Logik Kants
Wie stellt sich nun der Zusammenhang von Intension und Modalität dar? Die Objekte der intensionalen Logik sind reine Möglichkeiten, diejenigen der extensionalen « Logik wirkliche Individua. Diese These stellte als erster Leibniz auf. Die Differenz zwischen intensionaler und extensionaler Logik ist in den Namen der beiden Methoden für logische Kalküle enthalten: 37 Methode "secundum ideas" und Methode "secundum individua". Ober das Verhältnis dieser bétden Methoden zu den Modalitäten spricht sich Leibniz in der Schrift "Quaedam difficultates logicae" aus. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Gültigkeit der Conversi o per accidens sagt Leibniz: "Prior loquitur de poesibilibus, libus.
posterior de aatua-
At non occurrit difficultas similis (sc. ob die Conversio des Sat-
zes 'omnis ridens est homo1 in 'quidam homo est ridens 1 gültig sei, auch wenn gerade - aktualiter - kein Mensch lacht) si maneas in temrinis sibilivm,
pos-
v.g. omnis homo est animai, ergo quoddam animal est homo. Dicen-
dem ergo conclusionem, quidam homo est ridens, esse veram in regione „38 rum ...
idea-
Nachfolgend wird dann der eindeutig intensionale Kalkül der Entia ent39 wickelt, in dem das "ens" als "possibile" verstanden werden muß. Die klassischen vier - extensional verstandenen - Aussageformen werden wie folgt interpretiert: a:
Omne A est B:
A non-B est non-ens
o:
Quoddam A non est Β:
A non-B est Ens
e:
Nullum A est Β:
AB est non-ens
i:
Quoddam A est Β
AB est ens
36
37
38 39
(Erdmann, ib, S. 102).
Bezüglich der extensionalen Logik schließt sich Carnap der These Leibniz' an: "The second operation (seil, die Denotation, also die auf Extensionen bezogene semantische Operation) consists in investigation of the factual situation referred to by the given expression" (Carnap: (1), p. 202, u.v.V.). Vgl. De Forma logicae Comprobatione, in CO p. 300: Hactenus quantitates ex individuis terminorum aestimavimus ... Sed inversa plane est ratio aestimandi secundum ideas" (u.v.V.). G.W. Leibniz: Opera philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia. Instruxit J.E. Erdmann, Berolini 1840, S. 101. Vgl. hiezu die Argumentation Kauppis für die Interpretation des Ens als Possibile gegen Couturats Gleichsetzung von Ens und Existens: Kauppi (1) S. 211-22.
55
Exposition der These Diese modale Interpretation beschränkt sich auf die Modalitäten "mög40 lieh" (ens) und "unmöglichenon-ens). Der Kalkül der Entia, der ein durchaus intensionaler Kalkül ist, wird also bei Leibniz modal interpre-
tiert. Die intensionale Logik hat zum Gegenstandsbereich demgemäß "termini possibilium" (regio idearum), während die extensionale Logik "actualia" zum Gegenstande hat. Auf die These über die extensionale Logik kann hier nicht näher eingegangen werden. Es ist eine erstaunliche historische Tatsache, daß das Thema des Verhältnisses von Modallogik und intensionaler Logik erst zweihundert Jahre nach Leibniz wieder aufgenommen wurde. C.I. Lewis deckte das Verschüttete wieder auf mit seiner modalen Interpretation der vier klassischen Aussageformen: "Let us first see what the typical propositions will mean when interpreted in intension. 'All a
are b', as a statement about connotations,
means 'The concept a contains or requires b'; whatever fall under the meaning of a must necessarily have the character b; all possible or logically conceivable a must be b's" (Symbolic Logic, p. 66, u.v.V.). An anderer Stelle gibt Lewis folgende Darstellung (wir schreibenin eine geläufige Notation um): a:
^ M (3x)(f(x)&-g(x))
e:
-vM (3x)(f(x)&g(x))
i:
M0x)(f(x)&g(x))
o:
H0x)(F(x)4*g(x))
(M = möglich)
(ib. 278)
Man kann nun beispielsweise das uni verseil-affirmative Urteil umformen in Ν (Vx)(f(x)-»g(x))
(wo Ν = notwendig)
In natürlicher Sprache besagt dieses Urteil: "Es ist notwendig, daß das Attribut Β (g(x)) in A (f(x)) enthalten ist". 41 40 41
So kommt Kauppi zum Schluß: "Die modale Logik ist also bei Leibniz sehr fragmentarisch entwickelt" (Kauppi (1) S. 245). Diese modale Aussage heißt in der Metasprache "analytisch", etwa nach Carnaps Vorschlag in "Logische Syntax der Sprache" (Wien 1934). Zwei Ubereinstimmungen mit der Kantischen Terminologie sind erstaunlich: 1) in einer analytischen Aussage N(Vx)(f(x) g(x)) ist Notwendigkeit ( n) und Allgemeinheit (V). Notwendigkeit und Allgemeinheit sind bei Kant Kriterien für apriorische Urteile. Alle analytischen Urteile sind also apriorische, was ja Kant auch behauptete. 2) Die Distinktion von analytischen und synthetischen Urteilen k a n n nur in einer intensionalen Logik gemacht werden. Dies ist auch Kants A u f -
56
Die extensionale Logik Kants
Die obige interisionale Deutung der vier klassischen Aussageformen von Lewis entsprechen bei Einsetzung von -
(3x)(f(x) durch A und Qx)g(x) durch Β
-
^ durch non
-
M durch ens
- ^ M durch non-ens genau der Leibnizschen Interpretation: Lewis a: o:
^MQxHfW^Slíx)) M 0x)(f(x)&^g(x))
e:
^M(3x)(f(x)&g(x))
i:
M Qx)(f(x)&g(x))
Leibniz A non Β est non-ens A non Β est ens AB est non-ens AB est ens
Lewis' These über das Verhältnis von modaler Logik und intensionaler Logik lautet: "The difference is that, in an extensional language, the analytic
character of propositions and theorems is not asserted and not
distinguished from the character of nonanalytic truth ... In an intensional system the modalities of functions ... are symbolized and distinguished 42 from nonmodal truth."
Das aber bedeutet, daß flir Leibniz und Lewis in
der intensionalen Logik Modalitäten vorkommen müssen. Im folgenden soll nun anhand der Schrift EMBG aufgewiesen werden, daß auch Kant seine intensionale Logik modal interpretiert.
42
fassung, wenn er meint, dieser Unterschied könne nicht im Rahmen der formalen Logik gemacht werden, die ja, beim kritischen Kant, extensionale ist: "Allein Urteile mögen nun einen Ursprung haben, welchen sie wollen, oder auch ihrer logischen Form nach beschaffen sein, wie sie wollen, so gibt es doch einen Unterschied derselben, dem Inhalte nach ..." (Prolegom. AA Bd. 4, S. 266). Darauf führt Kant den Unterschied von analytischen und synthetischen Urteilen ein. Letzterer ist also vom Gesichtspunkt der logischen Form her völlig irrelevant. Lewis in: Structure, Method and Meaning, zit. Anm. 33, p. 25 f.
Intensionale Logik und Modalität im EMBG
57
1.3.2.2. Intensionale Logik und Modalität in EMBG Die Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund, die "Kants Namen zum 43 ersten Mal in weiterem Gelehrtenkreis bekanntgemacht zu haben scheint", zeigt Kant im Aufbruch gegen die rationalistische Schul philosophie. So schreibt Mendelssohn in seiner Rezension: "Dem Hrn. V. (seil. Verfasser: Kant) gebührt das Lob, daß er selbst
gedacht
... habe ... Der Schimmer der
Wahrheit, der aus verschiedenen seiner Sätze hervorleuchtet, wird bey Kennern den Wunsch erzeugen, daß der V. selbst seine Baumaterialien sammeln und ein Gebäude daraus ausführen möchte, das durch seine Festigkeit und Regelmässigkeit unaufhörlich dauerhaft sey, und dem prüfenden Auge des 44 Verstandes völliges Genüge leiste" (u.v.V.). Das Selbstgedachte manifestiert sich in Kants Ueberwindung des Rationalismus, die im wesentlichen in seiner Distinktion am Möglichkeitsbegriffe - als des Grundbegriffs des Rationalismus - besteht. Er unterscheidet nämlich das Formale der Möglichkeit nannt) vom Materialen
(auch "Logisches der Möglichkeit" ge45 der Möglichkeit (oft auch "Data zur Möglichkeit"):
"Eben so muß in jeder Möglichkeit das Etwas, was gedacht wird und dann die Uebereinstimmung desjenigen, was in ihm zugleich gedacht wird, 46 mit dem Satze des Widerspruchs unterschieden werden" (EMBG, S. 77). 43 44
45
46
3 Vgl. K. Vorländer: I. Kants Leben, neu hg. v. R. Malter, Hamburg 1974, S. 52. Vgl. Rezension von Mendelssohn (Tz) in: "Briefe, die neueste deutsche Litteratur betreffend, Berlin und Stettin, 1766, Briefe 280 f., S. 101 f. Mendelssohns Begeisterung für Kant drückt sich auch darin aus, daß er, bei der relativ geringen Zahl von philosophischen Rezensionen in diesen Briefen Kant gleich zwei weitere Rezensionen widmete: 1765 über die FS (323. Brief) und über die NG (324. Brief). "Eine zweifelnde oder logikalische Möglichkeit heißt ein solcher Satz, welchen man keinen Grund hat als wahr anzunehmen und auch keinen Grund, ihn als unmöglich zu verwerfen, und wiefern man ihn also betrachtet" (Crusius, Logik § 363) und "Die Realität der Möglichkeit solcher Dinge, die noch nicht sind, bestehet darinnen, daß Ursachen vorhanden sind, welche die Kraft haben, ihnen die Existenz zu geben" (Crusius, Logik § 646). Eine ähnliche, wenn auch nicht identische Distinktion am Begriff der Möglichkeit gibt Crusius in seiner Metaphysik im § 56: er unterscheidet dort die ideale Möglichkeit als Möglichkeit in den Gedanken (Widerspruchsfreiheit) von einer realen Möglichkeit, als Möglichkeit außer den Gedanken. Diese Unterscheidung erinnert an diejenige Humes von "matters of fact" und "relations of ideas".
58
Die extensionale Logik Kants
Diese Differenz löst den Begriff der Possibilitas insofern auf, als sie die formale Seite von der material en abscheidet. Das Formale wird durch die Prinzipien der Logik, insbesondere vom Satz des Widerspruchs, geregelt. Der Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch wird restringiert auf die formale Verknüpfung von Data zur Möglichkeit, d.i. auf den bloßen tas logiaus.
Respec-
Er ist also kein ontologischer Grundsatz mehr, der konstitu-
tiv für die Wesensstruktur (Essentia) der realen Dinge wäre. Wenn Kant 47 trotzdem von der inneren Möglichkeit
spricht, dann ist damit nur die
Möglichkeit (Widerspruchsfreiheit) eines komplexen Begriffes
(eventuell
des Begriffes eines Dinges) gemeint. Daraus erhellt, daß der Möglichkeitsbegriff nur noch ein logischer ist. Das "possibile" der Rationalisten wird im EMBG zu einer bloß logischen Möglichkeit. Man darf das Materiale der Möglichkeit nicht mit realen Dingen verwechseln, denn die Data sind bloße Begriffe
zu einem Respectus logicus. Diese Data sind in einem Wirklichen
gegeben: "Alle Möglichkeit setzt also etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist" (EMBG, S. 83). Wie das Mögliche in dem Wirklichen gegeben ist, expliziert Kant nicht. Er vertritt aber keine ontologische inesse-These. Diese Lücke in Kants Argumentation zeigt deutlich den Riß auf zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Damit ist aber die Verflechtung von Logik und Ontologie zu einer ontologischen Logik aufgehoben. Auf die Frage, was nun dieses Wirkliche sei und wie es sich von dem Materialen zur Möglichkeit unterscheidet, können wir nicht eingehen, denn für die These der Untersuchung ist nur entscheidend, daß Kant diese modale Differenz sieht. Dieser Riß ist angelegt durch die Unterscheidung von absoluter
und respektiver
Position
S. 73). Die modale Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit
(EMBG, konstituiert
sich durch die Sphäre des Logischen, deren Umfang durch den Satz des Widerspruchs, auf dem einzig und allein der Respectus logicus beruht, abgesteckt wird, und durch die Sphäre des Wirklichen, Daseienden. Die Gegenstände der logischen Sphäre sind die Begriffe und Begriffsintensionen, als bloße
47
Zur Kontroverse zwischen Schmucker und Reich über den Begriff der innern Möglichkeit im EMBG vgl. Schmucker: Die Frühgestalt des ontotheologischen Arguments in der Nova Dilucidatio und ihr Verhältnis zum "Einzig möglichen Beweisgrund von 1762" in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, hg. von H. Heimsoeth, Hildesheim 1967, S. 46 ff.
Intensionale Logik und Modalität im EMBG
59
Möglichkeiten. "Daher man auch, um die Richtigkeit dieses Satzes von dem Dasein einer solchen Sache darzutun, nicht in dem Begriffe dies Subjekts sucht, denn da findet man nur Prädikate der Möglichkeit, sondern in dem 48 Ursprung der Erkenntnis,
die ich davon habe" (EMBG, S. 72 f., u.v.V.).
Die Begriffe und ihre Intensionen selbst sind also bloß Prädikate der Möglichkeit, d.i. Möglichkeiten; die Urteile natürlich auch, denn sie drücken eine bloße Positio respectiva aus, die nichts anderes als ein Respectus logicus ist. Daraus ist nun ersichtlich, daß Kant den Schluß von einer konsequenten intensionalen Logik auf die modale Interpretation ebenderselben zieht. Es ist also neben dem empiristischen Einfluß und der Weiterentwicklung der Gottesbeweisproblematik auch ein logisches Moment festzustellen, das Kant zum Kritizismus forttreibt.
48
A n dieser Ausdrucksweise sieht m a n deutlich den Einfluß v o n Lock.es Empirismus auf Kant.
1.4. Das Urteil als Grund-Folge-Beziehung
Die in 1.3.2.2. exponierte Auflösung des Begriffs der Möglichkeit in ein Formales (Logisches) und ein Reales der Möglichkeit im EMBG zeigte Kants Kritik am Rationalismus. Im folgenden soll Kants Ringen mit der Verortung des rationalistischen Denkens aufgewiesen werden. Das rationalistische Denken ist ein bloß logisches, begriffliches, dessen Aussagen alle analytisch sind. Diese damit Hand in Hand gehende Einengung der Urteilstheorie auf die analytischen (= rationalen) Urteile stellt Kant vor die Frage, welche logische Form denn die synthetischen Urteile haben. Diese Frage - unter anderen - wird Kant zu einer extensionalen Interpretation der Logik führen. Daß dabei eine Inadäquanz des logischen Formbegriffs bzw. der Auszeichnung der Logik als formaler im Spiele ist, klärt Kant erst 1769/70. Der Teil 1.4., der Textstücke um etwa 1764 interpretiert, hat folgende Struktur: In 1.4.1. wird versucht, den Kantischen Respeotus-Begriff,
der ja
im Ansatz des EMBG zentral ist, zu klären. Es wird sich zeigen, daß Kant das Urteilsverständnis erweitert: Urteilen ist nicht nur vergleichen, sondern es ist verknüpfen. Das Verhältnis von Vergleichen und Verknüpfen, d.h. die Frage, welches von beiden Oberbegriff ist, wird Kant erst 1769/70 klären (vgl. dazu 1.5.). In der Mitte der 60er Jahre versucht er, diese Differenz durch die Modalitäten Möglichkeit
und Notwendigkeit
aufzuhellen.
Dies soll 1.4.2. im Rahmen einer Untersuchung der logischen Grund-FolgeBeziehung auf ihre Prinzipien hin darstellen. Dabei wird sich ein Zusammenhang von Form und Modalität ergeben, der die Überlegungen des Abschnittes 1.3.2.2. über das Verhältnis von intensionaler Logik und Modalität weiterführt. In 1.4.3. wird die Differenz von analytischen und synthetischen Urteilen, die erst aufgrund der Nexus-Theorie
des Urteils, d.h. auf-
grund der Bestimmung desselben als Grund-Folge-Beziehung, möglich wird, aufgezeigt. Dabei soll auch das oben angetönte Problem der logischen Form der synthetischen (empirischen) Urteile exponiert werden.
Der Begriff des Respectus
61
1.4.1. Der Begriff des Respectus Die Unterscheidung von Formalem und Materialem der Möglichkeit treibt das Kantische Denken fort. Die Beziehung zwischen zwei Data zu einem Möglichen (Respectus logicus) steht allein unter dem Satz des Widerspruchs. Die Reflexion auf den logischen Widerspruch, anhand etwa des Gottesproblems\ macht Kant schon im EMBG bewußt, daß man zwischen logischem Wider2 streit und Realrepugnanz einerseits, zwischen logischem Grund-FolgeVerhältnis und realem andrerseits zu unterscheiden habe. Die Frage nach dem Respectus also, der nicht bloß ein logischer und eo ipso einer zwischen bloßen Möglichkeiten ist, wird virulent. Der Respectus realis läßt sich nicht in ein Subjekt-Prädikat-Schema zwängen: dies ist Resultat der Kantischen Reflexion über die ihm zum Hauptproblem gewordene modale Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, welche sich terminologisch in den sehr häufigen Distinktionen von "logisch" und "real" ausdrückt. Mit dem Problem des Respectus beschäftigt sich Kant unter anderem in der Mp. Herder. Er schreibt bezugnehmend auf den Caput III (Praedicata entis relativa), Sectio I (idem et diversum) der Baumgartenschen Metaphysik: "Überhaupt ist hier eine Unterscheidung ausgelaßen: respectus rei est aut logicus aut realis" (Mp. Herder, S. 32). Mit dieser Unterscheidung greift Kant das Dogma des Rationalismus an, das besagt, daß sich alle realen Verhältnisse (relationes) und das Wesen der Dinge selbst mit dem Respectus logicus allein erklären lassen, daß also - um mit dem kritischen Kant zu sprechen - die Logik ein Organon sei. An dieser Stelle wird auch deutlich, daß Kant allen Aussagen der rationalistischen Metaphysik den Status von bloß logischen (analytischen) zuweist, weil sie alle nur auf dem Satz des Widerspruchs gründen (vgl. 1.4.3.). Was aber bedeutet Respectus? "Der respectus est determi nati o entis, quae in eo non potest cogitari nisi in nexu cum aliis" (Mp. Herder, 32). Diese Bestimmung scheint gegenüber dem Baumgartenschen Begriff prima facie keine wesentliche Veränderung zu beinhalten, denn Baumgarten definiert die Respectus im § 37 seiner Metaphysik als "Determinationes possibilium
1 2
Vgl. EMBG, Dritte Betrachtung, § 6. D e m Problem der Repugnanz widmet Kant eine eigene Abhandlung: NG.
62
Die extensionale Logik Kants
respectivae". "Respectivae" muß als "spectatur in nexu" gelesen werden. Ein nicht zu vernachläßigender
Unterschied besteht zum ersten darin, daß
Baumgarten von einer Determinati o possibil is spricht, während Kant die rationalistische Konzeption wegläßt und einfach von Determinatio entis spricht. Zum zweiten bedeutet auch "determinatio" nicht dasselbe, denn im Zusammenhang mit der Unterscheidung von logischem und realem Wesen muß man bei Determinatio zwischen Akzidens und Praedicatum logicum (essentiale) unterscheiden (vgl. 1.3.1.4. und 2.2.1.). In diesen Differenzen ist schon der Unterschied von Respectus logicus und real is angelegt. Die Respectus 3 logici werden darauf bestimmt als Idem et diversum, der Respectus realis heißt Relatio. Was aber bedeutet es, daß der Respectus-Begriff auf den Nexus gegründet 4 wird? Der Nexus ist die Grund-Folge-Beziehung, die Verknüpfung: "Nexus: der respectus eines Dinges als eines Grundes gegen das andre als Folge" (Mp. Herder, S. 12). Die Modi des Respectus, der logische und der reale, müssen also durch Grund und Folge exponiert werden: "Da aber in jedem nexu ein Grund und eine Folge seyn muß; der Grund aber aut logicus aut realis sit: so ist auch der nexus -
und folglich auch der respectus aut logicus
aut realis" (Mp. Herder, S. 32). Die Differenz von logischen und realem Respectus ist also letztlich diejenige zwischen logischem und realem Grund. Diese gilt es nun näher zu erläutern. "Ich nenne die erstere Art eines Grundes den logischen Grund, weil seine Beziehung auf die Folge logisch, nämlich deutlich nach der Regel der Identität, kann eingesehen werden, den Grund aber der zweiten Art nenne ich den Realgrund, weil diese Beziehung wohl zu meinem wahren Begriffe gehört, aber die Art derselben auf keinerlei Weise kann beurteilt werden" (NG, S. 202). Der Subjektsbegriff wird logischer Grund genannt, weil durch seine Zergliederung (Analysis) die Identität zwischen Subjekt und Prädikat, also die logische Grund-Folge-
3 4
So heißt es auch in der R 3599 (64-75) zu Baumgartens §265 der Metaphysik (idem et diversum): "Die Einerleyheit und Verschiedenheit gehört zum Verhältnis der Vergleichung", also zum Urteil qua respectus logicus. Das Nexus-Verhältnis als Grund-Folge-Beziehung ist schon bei Baumgarten vorbereitet: "Praedicatum, quo aliquid vel ratio, vel rationatum est, vel utrumque, nexus (der Zusammenhang, die Verknüpfung) est" (Bg. Mp. § 14).
Form und Modalität
63
ς Beziehung erkannt wird.
Darin, daß der Subjektsbegriff der logische Grund
und der Prädikatsbegriff die logische Folge ist, bestätigt sich Kants intensionale Konzeption der Logik. Die Relation "enthalten in",** als Respectus logicus, ist nicht
mehr als
bloSes
Vergleichen
begriffen,
sondern
als
Verknüpfen. Welche Auswirkungen dies auf die Modalitäten hat, wird im folgenden Abschnitt erläutert. Der Respectus realis, der hier noch nicht diskutiert wurde, kommt in 1.4.3. und in 2.2. zur Sprache.
1.4.2.
Form und Modalität
Die logische Grund-Folge-Beziehung beruht auf dem Satz der Identität. Wie läßt sich der Satz der Identität, der ja 1762/63 Formprinzip der affirmativen Urteile ist, als Prinzip einer als Nexus verstandenen Urteilsrelation denken? Die Möglichkeit dieser Interpretation ist im Kantischen Formbegriff angelegt: "forma ist die Art, wie ich das Subject und prädikat vergleichen soll" (Mp. Herder, S. 8). Dieser Formbegriff drückt in dem Terminus "Art" eine Beziehung auf Modalitäten aus. Das hat schon Meier im § 309 seiner Logik gelegentlich der Definition des Modus formalis ausgesprochen: "Die Vorstellung der Art und Weise, wie das Prädicat dem Subjecte zu oder nicht zukommt, ist die Bestimmung des Verbindungsbegriffs
lis)."
und der Verneinung desselben
(modus forma-
7
5
"Ich verstehe sehr wohl, wie eine Folge durch einen Grund nach der R e gel der Identität gesetzt werde, d a r u m weil sie durch die Zergliederung der Begriffe in ihm enthalten befunden w i r d " (NG, S. 202). Vgl. auch R 3756; (1764-66): "Alle Verknüpfung des logischen Grundes mit der logischen Folge ist ein b e j a h e n d urtheil, in dem das praedicat die Folge und das Subiect der Grund ist."
6
Hier wird die Abkunft der Relation "enthalten in" v o n der metaphysischen Substanz-Akzidens-Relation (Inhärenz) deutlich, die j a als Grund-FolgeVerhältnis in einem wie auch immer spezifischen Sinne verstanden wurde, etwa als Indigenz, als Dependenz etc. Dieselbe Abkunft gibt w a h r s c h e i n lich auch den Grund für die Zuordnung der Substanz-Akzidens-Relation zu d e n kategorischen Urteilen in der KrV ab. Auch bei Baumgartens Definition des Modus formalis fällt die Beziehung deutlich in die Augen: "Modi (formales) in propositione sunt conceptúe vel termini significantes necessitatem vel contingentiam convenientiae seu repugnantiae" (Bg. Logik, $ 160).
7
64
Die extensionale Logik Kants Es ist bezeichnend für die Problematik des Kantischen Denkens in den
g
60er Jahren, daß er den Formbegriff aus den Modalitäten zu gewinnen sucht, denn die Art des Vergleiohens (Forma) ist durch die Principia formalia vorgegeben, also durch die Sätze der Identität und des Widerspruchs; die ja der Definition der Modalitäten zugrunde liegen. So ist der Satz des Widerspruchs Prinzip des Formalen (Logischen) der Möglichkeit,
des Respec-
tus logicus im EMBG. Der Bereich der logischen Entitäten ist gemäß intensionalem Logikverständnis die Möglichkeit. Das Formprinzip (Satz vom Widerspruch) definiert also zugleich die Modalität der Möglichkeit. Daneben sah Kant aber auch - wie Baumgarten - den Zusammenhang der Form mit der Modalität der Notwendigkeit, "es komt alles auf die Nothwendigkeit an: diese ist 1) logisch: eine blos Respective zwischen Subjekt und Prädikat nach der Identitäts Regel ..." (Mp. Herder, S. 915). Das ist eine weitere Konsequenz aus der intensionalen Betrachtungsweise der Logik, denn das Prinzip der Identität als Formprinzip der affirmativen Urteile ist zugleich Grund der Notwendigkeit eines affirmativen Urteils. Durch die logische Modalität der Notwendigkeit interpretierten ja auch Leibniz und Lewis - wie in 1.3.2.1. dargelegt wurde - das universellaffirmative Urteil. Aber nicht nur die Identität konstituiert Notwendigkeit, auch der Satz des Widerspruchs als Formprinzip der negativen Urteile kann, wenn er als Wahrheitsgrund derselben verstanden wird, notwendige Urteile hervorbringen. Die Wahrheit der intensionalen Verneinung S non-P beruht darauf, daß S und Ρ zusammen widersprüchlich sind. Kant spricht hier auch von innerem Widerg spruch.
S non-P ist in diesem Sinne ein notwendiges Urteil. "Aus dem Satze
der identität und des Wiederspruchs folgen nicht allein Sätze, sondern n o t wendige" (R 3745; 1764-78). Die Formprinzipien sind also zugleich Wahrheitsgründe in einer intensionalen Logik, die die Urteile unter dem Aspekt des Nexus betrachtet. Denn die logische Grund-Folge-Beziehung kann nur durch
8
9
Diesen Zusammenhang v o n Form und Modalität können wir noch in der KrV feststellen, etwa in dem Kapitel "lieber die Amphibolie der Reflexionsbegriffe", wo die Unterscheidung von Materie und F o r m unter dem v i e r ten Gesichtspunkt, dem der Modalität, steht. Vgl. z.B. EMBG, S. 78.
Form und Modalität
65
sie aVLe-in eingesehen werden.^ Deshalb kann hier Veritas modal als Nécessitas gedeutet werden. "Possibilitas est positio respectiva conformis principio contradictionis. Veritas (affirmative) est positio respectiva secundum principium identitatis. Existentia est positio absoluta" (R 3724; vor 1764). 11 Die Frage stellt sich nun, was für eine logische Form haben Urteile, die nicht Identität oder Widerspruch von Begriffen (Intensionen) aussagen, die also nicht als Verknüpfung, sondern bloß als Vergleichen begriffen werden? Die Relation des Vergleichens bekommt hier einen andern modalen Wert. Sie ist bloß mögliches Verbinden von Intensionen, die sich nicht widersprechen, aber auch nicht identisch sind. Die logische Form ist die des möglichen Verbindens: "Das Logische der Möglichkeit ist ein Verhältnis der Vergleichung, das logische der Wahrheit ein Verhältnis der Verknüpfung" (R 3756; 12 64-66).
Logische Arten des Verbindens, also logische Formen, sind also
die Modalitäten der Möglichkeit und der Notwendigkeit. Was für eine Form kommt aber Urteilen zu, deren Verbindungsgrund nicht bloß als möglich, sondern als sich aus der Erfahrung ergebend betrachtet wird? (Vgl. 1.4.3. und 1.5.1.) Kann diese Form überhaupt logisch genannt werden, wenn sie etwas Extraintensionales in Ansatz bringt? In der obigen Reflexion fällt sie offensichtlich aus dem Bereich des Logischen heraus, was schon im EMBG deutlich wurde. (Vgl. 1.3.2.2.) Fassen wir das Problem zusammen: Wenn Form die Art des Vergleichens von Begriffen ist, das sich immer schon im Bereich der Möglichkeiten (Intensionen) vollzieht, und wenn also Form zweifach durch die Verknüpfungsarten der Identität und des Widerspruchs konstituiert wird, welche Form oder Art des Vergleichens kommt dann den Urteilen zu, die nicht rational, d.h. nicht durch Zergliederung der Terme, eine innere Verbindung haben, sondern eine Verbindung, die vielmehr die Intensionen transzendiert? Man kann das XO
11 12
"Die principia formalia sind nur die ersten Gründe analytischer oder rationaler Urtheile" (R 3746; 64-66). In kritischer Terminologie kann man sagen, daß die so verstandene Logik ein Organon ist, d.h. daß ihre Prinzipien hinreichende Wahrheitsgründe sind. In dieser Reflexion treten die Modalitäten wohl zum ersten Mal bei Kant zusammen auf. Der Satz des Widerspruchs fungiert in d i e s e m Falle nicht als h i n r e i chendes Kriterium, sondern bloß als notwendiges, vgl. KrV, Β 83 f.
Die extensionale Logik Kants
66
Problem aber auch umkehren und aus kritischem Licht betrachten und etwa fragen: Was ist das für ein Logikverständnis, das die Formprinzipien als hinreichende Wahrheitsgründe begreift? Das Verhältnis von Vergleichen und Verknüpfen, das Kant hier durch die modale Unterscheidung von Möglichkeit und Notwendigkeit zu fixieren sucht, 13 wird ihn weiter beschäftigen und führt zur Ausbildung der Urteilstafel. Dies entspricht der These Reichs, daß Vergleichen und Verknüpfen die Urteil stafel insofern konstituieren, als Vergleichen den Hauptmomenten der Quantität und Qualität zugrunde liegt, Verknüpfen, im Zusammenhang mit der Prinzipienfrage (wie sich ja anhand des Nexus-Problems auch zeigte), 14 aber den Hauptmomenten der Relation und Modalität.
1.4.3. Der Ursprung der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen
Das Verständnis des Respectus als Nexus und die damit ins Zentrum gerückte Wahrheitsfrage stehen mit der Frage nach der Wirklichkeit im Zusammenhang in der Unterscheidung von rationalen und empirischen Urteilen, in der ja die Adjektive "rational" und "empirisch" jeweils die Instanz bezeichnen, auf die rekurriert werden muß, um die Wahrheit des Urteils einzusehen. Dies bringt Kant nun auf das Problem der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen, von dem nun im folgenden gehandelt werden soll. Eine erste Bedingung für die Einführung des "klassischen Unterschiedes" von analytischen
und synthetischen
Urteilen wurde schon in 1.3.1.4. nam-
haft gemacht: die durch die rein intensionale Logik möglich gewordene Differenz zwischen Wesen und Natur oder zwischen logischem und realem Wesen.
13
14
"Alles Verhältnis in Urteilen ist entweder ein Verhältnis der Verknüpfung, oder ein Verhältnis des Widerstreits. Dasjenige Urteil nun, wodurch das Verhältnis der Verknüpfung zweier Urteile mit einander angezeigt wird, heißt hypothetisches Urteil. Dasjenige Urteil aber, in welchem das Verhältnis des Widerstreites zweier Urteile angezeiget wird, heißt ein disjunktives Urteil" (Logik Blomberg, S. 276). K. Reich (1) S. 78 ff.
67
Ursprung der Unterscheidung: analytisch/synthetisch
Eine zweite Bedingung für die Möglichkeit dieses Unterschiedes ist durch das Verständnis des Urteils als Grund-Folge-Beziehung gegeben. In der R 3753 (1764-66) trifft Kant folgende Distinktionen am Respectus rationis (nexus), d.i. am Grund-Folge-Verhältnis (Der Inhalt ist schematisiert) :
ponendi · Respectus rationis logicae
""tollendi, ^tollend i
analyticus ' rational i s
-4.·^««^ o p p o s i ^ nexus
Respectus rationis real is
, syntheticus empi ri cus
ponendi-
Die Unterscheidung von Respectus
(rationis) analyticus
und
syntheticus
entspricht derjenigen von Respectus rationis logicus und Respectus rationis realis. Die logische Grund-Folge-Beziehung ist also eine analytische. Diese Bezeichnungsart hat ihren Grund darin, daß eine logische Grund-Folge-Beziehung auf der Analyse des Subjektsbegriffs beruht. Denn schon im EMBG schreibt Kant: "denn es gibt keine andere Ableitung einer Folge aus einem Begriffe des Möglichen als durch logische Auflösung" (EMBG, S. 156). "Auflösung" meint aber, wie aus dem Kontext des Zitates ersichtlich ist, "Zergliederung", was die im 18. Jhd. geläufige Obersetzung von "Analysis" ist. Genau die Urteile also, deren Nexus auf der Analysis notionum beruht, heißen analytische. Der Respectus analyticus wird von Kant auch Respectus 15 rationalis
genannt. Er ist aber zugleich Respectus logicus, denn zu Be-
ginn der zitierten Reflexion heißt es: "respectus est vel logicus: der Begriffe (der identität) oder realis: der Sachen (realiter diversi)". Der Respectus logicus ist also erstens identisch mit dem Respectus rationalis und zweitens mit dem Respectus analyticus, weil der Respectus logius analytisch, d.i. durch die Analysis notionum erkannt wird: "Die logische Verknüpfung und Wiederstreit können analytisch erkannt werden und also rational, die reale nicht anders als empirisch" (R 3756; 1764-66). Der Respectus syntheticus nun drückt ebenfalls eine Verknüpfung aus, denn er ist Respectus rationis. Der Grund ist hier allerdings ein realer, nicht 15
"Alle rationale Sätze sind analytisch"
(R 3744; 1764-66).
68
Die extensionale Logik Kants
bloß der Subjektsbegriff, sondern die Erfahrung, weshalb er auch der logischen Bestimmung entzogen ist. (Vgl. 1.5.1.) Die logische Erkenntnis wird mit der rationalen, analytischen identifiziert. Damit drückt Kant aus, daß die Erkenntnisse des Rationalismus bloß logische sind. Die Einengung der Logik auf rationale Erkenntnisse läßt nun sofort die Frage der logischen Form von empirischen (= synthetischen)^ Urteilen auftauchen. Diese Frage treibt Kants Logikverständnis weiter. So muß die Logik eine völlig andere Stellung bekommen und kann nicht mehr bloßes Organon zu rationalen Aussagen sein. Zum Schluß dieses Abschnittes soll noch eine Querverbindung zu Locke und Leibniz im Rahmen der in diesem Abschnitt erörterten Fragen hergestellt werden. Die Lektüre der Nouveaux Essais Leibniz 1 ^ hat Kant wahrscheinlich in der doppelten Betrachtung der Urteile als Vergi eichung und Verknüpfung bestärkt und ihm zur Ausbildung des Unterschiedes zwischen analytischen und synthetischen Urteilen aufgrund der Nexus-Theorie des Urteils verholfen. Es sollen hier nur einige Stellen angeführt werden, die belegen, daß das Verhältnis von Vergleichen und Verknüpfen auch bei Locke und Leibniz thematisch war. Auf eine nähere Analyse der Anregungen, die Kant daraus geschöpft haben mag, muß verzichtet werden. Im Zusammenhang mit dem Thema der Unterscheidungskraft der Seele schreibt Locke: "Eine andere Wirkung der Seele bey ihren Begriffen ist die Vergleichung
derselben miteinander ... Von
dieser Wirkung schreibt sich denn alle die große Menge von Begriffen her, 18 welche unter der Beziehung begriffen sind" (u.v.V.). Daß die Relationen (Beziehungen) eine Art der Vergleichung sind, kritisiert Leibniz entschieden. Dabei bringt er den Begriff der "liaison" mit ins Spiel. "Selon mon sens la Relation est plus générale que la comparaison. Car les Relations sont ou de Comparaison
ou de concours: les premières regardent la conve-
nance ou disconvenance
... les secondes renferment quelque liaisonJ
comme
de la cause et de l'effet, du tout et des parties, de la situation et de Tordre." (Leibniz, NE p. 142) 16 "Alle empirische Sätze sind synthetisch und umgekehrt" (R 3744). 17 Die Lektüre setzte sicher sofort nach Erscheinen der NE 1765 ein und dürfte sich im Jahre 1768 vertieft haben im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Leibnizschen Philosophie von Raum und Zeit. 18 J. Locke: Versuch vom menschlichen Verstände, hg. von Poley, Altenburg 1757, S. 142.
Ursprung der Unterscheidung: analytisch/synthetisch
69
"Liaison" kann im Deutschen mit Verknüpfung wiedergegeben werden. Diese Untereinteilung des Relationsbegriffes in Vergleichung, Verknüpfung (cause/ effet, tout/parties) entspricht, wenn man von der räumlichen Ordnungsrelation Situation/Ordre absieht, genau den Kantischen Relationsurteilen: kategorische, hypothetische und disjunktive. Daß der Bezug auf Locke und Leibniz im Problem des Verhältnisses von Vergleichung und Verknüpfung für die Urteilstheorie wohlfundiert ist, beweist die Tatsache, daß Kant in der R 3738 (1764-66) bemerkt: "Locke videtur discrimen syntheticorum et analyticorum iudiciorum in sua disquisitione hominis subodorasse." Man kann dabei wohl von der Voraussetzung ausgehen, daß Kant die Stelle in Lockes Essay im Auge hatte, die er auch in den Prolegomena angibt: "Dagegen treffe ich schon in Lockes Versuchen über den menschlichen Verstand einen Wink zu dieser Einteilung (seil, der Urteile in analytische und synthetische) an. Denn im vierten Buche, dem dritten Hauptstück § 9 u.f., nachdem er schon vorher von der verschiedenen Verknüpfung der Vorstellungen in Urteilen und deren Quellen geredet hatte, wovon er die eine in der Identität oder Widerspruch setzt (analytische Urteile),
die andere aber in der Existenz der Vorstellungen in einem Subjekt
(synthetische Urteile) ..." (Prol., S. 270). Dies ist nun genau die Stelle, an der Locke vom zweiten Modus der Erkenntnis der Übereinstimmung und UnÜbereinstimmung spricht, nämlich von dem "zugleichen Dasein" von Begriffen in einer Substanz, der dann auch "notwendige Verknüpfung
genannt wird.
Dieser zweite Modus wird abgegrenzt vom ersten Modus der Obereinstimmung oder UnÜbereinstimmung der Erkenntnis: Einerleyheit und Verschiedenheit (also den Hinsichten des Vergleichens). Auch bei Locke ist die implizite Distinktion von analytischen und synthetischen Urteilen aufgrund des Verhältnisses einer notwendigen Verknüpfung in der Erkenntnis (= Urteil, als Obersetzung von knowledge) möglich. Daraus zeigt sich also deutlich, daß die fragliche Unterscheidung auf dem Boden einer neuen Urteilsbestimmung, nämlich der Bestimmung des Urteils 19 als Nexus, gewachsen ist.
19
Daß Kant mit Lockes Essay zusammen immer auch Leibniz' in den Nouveaux Essais exponierte Kritik vor Augen hatte, zeigt ein Zitat aus den Prologomena: "Seit Lockes und Leibnizens Versuchen ..." (Prol., S. 257).
1.5. Die extensionale Logik Kants 1769/70
Der Umbruch des Kantischen Denkens in den Jahren 69/70 konnte für die Logik nicht ohne Folgen bleiben. Die darin geleistete Bestimmung des Ver-' hältnisses von Cognitio sensualis und Cognitio intelle ctualis ist eine Antwort auf die Frage nach der modalen Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit, die Kants Denken während der 60er Jahre anstachelte und die gleichzeitig eine Frage nach dem Ort der Logik in der Philosophie und in den Wissenschaften ist. Danach ist die Logik kein Organon aller Wissenschaften mehr - wie etwa im Rationalismus. Ihr Ort wird bestimmt durch den engen Bezug der Cognitio intellectual is auf die Cognitio sensualis: sie wird Theorie der Form des Intellectus logicus usus. Damit wird auch ihr Anwendungsbereich festgelegt: die Wirklichkeit. Die Objekte der logischen Formen, also dasjenige, worauf sie angewendet werden, heißen von nun an "Dinge". Dabei handelt es sich nicht um ontologisch bestimmte, essential strukturierte Res, sondern nur um bezüglich ontologischen Fragestellungen indifferente, unbestimmte Objekte der Cognitio sensualis. Dieses Logikverständnis verlangt eine grundsätzliche Neubestimmung ihres Wesens: sie wird im Rahmen dieser erkenntnistheoretischen Fragestellungen extensionale
Logik. Das Kapitel umfaßt drei Abschnitte, von denen der erste
die von Kant unbeantwortet gelassene Frage nach der logischen Form der synthetischen
(empirischen) Urteile und deren Zusammenhang mit der in der
ästhetischen Reflexion sich abzeichnenden Tendenz zum Sinnlichen behandelt. Der zweite Abschnitt wird die mit der Neuinterpretation der Logik auftretenden logischen Bestimmungen des Begriffs und des Urteils in der Phase κ (1769) zum Thema haben, während im dritten anhand einer Analyse einschlägiger Stell en aus der Dissertation tieft werden.
die im zweiten gewonnenen Resultate ver-
71
Logik und Ästhetik 1.5.1. Logik und Ästhetik
Kants Beschäftigung mit der Ästhetik ist in den Jahren 1763-66 sehr intensiv, was folgende Fakten belegen: - Kants Schrift: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Vorgelegt zur Zensur am 8. Oct. 1763 (AA, Bd.
2, S. 205 ff.).
- Der Begriff des "analogon rationis", ein zentraler Begriff in Baumgartens Ästhetik, taucht öfters in den Metaphysik-Reflexionen dieser Zeit auf, so z.B. in der oben schon teilweise zitierten R 3738: "comparare possum notiones ... vel secundum regulas analogi rationis
..." (u.v.V.).
- Die große Zahl von Reflexionen in der Logik über ästhetische und logische Vollkommenheit: 1647-1935. - In der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesung in dem Winterhalbjahre 65/66 schreibt Kant: "Wobei zugleich die sehr nahe Verwandtschaft der Materien Ani aß gibt, bei der Kritik der Vernunft 1 einige Blicke auf die Urteile des Geschmacks, d.i. der Ästhetik
zu werfen, wovon die Re-
geln der einen jederzeit dazu dienen, die der andern zu erläutern, und ihre Absteckung ein Mittel ist, beide besser zu begreifen" (AA, Bd. 2 , S. 311). Die im obigen Zitat ausgesprochene "sehr nahe Verwandtschaft" zwischen 2 und die Regeln, die sich gegenseitig erläutern, sind
Logik und Ästhetik
1
Die Logik wird hier interessanterweise als "Kritik der Vernunft" bezeichnet, und zwar deshalb, weil ihre beiden Teile, die "Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes" und die "Kritik und Vorschrift der eigentlichen Gelehrsamkeit" - also die Methodenlehre -, Kritiken sind (AA, Bd. 2, S. 310 f.). Der Terminus "Kritik der reinen Vernunft" als Bezeichnung für die Metaphysik taucht unseres Wissens erstmals in R 3964 auf: "Die Metaphysik ist eine Critik der reinen Vernunft und keine Doctrin." Die Reflexion ist 1769 entstanden, also in der Zeit, in der die Abgrenzung von Logik und Metaphysik Hauptthema ist.
2
Diese Verwandtschaft war auch bei Baumgarten und Meier thematisch. In der Kantforschung wurde das bisher zu wenig beachtet. So hätte beispielsweise Tonelli gut daran getan, in seine Untersuchungen zur Terminologie Analytik und Dialektik, Analyse und Synthese auch die Aesthetik Baumgartens, Frankfurt 1750, etwa § 131,einzubeziehen. Vgl. Toneiiis Aufsätze in: Archiv für Begriffsgeschichte 7, 1962, S.120 ff. und Archiv für Begriffsgeschichte 20, 1976, S. 178 ff.
72
Die extensionale Logik Kants
für Kant ein ausschlaggebendes Moment gewesen, die Logik als extensionale, im Gegensatz zur intensionalen, zu begreifen. Die wechselseitige Erläuterung der Regeln kann nur auf dem Reziprozitätsgesetz
beruhen, für das Kant
plötzlich Interesse zeigt. Ein Hauptunterschied von Logik und Ästhetik besteht etwa bei Baumgarten darin, daß die Ästhetik vom unteren Erkenntnisvermögen (Cognitio sensitiva) handelt, die Logik vom oberen (Cognitio intellectual is). Diese zwei
latei-
nischen Termini hat Kant in seine Dissertation übernommen. Im Rahmen dieser Differenz unterscheidet Baumgarten eine extensive von einer intensiven Klarheit. Die extensive, gemäß der Tendenz auf Sinnlichkeit, Ausführlichkeit, ästhetische Klarheit ist Klarheit von möglichst vielen koordinierten Merkmalen, wogegen die intensive (logische) Klarheit Klarheit von 3 subordinierten Merkmalen ist. Die Unterscheidung von koordinierten und subordinierten Merkmalen, die Kant aufnimmt und weiterentwickelt, ermöglicht es ihm, eine Lösung der Frage nach der logischen Form der synthetischen Urteile (vgl. 1.4.2.) zu versuchen. Bevor wir nun Kants Thesen zu subordinierten und koordinierten Merkmalen und eo ipso Kants These zum Verhältnis von Logik und Ästhetik, das im Reziprozitätsgesetz fokussiert ist, untersuchen, wollen wir auf die synthetischen Urteile zurückkommen. Im Zusammenhang mit der Einteilung der Urteile in analytische und synthetische tauchte eine Doppelheit in der Urteilsdefinition auf. Urteil
ist
Vergleichung einerseits, Grund-Folge-Verhältnis andrerseits. Vergieichungen nach Identität und Diversität und logische Grund-Folge-Beziehungen 4 alle logisch deutliche Begriffe voraus.
setzen
Diese Einengung der Logik auf
gegebene Intensionen zeigt sich auch in der häufigen Gegenstellung von
3
4
"Ciaritas claritate notarum maior intensive, multitudine notarum extensive maior dici potest" (Bg. Mp. § 531). Diese Unterscheidung nimmt Meier (und nach ihm Kant) wieder auf im § 135 seiner Logik, wo er eine lebhafte Erkenntnis (cognitio extensive clarior) von einer der Stärke nach klareren unterscheidet (cognitio intensive clarior). In diesem Sprachgebrauch ist ja auch die Deutlichkeit eine logische Vollkommenhe i t.
73
Logik und Ästhetik
"logisch" und "real", etwa in "logisches und reales Wesen", "nexus logicus vel realis", "oppositio logica vel realis", wobei unter den Begriff "realis" alles fällt, was nicht schon als gegebene Intension gedacht war. Allein unter dem Gesichtspunkt des Nexus wurde die Unterscheidung analytisch/synthetisch möglich. Weil die analytischen (= rationalen) Urteile logische Grund-Folge-Verhältnisse sind, die synthetischen reale ausdrücken,
5
so stellt sich die Frage nach der logischen Form aller Urteile,
sowohl
der analytischen wie der synthetischen. So kann z.B. in einem bejahenden synthetischen Urteil der Prädikatsbegriff nicht logisch (per analysin) aus dem Subjektsbegriff (bzw. dessen Intension) abgeleitet werden. Diese Schwierigkeit, an empirischen Urteilen eine logische Form zu finden wegen des auf gegebene deutliche Intensionen eingeschränkten Logikbegriffs versucht Kant in der R 3738 (1764-66) zu lösen: "Alle analytische Urtheile lehren, was in den Begriffen, aber verworren gedacht ist; die synthetische, was mit dem Begriffe soll verbunden gedacht werden. In allen urtheilen ist der Begriff vom Subjekt etwas a, das ich an dem Objekte χ denke, und das Prädikat wird als ein Merkmal von a in den analytischen Urtheilen oder von χ in den synthetischen angesehen. /
d
/
X
/."
(u.v.V.). Kant versucht hier seine intensionale Urteilstheorie ("Etwas als ein Merkmal von einem Dinge ansehen") aufrechtzuerhalten, indem er sie auf synthetische Urteile (also auf alle) ausdehnt. Dies gelingt ihm nur, wenn er den Subjektsbegriff von a (gedachte Intension) auf χ + a erweitert: "Man kann Begriffe mit einander verknüpfen, um so daraus einen größeren Begriff zu machen (synthetisch); oder man kann Begriffe mit einander verknüpft gedenken, um dasjenige, was in ihnen ist, zu erkennen" (R 3749; 64-66). Der Subjektsbegriff muß dabei als durchgängig bestimmbarer (machbarer und nicht gedachter!) möglicher Begriff angesetzt werden,
5
6
wobei sich aber das
Geht m a n v o n der klassischen Definition der analytischen und synthetischen Urteile in der KrV (B 10) aus, so ist diese Unterscheidung - eine intensionale Logik vorausgesetzt - eine Dichotomie. Deshalb k a n n m a n mit Fug v o n allen Urteilen sprechen. Diese Differenz v o n m ö g l i c h e m ganzen Begriff und g e d a c h t e m Begriff entspricht der Unterscheidung v o n Repraesentatio totius und T o t u m repraesentationis, die Kant in d e m § 2 der Sectio II der Dissertatio macht.
Die extensionale Logik Kants
74
Problem stellt, wie eine solche bloß mögliche Begriffsintension zu denken sei, d.i. aus was für Merkmalen sie sich zusammensetzt. Hier wird nun also die Unterscheidung von coordinierten
und subordinierten
Merkmalen
viru-
lent (vgl. auch 2.3.2.), für deren Bestimmung zuerst Kants Reflexion auf das Verhältnis von Logik und Ästhetik dargestellt werden muß. Kant formuliert die Differenz von Koordination und Subordination in der R 1784 (1764-69?): "Die Vernunftvollkomenheit geht auf die Unterordnung, die aesthetische auf die coordination; jene: das concretum in abstracto, diese: das abstractum in concreto zu betrachten." Darin liegt nun folgende Abgrenzung zwischen Logik und Ästhetik: Die Logik betrachtet Abstracta, die Ästhetik befaßt sich mit dem Concretum. Das Verhältnis von Logik und Ästhetik ist durch zwei reziproke Hinsichten gekennzeichnet: an Vielem Eines und an Einem Vieles betrachten. Die Relation von Singulare (eventuell Particulare) und Universale, von Concretum und Abstractum ist durch das Reziprozitätsgesetz die
Verhältnisse
Ästhetik
diejenige,
bestimmt. Der Logik von Abstracta
wächst
in der Folge die Aufgabe
und das Abstractum
das Concrétion
zu erfassenJ
selbst
zu bestimmen,
zu, der
Auf den Unterschied von
koordinierten und subordinierten Merkmalen, der mit der Abgrenzung von Logik und Ästhetik zusammenhängt angewendet, bedeutet dies: Die logische Klarheit ist Klarheit von Einem in Vielen (Subordinierten), extensive Klarheit, die ästhetische Klarheit dagegen ist Klarheit von Vielen (Koordinierten) in Einem, intensive Klarheit. Die Intensionen werden also aus der Logik in die Ästhetik versetzt. Kant macht sich diese Unterscheidung von koordinierten und subordinierten Merkmalen zunutze, um diejenige von synthetischen und analytischen Merkmalen zu klären: "Die reihe der coordinirten Merkmale (synthetische, empirischer Begriffe) ist eine gerade Linie ohne Grentzen ... Die reihe der subordinirten a parte ante stoßet an unauflösliche Begriffe und ist terminirt"
7
Hier w i r d die Abkunft des Terminus "transzendentale Ästhetik" v o n so verstandener Ästhetik deutlich. Daß das Reziprozitätsgesetz aus der Reflexion über das Verhältnis von Logik und Ästhetik erwachsen ist, zeigt auch die R 2363; (64-75?), die n a c h Beschreibung der ästhetischen und logischen Erkenntnis fortfährt: "Es ist unmöglich, die Erkenntniß auf einer seite vollkommen zu machen, ohne auf der anderen einzubüßen."
75
Logik und Ästhetik
(R 2293; 64-68?, Zusatz in Klammern: 70er, 80er Jahre). Präzisiert wird kurz darauf:
"Der complexus der Merkmale als aggregat
oder als Reihe
der unmittelbaren
der Mittelbaren Merkmale" (ib.).
Daraus ergibt sich folgende Unterscheidung am Merkmalskomplex: Aggregat der unmittelbaren
(= koordinierten) und Series der mittelbaren
(subordi-
nierten) Merkmale. Die Differenz im System 1762/63 von unmittelbaren und mittelbaren Merkmalen wird also hier umgedeutet in diejenige von koordinierten und subordinierten und letztlich in diejenige von analytischen und synthetischen Merkmalen. Hier darf man die Vermutung wagen, daß mit den unmittelbaren (unerweislichen) Urteilen die synthetischen vorweggenommen waren, mit den mittelbaren die analytischen. Dadurch, daß die unerweislig chen Urteile die Basis jeder Analyse sind , wird die obige Vermutung erhärtet, denn die Prädikate (Merkmale) der unerweislichen Urteile denke ich nicht schon im Begriffe, sie (x) kommen zu meinem gedachten Begriff hinzu und helfen, den ganzen, bloß möglichen Begriff (a + x) zu analysieren. Damit hat Kant eine Lösung für die Frage der logischen Form der synthetischen Urteile gefunden: der Subjektsbegriff ist möglicher ganzer Begriff eines Dinges (Conceptus singularis) und nicht mehr bloß gedachte
Intension.
Die synthetischen (koordinierten) Merkmale sind die Prädikate eines synthetischen Urteils. Diese Lösung eines logischen Problems mit Hilfe der ästhetischen Reflexion auf das Concretum zwingt nun Kant, von der intensionalen Logik abzuweichen. Im Zentrum steht nun der mögliche Begriff eines Konkreten, nicht mehr die gegebene (gedachte) Begriffsintension. Dadurch taucht aber erneut die Frage auf, was denn ein Urteil sei. Für die Gewinnung eines dieser veränderten Sachlage adäquaten Urteilsverständnisses muß das Verhältnis von Concretum und Abstractum oder logischer ausgedrückt: von Particulare und Commune (bzw. Singulare und Universale) leitend sein. Damit ist der Weg geebnet für eine extensionale
Interpretation
der
Logik.
Die Konzeption der synthetischen Urteile ist nun aber im Rahmen einer Ästhetik entworfen, nicht im Rahmen der Logik allein. Es gilt nun, den 8
D. Henrich: Kants Denken 1762/63, in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1967, S. 17.
76
Die extensionale Logik Kants
logischen Anteil gleichsam abzuscheiden. Die Logik thematisiert nicht den möglichen ganzen Begriff eines Konkreten, sondern bloß das Abstrakte, Allgemeine. Die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen gehört also nicht mehr in die Logik. Insofern ist es auf diesem Stand der Reflexion nicht mehr adäquat, die logische Form der synthetischen Urteile zu suchen. Was fällt nun aber aus dieser ganzen Problematik der synthetischen Urteile und Merkmale für die reine Logik ab? Drei Punkte drängen sich zur Klärung auf: All gemeinbegriff, logische Subordination und Reziprozitätsgesetz. Kant reflektiert darauf in R 3890 (66-68), einer Reflexion, die zu Baumgartens §§ 148-54 geschrieben ist, welche von Universale und Singulare handeln. Kant beginnt mit dem Reziprozitätsgesetz: "Ein jeder allgemeine Begrif enthält das, was vielen Dingen gemein ist (worin viele einerley sind), und ist unbestimmt in Ansehung der Verschiedenheiten. Ein besonderer Begrif ist mehr bestimmt, nemlich in ansehung der Verschiedenheiten. (Vom durchgängig Bestimmten.)" Das Reziprozitätsgesetz formuliert die Reziprozität der Relationen "enthalten in" und "enthalten unter": "Er (seil, der allgemeine Begriff) enthält die besonderen unter sich und ist latior ... Er ist in den niedrigen enthalten und enthält weniger in sich" (u.v.V.). Was ist nun aber der Anteil der Logik bei diesem Reziprozitätsgesetz? "logische subordination, conceptus summus (minime determinatus), infimus, maxime determinatus (singularis). Sphaera conceptus. Logica divisio." Die Sphäre der Begriffe, die durch die Relation "enthalten unter" geordnet ist, ist also entscheidend für die logische Subordination, nicht aber die Intensionen der Begriffe, auch nicht die bloß möglichen eines Konkretums. Der Logik wird die Betrachtung der Umfänge, der Extensiog nen zugewiesen. Dies ersieht man auch aus der logischen Division , die auf der Reihenfolge der Extensionen, geordnet durch die Subordination, beruht: "In der Reihe der logischen subordination ist ein Glied, welches höhere Uber sich und niedrige i n 1 0 sich hat: conceptus communis
(subalternus);
wird er betrachtet nur in seinem superiori, so wird er vorgestellt in
9 10
"divisio est vel logica, quatenus varia tanquam contenta sub aliqua notione superiori spectatur" (R 3791; 64-66, u.v.V.). Es ist hier wohl gemeint: und niedrigere unter sich hat. "In sich haben" (halten, begreifen) ist eine relativ gebräuchliche Ausdrucksweise für die Relation "enthalten unter".
Logik und Ästhetik
77
abstracto; in seinem inferiori: in concreto; maxime abstracto oder in individuo." Die Grenzen der logischen Reihe der Extensionen sind Conceptus summus und Individuum. Beim Individuum beginnt die Ästhetik. Der Conceptus summus wird als kontinuierlich vorgestellt: es gilt das logische Gesetz der Kontinuität. Die Lex conti nui tati s formarum logicarum besagt: "Zwischen zwey einander logisch subordinirten conceptibus ist jederzeit ein mittleres." Das Gesetz ist in dieser Form nur möglich unter dem Gesichtspunkt der Extensionen der Begriffe, es wäre sinnleer unter dem Gesichtspunkt der Intensionen, denn was sollte die Aussage bedeuten, daß zwischen zwei Begriffen, von denen der eine im anderen enthalten ist, also ein Teilbegriff ist, noch ein Mittleres sei? Die logische Kontinuität verbürgt die Gültigkeit des Reziprozitätsgesetzes, weil dieses ein Continuum logicum voraussetzt (eine unendliche Sphäre aller Gegenstände), aus dem man eine beliebige Teilmenge, die dann eine Forma logica ist, herausgreifen und ihr einen Gattungs- oder Artnamen zuordnen kann. Bei Annahme dieser Formenbildung aufgrund der Extension gilt der Satz: Je mehr unter einem Begriff enthalten ist, desto weniger ist in ihm enthalten, und umgekehrt. Denn, vergrößert
man die Sphäre (x), so verkleinert man die Anzahl der möglichen
logischen Formen, die die Sphäre χ ganz überdecken. 11 Aus der Diskussion dieser logischen Begriffe ergibt sich, daß der Logik, die im Gegensatz zur Ästhetik die Dinge in abstracto betrachtet, die Untersuchung der Extensionen und deren Relationen zugewiesen wird, daß also die Logik extensional ist.
11
Aus dieser logischen Konzeption ersieht man sehr schön Kants Nominalismus zu dieser Zeit. Dieser Nominalismus, der wahrscheinlich auf Lockeschen Einfluß zurückzuführen ist, zeigt sich auch in R 2893: "genus und species sind nicht ihrer Natur nach, sondern in Ansehung des terminus a quo oder ad quem der logischen Subordination unterschieden" (u.v.V.). Diese Reflexion ist bezüglich der Datierung nur mit Fragezeichen versehen: 64- 70? Sie scheint uns aber aufgrund ihrer engen Verwandtschaft terminologischer und sachlicher Art zur R 3890 (66-68) auf 1766-68 datierbar.
78
Die extensionale Logik Kants
1.5.2. Die extensionale Logik 1769 (Phase«)
In den Reflexionen der Phase * wird einerseits das Ringen zwischen extensionaler und intensionaler Betrachtung der Logik deutlich, dann aber auch die Entscheidung für die extensionale Interpretation der Logik. Die Reflexionen zur Logik sind in dieser Zeit (1769/70) so häufig, daß man die These aufstellen könnte, das Verhältnis von Logik und Metaphysik einerseits, Logik und Ästhetik andrerseits seien damals die philosophische 12 Hauptproblematik Kants gewesen. Die Darstellung dieser Phase Kantischen Denkens soll mit dem Problem des Urteils beginnen. In der Phase * der Metaphysik-Reflexionen findet man zahlreiche Bestimmungsversuche des Urteils.
"Wenn (irgend) etwas x, welches
durch eine Vorstellung a erkannt wird, mit einem andern Begriffe (b) verglichen wird, entweder daß es diesen einschließe oder ausschließe, so ist dieses Verhältnis im Urtheil" (R 3920). 13 Diese Urteilsdefinition
, die den Boden für analytische und synthetische
Urteile bereitet, ist nun völlig verschieden von den herkömmlichen rationalistischen oder intensionalen. Es wird daraus die erkenntnistheoretisch motivierte Abzweckung der Logik auf die Ästhetik oder die enge Verbundenheit von Sinnlichkeit und Verstand deutlich. Das unbestimmte Etwas = χ ist das zugrundeliegende anschauliche Singulum, das durch koordinierte oder subordinierte Merkmalsbegriffe erkannt oder gedacht wird. Das dadurch erst zum Begriff erhobene Subjekt wird nun im Urteil zugleich durch ein anderes Merkmal erkannt, entweder synthetice durch ein koordiniertes oder analytice
12
13
Es ist auch auffallend, daß ein großer Teil der Logik-Reflexionen im Bd. XVI der AA aus der Zeit κ-λ stammt. Dazu kommt, daß in den 70er Jahren fast keine Metaphysik-Reflexionen logischen Inhalts mehr zu finden sind, was den Schluß zuläßt, daß Kant hier sein definitives Logikverständnis gewinnt. Daß es sich hierbei um eine Definition des Urteils handelt und man also den Ausdruck "so ist dieses Verhältnis im Urteil" zu lesen hat als: "so ist dieses Verhältnis ein Urteil", ist dadurch angezeigt, daß Kant die Reflexion mit einem Satz, der ganz im Duktus einer Urteilsdefinition geschrieben ist, beginnt: "Mit allen Urtheilen des Verstandes hat es folgende Bewandtnis..."
Die extensionale Logik 1769
79
durch ein dem ersten subordiniertes. Die Abzweckung der Logik auf die Ästhetik bedeutet einen Wechsel von intensionaler zu extensionaler Logik, da das der Logik Zugrundeliegende, das worauf sie angewandt wird, ein bloß unbestimmtes Extensionselement ist, und nicht ein durchgängig bestimmter ontologisch strukturierter Conceptus singularis. Die Novität dieser Urteilsdefinition soll in ihren einzelnen Elementen herausgehoben werden. - irgend
etwas:
Mit dieser Formulierung will Kant andeuten, daß die Struk-
tur des Subjektsbegriffes für das Urteil irrelevant ist. In einer intensionalen Logik ist der Subjektsbegriff bzw. seine Intension als logischer 14 Grund verstanden, also relevant für das Urteil. Die Logik "läßt die Begriffe selbst, die einander subordiniert werden können, unbestimmt" (R 3946) und bezieht sich in ihren Urteilen nicht auf eine essential bestimmte
Res, vielmehr gehört es zum Wesen eines Objectum logicum, daß
es unbestimmt
ist. Hier setzt Kant also die "Deontologisierung" des Sub-
jektsbegriffes fort, deren Beginn ja in der Kantischen Urteilstheorie von 1762-64 anzusetzen ist. Dies ist eine konsequente Weiterentwicklung des Ansatzes des Subjektsbegriffes als ganzen bloß möglichen Begriff, der als solcher aber unbestimmt ist. Die Folge dieser Entwicklung wird sein, daß nicht mehr der Subjektsbegriff der logische Grund ist, sondern der Prädikatsbegriff. - durch a erkannt:
a ist ein Merkmal, denn in derselben Reflexion schreibt
Kant: "Wenn (irgend) etwas χ durch eine Vorstellung a erkannt werden kann, so ist a ein Merkmal von etwas χ ..." Das Merkmal wird als Erkenntnisgrund verstanden, denn es wird ja irgend etwas durah, a erkannt. Dieses Merkmalsverständnis ist nun strikte abgesetzt von demjenigen der Urteilstheorie 1762-64, denn damals war das Merkmal Teilbegriff Intens ionselement. "Das Prädikat ist kein Theil(begrif)
des Subjekts, des Subjects,
sondern eine Vorstellung des subjects durah einen theilbegriff (R 3921, U.V.V.). Es hat den Anschein, als wolle Kant sagen: das Prädikat ist kein Intensionselement des Subjektsbegriffes, es ist ein Teilbegriff des ganzen möglichen Begriffs des Subjekts, das aber ein bloßes
14
χ ist. Teil-
In der R 3921 drückt Kant dieselbe Einsicht v o m Subjekt aus: "Daher in jedem Urtheile das Subjekt überhaupt Etwas ist = x".
Die extensionale Logik Kants
80
begriff wäre es also nur in dem Falle, wo wir Kenntnis des ganzen möglichen Begriffs des Subjekts hätten. Auf diese Spannung zwischen den zwei Prädikatsauffassungen soll nun noch von der Urteilsrelation her eingegangen werden. - vergleichen, einsohlieùen, ausschließen:
Kant scheint hier die Bestim-
mung, daß Urteilen Vergleichen ist, bei zubehalten. Es fragt sich nur, ob Vergleichen dieselbe Bedeutung habe wie in den Jahren 1762-64, nämlich Vergleichen gegebener Begriffsintensionen auf Identität und Widerspruch. Meint hier also Einschluß Identität und Ausschluß Widerspruch? "Dieses Urtheil ist (also) entweder die Erkenntnis der Einstimmung oder des Wiederstreits, so daß
in dem Dinge x, welches ich durch den Begriff a kenne,
entweder b als ein Theilbegriff enthalten ist und also x, welches durch a erkannt wird, auch durch b erkannt werden kann, oder daß χ den Begriff von b aufhebt" (R 3920). 15 Widerstreit.
Einschluß und Ausschluß meinen also Einstimmung und
Danach wäre der Begriff des Vergleichens derselbe wie 1762-
64. Und doch muß man folgende zwei Punkte beachten. Zum einen ist der Begriff des Prädikats nicht enthalten im Subjektsbegriff (a), sondern in dem Dinge x. Das Urteil
drückt also nicht primär
eine logische enthalten-in-Relation (Vergieichung) aus. Diese Fassung der enthalten-in-Relation wird sich in der Dissertatio so klären, daß ein Merkmal nur in einem Dinge enthalten sein kann, d.h. in einer Anschauung, nicht aber in einem allgemeinen Begriff. Zum zweiten besagt die Erkenntnis der Einstimmung und des Widerstreits, daß "also" χ auch durch b erkannt werden kann, das heißt aber: das Urteil, in dem Identität gedacht wird, ist zugleich Verknüpfung des Erkenntnisgrundes (Prädikat) mit dem unbestimmten x. Es handelt sich hier um eine Doppelheit in der Urteilsdefinition, die zeigt, daß Kant mit der intensionalen oder extensionalen Urteil sauffassung ringt. 16
15
16
Dies legt auch die kurz darauffolgende Bestimmung der Bejahung nahe: "Die erste (seil, die Bejahung) stellet das Verhältnis vor, d a der Begriff des Dinges y+a das Merkmal b einschließt und also m i t ihm s e i n e m T h e i l e nach identisch ist." Daß Kant die oben exponierte Schwierigkeit bemerkt hat, zeigt allein schon die Tatsache, daß die folgenden Reflexionen dieses Problem w i e der aufnehmen.
Die extensionale Logik Kants 1769
81
Im folgenden soll Kants Lösung dieser Schwierigkeit bezüglich Vergleichung von Begriffsintensionen einerseits und Verknüpfung andrerseits dargestellt werden. Interpretiert man den Teilbegriff (b) als Intensionselement, so werden alle affirmativen Urteile durch Identität gedacht, d.h. aber, sie sind alle analytisch. Diese Konsequenz hat ja Kant Mitte der 60er Jahre gezogen in der Gleichsetzung von rational, analytisch und log i s c h . ^ "Wenn man den gantzen Begriff hätte (und zur Feststellung der Identität muß man den ja voraussetzen, V.), wovon die notionen des subiects und praedicats compartes seyn, so würden die synthetischen Urtheile sich in analytische verwandeln. Es fragt sich, wie weit hier will kührliches 1 8 sey" (R 3928; 1769). Das Problem hängt damit zusammen, daß die Sätze der Identität keine Formprinzipien (im Sinne der logischen Form) mehr sind, sondern Wahrheitsgründe der analytischen Urteile (1.4.2.). Was aber ist die logische Form? "In allen Urtheilen ist die Materie und die Form zu erwegen. Daß erstere sind die Begriffe des Subiekts (y+a)=x. und des Prädikats b. zweytens die Form, welche bey den Logikern der Verbindungsbegriff heißt (copula)" (R 3920). Die Wahrheitskriterien der analytischen Urteile beziehen sich also auf die Materie, d.i. die im Urteil gegebenen Begriffsintensionen. Dies scheint Kant anzudeuten, wenn er versucht, die Schwierigkeiten in der Urteilsdefinition dadurch zu lösen, daß er zwischen Begriff'srelation, die allein Identität ist, und Urteilsrelation,
die Verknüpfung ist, zu unterscheiden: "In
aller Identitaet der Begriffe kommen zwey Begriffe in einem überein, d.i. ein Begriff kommt zweyen zu; in allem Urtheil kommen zwey Begriffe einem Dinge zu" (R 3933; 1769, u.v.V.). Dabei wird zweierlei deutlich: bei einer Begriffsrelation (Identität) wird das verglichen, was ich in den Begriffen A. und A„ denke, d.h. die durch S und Ρ repräsentierten Begriffsintensionen.
17
18
Noch in der R 3913; (64-69?) heißt es: "Die der Verbindung ist entweder analytisch (des theiles mit dem Ganzen und also auch mit sich selbst) und ist logisch; oder synthetisch: der theile unter einander, der verbundenen Einheiten unter einander." Die Frage nach der Willkür der "klassischen Unterscheidung ist in der Kant-Rezeption oft gestellt worden: So etwa bei Trendelenburg·. "Es sind auch die Grenzen nicht scharf gezogen. Der eine denkt schon ein Merkmal in einem Begriffe, das dem anderen als ein neues hinzutritt" (A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen, Leipzig 21862, S. 240.
82
Die extensionale Logik Kants
S und Ρ qua Begriffsintensionen sind analysierbar, deshalb kann Kant sagen, sei seien beide Subjekte. Bei einem Urteil der Verknüpfung wird ein Subjekt durch zwei Begriffe gedacht, d.i. durch zwei Merkmale qua Erkenntnisgründe. In diesem Falle wird eine Einheit gedacht, nicht eine Einerlei19
heit.
"Das Ding, was ich duvah den Begriff A denke, ebendasselbe denke
ich auch durch den Begriff B. ist ein Urtheil (der Verknüpfung). Der Begriff, den ich in A denke, den denke ich auch in B: ist ein Urtheil der Vergleichung. Bei der Identität vergleiche
ich zwey subiekte, die ei neriey Prädikat
haben. Bei der Einheit vergleiche
ich zwey praedicate, die ein subiekt
haben" (ib., u.v.V.). Das Urteil der Vergleichung drückt also eine Begriffsrelation auf gegebenen Intensionen (denken in) aus, das Urteil der Verknüpfung dagegen eine Grund-Folge-Beziehung, in der das Prädikat Erkenntnisgrund ist. Wenn nun Kant beide Relationen am Schluß der Reflexion als Vergleichun20 gen
bezeichnet, dann bedeutet das, daß Vergleichung im weiten Sinne Iden-
tität und Einheit umfaßt, intensional und extensional verstanden werden kann. Um den Sinn des extensionalen Vergleichens, der Einheit des Urteils auszumachen, müssen wir die Logikreflexionen aus dieser Zeit betrachten: "In einem categorischen Urtheil wird21 das Ding, dessen Vorstellung als ein Theil von der sphaera einer anderen subordinirten Vorstellung betrachtet wird, als enthalten unter dieses seinem oberen Begriffe betrachtet; also
19 20
21
Die Bestimmung, daß in einem Urteil eine Einheit gedacht wird, zeigt bereits ein erstes Durchschimmern der kritischen Urteilsdefinition. Kants Ringen mit dem Terminus "Vergleichung" sei noch a n folgender Reflexion dargestellt: "Alle Einheit ist entweder der Vergleichung oder der Verknüpfung. Die erste ist, so fern etwas mit viel anderem einerley ist. Die zweite, in so fern viel in einem Grunde verbunden ist" (R 3899; 1766-69?). Identität ist also hier Moment der Einheit und nicht ihr gegenübergestellt wie in der späteren Reflexion 3933. Die Identität wird aber hier ganz wie in der intensionalen Logik der Vergleichung als eine ihrer Hinsichten zugeordnet. Das Ringen zeigt sich auch in R 3913; (64-69?): "Alle Verbindung ist entweder eine der Verbindung (sie!) oder der Vergleichung." Es ist hier gemeint: dessen Vorstellung χ als ein Teil von der Sphäre a einer andern subordinierten Vorstellung b ist. Dies kann man aus Kants Selbstkorrektur entnehmen.
Die extensionale Logik 1769
83
wird hier in der subordination der sphaerarum der Theil von Theile mit dem 22 Gantzen verglichen" (R 3095; 69-75?, u.v.V.)· Der Inhalt dieser Reflexion meint nun nichts anderes als die Urteilsdefinition in der R 3920: χ ist durch b vorgestellt, und b wird unter a subordiniert, und also wird χ mit a
verglichen. In R 3096, die zur selben Zeit wie R 3095 geschrieben wurde, werden die-
se Verhältnisse im Urteil versinnlicht:
"(alle) χ, was unter b enthalten, ist auch unter a: Zu der zitierten Urteilsdefinition 3095 bemerkt der Herausgeber des Bandes 16
der Akademie-Ausgabe, Adickes: "Kant scheint hier nicht die Ver-
hältnisse im kategorischen Urteil, sondern die im kategorischen Schluß im Auge zu haben." Adickes übersieht hier aber zwei Punkte: - Die Verwandtschaft mit R 3920, wo die Verhältnisse im kategorischen Urteil analog beschrieben werden, (x durch b erkannt, b mit a verglichen.) - Daß Kant die Subordination als extensionale versteht, d.i., daß nicht der Begriff b ein Element des Umfanges von a ist, sondern die Sphäre von b Teilmenge der die Sphäre von a. Diese Formulierungen lassen sich mühelos von der hier angezogenen Klassenlogik in die Prädikatenlogik umsetzen: (Vx) (a(x) •* b(x)). Das Konditional ordination,
ist angezeigt durch die Sub-
die eine Grund-Folge-Beziehung einerseits meint, andrerseits
durch das "auch" in der R 3096 (vgl. auch R 4632; 72-75). Der Quantor durch das "alle", das Kant einklammerte, um das kategorische Urteil indefinit in Ansatz zu bringen. Was aber bedeutet dies nun für den Begriff des Vergleichens? Verglichen werden hier nicht mehr Intensionen, sondern Extensionen. Kant gewinnt damit einen extensionalen
Begriff des Vergleichens.
Diesen werden wir auch in
der Dissertatio nachweisen können. Die Frage ist nun aber, wieweit sich diese Analyse der synthetischen Urteile auf den Begriff der logischen Form
22
Diese Reflexion dürfte aufgrund der Analogie mit R 3920/1 wohl auch auf 1769 zu datieren sein.
Die extensionale Logik Kants
84
auswirkt, wie weit also die extensionale Subordination die logische Urteilsrelation ist. Bezog sich 1769 die logische Form noch auf das intensionale 23 Vergleichen
, so ist in der Phase λ bereits eine fundamentale Änderung
festzuhalten: "Die Form der Vernunft ist zweifach: logisch und real allgemein und besonderes / Grund und Folge" (R 4154). Die logische Form ist nun nicht mehr Analysis, sondern das Verhältnis 24 von Allgemeinem und Besonderem, welches Subordination, und zwar extensionale ist. Die Analysis selbst, die auf dem intensionalen Vergleichen beruht, gehört nun zur Metaphysik: "Die metaphysic zeigt die Merkmale, welche durch die Natur der Vernunft gegeben sind (die logic nur den Gebrauch der Merkmale überhaupt" (R 3949; 1769, u.v.V.). Das intensionale Vergleichen ist also ein vom extensionalen abkünftiger Modus dadurch, daß die durch es erreichte Deutlichkeit auf logischen Gebrauchsregeln beruht. "Die logische Sätze sind Regeln, deren wir uns willkürlich als Mittel gebrauchen, um Erkenntnisse durch Vergleichung
deutlich zu machen" (R 3949;
1769; u.v.V.). Die Logik handelt also nur vom Gebrauch der Begriffe, d.h. von der Form des Verhältnisses von Merkmalen, nicht aber davon, ob dieses bestimmte Merkmal in einem Begriff enthalten sei. Die intensionale Vergleichung (enthalten in) steht denn auch unter den Regeln der Subordination: A ist enthalten in Β genau dann, wenn das formale Kriterium erfüllt ist: Alle Β sind A. Damit hat Kant die Schwierigkeit in der Urteilsdefinition aufgelöst: Urteilen ist Vergleichen, aber nicht primär intensionales, sondern extensionales, und damit Subordinieren. Er hat also die intensionale Urteilstheorie zugunsten der extensionalen aufgegeben. Es gilt jetzt, nach Festsetzung der neuen extensionalen Urteilsdefinition, noch einige Elemente der Kantischen Logik 1769 zu nennen, die bis an Kants Lebensende unverändert beibehalten werden.
23
24
"Die logische Form unserer Erkenntnisse ist von der metaphysischen zu unterscheiden; die erste ist analysis, die zweyte synthesis" (R 3944; 69-72?). "Metaphysische Begriffe gehen ... auf das Verhältnis ... der Subordination im logischen Verstände: allgemein oder besonderes" (R 3941; 1769).
85
Die extensionale Logik 1769 (1) Alle Begriffe sind Mertenale: "Alle unsere Begriffe sind aus der Empfindung gezogene Merkmale" (R 3921; 1769). Ein neues Begriffsverständnis bahnt sich insofern an, als die Begriffe nicht mehr durch ihre Essenz,
durch ihre Intension definiert werden, sondern durch ihr Merkmalsein, d.h. durch ihr Bezogensein auf Vieles, also durch ihre Extension. Begriffe sind wesenhaft allgemeine Begriffe (vgl. 1.5.3.), deren Bezug auf Empfindungen die kritische Errungenschaft Kants impliziert, die sich im Diktum der KrV ausdrückt: "Begriffe ohne Anschauungen sind leer." Diese Tendenz der Begriffe auf Empfindung, Anschauung legt eine extensionale Betrachtungsweise 25 nahe. Eine weitere Konsequenz aus der Einsicht, daß alle Begriffe Merkmale, d.h. Prädikate sind, besteht darin, daß es für die Logik in einem gewissen Sinne keine Subjektsbegriffe gibt, sondern nur allgemeine Prädikate oder eben Merkmale. Das Subjekt-Prädikat-Schema gehört also eigentlich in die Transzendentalphilosophie oder Metaphysik. "Die Logic enthält den Begrif vom allgemeinen, die Metaphysic allgemeine Begriffe der Vernunft ... die Logic sätze, welche das Verhältnis des allgemeinen zum besonderen ausdrücken ohne Praedicat und Subject, Metaphysik aber allgemeine Sätze" (R 3946; 69-72?). (2) Die Logik handelt
vom Gebrauch der Begriffe:
"Die metaphysic zeigt die
Merkmale, welche durch die Natur der Vernunft gegeben sind (die logic nur den Gebrauch der Merkmale überhaupt)" (R 3949; 1769). Die Logik handelt also nicht von den Begriffen selbst, d.h. von deren zur Res isomorphen Struktur, sondern zielt bloß auf formale Struktur der Applikation des Denkens auf die Sinnlichkeit. Das Singulum der Sinnlichkeit wird als Extensionselement eines Begriffes verstanden, der ein bloß Allgemeines ist. Thematisch ist in der Logik die Form des Wie des denkenden Zugangs zur Sinnlichkeit, also das Verhältnis des Allgemeinen zum Besondern, das den Gebrauch der Begriffe ja regelt: "die logic zeigt nur das Verhältnis des oc allgemeinen zum besonderen überhaupt" (R 3946; 1769). Die Begriffe selbst, durch die Sinnliches erkannt wird, in ihrer Intension sind Thema der Trans25
26
Dieselbe Einsicht drückt Kant später in der R 2278; (70-76?) aus: "Ein jeder Begriff stellet immer ein allgemein Merkmal v o n gewissen D i n g e n vor. " "Der Grundbegriff der logic ist der des allgemeinen, insofern er einiges unter sich enthält" (R 3949; 1769).
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Die extensionale Logik Kants
zendentalphilosophie. Die Division der Intension in koordinierte und subordinierte Elemente, die die Differenz von analytischen und synthetischen Elementen abgibt, gehört also nicht zur Logik, sondern ebenfalls zur 27 Transzendental phi 1osophie. (3) Das Urteilen ist Subordinieren. In dieser frühen Phase der Gewinnung dieses Urteilsverständnisses schwankt Kant aber noch zwischen extensionaler und intensionaler Subordination (vgl. 1.6.2.). So zeigte die R 3095 ein extensionales Verständnis der Subordination. In R 3946 ist es dagegen unentscheidbar: "Jene (seil, die Logik) enthält nur die Unterordnung der Begriffe unter die sphaeram der andern ..." (1769). Es geht hier nicht hervor, ob die Begriffe Elemente der Sphäre des Oberbegriffes sind oder ob die Sphäre des untergeordneten Begriffs Teilmenge des Oberbegriffs ist. Zu erwähnen bleibt noch, daß die Subordination ihren ursprünglichen (traditionellen) Sinn
verloren hat: sie regelt nicht mehr die Verhältnisse in
einer Universitas ordinata, etwa nach Gattung und Art: "Der Begriff der Art oder gattung ist nicht gegeben, sondern nur das Verhältnis, wornach conceptus dabiles können verglichen werden" (R 3949; 1769).
1.5.3. Die extensionale Logik in der Dissertatio In der Sectio II der Dissertatio führt Kant den für seine kritische Philosophie entscheidenden Unterschied von Cognitio sensual is und Cognitio intellectual is ein. Für die letztere ist ein doppelter Gebrauch konstitutiv: Usus intellectus logicus und Usus intellectus realis. Der Usus intellectus logicus wird wie folgt definiert: "posteriori (seil, usu logico) autem, undecun que dati, sibi tantum subordinantur, inferiores nempe superioribus (notis communibus) et conferuntur inter se secundum princ. contrad., qui usus dicitur logicus" (Diss., § 5). Der Usus logicus intellectus ist also im wesentlichen durch die Subordination ausgezeichnet, und zwar durch eine Subordination von Extensionen. Die extensionale Konzeption des Usus logicus soll anhand der drei Momente (Begriff, Erkenntnisgrund, Vergleichen) gezeigt werden. 27
"Die Logik fängt von Begriffen an und handelt v o n deren Gebrauch. Der Ursprung derselben aus sinnlichen Anschauungen oder dem Verstand g e -
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Die extensionale Logik in der Dissertatici ( 1 ) extensionales
Begriffsverständnis
Eine fundamentale Wandlung etwa gegenüber der Wolffschule, aber auch gegenüber der intensionalen Logik, wo der Begriff als Merkmalskomplex verstanden wird, zeigt sich im Begriffsverständnis der Dissertatio. Die Definition des Usus logicus zeigt dagegen durch die Ausdrücke: "inferior, superior, nota communis" an, daß der Begriff immer schon all gemei ner Begriff ist, daß sein Wesen in seiner Universalität liegt. "Intuitus autem purus (humanus) non est conceptus universalis s. logicus (u.v.V.) sub quo, sed singularis in quo sensibilia quaelibet cogitantur" (Diss., § 12). Ist der logische Begriff wesenhaft universeller Begriff, so ist der Conceptus singularis der Ästhetik Intuitus purus, der nichts unter sich enthält, sondern nur Sensibilia in sich. Damit ist die Abgrenzung von der Wolffischen Begriffstheorie klar gegeben. Wird der Begriff als Merkmalskomplex verstanden, der isomorph ist zur Res und deren Struktur, so ist er wesentlich Conceptus singularis, der Merkmale in sich hat. Das Wesen des logischen Begriffes liegt bei Kant dagegen gerade in seiner Universalität, also ist der Conceptus singularis und mit ihm die Relation "enthalten in" (die ja nur eine auf Begriffe gebrachte ontologische inesse-Relation ist) nur für die Anschauung relevant. Die Grundbegriffe der Logik sind Allgemeinheit und "enthalten unter". Auch aus Kants kurzem Hinweis auf das Abstraktionsproblem
im § 6 wird
dasselbe deutlich: "Nempe proprie dicendum esset: ab aliquibus abstrahere, non aliquid abstrahere. Prius dénotât: quod in conceptu quodam ad alia quomodocunque ipsi nexa non attendamus, posterius autem, quod non detur, nisi in concreto et ita, ut a coniunctis separetur." Die Abstractio als Separatio (ein typisch intensionales Abstraktionsverständnis, das wir auch bei Kant beobachten konnten, vgl. oben 1.3., Anmerkung 4) setzt den Begriff in einem Concreto, einem Conceptus singularis, und läßt alle übrigen Merkmale (conjunctis) des singulären Begriffs weg, während die extensionale Abstraktion von der konkreten Beschaffenheit der Dinge ("alia"), die unter den Begriff fallen, absieht. Dasselbe Begriffs- und damit verbunden Abstraktionsverständnis kommt auch in der R 2834 (60-70?) zum Ausdruck, die, aufgrund der Parallelität mit den Thesen über das Wesen des Begriffs in
hört v o r psychologie und transscendentalphilosophie"
(R 1697; 73-78?).
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Die extensionale Logik Kants
der Dissertatio, auf 1769/70 zu datieren sind: "Die Form aller Begriffe ist die Allgemeinheit. Bey der letzteren ist abstraction von dem, wodurch 28
sich das Mannigfaltige unterscheidet." (2) Das Prädikat als Erkenntnisgrund
"Nam quia praedioatum in quolibet iudicio, intellectual i ter enuntiato, est condicio, absque qua subiectum cogitabile non esse asseritur, adeoque praedicatum sit cognoscendi principium" (Diss., § 24). Wir wiesen schon einmal darauf hin, daß in einem extensionalen Urteilsverständnis das Prädikat der Grund ist für das Denken des Subjekts, in einem intensionalen dagegen das Subjekt logischer Grund ist, das Prädikat daselbst bloß logische Folge (Teilbegriff). Die R 2896 stellt diesen Sachverhalt klar ins Licht: "Der niedere Begrif ist nicht in dem höheren enthalten, denn er enthält mehr in sich; aber er ist doch unter jenem enthalten, weil der höhere den ErkenntnisGrund des niedrigen enthält, nota enthalt die Dinge unter sich, und die Dinge enthalten notam in sich" (1770-78?). Der letzte Satz zeigt den Doppelbegriff der Nota: "nota enthält die Dinge unter sich" meint die logische Nota, der Conceptus universalis, der als solcher Erkenntnisgrund ist; "die Dinge enthalten notam in sich", d.h. die Dinge qua Conceptus singulares sind nur dem Intuitus purus zugänglich, werden also zusammen mit ihren Notibus nicht logisch betrachtet; also ist hier mit "nota" "nota rei" gemeint. Die erkenntnistheoretische Deutung des Urteils in den Jahren 69/70, die das Prädikat dis Erkenntnisgrund verstehen, impliziert also ein Verständnis der Subordination, die das Wesen des Usus logicus ausmacht, als extensionaler Grund-Folge-Beziehung, Verknüpfung. Um aber die volle Struktur des Urteils darzustellen, die ja eigentlich zwei Erkenntnisgründe (x durch a erkannt, χ durch b erkannt) beinhaltet, muß man noch das Verhältnis der beiden Prädikate, das hier Vergleichung heißt, untersuchen.
28
Vgl. auch R 2871: "Die (logische) F o r m des Verstandes besteht in der logischen subordination der conceptuum communium; die abstraction ist die Bedingung, unter welcher conceptus communes w e r d e n können, abstrahe ab aliis."
89
Die extensionale Logik in der Dissertatio (3) Extensìonales
Verständnis
der
Vergleichung
In der Definition des Usus logicus heißt es: "et conferuntur inter se secundum princ. contrad." (Diss., § 5). Zur näheren Interpretation von Conferre (vergleichen) verhilft eine andere, fast identische Bestimmung des Usus logicus aus dem § 23 "usus autem intelleotus
... non est nisi
logicus,
h.e. per quem tantum cognitiones sibi invicem subordinamus quoad universalitatem conformiter principio contradiction!s." Hier geht das "conferre inter se secundum princ. contrad." über in ein "subordinari quoad universal i tatem conformiter princ. contrad.". 29 Das Vergleichen ist also hier extensionales (quoad universalitatem) und zugleich als Subordinieren verstanden. Da der Usus logicus intellectus durch die Subordination gekennzeichnet ist, ist er, da Urteilen Subordinieren ist, logisches Vermögen der Urteile. Das Vergleichen (Subordinieren) geschieht bezeichnenderweise gemäß dem Prinzip des Widerspruchs und nicht mehr gemäß dem Prinzip der Identität. Es hat hier offenbar eine Umwälzung der Kantischen Prinzipienlehre stattgefunden: Mit dem Wiederentdecken der logischen Form wurden die Prinzipien der Identität und des Widerspruchs zu bloßen Prinzipien der analytischen Urteile. Das Prinzip der Identität wird von Kant auch später nur noch als hinreichendes Prinzip der analytischen Urteile verstanden, während der Satz vom Widerspruch notwendige Bedingung aller Urteile wird gemäß dem Conditio-sine30 qua-non-Charakter der Logik. Das Prinzip der Identität hat somit seine Bedeutung in der Logik weitgehend verloren, was auch daran ersichtlich ist, daß es in den Logik-Reflexionen fast nie genannt wird.
29
30
"Data enim quomodocunque cognitio spectatur vel contenta sub nota pluribus communi, vel illi opposita ..." (Diss., § 5, u.v.V.). Die Ausdrücke "contenta sub" und "nota pluribus communis" zeigen, daß dieses Subordinationsverständnis auf das extensionale Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zielt. Die Formulierung des Satzes vom Widerspruch ist in dieser Zeit allerdings noch vorkritisch, da sie immer noch ein zeitliches Moment beinhaltet ("eodem tempore"). Mendelssohn macht Kant auf diesen Mangel aufmerksam in seinem Brief vom 25. Dez. 70 (AA 10, S. 116). Zu Kants Rektifizierung vgl. KrV, Β 191 f.
Die extensionale Logik Kants
90
Ganz deutlich wird der Begriff der extensionalen Vergleichung in der ein Jahr später gehaltenen Logikvorlesung Blomberg, wo Vergleichung die Verknüpfung als Unterbegriff in bejahenden Urteilen enthält: "Die Vergleichung ist zwiefach, denn entweder kann ich 2 Begrife vergleichen durch das Verhältniß der Verknüpfung, oder das Verhältniß des Widerstreites unter einander. Ein Urtheil nun, in welchem das Praedicat zum Subject in Verknüpfung gedacht wird, heißt ein bejahendes Urtheil. Ein Urtheil aber, wo das Praedicat zum Subjecto im Widerstreit gedacht wird, heißt ein Verneinendes urtheil" (Logik Blomberg, S. 274). Der Ausdruck "Verknüpfung" indiziert natürlich immer noch ein Grund-Folge-Verhältnis, weil ja das Prädikat ein Erkenntnisgrund ist.
1.6. Das kritische Logikverständnis Kants
Zum Abschluß des 1. Teils soll aufgezeigt werden, wie Kant zu einem vertieften Verständnis der extensionalen Logik könnt. Die in den Jahren 176870 gewonnene Position wies noch mannigfaltige Mängel auf. So ist z.B. noch kein eindeutiger Begriff von Subordination und damit eo ipso von Extension gewonnen. Kants Überlegungen zu diesem Problem sollen in 1.6.2. dargestellt werden. Die schon 1769 errungene Einsicht, daß der Subjektsbegriff unbestimmt sei, kann erst mit dem kritischen Extensionsbegriff verwertet werden. Die Extension ist eine unendliche Menge von unbestimmten Vorstellungen. Zu diesem Extensionsbegriff gelangt Kant durch Reflexion auf den Begriff der logischen Form, wie er schon bei Lambert
angelegt war. Die transzendental-
logische Deutung der Extension, als Umfang der Anwendung, fundiert die erste. Die inhaltliche Unbestimmtheit des Subjektsbegriffes (wesentlich ist bloß seine Allgemeinheit und Anwendbarkeit, nicht seine Intension), verbannt den Begriff der Intension aus der Logik. Dies ist die letzte Konsequenz einer extensionalen Logik. Diesen Zusammenhang wird der dritte Abschnitt aufzeigen (1.6.3.). Der erste Abschnitt (1.6.1.) enthält einen kleinen Exkurs über das Verhältnis von Extension und Intension im 18. Jhd., der zeigen soll, daß die Reflexion auf dieses Verhältnis in diesem Jahrhundert sehr spärlich ist und daß Kant die Ansätze, die in den Logiken der 60er Jahre vereinzelt auftauchten, aufnahm und fortsetzte. Die Differenz von Umfang und Inhalt der Begriffe fehlt nach Kant, d.h. nach der JäscheLogik in keinem deutschen Logik-Lehrbuch mehr.
1.6.1. Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds. vor Kant Um den Stellenwert von Kants Überlegungen zur Problematik von intensionaler und extensionaler Logik besser bestimmen zu können, soll dem Kapitel 1.6. eine historische Skizze der Thematik im 18. Jhd. vorausgeschickt werden.
92
Die extensionale Logik Kants
1 2 3 Kauppi , Bochenski und Risse sind sich einig, daß die Unterscheidung von Extension und Intension (Etendue und Comprehension) eines Begriffes in der Geschichte der Logik zum ersten Mal expressis verbis in der sogenann4 ten Logique de Port-Royale von Arnauld und Nicole getroffen wurde. In der Logique de Port-Royale findet sich im 5. Kapitel des 1. Teils ("des idées considérés selon leur généralité, particularité singularité") die folgende Definition: "Or dans ces idées universelles il y a deux choses qu'il est très important de bien distinguer, la comprehension, & l'étendue. J'appelle comprehension de l'idée, les attributs qu'elle enferme en soy, & qu'on ne luy peut oster sans le détruire, comme la comprehension de l'idée du triangle enferme extension, figure, trois lignes, trois angles, & l'égalité de ces trois angles à deux droits, &c." (loc. cit. p. 51). Bei "comprehension" ist bezeichnenderweise von Attributen die Rede, bezeichnenderweise deshalb, weil die Logik ontologisch ist, d.h. weil sie ihre Strukturen aus dem ontologisehen Substanz- und Attributsbegriff gewinnt. "J'appelle étendue de l'idée, les sujets à qui cette idée convient, ce qu'on appelle aussi les inférieurs d'un terme general qui à leur égard est appellé supérieur, comme l'idée du triangle en general s'étend à toutes les diverses especes de triangles" (p. 51). Bei den Extension sind die Relata "sujets" und "idée"; die Relation wird durch "convient aux" ausgedrückt, welche die klassische Subordination ist. Dies ist angezeigt durch das Begriffspaar "inferieur/superieur". Da Sujets Begriffe sein können, wie das Beispiel von den Espèces de triangles zeigt, kann mit étendue sowohl intensionale als auch extensionale Extension gemeint sein. Unterschieden sind Comprehension und Etendue nicht nur durch andere mögliche Relata-Anwärter und durch die Relation, sondern auch durch die Folge beim Aufheben eines Relates: wenn bei der Comprehension ein Attribut aufgehoben wird, so zerstört man sie. Beim Umfang dagegen kann man sich sehr wohl ein (einige) Subjekt(e) aufgehoben denken (z.B. als nicht-existent), ohne daß man die idée zerstört. So kann man sich beispielsweise gleichschenklige Dreiecke
1 2 3 4
R. Kauppi (1), S. 8. J.M. Bochenski (1), S. 302. W. Risse: (1), vol. II, S. 70. Der Sache nach ist die Unterscheidung schon bei Aristoteles Vgl. Weingartner (1), S. 117 ff. und 1.1., Anm. 1.
anzutreffen.
Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds.
93
als nicht-existent denken, ohne dabei die Idee "Dreieck" zu zerstören. Es fallen immer noch die recht-, spitz- und stumpfwinkligen darunter. Daraus kann man schließen, daß der Inhalt dem Begriffe wesentlich ist, der Umfang bloß akzidentell, womit eine Vorentscheidung für eine intensionale Logik getroffen wäre, wenn nicht die Unterscheidung von Etendue und Comprehension nur für allgemeine Begriffe Geltung hätte. Die Unterscheidung gilt also nicht für singulare
Terme.
Diese Problematik zieht sich bis Kant durch.
Die singulären Terme sind den allgemeinen gleichzuschätzen oder sie fallen überhaupt aus der Logik. In der Logik der singulären Terme scheint denn auch die ontologische Problematik von Intension und Extension fokussiert.
Es erstaunt nicht, daß im Gegensatz zu Port-Royale Wolff
keinen Unter-
schied zwischen Extension und Intension eines Begriffes macht und auch gar nicht auf dieses Problem reflektiert, da seine Logik eben eine individualintensionale ist, in der der Begriff als Merkmalskomplex
strukturanalog
zur durch ihn bezeichneten Res verstanden wird. Wolff arbeitet aber implizite mit der Differenz der Relationen "continere sub" und "continere in": "Quod de genere absolute praedicatur, id etiam praedicari potest de singulis speciebus sub eo oontentis
earumque individuis. Etenim quod de genere ab-
solute ... praedicatur, id idem convenit ob ea, quae in definitione, conse5 quenter in notione ipsius aontinentuv."
Die Relation "continere sub" ist
von der Relation "continere in" abkünftig, denn die Individua sind enthalten unter einer Art, weil der Artbegriff in ihnen enthalten ist. Diese Priorität ist in der intensionalen Logik einerseits begründet und andrerseits in dem Diktum: "modus praedicandi sequi modum essendi". Der Modus essendi aber ist die ontologische inesse-Relation (vgl. 1.1.). Dieses aus der ontologischen Verfassung der Logik resultierende Defizit an Reflexion über die Intensionen und Extensionen der Begriffe führt dazu, daß Wolff nicht explizite Stellung nimmt zum Reziprozitätsgesetz. Es wird lediglich angetönt im Paragraphen über die allgemeinen Begriffe: "und daher enthält er (seil, der allgemeine Begriff) um so viel weniger in sich, je allgemeiner er ist" (Wolff, DL, Cap. I, § 28). 5
Wolff, LL, § 235. In der DL Wolffs heißt die Relation "continere in": "enthalten in". "Und da wiederum diese Begriffe ihre Merkmahle in sich enthalten ..." (Cap. I, § 17).
94
Die extensionale Logik Kants Einige Wolffschiiler nehmen die Differenz von Intension und Extensión
wieder auf. So i s t zunächst auf Reusah hinzuweisen, einen r e l a t i v s e l b ständigen Wolffianer, der in der Logik, wahrscheinlich von Rüdiger beeinf l u ß t , den er im Vorwort lobend erwähnt, die Ideen von Extension und Intension wieder geltend macht. "Obiecta, in quibus idea abstracta continetur, seu in quorum conceptu idea abstracta comprehenditur seu eum ingreditur sub -idea oontineri seu involvi dicuntur, item ad -Lila idea extendi vocatur. Linde obiecta i l l a appellantur extensio item quantitas et latitude notio• „6 ms. Nicht von Rüdiger, sondern von der Logik von Port-Royale herkommend, unterscheidet Bilfinger Komprehension und Extension: "Comprehensio ideae est aomplexus detemrinationum omnium ... Extensio est multitudo subjeotorwn, quibus idea tribuitur." Danach formuliert B i l f i n g e r das Reziproz i t ä t s g e s e t z : "Manifestum e s t , quo plures in aliquam ideam determinationes ingrediantur, eo f i e r i eius comprehensionem maiorem, extensionem vero 7 8 aretiorem." Ganz von B i l f i n g e r beeinflußt scheint auch Knutzen, Kants Lehrer. Auch er unterscheidet zwischen Comprehensio und Extensio eines Beg r i f f e s und bezieht beide durch das Reziprozitätsgesetz aufeinander. Und auch•Baumeister nimmt die Unterscheidung der Logik von Port-Royale unter g e x p l i z i t e r Bezugnahme auf den Autor a r t i s cogitandi wieder auf. Bei G.F. Meier werden die Relationen "enthalten i n " und "enthalten unter" d e f i n i e r t innerhalb der B e g r i f f s t h e o r i e , und zwar im Zusammenhang mit der Frage, wie wir zu Begriffen gelangen, einem Lehrstück übrigens, das s e i t Wolff in den Logiklehrbüchern behandelt wird. "Was a l s ein Merkmal des andern v o r g e s t e l l t wird, i s t in ihm enthalten und kommt ihm zu ... Der abgesonderte Begriff enthält diejenigen unter sich, von denen er abgesondert worden3 und diese werden unter ihm enthalten, (conceptus a l i o s sub se con-
6 7
8 9
J.P. Reusch: Systema logicum, Ienae 1734, § 21. Vgl. § 31. G.B. Bilfinger: Praecepta logica, Jenae 1739. Bilfinger hat auch eine Ars cogitandi geschrieben (vgl. 1.2.2.), was erklärt, daß er die PortRoyalsche Unterscheidung wieder aufnimmt. M. Knutzen: Elementa philosophiae rationalis seu Logicae, Regiomonti 1747, S 72. M.F.C. Baumeister: Institutiones philosophiae rationalis, Wittenberg 1780, § 116.
Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds. tinet, et conceptus sub alio continetur seu ad eum referuntur)"10 Logik, § 260). Der Umfang
eines
Begriffes
95 (Meier,
wird im § 262 definiert: "Der
Inbegriff aller Begriffe, die unter einem abgesonderten Begriff enthalten sind, ist der Umfang
desselben
(sphaera notionis)." Der Terminus
"Umfang",
als Obersetzung von "sphaera", taucht hier vermutlich zum ersten Mal in der Logik auf. Dies ist wohl kein Zufall, wenn man Meiers Leistungen auf dem Gebiet der Ästhetik bedenkt. Es wäre sinnlos zu fragen, ob Meier oder die Rationalisten generell von der intensionalen oder extensionalen Extension sprechen, da bei ihm das Subordinierte, also der Begriff, definiert ist als "Vorstellung einer Sache in einem Dinge, welches das Vermögen zu denken besitzt" (Meier, Logik § 249), 1 1 eine Definition, welche, gemäß der individual-intensionalen Logik nicht hinreichend zwischen Individuum und einzelnem Begriff unterscheidet. Der Umfang ist nur für abgesonderte Begriffe definiert. Man trifft bezüglich Umfang von einzelnen Begriffen dieselbe Unentschiedenheit wie bei Port-Royale. Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen: entweder läßt er sich prinzipiell auch für Conceptus singulares definieren, oder es ist nicht sinnvoll, hier von Umfang zu sprechen, was auf die vieldiskutierte Frage (von Kant in den Erläuterungen zu den Urteilen der Quantität im § 9 der KrV und von Leibniz in den von Raspe edierten "Quaedam difficultates logicae") führt, ob die singulären Urteile den allgemeinen für die Zwecke der formalen Logik gleichzuschätzen seien. Von der Intension von Begriffen ist bei Meier nirgends die Rede, und auch das Reziprozitätsgesetz wird nur in ganz anderem Zusammenhang - wie bei 12 Wolff - angetönt. Bei Wolff also ist die Differenz zwischen Extension und Intension - vom individual-intensionalen Ansatz her konsequenterweise - nicht explizite
10
11
Der Terminus "referre" ist seit Wolff geläufig im Zusammenhang mit der extensionalen Urteilsrelation. Dies ist wohl auch die begriffsgeschichtliche Wurzel des in der modernen Logik und Semantik auftretenden Terminus der "Referenz". Damit schließt er sich der Wölfischen Definition des Begriffes in der DL an: "Einen Begriff nenne ich eine jede Vorstellung einer Sache in unseren Gedanken" (Cap. I, § 4 ) . Mit "Ding, welches das Vermögen zu denken besitzt", ist natürlich Res cogitans gemeint.
96
Die extensionale Logik Kants
thematisch; dagegen bringen es die Wolffschüler, teils unter Bezug auf Rüdiger, teils auf Port-Royale, zur Sprache. Bei Meier dürfte der Grund der Reflexion darauf in der Ästhetik liegen.
Die von Rüdiger und Hoffmann eingeleitete pietistisahe
Tradition
reflek-
tierte aufgrund ihres empiristisch-erkenntnistheoretischen Ansatzes vor allem auf die Extension der Begriffe. Bei Crusius
kommt der Ausdruck "Inhalt" eines Begriffes oder einer Idee
vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Logik vor, nicht aber der Ausdruck "Umfang". Was "Inhalt" meint, wird allerdings nirgends genau definiert, man muß die Bedeutung aus einigen exemplarischen Stellen interpretieren. So z.B. in der Logik im § 135, wo von der logischen Subordination und den logischen Abstrakta die Rede ist: "Daher kan man auch 4) ein Abstractum logicum auf zweyerley
Art betrachten,
nemlich einmal essentiali-
ter s. material iter, in Ansehung
seines wesentlichen
Inhaltes,
d.i. in An-
sehung der Ideen, die man darinnen denket; und ferner in Ansehung
der
Weite,
oder indi vidual iter, d.i. in Ansehung der Menge der Individuorum, auf wel13 che es sich schicket, und von welchen es einen Namen abgeben kann." "Wesentlicher Inhalt" ist der Inbegriff aller Prädikate (Begriffe), die 14 einem Dinge beständig zukommen." Von "Inhalt eines Begriffes" ist auch in der Metaphysik die Rede: "Die andere Art der Deutlichkeit gibt die zergliederte Vorstellung des von einem Begriffe,
da man sich deren darinnen
enthaltenen
Inhaltes
Theile und Eigen-
schaften bewust wird, und ihn dadurch von anderen unterscheidet" (Crusius, Mp. § 8, u.v.V.). Es ist bezeichnend, daß der Inhaltsbegriff durch die Relation "darinnen 15 Der Ausdruck "Weite" für die Extension ist in
enthalten" definiert wird. 12 13
14
15
"Denn je abstrakter sie (seil, die Erkenntnis) ist, desto weniger enthält sie in sich" (Meier, Logik, § 264). Anschließend formuliert Crusius das Reziprozitätsgesetz: "Je weiter ein Abstractum logicum wird, desto weniger Ideen denket man darinnen" (Crusius, Logik, § 135). "Das logikalische Uesen eines Dinges heißt der Inbegriff alles dessen, was einer Sache beständig zukommet" (Crusius, Logik, § 163), analog: Crusius Mp., § 30: "Dasjenige, was einem Dinge beständig zukommet, heißt zusammen genommen sein logikalisches Wesen." "Denn abstrahiren heisst nichts anders, als einen Begriff von einem an-
97
Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds. der ímdiger-Hoffmann-Crus-ius-Tradition
ein unentbehrlicher logischer Ter-
minus, da sich in dieser Schule ja die Quantifizierung des Prädikates durchsetzte (vgl. 1.2.2.). Er hat eine Doppelbedeutung: Weite eines Begriffes und Weite einer Proposition. 1 6 Geht man von der extensionalen Identität aus, ist die Weite des Subjektsbegriffes zugleich die Weite des Prädikatsbegriffes; also fallen die beiden Bedeutungen zusammen. Die der Weite korrespondierende Relation "unter sich fassen" ist Crusius ebenfalls bekannt. 1 7 Er kennt also alle wesentlichen Bestimmungen aus dem Umfeld von Extension und Intension. Doch kommt ihnen nur eine sehr geringe Bedeutung zu: sie werden auf knapp zwei Seiten abgehandelt, gegenüber der sich auf 203 Seiten erstreckenden Begriffstheorie. Reimarus
muß man in der Frage
der Extension der Rüdiger-Hoffmann-Crusius-Tradition zuordnen: Er unter18 19 scheidet den Umfang eines Begriffes vom Umfang von Sätzen . Der Aus20 druck "Inhalt eines Begriffes" kommt bei ihm nur einmal vor.
Die Refle-
xion Uber die Problematik von Extension und Intension ist also bei ihm wenig ausgeprägt. Ist also bei Wolff und einigen seiner Schüler stillschweigend vorwiegend von Intensionen die Rede, so bauen die Logiker der pietistischen Tradition gemäß ihrer antirational isti sehen Tendenz wesentliche Stücke ihrer Logik extensional
16
17
18 19
20
auf.
deren, in welchem er enthalten, oder an den er verknüpfet war, in den Gedanken absondern und vor sich betrachten" (Crusius, Logik, § 93, U.V.V.). - Gegen diese Definition richten sich wahrscheinlich die polemischen Äußerungen Kants, daß man nicht ein Merkmal abstrahieren, d.h. intensional subtrahieren, sondern von der Verschiedenheit der verglichenen Dinge abstrahieren müsse, also: abstrahere ab aliquo, nicht: aliquid abstrahere. Crusius, Logik, § 230, und Crusius' Lehrer A.F. Hoffmann: Vernunft lehre, darinnen die Kennzeichen des Wahren und des Falschen aus den Gesetzen des menschlichen Verstandes abgeleitet werden, Leipzig 1737, § 377. Zum Ausdruck "latitudo" vgl. Crusius, Logik, § 97. "Oder sie sind partialiter subordinirt, da sie nicht wechselweise iedwedes alle individua des anderen unter sich fassen, sondern da das eine weiter, das andere enger ist" (ib, § 136; u.v.V.). "und beide Begriffe sind von gleichem Umfange" (Reimarus, Logik, § 167). "Wenn zween einstimmige Sätze schlechterdings einerley Verstand haben, und also von einerley Umgange sind, so läßt sich wechselweise von A auf Β und wiederum von Β auf A schließen" (Reimarus, Logik, § 158). "Nach dem Inhalt sind die Begriffe, erstlich als einfache, oder als vielbefassende anzusehen" (Reimarus, § 61). Die einfachen Begriffe sind die unauflöslichen des Crusius, nicht etwa die Grundbegriffe zu einer Ars combinatoria. Dieser Gebrauch von "Inhalt" entspricht im wesentlichen demjenigen von Crusius.
98
Die extensionale Logik Kants In den 60er Jahren
wird dem Problem der intensionalen und extensionalen
Interpretation der Logik vermehrt Bedeutung beigemessen. Bei
Baumgarten,
der als Wolffschliler davon eher marginal handeln sollte, zeigt sich die 21 vermehrte Aufmerksamkeit. Hatte er noch 1761 in seiner Acroasis logicae bloß von der Relation "sub se continere" (§ 45) gesprochen und beiläufig die Notio particularis mit der deutschen Fußnote "ein besondererer Begriff in Absicht auf den Inhalt" (§ 49) bezeichnet, also ohne 22vorhergehende oder nachfolgende Reflexion, so schiebt er zwölf Jahre später Erläuterungen ein. Er definiert den Ambitus,
den er deutsch mit "Umfang" wiedergibt,
und spricht vom "Inhalt" (Comprehensio) (§ 56 f.). Die Problematik23 wird aber eigentlich erst von den mathematischen Logikern aufgenommen. Ploucquet
unterscheidet 1759 "extensio" und "comprehensio" eines Begrif-
fes im Hinblick auf eine mögliche Kalkiilisierung der Logik. "Extensio
ideae
est multitudo eorum, de quibus eadem idea intelligitur ... Comprehensio 24 est multitudo intelligibilium in una eademque idea." Ganz gemäß seinen mathematischen Definitionen mit dem Begriff der multitudo spricht Ploucquet auch von "Klasse"
anstelle von "extensio": "Ex natura affirmationis omne M
est quoddam ex alasse
τ
Ü ν Ρ" (ib., p. 36, u.v.V.). Ploucquet ist nach
Leibniz wahrscheinlich der erste, der mit logischer Schärfe die Konsequenzen der Unterscheidung von Intension und Extension für die Logikkalküle sieht, man denke nur an seine Quantifizierung des Prädikates (vgl. 1.2.2.). In Lamberts
Dianoiologie wird in der Begriffstheorie im § 14 der Umfang
eines Begriffes definiert: "Man nimmt nämlich die Merkmaale, so der Sache 21 22 23
24
Acroasis logicae, Halae Magdeburgicae 1761. Acroasis logicae, Halae Magdeburgicae 1773. Diese orientierten sich vielleicht an J. Bernoulli, der in der Prop. IV seiner Schrift "Positiones logicae de propositionibus", Basileae 1693, von der "Latitudo" oder "extensio" eines Begriffs spricht und die Idee der Quantifizierung des Prädikats verficht: "Si quaedam idea alteri non convenit, evidens est, quod secundum totam suam extensionem eidem non conveniat; hinc praedicatum enuntiationis negantis, etiamsi particularis, sumitur universalster" (ib. prop. XII). Vgl. 1.2.2. G. Ploucquet: Fundamenta philosophiae speculativae, Tubingae 1759, p. 2. Ploucquet vertritt darin eine Identitätstheorie des Urteils, die die Quantifizierung des Prädikats voraussetzt. Die Identitätstheorie vertrat vor ihm schon Segner (Specimen logicae, Ienae 1740). Die Frage, wie weit Kants Urteilstheorie 1762-64 von der Ploucquetischen beeinflußt ist, können wir im Rahmen dieser Untersuchung bloß stellen, nicht beantworten.
99
Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds.
allein zukommen, desgleichen auch die, so sie mit anderen gemein hat, ... Beyde zusammen genommen erschöpfen den ganzen Begriff, und bezeichnen 25 seinen Umfang."
Daß Lambert hier den Terminus "Umfang" einsetzt für das,
was der Sache nach später Intension heißt, zeigt u.E. sehr schön, daß es in der ersten Hälfte des 18. Jhds. weder eine terminologische Festlegung noch ein ausgeprägtes Bewußtsein der Scheidung von Begriffsintension und Begriffsextension gab. Daraus ergibt sich die These, daß die Terminologie "Inhalt/Umfang" sich erst seit Kant durchgesetzt hat. Erst im § 174, also in der Urteilslehre, kommt Lambert auf die Extension eines Begriffes zu sprechen: "Jeder allgemeine Begriff erstreckt
26 sich
auf alle Individua, bey welchen er vorkommt. Er hat demnach eine gewisse Ausdehnung."
Lambert ist sich durchaus bewußt, die Ausdehnung nur für all-
gemeine Begriffe zu definieren, nicht für einzelne: "Da wir dem allgemeinen Begriffe deswegen eine Ausdehnung erstreckt,
geben, weil er sich auf mehrere Individua
so hat ein Individuum nothwendig keine Ausdehnung, weil es in
allewege determinirt ist, und folglich sich nicht weiter erstrecken kann. Daher muß es notwendig durch einen Punkt vorgestellet werden, weil ein Punkt 27 ebenfalls keine Ausdehnung hat" (§ 176). Die Relationen "gehören unter" ("enthalten unter") und "enthalten in" versucht Lambert zu versinnlichen: "Wird diese Linie gezogen, und alle Individua durch eine Reihe von Punkten, welche sie vorstellen, darunter gesetzt, so thut man hierdurch nichts anders, als was der Ausdruck: Alle se Individua gehören unter diesen allgemeinen
die-
Begriff, von Wort zu Wort
anzeigt" (Dianoiologie, § 175). Eine interessante Bemerkung findet man im 25
26
27
Vgl. Dianoiologie, § 51: "Wird ein Begriff auf die vorgeschriebene Art deutlich gemacht, so weiß man seine Merkmaale, welche zusammengenommen den Umfang desselben bestimmen"·, sowie Architektonik, S 529; 1.6.3.1.; und den Briefwechsel Lamberts mit Holland. Auf Hollands extensionale Logik können wir nicht eingehen. Den Begriff der "Erstreckung", der die Ubersetzung von 'Extensio' ist, hat Lambert vielleicht von der Poleyschen Locke-Übersetzung übernommen; loc.cit., S. 602. Diesen Gesichtspunkt scheint Kant vor Augen zu haben, wenn er meint: "Ein einzelner Begriff hat keine Sphäre, er ist ein Punkt und muß also eben so entweder ganz außer der Sphäre des Prädikats oder ganz in sie fallen. Folglich ist den allgemeinen Urtheilen ein einzelnes gleich" (Logik Philippi, S. 463). Für Kant ist jedoch Sphäre als Kreis zu versinnlichen - was er bei Euler gelernt hat -, bei Lambert als Linie, was jedoch auf die Frage der Ausdehnung und des Punktes keinen Einfluß hat.
TOO
Die extensionale Logik Kants
§ 194, dem Schlußparagraphen der Urteilslehre, bezüglich der Relation "enthalten in": "Wir merken hier nur gelegentlich an, daß auch der Ausdruck: ein Begriff sey in dem andern enthalten,
ebenfalls zu einer figürlichen
Vorstellung der Begriffe den Grund lege; dagegen aber ein viel bestimmteres Erkenntniß fordere, wenn sie wie die bisher angezeigte gebraucht werden solle." Die intensionale Betrachtungsweise fordert also nach Lambert "ein viel bestimmteres Erkenntniß", gehört also darum, so könnte man fortfahren, nicht in die formale Logik, sondern in die Ontologie (vgl. 1.6.3.1.) Lambert geht also einen Schritt liber Crusius hinaus, indem er die intensi onal e und extensionale Betrachtungsweise anhand von Umfang und Ausdehnung bewußter auseinanderhält, aber bezeichnenderweise für die erst in der Architektonik (Ontologie) explizit vorfindliche charakteristische Kombinatorik nur in der Begriffstheorie von Umfang (Intension), in der Urteilstheorie dagegen nur von Ausdehnung spricht. Die Raspesche Leibniz-Edition
von 1765 gab weitere Impulse zu der Unter-
scheidung von Intension und Extension. Aus den zahlreichen Stellen der Nouveaux Essais sei nur folgende zitiert: "La manière d'enoncer vulgaire regarde plustost les individus, mais celle d'Aristote a plus d'égard aux idées ou universaux. Car disant Tout homme est animal, je veux dire que tous les hommes sont compris dans tous les animaux; mais j'entends en même temps que l'idée de l'animal est comprise dans l'idée de l'homme. L'animal comprend plus d'individus que l'homme, mais l'homme comprend plus d'idées ou plus de formalités; l'un a plus d'exemples, l'autre plus de degrés de réalité; l'un a plus d'extension, l'autre plus d'intension" (NE, p. 486). Erstmals in der Geschichte der Logik taucht hier der Begriff der
Intension
auf. Darüber hinaus erwähnt Leibniz zugleich das Reziprozitätsgesetz. In der gleichen Sammlung ediert Raspe die Abhandlung "Quaedam difficultates logicae", in der der intensionale Aspekt der Logik im "calculus aequipollentiarum" vorgeführt wird. Die Intension wird dort durch Aneinanderreihen von Buchstaben bezeichnet: AB. Doch nimmt Leibniz auch Bezug auf die traditionelle "Interpretati o collective oder inductiva", die nichts anderes ist, als die extensionale Interpretation (vgl. 1.3.2.1.). Zum Schluß dieses Exkurses sei die Eulersohe extensionale
Logik kurz
dargestellt, weil sie große Einwirkungen auf Kants Logikverständnis
Extension und Intension in der Logik des 18. Jhds.
101
h a t t e . Z u e r s t sollen die Urteilsrelationen diskutiert werden. Die Subordination wird metaphorisch durch die Relation "sich erstrecken auf" ausgedrückt. "Diese abgesonderten Ideen nennt man mit Recht allgemeine, weil sie sich auf mehrere Dinge zugleich erstrecken"
(100. Brief, S. 80;
U.V.V.). Im Zusammenhang mit dieser extensionalen Subordination wird die Extension selbst "Ausdehnung" genannt: "aber man nimmt dieses Subject nicht in seiner ganzen Ausdehnung"
(107. Brief, S. 123; u.v.V.). Die Ausdehnung
ist, wie aus dem Kontext ersichtlich, eine extensionale Extension. Dieser Begriff der Ausdehnung entspricht dem Kantischen der "Sphäre" in den Jahren 1770-72. Die Relation "enthalten unter" (oft auch "begreifen unter") ist dagegen eine intensionale Subordination, denn sie hat als Relate nur Begriffe: "eigentlich aber ist die Gattung allgemeiner und enthält mehrere Arten unter sich" (100. Brief, S. 82). Die intensionalen Relationen heißen bei Euler "enthalten in" und "in sich schließen". Sie sind nicht sauber von den extensionalen getrennt. So können z.B. auch Individua in einem Begriff enthalten sein. Ein Ausdruck für Intension kommt aber - bezeichnenderweise für die extensionale Logik Eulers - nicht vor. Mit der Versinnlichung der 29 logischen Verhältnisse in Kreisfiguren tritt bei Euler eine Fülle von
28
29
Daß Kant sich mit Eulers Logik (in: Euler (2), 1768) auseinandersetzte, zeigt ein Zitat aus der Logik Philippi: "Euler hat das durch Figuren sinnlich zu machen gesucht" (S. 454). Zudem ist auffallend, daß in den Logikreflexionen die Zeichnungen erst nach 1768 auftreten, also nach Eulers "Briefen". Eulers Einfluß auf Kants Entwicklung zum Kritizismus ist weitgehend unerforscht. So zeigt aber schon der 97. aus Eulers Briefen (Widerlegung der Idealisten), der wörtliche und sachliche Analogien zu Kants Kapitel "Widerlegung des Idealismus" in der KrV aufzeigt, daß Eulers Einfluß auf Kant auch auf nichtlogischem Gebiet unleugbar ist. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, daß Euler die Kreisdarstellungen in die Logik eingeführt habe. Es sollen hier in chronologischer Reihenfolge einige Autoren angeführt werden, die sich vor Euler geometrischer Figuren zur Darstellung von logischen Sachverhalten bedienten: Der Aristoteleskommentator Julius Pacius: Aristotelis ... Organon, Francofurti 1584; R. Ursus: Metamorphosis logicae, Argentorati 1589; J.C. Sturm: Universalia Euclidea, Haag 1661 (von ihm wurde wahrscheinlich Leibniz beeinflußt); J.C. Lange: Nucleus logicae Weisianae ... Gissae Hassorum 1714: und derselbe: Inventum novum quadrati logici universalis, in trianguli quoque formarum commode redacti, Gissae Hassorum 1714. U m die Kreisdarstellungen Langes wußte Lambert (vgl. Architectonic, Riga 1771, § 170), der mit Ploucquet u m die rechte Darstellungsart stritt. Lambert verwendete Linien, Ploucquet Quadrate, (vgl. Ploucquet (2)).
102
Die extensionale Logik Kants
Termen (manchmal heißt die Ausdehnung auch Zirkel, manchmal sogar Raum) auf, die alle von räumlicher Metaphorik sind. Dies ist wahrscheinlich mit ein Grund, weshalb Kant erst etwa um 1775 Klarheit über die Relationen "enthalten in" und "enthalten unter" gewann. Eulers Begriffstheorie ist extensional und zielt wie die kritische Kantische auf Anwendung der Begriffe: "Diese Zeichen oder Wörter stellen also allgemeine Begriffe vor, deren jeder sich auf eine unendliche Menge von Gegenständen anwenden läßt" (102. Brief, S. 87). Das Wesen des allgemeinen Begriffes liegt also in seiner Anwendbarkeit. Die Ausdehnung ist unbeschränkt. Auch dies ist ein Wesensmoment des Begriffs, das wir bei Kant wieder finden werden (vgl. 1.6.3.2.). Zum Schluß seien noch einige Bemerkungen liber die Eulersahen Figuren angeführt. "Man kann auch diese vier Arten von Sätzen durah Figuren vorstellen, um ihre Beschaffenheit, selbst den Augen sichtbar zu machen. Dieses Hiilfsmittel ist von ungemeinem Nutzen, wenn wir uns recht deutlich erklären wollen, worinn eigentlich die Richtigkeit eines Schlusses bestehe" (102. Brief, S. 89; u.v.V.). Es scheint sich also hier um ein "Hilfsmittel" zu deutlichen Ideen zu handeln wie etwa Vergrößerungsgläser eines sind (99. Brief). Doch schon bald verläßt Euler diese Hilfsmittel-Auffassung und spricht den Figuren eigentliche Beweiskraft für die Richtigkeit der Syllogismen zu. So beweist er etwa den Modus Frerison der 4. Figur im 105. Brief: "Es thut hierzu nichts, daß dieser Schluß gerade von der Xllten Art ist; denn er würde ebenso bindend seyn, wenn er auch zu jeder der übrigen Arten gehörte, die ich Ew. H. vorgelegt habe, und deren Grund in den gegebenen Figuren sogleich in die Augen fällt ..." (105. Brief, S. 108) und: "Auf die gleiche Art kann man die Richtigkeit der übrigen Schlußarten beweisen" (105. Brief, S. 110; u.v.V.). Dabei darf man wohl annehmen, daß Euler als Mathematiker einen strengen Begriff von "Beweis" hatte. Man kann sich fragen, ob Euler die These vertreten hätte, daß die Logik auf intuitive Evidenz gründe. Doch außer der angeführten Herleitung des Modus Frerison findet man bei ihm darüber keine Hinweise.
Extension und Intension bei Kant 1771/72
103
Aus diesem Exkurs ergibt sich also, daß über die extensionale und intensionale Interpretation der Logik im 18. Jhd. keine sachliche und terminologische Klarheit bestand. Dies zeigt sich am besten am Beispiel Lamberts, der den Terminus "Umfang" für die Intension gebrauchte. Die ontologischerkenntnistheoretische Position der jeweiligen Logiker entschied denn auch meist - trotz verwirrender Mischformen - über die extensionale oder intensionale Interpretation der Logik, was eine Reflexion auf die ontologische Tragweite der Entscheidung verhinderte. So i s t Wolffs rationalistische Logik intensional, die empiristische Logik der pietistischen Tradition dagegen eher extensional. Es blieb also Kant vorbehalten, dadurch daß er zwischen den beiden Fronten des Rationalismus und Empirismus philosophierte, auf die Bedeutung dieser zunächst innerlogisch scheinenden Differenz aufmerksam zu werden. Vor ihm hat einzig Lambert in seiner Architektonik die ontologischen Implikationen aufgewiesen (vgl. 1.6.3.1.). Die mathematischen Logiker der 60er Jahre stießen im Zusammenhang mit der geometrischen Darstellung der logischen Verhältnisse auf diese Schwierigkeiten, gerieten aber nach Kant in Vergessenheit, so daß dessen Terminologie von Umfang und Inhalt der Begriffe via Jäsche-Logik a l l e i n wegweisend für die deutsche logische Literatur des 19. Jhds. werden konnte.
1.6.2. Extension und Intension bei Kant 1771/72 Thema dieses Abschnittes i s t es, die Schattierungen in den Begriffen der Extension und Intension freizulegen, um dadurch zu zeigen, wie die k r i t i sche Konzeption dieser Begriffe entsteht und mit welchen erkenntnistheoretischen Problemen sie zusammenhängt. Dabei werden die Logikvorlesungen Blomberg (1771?) und Philippi (1772?) und natürlich die Logikreflexionen zugrundegelegt. Kant unterscheidet extensionale und intensionale Extension. Die extensionale nennt er nach Meiers Vorlage "Sphäre" und definiert: "Die Spaera not i o n i s bedeutet eigentlich die Menge der Dinge, die unter einem Begrif, als eine Nota Communis begrifen sind" (Logik Blomberg, S. 257). Sphäre hat hier also Bezug auf Dinge, nicht auf Begriffe, i s t also extensionale Extension. Das Wesen des B e g r i f f s , der solcherart durch eine Sphäre ausge-
104
Die extensionele Logik Kants
zeichnet ist, liegt in der Allgemeinheit: "Allgemeine Vorstellungen sind Begrife, und begrife sind allgemeine Vorstellungen" (Logik Blomberg, S. 251). Diese Allgemeinheit ist Abstraktionsallgemeinheit, Klassenallgemeinheit. "Die Form der Allgemeinheit aber lieget in der Abstraction" (Logik 30 Blomberg, S. 253). Abstraktion ist als Handlung Subordination und derart Fundament der Begriffstheorie. Sie bestimmt das Wesen des Begriffs als Allgemeinheit und eo ipso seine Sphäre als Menge der Dinge, von denen er als ein Merkmal abstrahiert worden ist. Die Subordination ist hier eine extensionale. Diese Bestimmung der Begriffe und der Subordination ist zugleich die Auszeichnung des Usus intellectus logicus. Sie steht im Dienste der Aufeinanderbezogenheit von Cognitio intellectual is und sensual is. Die Subordination hat immer nur Sinn in bezug auf gegebene Vorstellungen in der Erfahrung. Die logische Form ist an die Erfahrungserkenntnisse gebunden. Daher läßt Kant auch Conceptus singulares zu, eine These, die er später ver31 wirft.
"Bey den ersteren (seil. Conceptus singulares) dencke ich mir
nur ein Ding" (Logik Blomberg, S. 257). Bezeichnend für diesen essentiellen Gegenstandsbezug des Begriffes ist auch der Ausdruck des Conceptus summus als Begriff
von einem Gegenstand Uberhaupt.
Was ist nun aber die zur extensionalen Subordination inverse Relation? "Die Dinge sind unter dem Begrife enthalten, der von ihnen abgesondert ist. Dieser Begrif ist ein gemeinschaftlicher Grund zu erkennen, er ist in allen Dingen enthalten"
(Logik Blomberg, S. 255; u.v.V.).
Die Relation "enthalten in" ist so auf Dinge restringiert, und das Reziprozitätsgesetz kann nicht formuliert werden, wenn die Relation "enthalten in" nicht auf Begriffe generell ausgeweitet wird. "Je weniger aber ein Begrif unter sich enthält, desto mehr halt er in sich, und ein einzler Begrif enthält am mehrsten in sich, denn hier erkenne ich zwar nur einen Gegenstand, aber sehr viel an demselbigen" (Logik Blomberg, S. 258; u.v.V.)
30 31
"Die Abstraktion ist eine Handlung der Subordination. Ich subordinire Begriffe unter einen" (Logik Philippi, S. 453). "Es ist ein Fehler in der Logik, da man algemeine, besondere und einzelne Begrif annimmt, denn es giebt solche nicht, aber der Gebrauch derselben kann so eingetheilt werden" (Logik Pölitz, S. 567).
105
Extension und Intension bei Kant 1771/72
Das Reziprozitätsgesetz soll das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Ver32 stand ausdrücken.
Damit es aber dargestellt werden kann, müssen die Re-
lationen zwischen Begriffen definiert werden. Problematisch am Begriff der extensionalen Extension ist offensichtlich der Ausdruck "Ding", der als gedachter Conceptus singularis, oder als erkanntes Ding oder als das wirkliche Ding selbst verstanden werden kann. Daß Kant bezüglich der Definition der Extension schwankte zwischen der Auffassung der Extensionselemente als Dingen, etwa Anschauungen, was durch den Eulersehen Begriff der Ausdehnung nahegelegt wurde, und als Begriffen, oder als promiscue bestehend aus Begriffen und Dingen, zeigt das Nebeneinandervorkommen zweier Begriffspaare: Conceptus latior vel angustior und Conceptus inferior vel superior. Die Unterscheidung angustior/latior bezieht sich auf die Sphäre
(Menge der Dinge) und auf die ihr zugeordnete
Subordination als Abstraktion. "Der conceptus dessen Sphäre nur ein Theil einer andern Sphäre ist, ist angustior" (Logik Philippi, S. 454). Die Unterscheidung von Conceptus superior und inferior bezieht sich dagegen auf die Subordination als Gattungs-Art-Beziehung:
"Ein jeder Conceptus commu-
nis heißt species in Ansehung seines superioris; genus in Ansehung seines inferioris" (Logik Philippi, S. 455). Die Extension eines superior besteht aus allen inferiores, weil die ja enthalten unter dem ersteren sind. Die Sphäre eines Begriffes besteht dann also aus allen Arten; und so wird ver33 ständlich, daß die inverse Relation
zur intensionalen Subordination die
Division (Einteilung) ist: "Die Eintheilung eines Begrifs besteht darin, wenn ich sehe wie viel unter ihm enthalten ist ... Membra dividentia
heißen
Begriffe, so unter einem andern enthalten sind" (Logik Philippi, S. 462). Die Extension ist hier also eindeutig die Menge der Membra dividentia, 34 also intensionale Extension. Hier gilt denn auch die Lex continuitatis 32
33
34
Ganz deutlich kommt das Ziel der Reziprozität im folgenden Satz zum Ausdruck: "Die Sinne erkennen an wenig Dingen viel, die Vernunft aber an vielen Dingen wenig" (Logik Blomberg, S. 260). Das kommt sehr schön in der R 3023 zum Ausdruck: "Wir gehen von niedrigen zu höheren hinauf, und nachher können wir von diesen wieder zu den niedrigen herabgehen durch Eintheilung." Vom Standpunkt der intensionalen Extension hat das Reziprozitätsgesetz - im Gegensatz zum Standpunkt der extensionalen Extension - einen Sinn: "conceptus superior oontinetur in inferiori et hic sub superiori" (R 2894; 1769-71; u.v.V.).
106
Die extensionale Logik Kants
formarum logicarum, die besagt, daß es keine Species Ínfimas gibt und daß somit die Sphäre infinita et evanescens ist, was bedeutet, daß die Logik nie zur Sinnlichkeit kommt. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, als Trennung verstanden, legt nahe, daß es keine Species infima gibt, daß man also mit logischen Formen die Sinnlichkeit nie einfangen kann. Die intensionale Subordination als Gattung-Art-Beziehung führt auf diese These, wohingegen die extensionale Subordination auf den direkten Bezug abzielt und Species Ínfimas zuläßt, die dann nichts anderes als Dinge (Individua) sind. Kants Ringen in der Thematik der Species Ínfimas ist also eigentlich durch erkenntnistheoretische Fragen motiviert. Die R 2993 (60-70?) dokumentiert diese Problematik: "hinc species infima sub se continet individua". Dann ist eingefügt mit der Tinte von R 2894; (69-71?): "non datur
species
infima propter legem continui" (u.v.V.). Man kann auch diese Problematik auf die Frage nach der Bedeutung des Ausdruckes "Ding" zurückführen. Ist es eine Anschauung oder ein einzelner Begriff? Wäre es Conceptus singularis, so wäre die extensionale Subordination zugleich intensionale. Die Frage nach dem Conceptus singularis läßt sich aber auch von der Intension her stellen. Der Begriff "Inhalt" oder ähnliches kommt hier noch nicht vor. Es wurde schon gesagt, daß im Falle der Subordination qua Abstraktion der einzelne Begriff (qua Ding) eine Intension habe, und zwar: "ein einzler Begrif enthält am mehresten in sich" (Logik Blomberg, S. 258). Die Restriktion der Relation "enthalten in" auf Merkmale, die in Dingen enthalten sind, hat zur Folge, daß Kant einen sehr engen Begriff von Intension hat. Dieser ist der ganze Begriff von einem Dinge, wie er Schon bei der Thematik der synthetischen Urteile gewonnen war. Daß dieser ganze Begriff von einem Dinge der Komplex der koordinierten Merkmale ist, sagt Kant in der Logik Blomberg: "Die Merckmahle sind einem Dinge allemahl coordinirt, und machen als Theile zusammen den gantzen Begriff des Dinges aus, das Ding aber ist denen Merckmahlen, die von ihm gegeben worden, subordini ret" (S. 257). Der ganze Begriff eines Dinges ist aber ein ästhetischer, licher Begriff,
d.h. sinn-
und kein logischer: "Die Form (seil, eines ästhetischen
Begriffes) aber (besteht) in einer Menge einander Coordinirten Vorstellungen" (Logik Blomberg, S. 252). Deshalb kann Kant wohl auch in der R 4371 (1771) die Koordination (Intensionsbeziehung) als Inhärenz verstehen: "Die Inhaerentz ist eine coordinatio, die convenientz eine subordinatio logica."
107
Extension und Intension bei Kant 1771/72
Es ist wohl kein Zufall, daß nur die Subordination eine logische genannt wird, nicht aber die Koordination. Dies entspricht genau der Tendenz des Reziprozitätsgesetzes: der Intension die Cognitio sensual is, der Extension die Cognitio intellectual i s zuweisend ein reziprokes Verhältnis dieser beider Erkenntnisweisen anzuzeigen. Daß die Intension eines Begriffes
kein
logischer Terminus ist, zeigt sich auch in der Logik Philippi: "Die Theilung eines Begriffs bestehet darin, wenn ich sehe was in dem Begrif enthalten ist. Divisio realis. Die Eintheilung eines Begriffs besteht darin, wenn ich sehe wieviel unter ihm enthalten ist" (S. 462, u.v.V.). 35 Die Begriffsintensionen teilen, d.i. analysieren,
ist keine logische
Operation, wie etwa die Extension einteilen, sondern eine reale, d.i. eine, die nur die Metaphysik leisten kann oder die sinnliche Erkenntnis, wenn es sich um einen Conceptus singular!s handelt. 36 Die Analyse der Intensionsbeziehung gehört in die Metaphysik, diejenige der Extensionsbeziehung in die Logik: "Wie das praedicat im subiect liege, gehört zur metaphysic: wie das subiect unter ihm stehe, zur logic" (R 4295; 70-78V; u.v.V.). Die Intension eines Begriffes, die Kant manchmal nach der 37 Vorgabe Lamberts "Materie" nennt, gehört also nicht zur Logik, sondern zur Metaphysik, genauer, wenn der Begriff ein singulärer ist, zur Ästhetik, wenn er ein allgemeiner ist, zur Analysis der Philosophie. In den Jahren 1771/72 macht sich Kant mit dem ganzen Begriffsfeld von Extension und Intension vertraut, das bei ihm um den Begriff des Dinges zentriert ist und im Rahmen der erkenntnistheoretischen Problematik der Abgrenzung von Sinnlichkeit und Verstand steht. 35
36
37
Das Zergliedern, die Analysis notionum, ist keine logische Operation, sie gibt bloß analytische Urteile ab, nicht etwa Urteile schlechthin. In der Logik Blomberg schreibt Kant denn auch zum § 257 von Meiers Logik, der von der Analysis notionum handelt: "Hiebey haben wir eben nichts zu bemerken, die Metaphysic redet nemlich davon weitläuftiger" (Logik Blomberg, S. 255). So heißt es schon in den 60er Jahren: "Wir theilen den Begrif oder wir theilen ihn ein. In jenem Falle suchen wir, was in ihm enthalten ist: divisio metaphysioa; im zweyten: was unter ihm enthalten ist. (divisio logica sphaerae)" (R 3021; 1760-70?; u.v.V.). "Wenn mir ein Begrif nach seiner Materie oder den Merkmalen nach gegeben ist, und ich suche per analysin die Merkmale klar, so mache ich einen gegebenen Begriff deutlich" (Logik Philippi, S. 456). - Kant nennt auch später noch häufig den Inhalt eines Begriffes "Materie": Vgl. z.B. R 3070 (80er Jahre) und Logik Busolt, S. 655
108
Die extensionale Logik Kants
1.6.3. Extension und Intension beim Kritischen Kant
1.6.3.1. Kants und Lamberts Formbegriff Die Bedeutung Lamberts für Kant braucht nicht mehr betont zu werden: bereits seit A. Riehl, der Lambert etwas überspitzt "Vorgänger des Kritizismus" nannte, weiß man um Lamberts Einfluß. Im folgenden soll nur über einen kleinen, aber entscheidenden Teil des Verhältnisses von Kant und Lambert verhandelt werden, nämlich über den Formbegriff Lamberts und seine Bedeutung für Kants Logik. Schon in seinem 1764 erschienenen "Neuen Organon" spricht Lambert, v.a. in der Dianoiologie, der Logik also, von der Form der Erkenntnis, allerdings ohne darüber eigens zu reflektieren. Ein Jahr später schreibt er in einem Brief an Kant: "Ich habe aber allgemeinere Anmerkungen zu machen Anlaß gehabt. Die erste betrifft die Frage, ob oder wiefern die Kenntnis der Form zur Kenntnis der Materie führe? ... Denn 10 ist unsere Erkenntnis von der Form, so wie sie in der Logik vorkömmt, so unbestritten und richtig als 38 immer die Geometrie" (AA, Bd.10, S. 64). In der 1764 geschriebenen, aber erst 1771 mit Zusätzen herausgegebenen "Architectonic" wird schon einleitend auf die zentrale Bedeutung der logischen Form aufmerksam gemacht: "Die Frage ist also, was zur Form der Erkenntnis
gerechnet wird. Hieher muß
nun besonders die logische Form derselben gerechnet werden, so fern diese, wie es in den neueren Vernunftlehren geschieht, schlechthin nur von den Operationen des Verstandes hergenommen wird" (Architectonic, Vorrede S. 39 XXII).
Was diese logische Form ist, wird in einem Zusatz zum XIX. Haupt-
stück der Architectonic ausgeführt. "Auf diese Art wird nun ... die Form der Erkenntnis
in der Vernunftlehre betrachtet, und besonders in der Theorie
der Sätze und Schlüße
sehr genau von der Materie unterschieden. Die Form
bezieht sich dabey auf das Bejahen und Verneinen, auf die arithmetischen Wörter: alle, etliche, ein, kein, etc. imgleichen auf die Bestimmungen wenn, entweder oder; sowohl, als; weder noch etc. und auf alle dahin gehö38
39
Diese Behauptung wird plausibel, wenn man berücksichtigt, daß Lambert die logischen Urteile und deren Verhältnisse durch Striche und Punkte versinnlicht. Vgl. zum Zusammenhang von logischer Form und Operation 2.1.1.5. und 3.1.
109
Kants und Lamberts Formbegriff rigen logischen Kunstwörter, Verhältnisbegriffe etc" (Zusatz XIV).
Es ist auffallend, daß die Kantischen Hinsichten der Qualität (bejahen, verneinen), Quantität (alle, etliche, ein und Negationen), der Relation (wenn, entweder oder und Verneinungen) zur logischen Form gerechnet werden. Dies ist ein für die Genesis der Kantischen Urteilstafel
entscheidender
Anstoß, um so mehr wenn sich zeigt, daß Kants Begriff der logischen Form wesentliche Impulse von demjenigen Lamberts empfängt. Im Gegensatz zur Form ist die Materie
die Intension eines Begriffs. "Bey
zusammengesetzten Begriffen sind die einfachen ihre Bestandtheilchen, und diese werden dabey als Materie betrachtet" (Zusatz XVI). Die Materie eines Begriffes gehört also nicht zur logischen Form, woraus folgt, daß die Intension eines Begriffes kein logischer Terminus ist. Die Logik abstrahiert von aller Materie. Lambert formuliert diese These in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Kant (B 79). "Hingegen abstrahirt sie (seil, die Vernunftlehre) ganz von der Materie" (Architektonik § 231, vgl. § 233). Gleichzeitig spricht Lambert die These aus, daß die materiale nale) Betrachtung
in die Grundlehre
(intensio-
gehört, welche die Quellen und Ent-
stehungsart der Urteile und die Korrespondenz von Form und Materie behandelt: "... worauf sich die Theorie der Urteile und Sätze gründet, deren Form zwar in der Vernunftlehre betrachtet wird, die Quellen und Entstehensart, imgleichen die sogenannte objective Bestimmung ihrer Ausdehnung eigentlich in die Grundlehre gehöret ... und (seil, die Vernunftlehre) bestimmet daher auch nicht, wo solche Form zu finden, und welche Arten von Materien zu jeder Art der Form gehören. Dieses gehöret für die Grundlehre" (Architektonik § 231). Die Grundlehre, die ja auch eine Kategorien- und Grundsatztheorie ist, hat somit verwandte Absichten wie die transzendentale Logik (vgl. auch 3.2.1. und 3.3.2.). Die These, daß die formale Logik von aller Materie abstrahiere, zeigt sich denn auch in folgenden Punkten: - Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen ist kein ontologisches, sondern gehört zur logischen Form. Die logische Form regelt ausschließlich die Beziehungen der Extensionen: "Dadurch wurde aber das ontologische Hauptstück vom Allgemeinen
und Besonderen
sehr entblößt, weil außer die-
110
Die extensionale Logik Kants
ser Sentenz und der Erklärung der Wörter allgemein, besonder,
einzeln,
Gattung, Art etc nicht viel anderes darinn vorkommen konnte. Ja da diese Erklärungen eigentlich zur Form der Erkenntniß gehören, und daher bereits in der Vernunftlehre vorkommen mußten ..." (Architectonic, § 161). Das Allgemeine und Besondere gehört zur Form der Erkenntnis, weil die Form mit der Stellung und Anordnung der Teile befaßt ist: "Die Anordnung und besonders die Subordination ... macht sodann einen beträchtlichen Teil der Form aus" (Architectonic, Bd. II, S. 244). Die Subordination qua Ordnungsrelation ist also wesentliches Element des Begriffs der logischen Form. Als Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist sie aber von der Materie losgelöst. - Der Inhalt, die Materie der Erkenntnis gehört nicht in die Logik. Diese handelt bloß von Ausdehnung und Subordination. Dies zeigt sich auch an Lamberts Verständnis der Relation "enthalten in": "Auf diese Art habe ich in der Dianoiologie die Ausdehnung
der Begriffe durch Linien vorge-
stellet, ... dabey habe ich gleichfalls angemerket, daß die Verhältnisse in und auAer einander noch eine andere Dimension von Begriffen angeben, wozu aber unsere dermal ige Erkenntniß noch zu unreif ist" (Architectonic, § 81). Lambert bezieht sich wahrscheinlich auf den § 194 der Dianoiologie, wo gesagt wird, daß die Begriffsintensionen eine sehr bestimmte Erkenntnis voraussetzen, d.i. daß sie in die Ontologie gehören, die von einfachen Begriffen und deren Zusammensetzungen handelt, wie etwa die Architectonic. "Wir merken hier nur gelegentlich an, daß auch der Ausdruck: ein sey in dem andern enthalten,
Begriff
ebenfalls zu einer figürlichen Vorstellung
der Begriffe den Grund lege; dagegen aber ein viel bestimmteres Erkenntnis erfordere" (Dianoiologie, § 194). Auf diesen logischen Formbegriff wurde Lambert wahrscheinlich durch Leibniz1 Dissertatio de Arte combinatoria gebracht, was man daraus schließen kann, daß die Architectonic als eine Ausführung und Realisierung des dort vorgeschlagenen Programmes gelten darf: Leibniz bezieht in der Dissertatio die logische Form auf die Kopula, die Materie eines Urteils dagegen ist die Begriffsintension von S und P: "Caeterum Sturmianos illos modos arbitror non formae, sed materiae ratione concludere, quia quod ter-
Kants und Lamberts Formbegriff
m
mini vel finiti vel infiniti sint, non ad formam propositionis s eu copulan aut signum pertinet, sed ad términos" (Leibniz, GM V. p. 33 f.)· Die Unterscheidung von finiten und infiniten Termini bezieht sich auf die Intensionen, diese gehören also nicht zur Form, sondern zur Materie. An Lamberts Begriff der logischen Form sollen folgende zwei Punkte festgehalten werden: - Die logische Form besteht wesentlich in der Subordination qua Beziehung von Allgemeinem und Besonderem. - Die Subordination bezieht sich als logisches Gattung-Art-Verhältnis auf die Ausdehnung, nicht auf die Materie der Begriffe. Kants Begriff der logischen Form gründet in der Abgrenzung gegen den Inhalt der Erkenntnis. Die Logik abstrahiert von jedem Inhalt: "Die allgemeine Logik abstrahiert, wie wir gewiesen, von allem Inhalt der Erkenntnis, d.i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d.i. die Form des Denkens überhaupt" (KrV, Β 79). Da eine Erkenntnis ein Urteil oder ein Begriff sein kann (im Sprachgebrauch der KrV), handelt die Logik folglich auch nicht - wie bei Lambert vom Inhalt der Begriffe. Kant ist sich hier also mit Lambert einig, wie auch in der Bedeutung der Subordination für die logische Form. Kant versucht nämlich, alle Urteilsformen auf die Subordination zu bringen. "Das Urtheil ist die Vorstellung der Einheit gegebener Begriffe, sofern einer dem andern Untergeordnet ist: 1. Als unter der Sphäre des andern; 2. als Folge dem Grunde; 3. als Glied der Eintheilung dem eingetheilten Begriff" (R 3060; 90er Jahre). Die Subordination wird herausgelöst aus dem engen Verständnis etwa in einem kategorischen Urteil und erweitert auf eine kausale Ordnungsrelation in den drei Modi der kategorischen (Prädikat ist Erkenntnis^nmd), der hypothetischen (antecedens ist Grund) und der disjunktiven (eingeteilter Begriff ist Grund). Die Subordination ist natürlich auch Form für die Quantität und Qualität, da es sich ja dort um bloße Modifikationen von kategorischen Urteilen handelt. Der Fall der Modalität hat auch einen engen Zusammenhang mit kausalen Ordnungen, insofern die Prinzipien qua Wahrheitskriterien je verschiedene Gründe von problematischen
112
Die extensionale Logik Kants
(Satz vom Widerspruch), von assertorischen (logischer Satz vom Grund) und von notwendigen (tertium non datur) Urteilen sind. Der Zusammenhang von Form und Modalität wurde schon in 1.4.2. berührt. Es kann hier nicht weiter auf den Kantisehen Formbegriff eingegangen werden; es kam nur darauf an, die Abkunft dieses Begriffes vom Lambertschen zu zeigen und den Zusammenhang mit der extensionalen Urteilsrelation (Subordination) aufzuweisen. 1.6.3.2. Der Begriff der Extension Dieses erweiterte Subordinationsverständnis hat nun auch Konsequenzen für die Interpretation des Verhältnisses im kategorischen Falle: "Urtheil i s t ein Erkenntnis der Einheit gegebener Begriffe: Daß nämlich Β mit verschiedenen anderen Dingen x, y , z, unter denselben Begriff A gehöre, oder auch: daß das manigfaltige, was unter Β gehört, auch unter A gehöre, imgleichen daß die Begriffe A und Β durch einen Begriff Β vorgestellt werden können" (R 3042; 1773-77?). Die Reflexion gibt drei Möglichkeiten an, die kategorische Subordination zu denken: Wir beginnen mit der von Kant zuletzt genannten: A und Β vorgestellt durch B. Dies bedeutet, daß Β Erkenntnisgrund von A und Β mithin den Begriff A unter sich enthält. Dieser Ausdrucksweise sind wir schon in den Jahren 1769/70 begegnet. Hier handelt es sich also um eine intensionale
Extension.
Die zweite Möglichkeit b e t r i f f t eindeutig die extensionale
Extension.
Das Mannigfaltige - hier noch nicht im Sinne der KrV, wo ja nur vom Mannigfaltigen der Anschauung, nicht der Dinge die Rede i s t - meint eine unbestimmte Vielheit von Dingen, die unter beiden Begriffen A und Β zugleich enthalten sind. Das bedeutet, daß nicht der Unterbegriff als Sphärenelement des Oberbegriffs vorgestellt wird, sondern daß die Subordination bloße Sphäreninklusion i s t . Sphäre i s t hier also wie 1770-72 angesetzt
als
Menge von Dingen. Die dritte Deutung der Subordination im kategorischen Urteil läßt die Art der Sphäre v ö l l i g imbestirrmt:
Begriffe (B) gehören darunter oder Dinge
(x, y , z). Daß es sich bei x, y , ζ um Dinge, nicht um Begriffe handelt, i s t schon äußerlich angezeigt durch die Wahl der Kleinbuchstaben. Damit i s t der kritischen Einsicht der Weg freigelegt, daß die Extension
113
Der Begriff der Extension angesetzt wird als unendliche
Menge
von logisch
unbestimmten
Vorstellungen
(Begriffe oder Dinge): "Nun muß man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter
sieh enthält" (KrV, Β 39 f.)· An diesem dritten Extensions-
begriff können nun die zwei ersten Deutungen als Modifikationen definiert werden. Zwei Konsequenzen ergeben sich aus diesem einheitlichen
Extensionsbegriff.
Zum einen fällt die Differenz zwischen Conceptus angustior/latior und dem Begriffspaar Conceptus inferior/superior weg: "Conceptus superior heißt latior, inferior heißt angustior" (Logik Busolt, S. 655). Zum zweiten werden die Begriffe nicht mehr eingeteilt in einzelne, besondere und allgemeine, sondern nur deren Gebrauch wird so eingeteilt, daß die Urteile eingeteilt werden müssen in singulare, partikuläre und universelle. Denn es 40 ist ja nicht mehr sinnvoll, von einem einzelnen Begriff
zu sprechen,
weil jeder Begriff schon durch eine unbestimmte Sphäre gekennzeichnet ist und weil darüberhinaus der Begriff von einem Individuum bereits ein Ausdruck ist, der die Logik transzendiert, die ja die Sphärenelemente nicht bestimmt. "Jeder conceptus ist repraesentatio coimiunis, das liegt schon in der Erklärung, aber der Gebrauch derselben kann sein communis aut singularis, d.h. in individua" (Logik Pölitz, S. 567). Der Begriff, als logisches Objekt, wird also angesetzt als Repraesentatio communis, die eine unendliche Menge von möglichen Vorstellungen als Sphäre hat. Es ist also vom logischen Standpunkt der Form eines Begriffes, d.h. seiner Allgemeinheit, nicht mehr sinnvoll zu fragen, ob diese Vorstellungen reale Objekte oder Begriffe sind; damit fällt extensionaler
auch die Differenz
von intensionaler
und
Extension.
Dieser Ansatz des Begriffes ist einerseits aus dem kurz skizzierten Verständnis der logischen Form,die nur mit Extensionen zu tun hat, begreiflich, andrerseits aber aus dem transzendentalen Gesetz der Spezifikation, das Fundament ist des logischen Prinzips "als welches lediglich die 40
Unbestimnt-
Hier wird auch deutlich, daß Kant behaupten kann, die einzelnen Urteile seien den allgemeinen gleichzuschätzen in der Logik, denn auch der einzelne Begriff muß ja secundum extensionem unendlich angesetzt werden. Vgl. KrV, Β 96.
114
Die extensionale Logik Kants
heit der logischen Sphäre in Ansehung der möglichen Einteilungen behauptet" (KrV, Β 684). Für die logische Division gilt also dasselbe wie für die Division des Raumes: beidesind ins Unendliche teilbar. Mit diesem Ansatz des Wesens eines Begriffes als indefinite (dies ist der Sinn der "Unendlichkeit") Extension, die von der Mitte der 70er Jahre an nun bezeichnenderweise nicht mehr Sphäre (extensionale Extension), sondern Um41 fang genannt wird,
wird das Wesen der logischen Allgemeinheit vollends
deutlich: "Diese vollendete Größe des Umfanges, ... heißt seine Allgemeinheit" (KrV, Β 379). Wir müssen nun noch einen zweiten Aspekt des Umfanges betrachten, nämlich den der Anwendung
oder des Gebrauahes:
"Dies Verhältniß subordinierter
Begriffe, da einer unter dem andern enthalten ist, und noch mehr dazu, und da einer den andern unter sich hat und noch mehr dazu ist die Sphaera oder der Umfang des Gebrauahes
des Begriffes" (Logik Pölitz, S. 569; u.v.V.)
"Ein Begrif kann also eine grössere Sphaere haben, eine größere
Anwendung,
als ein anderer" (Logik Busolt, S. 655; u.v.V.). Mit dem Moment der Anwendung ist eng verbunden der Begriff der "Gemeingültigkeit", denn ein Be42 griff gilt für andere, d.i. kommt ihnen zu. "Die Form eines Begriffes besteht in der Gemeingültigkeit" (Wiener Logik, S. 908). Wesentlich für einen logischen Begriff ist also nicht nur die Allgemeinheit, die Gemeingültigkeit,
sondern auch
d.i. die Anwendbarkeit auf unbestimmt viele andere,
oder was dasselbe meint, die Subsumierbarkeit anderer unter ihn. Ob es sich beimAspekt der Anwendbarkeit um eine formal logische Wesensbestimmung des Begriffs oder um eine transzendentallogische handelt, läßt sich durch ein Zitat aus der KrV entscheiden: "Zu jedem Begriff wird erstlich die logische Form eines Begriffs (des Denkens) überhaupt, und dann zweitens auch die Möglichkeit, ihm einen Gegenstand zu geben, darauf er sich beziehe, erfordert. Ohne diesen letzteren hat er keinen Sinn, und ist völlig leer an Inhalt, ob er gleich noch immer die logische Funktion ent-
41 42
"Umfang als conceptus communis" (KrV, Β 683). Auch Ploucquet konzipiert die Abstractio, also die Klassen- oder Sphärenbildung als Applikation: "Non in omissione sed in appliaatione ad certum quid consistit Abstractio", Ploucquet, Fundamentalphilosophiae speculativae, Tubingae 1759, p. 57.
Der Begriff der Extension
115
halten mag, aus etwaigen Datis einen Begriff zu machen" (KrV, Β 293). Die zweite Forderung (Möglichkeit, dem Begriff einen Gegenstand zu geben) ist ein transzendental logisches Postulat, das aber allerdings nur aufgestellt werden darf, weil der Begriff logisch als allgemeiner, d.i. vielen gemeinsamer, verstanden wird und eo ipso die Anwendung möglich macht. Hier zeigt sich der Conditio-sine-qua-non-Charakter der formalen Logik für die transzendentale: notwendige Bedingung für das Postulat der transzendentalen Logik ist die Begriffsbestimmung der formalen. Diese zweite Forderung (Anwendbarkeit) an den Begriff ist auch deshalb eine transzendentale, weil sie bloß eine andere Formulierung der transzendentalen Einsicht ist: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen 43 ohne Begriffe sind blind" (KrV, Β 75). So heißt es denn auch im zitierten Passus: ohne den Gegenstand sei der Begriff völlig leer an Inhalt. Nicht unerwähnt darf die Definiton der logischen Allgemeinheit bleiben, also des ersten Wesensmomentes des Begriffs: sie beruht auf einer logischen Funktion, aus etwaigen Datis einen Begriff zu machen (vgl. 3.1.2.). Es gilt nun, dieses Wesensmoment des Begriffs (Umfang der Anwendung) noch etwas zu vertiefen in einer Analyse des Abschnittes "Von dem logischen standesgebrauche
überhaupt"
Ver-
in der KrV, Β 92-94. Kant setzt ein mit dem
Begriff der Funktion: "Funktion ist die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen imter einer
gemeinschaftlichen zu ordnen"
(u.v.V.). Die Funk-
tion, die die logische Form ausmacht, wie wir dies aus der Stelle in Β 298, die wir soeben zitierten, entnehmen können, ist also Sub-ordination.
Dieser
Formbegriff ist - wie wir gesehen haben - ganz der Lambertische. Subordination ist aber die logische Form der Urteile: also bleibt das Verhältnis von Urteil und Begriff zu klären. "Von diesen Begriffen
kann der Verstand keinen andern Gebrauch machen,
als daß er dadurch urteilt"
43
(u.v.V.). Urteilen ist also Begriffe gebrauchen.
D i e s e t r a n s z e n d e n t a l e F o r d e r u n g ist a u s d e r R e f l e x i o n a u f d a s V e r h ä l t n i s v o n L o g i k u n d Ä s t h e t i k e r w a c h s e n . S i e ist n o t w e n d i g e B e d i n g u n g des Reziprozitätsgesetzes. D e n n wären Begriffe ohne Anschauungen, d.h. B e g r i f f e a l s l e e r e E x t e n s i o n e n z u g e l a s s e n , so w ü r d e s i c h d i e S c h w i e r i g k e i t e r g e b e n , d a ß sie v o n d e r I n t e n s i o n h e r a l s w i d e r s p r ü c h l i c h e i n t e r p r e t i e r t w e r d e n m ü s s t e n , w a s sie a b e r g a r n i c h t s i n d . ( V g l . 1.1.)
Die extensionale Logik Kants
116
So kann Kant dieses Wesensmoment des Begriffs folgendermassen ausdrücken: "Begriffe aber beziehen sich, als Prädikate zu möglichen Urteilen ..." Ein Begriff ist also wesentlich Prädikat zu einem möglichen Urteil, d.h. sein Wesen besteht neben der Allgemeinheit, die die Subordination ermög44 licht, in der Anwendbarkeit.
Diesen Sachverhalt drückt Kant auch durch
den Begriff der Geltung aus: "In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt,
und unter diesem Vielen auch eine Vorstellung begreift, welche
letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird" (u.v.V.). Diese Fassung des Urteil ens als Gebrauch von Begriffen ermöglicht Kant, die analytische Einheit (von Komparation, Reflexion und Abstraktion) als logische Einheit für Begriffe, Urteile, Schlüsse anzusetzen und die in der Form der Begriffe verwurzelte Subordination, qua logische Form, aufzufassen, deren Spezifikation dann auch die Urteilsformen abgibt. Doch dies führt uns von unserem eigentlichen Thema ab. Die transzendental logische Forderung der Anwendbarkeit der Begriffe ist also Fundament für das Verständnis der formalen Logik als Lehre vom Ge45 brauch der Begriffe. Was das rein formal logische Wesensmoment des Begriffes betrifft, also die Allgemeinheit des Umfanges, so zeigt sich im § 10 der KrV deutlich, daß es nicht entscheidend ist, worauf sich ein Begriff bezieht, d.i. ob es sich nun um eine intensionale oder um eine extensionale Extension handelt: "So wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf
irgendeine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung
oder selbst schon Begriff) bezogen."
44
45
Die wesentliche Einheit des kriti-
Diese Einsicht ist Kant schon in den Jahren 1769/70 aufgegangen: deutlich ausgesprochen wird sie in der R 4634 (1772-75), einer Reflexion, die eine Vorstufe in der Ausarbeitung des eben verhandelten Passus der KrV ist und die Kant bereits auf der Höhe kritischer Einsicht in die Logik zeigt: "In jedem Urtheil sind demnach zwei Prädikate, die wir miteinander vergleichen." Also sind alle Begriffe, die ja nur durch Urteilen gebraucht werden können, Prädikate zu möglichen Urteilen. (Vgl. 1.5.2.) Kant hält an diesem Logikverständnis auch in den 90er Jahren fest: "... sondern lediglich in die Logik gehört, indem er keinen Unterschied in der Beschaffenheit der Dinge, sondern nur des Gebrauohes der Begriffe, ob sie im allgemeinen oder aufs einzelne angewandt werden, angezeigt" (AA, Bd. 8, S. 218; u.v.V.).
117
Intension
sehen Extensionsbegriffes beruht darauf, daß die Subordination als logische Handlung interpretiert wird, deren Form die Funktion i s t . Für die Einheit dieser logischen Handlung i s t es nun nicht entscheidend, worauf sie angewendet wird, entscheidend i s t a l l e i n ihre Form. Wir können hier nicht weiter darauf eingehen (vgl. 3.1.). Es konnte hier lediglich darum gehen aufzuzeigen, daß der kritische Begriff der Extension nicht von erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten her determiniert i s t , sondern von formallogischen. 1.6.3.3. Intension Kant i s t nach Crusius, Reimarus und Baumgarten der einzige, der vom " I n halt" eines Begriffes spricht. Durch Kant wurde denn auch die Unterscheidung von "Umfang" und "Inhalt" der Begriffe geläufig. Nun scheint es unwahrscheinlich, daß Kant seinen Begriff des "Inhaltes" von Crusius, Reimarus oder Baumgarten übernommen hat. Die Tatsache, daß Kant oft von Materie spricht und daß sein Inhaltsbegriff erst nach 1770 als gegensätzliches Moment zum an Lambert ausgebildeten Formbegriff a u f t r i t t , läßt eher den Schluß auf einen direkten Einfluß von Seiten Lamberts zu. Im Folgenden soll nun die These, daß die Logik extensional i s t , ergänzt werden durch diejenige, daß sie nicht
von Intensionen
handelt.
Dabei wird
sich der Begriff der Intension klären. Intension i s t zunächst einmal Intension eines Begriffes. Das logische Wesen des Begriffes aber l i e g t in seiner Extension: "An einem Begriffe i s t : 1. die allgemeingültigkeit einer Vorstellung als Merkmal; 2. die abstraction von der Verschiedenheit der Objecte, an denen dies Merkmal i s t . Die allgemeinheit bezieht sich nicht darauf, daß der Begrif ein t h e i l b e g r i f f , sondern ein Erkenntnisgrund i s t daran werde ich Dich kennen" (R 2881 s 76-89). Hier zeigt sich wiederum deutlich der Doppelaspekt des Wesens (logisches und transzendentales) des Begriffs: Allgemeinheit und die Anwendung (Allgemeingültigkeit). Das l o g i sche Wesen des Begriffs i s t Abstraktionsallgemeinheit. Abstraktion i s t immer Abstraktion von der Verschiedenheit der Objekte, die unter dem Begriffe enthalten sind. Diese Verschiedenheit der unter einen Begriff fallenden 46 Objekte i s t nur die Schranke des Inhalts. Der Inhalt i s t somit die Menge der Merkmale, die den Objekten, die unter den Begriff f a l l e n , gemeinsam
η8
Die extensionale Logik Kants
oder einzeln zukommen. Nun könnte man argumentieren: das logische Wesen eines Begriffes besteht in seinem Inhalt, d.i. in der Menge der Teilbegriffe, die in den unter ihn fallenden Objekten gemeinsam enthalten sind. Doch genau diese Vorstellung wehrt Kant ab, wenn er sagt: "Die allgemeinheit beruht nicht darauf, daß der Begrif ein theilbegriff, sondern ein Erkennt47
nisgrund ist - daran werde ich Dich kennen."
Die Allgemeinheit qua logi-
sche Form (Wesen) eines Begriffes ist durch dessen Sinn als Erkenntnisgrund gegeben, d.i. dadurch, daß etwas durch ihn erkannt wird und er nicht bloße Folge einer gedachten Intension ist. Die Relation "enthalten in" ist wohl die Inverse zur Relation "enthalten unter" im Falle der Annahme der Gültigkeitsbedingungen des Reziprozitätsgesetzes, taugt aber, auch als formal gleichwertige, nicht zur Grundrelation der Logik der kategorischen Urteile, weil sie nicht die Richtung der Abstraktion angibt und kein Moment der analytischen (logischen) Einheit ist. In der Relation "enthalten in" geht die Richtung vom Prädikat qua Folge aufs Subjekt qua Grund, also vom höheren zum niederen Begriff, d.i. die Erkenntnisrichtung weist in concreto, also in Richtung unteres Erkenntnisvermögen, d.i. Sinnlichkeit. Mit der Relation "enthalten in" zusammen, die die logische Tendenz nicht ausdruckt, ist auch das logische Wesen des Begriffs nicht in der Intension zu suchen. Daß Kant dennoch vom Begriff "Inhalt", von der Relation "enthalten in" und gar dem Reziprozitätsgesetz in der Logik (den Logikreflexionen und -Vorlesungen) spricht, hat seinen Grund in der Unterscheidung von abstrakter und 48
konkreter Erkenntnis,
deren Verhältnis das Reziprozitätsgesetz ausdrückt,
das aber nicht auf formal logischer, sondern auf transzendental philosophischer Grundlage beruht: Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe 46
"Alle Begriffe h a b e n einen Umfang der Anwendung und Schranken des Inhalts. Das erste in Ansehung dessen, was viele einstimmig haben; das zweyte in Ansehung dessen, was a n ihnen verschieden ist" (R 2872; 1771-78?).
47
"Daran werde ich Dich kennen" ist wahrscheinlich auf Kants Auseinandersetzung m i t den Rationalisten bezogen, d e r e n philosophische Erkenntnis bloß analytisch ist, also durch Teilbegriffe, nicht durch Erkenntnisgründe .
48
"Durch sehr abstracte Erkenntniße erkennen wir a n v i e l e n D i n g e n w e n i g und durch sehr concrete Erkenntniße erkennen wir an w e n i g D i n g e n viel. Was wir also auf der einen Seite gewinnen, das v e r l i e h r e n w i r wieder auf der anderen" (Logik Pölitz, S. 570).
119
Intension
ohne Anschauungen sind leer, d.i. auf der Verwiesenheit der Begriffe auf Anschauungen, in denen sie qua Teil vorstell ungen enthalten sind. Das Reziprozitätsgesetz hat keinen innerlogischen Sinn, es gewinnt nur Bedeutung im Rahmen des transzendental logischen Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Was aber ist Intension, wenn sie nicht negativ, sondern positiv bestimmt werden soll? Die Intension ist Bestimmung, als bloß gedachte, Sinn, sonst aber Realitas. Die gedachte Intension, der Sinn eines Begriffes, ist analysierbar. Schon 1764-66 unterscheidet Kant Analysis und logische Division: "divisio logica ab analysi distinguitur; posterior est divisio notionis et metaphysica; prior divisio sphaerae notionis." Mit Analysis ist nicht etwa bloß Analysis einiger metaphysischen Begriffe
wie etwa Raum, Zeit,
Kraft gemeint, sondern Analysis im Allgemeinen, sonst wäre ja auch die Division eine metaphysische, etwa die Division des metaphysischen Begriffes der Vorstellung. Analysis ist also keine logische Operation. Dieselbe These lautet einige Jahre später mit den Relationen "enthalten in" und "enthalten unter" klarer formuliert: "Wie das praedicat im subiect liege, gehört zur metaphysic; wie das subiect unter ihm stehe, zur logic" (R 4295; 70-78?). Das Insein des Prädikats im Subjekt ist vom Entspringen der Begriffe her gedacht, also von deren Quellen her, nicht von deren logischem Ursprung. Analytisch wird die Intension deutlich gemacht, synthetisch kommt etwas aus einem Erfahrungsgrunde hinzu. Die Form der Intension allein läßt die Differenz von analytischen und synthetsichen Urteilen zu, die logische Form der Subordination aber würde diese nicht ermöglichen. Das Verhältnis der Begriffe ihrer Intension nach ist ein transzendentales: "Das logische Verhältnis aller Begriffe ist, da der eine unter der sphaera notionis des andern enthalten sey:
Das metaphysische Verhältnis besteht darin, ob der eine mit dem andern synthetisch oder analytisch verbunden sey:
(R 3216; 1772-75?)
49
120
Die extensionale Logik Kants
Was aber ist Intension im Falle der synthetischen Urteile? "Das Subjekt ist enthalten unter dem Prädikat, d.i. unter seiner Sphäre; aber das Prädikat ist enthalten im Subjekt, d.i. als constitutivum des Begrifs" (Logik Philippi, S. 473). Wenn Kant hier vom Konstitutivum redet, ist das ein Indiz dafür, daß er den Begriff als bestimmten
betrachtet und so der
Inhalt eines Begriffes die Bestimmtheit von ihm ist, wie das in der KrV gesagt wird: "Und die Vernunft zeigt hier ein doppeltes, einander widerstreitendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfanges meinheit)
in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhalts
stimmtheit)
(der Allge(der Be-
in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten ..." (B 682;
U.V.V.). Der Ausdruck "Bestimmtheit" ist dabei wohlüberlegt. Er gründet sich in dem ontologisch verstandenen Begriff der Bestimmung, der Realitas, 50 und kann also nicht zu formal-logischen Zwecken dienen. Das Prinzip der durchgängigen Bestimmung ist Fundament für alle unendlichen Urteile, die Kant in der R 3063 (80er Jahre) auch "Bestimmungsurteile" nennt, und zwar einmal, weil die unendlichen Urteile "außer der Sphäre eines Begriffs eine unendliche Sphäre der Bestimmung aller Dinge, nämlich der Sachheit, d.i. der Realität" hinzuziehen. Und zweitens, weil in unendlichen Urteilen die Verneinung den Inhalt der Begriffe betrifft, nicht den Umfang, also zur Bestimmung gehört: "Die Logik siehet nicht auf den Inhalt, sondern die Form (Verhältnis) der qualität nach. Daher geben negationes bey dem prae51 di cat kein verneinend Urtheil" (R 3035, 1764-75?). Die Konklusion der 49
50
51
Die Zeichnungen zeigen sehr schön, daß der Unterschied der intensionalen und extensionalen Betrachtung darin liegt, daß in der intensionalen das Subjekt der Grund ist (größerer Kreis), in der extensionalen dagegen das Prädikat. Vgl. auch Logik Philippi (S. 473): "Das Verhältniß ist zwiefach: α) logisch; wo ich die Begriffe nach dem Verhältniße der Sphären betrachte. ß) metaphysisch, wenn die Notiones vorgestellt werden, wie sie ineinander enthalten sind." Vergleiche die Definition der transzendentalen Bejahung und Verneinung, die Realitäten bzw. Limitationen ausdrücken und also keine logischen Funktionen sind: "Wenn wir alle möglichen Prädikate nicht bloß logisch, sondern transzendental, d.i. nach ihrem Inhalte, der an ihnen apriori gedacht werden kann, erwägen, so finden wir, daß durch einige derselben ein Sein, durch andere ein bloßes Nichtsein vorgestellt wird" (KrV, Β 602). Analog in Logik Dohna-Wundlacken, S. 726: "Der Ausdruck verneinende Merkmale läßt auf die Materie schließen und die gehört nicht zur
Intension
121
ganzen Reflexion 3063 lautet denn auch: "Die Logik sieht nicht auf den Inhalt; d.i. die Bestimmung des Begriffs, sondern nur auf die Form des Ver52 hältnisses: Einstimmung oder Widerstreit." Die Intension ist also die Bestimmung des Begriffs (bzw. Dinges), sie ist bloßer Sinn oder Realitas und betrifft so die Materie der Begriffe und nicht deren logisches Wesen, das seinerseits nur die Form ihres Gebrauches ist. Die Betrachtung der Intensionen gehört also nicht in die Logik, sondern zur Transzendentalphilosophie. Auf diese These werden wir in 3.3.2. zurückkommen. Damit verlassen wir Kants These über die Extensionalität der Logik. In einem erneuten Durchlauf durch Kants Entwicklung sollen die im Zusammenhang mit der extensionalen Logik aufgeworfenen erkenntnistheoretisehen und ontologisehen Probleme wieder aufgenommen und vertieft werden. Dadurch wird das Fundament gelegt für die Interpretation des Funktionsbegriffes, der seinerseits im dritten Teil Kants Extensionalitätsthese von der transzendentalen Logik her begründet.
Logik." Dies ist auch der Grund, w a r u m Kant die limitativen Urteile in der KrV nicht qua logische Urteile zur Urteilstafel zählt, sondern zur transzendentalen Logik: "Ebenso m ü s s e n in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden unterschieden werden, w e n n sie gleich in der allgemeinen jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied derselben ausmachen" (KrV, Β 97). Diese Einsicht hatte schon Leibniz in der Dissertatio de Arte combinatoria: "quia quod termini vel finiti vel infiniti sint, non ad formam propositionis p e r tinet, sed ad términos ..." (GM V, 33 f.); vgl. 3.3.2. 52
Daß Kant die These, daß die Logik nicht auf den Inhalt eines Begriffes sieht, bis ans Lebensende beibehält, soll die in den 90er Jahren g e schriebene R 3070 zeigen: "Wen (blos) die logische Form verändert w e r d e n soll, so muß die Materie der Begriffe, d.i. der Inhalt derselben, nicht verändert (aus mortalis nicht nonmortalis gemacht) werden. D a nun die Logik es blos mit der F o r m des Urtheils, nicht mit den Begriffen ihrem Inhalte nach zu thun hat ...".
2. DIE PROBLEMATIK DER RELATION
Die Problematik der Relation hat in der Philosophie gegenüber den großen Seinsentwürfen marginale Bedeutung. Nicht zu Unrecht, denn Hauptschwierigkeit ist es, das Sein der Relation zu bestimmen. Relationen finden wir nicht vor, sie sind etwas zwischen dem Empfundenen einerseits und zwischen den Substanzen andererseits. Der substanzontologisohe Ansatz nimmt das Sein, die Realität der Relationen in die Substanz zurück. Die Relation wird hier zum bloßen Akzidens der Substanz. So ist das Sein der Relation das Sein der Relate. Der neuzeitlioh-empiristisohe Ansatz fundiert dagegen die Relationen nicht im Empfundenen, wohl aber in der Vergleichung des Empfundenen durch den Verstand. Hier ist das Sein der Relation bloßes Verglichensein. Beiden Ansätzen gelingt es nicht, das Sein der Relation in seiner Eigenständigkeit auszuzeichnen. Kants Transzendental-Philosophie wird hier als Versuch dargestellt, die Frage nach dem Sein der Relationen adäquat und ohne Verflachung zu beantworten. Das Problem der Relation ist ein kategoriales, das aber als solches stark mit dem Ansatz der Substanz zusammenhängt. Die Vorrangstellung der Substanz im aristotelischen Kategoriensystem impliziert eine substanzontologisohe Fassung des Relationsproblems·, die Relation ist Relation von etwas, von einer Substanz, von der sie abhängt (inesse) und die ihr Fundament ist. Das Fundament der Relation verbürgt deren Realität. Von der Substanz her gesehen
ist die Eigenständigkeit der Relation minimal. Diese Auffassung
durchzieht das ganze Mittelalter. Das neuzeitliche Ausgerichtetsein auf die Naturwissenschaft, die die Frage nach dem Wie gegenüber derjenigen nach dem Was in den Vordergrund rückt, bringt denn eine entscheidende Aufwertung der Relationen. Die Frage ist nicht mehr die nach dem Wesen oder der Natur eines Gegenstandes, sondern nach seinem Wie, d.h. wie der hypostasierte, aber in seinem Wesen unerkennbare Gegenstand sich verhält im Zusammenhang mit andern. Die Relationen (räumlich-zeitliche, Kräfte) werden dabei hervorragendes Beschreibungsmittel.
124
Die Problematik der Relation
Die philosophische Wendung von der Substanz auf Subjekt hat zur Folge, daß die Relationen auf mentale Akte (vergleichen) zurückgeführt werden und daß darin das Fundamentum relationis gelegt wird. Vertreter dieser nominalistischen Position ist Looke,
der alles Verbinden der bloß als "parti-
culars" existierenden, empirisch wahrnehmbaren, aber in ihrem Was unbekannten Res, in den vergleichenden Verstand setzt. Crusius
und Lambert
voll-
ziehen diesen Ansatz in gewisser Weise mit, bemerken aber, daß bestimmte nicht willkürliche Relationen, die sie reale nennen, ihr Fundament nicht nur in Vergleichungen haben können, daß die Relationen vielmehr von ihrem "Zwischen"
her, als eigenständige, ausgezeichnet werden müssen. Dieses
Zwischen ist kein bloß logisches, d.h. auf dem Satz vom Widerspruch beruhendes (2.1.). Das ist nun der Punkt, an dem Kants Philosophieren einsetzt. Seine empiristische Phase 1762 führt ihn auf zentrale Probleme des Empirismus des Rationalismus
und
Wolffscher Observanz. Er bemerkt die Unfähigkeit des
Rationalismus, eine kategorialanalytisch reduzierte Natur in einer am prädikativen Logos orientierten Ontologie zu fundieren. Er zeichnet bloß synthetisch (empirisch) erkennbare reale Relationen aus, die den substanzontologischen Ansatz der Relationen im rationalistischen Konzept transzendieren. Diese realen Relationen können ihr Fundament nicht in Natura relati haben der Unerkennbarkeit realen
der Substanz
und der relationalen
Struktur
des
Viesens wegen. Zugleich bemerkt Kant, daß die Lockesche Fundierung
der Relationen im vergleichenden Verstände ebenfalls nicht ausreicht zur Begründung der realen Relationen, die einerseits an sich extern sind, d.h. ein bloßes Zusammen von Wahrgenommenem, andererseits aber auch werden in ihrem Zusammen durch wahre Begriffe.
gedacht
Kants Frage: Wie ist es zu
verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes ist, fragt nach der Möglichkeit der Synthesis durch wahre Begriffe, also durch nicht aposteriorische, und ist so eine Vorstufe der transzendentalen Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori (2.2.). Diese wahren Begriffe, die die Synthesis insofern regeln, als sie Antwort geben auf die Frage nach dem Wie des respektiven Setzens, geben das Fundamentum real i tati s relationis realis ab. Der Modus compositionis, der in den realen Relationen nicht durch den Satz vom Widerspruch geregelt ist, ist die Form der und zugleich die Form des verbindenden
Subjekts.
Verhältnisse
Als solche wird sie zum
125
Die Problematik der Relation
wahren Fundamentum. Die Form wird 1769/70 als Gesetz interpretiert, sie wird gesetzlicher Modus compositionis. Zugleich impliziert der Gedanke des Verhältnisses zwischen unerkennbaren Relaten, die aber nichtsdestoweniger fundiert sind in einem Gesetz, den Gedanken einer Ordnung
zwischen
den Relaten. Kant nimmt so den Suaresischen Gedanken des Hinordnens der Relationen wieder auf. Dieser Ordnungsbegriff wird gewonnen an der sinnlichen Form der Koordination, deren Ordnung die Ordnung von Raum und Zeit ist. Sie wird verstanden - ganz im analytisch-geometrischen Sinne - als Rahmen, der Stellen enthält, an die die Gesetze die Relate weisen können (2.3.). Dieser Gedanke der Ordnung bereitet nun den Weg für die exakte Analyse des Zwischen: die Form, als Gesetz, das a dem b zuordnet, wird adäquat durch den mathematischen
Funktionsbegriff
interpretiert, ein Begriff, der
mit aller mathematischen Präzision genau die gedankliche Situation ausdrückt. Diese zuordnenden
Handlungen des Verstandes fundieren die objek-
tive Realität der Relationen. Kants These von der adäquaten Fassung der Relationen durch Auszeichnung des Zwischen kommt damit einer schen Wende in der ontologisohen
Relationstheorie
kopernikani-
gleich: die Relation hat
ihr Fundament nicht mehr im Wesen der Relate, sondern sie hat ihr Fundament in den Funktionen des Verstandes, und die Relate werden erst durah die funktionalen
Relationen
haupt konstituiert.
nioht nur als Relate, sondern als Gegenstände
über-
Dies ist die Auflösung (1773-75) der Schwierigkeit der
transzendentalen Deduktion, die Kant seit 1772 bedrängte (2.4.).
126
Die Problematik der Relation
2.1. Historische Skizze des Relationsproblems
In diesem einleitenden Kapitel soll gezeigt werden, wo historisch die Schwerpunkte der Diskussion des Relationsproblems lagen, um die Problematik bei Kant auf bestimmte Zentren zu fokussieren. Daneben sollen die wichtigsten Problemfelder im Umkreis der Relation systematisch entwickelt werden. Wir beginnen mit der Exposition des Relationsproblems bei Aristoteles, verfolgen seine Behandlung im Mittelalter und seine Tradierung in die Neuzeit bei Suarez. Den neuzeitlichen Teil leiten wir durch eine Analyse einiger Lexica-Stichworte ein und erörtern die Relationsaufassungen der für die Thematik bei Kant wichtigen Autoren des 18. Jhds.
2.1.1. Altertum und Mittelalter
Aristoteles ist nach den Phytagoräern 3 erste, der das Problem der Relation
1
und Piaton
2
wahrscheinlich der
als Kategorie des πρός τι systematisch
diskutiert. In seiner Kategorienschrift gibt er im 7. Kapitel zwei
Defini-
tionen der Relation, die je unterschiedliche Momente hervorheben. 4 Die erste Definition wird seit Simplicios
die Piatonisahe
Definition
genannt: "itpás tt δέ τά τοιαύτα λέγεται,, δσα αΰτα άπερ εστίν έτέρον λέγεται,, fi όπωσοΰν άλλως πρός έτερον."
1 2 3
4
είναι,
(Kat. 7, 6a36).
Vgl. G. Martin, Allgemeine Metaphysik, Berlin 1965, S. 74 f. Vgl. E. Scheibe: Über Relationsbegriffe in der Philosophie Piatons, in: Phronesis 13 (1967), S. 28-49. Der erste, der vom lateinischen Begriff "Relatio" spricht, ist nach G. Patzig Quintilian in seiner Institutio Oratoria, 8,4,21. Vgl. Patzigs Artikel "Relation" im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973. Im Mittelalter sind dann Respectus, Habitudo, Relatio Synonyme: vgl. Duns Scotus Ox. II, d.l, q. 4, n. 14; 11, 180b: "respectus sive habitudo sive relatio sive qualitercunque nominetur ... sunt Synonyma." (äir Zitationsweise vgl. Anmerkung 5.) Vgl. den Kategorienkommentar von Simplikios: Ak, p. 159.
Altertum und Mittel al ter
127 5
Duns Scotus übersetzt diese Definition in seinem Ari Stotel eskonmentar
wie
folgt: "Ad aliquid dicuntur quaecunque hoc ipsum quod sunt, aliorum dicuntur, vel quomodolibet aliter ad aliud." Die Relation wird hier gedeutet von einem Relat her, nämlich vom Ausgangsrelat, dem sogenannten Subjectum relationis (oder Relativum, Terminus a quo). Zugespitzt könnte man sogar sagen, es werde der Terminus a quo der Relation durch das πρόε t l definiert, und nicht die Relation selbst (σχεσι-s), also das eigentliche Zwisohensein der Relation. Die Relation ist also immer Relation von etwas. Sie hat kein eigenes Dazwischensein (relatedness®) und ist dadurch in ihrem Sein abhängig von einem Fundamentum relationis. Das substantivierte πρός το (ad aliquid), das Zu-etwas ist in einem Subjectum (esse in), welches als Fundament fungiert. Demgegenüber betont Aristoteles in der 2. Definition am Schluß des 7. Kapitels das esse-ad-aliud: προς το
"εστυ τά npós t l oís το είναι, ταύτόν έστι, τφ
πως εχευν." (Kat. 7, 8a31).
Duns Scotus übersetzt: "Ad aliquid sunt quorum hoc ipsum esse est ad aliud se habere."^ Hier wird also einerseits der Terminus relationis, das Ziel herausgestrichen, so, daß die Relation als Relation zu etwas verstanden wird, andrerseits wird eine weitere Teilstruktur der Relation verdeutlicht: se habere ad aliud. So ergänzen sich die beiden Definitionen zur vollen Struktur der RelaQ Entscheidend ist aber an
tion: Relation ist Relation von etwas zu etwas.
dem aristotelischen Relationsverständnis, daß die Relate in den Vordergrund g treten und nicht genügend zwischen Relat und Relation unterschieden wird. 5
6 7 8
9
Duns Scotus, Sup. Praed. q. 26, n. 2; 1, 497 b. Duns Scotus wird zitiert nach der Ausgabe v o n Wadding-Vives, Paris 1891-95. N a c h dem Semikolon folgt die B a n d - und Seitenangabe. Wenn möglich, wird die Vatikan-Ausgabe (Vaticana) zitiert, die seit 1950 erscheint. Vgl. Whitehead: Process and reality, N e w York 1960, p. 32. Sup. Praed. q. 26, n. 2; 1, 497b. Vgl. die ausgezeichnete Darstellung J.P. Beckmanns: Die Relationen der Identität und Gleichheit nach J. Duns Scotus, Bonn 1967, p. 35 ff. Diese Darstellung wird die Diskussion der Relationsproblematik leiten. Die Relation, als Kategorie verstanden, legt dieses bloß A k z i d e n t e l l Sein der Relationen, das von seinem Fundament, dem Terminus a quo realiter nicht verschieden ist, denn auch nahe.
128
Die Problematik der Relation
Duns Sootus vertieft nun dieses Verständnis der Relation von den Relaten her, indem er Uberhaupt einmal die zwei Möglichkeiten explizite namhaft macht: "relatio uno modo consideratur ut est quoddam intervallum et quoddam medium; alio modo ut fundata in extremis." 10 Scotus entscheidet sich für die aristotelische Fassung, nach der die Relationen von ihren Trägern (Relaten, Extrema) her verstanden werden, "non est possiblile, quod sit respectus inter duo, quin sit alienus ad aliquid; non potest autem esse respectus alicuius ad aliquid nisi insit illi, cuius est respectus." 11 Es ist klar, daß im Rahmen einer Substanzontologie der Relationscharakter nicht freigestellt werden kann, daß also die Relation nicht als Relatedness als Zwischensein (Intervallum) ausgezeichnet wird, sondern immer als Eigenschaft begriffen wird, die in einer Substanz ist (inest). Die scotistische Definition der Relation hebt die Struktur der zwei aristotelischen Definitionen, also das esse-in und das esse-ad, ans Licht und 12 lautet: "habitudo unius ad aliud". Damit sind wir schon bei einem essentialen Bestandstüak
der Relation, welche Bestandstücke oft auch "principia
relationis" genannt werden, erste Gründe also, die in einer substanzialen Interpretation gefordert sind. "Non ergo quia accidens respectivum est accidens, ideo requirit subiectum vel fundamentum, sed 13 quia respectus est respectus, ideo requirit cuius sit, et ad quod sit." Jede Relation hat also ein
Fundamentum
oder Subjectum, also eine Substanz, von der sie Rela-
tion ist und in der sie ist. "Respondeo, dependentia relationis ad fundamentum est essentialissima, ita quod sine ea non potest esse ratio rela14 tionis."
Das Fundament der Relation ist dabei das Zugrundeliegende, der
eigentlich notwendige Träger der Relation, in dem sie gründet (Ratio) und ihr Sein hat. Es ist also in einer substanzontologischen Relationstheorie ein notwendiges Bestandstück.
10 11 12 13
14
Met. V, q. 11, n. 1; 7, 268b/269a. Ox. IV, d. 12, q. 2, n. 14; 17, 572a. Sup. Praed. q. 25, n. 3; 1, 492a. Ox IV, d. 12, q. 1, n. 8; 17, 544a. Vgl. auch Ox. I, d. 3, p. 2, q. 1, n. 323; Vaticana III, 194: "omnis respectus aliquid habet, in quo fundatur." Ox. IV, d. 12, q. 2, n. 18; 17, 574a.
Altertum und Mittel aIter
129
Daneben ist aber gemäß der zweigliedrigen Struktur der Relation noch ein zweites Relat erforderlich: der Terminus ad quem, der durch das esse-ad konstituiert wird. "Impossibile est concipere habitudinem sine termino ad 15 quem."
Die ontologische Struktur der Relation erfordert also ein Funda-
mentum (Subjectum), dessen Terminus der Terminus a quo ist, und einen Terminus ad quem, der das esse ad aliud bezeichnet. Diese Terminologie der Relation ist aber nur sinnvoll im Rahmen einer bestimmten ontologischen Auffassung. Es stellt sich sofort die Frage, ob die Relation eine distinkte Realität habe gegenüber dem Fundamentum, oder anders, inwiefern denn ein relatives Akzidens dem fundierenden Subjekt eine Realität zufügt. Diese zwei Fragen zielen auf die ontologisahe Frage nach der Realität der Relationen. Scotus unterscheidet zwischen Relationen von der Seinsweise der Res naturae und solchen von der Seinsweise der Res rationis tantum, "relatio autem aliqua est res rationis, quia aliqua fundatur super ens rationis, et quia aliqua non inest rei, ut existit, sed ut intelligitur ex collatione eius ad aliud facta per intellectum."^ Die Relatio rationis wird auf einem Ens rationis fundiert und hat eo ipso ihr Fundamentum nicht in re, sondern in einem durch Akte des Intellekts ("facta per intellectum") begründeten Vernunftding oder -begriff. "Ista sola est relatio rationis quae causatur in objecto actu intellectus comparantis illud ad a l i u d . D e r Akt des Intellekts, der hier angesprochen wird, ist der Akt des Vergleichens. Dies ist ein Grunddogma der Relationstheorie, das vor allem in der Neuzeit wieder auftaucht und dann von Crusius und Kant verworfen wird. Die Relatio kann aber auch eine Res naturae sein, "relatio aliqua est res naturae ... Sunt distinctae res ex se realiter. Item quaedam realiter compositae, pone essentias absolutas totas sine relatione, compositum non est. Item, res creatae ex quattuor causis, realiter sunt ab eis, et numquam sine determinata relatione illarum causarum invicem: si sine illa essent essentiae 18
absolutae, nihil causarent."
15 16 17 18
Sup. Met. Met. Met.
Praed. q. V, q. 11, IX, q. 2, V, q. 11,
29, n. 6; 1, 506a. n. 5; 7, 271b. n. 6; 7, 534b. n. 3; 7. 270a.
130
Die Problematik der Relation
Duns Scotus nennt also drei Arten der Realrelation: diejenigen zwischen real verschiedenen Res, diejenige zwischen real komponierten Res und diejenige zwischen Ursache und Wirkung. Was aber ergibt sich daraus für den 19 Begriff der realen Relation? Scotus nennt drei Bedingungen. Die erste Bedingung lautet: Das Fundamentum muß ein realer Term sein, d.i. ein reales Relat, etwa das Ausgangsrelat. Zweitens muß der Terminus ad quem zugleich real sein, denn zwischen ihm und dem Subjectum soll eine reale Distinctio bestehen. Eine solche kann zwischen Substanz und Akzidens, oder zwischen Akzidens und Akzidens bestehen. Die letzte Bedingung fordert, daß die Realrelation von den Relationes rationis abgegrenzt wird, und macht eigentlich den Begriff der realen Relation aus, insofern nämlich die reale Relation selbst unabhängig vom vergleichenden Denken ihr Sein, d.h. ihre Realität, hat. Man kann diese Realitätsproblematik der Relation auf die Frage zuspitzen, ob denn die Relation von ihrem Fundamentum realiter distinct sei, d.i. ob sie wie die übrigen Akzidenzen trennbar
ist und ein
eigenes Sein hat. Dies würde einem geläufigen Begriff von realer Relation entsprechen. So behauptet Scotus in der Auseinandersetzung mit Heinrich 20 von Ghent, daß viele Relationen realdistinkt von ihrem Fundamente sind. Wir wollen nun diese Frage nach der Realität der Relationen bei Scotus auf sich beruhen lassen, da sie uns allzusehr in das Universalienproblem führen würde, und noch eine viel ζ i ti erte These von Thomas von Aquin zu dieser, wohl bei Scotus am erschöpfendsten behandelten Thematik anführen: "Quaedam vero relativa sunt, in quibus ex parte utriusque extremi invenitur relatio realiter existens: sicut in aequalitate et similitudine: in utraque 21 enim invenitur quantitas vel qualitas, quae est hujus relationis radix." Hier wird gut aristotelisch die Relation in der Quantität bzw. Qualität der subs i stierenden Relate gegründet. Die Realität ist also gewissermassen abhängig von der Realität der Relats-Substanzen, die somit höheren Realitäts19
20 21
"Videtur dicendum quod ad relationem realem tria sufficiunt: Primo, quod fundamentum sit reale et terminus realis; et secundo, quod extrem o r u m sit distinctio realis; et tertio, quod ex natura extremorum sequatur ipsa relatio absque opere alterius potentiae, comparantis unum extremum alteri", Ox. I, d. 31, q. 1, η. 6; Vaticana VI, 204. "ergo multae sunt relationes quae non sunt realiter eaedem cum fundamento", Ox. II, d. 1, q. 4; 11, 986. Thomas, Comm. in Phys., Leonina II, 237 a/b.
131
Suarez
gehalt haben. Darum kann Thomas auch den in der Relationstheorie epoche22 machenden Satz aussprechen: "Relatio est esse minimum." Die Realität der Relationen hängt also im substanzontologisehen Ansatz vom Fundamentum (Subjectum) bzw. von den Fundamenten ab, denn auch das Aliud kann zugleich Fundament sein, etwa in einer Ähnlichkeitsrelation. Der Charakter der Relation als Zwischensein wird gegenüber der Auszeichnung der Relate vernachlässigt, ebenso wie ihre ontologische Abgrenzung gegenüber Qualitäten, die auch bezüglich der Substanz im Verhältnis des Inesse stehen.
2.1.2. Die Tradierung der leitenden Bestimmungen in die Neuzeit (Suarez)
Suarez spielt in der philosophischen Terminologie und in der Philosophiegeschichte eine wichtige Rolle als Vermittler der scholastischen Tradition an die beginnende Neuzeit. Seine Relationstheorie, die er in den te tiones Metaphysioae
Disputa-
niederlegt, ist exemplarisch für die Weise seines
eklektischen und synkretistisehen Philosophierens: Mit größter Umsicht und Kenntnis der systematischen Thesen zur Relationstheorie (Aristoteles, Thomas, Duns Scotus, Ockham) versucht er, die Relationsproblematik in ihrer ganzen Breite darzulegen, die Thesen aufeinander zu beziehen und zu einer eigenen Theorie zu verarbeiten. Suarez beginnt als Eklektiker nicht etwa mit einer Definiton der Relation, sondern versucht vielmehr, deren Wesens- und Seinsgehalt an den Modi
rela-
tionum zu erarbeiten. Als formale Struktur aller Relationen setzt er das 24 "se habere ad aliud" der 2. aristotelischen Defintion an. Eine ontologische Vorentscheidung ist dabei vom Ari Stotel iker Suarez vorweggenommen: 22 23
1. Sent. 26,2,2, ad 2; CG 4, 14. Vgl. auch De pot. 8, 1 ad 4. Zugrunde liegt der reprografische Nachdruck der Disputât iones Metaphysicae (DM), Paris 1866 bei Olms, Hildesheim 1965. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Arbeit von K.A. Sprengard·. Die Beziehungslehre des Franz Suarez, Diss, masch.schriftl., Mainz 1956. 24 "Fundamentum eorum (seil, der Relationstheoretiker) est, quia definitio relativorum, quam Aristoteles tradit, ... Patet, nam relativa esse dicuntur, quorum totum esse est ad aliud se habere" (DMf d.47, s. III, n. 2).
132
Die Problematik der Relation 25
Die Relation wird als Forma
gedacht. "Relatio est forma relativi" (DM,
d. 47, s. 16, n. 26). Relation ist Bestimmung, nicht notwendig reale, des Relativvm, d.i. des Terminus a quo der Relation. Die Relation wird also vom Rei at her verstanden, ganz wie bei Aristoteles, und ein Zwischensein wird ausgeschlossen. Wir wollen das Sein der Relationen - wie Suarez selbst es tut - anhand der Modi relationum kurz charakterisieren und differenzieren. Suarez unterscheidet folgende Modi:
Dabei konzentrieren wir die Diskussion auf die für die Neuzeit relevanten 26 Modi, nämlich auf die Relationes praedioamentales und die Relationes quae in rebus habent aliqua fundamenta. Zur allgemeinen Einteilung der Relationen in reales und rationis, die schon in der Scholastik gängig war, ist zu sagen, daß - wie der Ausdruck "realis" andeutet - die Relation als Bestimmung einer Res verstanden wird, wohingegen die Relatio rationis auf den Ursprung der Bestimmung (bzw. Forma) nicht in re, sondern in ratione verweist. Was aber bedeutet nun die Realität der Relationes praedicamentales? Praedicamentale Relationen sind Bestimmungen an der Sache selbst, vermöge 27 "relatio real is consistit in
deren sie die Res auf andere Res hinordnet:
25
26
27
F o r m a ist allgemein zu verstehen als Prädikat, das im Falle einer E o r m a rei zur Bestimmung wird: "omnis a u t e m forma aliquid informat" (DM, d. 47, s. VI, n. 2). Die transzendentalen Relationen, die Duns Scotus inauguriert, sind essentiale Bestimmungen der Res qua res, die nur in Transzendentalbegriffen erfaßt werden, so z.B. die Relationen des In-Seins oder die des Geschaffenseins. Dieser Ausdruck gewinnt bei Kant und Russell bestimmende Bedeutung.
Suarez
133
ordine unius rei ad aliam" (DM, d. 47, s. XV, n. 24). So sind die realen praedicamentalen Relationen Akzidenzen einer Res, nämlich des Relativum, d.h. des Terminus a quo der Relation. "Relatio praedicamentalis est quaedam forma accidental is, adveniens fundamento piene constituto in suo esse essentiali et absoluto, ad quod comparatur ut completa forma in suo accidentali genere, afficiens ipsum, et referens ad aliud" (DM, d. 47, s. IV, n. 3). Die Relatio praedicamentalis ist also ein Akzidens
des
Fundamentes
der Relation, das letzteres affiziert, und so Affectio (Modus, Eigenschaft) von ihm ist. 28 Was bedeutet aber nun Fundament
? Das Fundamentum ist die Res, die be-
zogen wird, also der Terminus a quo. Suarez geht dabei - im Gegensatz zu Scotus - vom fundamentalen Satze aus, daß Relation und Fundament von einander nicht realiter distinkt seien, daß sie also realiter identisch sind. Diese Lehre von den realen Relationen, die ein reales Fundament und einen 29 realen Terminus
voraussetzen, ist nun gegen diejenigen gerichtet, die
den praedicamentalen Relationen alle Realität absprechen wollen. Wie aber arguraentieren diese? "Prima ratio dubitandi esse potest, quia relatio ut relatio nihil rei ponit in re, quae referri dicitur" (DM, d. 47, s. I, n. 1).
Die Ausdrucksweise "nihil rei ponere in re" ist traditionsbildend: Die Relation setzt dem Fundamentum nichts Sachhaltiges hinzu. Das Sein der Relatio praedicamentalis als Forma einer Res, die realiter hinordnet, soll also nichts Positives, also schlechterdings nichts sein: "Relatio ut relatio, nihil est praeter absoluta;
ergo simpliciter nihil est" (DM, d.47,
s. I, n. 3). Diese Schlußweise beruht auf der von uns in der Folge telisches
Argument
Aristo-
genannten ontologischen These des Aristoteles, die
Suarez wie folgt wiedergibt: "relationem advenire sine rei mutatione" (DM, d. 47, s. I, n. 2). 3 0 28
29
"subjectum vel fundamentum est id, quod relatione afficitur" (DM, d. 47, s. VI, n. 2) d.h. eben die Res, die dem realen Terminus a quo zugrundeliegt und v o n dem die Relation Akzidens ist. Die zwei Erfordernisse der Relatio realis praedicamentalis sind: (1) "statuendum ... omnem relationem realem indigere aliquo reali fundamento" (DM, d. 47, s. VII, η. 1) und (2) "Dicendum est, ad relationem praedicamentalem necessariam esse terminum realem" (DM, d. 47, s. VIII, η. 1).
Die Problematik der Relation
134
Die Bedingung des nihil rei ponere ist also das Nicht-Ändern der Res beim Zukommen der Relatio. Die Relatio praedicamentalis sei also in diesem Sinne nicht real, als sie nichts zum absoluten Wesen der Sache (in re ipsa) Gehöriges hinzufügt, und so sie selbst nicht verändert. Dieser Argumentation contra realitatem relationis werden wir bei Wolff und Locke wieder begegnen. Suarez aber hält gegen das aristotelische Argument an der Realität der praedikamentalen Relation fest, indem er das reale Hingeordnetsein einer Res zu einer andern als eine positive Seinsbestimmung der Res versteht. Diese Grunddifferenz beruht allein in dem divergierenden Verständnis der Res und des Ordo rerum, also eines metaphysischen Ansatzes, der die Relationstheorie Ubersteigt. Die relationes
rationis
sind nicht etwa dadurch den realen Relationen
entgegengesetzt, daß die einen gedacht werden, die andern nicht, denn auch letztere werden durch Begriffe gedacht; vielmehr liegt der Gegensatz darin, daß reale Relationen als Fundament und Terminus ein Ens reale haben, wohingegen die Relationes rationis ein bloß gedachtes, nicht wahrhaft seiendes esse ad aliud haben: "relatio rationis in commune positive definiri potest, esse relationem, quam intellectus fingit per modum formae ordinatae ad aliud, seu referentis unum ad aliud, quod in re ipsa ordinatum aut relatum non est" (DM, d. 54, s. 6, n. 1). Also ist auch hier Ordnung, die die Relation enthält, das entscheidende Moment. Der eigentümliche Denkakt, der sie denkt (bzw. referiert), ist Comparatio.
"Primum dici non potest, quia répugnât
relationi rationis, de cujus essentia est, ut non dicat habitudinem in re existentem, sed in mentis comparatione" (DM, d. 47, s. Ill, n. 4). Die Relationes rationis sind Verhältnisse, welche nur im Denken bestehen und also bloß Entia rationis sind. Die Relationes
rationis mere oonfiatae
(etwa im Ähnlichkeitsverhältnis
zwischen Chimären) interessieren uns hier weniger. Die Relationes cum fundamento
30
rationis
in re werden für die Neuzeit entscheidend wichtig. Sie heißen
Aristoteles, Physik 5, 2; 225b 10-13: "οΰδε δη του πρός τι/ ενδέχεται, γαρ θατερου μεταβάλλοντος άληθευεσθαυ θάτερον μηδέν μεταβάλλον, ωστε κατά συμβεβηχος ή χί,νησυς αυτών." - Dazu sagt Suarez erläuternd: "Secundo, quia haec denominatio relativa adveniens alicui de novo, non immutat illud, nec in re ipsa facit illud aliter se habere ... ergo nihil rei ponit in tali re" (ib.).
Die neuzeitliche Relationstheorie in den Léxica
135
genauer: Relationes rationis quae in rebus habent aliqua fundamenta (DM, d. 54, s. VI, n. 3). Hier gilt die Bedingung, daß mindestens ein Relat (so z.B. das Fundamentum) ein Ens reale ist (DM, d. 54, s. VI, n. 2). Als Beispiel dienen die substanziale Identität, die Zahlenverhältnisse (Proportionen) oder die Relationes logiaales. Wenn ich sage: "Paul ist ein Lebewesen", so drücke ich dadurch eine Beziehung aus, der keine reale Beziehung entspricht, vielmehr wird bloß eine Gattung-Art-Relation ausgedrückt, die in Paul (Res) ihr reales Fundament hat. Urteile qua Urteile über etwas drUcken solcherart Relationes rationis aus. Suarez kommt wohl das Verdienst zu, das πρός tl als formale Struktur (se habere ad aliud) der Relation von den Modi der Relationen her begriffen und so das ontologische Problem der Realität der Relationen, d.h. die Frage, inwiefern von realen Relationen gesprochen werden könne, differenziert zu haben. Die alte Tradition der Identität von Fundamentum und Relation, die das Zwischensein ausschaltet, die von seiner nominalisierenden Substanzontologie her angezeigt ist, differenziert Suarez durch seine Unterscheidung von praedikamentalen Relationen gegenüber der Relatio rationis cum fundamento in re. Die Realität der Relationen wird gegenüber den Kritikern verfochten durch das Argument des realen Hinordnens, das dann in der Neuzeit wieder aufgegriffen wird bei Kant.
2.1.3. Der Niederschlag der neuzeitlichen Relationstheorie in den Léxica Im folgenden soll der neuzeitliche Ansatz der Relationsthematik kurz skizziert werden. Dabei gehen wir aus von den Léxica, da wir einzelne Autoren, die für Kant von spezifischer Bedeutung sind, im nächsten Kapitel gesondert diskutieren werden. Die Terminologie der alten Relationstheorie wird, wahrscheinlich durch Vermittlung des Suarez, in der Neuzeit beibehalten. Im Lexikon des Micrae31 Ixus
etwa werden fünf Erfordernisse der praedicamentalen Relation aufge-
zählt: die Relate (Terme), die Subjekte (d.i. die Substanzen, denen die Relate inhärieren), das Fundamentum ("quod debet esse duplex, unum in termino 31
J. Micraelius: L e x i c o n philosophicum, Stettin
2
1662. Artikel: Relatio.
Die Problematik der Relation
136
a quo·, alterum in termino ad quem"), die Relation selbst und die "ratio fundandi, quae plerumque fit per actionem seu actum, quo potentia unius 32 applicatur alteri." Die Bestimmung dieser Bestandstücke der Relation geschieht nun allerdings 33 von einem anderen Standpunkt her. Was schon bei Raimundus Lullus die Auslegungstendenz der Relation war, das setzt sich in der Neuzeit durch: die Relation wird vom beziehenden Akt des Denkens (referre) her verstanden. Das Zwischensein (Intervallum bei Scotus) rückt immer mehr in den Vordergrund. Chauvin nennt deshalb als mögliche Aspekte der Relation: "relatio dupliciter etiam consideran potest, primo ex parte mentis unum cum alio conferentis (solius quippe mentis est comparare): quo modo nihil aliud est, quam idea mentis duo aut plura invicem conferenti s : Secundo, ex parte rerum collatarum: quo modo relatio, seu potius, ut loquebatur Antiquitas, relata sunt res ipsae, quae, data occasione, mutuo conferuntur" (Chauvin, ib. p. 564). Die Relation hat also so oder so betrachtet ihren Ursprung in der 34 vergleichenden Mens;
im einen Falle ist sie selber Idea mentis conferen-
tis, aber auch im andern Fall, wo sie wohl von den Relaten her betrachtet ist, wird sie vom Vergleichen her verstanden. Dieselbe Wende dokumentiert sich auch in der Abkehr vom substanzontologischen Ansatz, der ("ut Antiquitas loquebatur") die Relation von ihren Relaten her bestimmte und nicht so sehr von ihrem Zwischen, das nun die leitende Hinsicht wird. So wird die Relation von der Forma rei zur Forma referendi, die selbst wiederum Modus cogitandi ist. "Atque hinc intelligitur formam referendi, quam relationem dicunt, nihil esse aliud quam cogitandi modum" (ib.). Die Adjuncta relationis werden ebenfalls von der Comparatio her bestimmt: "Subjectum est res, quae cogitandi refertur, auf confertur. Terminus, res, cum qua confertur. Et fundamentum, occasio conferendi, propter quam relatio adsit" (ib.).
32
33 34
Auch Chauvin (St. Chauvin. Lexicon philosophicum, Leeuwarden Artikel: Relatio) nennt folgende A d j u n c t a relationis: "Relationis a d juncta, sine quibus non esset relatio, vocantur subjectum, fundamentum & terminus." Vgl. den Aufsatz von W. Platzeck: "Raimundus Lulls allgemeiner R e l a tionsbegriff", in: Miscellanea Mediaevalia, Bd. 2, 1963, p. 572-81. Die Relation wird sogar mit der Comparatio identifiziert: "unde aliis nominibus haec ratio respectiva dici suevit ... comparatio ..." (ib.).
Die neuzeitliche Relationstheorie in den Léxica
137
Es ist die Bestimmung des Fundamentes, die wohl die größte Veränderung erfährt.
Das Fundament ist nicht mehr dasjenige, in dem die Realität der
Relationen fundiert ist, sondern es wird degradiert zum puren Anlaß (occasio) der Relation - ganz im Sinne von J. Locke (vgl. 2.1.4.1.). In der Enzyklopädie von Diderot/O'Alembert wird die Relation analog bestimmt. Sie kann von zwei Seiten her betrachtet werden: als vergleichende Handlung des Esprit (Mens), oder von der Seite der Relate her als dritte "idée, qui resulte dans l'esprit de celle des deux premières comparées 35 In beiden Fällen ist das Sein der Relation ein bloß mentales:
ensemble."
"dans quelque sens qu'on la prenne, ne réside
toujours que dans l'esprit
& non pas dans les choses mêmes" (ib., p. 62). Da der zugrundeliegende Akt 36 die Komparation
ist, werden die Relationen nach den Modi comparationis
eingeteilt: "Cette division (in:relations de négation, relations d'origine, relations d'affirmation) est fondée sur ce que l'esprit ne peut comparer 3™ que de trois manières, ou en inférant, ou en niant, ou en affirmant" ' (ib.). Noch ein Wort zu den formalen Unterteilungen der Relation. Diderot/ D'Alembert unterteilen "des noms simplement relatifs" von "des noms réciproquement relatifs". Die Differenz ist diejenige von asymmetrischen und symmetrischen Relationen: "J'appelle noms simplement relatifs, ceux qui déterminent
les êtres par l'idée d'un rapport, qui n'est telle que sous
une seule des deux combinaisons" (Artikel: "relatif", p. 53). Es wird als mathematisches Beispiel das Verhältnis zweier Größen A und Β gegeben, wobei A xmal größer als Β ist. Dabei gilt nicht Symmetrie. Es ist erstaunlich, daß diese für die Relationstheorie wichtige Unterscheidung in einem Artikel über die grammatische Kategorie der "noms relatifs" gemacht wird. 35 36
37
Diderot/D'Alembert: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751 ff.; Artikel "Relation", p. 61. "c'est cet acte (scil. de comparaison) qui constitue l'essence de ce qu'on appelle relation, rapport, lequel acte est tout entier chez n o u s " (vgl. Artikel: Comparaison, p. 745). Interessanterweise w i r d die Perzeption einer Relation als Urteil v e r standen: "La perception que nous avons des relations entre plusieurs idées que l'esprit considère, est ce que nous appelions jugement" (Artikel: Relation, p. 62). (Vgl. h i e z u die A u s f ü h r u n g e n bei Chauvin, Artikel Relatio, p. 564.) Hier fällt auch das Verhältnis v o n K a u s a l relation zum Actus mentis "inférer" auf, also eine Parallele, auf die dann Kant wieder aufmerksam wird.
138
Die Problematik der Relation
Aus den traditionellen Modi, die etwa bei Suarez enumeriert werden, wird also bloß die relatio
rationis
own fundamento
in re aufgenommen und zur
Relatio schlechthin gemacht. Der neuzeitliche Beitrag zur Relationstheorie besteht also vor allem in der Fundierung der Relationen in dem komparativen Actus mentis. Die Relation hat ihr eigentliches Fundament als Forma referendi im Subjekt, das nun aber nicht als Res verstanden wird, sondern als agierende Mens. Diese Fundierung ist getragen von der ontologischen Wendung aufs erkennende Subjekt einerseits und vom empiristisch-nominalistischen Ansatz der Neuzeit andererseits. Die Terminologie wird zwar beibehalten, erfährt aber eine wesentlich andere Auslegung. Dabei rückt die Bestimmung der Relation als Zwischensein
in den Vordergrund: das Zwischen
ist nun ontologisch bestimmbar als Esse in mente (Forma), das in Actus mentis comparantis fundiert ist. Diese Perspektiven bleiben der Scholastik verschlossen, einzig die bloß logischen Relationen werden so bestimmt. Wie aber können die realen Relationen im Subjekt fundiert sein, d.h. wie wird die Objektivität der Relationen von bloß logischen Vergleichungsakten garantiert? Diese Thematik avanciert zum neuen Hauptproblem der neu33 zeitlichen Relationstheorie
und ist das Zentral problem der Kantischen
Philosophie seit 1762. Die Transzendental-Philosophie ist ein Ansatz zu seiner Lösung.
2.1.4. Die Relationstheorie im 18. Jahrhundert
Wir haben hier eine Reihe von Autoren ausgewählt, die für Kants Relationstheorie namhaft gemacht werden müssen. Lockes Auffassung ist im Zusammenhang m i t Kants Ansatz des Problems in der empiristischen Phase seines Denkens 1762 genauso wichtig wie die crusianische Trennung von realen und lo-
38
Hinzuweisen ist auf die scharfe präkantische Formulierung bei Micraelius: "Relationes non incurrunt in sensus." (Artikel: Relation, p. 1213), die das Hauptproblem in aller Klarheit ausdrückt. Woher aber sonst haben sie ihre Realität? Vgl. Kants fast gleichlautende Formulierung im § 15 der transzendentalen Deduktion: "Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen kann niemals durch die Sinne in uns kommen" (B 129).
139
Locke gisehen Relationen. Wolff ist vor allem als Gegner Kants von Bedeutung.
Erst nach 1764 regen Leibniz und Lambert Kant in der Ausarbeitung seiner Relationstheorie an .
2.1.4.1. Locke Lockes Relationstheorie ist ein Meilenstein in der Weiterentwicklung die39 ses Problems in der angelsächsischen, empiristi sehen Philosophie. Locke führt die Relation im Kapitel 25 des 2. Buches seines Essays Concerning human understanding ein: "When the mind so considers one thing, that it does, as is were, bring it to, and set it by another, and carry its view from one to the other: this is, as the words import, relation and respect" 40 (II, 25, 1).
Relation ist ein Actus mentis, ein "considering" zweier
Dinge, welches im § 7 zum Vergleichen verschärft wird: "For, as I said, relation
is a way of comparing, or considering two things together; and
giving one, or both of them, some appellation from that comparison." Relation ist also eine Weise des Vergleichens,
eines grundlegenden Aktes des
Geistes also, der, ganz im Sinne von Lockes Nominal ismus, bloß benennende Funktion hat, so zwar, daß er eine Idee benennt, keine Realität. Im Rahmen dieses Ansatzes stellt sich das spezifisch neuzeitliche Problem, woher denn die Relation, wenn sie bloß Actus mentis ist und wenn die Relation etwas den Individua oder Particulars bloß Aufgesetztes, ständig
Äußerliches
ihnen
voll-
ist, ihre Realität, d.i. objektive Gültigkeit, hat.
"though it (seil, the relation) be not contained in the real existence of things, but something extraneous, and superinduced" (ib. § 8). Die Relationen existieren nicht realiter, sie haben auch keinen Anhalt etwa in einem Akzidens eines Dinges. Sie sind bloß Namen, die nichts Reales bezeich41 nen. So ist denn auch das Fundamentum relationis bloß "idea". 39
40
41
Dieses historische Urteil findet sich bei D.S. Mackay: An historical Sketch of the problem of relations, in: Studies in the problem of relations, Berkeley, 1930, University of California Publications in Philosophy, Vol. 18, p. 25. Lockes Einfluß konnten wir schon bei Chauvin feststellen, finden ihn auch bei Crusius und Kant. Den Essay zitieren wir nach der Ausgabe von P.H. Nidditch, Oxford 1975. Poley, der Locke-Übersetzer, gibt "relation" mit "Verhältnis" wieder und "respectus" mit "Beziehung". Dieser Übersetzung - allerdings aus dem Lateinischen - schließt sich der junge Kant an. "And since any idea, whether simple, or complex, may be the occasion,
140
Die Problematik der Relation
Locke nominalisiert das aristotelische Argument, indem er es umstellt und bemerkt, daß die Relation aufhört zu sein, wenn die Res vergeht. "And if either of those things be removed, or cease to be, the relation ceases" (ib., § 5). Der Grund für diese These liegt nun darin, daß
durch die Re-
lationen konträre Bestimmungen einer Res zur gleichen Zeit zukommen können; ein Beweis wohl dafür, daß die Relationen nur "superinduced denominations" sind: "Nay, barely the mind's changing the object to which it compares any thing, the same thing is capable of having contrary denominations, at the same time: v.g. Cajus, compared to several persons, may truly be said to be older, and younger, stronger and weaker ..." (ib.). Locke sieht hier - das muß man ihm zugute halten - das Problem, daß die Relationen offenbar nicht als Prädikate behandelt werden können, weil sie andern Kontrarietätsregeln unterliegen. Diesen Gedanken nimmt Kant 1762 auf Er ist der eigentliche Ansatzpunkt zur Gewinnung der transzendental philosophischen Fragestellung und Position. Die Schwierigkeit in Lockes konzeptualistischer Relationstheorie liegt darin, daß er die Relation bloß als Actus mentis definiert und so den Blick für reale Relationen verliert, woraus denn auch das Problem resultiert, daß die enge Definition als "way of comparing" eigentlich nur die Unterarten der Identität und Diversität zuläßt, Locke aber im Kap. XXVI räumlich-zeitliche und kausale Relationen anführt. Die eigentliche Crux der Lockeschen Relationstheorie aber scheint darin zu liegen, daß die Relationen nicht in re fundiert sind, daß sie also nicht von der Res her verweisen und so ohne Anspruch auf objektive Gültigkeit bleiben müssen.
2.1.4.2. Leibniz Der Relationsbegriff ist der Schlüssel zum Verständnis der Leibnizschen Philosophie: Er ist von zentraler Bedeutung in der Logik, der Naturphilosophie, der Mathematik, der monadologisehen Metaphysik und der Kategorientheorie. Beginnen wir bei letzterer. Leibniz setzt entschieden die Cartesische Reduktion der sekundären auf die primären Qualitäten (Figura, Magniwhy the mind thus brings two things together and, as it were, takes a view of them at once, though still considered as distinct, therefore any of our ideas, may be the foundation of relation" (ib., § 1).
141
Leibniz
tudo, Motus), die Modi der Extensio sind, fort, indem er die Quantität, auf die aufgrund der Entdeckung der analytischen Geometrie die Extensio überführbar ist, auf Relationen zurückführte: "Numeri, unitates, fractiones naturam habentrelationum" (GP II, S. 304). Diese Einsicht hat zur Folge, 42 daß für Leibniz die Mathematik zu einer Relationstheorie wird oder, anders ausgedrückt, daß der Relationsbegriff zum Grundbegriff der Mathematik avanciert. Eine weitere Konsequenz ist die Reduktion der zehn aristotelischen Kategorien auf Substanz und Relation.
So wird die Natur für Leibniz zu einem
Relationsgefüge. Die Phänomene, als durch mathematisierende Imaginatio konstituierte, werden zu Phaenomena imaginaria. Die Relationen zwischen ihnen sind so bloße Abstracta, bloße Denominationes
extrinseoae,
die sich
solo loco und solo tempore, also solo numero voneinander unterscheiden. Als abstrakte Begriffe sind sie vom Denken allein hervorgebracht. Die Relation ist also zunächst, wie bei Locke, ein Ens rationis bzw. Ens mentale: "Sed relationem communem ... esse rem mere mentalem ..." (GP II, S. 486). Mit dieser Feststellung begnügt sich Leibniz nun allerdings nicht. Sein beharrliches Fragen nach dem Grund am Leitfaden des Satzes vom Grunde und seine vollständige Neufassung des Cartesischen Substanzbegriffes lassen ihn die alte Frage nach dem Fundamentwn
relationis
neu stellen. "Les relations
et les ordres ont quelque chose de Τ être de raison, quoiqu'ils ayent leur 43 fondement dans les choses" (NE, II, 25, 1). Leibniz nimmt also den von
42
43
why the mind thus brings two things together and, as it were, takes a view of them at once, though still considered as distinct, therefore any of our ideas, may be the foundation of relation" (ib. § 1). Vgl. Couturat, La logique de Leibniz, p. 299 f.: "La Combinatoire ainsi conçue est la partie générale et formelle des mathématiques; elle étudie toutes les relations qui peuvent exister entre des objets quelconques, et leur enchaînement nécessaire et formel. En un mot, c'est la science générale des relations abstraites." Dies ist eine deutliche Spitze gegen Lockes nominalistische Relationstheorie (Fundament in idea), die Leibniz mit gewohntem Scharfblick für das Essentielle wie folgt wiedergibt: "Il reste à considérer les idées des relations, qui sont les plus minces en réalité" (NE II, 25, 1). Dieser Satz, von Philaltete (Locke) ausgesprochen, ist die bekannte These von Thomas (Relatio est esse minimum), die im Lexikon des Micraelius die erste Regel für die Relationen abgibt: "Relationes sunt minima entitatis" (Artikel: relatio, p. 1213).
142
Die Problematik der Relation
Suarez ausgezeichneten 3. Modus relationis wieder auf, versucht allerdings, damit alle Relationen bezüglich ihrer Realität zu bestimmen. Die Relationen, die die Phänomene konstituieren, haben ihren Grund in dem Fundament der Phänomene (bene fundata) selbst. Dieses Fundament sind die individuellen Substanzen mit ihren Modifikationen (individuelle Akzidenzen). In einer kleinen, von Couturat edierten Schrift heißt es: "relationes ... indigeant fundamento sumto ex praedicamento quali tati s seu denomi nati one intrinseca accidentali" (CO, 9). Leibniz geht also liber Suarez und die neuzeitliche Relationstheorie hinaus, wenn er die Relationen (denomi nati ones extrinsecae) in den Denomi nati ones intrinsecae accidentales einer singulären Substanz gründet und dabei die unwiederholbare Singularität auszeichnet: "Neque enim puto a te statui accidens, quod simul insit duobus subjectis, et unum, ut sic dicam, pedem in uno, alterum in altero habeat" (GP II, 517). Fundament ist dabei nicht einfach eine Substanz oder ein allgemeiner vergleichender Akt des Geistes, sondern Fundament der Relationen,und eo ipso (aufgrund der kategorialanalytischen Reduktion) der Phaenomena bene fundata ist die individuelle Substanz. Hält man sich Leibniz1 monadologisehen Ansatz der individuellen Substanz vor Augen, d.i. schreibt man derselben Perceptio (Expressio) zu, so läßt sich die These, daß die Relationen Entia mental i a sind, durch die für die Phänomene konstitutive Perzeptionsart (Expressionsart) erklären: "Cette division des objets de nos pensées en substances, modes, et relations, est assez à mon gré. Je crois que les qualités ne sont que des modifications des substances et l'entendement y ajoute les relations" (NE II, 12, 3). Leibniz geht nun noch einen Schritt weiter und führt als Grund für die Bestimmtheit der Relationen die Connexio rerum inter se an: "quoique dans la rigueur métaphysique il soit vray, qu'il n'y a point de dénomination entièrement extérieure (denominatio pure extrínseca) à cause de la connexion réelle de toutes choses" (NE II, 25, 5).
44
Diese These bedeutet nun keinesfalls, wie einige moderne Leibniz-Inter-
44
Vgl. CO, 8 "Maximi in tota philosophia ipsaque Theologia momenti haec consideratio est, nullas esse denominationes pure extrínsecas ob r e rum connexionem inter se."
Leibniz
143
45 preterì meinen
, daß die Relationen alle auf die Inesse-Struktur der deno-
minatio intrinseca im Verhältnis zur Substanz reduzierbar wären (sog. Reduktionsthese), sondern vielmehr, daß es gar keine solcherart isolierten Terme gibt, die ohne alle relationalen Bestimmtheiten wären und denen man gleichsam von außen her bloß Relationen im Sinne Lockes aufzupfropfen brauchte. Solche Interpreten stellen dabei allein ihren nominal istischen, von Locke geprägten Ansatz bloß. "Autrement il n'y a point de terme si absolO ou si détaché, qu'il n'enferme des relations, et dont la parfaite analyse ne mene à d'autres choses et même à toutes les autres" (NE II, 25, 10). Die Bestimmtheiten der individuellen Substanz sind vielmehr eigentlich relationale, die aber, etwas verkürzt ausgedrückt, nicht pure extrinsecae sind, sondern intrinsecae. Das ist eine deutliche Wende gegen Lockes These von der bloß mentalen Aufgepfropftheit der Relationen. So bedeutet denn auch die Veränderung eines Relates nicht nur die Aufhebung der Relation,und umgekehrt bedeutet die Veränderung der Relation eine Veränderung in den Relaten: "Omnia autem existentia commercium habere inter se ... quia nullae (Druckfehler: multae) denominationes extrinsecae dantur, nec quisquam viduus fit in India uxore in Europa moriente, quin realis in eo contingat mutatio" (GP VII, s. 321 f.). Dies Argument wendet sich gegen das aristotelische und proklamiert mit aller Schärfe die Realität der Relationen. Das letzte Fundament der Relationen liegt also im Commercium, darin die monadische Modifikation gründet. Das Commercium seinerseits gründet im Sehen Gottes, d.h. in der Expressio der Zentralmonade: "Porro Deus non tantum singulas monades et cuiuscunque monadis modificationes spectat, sed etiam harum relationes, et in hoc consistit relationum et veritatum realitas" (GP II, s.438). 45
Russell war einer der ersten, ihm folgte z.B. Rescher in dessen Leibnizbuche: The Philosophy of Leibniz, Prentice-Hall, 1967, ch. 6. Vgl. dazu den Aufsatz v o n Hide Ishiguro: Leibniz's Theory of the ideality of relations, in: Leibniz, a collection of critical essays, London 1972, ed. H.G. Frankfurt. Im selben Band vergleiche man zum selben Problem: J. Hintikka: Leibniz on Plenitude, Relations, and the 'reigns of Law' und Benson Mates: Leibniz on possible worlds. Deutschsprachige Aufsätze zu diesem Thema, das offenbar zum Kernthema moderner Leibniz-Interpretation avanciert, w ä r e n etwa: Hans Burckhardt: A n m e r k u n g e n zur Logik, Ontologie und Semantik bei Leibniz, in Studia Leibnitiana VI, 1974, S. 49-68, und Massimo Mugnai: Bemerkungen zu Leibniz' Theorie der R e l a tionen, ib. X, 1978, s. 2-21.
144
Die Problematik der Relation
Entscheidend für die Geschichte der Relationstheorie ist Leibniz' Versuch, die Relationes rationis mit den Relationes reales zu vermitteln. Dies gibt nun Leibniz auch die Möglichkeit, gegen Lockes enge nominalistische These von den Relationen als "ways of comparing", kritisch Stellung zu beziehen und mehrere Arten von Relationen zu unterscheiden: "Selon mon sens la relation est plus générale que la comparaison. Car les Relations sont ou de comparaison convenance
ou disconvenance
ou de concours i les premières regardent la (je prends ces termes dans un sens moins éten-
du), qui comprend la ressemblence, l'égalité, l'inégalité, etc. Les secondes renferment quelque liaison,
comme de la cause et de l'effet, du tout
et des parties, de la situation et de l'ordre etc." (NE, II, 11, 5; vgl. 1.4.3.). Damit nimmt Leibniz die Kantischen Relationskategorien in einem gewissen Sinne vorweg: Die Inhärenz-Relation beruht auf dem Satz des Widerspruchs (kategorische Urteile) und drückt ein Vergleichen aus, wohingegen die Kausalität (cause-effet) und die Gemeinschaft (tout-partie) eine Verknüpfung implizieren. Situation und Ordre müsste man dagegen den Relationen des Raumes und der Zeit zuordnen (vgl. 1.4.3.). Damit ist also Leibniz' Relationstheorie der Crux der Lockeschen ausgewichen, indem sie Beziehungen wohl als Entia rationis, die allerdings in re, d.h. in der individuellen 46
Sub-
stanz, fundiert sind, betrachtet. 2.1.4.3. Wolff Wolffs Darstellung der Relationstheorie (Ontol. §§ 855-65) endet mit der Behauptung, er habe bloß die Notio confusa des aristotelischen προς τυ aufgeklärt, die übrigen Folgebestimmungen aber träfen sich mit den schola47 stischen Dicta. Daher wollen wir die Wolffsche Relationstheorie von sei46
47
Auf einen Differenzpunkt, der für Kants Relationstheorie der späten 60er Jahre v o n Bedeutung sein wird, ist noch hinzuweisen: Locke kennt nur zweistellige Relationen: "for there can be no relations but b e t w i x t two things considered as two things" (Essay, II, 25, 6). Leibniz hält d e m entgegen: "Il y a pourtant des exemples d'une relation entre plusieurs choses à la fois ..." (NE II, 25, 6). "Non aliud adeo egimus, q u a m ut distincte explicaremus, quid in notione confusa verbis Aristotelis respondente contineatur" (Ontol. § 865), und: "Quae igitur ex notione nostra relationis a priori deducuntur, eadem sunt c u m iis, quae Scholastic! de relatione tradunt" (ib.).
145
Wolff
ner Auslegung der aristotelischen Definition her angehen. Wolffs ObersetΛ Ο
zung der zweiten aristotelischen Definition
, die das'ad aliud"hervor-
streicht, lautet: "Relata definiri soient cum Aristotele per ea, quae habent totum suum esse ad aliud, seu quorum totum esse est se habere ad aliud, vel referri ad aliud" (Wolff, Ontol., § 865). Er hebt also deutlich das Beziehen - genauer: das Bezogenuerden - heraus, betont aber gleichzeitig, daß das Sein der Relation das Sein der Relata ist. Daß Wolff gar kein eigenständiges Sein - darin trifft er sich tatsächlich mit Aristoteles der Relation in Betracht zieht, zeigt schon seine Obersetzung des upós durch "Relata".
τυ
49
Es ist bezeichnend für den rationalistischen Ansatz Wolffs, daß das Sein der Relation, bzw. der Relata, wie Wolff betont, im "referri" besteht, 50 also im Bezogenwerden durch etwas, wie der Passiv es indiziert. Wer aber ist diese beziehende Instanz? Der Intellekt wohl, denn das Sein wird durch 51 die Intelligibilität bestimmt. Wie ist nun das Referri im Hinblick auf das Sein der Relata zu verstehen? "Si entia duo A & Β simul consideramus atque ea, quae ipsis in se spectatis seu absolute conveniunt, perpendentes porro inquirimus, an inter ea, quae ipsi Β conveniunt absolute, quidpiam occurat, per quod aliquid de A
48
49 50 51
D e r Hg. der W ö l f i s c h e n Ontologie, Jean Ecole, bemerkt dazu, daß es sich um eine Uebersetzung der 1. Aristotelischen Definition handle, bzw. er zitiert einfach Cat. 7, 6a 36, was aber k a u m zutreffen dürfte, denn das "quorum totum esse est se habere ad aliud" ist die wörtliche Ü b e r setzung der 2. aristotelischen Definition durch Suarez (vgl. 2.1.3.). A u c h das Referri ad aliud, das zusätzlich zur aristotelischen D e f i n i tion hervorgehoben wird, ist suarezischen Ursprungs (vgl. DM, d. 47, s. I, n. 1). "primo hic n o t a n d u m est, totum illud esse, de quo hic sermo est, non intelligendum est nisi de relatis, quatenus relata sunt" (§ 865). "Enimvero n o n clarius est habere totum suum esse ad aliud, quam referri ad aliud" (ib.). Diese Bestimmung des Seins durch das Begreifbare zeigt sich z.B. in folgender Definitionskette: "Quod possibile est, ens est" (Ontol., § 135). "Possibile est quod nullam contradictionem involvit" (Ontol., § 85). Das Widerspruchsprinzip ist aber ein Prinzip unserer Mens: "Earn experimus mentis nostrae naturam, ut, d u m ea judicat aliquid esse, simul judicare nequeat, idem non esse" (Ontol., § 27). Also wird das Sein des Seienden (entis) d u r c h die Natura mentis, die Intelligibilität bzw. deren Bedingungen bestimmt.
Die Problematik der Relation
146
intelligi possit, quod absque eo intelligi non poterat, adeoque non nisi praesupposito Β; ens A referri dicitur ad alterum B" (Ontol., § 855). Das "referri", also das Sein der Relata ist ein "simul considerare" mit folgenden Intel1 i g i bi1 itätsbedi ngungen: (1)
in Β, in se spectatum, gibt es einen Anhaltspunkt (C) für die Einsicht von etwas (D) in A
(2)
C ist notwendige Bedingung für D (Praesupposito) genauer: intelligibel (D in A) •*• intelligibel (C in D) oder per contrapositionem: nicht intelligibel (C in D) -»· nicht intelligibel (D in A).
Bedingung (2) lautet vom Seinsgrund her betrachtet genau umgekehrt: Das Sein von Β ist der Grund für das Sein von A qua Relatum. Diese Beziehung ist eine Dependenz:
"ideo nonnisi quandam dependentiam
denotare potest" (Ontol., § 857). Relationen drücken also ein Abhängigkeits52 Verhältnis aus und sind so immer schon ontologisch verstanden. Bedeutet das nun aber, daß das Sein der Relation, bzw. der Relata, ein bloß mentales ist, daß also das Fundamentum relationis in mente ist? Keineswegs, denn die Relation wird wohl vom Intellectus (von der Intel 1igibi1 i tat) her verstanden, ist aber dennoch nicht in mente fundiert: "Agnoscit
Claubergius
sane relationem provenire ab intellectu, habere tantum al i quod fundamentum in re ipsa" (§ 865). Die Provenienz der Relation vom Intellekt 53 wohl ZU unterscheiden vom fundamentum in re.
ist also
Die Relationen sind also von ihrem Sein her nicht bloß Operationes mentis 54 wie etwa bei Locke.
Worin aber besteht dann das Fundamentum relationis?
"Relationes enim sunt praedicata rerum, quae ipsis conveniunt, non propter operationem intellectus, sed propter fundamentum in re ipsa. Intellectus 52
Vgl. auch Beginn des § 857: "Relatio ... nonnisi in dependentia ... consistit. " Das ganze Relationskapitel wird denn auch überschrieben mit: De dependentia rerum earumque Relatione. 53 Diese Formulierungen zeigen, daß die Modi relationum auf den einen Modus der Relatio rationis quae in rebus habet aliquod fundamentum reduziert wird. 54 'Notandum tarnen est, in eo a Scholasticis abire Clauhergium, quod operationem mentis ... relationem appellare maluerit ... Etenim non operatio mentis ... est relatio" (§ 865).
147
Wolff
autem operation! debetur, ut praedicata ista agnoscamus" (ib.). Das "provenire ab intellectu" der Relationen hängt also bloß mit deren Erkennbarkeit zusammen und der Intellekt ist nicht selbst das Fundamentum: "Ratio relationis, seu id, unde intelligitur relationem adesse, Fundamentum tionis dici consuevit"
rela-
(§ 858). Das Fundamentum relationis von A und Β
ist aber dasjenige Intrinseaum von ß, das dessen Zusammenhang mit A erkenn55 bar macht und also eine Ratio essendi der Res selbst ist. Das Sein der 56 Relation ist letztlich das Sein eines Essentiale. Die Leistung des Intellekts besteht dabei bloß darin, daß er das Intrinsecum als Prädikat erkennt. Die prädikative Struktur des Denkens begreift die Relationen als Prädikate. So wird z.B. die Vater-Sohn-Relation zwischen Adam und Kain aufge57 löst in die Paternitas Adami und in die Filiatio von Kain. Dies ist die Konsequenz davon,
daß die Relation qua Relation kein eigenes Sein hat und
so strukturell als Konjunktion von zwei prädikativen Sätzen aufgefaßt wird. Was für ein Prädikat ist nun aber die Relation, wenn sie ihren Grund in einem absoluten Prädikat hat? In der Lateinischen Logik (LL) werden die Bestimmungen (Determinationes) einer Res wie folgt unterteilt: einerseits in die Intrinseca rerum, quae constanter insunt: Essentialia und Attributo, und in die Intrinseca rerum, quae mutabilia sunt: Modi·, und andrerseits in die Estrinseca rerum, die Relationes (LL, § 104; vgl. 1.1.). Die Möglichkeit der Relationen qua Determinationen einer Notio wird wie diejenige eines Modus begriffen, nämlich als Verträglichkeit mit den Essentialia (LL, §§ 156-8). "Quoniam modorum & relationum possibilitates, quae instar al i cujus modi insunt ..." (LL, § 178). Die Relationen sind also Determinationes extrinsecae, die als solche mit der Res verträglich sein müssen, und, obwohl ihr keine Realität zufügend, dennoch aber aristotelisch als inseiend
55
56
57
"Hoc fundamentum esse aliquam ... proprietatem, seu praedicatum absolutum, rei in se spectatae conveniens" (§ 865). Die absoluten P r ä dikate sind Essentialia und Attributa, letztere Consectaria der e r steren (LL, § 69). Die Ratio ist also eine solche der Essentia, also eine Ratio essendi. So w i r d auch verständlich, daß die Relationen, die Wolff in den P a r a graphen 859-65 aufzählt, durchwegs ontologische sind: Identität/Diversität, Similitudo/Dissimilitudo, Situs, Locus, Antiquitas etc. Vgl. S 856 Exemplum 2.
Die Problematik der Relation
148
(inesse) in einer Substanz aufgefaßt werden. "Relatio nullam enti realitatem
superaddit quam in se spectatum non habet" (Ontol., § 857). Diese
Ausdrucksweise und auch die Argumentationsweise ist diejenige der Gegner der realen Relation, wie wir bei Suarez zeigten. Das würde bedeuten, daß Wolff keine realen Relationen annimmt, sondern nur Relationes rationis quae habent aliqua fundamenta in re, was auch durch die prädikative Intelligibilität der Relation nahegelegt wird, und dadurch, daß der Haupttypus dieser Relationen bei Suarez die logische Relation ist, also das Judicium de re quadam. Wolffs Relationstheorie kann also kurz dadurch charakterisiert werden, daß er von dem aristotelischen, substanzontologisehen Begriff der Relation ausgeht, dennoch aber den neuzeitlichen Ansatz des verbindenden Denkens durchführt und so, mit dem Anspruch, den Begriff der Relation bei Aristoteles und den Scholastikern nicht verändert, sondern bloß geklärt zu haben, alle Probleme vermengt, damit aber die beste Ausgangslage für Kant schuf, welcher hier das Relationsproblem in seiner ganzen Tragweite als fundamentalontologisches Problem studieren konnte. Es sei noch auf Baamgarten hingewiesen, der die Ansicht der Relation als Prädikat verfestigte, was in heutiger Notation bedeutet, daß in xRy
Ry als
Prädikat von χ verstanden wird. Zugleich nimmt er den Wolffschen Gedanken, daß alle Relationen eine Dependenz ausdrücken, auf und behauptet, daß sie alle Verknüpfungen
(Nexus) seien: "Determinationes possibilis ... sunt ...
quando spectatur in nexu ... respectivae. Determinationes possibilium respectivae sunt respectus (Beziehungen)" (Bg. Mp. § 37). Der Nexus wird als Grund-Folge-Verhältnis gedeutet, in welchem konsequenterweise nicht das Verhältnis ausgezeichnet wird, sondern bloß das Prädikat mit seiner spezi58 fischen Funktion, etwas als Grund oder als Folge zu bezeichnen. Damit wird dem spezifischen Relationscharakter keine Rechnung getragen. Zudem behauptet auch Baumgarten, daß zwischen Substanz und Relation ein inesseVerhältnis obwalte, obwohl Relationen als Determinationes externae angesprochen werden, und stiftet damit dieselbe Verwirrung wie Wolff.
58
"Praedicatum quo aliquid vel ratio, vel rationatum est, vel utrumque, nexus (Zusammenhang, Verknüpfung) est" (ib., § 14).
149
Crusius 2.1.4.4. Crusius Die Relationstheorie von Crusius ist von besonderer Bedeutung für den Kant der Jahre 1762-64, der hier wesentliche Impulse für die von logischen und realen Relationen,
Unterscheidung
die Crusius wieder zu ihrem Recht
kommen läßt, ebenso wie für das Verhältnis der realen Relation zur Kraft, erhalten zu haben scheint. Im § 28 seiner Mp. definiert Crusius die Relation wie folgt: "Eine Relation heißt eine solche Art zu existieren zwischen zweyen oder mehreren Dingen, wodurch es möglich wird, daß man von ihnen zugleich etwas abstrahiren
kan, was sich von einem alleine nicht hätte
abstrahiren lassen." Folgendes ist dabei bemerkenswert: (1) Relation ist eine Art zu existieren, 59 (2) Relation hat, entgegen Lockes Auffassung
, zwei oder mehrere Relate,
(3) Relation hat Bezug auf Abstraktion. Crusius scheint also das Zwischensein,
die relatedness, voll zur Geltung
zu bringen, indem er die Relation als Existenzweise ansieht, die sogar der Abstraktion zugänglich ist. Um den vollen Sinn von (1) zu fassen, beginnen wir bei (3). Aus den Abstraktionsarten sollte man die Relationsarten unterscheiden können, ein Gedanke, der an das Leitfadenkapitel Kants erinnerte, hätte nicht die Abstraktion eine ganz andere Bedeutung bei Crusius.^ Crusius unterscheidet zwei Arten der Abstraktion: causale und existenziale.^ Die Existenzialabstraktion ist vorwiegend logische Abstraktion. Damit sind also zwei Relationsarten vorgezeichnet: causale und logische. Näheren Aufschluß über die grundlegenden Relationsarten gewinnt man durch Betrachtung einer speziellen
59 60
61
Tonelli behauptet, daß Crusius Locke gekannt hat. Vgl. Toneliis Einleitung im Band 1 der Werkausgabe von Crusius, Hildesheim 1969, S. XXI. Crusius Logik, § 93: "Diese Wirkung (seil, des Urteils) nennet man die Abstraction. Denn abstrahiren heisset nichts anderes, als einen Begriff von einem andern, in welchem er enthalten, oder an den er verknüpfet war, in den Gedanken absondern und vor sich betrachten" (vgl. 1.6.1.). "Dieselbe (seil, die Abstraktion) ist entweder eine causale, wenn man Dinge unterscheidet, deren eines das andere hervorbringet oder möglich machet, und wieferne es dieses thut ... oder eine existenziale, durch welche man Ding unterscheidet, welche beysammen sind, oder hinter einander folgen, ohne daß das eine das andere hervorbringet, oder möglich machet..." (Crusius, Logik, § 96).
150
Die Problematik der Relation
62 Klasse, nämlich der Verknüpfungen,
die eine Dependenz
Verknüpfung oder Vereinigung ist dasjenige Verhältniß
ausdrücken. "Die zwischen zweyen
oder mehreren Dingen, vermöge dessen da, wo das eine gesetzt wird, unter gewissen Bedingungen auch das andere gesetzt wird" (Crusius, Mp., § 92). 63 Wichtig ist hier der Gedanke der Einheit
, der in dem Ausdruck
"Vereini-
gung" steckt. Was für Unterarten dieser Einheit lassen sich aber unterscheiden? "Die Verknüpfung oder Vereinigung ist entweder eine Verknüpfung nur in Gedancken,
oder auch eine Verknüpfung ausser den Gedancken.
Es
machen nemlich mehrere Dinge entweder deswegen Eines aus, weil sie unser Verstand wegen gewisser Absicht unter einen Begriff zusammengenommen hat, oder deswegen, weil sie auch ausserhalb der Gedancke ein solches Verhältniß haben, daß wo das eine ist, wenigstens unter gewissen Bedingungen auch das andere ist, und wenn des einen seine Art zu existieren verändert wird, oder verändert werden sollte, sich auch in der Art zu existieren des anderen etwas verändern würde" (Crusius, Mp. § 93). Die Einheit beruht in den gedanklichen
(idealen) Verknüpfungen
auf dem
begrifflichen Zusammengreifen des Verstandes, ist somit Einheit des Begriffs,
speziell des relativen Begriffs. Der Relation kommt dabei ein bloß
mentales Sein zu. Es stellt sich nun von der eingangs gegebenen Definition der Relationen die Frage: Inwiefern sind die idealen Verknüpfungen Existenzweisen? Kennzeichen der Existenz ist nach Mp. § 16 die Empfindung, und zwar sowohl die innere wie die äußere. "Die äusserliahen
Empfindungen
ge-
ben uns Begriffe von Dingen, die ausser unserer Seele sind. Durch die innerliche Empfindung
aber werden wir uns desjenigen bewust, was in unse-
rer Seele vorgehet" (Crusius, Mp. § 16). Die Art zu existieren einer idealen Verknüpfung ist die innerliche Empfindung eines Begriffs, der das Viele zu einer Einheit zusammenfaßt. Im Falle der Verknüpfungen außer den Gedanken beruht die Einheit auf dem realen Verhältnisse, das dadurch charakterisiert ist, daß das Verändern der 62
63
Vgl. Mp. § 28. Crusius wendet sich also gegen Wolffs Auffassung, daß alle Relationen eine Dependenz ausdrücken. Die Crusianische Relationstheorie scheint also allgemeiner als die Wolffsche zu sein. "Alsdenn heisset also ein Eines dasjenige, darinnen man sich lauter Dinge vorstellt, welche eine Verknüpfung oder Vereinigung mit einander haben" (Mp. § 92).
151
Crusius Relationen ein Verändern der Relate impliziert. Dabei wird deutlich, daß es Crusius daran gelegen ist, die realen Relationen, die im Empirismus gleicherweise wie im Rationalismus verworfen wurden, wieder einzuführen. Das Crusianische Argument für die Annahme realer Verhältnisse lautet: Seien A und Β in einem Verhältnis. Wird A verändert, so wird auch Β ver-
ändert, und zwar, so muß man wohl hinzufügen, salva relatione. Dies heißt aber, daß das Hinzufügen einer realen Relation die Art zu existieren verändert, dadurch nämlich, daß sich das Relat, dem die Relation zugefügt wurde, ändert. Crusius verwirft also das aristotelische Argument. Was besagt es nun aber, daß die Verknüpfungen außer den Gedanken auf den Verhältnissen der Dinge beruhen? Das Merkmal, daß bei veränderter Relation die Relate ändern - in Kontradiktion zum aristotelischen Argument - kommt ja auch den idealen Verknüpfungen zu, ist also nicht ausreichend, die reale 64 Verknüpfung zu erklären. "Man siehet zugleich hieraus, daß eine jedwede Vereinigung zufälliger Dinge, welche ausserhalb der Gedancke eine reale 65 unio existential is
seyn soll, auf einer Causal-Verknüpfung der Dinge be-
ruhen müsse, vermöge deren zum wenigsten eines gegen das andere thätig wircken muß, wiewol auch beyde wechselweise gegen einander thätig seyn, und auch wechselweise von einander leiden können. Denn es ist sonst nichts anders ausserhalb der Gedancke möglich, was einen Grund der Vereinigung zwischen vollständigen Dingen abgeben kan. Sobald man dahero dieses hinweg nimmt, so muß man sie nur durch einen Begriff im Verstände vereinigen, d.i. die Dinge haben alsdenn entweder gar keine oder doch nur eine bloß ideale Vereinigung" (Mp. § 94). Zunächst einmal erhellt, daß die Verknüpfungen außer den Gedanken gerade den Rahmen der Relationen durch kausale Abstraktion abstecken. Zudem beruht die Einheit der realen Verknüpfung
64
65
auf einer
Die Verknüpfung außer den Gedanken, also in und an den Dingen, heißt auch reale Verknüpfung im Gegensatz zur idealen: "weil die Welt ein solches System von Dingen ist, dessen Teile auch ausserhalb der Gedancke eine reale Verknüpfung haben" (Mp. § 94). "unio existentialis kann heissen, welche sich zwischen zwey vollständigen Dingen befindet, deren eines in, oder neben dem andern dergestalt existirt, daß es zum wenigsten nicht ohne Schwierigkeit von ihm getrennet werden kan" (ib.). In scotistischer Terminologie sind also die Relate realdistinkt.
Die Problematik der Relation
152 Kausalverknüpfung
zweier oder mehrerer realer Dinge, d.i. auf einer tätigen
Wirkung gegeneinander, 6 6 also auf Kräften.
Die Realität der Verknüpfung
bzw. der realen Relation ist damit in Kräften der Dinge fundiert. Kräfte qua primäre Qualität der D i n g e 6 7 haben relativen Charakter und sind das Fundament jeder
realen
Relation.
Als Fundamentum relationis ist denn auch
die Kraft ein Existenzialgrund (Mp. § 79) für das Sein der Wirkung. Man kann so mit guten Gründen von der Relation als einer Art zu existieren sprechen, insofern nämlich, als eine reale Verknüpfung durch eine Kraft qua Existenzialgrund bewirkt wird. Daß die reale Verknüpfung eine Art zu existieren ist, besagt nicht, daß sie etwa äußerlich empfunden werden kann. "Denn die Erfahrung lehret eigentlich keine Causal Verknüpfungen, sondern nur, daß sich ein Ding auf gewisse Art vorstelle, und daß gewisse Dinge sich beysammen, oder hintereinander vorstellen" (Logik, § 41). Die Kausalverknüpfimgen den,
68
kann man nioht
empfin-
sie haben also keine empirische Existenz. Die realen Verknüpfungen
sind vielmehr in der Weise existent, daß sie in den Kräften der Dinge fundiert sind, die ihrerseits überhaupt Existenzial gründe sind. Die realen Relationen haben also ihr Fundament in den Bedingungen
der Möglichkeit
der
Existenz.
66
Man muß diese Theorie der realen Relationen als ein Argument für die Theorie des influxus physious verstehen. Die Pietisten, allen voran Rüdiger, bestritten die Leibnizische, und in einem gewissen Stadium auch Wolffsehe Theorie der prästabilierten Harmonie. Crusius kritisiert denn auch gleich im Anschluß an die zitierte Stelle Leibniz' Theorie der prästabilierten Harmonie: "Und wenn man, um eine Ausflucht zu haben, eine besonderere Klasse der Vereinigung erdichtet, welche man die metaphysische nennen will, und welche darinnen bestehen soll, daß ein Ding das andere vorstellet, so wird hiermit der erste Begriff der realen Vereinigung verlassen" (Mp. § 94). Knutzen, der Lehrer Kants, ist übrigens der erste, der in seinem "Systema causarum" eine positive Theorie des Influxus physicus entwickelte.
67
"Folglich hat ein jedwedes Ding einige, und wenigstens eine Kraft. D a her ist eine jedwede positive Eigenschaft, wenn man sie in anderer Absicht betrachtet, eine Kraft ... Eine Kraft aber heißt sie (seil, die Eigenschaft), wieferne etwas anderes ganz oder zum Theil möglich, oder wirklich gemacht wird" (Mp. § 29).
68
"Denn Causalverknüpfungen kann man nicht empfinden" (Crusius, Logik, § 66; vgl. ib. § 465). Hierin stimmt Crusius mit Kant überein, der in der KrV noch lehrt, daß man Relationen nicht empfindet bzw. wahrnimmt (§ 15 der KrV).
Crus i us
153
Die Bestimmung des Seins, der Existenz, erfolgt bei Crusius durch das Fundament der Real Verknüpfungen, durch die Kräfte; also ist deren Realität, als überhaupt realitätskonstitutiv, gesichert. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit der Relationen kann in diesem naturphilosophischen System gar nicht entstehen. Die Kräfte sind immer nur aus Wirkungen in Raum und Zeit erschließbar. Die Grundkräfte bzw. die wahren Kräfte meist unerklärlich.
(Mp. § 72) sind
Diese Thesen nimmt der junge Kant wieder auf.
Die spezifische Art des Rückschließens aus Wirkungen auf die volle Kausalverknüpfung verlangt einen andern als prädikativ-logischen Zugang zu den Relationen: "Und es ist ferner zu mercken, daß, wenn man die Ursachen der Dinge zu erklären vorgeben will, man auch eine wirckliche (ί) Causalverknüpfung zwischen denselben und ihren Wirkungen einsehen müssen, und daß es hier mit Subsumiren und anderen Existenzialverbindungen nicht ausgerichtet sey" (Mp. § 70). Damit ist gesagt, daß die logische Subswnption nicht ausreicht, Kausalrelation
um eine
zu denken. Dies ist eine Einsicht, die Kants Denken 1762-64
entscheidend prägt und forttreibt. Crusius unterscheidet also reale und ideale Verknüpfungen. Die idealen haben ihre Einheit im Begriff, während die realen ihre Einheit in einer Kausal Verknüpfung, d.h. letztlich in einer realen Kraft haben. Sie sind zudem eine Unio existential is, deren Relate reale Dinge sind, die sich voneinander realiter unterscheiden und die durch logische Akte undenkbar sind. Damit hat Crusius die realen Relationen, die nicht bloß mentales Sein haben, gegen den Rationalismus und Empirismus gerechtfertigt und eine Relationstheorie versucht, die auf den Ergebnissen der Physik aufbaut. Kants Fragestellung nach den Relationen setzt bei diesem Stande der Erkenntnis an.
69
"Nun ist zwar nicht zu leugnen, daß sich nicht überall bis zu der Erkenntnis dieser wahren und zu dem Grund-Wesen gehörigen Kräfte hindurch dringen lasse, sondern daß man sich öfters begnügen lassen muß, wenn man nur überhaupt weiß, zu was für Wirckungen ein Ding aufgelegt sey" (Mp. § 70).
154
Die Problematik der Relation
2.1.4.5. Lambert Lamberts Relationstheorie ist sehr r e i c h h a l t i g ; ^ aus ihr hat Kant wohl manche Anregung geschöpft. Wir wollen uns bei ihrer Darstellung auf einige wenige, dafür aber um so wichtigere Einsichten beschränken. Wie Crusius unterscheidet auch Lambert im § 95 seiner Dianoiologie im Sinne des aristotelischen Argumentes veale
und ideale
Verhältnisse:
"Wir können die
Verhältnisse, in deren Absicht ein Begriff eingetheilt werden kann, überhaupt in solche eintheilen, durch deren Verwechslung an der Sache selbst et^BS geändert wird, und in solche, deren Verwechslung die Sache an sich ungeändert läßt. Erstere werden wir veale, 7
nisse nennen" ^
letztere aber ideale
Verhält-
(Dianoiologie, § 95). Als ideale zählt er auf: Einerley-
heit, Verschiedenheit,
Ähnlichkeit, Gattung, Art etc. Die realen gründen
sich - wie bei Crusius - auf Kräfte
und sind unterteilt je nach Wissen-
schaftszweigen, in denen sie auftreten, in geometrische, chronometrische, statische, dynamische und moralische (vgl. Architektonik §§ 413 ff.). Allein, wie ist diese Realität der realen Relationen zu denken? Lambert hebt - wie Crusius - das Ζwisohensein
der Relation hervor und deutet es
als Ideales: "Dieses Dinge selbst sind nicht das Verhältniß, und das Verhältniß ist auch nicht in dem einen oder andern dieser Dinge, sondern es ist gleichsam zwischen
denselben, und an sich nur etwas Ideales, ungeachtet
dennoch das, was dabey in den Dingen selbst zum Grunde liegt, real seyn kann" (Architektonik § 411). Lambert nimmt gegen die These Wolffs Stellung, daß die Verhältnisse durch die prädikative Struktur des Denkens ausgedrückt werden können, indem er deren Insein
leugnet
und das Zwischen auszeichnet.
Trotzdem sind auch die realen Verhältnisse als Zwischen etwas Ideales. Wie aber ist solches zu denken? überhaupt bezieht sich der Begriff des Verhältnisses auf ein denkendes Wesen, und setzet immer zwey Dinge voraus, die
7C
71
Dies bemerkte schon der Hg. von Leibniz' Nouveau Essais, Ulrich, wenn er schrieb: "Ich will mich diesmal hiermit begnügen und nur noch anzeigen, daß ich das Vernünftigste über die Verhältnisse in Lamberts Dianoiologie und Architektonik gelesen habe", G.W. von Leibniz, Philosophische Werke nach Raspens Sammlung. Hg. v. J.H.F. Ulrich, Halle 1778-80, S. 450. Diese Unterscheidung ist Gliederungsprinzip der Architektoniic: das Ideale der Grundlehre unterscheidet sich dadurch vom Realen derselben, § 372.
155
Lambert miteinander verglichen werden" (ib.)· Lamberts These unterscheidet sich
insofern von der neuzeitlichen, nach der die Relationen auf einem vergleichenden Akte beruhen, als er den Bezug der Relation auf ein denkendes Wesen modifiziert. So sind z.B. die logischen Relationen solche, die ein Verhältnis zwischen denkendem Wesen und Res, also zwischen Begriff und Sache ausdrücken (Architektonik, § 412), wohingegen die übrigen, also die realen, ein Verhältnis zwischen Sachen bedeuten, dessen Begriff aber nichtsdestoweniger, als Begriff oder gar als Grundbegriff, einen Bezug zum denkenden Wesen impliziert. Diese Präzisierung der Lockeschen These führt ihn zur Auszeichnung realer Relationen, die also durch das denkende Wesen bzw. 72 durch dessen Grundbegriffe konstituiert sind.
Diese kategoriale Konsti-
tution, auf die wir hier aus Platzgründen nicht näher eingehen können, nicht nur zu behaupten, sondern auch transzendental philosophisch zu begründen, blieb aber Kant vorbehalten. Auf einen weiteren Zusammenhang mit Kant ist noch hinzuweisen. Die einfachen Verhältnisse der Mathematik können aus den allgemeinen hergeleitet werden (vgl. 3.1.4.). "Sie (seil, die Meßkunst)
Operationen hat nach An-
leitung dieser Operationen nur zwo Arten von einfachen Verhältnissen. Die eine zeiget an, um wie viel, die andere wie vielmal
eine Größe größer oder
kleiner ist, als die andere" (Architektonik, § 433). Die Operationen konstituieren also Verhältnisse, so z.B. auch Funktionen:
"So z.E. drückt die
Gleichung xx = aa - yy die Verhältniß zwischen den Abscissen und Ordinaten eines Circels aus" (ib.). Weiter sieht Lambert den Zusammenhang der mathematischen Verhältnisse mit den Reihen,
eine Idee, die Kant auch aufnehmen
wird. Lambert wurde aber auch auf einige formale Bestimmungen der Relations73 theorie aufmerksam: so unterscheidet er symmetrische von transitiven 74 Relationen unci führt den Ausdruck "Product von Relationen" ein. 72
73
74
"So machen diese einfachen Begriffe einzeln und unter einander corabinirt, zusammen genommen ein System aus, welches nothwendig jede ersten Gründe unserer Erkenntniß enthält" (Architektonik § 74, vgl. ib. § 45 ff. und 1.6.3.). Lambert nennt sie allerdings nicht 'symmetrisch', sondern 'reciprocirlieh' (vgl. Alethiologie § 252) wie Diderot/D'Alembert (vgl. 2.1.3. und 2.3.2.). "Oder man setze, A sey in Verhältniß mit Β, Β mit C; so ist auch A mit C in Verhältniß, und dieses letztere Verhältniß ist gleichsam nur das Product der beyden ersteren, und läßt sich in dieselben auflösen" (Dianoiologie, § 480).
2.2. Die Relation in Kants Denken 1762-66
Die Trennung von Formalem und Materialem der Möglichkeit und die Auszeichnung des Respectus logicus, der einzig durch den Satz des Widerspruchs (Satz der Identität) geregelt wird, als Formales der Möglichkeit, haben wir als entscheidenden Schritt in der Entflechtung von Logik und Ontologie und eo ipso in der Emanzipation vom Wölfischen Rationalismus aufgewiesen (vgl. 1.3.). Ihr zugrunde liegt eine veränderte Fragerichtung von Kants Ontologie: er fragt nicht so sehr nach dem Wesen einer Sache, das Grund ihrer Akzidenzen ist, als vielmehr nach dem Wie des Existierens,
des Wirklich-
seins. In den Naturwissenschaften, von deren methodologischem Ansatz Kant ausgeht, wird das Wie relational sind Weisen zu existieren,
erfragt. Die Akzidenzen, Determinationen,
die nur als Relate einer - sei es räumlichen
oder zeitlichen - Relation bestimmt werden können. Die Frage nach dem Wie des logischen und realen Wesens hat zum Resultat, daß beide bloß als Relationsgefüge
bestimmbar sind (2.2.1.). Damit bricht
der schon von Crusius verfochtene Unterschied zwischen logischen und Relationen
realen
auf. Kant entdeckt dabei einen formalen Unterschied: die logi-
schen Relationen sind als Identitäten symmetrisch,
die realen
asymmetrisch.
Die Asymmetrie beruht auf mathematischen Ordnungsrelationen, die für die Beschreibung des Wie in einer an der Physik orientierten Ontologie relevant sind (2.2.2.). Die Frage nach dem Wie des Existierens ist zugleich eine Frage nach der Art des Setzens,
nach der Art der respektiven Position. Kategorien werden
später im selben Frageansatz erfragt: sie sind Arten des Setzens (vgl. 2.3.3.). Daraus ist ersichtlich, daß Kants Reflexionen halb der kritischen
Problemstellung
vollziehen.
sich bereits
inner-
Zunächst aber ist durch die
Frage nach dem Wie des Setzens zweierlei erfragt: wie denken wir reale
Re-
lationen und wie erkennen wir sie. Beginnen wir beim letzteren. In den Reflexionen der Jehre 64-66 entdeckt Kant die Differenζ zwisehen dndlytisch
Die Relation in Kants Denken 1762-66
157
und synthetisch, und zwar vorerst zwischen analytischer und synthetischer Erkennbarkeit (2.2.3.). Die realen Relationen können allein synthetisch, d.i. empirisch erkannt werden. Diese These beruht auf Newtons methodologischer Voraussetzung, daß die Kräfte, die den Grund der realen Relationen ausmachen, nur aus ihren Wirkungen und nicht als Gründe erkennbar sind. Man kann demzufolge Ursachen nicht analytisch erkennen, sondern nur synthetisch aus ihren Wirkungen. Diese These wird untermauert durch diejenige, die Kant zur extensionalen Logik führte, daß nämlich alle Gegenstände nur durch Prädikate erkennbar sind (vgl. 1.5.). Nun sind aber die Wirkungen der Kräfte die in Raum und Zeit wahrnehmbaren phänomenalen Qualitäten der Dinge, die allein durch Veränderungen bestimmbar sind, welch letztere in mechanistischem Ansatz auf Bewegungen (Ortveränderungen) reduziert werden. Die Relata dieser realen Relationen (Kräfte) werden also synthetisch erkannt und sind bloß Akzidenzen, Determinationen oder Realitäten. Allein wie werden denn die Relationen gedacht?
Wie werden die empirisch erkannten
Relate verknüpft? Die Art des Setzens, dadurch die realen Relationen gedacht werden, ist ein wahrer Begriff.
Kant antwortet damit auf die Vorfrage
der transzendentalen Frage der KrV, nämlich auf die Frage: wie ist es zu verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes ist? Diese Frage ist als Frage nach der Weise des Setzens bzw. Denkens der realen Synthesis zu verstehen und eo ipso als eine solche nach dem fundierenden Anteil des Verstandes an den realen Relationen. Wie aber steht es in diesem Ansatz mit der Frage nach dem Fundament der real en Relationen? (2.2.4.) Kants metaphysische Versuche, das Fundament realen Relationen
der
in das Substanziale, die gründende Kraft, zu setzen, zei-
gen eine doppelte Schwierigkeit: erstens ist das Substanziale selbst Relation, nämlich innere Kraft, und bedarf so seinerseits eines Fundamentes, und zweitens ist es unerkennbar, taugt also nicht zu einer metaphysischen Gründung der Physik. Dadurch, daß Kant die äußeren räumlich-zeitlichen Relationen in den Inhärenz-Relationen fundiert, fällt er zurück in eine substanzontologische
Position, da die Inhärenz (Kraft) eine Relation zwischen
Substanz und Akzidens ist. Diese
substanzontologischen Relikte vermag Kant
erst nach dem Verwerfen der Mundus-intelligibilis-Konzeption der Dissertation zu überwinden, und diese Überwindung ist Folge der Reflexion auf das Denken der Relationen, wie wir in 2.3. sehen werden.
158
Die Problematik der Relation
2.2.1. Das Wesen als Relationsgeflige
Die erkenntnistheoretisch motivierte Trennung von Formalem und Materialem der Möglichkeit (vgl. 1.3.2.2.) impliziert eine Trennung von Was und Wie einer Sache. "Diese Frage zu beantworten, merke ich nur zuvor an, daß man unterscheiden müsse, was da gesetzt sei und wie es gesetzt sei" (EMBG, S. 75). Die Unterscheidung von Was und Wie, von Wesen und Modus, ist eine Folge der Ablösung
der Substanzontologie
durah
die
Naturwissenschaft}
Das Was, das Wesen wird nicht mehr thematisiert als ontologische Entität, es wird vielmehr nach dem Wie des Gegenstandes, etwa eines Körpers, gefragt, und zwar nach seinem Wie im Zusammenhang mit andern Körpern im Kontext eines Systems von Kräften oder Massepunkten. Diese Fragestellung ist auch die Bedingung der Möglichkeit eines Experimentes: Wie verhält sich ein physikalischer Gegenstand, wenn er unter bestimmte Bedingungen gebracht wird? Daraus ist ersichtlich, wie stark die Relationskategorie
in den Vordergrund
tritt. Das Wie betrifft als die Weise des physikalisch meßbaren Verhaltens eines Körpers seine Relation zu andern. Diese Weise ist bloß relational zu beschreiben. Die Frage nach dem wie des Gesetztseins
betrifft die Modalitäten Möglich-
keit und Wirklichkeit oder in andern Worten das bloß respective Setzen einer logischen Beziehung, das das Formale der Möglichkeit ausmacht, im Gegensatz zum absoluten Setzen von etwas als daseiend. Das Wie ist also das Wie des Gegebenseins eines Was, nämlich entweder als bloß gedachtes, logisches Wesen oder als Dasein. Das Wie fragt erkenntnistheoretisch nach der 2 Art des Setzens von etwas. Zehn Jahre später wurde aus der Frage nach dem
1
Vgl. Kaulbach (1), S. 23 ff. und Kaulbach (2), S. 62. "Mais (dit on) en Physique on ne demande point pourquoy les choses sont, mais comment elles sont. Je reponds qu'on y demande l'un et l'autre" (GP IV, 339). Dieses Zitat von Leibniz zeigt, daß man in der Physik nach dem Wie fragt und daß die Eigenart dieser Frage gegenüber derjenigen nach dem Was (Wesen = causa formalis) oder Warum eines Tale im 17. Jhd. bewußt ist. Leibniz, dessen Philosophie ganz auf Verbindung von Substanzontologie und Naturwissenschaft gerichtet ist, gemäß seinem Konzept einer Philosophie perennis, unterscheidet diese Momente wohl, versucht aber zugleich, sie aufeinander zu beziehen.
2
Noch in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten spricht Kant von der Differenz von Was und Wie: "daß man hinter den Erscheinungen doch noch
Das Wesen als Relationsgefüge
159
Wie des Setzens diejenige nach den Kategorien als Arten des Setzens (2.3.3.)· Kants erkenntnistheoretische Position entzündete sich an diesem modalen Unterschied (vgl. 1.3.2.1. und 1.4.2.). Kant löst nun das Was auf in ein logisches
und ein reales
Essentia und Natura, vgl. 1.3.1.4.). Das logische
Wesen
(bzw. in
Was wird vom Wie her be-
fragt: "Denn frage ich, wie ist alles dieses bei der bloßen Möglichkeit gesetzt ..." (EMBG, S. 75). Das logische Wesen, als bloß gedachtes, beruht auf den logischen Relationen. Deshalb ist es eigentlich, vom Wie des Seins her gedacht, bloßes Relationsgefüge,
in ihm werden bloße Kompatibilitäten
von etwas mit etwas gedacht: "Sogar ist in der bloßen Möglichkeit nicht die Sache selbst, sondern es sind bloße Beziehungen von Etwas zu Etwas nach 3 dem Satz des Widerspruchs gesetzt" (EMBG, S. 75).
Vom Wie des Gesetztseins,
von seiner Form her betrachtet, ist das logische Wesen bloß respective Position, die auf dem Vergleichen des Verstandes beruht. "Weil die Vergleichung der Prädikate mit ihrem Subjekte ... nichts anderes als eine logische Beziehung ist" (EMBG, S. 73). 4 Dieselbe erkenntnistheoretische Blickwende von Was aufs Wie des Was vollzieht Kant beim realen
Was, der Natur oder dem Substanziale. Das Wie des-
selben ist das Dasein, die Wirklichkeit, die absolute Position des etwas mit all seinen Bestimmungen, Akzidenzen. Hier antwortet Kant: "am Ende, wenn
3
4
etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich Dinge an sich ... annehmen müsse, ob wir uns gleich von selbst bescheiden, daß da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren, wir ihnen nicht nähertreten, und was sie an sich sind, niemals wissen können", zitiert in Kaulbach (2), S. 62. Wie fremd und neuartig Kants These ist, beweist die Kritik seines scharfsinnigen Rezensenten Ploucquet (Observâtiones ad commentâtionem I. Kantii de uno possibili fundamento demonstrationis existentiae Dei, in Ploucquet (1), p. 133-63). Nach Zitation der Kantschen These sagt er: "Caeterum in mera rei possibilitate non nisi meras relationes intelligi plane non concedo. Ipsae enim essentiae rerum possunt intelligi in se, cum essentia rei sit primum cogitabile. Quod autem est primum & reliquorum fundamentum, id non est aliquid relativi, sed positivi" (ib. 140). Diese rationalistische Kritik macht den Unterschied zu Kants Position deutlich: Während die Substanzontologie das primum Fundamentum in die Substanz setzt, setzt es Kant in die Relation, die allerdings ihren Anhalt in der Wirklichkeit, im Dasein einer Sache hat und nicht bloß in der Möglichkeit, die als Widerspruchsfreiheit konzipiert ist. Die Differenz von logischem Wesen als Was und Wie des Setzens behandelt Kant noch 1792 in seinem Brief an Beck in der Unterscheidung von bestimmtem Begriff und Bestimmen eines Begriffs (AA 11, S. 347).
Die Problematik der Relation
160
ihr bedenket, wie euch denn dieses (seil, das Denkliche, Reale der Möglichkeit) gegeben sei, könnt ihr euch nimmer worauf anders, als auf ein Dasein berufen" (EMBG, S. 81). Das Denkliche, die Bestimmungen, sind demnach bloße Arten
zu existieren.
Sie werden noch nicht im kategorialen Sinne als Wie
des Setzens verstanden. "Die accidentia sind ... arten, wie das subject existiert" (R 3783; 64-68). Hier wird der erkenntnistheoretisch-naturwissenschaftliche Ansatz in der Frage nach dem Wie deutlich: der Gegenstand wird von seiner Art zu existieren her bestimmt, nicht von seinem ontologischen Wesen her. Weil nun die Arten zu existieren, gemäß der kategorialanalytischen Reduktion auf Relation, sämtlich relative Bestimmungen sind, deshalb wird auch das reale Wesen, vom Wie her betrachtet, zu einem tionsgefiige.
Rela-
Bevor wir diese These begründen, wollen wir zunächst zeigen,
wie Kant die kategoriale
Reduktion
auf Relation
vollzieht.
Alle Veränderungen werden im Sinne des Cartesianischen Mechanismus auf 5 Bewegungen zurückgeführt:
Die Bewegungen aber sind bloße Relationen, denn
sie sind immer relativ auf andere Körper.*' Diese These beruht darauf, daß Bewegung nicht ein Intensionselement (Essentiale etwa) ist, sondern als bloße Ortsveränderung (wie bei Descartes) verstanden wird, der Ort selbst aber ein relativer Begriff ist.^ Die Determinationen sind also durch Bewegung bestimmbar. Allein Bewegung gen sind bloß äußere Relationen
, sie beruhen auf einer Bewegungskraft
(Mp.
Herder, S. 45). Dies ist auch schon durch das 2. Newtonsche Axiom nahegelegt. (Vgl. 2.2.3.) Kant fundiert also seinen Mechanismus in einem Dynamismus. g Dies sieht man deutlich aus der Bestimmung des Inhärenzverhält5
6 7 8 9
"Bewegung ist die einzige Veränderung in der materiellen Natur. Sie ist eine Veränderung des Orts" (Mp. Herder, S. 160). Die These, daß Bewegung bloße Ortsveränderung ist, vertrat Kant auch 1758 (AA 2, S. 16). "Die Bewegung eines Körpers gegen einen andern ist blos ein Accidenz der Relation" (Mp. Herder, S. 102; vgl. Mp. Herder, S. 34; 45; 47). "Ein positus eines von etwaz im Raum, ist locus, bei jedem Ort ist immer eine relation" (Mp. Herder, S. 34). Schon 1758 spricht er von "äußeren Beziehungen", die Bewegung, Ruhe und Anziehung sind (AA 2, S. 16; vgl. Mp. Herder, S. 43, 160). Diesen mechanistischen Ansatz kann man auch in der in den 70er Jahren entstandenen Physikvorlesung beobachten, die G. Lehmann herausgab (I. Kant: Vorlesungen über Encyclopädie und Logik, Berlin 1961). Zu Beginn werden alle physikalischen Eigenschaften auf Raum, Zeit, Geschwindigkeit, also Bewegung reduziert; darauf folgt die dynamische Besinnung
161
Das Wesen als Relationsgefüge nisses von Substanz und Akzidens als Kraft, welche so Grundbegriff realen Relationen
aller
wird, wie die Akzidenzen zusammen mit der Substanz ge-
setzt werden, ist die Frage nach dem Inhärenzverhältnis. Um dieses zu klären, gehen wir aus vom Unterschied zwischen logischem Prädikat
und realer
De termination. "Praedioatum
logiaum. geschieht nach der Regel der Identitaet ... In
Ansehung eines Praedicati logici kan ein Ding nicht unbestimmt seyn, aber in Absicht einer Determination wohl, die aus einer ratione determinante folgt" (Mp. Herder, S. 23). Die logischen Prädikate sind also immer zugleich mit dem Subjekt gesetzt, denn sie sind Wesensbestandteile 10 - des logischen Wesens natürlich -, die also ihren Grund in der respektiven Position haben. Weil das Ding, als gedachtes, immer schon als so und so bestimmtes gedacht wird, sind logische Prädikate keine Determinationen. 11 Akzidenzen sind Determinationen, und zwar positive: "Detenni nati o quae vere positiva est, est Accidens" (Mp. Herder, S. 23). Akzidenzen sind als Determinationen Arten zu existieren einer absolut gesetzten Substanz. Kant 12 übernimmt zunächst Baumgartens Definition des Akzidens , deutet aber das Inhärenzverhältnis nicht als logische Identität, sondern als Kraft: "Der respectus einer Substanz zu seinem accidente inhaerente ist der Realgrund, oder Kraft: folglich sind die Gründe der Inhaerenz: Realgründe" (Mp. Herder, S. 25). Der Respectus der Inhärenz ist also ein respectus
realis,
nexus realis. Er kann nicht durch Identität (Prädikation) eingesehen werden, sondern ist selber ein bloß einfacher Begriff: "Eine jede Bestimmung der Dinge aber, die einen Realgrund heischt, wird durch waz anderes gesezt, und der nexus eines Realgrundes mit der Realfolge wird also nicht aus der Regel der Identität eingesehen, kan auch nicht durch ein Urteil ausgedrükt auf das Quale bzw. auf den Grund der Bewegung, auf die Bewegungskraft. Dieses Verhältnis von Mechanismus und Dynamismus als dasjenige von Quantität und Qualität können wir auch in den MA (Phoronomie und Dynamik) beobachten. 10 11
12
"Die essentialia essentiae sind nicht determinirt - nicht accidentien, sondern logische praedicate" (Mp. Herder, S. 25). "In Ansehung ihrer muß ein Ding stets determinirt seyn folglich sind sie keine determinationen - sondern logische Praedicate durch die Regel der Identiät" (Mp. Herder, S. 25). "Autoris definitio: Accidens: quod non potest existere nisi ut determinatio alterius" (Mp. Herder, S. 24).
162
Die Problematik der Relation
werden, sondern ist ein simpler Begrif ... Dieser ßegrif heißt Kraft" (Mp. Herder, S. 24). Die Bestimmungen der Dinge (Akzidenzen, reale Prädikate) können also nur von zugrundeliegenden Relationen her gedacht werden. Sie sind wohl Relate der Inhärenz - oder Kraftbeziehung, als solche aber relative Begriffe. Sie sind auch keine allgemeinen (gedachte, logische) Prädikate, sondern Akziden13 Die Inhärenz ist also das Wie 14
zen einer hic et nunc seienden Substanz.
des realen Wesens, das als Kraft gedacht wird.
So ist das reale
Wesen,
von seinem Wie, 15 d.i. von seiner Art zu existieren her gesehen, bloßes tionsgefüge,
Rela-
genauso wie das logische. Kants Philosophie dieser Zeit setzt
also das primum Fundamentum der Res in die Relation, und nicht in die Substanz, wie Ploucquet bereits richtig bemerkte (vgl. Anm. 3). Nach dem Aufweis der These, daß das logische und reale Wesen Relationsgefüge sind, wollen wir noch kurz den metaphysischen Unterbau dieser Naturphilosophie skizzieren anhand der Frage: Was ist das Fundament nalen Akzidenzen,
der
das als Kraft näher bestimmt ist? "Aus der Natur
relatiokann
man nicht blos die Sache unterscheiden, sondern auch Gründe der Veränderung davon geben: folglich kommts auf Kraft auf Thätigkeit an, vis essentialis est ergo natura rei" (Mp. Herder, S. 49). Was aber ist vis Sie ist offenbar die Causa prima etwa Anziehung, die bloße Causa
essentialis?
(vgl. 2.2.3.), nicht nur äußere Kraft, secunda
ist. In der Vis essentialis liegt
das Fundament aller äußern Relationen. Auf die Frage nach dem Fundament der äußeren Relationen werden in der Metaphysik zu Kants Zeiten zwei Antworten gegeben: die Theorie der praestabilierten Influxus
physiaus.
Harmonie
und diejenige des
Kant verwirft die Influxus-Theorie, weil sie keine Ant-
wort auf die Frage nach dem Fundament der realen Relation gibt, die da
13
14 15
Man wird hier an Leibniz' These von der Individualität der Akzidenzen erinnert. Diese These, daß Akzidenzen nie allgemein sind, sondern immer nur einer individuellen Substanz zukommen, spricht Leibniz (GP IV, S. 364) aus: "accidens autem non tantum aliqua substantia indiget generaliter, sed etiam hac sua cui semel inest", vgl. auch GP II, S. 486 und 2.1.4.2. "respectus substantiae erga accidens quatenus rationem interne sufficientem ejus in se continet, est vis" (Mp. Herder, S. 27). Auch in der KrV ist die Substantia phaenomenon "Inbegriff von lauter Relationen" (B 322).
Das Wesen als Relationsgefüge
163
lautet: Wie ist es zu verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes ist? Denn es wird in ihr kein Grund für die Verknüpfung der Substanzen angegeben w e r d e n . 1 6 Auf der Suche nach dem Fundament der äußeren Beziehungen, das die Influxus-Theorie nicht erklärt, bietet sich der Realnexus aller Substanzen 1 7 an, der ein von Gott gewollter ist. Das ist nun aber nichts 18 anderes als die These von der praestabi1 ierten Harmonie.
Das Fundament der
akzidentellen Relationen liegt also in der gedoppelten Kraft: in der äußeren und in der innern, welche letztere im Realnexus der Substanzen begrün, t . t 19 det ist. Diese metaphysischen Versuche, die realen Relationen in Kräften zu fundieren, sollen nicht weiter verfolgt werden. Sie spielen noch in der Dissertatio eine entscheidende Rolle bis zur Einsicht in die Subjektivität des Mundus intelligibilis. Sie sollen bloß dokumentieren, wie Kant seine Frage nach dem Wie verstanden haben will: die Substanzontologie, die jedem Ding seinen Grund in sich selbst gibt, wird verlassen.
16
'Vir wollen concipiren, daß schlechthin eine Kraft von der andern leidet, ohne eigne Kraft und also ohne harmonie, so heißt das influxus physicus oder realis.Man denkt gemeiniglich: gebt mir viele Dinge, ich will etwaz in dem einen, und es soll etwaz in dem andern folgen. Allein waz erklärt diesen nexus? Da stets eine Kraft zu leiden erfodert wird, so ist dieser Einfluß unmöglich" (Mp. Herder, S. 53). Gemäß dem dritten Newtonschen A x i o m (actio = reactio) muß die Leidekraft (Trägheit) zur Erklärung des Gegenverhältnisses beigezogen werden. Diese Leidekraft ist eine innere Kraft, die folglich die innern Verhältnisse ausmacht.
17
"Im Universo ist keine Wirkung ohne Gegenwirkung : denn alle Substanzen stehen in nexu reali" (Mp. Herder, S. 45). "Wenn 2 Substanzen in einander wirken, so muß also nothwendig A und Β von C abhangen, sonst könnte nichts aus A in Β folgen in der Exsistenz: daraus aber, daß ihre Exsistenz von einem dritten abhangt: folgt noch nicht, daß sie in nexu seyn müssen: ihre Verknüpfung erfodert noch einem besondern Grund: noch eine besondere Handlung des Schöpfers, da er sie verband" (Mp. Herder, S. 51). - Die Präferenz der Theorie der prästabilierten Harmonie gegenüber der influxionistischen, die Kant von seinem Lehrer Knutzen hörte, erstaunt nicht, denn der Einfluß Leibniz' in dieser Zeit ist sehr groß, sowohl was Rezeption, wie Auseinandersetzung anlangt. Vgl. die differenzierenden Ausführungen zur Influxus-Theorie in R 3806.
18
19
"Es inhaeriert also das Accidens durch eigene Kraft, die den zureichenden inneren Grund desselben enthält doch auch durch fremde Kraft, als durch einen äussern Grund der Inhärenz, ohne die es nicht inhäriert hätte" (Mp. Herder, S. 52).
Die Problematik der Relation
164
Das gründende Was eines Seienden wird aufgelöst in ein Substantiale, das Fundament von Relationen ist und selbst in einem Realnexus gründet. Die Akzidenzen haben bloß als Relate
solcher fundierenden
Inhärenzrelationen
Bedeutung. Sie werden zu Arten des Existierens in einem Kräftesystem. Der Ansatz der Frage nach dem Wie geht also einerseits auf die modale Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Existenz, das Dasein, ist keine Determination, es liegt dieser schon voraus als absolute Position gegenüber der respectiven der Akzidenzen. Andrerseits geht sie gleichzeitig auf 20 die Art zu existieren
, und das heißt auf die Determinationen, die nur
relativ bestimmen. Die Frage nach dem Setzen von etwas mit seinen Bestimmungen ist eine erkenntnistheoretische (vgl. 2.2.3.). Das Wie wird dabei negativ bestimmt durch die Nichtsetzbarkeit durch Identität (2.2.2.), positiv durch den einfachen Begriff der Kraft (2.2.3.). Weder das Dasein noch die relativen Determinationen können durch Urteile ausgedrückt wer21 den.
Antwort auf das Wie des Setzens von Determinationen gibt allein ein
wahrer Begriff.
2.2.2. Logische versus reale oder symmetrische versus asymmetrische Relationen
Alle Veränderungen sind Bewegungsakzidenzen und, als solche, Folgen der Kraft-Relationen der Substanzen. Kants These ist nun, daß solche nicht durch Urteile ausgedrückt
Relationen
werden können, das bedeutet aber in der
Urteilstheorie dieser Zeit nicht durch die Beziehungen der Identität und Diversität. Den einen Grund, der in der Unterscheidung von Determination und Prädikat liegt, haben wir schon in 2.2.1. darzustellen versucht. Ein weiterer Grund liegt in Kants Einsicht, daß die realen Kraftrelationen formaliter
verschieden
sind von den logischen Identitäten. Und zwar diffe-
rieren sie durch Symmetrie-Eigenschaft bzw. durch Asymmetrie. Identität (I) und Diversität (D) sind symmetrisch, d.h.
20 21
Aus der Frage nach den Arten zu existieren erwachsen die Analogien der Erfahrung (vgl. Β 227). "Wenn das Dasein kein Praedicat ist: so durch kein Urteil, folglich auch nicht bewiesen werden" (Mp. Herder, S. 936).
165
Symmetrische versus asymmetrische Relationen
a I b
b l a
a D b
-»· b D a
Die realen Kraftrelationen, z.B. die Inhaerenz, sind wesentlich Grund-FolgeBeziehungen und also solche asymmetrisch A Grund von Β
-»·
** (Β Grund von A)
Bertrand Russell machte auf Kants Einsicht in die Differenz dieser Relationsarten aufmerksam: "The first philosopher who realized its (seil, the difference of sense, die konstitutiv für die asymmetrischen Relationen ist) importance would seem to be Kant. In the Versuch, den Begriff der negativen Grösse in die Weltweisheit einzuführen (1763), we find him aware of the difference between logical opposition and the opposition between positive and negative. In the discussion Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (1768), we find a full realisation of the importance 22 of asymmetry in spatial relations ..." (Russell (1), p. 227). Russells Entdeckung der modernen mathematisch-logischen Relationstheorie und die damit verbundenen Probleme der Reihen, Zahlen und Ordnungen haben interessante philosophiehistorische Konsequenzen: So bringt er die Differenz zwischen Pluralismus und Monismus durch die Unterscheidung zwischen internal und external relations zum Ausdruck. Die Theorie der Internalität aller Relationen ("all relations are internal") führt zum Monismus (Hegel, Bradley) oder zum Monadismus (Leibniz). Entscheidend bei dieser Theorie ist, daß die Relationen in Natura rei (Relati) fundiert sind, also bloße Inhärenzen
(Prädikate) sind. Dies ist eine treffende Kennzeichnung der
substanzontologisehen Position. Russell weist nun in den Principles of Mathematics (§§ 212-16) nach, daß eine solche Position nie imstande ist, das Faktum der asymmetrischen Relationen zu erklären, geschweige denn auszudrücken. Diese systematische Aussage beweist nun, daß Kants Versuche, die Substanzontologie zu kritisieren, konsequenterweise über die Entwicklung der asymmetrischen Relationen führt. Die These, daß alle Relationen extern sind, bedeutet hingegen, daß sie nicht in der Natur ihrer Relate gründen, sondern bloßes Zusammenstellen von "bare particulars" sind. Dieser Ansatz 22 Vgl. auch die aufschlußreichen Aufsätze von L. Menzel: Menzel
(3).
(1);
(2);
166
Die Problematik der Relation
ermöglicht die Formulierung von asymmetrischen Relationen.
23
Kants These, daß die realen Relationen nicht durch Urteile ausgedrückt werden können, also asymmetrisch sind, soll nun am Kantisehen Text der NG erwiesen werden. Kant steht vor dem Problem, daß er physikalische Aussagen über reale Kraftrelationen in der Sprache der Logik, d.i. in Urteilen, nicht ausdrücken kann. Wenn, um ein Beispiel der NG (S. 171) zu gebrauchen, in einem Körper zwei Kräfte, die dem Betrag nach gleich sind, in der Richtung aber entgegengesetzt, zusammenwirken, dann heben sie sich in ihren Folgen, ¿4 der Bewegung nämlich
, auf, d.h. der Körper ist in Ruhe. Die physikalische
Aussage wird so formuliert: I
=
|F2I
und
F1 + F 2 = 0
Versucht man nun, diese Aussage in intensional-logische Grund-Folge-Beziehungen (Subjekt-Prädikat) umzuformen, so ergibt sich für die reale GrundFolge-Beziehung (Kraft) folgendes: "Körper X ist in Richtung A bewegt" und"Körper X ist in entgegengesetzter Richtung von A bewegt". Die eine Kraft hebt die Folge der andern (Bewegung in Richtung A) auf. Nun ließe sich sagen, daß die beiden Prädikate (Bewegung in Richtung ...) nicht identisch, also verschieden sind, einander aber nicht widersprechen, denn beide sind Determinationen (Akzidenzen) eines und desselben Subjekts, das durch die Konjunktion also nicht aufgehoben wird, sondern bloß in Ruhe 25 bleibt.
Kant drückt diesen Unterschied von Widerstreit und Widerspruch
oder von realer und logischer Repugnanz bzw. Opposition dadurch aus, daß im Falle der logischen Opposition das Subjekt der kontradiktorischen Prädikate ein Nihil negativum wird, also als Subjekt aufgehoben, wohingegen es im Falle der Realrepugnanz ein Cogitabile, ein Nihil privativum (Nihil repraesentabile) ist. 23
Vgl. zur w e i t e r e n Diskussion u m die Differenz von internal und external Relations Rorty (1) und Russell (3), ch. 6.
24
In seiner Erstlingsschrift sah Kant wohl, daß Bewegung (Geschwindigkeit) die Folge der Kraft (des Körpers oder eines einwirkenden) ist, sah aber in seiner rationalistischen Tendenz nicht, daß die Folge nicht als Prädikat (Merkmal) angesprochen werden kann: "... als die daraus entsprungene Kraft, welche die Geschwindigkeit AD zum Merkmal hat" (GWS, S. 83). Vgl. dieselbe Einsicht in die Schwierigkeit bei Locke (2.1.4.1).
25
167
Symmetrische versus asymmetrische Relation
Entscheidend ist, daß im Fall der Realrepugnanz die Determinationen qua Determinationen (vgl. 2.2.1.) positiv sind, also Akzidenzen, die zusammen keinen Widerspruch ergeben. Die Relation zwischen den beiden real opponierten "Prädikaten" läßt sich also nicht durch Widerspruch (logische, symmetrische Diversität im intensionalen Sinne) ausdrücken. Worauf beruht denn aber die Realrepugnanz? Kant bemerkt, daß es letztlich mathematische
Ord-
nungsrelationen sind, die die Differenz ausmachen. Ordnungsrelationen sind 26 per definitionem asymmetrisch. "Die Mathematiker bedienen sich nun der Begriffe dieser realen Entgegensetzung bei ihren Größen, und um solche anzuzeigen, bezeichnen sie dieselben mit + und -" (NG, S. 172). Um die Asymmetrie bei unserem Beispiel herauszuheben, musste man also wohl bezüglich des Verhältnisses von F^ und Fg, das eine Realrepugnanz ist, so argumentieren: "F^ = ^ 2 " oder in Worten: "F^ ist um 2 F größer
als
.
Diese Relation ist nun eindeutig asymmetrisch und beruht auf der Realrepugnanz zwischen + und -. Diese Ordnungsrelationen, die auf der Ordnung der Zahlen beruhen, sind spezifische Arten der Diversitätsrelation, die das Verhältnis der realen Akzidenzen, sofern sie auf Bewegungen, als Folgen von Kräften, reduziert werden können, strukturi eren und al so nicht in logischer (intensionaler) Sprache wiedergebbar sind. Kant bezeichnet diese realen Relationen durch 27 den Ausdruck "Gegenverhältnis". Die Grundregel der Realrepugnanz zeigt die Bedeutung dieses Ausdruckes auf: "Bei dieser Realentgegensetzung ist folgender Satz als eine Grundregel zu bemerken. Die Realrepugnanz findet nur statt, insofern zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des andern aufhebt" (NG, S. 175). Entscheidend ist also für das reale Verhältnis der Repugnanz, daß zwei dinge vorausgesetzt werden müssen, daß folglich die intensionale Einheit des Urteils (bzw. der Urteile) im Subjektsbegriff 1 · j 28 verlassen wird. 26
27 28
Eine Ordnungsrelation ist eine Relation mit folgenden Eigenschaften: sie ist irreflexiv (-i(xRx)), asymmetrisch und transitiv. Weitere U n terscheidungen innerhalb der Ordnungen sind zum Verständnis des folgenden nicht notwendig. Vgl. NG, S. 174; A A 2, S. 17-19; Mp. Herder, S. 161. Kant drückt dies auch so aus: "und die relatio also eine Bestimmung ist, die ohne ein anderes nicht verstanden w e r d e n k a n n " (Mp. Herder, S. 30). Relation meint hier im Gegensatz zu Respectus die reale R e l a tion.
Die Problematik der Relation
168
Solche Gegenverhältnisse können also nicht auf die prädikative Struktur zurückgeführt werden, und es ist ausgeschlossen, daß man "aRb" als "a ist Rb" liest. "Wobei man gleichwohl nicht aus der Acht lassen muß, daß diese Benennung (seil. "-") nicht eine besondere Art Dinge ihrer innern Beschaffenheit nach, sondern dieses Gegenverhältnis anzeige, mit gewissen andern Dingen, die durch + bezeichnet werden, in einer Entgegensetzung zusammengenommen werden" (NG, S. 174). Die negativen Größen sind keine
Prädikate,
die eine innere Beschaffenheit von Dingen anzeigen und also nicht als Rb prädizierbar; vielmehr ist die Relation (R) nur als Relation zweier 29 sohiedener Dinge in bezug auf eine Ordnung denkbar. Diese Einsichten entsprechen genau den Russellschen,
ver-
allerdings formalen
Beweisgängen, die die Unmöglichkeit der Reduktion von asymmetrischen Relationen auf Prädikationen zeigen. Was aber ist damit gewonnen? Kant durchbricht die lange, von Russell monistisch genannte Tradition, die die Relationen von den Eigenschaften der Relate her zu verstehen und sie in ihnen zu fundieren sucht. Dieser monistische Ansatz ist der substanzontologische. Kant stellt die Unmöglichkeit der Reduktion der realen Relationen auf Prädikationen heraus, die bloß bei einem oder mehrerem derselben Art ver30 bleiben, und hebt die Eigenständigkeit der Relationen hervor. Damit zeigt er zugleich, daß die Sprache der intensionalen Logik nie ausreicht bzw.
31
es a priori verunmöglicht, physikalische oder auch gewisse psychologische Aussagen zu formulieren. Die entdeckte Differenz zweier wesentlicher Klassen von Relationen, der Aquivalenzrelationen
und der
Ordnungsrelationen,
wird 1762-64 zu derjenigen zwischen logischen und realen Relationen.
Da-
durch gewinnt er ontologische Einsichten in das Wesen der Gegensätze, indem er das aristotelische Verständnis von Kontradiktion und Privation als Gegensätze von Relationen
erneuert, denen zwei Begriffe vom Nichts entspre-
chen, Nihil negativum und Nihil privativum, wobei das Nihil privativum als 29
30
31
Kant weitet diese Verwiesenheit aller realen Realationen auf eine Ordnung aus zur Einsicht (contra Leibniz), daß der Raum nicht bloß ein Relationsgefüge sein kann, sondern auf eine Ordnung angewiesen ist. Vgl. die Relationen von links, rechts und das Beispiel von der Hand in der Schrift: Vom Unterschiede der Gegenden im Räume. Die Unterscheidung der Relationen von Prädikationen ist schon von Cvusius gesehen worden, der ja die Unmöglichkeit des Ausdrückens realer Verbindungen durch logische Subordination lehrte (vgl. 2.1.4.4.). Vgl. das Beispiel von Lust und Unlust in NG, S. 180.
Die analytische Uneinsehbarkeit der realen Relationen
169
Nichts von einem Prädikat (0, Zero), das Nihil negativum als Nichts von 32 einem Subjekt verstanden wird.
2.2.3. Die analytische Uneinsehbarkeit der realen Relationen Die Rückführung der Qualitäten der Dinge auf Bewegung und Kraft, also auf Relationen, und die Freisetzung der Relationen von der prädikativen Struktur der rationalen Erkenntnis stellt mit aller Deutlichkeit vor das Problem, wie denn die realen Relationen gründen, d.h. was ihre Realität
erkennbar seien und worin sie
ausmache.
Die Unausdrückbarkeit bzw. Undenkbarkeit der realen Relationen durch Identität beruht, neben den in 2.2.2. angebenen formalen Gründen, noch auf einem eher materialen. Die Veränderungen sollen durch reale Relationen in ihrem wie erklärt werden. Sie setzen aber den Ablauf einer Zeit voraus, z.B. zwischen Grund und Folge. Könnten die realen Relationen per identitatem gedacht werden, so wären sie bzw. ihre Relate stets zugleich, was einen statischen Mundus sensibilis zur Folge hätte. "Wenn die realfolge in dem real gründe enthalten und dadurch nach der Regel der identitaet gesetzt würde, so würde sie jederzeit mit ihm zugleich seyn. Alle Veränderungen sind also nur durch das real Verhältnis der Gründe zu ihren Folgen möglich, und die logische Gründe sind also nicht durch die Schranken meiner Erkenntnis, sondern an sich selbst vom realgrunde unterschieden" (R 3719; 60-80?). Kant zieht daraus einen wichtigen erkenntnistheoretischen Schluß: War bei
32
Die Einteilung des Nichts pflegte Kant in den 60er Jahren jeweils zu Beginn der Metaphysik-Vorlesungen vorzutragen. Er verknüpfte sie mit modallogisohen Überlegungen, denn das Nihil negativum ist ja das impossibile, wohingegen das Nihil privativum durchaus Possibile ist. Vgl. die RR 3711, 3720, 3722, 3751, 3835. Kant führte diese Überlegungen auch mit Hilfe von Symbolen durch, die er bei Segner und Darjes vorgefunden hatte, nämlich +, -, x. Es sei hier noch darauf hingewiesen, daß die Wende zur extensionalen Logik eine Wende der Begriffe des Nichts mit sich brachte. Das Nihil privativum wird nun vom infiniten Prädikat, dem umfangsmäßigen Komplement des positiven Prädikates her verstanden: "Prius (seil. Nihil negativum) est respective tale (nullum eorum, quae continentur sub notione aliqua). Posterius est oppositum eorum, quae sub aliqua omnino notione continentur" (R 3896; 6668).
170
Die Problematik der Relation
Wolff etwa die vollständige Analysierbarkeit eines Termes nur durch die Schranken der sinnlichen Erkenntnis, die verworrene ist, blockiert, so löst Kant die Frage nach der Erkennbarkeit von der Differenz zwischen logischen und realen Relationen her auf. Die realen Relationen sind erkennbar, wenn auch bloß empirisch, können aber nicht analytisch ausgedrückt oder gedacht werden. Der Grund der Differenz liegt also im verschiedenen Denken der logischen und realen Beziehungen, denn die prädikative Struktur des Denkens vermag nicht, das Denken der realen Relationen zu ermöglichen. Zunächst wollen wir zeigen, daß die realen Relationen bloß empirisch erkennbar sind, um danach auf das Denken dieser Relationen durch Begriffe einzugehen. Kräfte und Bewegungen sind wohl mathematisch beschreibbar als Wie der Gegenstände. Damit ist man aber noch lange nicht zum Warum durchgedrungen. Zugang zum Warum haben wir nur auf empirischem Wege: nur durch mathematische Beschreibung des wie der Causae secundae. Dies ist Newtons methodologische These, die Kant übernimmt. Newton will die Kräfte nur mathematisch beschreiben, verzichtet aber Hypotheses non fingo - auf Hypothesen über die Causae primae. So sagt er zum Beispiel beim Versuch, verschiedene Momente an der Zentralkraft zu unterscheiden: "has vires non physice sed mathematice tantum considerando. Linde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me speciem vel modum actionis, causamve aut rationem physicam, alicubi definire; vel centris ... 33 vires vere et physice tribuere." Die Kräfte sind nicht von ihrer Wirkungsweise (Modus actionis), auch nicht von ihrem Wesen (Species) her zu betrachten, sondern einzig durch mathematische Funktionen beschreibbar. Die Unterscheidungen der Kräfte gewinnt er nur durch Induktion aus Phänomenen: "In hac philosophia proposi ti ones deducuntur ex phaenomenis, et redduntur generales per inductionem. Sic impenetrabili tas, 34 mobilitas, et impetus corporum, et leges motuum et gravitatis innotuerunt."
Diese Einsicht ist der Ur-
sprung der Kantischen Unterscheidung von analytischen und synthetischen
33
34
I. Newton: Principia mathematica philosophiae naturalis, in Opera, ed. S. Horsley, Vol. 2, London 1769, Reprint, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, Bd. 2, S. 6. Ib. Bd. 3, S. 174.
171
Die analytische Uneinsehbarkeit der realen Relationen
Urteilen. Sein immer wieder verwendetes Beispiel für synthetische Urteile: "Alle Körper sind schwer" ist in diesem Zusammenhang zu verstehen: "Gravitatis virtutem universis corporibus inesse, suspicati sunt vel finxerunt alii: primus il le et solus ex apparenti is demonstrare potuit, et speculationibus 35 egregiis firmissimum ponere fundamentum." Die Schwere qua Determination des Körpers beruht auf der Gravitationskraft, die aber nicht analytisch, nur synthetisch, d.h. aus der Erfahrung erkannt werden kann. 36 Wie Newton behauptet auch Crusius die Uneinsehbarkeit der Grundkraft. (Vgl. 2.1.4.4.)
Und auch für Kant ist es klar, daß die Kräfte der Physik,
Trägheit und Anziehung, bloß angenommene (hypothetische) sind, bei denen wir uns hüten müssen, sie als innere Natur der Dinge anzusetzen. Treffend formuliert er im Neuen Lehrbegriff: "Gleichwohl dient diese angenommene Kraft (seil, die Trägheitskraft) ungemein geschickt dazu alle Bewegungsgesetze sehr richtig und leicht daraus herzuleiten. Aber hiezu dient sie nur ebenso, wie die Newtonische Anziehungskraft aller Materie zur Erklärung der großen Bewegungen des Weltbaues, nämlich nur als das Gesetz einer durch die Erfahrung erkannten allgemeinen Erscheinung, wovon man die Ursache nicht weiß, und welche folglich man sich nicht übereilen muß, sogleich auf eine dahinzielende innere Naturkraft zu schieben" (AA 2, S. 20). Die antirationalistische These vom bloi empirischen Erkennen der realen Relationen
(Kräfte) ist methodologisch äquivalent der These, die Kant und
Crusius vertreten, daß die Ursachen nur aus den phänomenal gegebenen Wirkungen erkannt werden können. 37 "Die Realdependenz zeigt sich blos aus der Wirkung" (Mp. Herder, S.44) Denn könnte man die Gründe und die Dependenz zugleich erkennen, so gewänne man eine rationale Einsicht in das Wesen der realen Grund-Folge-Beziehung. Kant versucht sogar, das 2. Newtonsche Gesetz aus dieser These ZU beweisen: "Die Bewegung ist der Bewegenden
Kraft
propor-
tional. Beweis. Da die Kraft aus der Wirkung blos zu meßen so auch die Bewegende Kraft etc. folglich proportional" (Mp. Herder, S. 162). Anstatt 35 36 37
Ib. Bd. 2, S. XIV. Dieselbe Ansicht vertritt Eberhard, nach dessen Physik Kant las (AA 2, S. 25). Vgl. (R 3843; 64-70?): "Aus der Wirkung ist die Ursache zu erkennen und auch zu benennen, talis est notio causae qua talis, qualis oritur e notione causati."
172
Die Problematik der Relation
von Beweis zu reden, kann man wohl angemessener sagen, daß Kant zeige, welche erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Newtons Mechanik macht. Die Ursache einer Kraft ist das Substanziale, das aber nicht erkennbar ist (vgl. 2.2.4.). Diese Nichterkennbarkeit bedeutet aber, da
Kraft ein
Relationsbegriff ist, daß der Grund der Relation, das Fundament unerkennbar ist. Sie ist bloß rationale, analytische Unerkennbarkeit. Reale Relationen können also nur empirisch erkannt werden. Kant ist also Newtons Ansicht, daß die Grundverhältnisse, oder wie er 38 auch sagt: Fundamental Verhältnisse , aus den Erscheinungen bzw. aus der Erfahrung abgeleitet werden müssen. Und das bedeutet, daß die realen Verhältnisse synthetisch
erkennbar sind. So ist denn auch die Benennung mit
"reale Verhältnisse" in diesen erkenntnistheoretischen Begriindungszusammenhang eingebettet: "respectus rationis real is vel ponendi vel tollendi est syntheticus - empiricus" (R 3754, 64-66). Die realen Verhältnisse empirische, d.h. synthetische.
sind
Hier kommt der Methodenbegriff (synthetisch)
mit dem kritischen Begriff der synthetischen Urteile zusammen. Die Realverhältnisse können nicht rational, also nicht analytisch, eingesehen werden, sondern nur empirisch; sie sind deshalb, als Urteile über reale Verhältnisse, synthetisch. Daraus ist nun deutlich geworden, woher die realen Relationen ihren Namen haben: aus erkenntnistheoretisch-methodologischen Gründen. Die realen Relationen sind diejenigen Relationen, die nicht analytisch einsehbar, d.i. durch Identität und Widerspruch geregelt sind, sondern die nur empirischsynthetisch eingesehen werden können. Kant gibt damit der traditionellen Unterscheidung von Relati ones reales und rationis eine sche
erkenntnistheoreti-
Wende.
Was aber besagt nun die analytische Undenkbarkeit im Zusammenhang mit 38
Dieser Terminus taucht in der Zeit von 62-70 relativ häufig auf: "Alle solchen Urteile ... können niemals etwas mehr als Erdichtungen sein und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werte, als die in der Naturwissenschaft, welche man Hypothesen nennt, bei welchen man keine Grundkräfte ersinnt, sondern diejenige, welche man durch Erfahrung schon kennt, nur auf eine den Erscheinungen angemessene Art verbindet, und deren Möglichkeit sich also jederzeit muß beweisen lassen; dagegen im ersten Falle selbst neue Fundamentalverhältnisse von Ursache und Wirkung angenommen werden ..." (Träume, S. 371).
173
Die analytische Urieinsehbarkeit der realen Relationen der empirischen Erkennbarkeit? Analytisch undenkbar meint: nicht durch
Identität denkbar, nicht durch ein Urteil ausdrückbar. Die empirische Erkennbarkeit aber bedeutet nicht das Ausschalten des Denkens, denn der stand
denkt
auch eine reale Relation.
Ver-
Er kann beispielsweise Verhältnisbe-
griffe analytisch auflösen bis zu unauflösbaren einfachen, die aber qua Begriffe dennoch gedacht werden. "Denn in den Verhältnissen der Ursache und Wirkung, der Substanz und Handlung dient anfänglich die Philosophie dazu, die verwickelte Erscheinungen aufzulösen und solche auf einfachere Vorstellungen zu bringen. Ist man aber endlich zu den Grundverhältnissen gelangt, so hat das Geschäft der Philosophie ein Ende, und wie etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Er39 fahrung genommen werden" (Träume, S. 370). hältnisse? Wie denken
Was aber sind diese Grundver-
wir, wenn nicht analytisch, die Realverhältnisse,
die auf Kräften beruhen? Wir denken sie als Grund-Folge-Beziehungen:
"Wer
einen Grund denkt, der denkt auch die Folge und umgekehrt: es ist ein Begriff vom respectus. Da kein einfacherer respectus kan gecfacht werden, so ist der Begriff desselben auch unerklärlich. Man kan indessen doch durch ein Urtheil verhindern, daß Grund und folgen nicht als gäntzlich ei neriey angesehen werden: so daß es heißt: posita ratione ponitur aliud; sive: 40 ratio et rationatum sunt diversa" (R 3752; 64-66). Die Konsequenzen aus der analytischen Unerkennbarkeit der realen Relationen, die nicht mit der Einfachheit des Fundamental Verhältnisbegriffes verwechselt werden darf, können nur per negationem gezogen werden. Grund und Folge sind nicht durch Identität denkbar, also sind sie divers. Die Nicht39
40
"Die logische Verknüpfung und Wiederstreit können analytisch erkannt werden und also rational, die reale nicht anders als empirisch" (R 3756; 64-66). In der R 3755 (64-66) gibt Kant dieser Aussage die kritisch anmutende Formulierung: "Die Möglichkeit einer Realverknüpfung in primitiven Gründen kan nicht rational eingesehen werden." Vgl. auch den Brief an Mendelssohn vom 8.4.66 ( M I O , S. 72). In der KrV noch ist der Verstandesbegriff von einem Verhältnis ein Grund-Folge-Verhältnis: "Ebenso kann man die Verhältnisse der Dinge in abstracto, wenn man es mit bloßen Begriffen anfängt, wohl nicht anders denken, als daß eines die Ursache von Bestimmungen in dem andern sei; denn das ist unser Verstandesbegriff von Verhältnissen selbst" (B 341 f.). Schon Wolff dachte die Relation als Dependenz (vgl. 2.1.4.3.).
Die Problematik der Relation
174
ausdrückbarkeit durch Identität bedeutet zudem, daß die reale Grund-FolgeBeziehung nicht eine logische Notwendigkeit
ausdrückt, daß also reale Not-
wendigkeit^ und logische durchaus voneinander geschieden werden m ü s s e n . ^ Damit sind die Implikationen aus der Nichtidentität der realen Grund-FolgeBeziehung wie aller darauf aufbauender realen synthetischen Relationen gezogen. Kant stellt nun die geniale Frage nach der positiven Denkbarkeit: "Was nun diesen Realgrund und dessen Beziehung auf die Folge anlangt, so stellt sich meine Frage in dieser einfachen Gestalt dar: wie soll ich es verste43 hen, daß, weil etwa ist, etwas anders sei?"
(NG, S. 202).
Kant will sich
nicht durch bloße Begriffe abspeisen lassen: "Ich lasse mich auch durch die Wörter Ursache und Wirkung, Kraft und Handlung nicht abspeisen. Denn wenn ich etwas schon als eine Ursache wovon ansehe, oder ihr den Begriff einer Kraft beilege, so habe ich in ihr schon 44 die Beziehung des Realgrundes zu der Folge gedacht ..." (NG, S. 203). schon das Denken 41
42
43
44
Diese Begriffe setzen denn immer
der Grund-Folge-Beziehung voraus.
Den Begriff der realen Notwendigkeit gewinnt Kant aus der seit der ND anhaltenden Reflexion auf den ontologischen Gottesbeweis. Vgl. etwa Mp. Herder, S. 131. Die These, daß alle Relationen intern sind, also bloße Prädikate von Substanzen, ableitbar aus dem Wesen derselben, impliziert die Identität von logischer Notwendigkeit und realer: die Kausalität muß als logisch notwendig angesehen werden. Vgl. Rorty (1), p. 128. Diese Frage, und damit auch Kants Antwortversuch wurde schon von seinen Zeitgenossen als Schlüsselfrage für seine metaphysische Theorie verstanden, etwa von Mendelssohn, der in seiner Rezension der NG schreibt: "Aber es ist gerade eine der tiefsinnigsten, die jemals gethan worden ist. Wer sie richtig beantwortet, wird der Schöpfer einer neuen und vollständigen Metaphysik seyn, als wir sie noch haben." Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 9. May 1765, S. 174. Aber auch die modernen Kantinterpreten heben die Bedeutung dieser Stelle hervor. So Adickes in: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Kantischp.n Erkenntnistheorie, Kant-Studien 1895, S. 80, und Vleeschauwer: The development of Kantian thought, London 1962, p. 92. Vgl. auch dieselbe Frage bezüglich des Wesens der Realopposition: "Man versuche nun, ob man die Realentgegensetzung überhaupt erklären und deutlich könne zu erkennen geben, wie darum, weil etwas ist, etwas anders aufgehoben werde, und ob man etwas mehr sagen könne, als was ich davon sagte, nämlich lediglich daß es nicht durch den Satz des Widerspruchs geschehe" (NG, S. 203). Dies ist im Prinzip eine Wiederholung der Kritik an Wolff und Baumgarten, die meinen, man hätte den Begriff des Grundes erklärt, wenn man ihn durch das Wort "cur" definiert. Kant wies schon in der ND auf
Die analytische Uneinsehbarkeit der realen Relationen
175
Allein was fragt denn diese Frage? Berücksichtigt man, daß jede reale Relation eine Grund-Folge-Beziehung ist, so fragt sie nach dem Wesen jeder realen Relation. Zugleich fragt sie, worauf denn die synthetischen
Relatio-
nen beruhen. Nicht auf Wahrnehmung oder Erfahrung, denn diese zeichnet sie Uberhaupt als synthetische aus. Und schließlich fragt sie, wie wir die Relationen
denken und das meint, wie ist das Wie, also die Art des
Setzens
eines solchen Respectus zu denken? Die Antwort lautet: "Aus demselben (seil, dem zu erwartenden Resultat) findet sich, daß die Beziehung eines Realgrundes auf etwas, das dadurch gesetzt oder aufgehoben wird, gar nicht durch ein Urteil, sondern bloß durch einen Begriff könne ausgedrückt werden, den man wohl durch Auflösung zu einfacheren Begriffen von Realgründen bringen kann, so doch, daß zuletzt alle unsere Erkenntnisse von dieser Beziehung sich in einfachen und unauflöslichen Begriffen der Realgründe endigen, deren Verhältnis zur Folge 45 gar nicht kann deutlich gemacht werden" (NG, S. 204). Wir denken sie also durch einen Begriff, und zwar durch einen wahren:
"Wie aber etwas aus
etwas anderem, aber nicht nach der Regel der Identität fließe, das ist etwas, welches ich mir gerne möchte deutlich machen lassen. Ich nenne die erstere Art eines Grundes den logischen Grund, weil seine Beziehung auf die Folge logisch, nämlich deutlich nach der Regel der Identität, kann eingesehen werden, den Grund aber der zweiten Art nenne ich Realgrund, weil diese Beziehung wohl zu meinen wahren Begriffen gehört, aber die Art derselben auf keinerlei Weise kann beurteilt werden" (NG, S. 202). Damit fragt Kant, worauf denn die empirische Synthesis der realen Relationen beruhe, und zwar nicht als empirisch wahrgenommene Abfolge, sondern diesen Mangel hin: "Illustris Wolffii definitio, quippe insigni nota laborans, hic mihi emendatione egere visa est. Définit enim rationem per id, unde intelligi potest, cur aliquid potius sit, quam non sit. Ubi haud dubie definitum immiseuit definitioni. Etenim quantumvis vocula cur satis videatur communi intelligentiae accomodata, ut in definitione sumi posse censenda sit, tarnen, tacite implicat iterum notionem rationis. Si enim recte excusseris, reperies idem, quod quam ob rationem, significare" (ND, S. 393. Vgl. auch Mp. Herder, S. 11). 45 Vgl. dazu R 3755 (64-66) und Mp. Herder, S. 24:"Eine jede Bestimmung der Dinge aber, die einen Realgrund heischt, wird durch waz anders gesezt, und der nexus eines Realgrundes mit der Realfolge wird also nicht aus der Regel der Identität eingesehen, kan auch nicht durch ein Urteil ausgedrükt werden, sondern ist ein simpler Begrif."
Die Problematik der Relation
176
auf welchem Verstandesbegriff
- um diesen Ausdruck antizipierend zu ge-
brauchen - das Denken dieser Relation beruht. Die Frage lautet ja auch: "Wie ist es zu verstehen" und nicht: "Wie erfahren wir". Kant stellt also bereits hier die Frage nach der wahren Synthesis oder nach dem apriorischen, nichtanalytischen Denken, ohne allerdings bereits einen Begriff vom A priori einerseits und anderseits einen klaren Begriff vom Anteil des Verstandes an der Art des Setzens zu haben.
2.2.4. Die Realität der Relationen 1762-66
Kants Ausgangspunkt in der Frage nach der Realität, der Wirklichkeit, im Gegensatz zur bloßen Möglichkeit, ist der mechanistische Ansatz mit der kategorial analytischen Reduktion phänomenaler Qualitäten auf Relation. Die Frage nach der Realität wird deshalb zu einer Frage nach der Realität Relationen.
der
Was macht die Relationen zu realen? Als negatives Kriterium
führt Kant die analytische Undenkbarkeit an (2.2.2.), und, daraus folgend, die bloß empirische Erkennbarkeit der realen Relationen, die aber nichtsdestoweniger durch wahre Begriffe gedacht werden (2.2.3.). Was ergibt sich daraus aber für die von Duns Sootus aufgestellten Erfordernisse an eine reale Relation? (Vgl. 2.1.1.) Die Abkehr vom substanzontologisehen Ansatz wird sich in der veränderten Interpretation dieser Kriterien manifestieren. Daß dabei die Kriterien als solche beibehalten sind, weist nicht auf die Selbigkeit des Ansatzes hin, sondern bloß auf die Selbigkeit des Begriffs der realen Relation. Das eine Kriterium, das eine Distinctio realis zwischen den Relaten fordert, ist bei Kant erfüllt: "respectus est vel logicus: der Begriffe (der identitaet) oder realis: der Sachen (realiter diversi)" (R 3753; 64-66). Der einfache Begriff der realen Beziehung ist der von Grund und Folge, die aber nicht durch Identität gedacht werden, also nicht als dasselbe. Darin liegt die Realdistinktion der Relate begründet: "Man kan indessen doch durch ein Urtheil verhindern, daß Grund und folgen nicht als gäntzlich einerley angesehen werden: so daß es heißt: posita ratione ponitur aliud; 46 sive: ratio et rationatum sunt diversa" (R 3752, 64-66). Die reale Relation ist Relation zwischen mindestens zwei Dingen, wie dies die Grundregel
Die Realität der Relationen 1762-66
177
des Gegenverhältnisses forderte. (Vgl. 2.2.2.) Diese Gegenverhältnisse zwischen Realdistinkten sind aber bloß äußere Relationen, denn die Relate müssen sich räumlich unterscheiden: "relata sunt extra se posita, realiter connexa" (Mp. Herder, S. 37). So ist die Realdistinktion Diversität zwischen Akzidenzen, d.h. Arten zu existieren, die selbst wohl Realitäten sind
47
, nicht schon Distinctio zwischen Substanzen.
Die Frage nach der Realdistinktion läßt sich vertiefen, wenn man nach dem Fundamentum relationis fragt, das das zweite saotistisohe Kriterium für reale Relationen fordert. Die Relate der äußern Relationen sind Akzidenzen, deren Grund im Substanziale, der Kraft liegt, das als solche aber nicht Substanz, sondern Relation ist. Die Frage nach dem Fundament der äußeren Relationen wird also durch diejenige nach dem Fundament der inneren, der Inhärenz, angemessen gestellt. Der Grund nun, das Fundament der Relationen kann nicht in den Relaten liegen. Kant drückt diese Wolff-Kritik wie folgt aus: "Kein Ding hat in sich seinen Grund. Ein Grund ist quo posito, ponitur aliud. Grund und Folge müssen also alia seyn - Denn wären sie aber dasselbe. Folglich hat kein Ding den Grund in sich" (Mp. Herder, S. 13). Das Fundament der Relationen der Akzidenzen liegt also nicht in den Relaten, im Falle äußerer Relationen nicht in den einzelnen Akzidenzen, weil diese, selbst wenn sie den Grund für ein Gegenverhältnis abgeben würden, selbst ihren Grund nicht in sich haben könnten, da sie ja bloße Inhärenzen sind. Im Falle der innern Relation (Inhärenz) aber, liegt der Grund im Substanziale:
"Das substantiale enthält den ersten Realgrund aller inhaer-
ierenden Accidentien
es ist keine
sondern hat Kraft: diesen ersten Real-
grund können wir nie einsehen" (Mp. Herder, S. 25). Das Substanziale, dasjenige in der Substanz also, aufgrund dessen die Akzidenzen inhärieren, ist
46
47
Diese Bestimmung des Grundes (posita ratione ponitur aliud) findet man noch beim kritischen Kant im Brief an Reinhold (AAll,S.35). Vgl. auch Mp. Herder, S. 11. Zum 'aliud' vgl. Mp. Herder, S. 102: "Da ich nie die Beziehung zwischen Realgrund und Folge begreifen kann, weil sie an sich ganz divers sind ..." "Alle Determinationen sind entweder Realitäten oder Negationen" (Mp. Herder, S. 14). Akzidenzen aber sind positive Determinationen, also Realitäten und als solche A r t e n zu existieren.
178
Die Problematik der Relation
nicht Kraft, Relation der Inhärenz selbst - weil Relationen keine Prädikate sind (vgl. 2.2.2.) -, sondern hat Kraft, was bedeutet, daß es Grund für Kräfte ist, die die relationalen Akzidenzen bestimmen, daß es sozusagen relative Anlage der Substanz als Moment des realen Konnexes aller Substanzen (vgl. 2.2.1.) ist, die die akzidentellen Relationen ermöglicht. Das Substanziale ist das Wie des realen Wesens, und als Fundament der realen Relation realdistinkt von den Relaten. Die zweite scotistisehe Forderung ist also bloß insofern erfüllt, als die Relate qua Realitäten auf ihren Grund im allerdings unerkennbaren Substanziale verweisen, das aber Relation ist. Das Fundamentum relationis liegt nicht in einer Substanz wie bei Scotus, sondern in einer Relation. Kant stellt die erkenntnistheoretisch motivierte These von der Externalität der realen äußeren Verhältnisse auf. Sie sind Verhältnisse zwischen Dingen, deren Fundament in Natura relatorum nicht erkannt werden kann. "Wir kennen ein jedes Ding der Welt nur als Ursache, an der Ursache aber nur die caussalitaet der Wirkung, also nur die Wirkungen, und also nicht das Ding selbst und dessen Bestimmungen, wodurch es die Wirkung hervorbringt" (R 3843; 64-70?). Das Ding selbst und seine Bestimmungen, die Natura rei beruhen auf dem relativen Substanziale, das Kraft hat und Realgrund der Inhärenz und der äußeren Beziehungen ist. Allein der ganze metaphysische Versuch (vgl. 2.2.1.), die äußeren Relationen in Inhärenzverhältnissen, in Kraft (Substanziale) zu gründen, zeigt noch gewisse Relikte der Substanzontologie, denn die Inhärenz ist ja trotz 48 allem Relation zwischen Substanz und Akzidens. Dies Verhaftetsein in der Substanzontologie läßt sich noch in der Konzeption der essentialen Relationen des Mundus intelligibilis (vgl. 2.3.2.) der Dissertatio beobachten und verhindert, daß Kant die Frage nach der Realität der Relationen kritisch als Frage nach dem Sein des Zwischen bzw. nach der objektiven Gültigkeit schon stellen kann. Kant ist aber bereits der Unterscheidung von Ding 49 an sich und Erscheinung auf der Spur. 48
49
"Der respectus einer Substanz zu seinem accidente inhaerente ist der Realgrund, oder Kraft: folglich sind die Gründe der Inhaerenz: R e a l gründe" (Mp. Herder, S. 25). Der Phänomenalismus ergibt sich in einem gewissen Sinne schon aus Newtons methodologischem Ansatz. Veränderungen sind Phänomene, das sah
Die Realität der Relationen 1762-66
179
Die Relationen, die synthetisch-empirisch erkennbar sind, haben also ein unerkennbares Fundament im Substanziale. Diese realen Relationen sind allerdings denkbar durch wahre Begriffe. Das führt uns zur dritten saotistisohen Forderung3 daß die realen Relationen unabhängig von vergleichenden Denkakten bestehen müssen. Diese Forderung ist in der Tat bei Kant erfüllt, denn gerade durch Urteile (Vergleichungen) können Relationen nicht gedacht werden, wohl aber durch Begriffe. Der Anteil des Verstandes in diesen wahren Relationsbegriffen aber ist das große Problem, das aus diesem Ansatz der realen Relationen resultiert, das Kant aber schon als Problem erfaßt und formuliert.
Kant schon in der 1758 erschienenen Schrift: "Neuer Lehrbegriff v o n der Ruhe und Bewegung", eine Schrift, die sich mit Newtons Scholium g e n e rale und den Begriffen der relativen Ruhe und Bewegung auseinandersetzt: "da das Phänomen der Veränderung nichts anderes zu erkennen gibt, als daß beide (seil. Körper) einander genähert werden ..." (AA 2,S.19). Daß im Substanziale tatsächlich eine Frühfassung des Ding sich zu sehen ist, beweist R 5292 (76-89?): "Das substantiale ist das Ding an sich selbst und unbekant."
2.3. Form und Ordnung
Kants Trennung von logischen und realen Relationen und der Versuch, beide im Wie ihres respektiven Setzens, in ihrem Referieren zu bestimmen, führt zu einem gegenüber der Tradition neuen Relationsbegriff. Die logischen
Re-
lationen beruhen auf einem Akt des Vergleichens, einer Art (Wie) des Setzens, der der fundamentalste Denkakt ist. Das Denken als respektive Position kann so vom Wahrnehmen als absolute Position unterschieden werden. Denken ist also - und dies ist bereits ein eminent kritischer Gedanke Beziehen. Dabei stellt sich nun die Frage, was denn die Relationen in ihrer Struktur fundiert, wenn sie metaphysisch auf einem Denkakt beruhen. Was macht denn ihr Zwischensein
aus? Dieses Zwischensein bestimmt Kant als
Art des Verbindens, als Form. Die Form ist durch Prinzipien geregelt, die logische Form nämlich durch die Principia formalia (Satz vom Widerspruch, Satz der Identität), die also zugleich alle Handlungen des Denkens und die Respectus logici regeln. Die logischen Relationen beruhen also nicht auf Relaten, die Begriffe sind, wie das in der analytischen Logik der Fall ist, wo das Urteil als bloßes Deutlichmachen der Begriffe verstanden wird. Sie beruhen vielmehr gesetzlich auf dem Zwischen, auf der Form, auf der Art des Verbindens. Das ist bereits der kritische Gedanke, daß das Wesentliche der Urteile das Bindewörtchen sei. Dieser Begriff des Respectus logicus als Zwischen, das durch Principia formalia geregelt ist, mag denn auch dazu beigetragen haben, Kant von der intensionalen Logik wegzuführen hin zu einer extensionalen Logik, deren Grundbegriff, der des Allgemeinen, schon ein relativer ist. Ganz analog kommt Kant bei den realen Relationen
zu einer Auszeichnung
des Zwischen, das auf einem Actus mentis, auf einem wie des Setzens, ruht. Um das relationstheoretische
be-
Dilemma aufzuzeigen, das sich aus Kants
Entdeckungen 1762 ergab, erinnern wir kurz an die beiden hauptsächlichsten Positionen bezüglich des Fundamentes der Relationen. Die substanzontologische Position fundiert die Relationen in dem Ausgangsrelat, im Terminus a
181
Form und Ordnung
quo, in dem sie ist (inesse). Kants Substanzkritik zeigte die Unerkennbarkeit des realen Wesens der Relate einerseits, andererseits aber ist das reale Wesen selbst ein Gefüge von realen Relationen (z.B. Inhärenzen), so daß also die Relation gar nicht im Relat fundiert werden kann. Vielmehr zeigt sich gerade das Umgekehrte: die Relate werden durch die Relationen definiert. Dies ist die eigentliche Wende, die der sogenannten Kopernikanischen vorausgeht. Doch darauf werden wir in 3.2.2. eingehen. Die andere, spezifisch neuzeitliche relationstheoretische Position fundiert die realen Relationen im vergleichenden Verstände. Kant weist auch diese Position als unhaltbar aus, da die realen Relationen ja nicht symmetrisch sind, eo ipso nicht durch Identität und Widerspruch ausdrückbar bzw. denkbar, also nie auf Vergieichungen beruhen können. Dagegen setzt Kant, daß die Relationen als "Zwischen" verstanden werden müssen und in einer Actio mentis
fundiert sind. Dieses Zwischen wird bei
den Real Verhältnissen durch wahre Verhältnisbegriffe der Relation
und die Form der agierenden
Vernunft
gedacht, die die Form
sind. Die Vernunft ent-
hält so lauter "respectivae notiones". War die Form im Rationalismus noch die Essentia, so wird sie nun unter Kants Substanzkritik transformiert zum Modus aompositionis,
zur Art und Weise des Verbindens der Vernunft im wei-
ten Sinne. Form als Modus compositionis bestimmt also die Verhältnisse und ist selbst bestimmt durch die Tätigkeit der Vernunft. Die Tätigkeit der Vernunft bringt Relate zusammen, d.h. ordnet etwas einem anderen zu, wodurch sie gerichtete Tätigkeit ist, die auf einer Ordnung
beruht. Die Ver-
nunft im weiten Sinne, also das tätige Subjekt, bestimmt nun durch ihre Handlungen die Arten, respective zu setzen, die selbst als Gesetze verstanden werden können, und die insofern auf einer Ordnung beruhen, als sie in einem gewissen Rahmen Stellen auszeichnen müssen, an die respective gesetzt werden kann. Die Art und Weise des respektiven Setzens ist die Form, die zum Gesetz wird. Kant unterscheidet nun zwei verschiedene Formen, die je auf verschiedener Ordnung beruhen: Koordination
und Subordination,
wobei das erste die Form
der Sinnlichkeit, das letztere die Form des Verstandes ist. Wenn die Form die Relationen bestimmt, dann läßt sich aus den Gesetzen (Form) auf gewisse Verhältnisse schließen und umgekehrt, so daß Kant je nach Principia formalia verschiedene Relationen unterscheiden kann. Diese Gedanken der zweiten Hälf-
182
Die Problematik der Relation
te der 60er Jahre stellen wir in den Abschnitten 2.3.1. und 2.3.2. dar. Sie betreffen Kants Entwicklung von etwa 1766 bis und mit Dissertatio (1770). Unbestimmt bleibt in der Dissertatio, im Gegensatz zur sinnlichen Form (Koordination), die Form des Usus realis intellectus. In 2.3.3. zeigen wir, wie Kant für die Subordination in den Jahren 1770-1773 Formen und Gesetze des Verstandes sucht. Die Formen nennt er Kategorien.
Sie sind
bestimmte Arten des Setzens, d.h. Weisen der Handlung des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Kant versucht, diese Formen als Fundament für die realen Relationen auszuzeichnen, stößt dabei aber auf die Schwierigkeit der transzendentalen
Deduktion'. Wie können die bloß subjektiven Formen des Ver-
standes (Kategorien) objektive Gültigkeit haben, d.h. Fundamente für reale Relationen sein? Gleichzeitig gelingt ihm für die Suche nach der Ordnung des Verstandes ein entscheidender Schritt: die Korrespondenz
von Urteilsarten
und
Katego-
rien aufzuweisen, die ja eigentlich Arten des absoluten und respektiven Setzens, also Bestimmens und eo ipso Prädizierens sind. Diese Korrespondenz nahm ihren Ausgang beim Aufsuchen der Actus mentis, die die reale Relation fundieren. Die Kategorien werden zunächst noch am Leitfaden der Form als Koordination und Subordination bestimmt. Kant bemerkt aber bald, daß diese Differenz unpräzis ist und Sinnlichkeit und Verstand vermengt.
2.3.1. Form und Beziehen Die Konzeption des Urteils 1762 beinhaltet folgende Momente: das Urteilen ist der Grundakt des logischen Denkens.1 Das urteilende Denken ist im Ge2 satz zum wahrnehmenden Setzen respektives Setzen, also Beziehen. Das ur1
2
"Eben so leicht fällt es auch in die Augen, daß Verstand und Vernunft, d.i. das Vermögen, deutlich zu erkennen und dasjenige, Vernunftschlüsse zu machen, keine verschiedenen Grundfähigkeiten seien. Beide bestehen im Vermögen zu urteilen; wenn man aber mittelbar urteilt, so schließt man" (FS, S. 59). Kant setzt also ein oberes Erkenntnisvermögen an, das Vermögen zu urteilen, ganz dem Duktus dieser Schrift gemäß, die ja die logische Priorität des Urteils gegenüber dem Begriff einerseits und dem Schluß andererseits behauptet und denn auch konsequent mit einer Definition des Urteils einsetzt (vgl. 1.3.1.1.). "Nun kann etwas als blos beziehungsweise gesetzt, oder besser blos die Beziehung (respectus logicus) von etwas als einem Merkmal zu einem Dinge
183
Form und Beziehen
teilende Beziehen ist eine Handlung des vergleichenden Denkens. Faßt man die Urteile als Respectus logici auf, so ist die Handlung des Denkens konstitutiv dafür. Die logischen Verhältnisse haben so ihren Grund in Denkakten. Verhältnis und Akt haben zusammen eine Form:
die Art des Verglei-
chens (vgl. 1.4.2.). Der Begriff der Form definiert sich also - zumindest im logischen Bereich - aus dem Akt des Denkens und dem dadurch gesetzten Verhältnis. Wir haben schon angedeutet, was für Konsequenzen Kants Substanzkritik für den Wesensbegriff hatte. Das logische Wesen, oft auch "forma" genannt, wird zu einem Inbegriff von logischen Respectus; Analoges gilt für das reale Wesen. Was aber ist dort die Form der Respectus? Wenn wir nun auf Kants Formbegriff näher eingehen, um danach Aussagen über die Konzeption der Vernunft, als des beziehenden Subjekts zu machen, so ist es zweckmäßig,
zunächst einmal den rationalistischen
Formbegriff
und an ihm Kants Revision desselben darzustellen. Wolff
definiert die Form in Anlehnung an die scholastischen Sätze "forma 3
dat esse rei" und "forma est differentia specifica"
im § 944 seiner Onto-
logie: "Determi nati ones essentiales sunt id, quod Forma appellari
solet."
gedacht werden, und dann ist das Sein, das ist die Position dieser Beziehung, nichts als der Verbindungsbegriff in einem Urteile" (EMBG, 73). Wert auf das Beziehen, die Relation im Urteil legte schon Segner, der in seiner Logik (Specimen logicae, Jenae 1740, p. 65) vom Urteil sagt: "Iudicium est relationis, quae inter duas ideas intercedit, in mente repraesentatio." Daß Kant Segner gekannt hat, wäre an Kants Kenntnis der logischen Zeichen Segners zu belegen. Eine Stelle im Vorwort Segners, wo er gegen die Spitzfindigkeit des alten logischen Apparates polemisiert, weist zudem auf Uebereinstimmung mit Kants Bemühen in der FS hin: "Quod tarnen facere, utinam nostri contenti essent, atque utinam non ineptissimas quoque nugas, vix sano homine digna, si Diis placet, mathematica personata tanto numero induceret." Kants Unterscheidung von absoluter und respectiver Position, die man wohl als fundamental für die Kantische Erkenntnistheorie bezeichnen kann, da sie die Differenz v o n Denken (Beziehen) und Wahrnehmen (absolute Setzen) markiert, findet man auch noch in der berühmten Stelle der Kritik des ontologischen Gottesbeweises in der KrV: "Es (seil. Sein) ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst ... das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädikat obenein, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise aufs Subjekt setzt" (B 626 f.). 3
"Die Logiker nannten ehedem ... den spezifischen Unterschied ... die Form" (B 322). Kant war also mit dieser Tradition bekannt.
184
Die Problematik der Relation
Die essentialen Bestimmungen einer Res bilden die Form; wie, ob wesentlich als Complexus oder einzeln, bleibt unbestimmt. Baumgarten
entscheidet sich
für die Bestimmung der Form als Complexus, als Essentia: "complexus essentialium in possibili, seu possibilitas eius interna est essentia (... forma ...)" (Bg. Mp. § 40). Die Paragraphen über die Form werden bei Wolff unter dem Kapitel
"De causis" abgehandelt, weil Form immer als "causa formalis"
gedacht ist. "Est (seil, forma) igitur prineipium entis, a quo pendet, ut ipsum taie existât, consequenter causa entis" (Wolff, Ontol. § 947). Form ist Grund für das "tale" eines "ens" und insofern "causa entis". Es ist nun bezeichnend für Kants Loslösung vom rationalistischen Wesensbegriff (Forma), daß er die Form nicht mehr als Essentiale oder als Essentia im Wolffschen Sinne versteht, da für ihn die Essentia, als bloß logische oder unerkennbare reale, zu einem Geflecht von Relationen wird und er die Form in der verbindenden, die Relationen konstituierenden Tätigkeit der Vernunft sucht. Die Transformation von Essentia zu Verbindung können wir deutlich an einer Reflexion Kants zu Baumgartens § 226 der Metaphysik beobachten, der lautet: "Modus ergo composi tionis est interna possibilitas et compositorum essentia." Kant notiert dazu: "modus compositionis non est essentia compositi, sed compositionis. Compositio est forma. Partes materia" (R 3788; 6466). Die Form wird zum Modus
compositionis,
d.h. sie wird zur Art und Weise
des Zusammensetzens, ist also nicht das starre Gerüst des Zusammengesetz4 ten, die Essentia. Konsequenterweise kehrt nun Kant auch die Bestimmung der Forma als Causa um. Bei Wolff bestimmt die Form eines Seienden die Art und Weise seines Handelns, weil die Form der Grund alles Soseins und Verhaltens ist: "a quoque habet
4
ens, quod hoc modo agere possit"
forma
(Ontol. § 946). Kant hält
Noch in der KrV hält Kant an dieser Einsicht fest: "In jedem Wesen sind die Bestandstücke desselben (essentialia) die Materie; die Art, wie sie in einem Dinge verknüpft sind, die wesentliche Form" (B 322). Die Auslegung der Form als Art und Weise ist auch durch Baumgartens Übersetzung von "Form" im § 231 seiner Logik angezeigt: "Propositiones syllogismi sunt ejusdem materia, consequentia legitima est forma (Art und Weise zu schließen)."
185
Form und Beziehen
dagegen: "Die Materie wird iederzeit als leidend angesehen, und die Form dependirt von der Thätigkeit, imgleichen gehet alle Thätigkeit auf nichts weiter als die Form. Indessen ist die corperliche materie als substantz nach Leibnitzen eine entelechia, d.i. etwas actives. Unsere Erkenntnis ist den dati s nach bios leidend, und die form beruhet auf der selbstthatigkeit" (R 3851 i 64-69?) 5 Die Form als Modus c o m p o s i t i o n s beruht auf der Tätigkeit des Komponierens, und, da alle Tätigkeit auf die Form geht, ist letztere aus den Produkten der Actio abzulesen. Diese sind Compos i ti ones, also Relationes. Die Form ist also immer Form eines beruht.
Verhältnisses,
das auf einer Operation
So beruhen Verschiedenheiten der Verhältnisse auf Verschiedenhei-
ten der Form. "Dasjenige an der Zusammensetzung, wodurch sie sich von allem andren unterscheidet, ist modus compositionis" (R 4064; 64-70?). Die Relationen (Kompositionen) lassen sich z.B. im logischen Falle von den Prinzipien des Verbindens herleiten, die Kant denn auch principia formal ia nennt. Die Art des Vergleichens ist geregelt durch die Sätze der 5
6
Der Hinweis auf Leibniz dürfte sich kaum auf den § 18 der Monadologie beziehen, da die Monade bei Leibniz nicht als körperliche Substanz interpretiert werden kann, sondern wohl eher auf das specimen dynamicum, wo Leibniz schreibt: "ob forraam corpus omne semper agere et ob raateriam corpus omne semper pati ac resistere docemur" (GM VI, S. 237) oder: "agere est character substantiarum" (ib. S. 235). Zudem beruht die actio auf der vis activa primitiva, "quae nihil aliud est quam εντελέχυα ?1 πρώτη", (ib., S. 236). Kant setzte sich bereits in seiner Erstlingsschrift mit den zentralen Thesen Leibnizens in dessen Specimen dynamicum auseinander: "Leibniz, dem die menschliche Vernunft so viel zu verdanken hat, lehrte zuerst, daß d e m Körper eine wesentliche Kraft beiwohne, die ihm sogar noch vor der Ausdehnung zukommt. Est aliquid praeter extensionem imo extensione prius; dieses sind seine Worte" (GWS, S. 17). Das ist nun offensichtlich ein Zitat aus dem Specimen dynamicum: (GM VI, S. 235). Kants Formulierung in der Vorrede zur 2. Aufl. der KrV, daß die Wissenschaften einen sicheren Gang einschlagen im Gegensatz zum bloßen Herumtappen der Metaphysik könnte auch in einer Formulierung Leibniz' im Specimen dynamicum ihren Ursprung haben: "inoffenso pede non in Philosophia minus quam in Mathesi ... progrediatur" (ib. S. 236). Leibniz seinerseits entlehnte diese Metapher wohl Spinoza, der sie im 37. Brief (an Bouwmeester) gebraucht (Opera, ed. Gebhardt, Vol. IV, p. 187). Die These von der Korrespondenz zwischen Verhältnis und Form hat zuerst J.H. Lambert im Briefwechsel mit Kant ausgesprochen: "7°. Hinwiederum, da die Form auf lauter Verhältnisbegriffe geht, so gibt sie keine andere, als einfache Verhältnisbegriffe an" (AA 10, S. 65).
186
Die Problematik der Relation
Identität und des Widerspruchs (vgl. 1.3. und 1.4.). Fundament für die Form ist das Denken mit seinen Akten.
Diese Akte bestimmen die Data^ und
geben ihnen ihr Wesen. Das ist die Kantische Neuinterpretation des scholastischen Satzes: "forma dat esse rei". "Forma dat esse rei. nam per intellectum solummodo formam cognoscimus. Materia continet data, e quibus varia oriri possunt diversimode determinando; ideoque determinatum esse alicuius Q rei pendei a forma" (R 3852 } 64-69?).
Die Bestimmtheit einer Sache hängt
von der Form ab - dies wäre noch ganz Wolffisch. Die Form ist nun aber nicht die reale Essentia einer Res, sondern ist Form der Vernunft:
"Vor
die Vernunft sind nicht die data, sondern form das Wesentliche" (R 3848; 64-70?). So gründen die Essenzen in der Form der Vernunft, d.h. in der Art und Weise ihres Zusammensetzens. Dies kann wohl mit Fug und Recht als Beginn
der Transzendental-Philosophie
interpretiert werden. Die Arten des
Beziehens und eo ipso der Beziehung hängen also von der Vernunft ab bzw. von deren Akten. Zum Schluß dieses Abschnittes soll noch gezeigt werden, wieweit der Verstand (usus logicus et realis intellectus) Relationen konstituiert und wieweit sie bzw. ihre Form lauter "respectivae notiones" enthält. Wir sind ausgegangen vom logischen
Beziehen,
dem Vergleichen. Dieses wurde aber
noch in seiner intensionalen Fassung interpretiert. Gilt aber auch für die extensionale Logik noch die Bestimmung, daß das Urteil der primäre beziehende Akt ist? "Der Grundbegriff der logic ist der des allgemeinen, in so fern er einiges unter sich enthält oder nicht; nach diesem Verhältnisse werden Dinge gedacht, aber in demselben werden sie nicht vorgestellt. Der Begrif der Art oder gattung ist nicht gegeben, sondern ist nur das Verhältnis, wornach conceptus dabiles können verglichen werden" (R 3949;1769). Das Allgemeine
ist also ein Verhältnisbegriff,
d.h. es ist in ihm immer schon
die Beziehung verschiedener Extensionselemente zueinander gedacht. Das g Das Gedachtsein ist ab-
Allgemeine beruht aber auf einem logischen Akte. 7 8
9
Auch in der KrV geht Kant davon aus, daß die Form Bestimmung, die Materie Bestimmbares ist (B 322). Vgl. auch (R 3850; 64-69?): "forma dat esse rei. Denn das Wesentliche der Sache kan nur durch Vernunft erkannt werden; nun aber muß alle M a terie der Erkenntnis durch Sinne gegeben seyn; also ist das Wesen der Sachen, so fern sie durch Vernunft erkannt werden, die Form." In R 4632 (72-75) nennt Kant die Allgemeinheit sogar eine Handlung: "Die Allgemeinheit ist eine stetige handlung, die nachher eingetheilt werden kan."
187
Form und Beziehen
gehoben von einem bloßen Vorgestelltsein (bloße Anschauung) durch das Inbeziehungsetzen zu anderem. Was aber ist das für ein Akt? Immer noch ein vergleichender,
denn die analytische Einheit ist Einheit der Komparation,
Reflexion und Abstraktion (vgl. 1.5.2.). "Ein Merkmal ist ein Erkenntnißg r u n d . 1 0 Alle Erkenntnissgründe sind 1. äusserliche, das sind die Gründe der Vergleichung der Sache mit andern. 2. innerliche, das sind die Gründe dessen was ich an Dingen selbst erkenne" (Logik Philippi, S. 4 0 6 ) . ^
Die
Komparation, die - um jeden Irrtum auszuschließen - nicht etwa die realen Relationen konstituiert, sondern bloß die analytische Einheit und Allgemeinheit der empirischen Begriffe, ist für die extensionale Logik ein entscheidender Grundakt, denn letztere begreift den Begriff als Repraesentatio communis, also als äußerliches Merkmal.
Die innerlichen Merkmale sind
formallogisch nicht beschreibbar, hingegen transzendentallogisch. Die extensionale Logik, die nicht den komplexen Begriff in den Vordergrund stellt, sondern die Allgemeinheit, ermöglicht also ebenfalls, wie die intensionale, die Auffassung des logischen Denkens als Beziehen und nicht als Concipere einer Res. Wie verhält es sich mit der Vernunft
im engeren 12 mögen zu schließen oder mittelbar zu urteilen?
10
11
12
Sinne,
also mit dem Ver-
Das Verständnis des Merkmals als Erkenntnisgrund ist auch bei Lamberts Definition leitend: "Es giebt immer an der Sache etwas, woran wir sie erkennen, und von jeden andern Sachen unterscheiden. Und dieses wird das Merhnaal ... genannt" (Dianoiol. § 9). Die Unterteilung in innere und äußere Merkmale macht auch Lambert: "Die Merkmale, wodurch uns der Begriff einer Sache deutlich wird, sind entweder in der Sache selbst, oder wir finden sie in der Vergleichung mit andern Sachen. Erstere heißen innere Merkmaale, letztere aber äußere oder Verhältniese. Ein Verhältnisbegriff ist demnach ein solcher, w o durch ein Begriff mittelst eines andern, oder eine Sache durch eine andere kenntlich gemacht oder bestimmt wird" (Dianoiol. § 12). Lambert hält an diesen Bestimmungen auch in der Architektonik fest (§ 7) und baut daselbst seine ganze Kategorienlehre aufgrund dieser Differenz auf. Vgl. zu diesem Thema auch die RR 2276, 2283. Hinske ist der Ansicht, daß Verstand und Vernunft erst nach 1770 getrennt werden: "Ein Grund dafür mag in dem Umstand zu suchen sein, daß Kant erst nach 1770 dahin gelangt, Verstand und Vernunft als zwei eigenständige Vermögen zu unterscheiden", Hinske (1), S. 77. Man kann aber in dem Jahre 69 Reflexionen finden, die eine Trennung schon nahelegen: "Die Verhältnisse der Sinne sind Raum und Zeit, die des Verstandes: das allgemeine und besondere ... die der Vernunft: der Grund und die
Die Problematik der Relation
188
"1. Wir erkennen alles durch Urtheile, was wir nicht durch Anschauungen erkennen. 2. Alle Urtheile unserer Vernunft sind mittelbar" (R 3965; 1769). Die mittelbaren (rationalen) Urteile sind Urteile der schließenden Vernunft. Was aber bedeutet hier mittelbar? "Die Natur unserer Vernunft hat dieses Gesetz, daß sie nicht unmittelbar, sondern mittelbar die Dinge erkennet; daher sie alles, was geschieht, nur nach einem Grunde erwarten kann..." (R 3923; 1769). Die Vernunft erkennt Dinge nur im Zusammenhang m i t andern, 13 genauer, immer nur unter dem Verhältnis
des Grundes
zur Folge.
Also ist
die Vernunft im engeren Sinne ebenfalls primär ein Vermögen zu Beziehen. Wir wissen nun, daß der logische Gebrauch der Vernunft im weiten Sinne Beziehen ist. Was den realen der Vernunft als "respectivae nunft
Gebrauch notiones"
anlangt, so werden die wahren Begriffe gedeutet. Diese Begriffe
der
Ver-
sind Vorformen der Kategorien, deren Auszeichnung durch Distinktion
am Ursprünge der Erkenntnis geschieht: "Alle Menschliche Erkenntnisse lassen sich in zwey Hauptgattungen eintheilen: 1. die, so aus den Sinnen entspringen und empirisch genant werden; 2. die gar nicht durch die Sinne erworben werden, sondern ihren Grund in der bestandigen natur der Denkenden Kraft der Seele haben, und können reine Vorstellungen genant werden
..."
(R 3957; 1769). Die reinen Vorstellungen sind die Kategorien, die denkende Kraft der Seele ist hier Vernunft in einem weiten Sinne als nichtempirisches Erkenntnisvermögen. Diese Vernunft ist der Ursprungsort aller Begriffe, die nicht absolut setzenden Charakter haben, sondern bloß respective setzen: "Weil durch die Vernunft, d.i. durch die Erkenntnis, welche keine Empfindung ist, nur Begriffe entspringen, durch welche es unbestimmt
bleibt, ob
das Ding gesetzt sei oder nicht ..." (R 3975; 1769). Darum kann Kant als Fundamental these der Zeit des großen Lichtes behaupten: "Unsere Vernunft enthält nichts als relationes" (R 3969; 1769) oder in ähnlicher Formulierung mit Abgrenzung gegen die Sinnlichkeit: "Die Vernunft enthält lauter respectivae notiones; die Sinne, da sie ohne reflexion
13
Folge" (R 3970). Hinske würde wohl diese zeitliche Vordatierung nicht akzeptieren, da er grundsätzlich die Datierungen von Adickes bezweifelt. Lambert versteht die Verhältnisbegriffe als Mittelbegriffe: "Die Verhältnisse sind überhaupt Mittelbegriffe, wodurch wir von einer Sache auf eine andere schließen" (Architektonik, § 431).
189
Ordnung 14 erkennen, müssen was absolutes geben" (R 3992; 1769).
Die These, daß die
Vernunft lauter respektive Begriffe enthält, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß deren sämtliche Handlungen Beziehungen sind, wobei die logischen und reinen Begriffe die Form des Usus logicus et realis und eo ipso der logischen und realen Verhältnisse regeln. Im nächsten Abschnitt werden wir die Vernunftbegriffe und deren Zusammenhang mit den geregelten Handlungen und Realverhältnissen ausführlicher betrachten; hier ging es allein darum zu zeigen, daß Kant das Zwischen der logischen und realen Relationen in der tätigen Vernunft gründet durch die Vermittlung des Formbegriffes.
2.3.2. Ordnung Die Form erwies sich als Mittelbegriff zwischen Relation und aktivem Beziehen. Sie ist Verhältnisform und zugleich Form des Beziehens, also Art und Weise des Verbindens, Modus compositionis. Auf diese Weise macht die Form das Zwischen der Relationen aus. Die Vernunft als beziehende kann bloß auf die Form gehen, die Data und die Materie erhält sie von der Sinnlichkeit. Also gehen die reinen Begriffe der Vernunft, die deren Beziehen regeln, auf die Form. "Eben darum müssen alle reinen Begriffe blos auf die Form der Erkenntnisse gehen. Nun haben wir eine zweyfache Form der Erkenntniss: die intuitive und die rationale Form" (R 3957; 1769). Diese zwiefache Form benennt Kant mit "Koordination" und "Subordination": "Die Form des empirischen Erkenntnisses ist die der Coordination, die des rationalen Erkenntnisses ist die der subordination" (R 3958; 1769). Allein, was haben diese Formen mit Ordnung (ordinatio) zu tun? Wir wollen zunächst den rationalistischen Ordnungsbegriff bei Wolff und Baumgarten untersuchen, um die Herkunft von Kants Ordnungsbegriff aufzuzeigen und auf die Verhältnisformen von Subordination und Koordination übertragen. Dabei wird darzustellen sein, wie sich der in der Ordnung implizierte Begriff des Gesetzes
14
Vgl. (R 3940; 1769): Zu diesen rationalen Grundbegriffen gehören auch Raum und Zeit, die ja 1769 noch "notiones intellectuales" waren. Vgl.
Die Problematik der Relation
190
auf die Gliederung der Relationen
auswirkt. Der Ordnungsbegriff ist im
Rationalismus ganz zentral, denn Raum und Zeit sind definiert als Ordnun15 gen.
In der Sectio V seiner Metaphysik bestimmt Baumgarten in enger
Anlehnung an Wolff den Begriff der Ordnung, ausgehend vom Begriff der Coniunotio
(Verbindung): "Si multa iuxta vel post se invicem ponuntur,
oonjunguntur.
Coniunctio plurium vel est eadem, vel diversa. Si prior,
est coordinatici, et ejus identitas ordo" (Bg. Mp. § 78). Konjunktion ist also Zusammen-setzung in bzw. als Raum (iuxta) und Zeit (post). Ordnung wird als die Identität dieser Zusammensetzung
bestimmt. Was besagt aber
die Identität der Coniunctio des Neben- oder Nacheinandersetzens? Um dies zu verstehen, muß man die weitere Definition der Ordnung bei Wolff beiziehen. "Ordo est similitudo obvia in modo, quo res iuxta se invicem collocantur, vel se invicem consequuntur" (Wolff, Ontol. § 472). Ordo ist also bloß Similitudo, nicht notwendig schon Identitas. "Si in rebus coëxistentibus vel sibi mutuo succedentibus ordo datur: loca singulorum eodem modo determinantur" (ib., § 473). Ordnung ist als Identität bloße Bestimmtheit in bzw. als Raum und Zeit. Den Koexistierenden oder Aufeinanderfolgenden wird nämlich je ein Ort zugewiesen, d.i. deren Bestimmtheit ist identisch. "Enimvero similitudo oritur ex identitate determi nationis, hic quidem loci, qui unicuique coëxistentium vel successivorum assignatur" (ib.). Das Stellenanweisen
bringt also die Identität der Conjunctio hervor (ori-
tur). Das aber bedeutet, daß in diesem Falle das Stellenanweisen nicht die Ordnung selbst ist, vielmehr ist diese bloß das statische Produkt (Bestimmtheit) jener. Der Ausdruck "locus" wird bei Baumgarten (bei Wolff: collocari) mit "positus" wiedergegeben: "Respectus entis ex coniunctione eius cum aliis determinatus est positus
(Stelle)" (Bg. Mp. § 85).^®
Was aber bestimmt nun diese Stellen? Es sind Gesetze"ubi 15
16
17
ergo positus,
Wolff, Ontol. § 572: "Tempus adeo est ordo successivorura in serie continua." Und § 589: "Spatium esse ordinem simultaneorum, quatenus cöexistunt." Diese Definitionen sind natürlich von Leibniz übernommen. Die Ordnung wird also bei Baumgarten und Wolff spezifisch räumlich gedacht. Damit stehen sie in langer philosophischer Tradition: so definiert Cicero in De officiis (I, AO) den Ordo als "Compositio rerum aptis et accomodates locis", und auch Augustin schreibt in De civ. Dei, XIX, 13: "Parium dispariumque rerum sua cuique loca dispositio." "Propositio enuntians determinaiionem rationi conformem est norma (regula, lex)" (ib., § 83). Vgl. die identische Definition bei Wolff: Ontol. § 45.
191
Ordnung
ibi leges" (ib. § 75), denn es gilt: "ubicumque detenni nati ones, ibi leges" (§ 84). Die Einheit des Stellenanweisens der Ordnung beruht also auf Gesetzen. Jede Ordnung hat Gesetze zur Voraussetzung, d.h. die Konjunktion ist gesetzliche: "Coniunctione determinatur positus, hinc sunt in coniunctione leges" (ib. § 83). Ordnung ist also die Einheit einer Verbindung des Nebeneinanderseienden oder Aufeinanderfolgenden, die einem oder mehreren Gesetzen gehorcht. Dieses Verhältnis von bestimmendem Gesetz und bestimmter Ordnung ist es, das Kant in der Dissertatio bereits transzendentalphilosophisch
deutet,
wodurch er zu einem kritischen Begriff von Raum und Zeit kommt. Er unterscheidet zwei Ordnungsformen, die zugleich Verhältnisformen sind: tion und Subordination.
Dabei wird die Form,
Koordina-
die ja die Verhältnisse und
die Ordnung bestimmt, als Gesetz ausgewiesen. Wir wollen zunächst die Begriffe von Koordination und Subordination untersuchen, die bereits in der Entwicklung von der intensionalen zur extensionalen Logik eine bedeutende Rolle spielten (vgl. 1.5.1.). In der Sectio 18 II der Dissertatio beschreibt Kant die Form der Welt quae consistit in substanti arum coordinatione,
wie folgt:
"Forma
non subordinati one. Coordi-
nata enim se invicem respiciunt ut complementa ad totum, subordinata
ut
causatum et causa, s. generatim ut principium et principiatum. Prior relatio est reciproca et homonyma,
ita, ut quodlibet correlatum alterum re-
spiciat ut determinans, simulque ut detenninatum, posterior et
heteronyma,
nempe ab una parte nonni si dependenti a, ab altera causal i tatis" (ib. § 2). 19 20 Die Relation zwischen Koordinierten wird als reziprok und homonym be-
18
19
Bäumler (1) (S. 320) sagt zu dieser Stelle erstaunlicherweise: "Koordination bedeutet in der Dissertatio zumindest einen Wechselbegriff für 'Form'" und kommt so zum für ihn selbst ebenso erstaunlichen Resultat, daß Kant im § 16 doch auch von Form der Subordination (nämlich der Verstandeswelt) spricht. Man muß natürlich berücksichtigen, daß Kant hier nur von der Form der Welt spricht und nicht von Form schlechthin. Den Ausdruck 'reciproca' hat Kant wahrscheinlich aus Lamberts relationslogischer Terminologie entnommen, vielleicht aber auch aus der Enzyklopädie von Diderot /D'Alembert (vgl. 2.1.3.). In der Alethiologie (§ 252) unterscheidet Lambert genau wie Kant die Relationen "sich gründen auf" von "zusammenhängen" dadurch, daß die letztere reciprocirlich, die erste aber nicht ist: "Der Zusammenhang ist immer reciprocirlich, der Grund aber niemals." Daß Lambert unter reciprocirlich den in der heutigen Relationslogik bekannten Terminus 'symmetrisch' meint, belegen die fol-
Die Problematik der Relation
192
zeichnet. Das wiederum bedeutet nach der Erklärung, die Kant a n s c h l i e ß t : die Relation i s t symmetrisch, denn: "x determinai y " und "y determinat χ " , wobei das "determinare" irgendeine Relation bedeuten kann, gleichsam die Form a l l e r Relationen i s t . Dies bedeutet für das Ganze der Koordination, daß die Relationen ( i n c l . Gesetze der Ordnung) der Forderung der Symmetrie 21 genügen müssen.
So begrenzt beispielsweise ein Raum (R^) einen andern
( R 2 ) . Umgekehrt g i l t :
begrenzt R-! ( v g l . Β 439). Die Relation "begrenzen"
im Raum i s t a l s o i n d i e s e r Weise symmetrisch und eine mögliche Relation zwischen Koordinierten. Hingegen i s t die Subordination wesentlich asymmetrisch. Kant nimmt a l s o die Differenz von symmetrischen und asymmetrischen Relationen wieder a u f , die er in den NG gewonnen hatte; a l l e r d i n g s verkehrt er die Zuordnung zu logischen und realen Relationen i n einem gewissen Sinne. Die extensionale Logik i m p l i z i e r t e ein Grund-Folge-Verhältnis für U r t e i l e , a l s o eine asymmetrische U r t e i l s r e l a t i o n . Also sind nun die logischen Verhältnisse asymmetrisch, wohingegen die sinnlichen Relationen symmetrisch sind.
Inwiefern
aber die realen Relationen trotzdem asymmetrisch s i n d , wird s i c h noch z e i gen. genden Ausführungen: "Denn wenn A mit Β zusammenhängt, so hängt auch Β mit A zusammen: ... Endlich ist A auf Β oder Β auf A, aber niemals beydes aufeinander a priori gegründet." Mit welcher formalen Sicherheit Lambert die symmetrischen Relationen definiert, zeigt die Übersetzung in modernen Formalismus: ARB -»• BRA (symmetrisch) und: '"(ARB BRA) d.h. ARB & ~ BRA (asymmetrisch). 20 Hinske übersetzt "homonym" mit "gleichartig", was natürlich nicht auf der Hand liegt (vgl. Weischedels Kant-Ausgabe). Allerdings dürfte er die Kantische Meinung getroffen haben, wenn man R 3787 berücksichtigt, wo Kant die Ausdrücke "reziprok" und "homonym" durch die offenbar gleichbedeutenden "mutuus" und "homogen" wiedergibt. "Der respectus eines partis und seines complementi ad totum muß mutuus und homogeneus seyn; also kan eine Folge nicht Theil vom Grund seyn und mit dem Grunde als ein Theil zu demselben ganzen Gehören." Was den Ausdruck "mutuus" betrifft, so bezeichnet er - wie "reziprok" - die Differenz von Relationen zwischen coordinata und subordinata: "nexus realis coordinationis (realis) est mutuus, subordinationis substantiarum qua talis non est mutuus" (R 4204). Vgl. auch RR 4314, 4526. 21 Die Glieder der reziproken Relation nennt Kant correlata gemäß der Wölfischen Definition: "Dicuntur autem Correlata duo relata, quorum unum alterius terminus esse potest" (Ontol., § 864). Das abhängige Glied einer Relation wird als Terminus bezeichnet. Wenn also beide Glieder sowohl abhängig, wie auch unabhängig sind, so ist die Relation symmetrisch.
Ordnung Die Koordination
193
nun, aktiv gedacht, bringt die Form der sinnlichen Er-
kenntnisse hervor: "Repraesentationi autem sensus primo inest quiddam, quod díceres wateviam, nempe sensatio, praeterea autem aliquid, quod vocari potest forma, nempe sensibilium species, quae prodit, quatenus varia, quae sensus afficiunt, naturali quadam animi lege coordinantur" (Diss. § 4). Die Handlung der Koordination scheint also durch ein bestimmtes Gesetz des Gemütes die Form der sinnlichen Erkenntnisse hervorzubringen. Dies ist 22 aber ungenau oder vielmehr rationalistisch gedacht, denn was soll die Form als Hervorgegangenes sein? Worin besteht die Einheit dieses Hervorgegangenen? Die Form ist das Gesetz selbst, und zwar das Gesetz der Koordination, als Handlung verstanden, "forma testatur utique quendam sensorum 23 respectum aut relationem, verum proprie non est adumbratio aut schema quoddam obiecti, sed nonnisi lex quaedam menti insita, sensa ab obiecti praesentia orta sibimet coordinandi" (§ 4). Die Form ist als Lex coordinandi ein Modus composi tionis. Diese Komposition beruht nun auf einer Ordnung, die die "sensa" aufeinander hinordnet.
Das Hinordnen selbst ist dabei das
Gesetz, das aber der Stellen bedarf, im Rahmen derer es zuordnen kann. Dieses Verhältnis von Ordnung und Gesetz wollen wir nun erläutern. Wie ist zunächst die Lex zu verstehen? Sie ist offensichtlich das Fundamentum aller Relationen der Sinne, denn sie regelt die Verhältnisse (Respectus sensorum) des Empfundenen. Sie differenziert sich dabei in die 24 Formprinzipien von Raum und Zeit. Raum und Zeit sind also Gesetze. "Spatium ... est aliquid ... subjectivum et ideale et e natura mentis stabili lege proficiscens veluti schema omnia omnino externe sensa sibi coordinandi" (§ 15.D). Der Raum als Gesetz oder Koordinationsform ist nun also gleichsam das Schema, das nach einem bestimmten Gesetz das Empfundene re25 gelt durch geometrische Gesetze und Axiome. Aber auch die Zeit ist eine 22
23 24
25
Bei Wolff entsteht (oritur) die Ordnung aus der Determination. Was sie aber selbst ist, von ihrem ontologischen Status her, bleibt, wie so vieles bei der oft bloß semantischen Wortklauberei Wolffs, unbefragt. Hier ist offensichtlich der Ursprungsort des Begriffs "Schema", wenn auch nicht der Ursprungsort des Gedankens des Schematismus. "Der Raum geht den Dingen vorher; daher kan er kein praedicat der Dinge, sondern nur ein Gesetz der Sinnlichkeit seyn, welches als die condition aller möglichen Erscheinungen freylich vor allen wirklichen Vorhergeht" (R 4315; 69-71?). "Cum geometria spartii retationes contempletur, cuius conceptus ipsam
194
Die Problematik der Relation 26
Koordinationsform. Ihr Gesetz ist die Simultanei tat und die Sukzession. "Tempus est ... subiectiva condicio per naturam mentis humanae necessaria, quaelibet sensibilia certa lege sibi coordinandi" (§ 14.5). Die Zeit ist also die Bedingung der Koordination der Objekte der Sinne nach einem bestimmten Gesetz. 27 Bevor wir zur Diskussion der Ordnung, auf der diese Gesetze beruhen, kommen, noch ein Wort zum Gesetz der Sukzession.
Es stellt sich hier das Pro-
blem, daß die Relation zwischen Successiva asymmetrisch ist, also eigentlich eine Subordination. Kant spricht aber unzweideutig von Koordination: "Ex hac spinosa quaestione semet extricaturus notet: tarn successivam quam simultaneam plurium coordinationem (quia nituntur conceptibus temporis) non pertinere ad conceptum intelleotualem
totius, sed tantum ad condiciones
intuitus sensitivi" (Diss., § 2.III). Diese Inkonvenienz wird der Grund sein, weshalb Kant später von der Distinktion Koordination/Subordination, der wir z.B. in der KrV nicht mehr begegnen, abkommt. Die Asymmetrie der Koordination bzw. Subordination der Successiva ist der Grund, warum die Zeit für die Schematisierung der Subordination des Verstandes geeignet ist. Kant bemerkte das schon in der Dissertatio: "Praeterea autem tempus leges quidem rationi non dictitat, sed tarnen praecipuas aonstituit quibus faventibus
secundum
rationis
leges mens notiones
condiciones,
suas conferve
pos-
sit" (§ 15 Cor.). 2 8
omnis intuitus sensualis formam in se continet ..." (§ 15.C). Daß der Begriff des Raumes denjenigen der sinnlichen Form in sich enthält, ist so zu verstehen, daß der Raum als Schema des Koordinierens nach einem bestimmten Gesetz dieses natürlich in sich enthält. 26 "Substantias enim pariter ac accidentia coordinamus, tam secundum simultaneitatem, quam successionem" (§ 14.5). 27 Natürlich ist auch der Raum conditio der Koordination; der Ausdruck "Schema" ist ja mit einem "veluti" versehen als Metapher verstanden, d.h. der Raum als angeschauter ist gleichsam ein Schema, als subjektiver aber ist er eine Conditio der Sinnlichkeit. So werden Schema und Conditio im letzen Satz des § 13 zusammen für Raum und Zeit verwendet: "Hanc principia formalia Universi phaenomeni absolute prima, catholica et cujuslibet praeterea in cognitione humana sensitivi quasi schemata et condiciones, bina esse, tempus et spatium ..." 28 Kant bemerkt sogar die Schematisierbarkeit der Kausalität vermittelst des sukzessiven Momentes des früher-später: "in omnibus autem, ... nonnisi temporis respectu opitulante, quid sit prius, quidnam posterius, s. causa et causatum, edoceri mens potest" (§ 15 corollarium).
Ordnung
195
In welchem Verhältnis steht nun aber Raum und Zeit zu den Relationen, und was ist die Ordnung der Koordination? Die Zeit beispielsweise koordiniert nach Gesetzen der Simultanei tat und Sukzession die Sensibilia, die 29 nach § 3 Obiecta sensual i tati s, also Erscheinungen sind. Das Koordinieren ist aber Referieren: "per tempus non cogitantur nisi relati ones" ( § 1 4 . 4). Wie aber sind nun diese Relationen mit sinnlichen Relaten zu verstehen? "Quod autem relationes attinet, s. respectus quoscunque, quatenus sensibus sunt obvii, utrum riempe simul sint, an post se invicem, nihil aliud involvunt, nisi posi tus in tempore determinandos vel in eodem ipsius puncto, vel diversis" (§ 14.5). Das Wesentliche solcher auf Gesetzen beruhenden Relationen (P^ simul ac
P^ post P 2 ), die durch die Zeit gedacht werden,
besteht darin, daß deren Relata in der Zeit bestimmbar sind, nämlich als Stellen bzw. Punkte in der Zeitachse. Die Ordnung, auf der diese Relationen beruhen, ist also als Koordinatensystem
gedacht. Die Bestimmbarkeit
der Relata als diverse Stellen oder identische Stellen macht offenbar das Gesetz der Zeit aus. Die Adäquatheit der analytisch-geometrischen Bestimmung dieser Relationen und der Ordnung als Koordinatensystem zeigt sich dadurch, daß Kant den Vergleich mit der Geometrie in der Fußnote zum Begriff der Simultaneität auch sogleich anstellt: "Nam si tempus designes linea recta in infinitum producta, et simultanea in quolibet temporis puncto per lineas ordinatim appi i catas: superficies, quae ita generatur, repraesentabit mundwn phaenomenon ..." (§ 14.5). Der Ausdruck "ordinatim applicatae" ist der zu Kants Zeiten gängige ana30 lytisch-geometrische Terminus für die Koordinaten. Die Zeit ist also Bedingung der Koordination der Erscheinungen nach Gesetzen der Simultaneität und Sukzession, d.h. sie gibt für die sinnliche Form die Stellen (positus), 29 30
"In sensualibus autem et phaenomenis id, quod antecedit usum intellectus logicum, dicitur apparentia" (§ 5). Leibniz definiert ihn in einer 1692 in den Acta eruditorum erschienenen Abhandlung, in der er auch den Funktionsbegriff einführt, wie folgt: "Ordinatim applicatae vocare soient Geometrae rectas quodcunque inter se parallelas, quos a curva ad rectam quandam usque ducuntur" (GM V, S. 266). Aus diesem geometrischen Begriff wurde bei Leibniz und in der späteren Mathematik der Begriff der Ordinaten. Bei Kästner noch heißen die Ordinaten "ordinatim applicatae".
Die Problematik der Relation
196
an die die Relata im Rahmen einer Ordnung (Koordinatensystem) gesetzt werden können. Analoges gilt natürlich für den Raum. Wie verhält sich nun dieser Ordnungsbegriff zum Baumgartenschen? Bei Baumgarten ist Koordination die Konjunktion vieler nach- oder nebeneinander. Die Identität der Koordination ist die Ordnung. Bei Kant ist die Koordination die Form der Welt. Die Form der Welt ist charakterisiert durch die Identität der Komposition, also durch den Modus compositionis. "Hinc mundus ... idem manens mundus, eandem tuetur formam fundamentalem. Nam ad identitatem totius non sufficit identitas partium,
sed requiritur
oomposi-
tionis characteristicae identitas" (§ 2.II). Kant legt also im Gegensatz zu Baumgarten das Gewicht der Identität auf die Identität des Modus compositionis, der Form, die zudem Form eines Actus mentis ist. Diese Identität ist nun gesetzliche, d.i. nach Gesetzen von Raum und Zeit, nach den Leges sensual i tati s, die nur im Rahmen der Ordnung Bedeutung haben, innerhalb deren sie Stellen auszeichnen und anweisen können. Die Ordnung ist ein analytisch-geometrisch gedachtes Koordinatensystem. Dieser Ansatz ermöglicht es, daß die Leges sensualitatis Naturgesetze, Gesetze der mathematischen 31 Naturwissenschaft sind. Die Ordnung darf also nicht als Rahmen im Sinne eines äußeren Gerüstes, Behälters, gedacht werden, sie muß vielmehr als Regelndes Zuordnung,
der
gesetzlichen
die sie aber nicht selbst ist, gedacht werden. Diese Zuordnung
ist der Actus mentis coordinane,
der von den Empfindungen in Gang gesetzt
wird: "Sensationes enim excitant hunc mentis actum, non influunt intuitum, neque aliud hie connatum est nisi lex animi, secundum quam certa ratione sensa sua e praesentia obiecti conjungit" (§ 15, Cor.). Der Actus mentis ist also gleichsam das metaphysische Fundament der Relationen zwischen Coordinata. Das transzendentale Fundament dagegen, um diesen Unterschied der KrV (metaphysische und transzendentale Deduktion) zu machen, ist das 32 Gesetz der Sinnlichkeit, bzw. die Principia formalia , die die Coordinata ordnen. Kant drückt diese Differenz im folgenden Satz durch "niti" und 31 32
"et leges sensualitatis erunt leges naturae, quatenus in sensus cadere potest" (§ 15.E). Raum und Zeit sind Principia formalia mundi sensibilis (§ 14.7 und 15.E).
Ordnung
197
"ope" aus: "quoniam conceptus temporis tantummodo lege mentis interna nititur, neque est intuitus quidam connatus, adeoque nonnisi sensuum ope actus ille animi, sua sensa coordinantis, eliciatur" (§ 14.5). Das bedeutet, daß der Begriff der Zeit sich auf das innere Gesetz transzendental gründet ("niti"), also als Conditio aller Verhältnisse der Sinne fungiert, wohingegen der Akt des Koordinierens metaphysisch in der Natura mentis gründet und den Begriff der Zeit fundiert. Wie ist nun aber dieser Actus mentis näher zu bestimmen? "Verum oonoeptus uterque
(seil, spatium et tempus) procul dubio aquisitus est ... ab
ipsa mentis actione, secundum perpetuas leges sensa sua coordinante" (§ 15, Cor .). Man ist hier überraschend unsicher, ob diese Actio mentis nun eine Tätigkeit der Sinnlichkeit oder des Verstandes sei. Von der Definition der Sinnlichkeit her als "receptivitas" (§ 3) würde man erwarten, daß nur der Verstand agiert. Die Unsicherheit verstärkt sich, wenn man bedenkt, daß in der Zeit kurz vor der Dissertati o Raum und Zeit noch als Intel lektualbegriffe angespro33 chen werden,
also als Vernunftbegriffe, die ja die Form ausmachen und
die Relationen bestimmen. "Daher, wenn alle Empfindung der Sinne beyseite gesetzt ist, so ist der des Raumes und der Zeit ein reiner Begrif der Anschauung, und weil in ihm alles liegt, was nur der Verstand in Erfahrungen erkennen kann, so ist er ein Verstandesbegrif; und, obgleich die Erscheinungen empirisch seyn, so ist er doch intellectual" (R 3957; 1769; vgl. auch R 3961). Allerdings gibt es ein Unterscheidungsmerkmal von Raum und Zeit gegenüber den übrigen Verstandesbegriffen: "Verum mox docebo: has notiones (seil, spatii ac temporis) plane non esse rationales nexus ideas objectivas, sed phaenomena,
atque ullius
et testari quidem principium al i -
quod nexus universalis commune, non autem exponere" (§ 2.II). Die Begriffe Raum und Zeit exponieren (vgl. 2.4.3.) also keineswegs den Nexus universalis, sondern bezeugen ihn nur. Wie ist das zu verstehen? Was ist überhaupt der Nexus universalis? "Nexus autem, formam mundi essentialem cipium influxuum possibilium 33
constituens, spectatur ut prin-
substantiarum mundum constituentium" (§ 2.II).
Die Begriffe v o n Raum und Zeit sind als erworbene - wie die Verstandesbegriffe - "conceptus abstrahentes".
198
Die Problematik der Relation
Kant grenzt also die sinnliche Form (forma sensitiva) aus von essentialer Form, die den Nexus realis, den wirklichen, real fundierten Zusammenhang bedeutet (vgl. 2.2.1.)· Die sinnliche
Form wird konstituiert von den Prin-
cipia formae Raum und Zeit, die essentiale
von einem Principium influxuum
possibilium. So beruht denn die essentiale Form auf der Subordination, die den Nexus realis regelt. Die Koordination gibt also keine Realnexus.
Die
Frage nach der metaphysischen Realität der realen Relationen vermag also 34 die Sinnlichkeit
nicht zu beantworten, "adeoque ni hi 1 o minus intacta
manet quaestio, nonnisi intellectui sol ubi lis: quonam relatio tium"
omnium
substantiarum
nitatur,
(§ 16). Die Subordination
quae intuitive
principio spedata
ipsa voaatur
haea spa-
allein vermag die "forma essentialis" (§ 16)
zu regeln und den Relationen ihre Realität zu verschaffen. Rekapituali eren wir: Die Form der Sinnlichkeit, die Koordination, die auf der Actio mentis beruht, ist das Gesetz, das durch eine Ordnung Sensibilia einander zuordnet, so aber keine realen Nexus fundiert. Was sind aber die Leges
rationis
et intellectus
(§ 1), die demzufolge die Subordination
re-
geln und Form der Vernunft sind? Dies wollen wir im Rahmen des allgemeinem
Problems der Klassifizierung aller Respectus nach den Principia for-
mal ia oder Gesetzen erörtern, die sich aus dem aufgewiesenen Zusammenhang von Form und Verhältnis ergeben sollte. Beginnen wir mit den Formprinzipien der Subordination. In R 3928 (1769) unterscheidet Kant Prinzipien der Form des Nexus
realis.
der Form des Nexus
logicus
von
Prinzipien
Man kann diese Differenz mit R 3982 (1769), wo
die Formprinzipien als Gesetze der Vernunft deutlich gemacht werden, ausdrücken durch logische Vernunft. 34
35
35
Gesetze
der Vernunft
und metaphysische
Gesetze
der
Die ersteren sind Gesetze der Urteile. Prinzipien der Form ana-
"Verum praeterquam, quod hic conceptus (seil, spatii) ... subjecti potius leges sensitivas quam ipsorum obiectorum condiciones attineat, si vel maxime illi realitatem largiaris, tarnen non dénotât, nisi intuitive datam coordinationis universalis possibilitatem" (§ 16). Die Sinnlichkeit drückt mehr die Gesetze des Subjekts aus, als die Bedingungen des Objekts. So waren auch die Formulierungen von Raum und Zeit als "aliquid subjectivum" zu verstehen. "Die logische Gesetze der Vernunft enthalten die regeln, nach welchen die Begriffe einer der sphaera des andern subordinirt werden, welches die logische subordination heißt. Die metaphysischen Gesetze sind, nach welchen die Begriffe einander realiter subordiniert seyn" (R 3982; 1769).
199
Ordnung
lytischer Urteile sind die Sätze der Identität und des Widerspruchs, logisches Prinzip der Form synthetischer Urteile ist folgendes: "Was jederzeit mit einem bekannten Theile des möglichen Begrifs eines Dinges verbunden 36 ist, gehöret mit ihm als ein Theil zu diesem Begriffe" (R 3928; 1769). Die Prinzipien
der Form des Nexus
realis
"sind beide synthetisch" und 37
gehören zum Gebrauch, respective zum Termino des Gebrauches
der Vernunft.
Das erste synthetische Formprinzip lautet: "alles, was Geschieht, hat einen determinierenden Grund" (R 3928). Das zweite, das zur Begrenzung des Gebrauchs der Vernunft gehört, lautet dagegen: "alles hat einen ersten Grund" (R 3928). Die Gesetze der Subordination sind also
Grund-Folge-Prinzipien.
Die logischen Gesetze der Vernunft sind objektiv, die metaphysischen subjektiv. "Die Logic tractirt die objective Gesetze der Vernunft, das ist, wie sie verfahren soll. Die metaphysik die subjectiven der reinen Vernunft, wie sie verfährt" (R 3939; 1769). Daneben kennen wir die Gesetze coordinandi. Diese Einteilung
der Form der Sinnlichkeit,
der Gesetze,
also die Leges
die auf der Aktivität unserer
Vernunft im weiteren Sinne beruhen, zieht nach sich eine Einteilung Verhältnisse.
der
Dieses "Nachsichziehen" gründet im Formbegriff. Wir versuchen,
hier eine Einteilung zu geben, die sich aus verschiedenen Ansätzen in Reflexionen des Jahres 1769 zusammensetzt. Kant unterscheidet prinzipiell Verhältnisse der Sinne von Verhältnissen 38 der Vernunft. Die Verhältnisse der Vernunft können abgeteilt werden in
36
37
38
Kant dehnt erst von 1769 an die formalen Prinzipien aus auf die synthetischen Urteile und auf die Realverknüpfungen: "Haben wir nicht etwa außer den principiis formalibus der rationalen Sätze noch formalia der synthetischen und empirischen. Im gleichen hat man nicht ebenso principia formalia der realverkniipfung als der logischen" (R 3926; 69-75?). Dies ist eine Folge der Reflexion auf den beziehenden Vernunftgebrauch sowohl in logischer wie in realer Hinsicht. Der Ausdruck "termino des Gebrauchs" kommt aus der Relationstheorie. Wolff z.B. definiert den Terminus relationis als Relatum, "ad quod aliud refertur" (Wolff, Ontol. § 864). Bei Baumgarten ist der Terminus relationis das Principium der relata (Bg. Mp. § 312). Kant nimmt also diesen Ausdruck auf, indem er ihn für das Endglied einer Reihe von Subordinierten gebraucht. Dies ist insofern eine sinnvolle Verwendung, als "regrediendo" jeder Grund wieder eine Folge ist und sowohl Subjekt wie Terminus, außer dem letzten. "Die Verhältnisse der Sinne sind Raum und Zeit" (R 3970; 1769).
Die Problematik der Relation
200 gegebene
und willkürliche.
39
Gedichtete oder willkürliche Verhältnisse sind
solche der Mathematik, denn Mathematik wird als Wissenschaft der reinen Vernunft konzipiert. 40 Die gegebenen Verhältnisse der Vernunft sind durch Erfahrung, Verstand oder reine Vernunft gegeben.41 Die durch den Verstand gegebenen sind die des Allgemeinen und Besondern und der Ei neri ei heit und Verschiedenheit. Die durch Vernunft gegebenen sind Grund-Folge-Verhältnisse. Die Verstandesverhältnisse heißen logisch im Gegensatz zu den durch Erfahrung und Vernunft gegebenen, die Real Verhältnisse oder metaphysische heißen. 42 Diese Abteilung der Verhältnisse und die korrespondierenden Gesetze seien schematisch dargestellt: Raum Verhältnisse der Sinne
]>Gesetze der Sinnlichkeit
Zeit
• Realverhältnisse, meta-
durch Erfahrung
physische
gegeben Verhältnisse der Vernunftr
durch Vernunft im
1 synthetische Verhält. > nisse und Gesetze der engeren Sinne gegebenj V e r n u n f t W e h
den Verstand
1
1ogische
gegeben Verhältnisse der
-willkürliche
>
mathematische
Wiederholung
39
40
41
42
"In allem Erkenntnisse der Vernunft sind nur Verhaltnisse zu betrachten, und diese sind entweder gegeben (sinnlich oder d u r c h die Natur der Vernunft) oder gedichtet" (R 3940; 1769). "Wenn die Frage ist, ob in der Wissenschaft der reinen Vernunft neue Erfindungen zu erwarten sind, so ist es klar, daß in der Mathematic, der Logic und reinen Moral, viele möglich sind, weil nach der Regel der identitaet aus allgemeinen Begriffen nach allerhand willkührlich v o r g e g e b e n e n combinationen folgen geschlossen w e r d e n können" (R 3948; 1769). "Alle Vernunftbegriffe, die ein ander Verhältnis enthalten (seil, als die willkürlichen), erfodern, daß dieses Verhältnis durch Erfahrung, oder die Natur des Verstandes und Vernunft gegeben sey" (R 3973; 6978?) . "Die Verhältnisse ... der Vernunft: der Grund und die Folge, nemlich obiective: der Grund der Sachen (realgrund). Das Verhältnis der Einerleyheit und Verschiedenheit ist logisch ... daß der Wiederholung ist mathematisch, die übrige sind metaphysisch - nemlich die realverhältnisse" (R 3970; 1769).
201
Ordnung Probleme dieser Einteilung sind offensichtlich die Realverhältnisse.
Die
Reflexion auf sie ist Movens des Kantischen Denkens seit den NG. "Alle real Verhältnisse (Raum und Zeit ausgenommen) sind durch die Erfahrung gegeben, (nach den Verhältnissen des Raumes und der Zeit)" (R 3976; 1769). Raum und Zeit sind also auch Real Verhältnisse, aber keine empirischen, also durch Erfahrung gegebene, sondern durch die Vernunft, da sie ja "notiones intellectual es" sind. Was aber sind die durch Erfahrung gegebenen Verhältnisse? Am Schluß des § 28 der Dissertatio schreibt Kant: "Nam cum vis non aliud sit, quam respectus
substantiae A ad aliud
quiddam
Β (accidens) tamquam
rationis ad rationatum: vis cuiusque possibilitas non nititur
identitate
causae et causati, s. substantiae et accidentis, ideoque etiam impossibilitas virium falso confictarum non pendet igitur vim originariam
a sola oontradiatione.
ut possibilem sumere licet, nisi datam
Nullam
ab
experien-
tia, neque ulla intellectus perspicacia eius possibilitas a priori concipi potest." Kant wiederholt hier noch einmal die Position der ersten Hälfte der 60er Jahre, daß nämlich die Kraft der Respectus von Substanz und Akzi43 dens sei und daß dieser nicht analytisch eingesehen
werden kann, sondern
nur durch Erfahrung gegeben werden kann. Die durch Erfahrung gegebenen Verhältnisse sind also Inhärenzen, Kräfte. Kant wiederholt denn auch die in den NG erhobene Forderung, daß diese Kräfte einen Fundamental verhältnisbegriff voraussetzen, der sie also fundiert und nicht durch Erfahrung, sondern nur durch Vernunft im engeren Sinne gegeben ist. "empirische Verhältnisse aber setzen einen fundamentalVerhältnisbegrif voraus" (R 3973; 69-78?). Kant kennt also drei Arten von Realverhältnissen: Verhältnisse des Raumes, d.i. der Substanzen unter sich, Verhältnisse der Zeit, d.i. Verhältnisse der Akzidenzen, und Verhältnisse zwischen Substanz und Akzidens, also Kräfte. "Aller respectus ist dreyfach: von der substantz
(empirisch):
Raum, der accidentium: Zeit, der substantz zu den accidentibus: Kraft" (R 3902; 66-75?). Diesen drei realen Verhältnisformen entsprechen drei Grundbegriffe der Vernunft, die also lauter Verhältnisbegriffe sind:
43
Vgl. auch (R 4084; 1769): "Vis mutationis proprie non est cogitabilis."
Die Problematik der Relation
202 Raum,
Zei,t, Kraft.
44
Wie aber unterscheiden sich durch Erfahrung gegebene Verhältnisse von Raum und Zeit? Zunächst einmal muß etwas Einschränkendes von Raum und Zeit gesagt werden. Wie wir gesehen haben, bezeugen sie bloß das Dasein von realen Verhältnissen, exponieren es aber nicht. Umgekehrt können reale Verhältnisse sich nur räumlich-zeitlich zeigen aufgrund unserer an Sinnlichkeit gebundenen Erkenntnis. "Patet itaque, nos in corporibus non nisi detenni nati ones spatii et temporis cognoscere, absolutas autem subiectorum 45 notas intellectual i ter non cognoscere" (R 4084; 1769). Raum und Zeit sind bloß Gründe der Möglichkeit von Wirkungen, Gründe der Erkennbarkeit
von realen Relationen.
46
d.h.
Die realen Nexus als Rela-
tionen zwischen Substanzen fordern aber mehr: Sie fordern einen Realgrund für die Wirkungen.
47
Sie unterliegen also einem Fundamentalverhältnisbegriff,
dem Grund-Folge-
Verhältnis. Allein letzteres, durch den Verstand oder die Vernunft angesetzt, ist bloß subjectiv, insofern es nicht objective, a posteriori erkannt wird. Die sinnlichen Verhältnisse liefern nur allgemeine Regeln der 44
45 46
47
Vgl. (R 4063; 69-75): "cum relationes vel sint substantiarum vel accidentium, posterior erit tempus, prior spatium." Vgl. zudem die bezüglich Datierung umstrittene R 3716: "Alle ideen der metaphysik sind analytisch ausser von Raum, Zeit und Kraft." Und: "Grundbegriffe ... Raum, Zeit und Kraft." Für die Kontroverse zwischen Adickes, Henrich, Schmucker und Hinske bringt unser Diskussionszusammenhang keinen Anhalt, denn diese Dreiheit der relativen Begriffe Raum, Zeit und Kraft könnte ebensogut zur Zeit der Mp. Herder als zur Zeit der Dissertatio angesetzt werden. Zur neuen Kontroverse vgl. Hinske (1), Schmuckers (1) Replik und Hinskes (2) Duplik. "durch unsere Sinne können sich nur die relationen der Dinge offenbaren" (R 3921, 1769). "Daß der Raum ein bloßes phaenomenon und etwas subjektives, nicht aber die Vorstellung der Sachen sey, ist daraus zu sehen, weil darin Verhältnisse vorgestellt werden, die doch keine Wirkungen, sondern blos Gründe der Möglichkeit der Wirkungen seyn, und diese Gründe selbst sind keine Sachen" (R 4078; 1769). Dasselbe gilt für die Zeit, die die bloße Möglichkeit (Kontingenz) der Veränderungen einschränkt und regelt: "Die Möglichkeit der mutation ist nicht aus der bloßen contingentz zu erkennen ... die Beziehung des realgrundes zur Folge scheint zugleich die idee der succession zu enthalten" (R 4041; 1769-71?). "Eine jede substantz hat eine Kraft ... denn die substantz ist eigentlich das subiect, was den Grund der accidentien und der Wirkungen enthält, folglich entspringt der Begrif der Substantz aus der nothwendigkeit der Kraft eines subiects" (R 4056; 64-69?).
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen Begleitung einer Erscheinung durch eine andere. Der Verstand gibt dazu das 48 allerdings bloß subjektive Grund-Folge-Verhältnis.
"Der Begriff des Grun-
des (der Folge) enthält nicht allein, daß etwas, was da ist, mit etwas anderem begleitet sey, sondern überdem, daß diese Beziehung allgemein und nothwendig sei; denn, wo eine solche Sache (b) ist, da ist ein solcher Grund a und wo ein a ist, da ist die folge b. Nun sind alle realgründe und auch so gar die Möglichkeit derselben nur a posteriori kennbar; diese aber zeigen wohl eine beständige Begleitung, aber keine all gemeinheit der Verknüpfung, folglich ist der Begrif Grund nicht objectiv" (R 3972; 1769). Kant fordert also von den echten, d.i. objektiven
Grund-Folge-Verhältnis-
sen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit (später: Apriorität). Dies aber können die synthetischen Prinzipien der realen Nexus nie geben, denn sie sind bloße Vernunftprinzipien und also subjektiv. Für Kant stellt sich damit die transzendentalphilosophische Frage nach den Gründen der Objektivität der realen Verhältnisse, was der alten Frage nach dem Fundamentum relationis entspricht.
2.3.3. Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
Aufgabe dieses Kapitels ist es, zu zeigen, wie Kant, nach der Analyse der Sinnlichkeit bzw. deren Form (Koordination) nun alle Anstrengung auf die Analyse der Form der
Vernunft
verwendet, die als Subordination in der
Dissertation relativ unklar und unspezifisch blieb. Zeitlich vollzogen sich diese Reflexionen in den Jahren
1770-73.
Wir haben gesehen, wie Kant seit 1762 das Formale der Möglichkeit, also die logische Form, auf das Vergleichen zurückführte. Ganz analog fundierte er die realen Respectus in Verhältnisbegriffen der Vernunft. Die Vernunft im weiten Sinne ist also ein Vermögen der Beziehung, der respektiven Posi-
48
"Aber mit der Metaphysik ist es gantz anders. Hier wird nicht gefragt, was in willkührlich angenommenen Verhältnissen nach der Regel der identitaet von dem allgemeinen aufs besondere fließe, sondern welche Verhältnisse wirklich zum ersten Grunde allgemeiner Regeln liegen" (R 3948; 1769).
Die Problematik der Relation
204
tiori. Die Form ist nicht mehr Essentia, sondern Modus compositionis einer tätigen Subjektivität. Kants erkenntnistheoretische Reflexion fokussiert sich also auf die handelnde Subjektivität, die die Form hervorbringt. Die Metaphysik wird als Wissenschaft der reinen Vernunft (R 3957) eine schaft
der Form:
Wissen-
"Die metaphysic ist philosophia pura. Die Form aller Er-
kenntnis ist blos rational, die materie sensitiv; also ist die metaphysic die philosophie über die Form" (R 4366; 71-75?). Wie weit erstreckt sich nun der Formbegriff!
Kant entwickelte 1769 die
Principia formalia des Nexus logicus und diejenigen des Nexus realis. 1770 stellt er sich nach der gelungenen Analyse der reinen Sinnlichkeit die Frage: "Da es beim sinnlichen materie und Form giebt, soll nicht auch im intellectualen materie und form seyn?" (R 4154; 1770). Darauf unterscheidet Kant Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit von logischer (allgemeine/besondere Verhältnisse) und realer 49 Beziehung) Form der Vernunft.
(Grund-Folge-
Die Abteilung der Form der Vernunft ent-
spricht der Unterteilung des Gebrauches der Vernunft in der Dissertatio in den Usus
logicus
intellectus
und den Usus realis
intellectus.
Das reale
Grund-Folge-Verhältnis bestimmt die Form des Usus realis intellectus, die ja Subordination ist. Kant behält also die These bei, daß die Form der Vernunft sich immer nur in Verhältnissen ausdrücke, und als Form Form des sich Zueinanderverhaltens (Modus compositionis) ist. "Wahre Vernunftsbegriffe 50 gehen nur auf das Verhältnis der Sachen überhaupt" (R 4452; 1772). Die formale Analyse der Relationen ergab im wesentlichen zwei Arten: die Relationen zwischen Coordinata und diejenigen zwischen Subordinata. Kant versucht nun denselben Formbegriff, der auf Ordnung Bezug hat, auch für die Vernunft anzusetzen. "Gleich wie die Sinnlichkeit ein Vermögen ist, die Dinge nach Verhaltnissen von Raum und Zeit zu ordnen, also auch die Vernunft ist ein Gesetz der Zusammenordnung der Dinge abgesondert von den Gesetzen der Sinnlichkeit" (R 4378, 70/71?). Sinnlichkeit und Vernunft 49
50
"Die Form der Sinnlichkeit ist zweifach: Raum und Zeit. Die Form der Vernunft ist zweifach: logisch und real allgemein und besonderes/ Grund und Folge" (ib.). "Die Logic hat mit Begriffen zu thun, welche sie auch seyn, und tractirt nur ihr Verhältnis" (R 4450; 72-75).
205
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen haben also bezüglich ihrer Formen ordnende
Funktion.
Die ordnende Funktion
der Sinnlichkeit ist relativ klar abgrenzbar. Die Koordination der Eindrücke kann man sich durch Koordinatensystem, wie sie in der analytischen Geometrie zu Kants Zeit üblich sind, veranschaulichen. Innerhalb dieser Ordnungen sind Relationen "größer/kleiner", auf Zeit übertragen, "früher/ später", leicht zu definieren. Die Koordination gibt also gleichsam den Rahmen ab für weitere Ordnungsrelationen. Sie ist die Form der Sinnlich51 keit.
Wie ist nun die Übertragung dieser Verhältnisse auf die Vernunft
zu denken, deren ordnende Funktion Kant erst spurhaft entdeckt? "Man erkennet den Lauf der Natur durch die Sinne, und durch die Vernunft die Ordnung der Natur; je größer die Vernunft, desto mehr Ordnung entdekt man" (R 4439; 71-75). Hier wird nun deutlich, daß Kant die Ordnung
der
nicht mehr als realiter gegeben denkt, sondern sie in der Vernunft dieren
Natur zu
fun-
sucht. Doch wie ist diese Ordnung der Vernunft, d.h. der Rahmen, in
dem Vernunftrelationen definiert werden können, bestimmt? Kant spricht52 in der oben zitierten R 4378 von Zusammenordnung, also von Koordination. Nun sind aber Grund-Folge-Verhältnisse doch Subordinationen. Die Unterscheidung von Koordination und Subordination, wie Kant sie in der Dissertatio trifft, wird aufgrund der Weiterentwicklung des Verhältnisses von Handlung der Vernunft und Form der Realverhältnisse
überholt.
Um nun den Ordnungsbegriff der Vernunft, also den Rahmen, innerhalb dessen Relationen ausgezeichnet werden können, zu klären, soll im Folgenden eine Analyse der Handlungen des Verstandes (Kategorien) im Zusammenhang mit den Realverhältnissen versucht werden. Es wird sich dabei zeigen, daß die Real Verhältnisse in den Kategorien ihr Fundament haben und das letztere durch erstere gegliedert werden können. Die unspezifische Subordination als Form der Vernunft weicht andern formenden und ordnenden Elementen, die von den Urteilsarten, also vom Usus logicus intellectus, her beeinflußt sind und deren Obereinstimmung mit den Formelementen der Realverhältnisse und eo ipso den Kategorien Kant feststellt.
51
52
Vgl. R 4183, wo über die Quantitas continua Raum nachgedacht wird: "materia: partes, forma: conjunctio. coordinatio, nicht subordinai io" (1773-79?). Baumgartens Übersetzung von "Koordination" ist "Zusammenordnung". Vgl. Bg, Mp. § 78.
206
Die Problematik der Relation
Es ist eine der umstrittensten Fragen der Kant-Forschung, ob Kant die Kategorientafel
von der Tafel der Grundsätze oder von der Urteilstafel 53
aufgefunden habe.
Diese Frage ist entscheidend für die
her
Interpretation
der Transzendental-Philosophie. Geht man davon aus, daß etwa die Analogien der Erfahrung die Newtonschen Prinzipien der Mechanik zur Vorlage haben, so gewinnt der Titel "Transzendental-Philosophie" - wie etwa bei Cohen eine wissenschaftstheoretische Bedeutung. Geht man hingegen von der Urteilstafel aus bei der Festlegung der Kategorien, so versucht man, die Transzendental-Philosophie als Ontologie des Subjektes zu verstehen. Unsere Frage nach der Beziehung von Real Verhältnissen und Kategorien geht nun dieser Thematik entwicklungsgeschichtlich kurz nach. Die Grundsätze werden allerdings noch nicht so früh genannt. Dagegen sind für sie die Real Verhältnisse stellvertretend, denn die Kategorientafel von der Einteilung der Realverhältnisse her zu gliedern, würde bedeuten, daß Kant eher transzendental-wissenschaftstheoretisch
argumentiert. Aus der Analyse der
Real Verhältnisse entstehen denn auch im Duisburger Nachlaß die Analogien der Erfahrung. Die Handlungen
des Verstandes
spricht Kant als
Kategorien
an in R 4276 (1770/1). Es handelt sich dabei u.W. um den frühesten Gebrauch des Ausdrucks "Kategorie" in den Reflexionen. "Categorien sind die allgemeinen handIungen der Vernunft, wodurch wir einen Gegenstand überhaupt (zu den Vorstellungen, Erscheinungen) denken. Aristoteles ... 3. Categorien. Thesis, synthesis, hypothesis coordinatio
subordinatio
(sowohl in bloßen categorischen Urtheilen, als in allen drey arten von urtheilen)". 53
Vgl. z.B. Cohen: "Wir haben erkannt, daß die Entdeckung, wie die A n ordnung der Kategorien, aus dem Gesichtspunkt der Grundsätze erfolgen musste, weil in diesem letztlich Kant die Einheit der Erfahrung gründet; und daß er demzufolge zu den Urteilsarten zurückging, vielmehr bei ihnen stehen blieb ..." Kants Theorie der Erfahrung, Berlin S. 345, vgl. S. 106 ff., 181 ff., 318 f. In der neueren Forschung vgl. Tonelli (1), S. 150: "und da Kant nirgends diese Einteilung (seil, der Urteile) dem Vorgefundenen gegenüber begründet, ist wohl anzunehmen, daß die Einteilung von ihm selbst hauptsächlich auf der Grundlage der schon aufgestellten Kategorien durchgeführt worden ist." Vgl. auch Vleeschauwers vermittelnde These in Vleeschauwer (1), S. 217-48, und Klaus Reichs Rezension dazu in KST 40, 1935, S. 309-13.
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
207
Wir wollen diese Reflexion, die den ersten Versuch zu einer Kategorientafel enthält, systematisch diskutieren. Die Kategorien sind Handlungen, 54 wodurch wir einen Gegenstand Uberhaupt denken.
Kant kommentiert in R 4276
seine Kategoriendefinition wie folgt: "Die Handlungen des Verstandes sind entweder in Ansehung der Begriffe, woher sie auch gegeben werden, in Verhältnis auf einander durch den Verstand, wenn gleich die Begriffe und der Grund ihrer Vergi eichung durch Sinne gegeben ist; oder in Ansehung der Sachen, da sich der Verstand einen Gegenstand überhaupt
gedenkt und die
Art, etwas überhaupt und dessen Verhältnisse zu setzen." Die Handlungen des logischen und des realen Verstandes werden deutlich abgegrenzt. Der logische Gebrauch des Verstandes geht auf Relationen zwischen Begriffen, bzw. stiftet deren Form, der reale formt die Relationen zwischen Sachen, d.h. die Realrelationen,
und deren Setzung. Der Usus realis intellectus ist also
durch Kategorien bestimmt, denn diese sind ja eben Handlungen, wodurch wir einen Gegenstand überhaupt denken. Damit hat Kant für die Realrelationen insofern das Fundament im Verstände, in den Kategorien aufgewiesen, als das Denken der Real relationen diese bestimmt und umgekehrt die Arten von realen Verhältnissen ermöglichen, Arten von Kategorien auszumachen. Dadurch ist aber noch nichts ausgemacht über das objektive Sein der Realrelationen, die durch bloße Begriffe des Verstandes gedacht werden, welche also nur subjektives Fundament sind. Von Fundament der Relationen im Verstände kann man erst nach der Lösung der Problematik der transzendentalen Deduktion sprechen. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Usus intellectus realis et logicus hier schon angelegt, denn Kategorien sind Arten des Setzens (ponere). Das "ponere" aber ist ein Determinare, also ein Bestimmen oder Prädizieren im weiten Sinn. "Alle Sätze praedicieren per thesin (wirklich, möglich, nothwendig) oder per synthesin oder analysin" (R 4279; 7078?). Es ist bezeichnend, daß als Kategorien in R 4276 Thesis, Synthesis Hypothesis
und
ausgezeichnet und Synthesis als Koordination, Hypothesis als
Subordination gedacht werden. Subordination und Koordination sind ja die wohlbekannten Handlungsformen der Mens, d.i. Formen des respektiven Setzens
54
Diese Formulierung ist schon ganz kritisch: die Kategorien sind "Begriffe von e i n e m Gegenstand überhaupt" (B 128).
208
Die Problematik der Relation
Die Thesis enthält die Modalitäten, wie wir aus der obigen Reflexion erkennen können. Thesis ist also ein Vernunftbegriff (bzw. Verstandesbegriff), der die Position des Objektes ausdrückt, d.i. seine Stellung zum Verstände: "Möglichkeit, Wirklichkeit und aus beyden Nothwendigkeit sind nicht Begriffe von Gegenständen noch praedicate, sondern Stellungen des obiects" (R 4288, 71-78?). Die Thesis ist hier noch kein respektiver Begriff (vgl. R 4371). Kant wird erst später, bei genauerer Analyse des Stell ens bemerken, daß die Modalbegriffe "respectivae notiones" sind, nämlich solche zwischen Objekt und erkennendem Subjekt. Daraus erhellt, daß das Kategoriensystem also eindeutig am setzenden Verstände orientiert ist, der absolute (thesis) und respective (Formen: Subordination/Koordination) setzt. Die Respectus reales werden also offenbar durch Koordination und Subordination bzw. Synthesis und Hypothesis gesetzt. Einen Ansatz zur genaueren Bestimmung der Respectus
reales
finden wir in R 4371 (1771), wo deutlich
wird, daß das reale Verhältnis durch sinnliche Relationen und Vernunftsrelationen bestimmt wird, wie wir das ja auch in den Jahren 69/70 beobachten konnten. "Das reale Verhältnis
ist das der Zusammenordnungen,
und die Regeln dersel-
ben sind entweder die der Vernunft oder der Sinnlichkeit. Zu den ersten Gehört substantz und accidens, dagegen das logische Verhältnis nur subiect und praedicat hat. Die inhaerentz ist eine coordinatio, die convenientz eine subordinatio logica. Der Begrif des Grundes. Der des Gantzen oder vielmehr des Zusammengesetzten. Möglichkeit und Daseyn sind positiones absolutae, jene des Begrifs (Etwas), dieses der Sache. Also sind alle synthetische Begriffe (intellectualiter). Substantz compositum und ratio." Die realen Verhältnisse scheinen die Kategorie der Koordination (Synthesis) zu untergliedern. Die intellektuell-synthetischen Begriffe (Substanz, compositum, ratio) werden mit den Urteilsformen verglichen und als Begriffe der Koordination (Zusammenordnung) der Vernunft im Gegensatz zu den logischen Verhältnisbegriffen der Subordination bestimmt. Auch hier gibt nun aber der Begriff des Grundes eine Regel der Koordination ab, was freilich fraglich ist, denn das Grund-Folge-Verhältnis ist ja eine Subordination 55 par excellence.
Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß der Satz
vom Grund ein synthetischer Grundsatz ist, der also eine Regel der Synthe-
209
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
sis abgibt, Synthesis aber als Koordination aufgefaßt wird. Gleichzeitig will der Beginn der Reflexion ausdrücken, daß die Real Verhältnisse alle durch sinnliche Verhältnisse darstellbar sein müssen, wenn deren Regel auch durch Vernunft gedacht wird. Die sinnlichen Verhältnisse aber sind durch Koordination geregelt. Geklärt wird dieser Sachverhalt in R 4415 (1771-75?). "Alle (real) Verhaltnisse sind entweder der Verknüpfung oder des Wiederstreits. Die erste sind entweder eines durch das andere (ratio et rationatum) oder zu dem andern (partium ad totum) oder ineinander (accidens et substantia). Die Einheit in allem diesen ist die größeste Verknüpfung (subordinatio, coordinatio, involutio)"
Die Real Verhältnisse sind also nicht mehr Koordina-
tionsformen, sondern Verknüpfungen. Die Einheit der Grund-Folge-Beziehung ist nun richtigerweise die Subordination. Allerdings wird das Ganze-TeilVerhältnis noch als Koordination gedeutet. Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß Kant nun plötzlich von einer Einheit
der Realverhältnisse
spricht. Dies ist wohl ein Zeichen dafür, daß eine vertiefte Reflexion auf die Fundamente der Relationen stattgefunden hat. Damit wäre nun der Weg für den Begriff der Synthesis
freigelegt, denn sie muß nicht mehr unter
die Koordinationsformen gezwungen werden. Die Unterscheidung von tion und Subordination
erweist sich überhaupt als untauglich
Koordina-
für die Glie-
derung der Kategorientafel. So taucht sie denn in den nächsten Versuchen einer Kategorientafel auch gar nicht mehr auf: "Die categorie der Synthesis wird wohl so heissen: substantia - Causatum (et independens) Compositum (et Simplex). Die categorie der Analysis: Totale (perfectum, completum) et partiale. Finitum et infinitum (particularitas est infinita.) (Unum et
55
56
In der Logik Blomberg ist die Subordinatio realis (im Gegensatz zur logica) ein reales Grund-Folge-Verhältnis: "Die Real Subordination aber bestehet darinn, daß ich die Begrife wircklich mit einander verbinde, so, daß nicht nur einer unter dem andern enthalten ist, sondern sie auch als Ursachen, und Würkungen cohaerieren" (S. 260). Dieselbe Dreiteilung der Respectus reales macht Kant in der R 4493 (72-75): "Es sind nur dreyerley respectus reales möglich: 1. der Folge zum Grunde, dependentiae ab una et causalitatis ab altera parte; 2. des Theils zum Gantzen 3. des accidens zur substantz. In (allen) dreyen entspringt Einheit: der subordination, der coordination und der inhaerentz".
210
Die Problematik der Relation
plura). Die Idee der Thesis: Realitas. der Synthesis: Materia et forma der Analysis: quantitas et qualitas." (R 4476, 1 7 7 2 ) . 5 7 Die Auflösung des Kriteriums der Subordination und Koordination wurde wohl von der fortgeschrittenen Kantischen Reflexion auf die Zeit ausgelöst. Denn die Zeit war ja in der Dissertation erstaunlicherweise bloß von der Form der Koordination. In der R 4514 (72-75) unterscheidet Kant sowohl die Subordinationsform wie die Koordinationsform an der Zeit: "Nach der Vernunft ist die Zeit der nexus der coordinatio, nach der Sinnlichkeit aber der Subordinati o." Kant muß sich also für die Form der Real Verhältnisse und eo ipso für die kategorialen Handlungen anderswie orientieren als am allzu formalen Gegensatz von Koordination und Subordination. Die obigen Reflexionen zeigen, daß Kant versuchte, die Realverhältnisse in Inhärenz, Grund-Folge, TeilGanzes-Relation zu gliedern. Dieser Versuch ist der Ursprung der Erfahrung,
der
Analogien
die im Duisburger Nachlaß vor allem abgehandelt werden (vgl.
2.4.4.).58 Vergleicht man nun diese frühen Kategorientafelansätze miteinander, so sind beide vom Setzen des Verstandes her gedacht, also vom respektiven und absoluten Setzen, weil die Kategorien Handlungen des setzenden Verstandes sind. Für die erste Trias (Thesis, Synthesis (Koordination), Hypothesis (Subordination)) ist noch die Differenz von Koordination und Subordination als Formen des respektiven Setzens maßgebend. Mit fortgesetzter Reflexion auf die Zeit einerseits und auf die Synthesis, die aus der Umklammerung der Verstandesbegriffe Raum und Zeit befreit wird, andererseits, verliert diese Unterteilung ihr Gewicht für die Kategorientafel. Die Gliederung Realverhältnisse
unterteilt
die Kategorie
der Synthesis
der
und hat ihren Ein-
fluß auf die Umgestaltung der ersten Tafel zur zweiten. Die Real Verhältnisse mit ihren zugrunde liegenden intellektuell-synthetischen Begriffen wer57
58
In R 4476 ist wohl nicht von der Kategorie der Thesis die Rede, sondern nur von ihrer Idee, allerdings von den Ideen der Thesis, Synthesis und Analysis, was aber darauf schließen läßt, daß Kant die Thesis wie ja in früheren Reflexionen auch als Kategorie verstand. Zum ersten Male kommt der Ausdruck wohl in R 4602 vor.
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
211
den als Einheiten interpretiert, was bedeutet, daß die Handlungen des Verstandes schon differenzierter gedacht werden. Was nun die gegenseitige Einwirkung von Kategorie
und. Realverhältnis
be-
trifft, so geht der Impetus zur Verfeinerung und Gestaltung der respektiven Position sowie zur Spezifizierung des Handlungsbegriffes von den Realverhältnissen aus, vielmehr von der Frage nach dem Fundament der Realverhältnisse, das die Kategorien qua Handlungen ja sind. Damit soll aber keiner These über die Transzendental philosophie das Wort geredet sein, denn die Entwicklungsgeschichte (abgesehen von den Datierungsfragen) ist wohl für solche Thesen relativ bedeutungslos und entbindet nicht von einer pünktlichen Interpretation der KrV. Als entscheidendes Resultat halten wir fest, daß Kant die Kategorien als - wenn auch vorerst bloß subjektives - Fundamentum für die realen Relationen aufgewiesen hat.
Es bleibt nun noch zu fragen, in welchem Verhältnisse denr, die zu den Vrteilsarten
Kategorien
stehen. Die früheste Reflexion, in der sich ein Zusam-
menhang zwischen Kategorie und Urteilsarten findet, ist bezeichnenderweise die eingangs dieses Abschnittes zitierte Reflexion 4276 (1770/71), in der der Kategorienbegriff wahrscheinlich erstmals eingeführt wurde: "Sowohl
in
bloßen categorischen Urtheilen, als in allen drey arten von urtheilen." 59 Dabei handelt es sich um einen gleichzeitigen Einschub
zwischen der Auf-
zählung der Kategorien (Thesis, Synthesis, Hypothesis) und den Prädicamenten (Modi der Kategorien). Das "sowohl als" ist leicht zu klären. Kategorien sind Handlungen des Verstandes in kategorischen Urteilen, in hypothetischen und disjunktiven. Dies betont Kant, weil der Ausdruck "kategorisches" Urteil für ihn und seine Studenten vielleicht nicht allzu geläufig war und von seinem Gebrauch her prima facie nichts mit Kategorien zu tun hat. Die Unterscheidung der drei Urteilsarten findet sich auch in der Logik Blomberg unter dem Titel der Relation. Was ist aber damit gewonnen? Kategorien
59
Adickes erwägt, diesen Einschub auf "Handlungen des Verstandes" zu b e ziehen, was mir sinnvoll scheint, denn die Handlungen sind hier die logischen, die die Relationen zwischen Begriffen konstituieren. Der Einschub wäre somit nötig, denn es ist unklar, daß auch in hypothetischen Urteilen und disjunktiven ein Verhältnis zwischen Begriffen gedacht wird.
212
Die Problematik der Relation
haben mit Urteilen das gemein, daß sie Handlungen des Verstandes sind. Sie sind darin unterschieden, daß die einen auf Sachen als Relate angewandt werden, die andern auf Begriffe, also dadurch daß die ersten reale Relationen konstituieren, die zweiten logische. Was die Modalität betrifft, die ja nicht als Respectus verstanden wird, so hat Kant die Parallelisierung schon geleistet. "Alle Sätze prädizieren per thesin (wirklich, möglich, notwendig) oder per synthesin oder analysin" (R 4279; 70-78?). Dieses Zitat belegt aber einiges mehr. Zum ersten gehört es offensichtlich in die Zeit, da Kant noch Analysis, Synthesis, Thesis als Kategorien auszeichnete, also in die Zeit der Reflexion 4476 (1772).
Sodann aber macht es offen-
bar, daß die Kategorien auch als Weisen der Prädikation, was sie ja als Arten des Setzens auch sind, ganz im tradierten Sinne der Aristoteliker verstanden werden. Also liegt der Zusammenhang von Urteil und Kategorie schon von deren Begriff her auf der Hand. Die explizite Formulierung der Leitfadenparallelisierung
findet sich u.W.
erstmals in der R 4493 (72-75). "Alle diese Verhältniße sind nur die realisierten logische des Verhältnisses von subject und praedicat, von dem antecedente zum conséquente und von der Allgemeinheit des Begrifs des subiects." Mit den Verhältnissen sind die drei Respectus Reales Teil-Ganzes, accidens-Substanz) gemeint. Sie sind also die logischen
Verhältnisse
(Folge-Grund, realisierten
des kategorischen, hypothetischen und disjunktiven
U r t e i l s . ^ Damit ist nicht nur die Korrespondenz von Urteilsarten und Realverhältnissen (Respectus logici et reales) ausgesprochen, sondern auch diejenige der Urteile der Relation mit den Kategorien, da doch die Kategorien das Fundamentum in mente der Realverhältnisse sind. Zuerst hat Kant (abgesehen von der Modalität) also offensichtlich die Korrespondenz von Relationsurteilen und Relationskategorien entdeckt, was nicht erstaunt, wenn man bedenkt, daß die Kategorien setzende Handlungen
60
Die Allgemeinheit hat relativen Charakter, dies sahen wir in 2.3.1. Hier bedeutet sie die Allgemeinheit des eingeteilten Subjektsbegriffes in einem disjunktiven Urteil. Zudem werden in der R 4496 aus derselben Zeit die drei zugrundeliegenden Grundsätze erwähnt; wovon einer lautet: "In allem wirklichen ist das Verhältnis der Theile und der Zusammensetzung (composition)", womit wohl der Zusammenhang mit den disjunktiv e n Urteilen geklärt wäre.
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
213
des Verstandes sind und daß Kants Ziel dieser Zeit war, das Verhältnis von Real rei ationen und Usus realis intellectus auszumachen. Für diese erstmalige Parallelisierung spricht es denn auch, daß Kant in der Logik Blomberg (Anfang siebziger Jahre) die hypothetischen und disjunktiven Urteile als Urteile der Relation charakterisiert hat (vgl. 1.6.2.). Die weitere Entwicklung der Leitfadenparallelisierung
kann kurz ange-
deutet werden. Das Prinzip dieser Korrespondenz entwickelt Kant generell in den Jahren 1773-75: "Zuerst müssen gewisse Titel des Denkens seyn, worunter Erscheinungen an sich selbst gebracht werden: z.B. ob sie als Größe oder als subiect oder als Grund oder als Ganzes oder blos als realitaet angesehen werden ... was vor eine logische Function also eigentlich von einer Erscheinung in Ansehung der andern gültig sey, ob die der große oder des subiects, also welche function der Urtheile" (R 4672; 73-75). Hier wird also die Funktion der Urteile für die Erscheinungen namhaft gemacht. Was dabei den Ausdruck "Titel des Denkens" angeht, so finden wir ihn auch in der KrV im L e i t f a d e n k a p i t e l K a n t hat ihn wahrscheinlich aus der Topik entlehnt. Lambert jedenfalls sagt von der Loci-Lehre Ciceros in seiner 62 1768 in den Acta
eruditorum publizierten Schrift: "De Topicis Schediasma"
"ars illa, quae Topice dicitur, non ipsa argumenta, verum modo varias earum classes & species, vel titulos enumerai." Die Titel sind also die Loci der Topik. Lamberts Topik wird allerdings entgegen der Tradition eine Lehre von den verschiedenen Respectus, in welchen die Dinge betrachtet 63 werden können.
Er gibt denn auch in seiner lateinischen Topik eine Liste
der Hinsichten, in welchen Dinge überhaupt betrachtet werden können. Kant macht nun ebenfalls die Topik des Aristoteles für seine Metaphysik
61
Wenn wir von allem Inhalte eines Urteils überhaupt abstrahieren, und nur auf die bloße Verstandesform d a r i n achtgeben, so finden wir, daß die Funktion des Denkens in demselben unter vier Titel gebracht w e r den könne ..." (B 95).
62
Vgl. Joh. H. Lamberts logische und philosophische Abhandlungen in den Phil. Schriften, Bd. VII, Hildesheim 1969, S. 273; vgl. ib. S. 280: "Vides in ea columnas Septem, suas quasque inscriptas titulis." Vgl. das deutsche Fragment Lamberts zur lateinischen Topik in Phil Schriften, Bd. VI, Hildesheim 1967, S. 517: "Die loci logici sind überhaupt alle Absichten, in welchen ein Gegenstand kann betrachtet werden."
63
214
Die Problematik der Relation
in den Jahren 1769-72(?) fruchtbar,
64
indem er sie in die Metaphysik, ge65
nauer in die Kategorienlehre einverleibt:
"Aristoteles hat darin gefehlt,
daß er in der Logik eine Eintheilung der allgemeinen Begriffe machte, durch welche man Dinge denken kann: dieses gehört vor die metaphysic" (R 4450, 72-75). Die Interpretation der Topik wäre für die Genesis des Leitfadengedankens unbedingt zu berücksichtigen, spricht doch auch Lambert von "loci logici et metaphysici". Diese historischen Parallelen können nicht weiter verfolgt werden, da dies den Rahmen unserer Arbeit sprengen w ü r d e . ^ Kehren wir nach diesen eher exkursiven Äußerungen zurück zur Leitfadenkorrespondenz. Die Quantität der Urteile in Übereinstimmung mit den Kategorien der Quantität finden wir erstmals in R 4700 (71-77?) ausgesprochen: "In einem Urtheil drückt der singulaire Satz die einheit, der partikulare die Vielheit und der universale die omnitudinem aus ... der bedingte Satz drückt das Verhältnis des Grundes zur Folge aus ... Drittens, daß das praedicat im subiect ist als ein accidens, drückt die Verbindung der accidentien in einer substantz aus ..." Eine erste tabellarische Zusammenstellung findet sich in der Vorlesung über philosophische Encyklopädie, die Tonelli auf 1777-80 datiert. 6 7 Die Genesis des Leitfadengedankens scheint uns unabhängig von dem erstmaligen vollständigen Auftreten der Urteilstafel zu sein (vgl. 2.4.3.). Als erstes hat wohl Kant den Zusammenhang tionskategorien
64 65
mit den Relationsurteilen
von
Rela-
gesehen, ein Zusammenhang, der
"Loci metaphysici Aristotelis domus conceptuum intellectualium" (R 4446) . So bezeichnet Kant - wahrscheinlich in Anlehnung an Lamberts topische Tafel - die Kategorienlehre als "systematische Topik" (B 109).
66
Es muß noch angemerkt werden, daß die Gesichtspunkte der Urteilsanalyse des Petrus Hispanus nach quae, qualis, quantum offenbar in der Topik des 18. Jhds., unter leicht veränderter Fragestellung, nämlich derjenigen nach den Kategorien wieder verhandelt werden. "Die loci logici sind von den Alten auf verschiedene Arten betrachtet worden. Einige nehmen den Vers: Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? Welche Baumgarten so umkehrt: Quis, quibus auxiliis, quid, quomodo, cur, ubi, quando?", Lambert: Logische Topik, in Philos. Schriften, VI, p. 517, und VII, p. 274. Lambert bezieht sich dabei auf Baumgartens Ästhetik. Eine historische Analyse der Urteilstafeln im 18. Jhd. hätte dies zu berücksichtigen.
67
I. Kant: Vorlesungen über philosophische Encyklopädie, Berlin 1961, hg. v. G. Lehmann. Vgl. Tonelli (1), S. 147.
Die Genesis der Kategorien aus den Real Verhältnissen
215
sich aus der Reflexion über die Realrelationen ergab. Toneiiis anderslautende Meinung scheint also nicht stichhaltig zu sein. "Der Parallelismus zwischen den herkömmlichen Urteilsformen mit den Kategorien ... entstand also hauptsächlich in den Gebieten der Qualität und der Quantität, auch in dem der Modalität
Rekapitulieren wir nach diesem Exkurs kurz, was für die Thematik der Realverhältnisse neu gewonnen wurde. Kant sucht für den Usus real is intell e c t s eine Ordnung auszumachen. Die formenden Elemente, die die Realverhältnisse konstituieren sind die Vernunft- oder Verstandesbegriffe: "Die durch Vernunft vor aller Erfahrung gegebenen, obgleich bey gelegenheit der Erfahrung von den Gesetzen der Vernunft abstrahirten Begriffe, e.g. des Grundes, sind zum Gebrauch der Erfahrung dem ordnenden Verstände eingedrükte formen" (R 4172; 1770). Sie fordern qua Form eine Handlung, deren Gesetz sie sind. Diese Handlung ist eine Art des Setzens. Kant nennt sie Kategorie. Die Kategorien des respektiven Setzens fundieren die Real Verhältnisse.^ Mit aller Schärfe stellt sich aber das Problem der objektiven Gültigkeit der kategorialen Fundamente der Real reiationen, wenn doch die Kategorien bloß subjektive, dem Verstände eingedrückte Formen sind. Zu diesem Problem der transzendentalen
Deduktion
kommt noch hinzu, daß die dieser Form zu-
grundeliegende Ordnung noch unklar ist, sie wird bloß gefordert. Im Brief an M. Herz von 1772 formuliert Kant dies so: "... und suchte die Transzendentalphilosophie, nämlich alle Begriffe der gänzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von Kategorien zu bringen, aber nicht wie Aristoteles, der sie so, wie er sie fand, in seinen 10 Praedicamenten aufs bloße Ungefähr nebeneinandersetzte; sondern so, wie sie sich selbst durch einige we-
68 69
Ib., S. 156. Diese Fundierung aller Verhältnisse im Denken hat schon Lambert in seiner Architektonik, als Generalthese seiner Relationstheorie sozusagen, ausgesprochen: "Überhaupt bezieht sich der Begriff eines Verhältnisses auf ein denkendes Wesen ..." (Architektonik § 411) und "Da sich die Verhältnisse, wie wir erst bemerkt haben, immer auf ein denkendes Wesen beziehen" (Architektonik § 412). Das tiefer liegende Fundament dieser These liegt wahrscheinlich in der fast kantisch anmutenden Einsicht, daß die Einheit (der Relate einer Relation) unmittelbar als Ich gedacht wird: "Der Begriff der Einheit ist ebenfalls einfach, und wir haben ihn unmittelbar in dem Wort Ich, und so auch in der Vorstellung eines jeden Begriffes, in sofern es ein Begriff ist" (Alethiologie, § 26).
216
Die Problematik der Relation
nige Grundgesetze des Verstandes von selbst in Klassen eintheilen" (AA 10, S. 132). Der Ausdruck "Grundgesetze des Verstandes" meint die formalen Prinzipien der Real Verhältnisse im Zusammenhang mit den Arten des Setzens, den Kategorien, die qua Formen des Verstandes ja Gesetze s i n d . ^ Die zugrundeliegende Ordnung, die Stellen in Urteilen, hat Kant zwar der Spur nach entdeckt, aber den Gedanken noch nicht in vollem Umfange ausgeschöpft.
70
Hier sehen wir den Zusammenhang von Setzen und Gesetz (Art des Setzens), den Kant noch in der KrV so ausdrückt: "Nun heißt aber eine Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige gesetzt werden muß, ein Gesetz" (A 113).
2.4. Funktion
Nachdem es Kant gelang, das Zwischen der Relationen in der Form der Vernunft zu fundieren, stößt er auf die die Tauglichkeit seiner Relationstheorie infrage stellende Schwierigkeit der transzendentalen
Deduktion,
die etwa so ausgedrückt werden kann: wie können subjektive Formen objektive Relationen fundieren? Diese Schwierigkeit entstammt wesentlich der herausgestellten Subjektivität von Raum und Zeit, also der Formen der Sinnlichkeit, und der Gesetze (Formen) des Verstandes, nach denen die Kategorien Gegenstände überhaupt setzen. Die Form wird als bloß subjektive entlarvt. Wie gelingt es Kant, diese Schwierigkeit zu heben? Er muß die subjektiv interpretierte Form zur Funktion machen, die die Relationen fundiert und dadurch erst Objekte als Objekte auszeichnet. Der erste Schritt dazu ist der, daß er eine adäquate Bestimmung für die Actus mentis findet, also für das Zuordnen von etwas zu etwas. Kant erkennt, daß dieses Ordnen allein durch den Verstand geschieht, daß also die Sinnlichkeit bloBe Rezeptivität ist, deren Form nur Bedingung der Ordnung ist, wo hingegen der Verstand allein als spontan agierend-ordnender gedacht wird. Damit ist die Schwierigkeit der subjektiven Actus mentis coordinantes aufgehoben (2.4.3.). Zugleich zeichnet Kant die lange gesuchte Ordnung des Verstandes durch Stellen im Urteil aus, gibt also dem agierend-ordnenden Verstand einen adäquaten Rahmen. Das im Rahmen dieser Ordnung ausgezeichnete Agieren ist so Stellenanweisen. Dieser Begriff ist der analytischen Geometrie entnommen, wird aber verallgemeinert (da er nicht mehr für sinnliche Ordnung gilt) zu dem mathematischen Fimktionsbegriff
(2.4.2.), der nun bestens ge-
eignet ist, den Gedanken des Gesetzes, das naturwissenschaftliche Gesetze fundiert, auszudrücken, denn Funktionen werden damals noch als gesetzliche Zuordnung zweier Größen zueinander gedacht. Was die Funktionsgesetze selber regeln, sind Exponenten, d.i. Verhältnisse zweier Größen in der Mathematik, oder allgemein zweier Relate. Diese Exponenten nun exponieren die Ersohei-
Die Problematik der Relation
218 mengen,
d.h. sie bestimmen nach Gesetzen deren Verhältnis untereinander
(2.4.4.). In diesem Zusammenhang entdeckt Kant das Leitfadenprinzip:
die
Kategorien sind nichts anderes als auf Begriffe gebrachte mögliche Argumente für logische Funktionen. Als solche bestimmen sie a priori, d.h. allgemeingültig
und notwendig die möglichen Gegenstände und sind selbst
von den Funktionen her bestimmt
(2.4.3.).
Allein worauf beruht aber die Objektivität dieser Zuordnungen, dieser geordneten Relationen? Sie beruht darauf, daß die Funktionen
allgemeingültige
Gesetze sind, die etwas Uberhaupt erst als Objekt bestimmen, wenn es ihnen gemäß gedacht ist, also als kategorial bestimmtes Relat einer funktionalen Relation. Das bedeutet zum einen, dai3 die realen in den Funktionen
haben,
Relationen
ihr
Fundament
und zum andern, daß die Relate überhaupt erst
zu Objekten, mithin real Seiendem dadurch werden, daß sie Relat einer solchen funktionalen Relation sind. Das Fundamentum relationis kann also nicht in Relaten liegen, vielmehr sind die Relate erst Objekte, Substanzen als Relate einer objektivierenden Funktion (Relation). Damit hat Kant nun die Lösung der Schwierigkeiten durch seine Konzeption des Funktionsbegriffes gewonnen, und zugleich seinen Gedanken von 1762, daß die Substanzen durch Relationen bestimmte Relate sind, präzisiert und adäquat formuliert (2.4.5.). Zeitlich ist dieses Resultat auf den Duisburger-Nachiaß
anzusetzen, also
1773-1775.^ Was bis zur KrV nachfolgt, ist die Ausarbeitung und Aufgliederung dieser prinzipiellen Gedanken. So hat sich Kant beispielsweise bei seiner Konzeption der Funktion an den drei Realrelationen
(Substanz-Akzi-
dens, Grund-Folge, Ganzes-Teil), die er 1770-72 ausmachte, orientiert. Die Exposition der Erscheinungen bleibt denn zunächst auch auf die der Erfahrung
Analogien
eingeschränkt. Allein es sind schon Ansätze für die
tionen der Wahrnehmung
Antizipa-
vorhanden (2.4.3.). Und es erstaunt nicht, daß auch
schon der Gedanke des höchsten Punktes der Transzendental-Philosophie
ge-
faßt ist: "Die Bedingung aller apperception ist die Einheit des denkenden subiects" (R 4675; 73-75). Kurz darauf gelingt ihm auch eine Formulierung des obersten
1
Prinzips
der synthetischen
Urteile
(RR 4757 f.; 75-77), nach-
Eine gelungene Skizze der Position des Duisburger-Nachlasses gibt Kant in der Logik-R 1608 (73-75).
219
Der philosophische Funktionsbegriff dem er in der Zeit 1772-75 die Frage nach den synthetischen Urteilen a priori, also die transzendentale Frage explizit gestellt hat.
2.4.1. Geschichte des Funktionsbegriffs
Im folgenden wollen wir zwei Strängein der Entwicklung des Funktionsbegriffs aufweisen, die bei Kant in gewisser Weise zusammenkommen: der logisch-psychologische
und der mathematische
Funktionsbegriff
physio-
treffen bei
Kant wieder zusammen aufgrund des transzendental philosophischen Ansatzes, der die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft - und im Gefolge der Mathematisierung der Wissenschaften: Bedingungen der Möglichkeit der Mathematik,als deren Fundamental begriff der Funktionsbegriff bei Euler avancierte - in die Operationes mentis setzt. Diderot/D'Alembert ? klopädie
unterscheiden in ihrem Artikel "Fonction" der Enzy-
zwei Funktionsbegriffe: einen algebraischen und einen aus der
"économie animale": "Fonction est une action correspondante à la destination de l'organe qui l'exécute." Funktion ist also eine Handlung, die geregelt wird durch eine Aufgabe eines Organs. Dies entspricht dem lateinischen "fungi", welches mit "verrichten", speziell "verrichten einer Aufgabe" wiedergegeben werden kann. Wir werden diesen Funktionsbegriff abkürzend den philosophischen
nennen und ihn vom mathematischen abgrenzen. Zum Schluß
dieses Kapitels soll noch auf den Funktionsbegriff in Kants Philosophie hingewiesen werden. 2.4.1.1. Der philosophische Funktionsbegriff
Die Begriffsgeschichte von Funktion ist sehr komplex und eng verbunden mit dem griechischen Ausdruck "δυωαμι,ς". In der Antike und im Mittelalter ist der Ausdruck "functio" kein philosophischer Terminus technicus. Cicero 3 spricht von Functiones animi. Dieser Gebrauch scheint sich aber nicht 2 3
Diderot/D'Alembert: Encyclopédie des Sciences, des Arts et des Metiers, Paris 1757. Cicero, Tusculanae Disputationes II, 35: "labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris operis et muneris".
220
Die Problematik der Relation
durchgesetzt zu haben. Thomas
von Aquin
gebraucht den Terminus im juristi4
sehen Sinne für die Tätigkeiten eines Amtsinhabers.
Erst in der Renais-
sance scheint sich der Funktionsbegriff zu einem Terminus technicus entwickelt zu haben. Campanella von funetiones logie Ferneis Gassendi
animae.
(1568-1639) und Vives
(1492-1540) sprechen
Dieser Begriff taucht dann vor allem in der Physio-
(1581) wieder auf und setzt sich auch bei Descartes
und
durch.
"Funetiones animae" ist dabei wahrscheinlich die Obersetzung des griechischen δυνάμευς ψυχής. Gassendi schreibt: "Et Porphyrius ipse in libro de Virtutibus, e quo Stobaeus idem desumpsit, rem praeclarius explicans, ... inquit ... neque enim finibus divisae, aut confusae inter se sunt, ad eum modum, quo multae scientiae, neque confunduntur in Anima, neque propterea Animae tamquam multa corpora insunt, sed potius ut quaedam Animae funetio5 nés se habent."
Das Stobaeus-Zitat war nicht nachweisbar, es ist wahr-
scheinlich einer der vielen lateinischen Ausgaben des 16. Jhds. entnommen, wo man, im Zuge der Renaissance-Philosophie,das griechische "δυναμις" mit "funetio" übersetzte.^ Auf eine ähnliche Übersetzungsthese kommen wir durch einen Hinweis von D'Alembert in dessen Artikel "funetio" in der Enzyklopädie. "les anciens gêometres, ou plutôt les anciens analystes ont appelle fonctions d'une quantité quelconque χ les différentes puissances
de cette
quantité." Diese Bemerkung konnte nicht nachgewiesen werden. Allein es war > 8 in der Antike Sitte, die 2. Potenz mit dem Ausdruck "δυναμι-ς " zu belegen,
4
5 6
7
8
Vgl. den Artikel "Funktion" im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. I, München 1973, S. 511. Das Wort ist schon im Codex iustinianus definiert (vgl. S. 513). Gassendi: Opera Omnia, Lyon 1658, Vol. II, p. 239. Faksimile-Nachdruck Stuttgart/Bad Cannstatt 1964. Boethius spricht beispielsweise von den "vires animae" zu Beginn des 2. Kommentares zur Isagoge des Porphyr. Auch die Übersetzung mit "Virtus" ist offenbar geläufig, denn Gassendi spricht vom Liber de virtutibus (Porphyrs Titel war: περί. των της ψύχης δυνάμεων ). Wer den lateinischen Titel gab, war nicht zu eruieren. Vgl. den Artikel "Funktion" im Handbuch philos. Grundbegriffe p. 513. Lagrange und, auf ihn sich stützend, Cohen behaupten, daß der Funktionsbegriff vom mathematischen Potenzbegriff herkomme. Cohen sagt in seiner Logik der reinen Erkenntnis (Werke VI, Hildesheim 1977, S. 227): "Der Ausdruck 'Funktion' bezeichnet in der alten Mathematik die Potenz." Ebenso: L. Couturat, La Logique de Leibniz, Paris 1901, p. 301. Vgl. etwa Euklid, Elemente X, Def. 2 und Plato: Theaitetos 147 D.
Der philosophische Funktionsbegriff
221
die dritte dagegen mit "κύβος". Der Mathematiker Bombelli war der erste,9 der dafür "Potenza" sagte. Früher war der Ausdruck "zensus" geläufig. Im 17. und 18. Jhd. wurde dann durchgehend von "puissance" gesprochen. Es ist nun durchaus möglich, daß ein Mathematiker der Renaissance, der die Klassiker übersetzte, für "δυναμυς" "functio" einsetzte nach der philosophischen Übersetzungssitte der Zeit. Doch zurück zum philosophisch-biologischen Funktionsbegriff der Renaissance. Der Mediziner Jean Femel
unterscheidet in seiner Physiologie 1 0 gemäß
der Dreiteilung der Facultates animae (naturales, vitales, animales) drei Arten von Funktionen: Functiones animales (sensus externus, sensus internus, appetitus, motus) Functiones vitales (calor, vis pulsificativa) Functiones naturales Die Funktionen werden von den Facultates in Gang gesetzt und vollziehen sich in den anatomischen Teilen. 1 1 Descartes
nahm in seinen physiologischen Werken diesen Funktionsbegriff
wieder auf. In der 1648 von Clerselier herausgegebenen Schrift "La description du corps humain et de toutes ses fonctions tant de celles qui ne dépendent point de l'Ame, que de celles qui en dépendent" heißt es: "Au lieu que, lors que nous taschons à connoistre plus distinctement nostre nature, nous pouvons voir que nostre ame, en tant qu'elle est une substance distincte du corps, ne nous est connüe que par cela seul, qu'elle pense, c'est-à-dire qu'elle entend, qu'elle veut, qu'elle imagine, qu'elle se resouvient, et qu'elle sent, pource que toutes ces fonctions sont des especes de pensées. Et que puisque les autres fonctions que quelques-uns luy attribuent, comme de mouvoir le coeur et les arteres, de digerer les viandes dans l'estomac, et semblables, qui ne contiennent en elles aucune pensée, ne sont que des mouvemens corporels et qu'il est plus ordinaire qu'un corps soit meu par un autre corps, que non pas qu'il soit meu par une ame, nous
9 10 11
Vgl. M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Vol II, New York/Stuttgart 1965, S. 623. Jean Fernel: Universa medicina: Physiologiae liber I-VII, Frankfurt 1581. Vgl. die Darstellung der Physiologie Ferneis in der Einführung des Hgs. in René Descartes: Über den Menschen sowie Beschreibung des menschlichen Körpers, Hg. v. K.E. Rothschuh, Heidelberg 1969.
222
Die Problematik der Relation
nous avons moins de raison de les a t t r i b u e r â e l l e qu'à luy"
(Adam-Tannery,
Paris 1909, Vol. XI, p. 224 f.). Descartes wendet sich hier gegen die von Fernel und andern Physiologen vertretene Theorie, nach der die Ursache für die Verrichtungen des Körpers 12 die Seele ist.
Entscheidend für die Geschichte des
ist, daß Descartes hier das Ego cogitane
Funktionsbegriffes
durch Funktionen auszeichnet, die
eben verschiedene Weisen der Cogitatio sind. Das bedeutet nun aber nicht, daß der Funktionsbegriff damit aus seinem physiologischen Kontext befreit 13 wäre, denn Descartes spricht ja weiterhin von den Funktionen des Körpers, wie der Titel der zitierten Schrift es anzeigt. Zu Descartes Zeiten war es offenbar üblich, von "functiones" zu sprechen, denn Gassendi
definiert in seinem Hauptwerk "Syntagma philosophicum" nir-
gends, was Funktion sein soll, redet aber beispielsweise von den "functiones animae rationalis", d.h. den "functiones mentis". Diese sind Operationen, Verrichtungen: "Cum propria vero illius functio, sive operatio intellectio sit ..." (Opera omnia, loc. cit. Vol. II, 446). Die Funktion der Mens ist also die Intellectio. Funktionen sind immer solche einer Facultas. Sie sind Möglichkeiten der Aktualisierung des Potentiellen. Leibniz
führte den Funktionsbegriff in Mathematik seiner Zeit ein. Dieser
ist nun, wie wir sehen werden, durchaus eine Verallgemeinerung des philosophischen, der Leibniz bestens vertraut war. So kritisiert er in den 1702 geschriebenen "Considérations sur la doctrine d'un Esprit universel
unique"
die Cartesische Trennung von Funktionen der Seele und Funktionen des Kör14 pers. Sie sei nicht ausreichend begründet
worden. Mit seinem System der
prästabi1ierten Harmonie fundiert Leibniz diese Trennung, indem er sie von einer Einheit (Harmonie) her deutet. Den Funktionen der Seele entsprechen
12 13
14
Ib., s. 17. In diesem Sinne redet auch noch Spinoza von'functiones corporis":"Nam nemo hucusque Corporis fabricam tarn accurate novit, ut omnes ejus functiones potuerit explicare ..." (Ethik, Buch 3, Prop. II, Scholion). "Ce qui a contribué beaucoup aussi, à mon avis, à faire donner des personnes ingenieuses dans la doctrine de l'Esprit Universel Unique, c'est que les philosophes vulgaires debitoient une doctrine touchant les ames separées et les fonctions de l'ame indépendantes du corps et des organes, qu'ils ne pouvoient pas assez justifier" (GP VI, p. 532).
Der philosophische
Funktionsbegriff
223
ohne Vinculum substantiale Funktionen der körperlichen Organe nach einem mathematisch gedachten Funktionsgesetz, das einer Operatio animae eine 15 Operatio corporis zuordnet. Doch was bedeutet dabei "fonction de l'ame"? Leibniz hat schon früh mit der Entdeckung des mathematischen Funktionsbegriffes (1673) die Übertragung auf die Philosophie der Seele geleistet. Die mathematische Funktion ist eine Einheit von unendlich vielen Relationen. Jeder unabhängigen Variablen entspricht eine abhängige, ein Funktionswert. Die Variablen selbst, deren Begriff Leibniz ebenfalls einführt, können als kontinuierliche Reihen aufgefaßt werden. Es lag nun auf der Hand, den Modifikationen der Monade oder individuellen Substanz phänomenale Werte, d.i. Perzipiertes zuzuordnen. Je nach Zuordnungsgesetz wird die Phänomenwelt anders exprimiert. Die Monaden können also vollständig beschrieben werden durch ein Funktionsgesetz, das eine Einheit aller Relationen bzw. Modifikationen ausmacht. Der Wechsel der Perzeption wird also funktional geregelt, ein Gedanke, den Kant aufgreifen und zugleich tiefgreifend verändern wird. In seiner Entgegnung an Bayle von 1702, in der der Terminus "fonction de l'ame" ebenfalls auftritt, spricht Leibniz von "variété de ses modifications", nimmt also den mathematischen Term der Variablen explizite auf (GP IV, p. 562). Die Funktionen im mathematischen Sinne drücken die Natur einer Sache aus, indem sie das Gesetz, beispielsweise einer individuellen Substanz vorzeichnen. So identifiziert Leibniz das Funktionsgesetz mit der natura
generalis
im Brief an Rêmond vom 11.2.1715: "mais quand on considère la ligne entière, on la trouve parfaitement réglée suivant son Equation ou la nature generale" (GP II, p. 636). Leibniz ist also als Entdecker des mathematischen Funkttionsbegriffes zugleich der erste, der ihn für die Philosophie fruchtbar macht und der ihn aus dem biologisch-physiologischen Zusammenhang
15
16
befreit.^
"et j'ay établi un parallélisme parfait entre ce qui passe dans l'ame et entre ce qui arrive dans la matiere, ayant monstre ... qu'aussi les fonctions de l'ame sont tousjours accompagnées des fonctions des organes, qui leur doivent répondre, et que cela est reciproque et le sera tousjours" (ib., p. 533). In einem Fragment spricht Leibniz auch von "functiones corporis" (CO, p. 527). In derselben Entgegnung an Bayle spricht Leibniz von "Funktionen der Maschine", verbindet also die alte physiologische Tradition mit dem neuzeitlichen Mechanismus.
224
Die Problematik der Relation
Damit wird er zu einem Vorläufer Kants. Nach Leibniz ist der biologisch-physiologische Funktionsbegriff weniger häufig. So ist er beispielsweise bei Wolff nicht geläufig. Allerdings geriet er nicht in Vergessenheit, denn Plouaquet
beispielsweise schreibt in
seinem Aufsatz "De origine sermonis" von 1770: "Si dispositio hominis primitiva feretur ad certum loquendi modum, uti eadem fertur natural iter ad alias functiones naturales" (Ploucquet (1), p. 300). Die Dispositio hominis hat naturale Funktionen zur Folge, d.h. natürliche Verrichtungen gemäß der Dispositio, wie z.B. das Sprechen gemäß den Sprechorganen. Dieser Funktionsbegriff ist auch heute noch in Diskussion im Zusammenhang mit tei eoiogi sehen Erklärungsmodel1 e n . ^
2.4.1.2. Der mathematische
Descartes analytische
Funktionsbegriff
Geometrie
revolutionierte die Mathematik insofern,
als sie deren Verhaftetsein in geometrischen Speziai Problemen auflöste und die geometrischen Verhältnisse in adäquate algebraische übersetzte, in Gleichungen nämlich, die den Funktionsgedanken bereits enthalten, ihn aber 18 noch nicht auf den Begriff bringen. Die Anfänge der Analysis im 17. Jhd. sind denn auch noch sehr an geometrischen Problemen orientiert. Der erste, der die Mathematik ganz von der Klammer der Geometrie befreite, war Euler.
Er schuf eine reine Analysis:
"Hic autem omnia ita intra Analyseos purae limites continentur, ut ne ulla quidem figura opus fuerit ad omnia huius calculi praecepta explicanda" (Euler (3), p. X X ) . 1 9
17 18
19
Vgl. etwa Peter Achinstein: Function statements, in: The Philosopher's Annual, Vol. 1, Oxford 1978, p. 1-32. Über den F u n k t i o n s g e d a n k e n in der Antike vgl. Youschkevitch (1), p. 42 ff.; und in der Scholastik: Anneliese Maier: Die Vorläufer Galileis im 14. Jhd., Rom 1966, vol. 1, p. 81 ff. Die Geometrie verblaßt so zu einer bloßen Anwendung der Analysis: "Divisi hoc Opus in duos Libros, in quorum priori, quae ad meram Analysin pertinent, sum complexus: in posteriori vero quae ex Geometria sunt scitu necessaria, explicavi, quoniam Analysis infinitorum ita quoque tradì solet, ut simul ejus applicatio ad Geometriam ostendatur" (Euler (1), p. VIII).
Der mathematische Funktiorisbegriff
225
Der Terminus "Analysis" stammt allerdings nicht von Euler. Er ist schon bei Leibniz geläufig in der Formulierung "Analysis infinitorum" und entwickelt sich wohl im Zusammenhang mit dem methodologischen Terminus "Analysis". In Wolffs mathematischem Lexikon, Leipzig 1716, wird die Genese des mathematischen aus dem logisch-methodologischen Analysis-Begriff deutlich: "Analysis, die Auslösungskunst, ist eine Wissenschaft, die verborgenen Fragen aufzulösen, oder aus einigen erkandten Wahrheiten andere noch unbekandte zu erfinden. Da man nun heutzutage meistens die BuchstabenRechen-Kunst, die Algebra und die Differentialrechnung des Herrn von Leibniz dazu brauchet; pfleget man diese Erfindungs-Künste zusammen die Analysin zu nennen." Euler ist wohl der erste, der dem Begriff "Analysis" die Bedeutung gibt, die ihm heute noch zukommt. So stellt er den analytischen Funktionsbegriff ins Zentrum der Analysis. Nicht mehr werden nun, wie bei Descartes und Leibniz, Kurven analysiert, sondern eben Funktionen. In seinem bahnbrechenden Werk "Introduatio in Analysin infinitorum" schreibt Euler: "In primo Libro, cum universa Analysis infinitorum circa quantitates variabiles earumque Functiones versetur, hoc argumentum de Functionibus imprimis fusius exposui" (Euler (1), p. VIII). Die Entwicklung des mathematischen Funktionsbegriffs sei nun kurz darge20 stellt. Leibniz entdeckte 1673 den mathematischen Funktionsbegriff, also zwei Jahre vor seinen revolutionären Gedanken zur Infinitesimal-Rechnung. Er verwendet diesen Begriff zunächst unterminologisch und in Anlehnung an 21 Funktion meint Aufgabe und
die Umgangssprache im Wechsel mit "officium".
bedeutet so die verschiedenen Aufgaben, die beispielsweise die Ordinaten an einer gegebenen Kurve zu verrichten haben, als gewisse bestimmt definierte Stücke einer gesuchten Kurve (z.B. des Integrals). Im August 1673 Uberschrieb er einen Entwurf, der das Prinzip der Taylor-Reihen antizipiert, mit "Methodus tangentium inversa seu de functionibus". Der Funktionsbegriff taucht hier in Wendungen auf wie "in figura functionem facere" und meint bereits nicht mehr die Aufgabe, sondern das Linienstück (Größe) selbst an
20 21
Vgl. hiezu Mahnke (1). Ib., p. 42.
226
Die Problematik der Relation
einer Kurve, das eben eine gewisse Aufgabe v e r r i c h t e t , z.B. Tangente einer Kurve zu sein. Was später mit "Funktion" bezeichnet wird, heißt hier noch bezeichnender22 weise Relatio. Es i s t b e g r i f f s g e s c h i c h t l i c h entscheidend, daß die Funkt i o n allgemein eine Relation i s t , wie ja auch heute noch Funktionen bestimmte Arten von Relationen s i n d , 23 solche nämlich, bei denen einem Argument bloß ein Funktionswert e n t s p r i c h t . Zum erstenmal t r a t Leibniz mit seinem neuen mathematischen Funktionsb e g r i f f 1692 in einem in den Acta eruditorum erschienenen Aufsatz an die Ö f f e n t l i c h k e i t , in dem er zugleich die B e g r i f f e "Koordinate" (für die Ordinaten und A b s z i s s e n ) , " V a r i a b l e " und "Konstante", "aequationem d i f f e 24 rentiere" in die Mathematik einführte. Funktion wird die Bezeichnung für
22 23
24
"Esto Figura Curvilinea ABCD. in qua Relatio applicatae ED ad abscissam AE aequationem quadam nobis cognita explicatur", ib., p. 44. Auch Newton, dessen Funktionsgedanke noch durch die Fluxionsrechnung bestimmt war, nennt die Fluenten, also die unabhängigen Variablen "quantitates correlatae" und die abhängigen Variablen 'relata'. Vgl. Youschkevitch (1), p. 55. Dies hängt wohl damit zusammen, daß die Relationen allgemein als Dependenzen verstanden werden. Vgl. Wolffs Relationstheorie (2.1.4.3.). Bei Wolff tritt denn auch der Funktionsbegriff nirgends auf. Er benennt aber auch - konsequenterweise in seiner Terminologie - die Funktionen 'Relationen": "Durch die Relation der Abscisse AP zu der halben Ordinate PM pfleget man die krummen Linien voneinander zu scheiden" (Wolff, Math. Lexikon, loc. cit. Artikel: Abscisse). Vgl. den Aufsatz: De linea ex lineis numero infinitis ordinatim ductis inter se concurrentibus formata easque omnes tangente, ac de novo in ea re analysis infinitorum usu (GM V, p. 266-69). Es ist erstaunlich, wie wenig Mahnkes Publikation (Mahnke (1)), deren Extrakt immerhin in den den Philosophen zugänglichen Kant-Studien (vgl. Anm. 31) erschien, bekannt geworden ist. So setzt H.G. Steiner in seinem Artikel "Funktion" im Historischen Wörterbuch der Philosophie das erstmalige Auftreten des Funktionsbegriffes bei Leibniz in das Jahr 1694. Dabei hätte ihn schon ein Blick in die Vorrede zur 2. Auflage der Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik von M. Cantor eines besseren belehrt: Cantor setzte das erstmalige Auftreten ins Jahr 1692. Dieses Datum ist auch für Chr. Thiel maßgebend (vgl. den Artikel "Funktion" im Handbuch philosophischer Grundbegriffe (S. 513)). Dabei ist immerhin festzuhalten, daß das Datum der Entdeckung des methodischen Mittels der modernen Naturwissenschaft, der Infinitesimal-Rechnung, die nur mit einem Funktionsbegriff "funktionieren" kann, keineswegs von bloß sekundärer Bedeutung ist.
Der mathematische Funktionsbegriff Tangenten und andere von einer gegebenen Kurve abhängigen Stücke.
227 25
Diese
primär noch an der Geometrie orientierte Bestimmung wiederholt er 1693 und 1694 in Aufsätzen und schreibt sie auch an seinen mathematischen Lehrer 26 Huygens.
Er definiert nun: "J'appelle fonctions toutes les portions des
lignes droites, qu'on fait en menant des droites indéfinies, qui répondent au point fixe et aux points de la courbe comme sont ... abscisse 27... ordonné ... corde ... tangente ... perpendiculaires ..." (GM V, 307). Funktionen sind also von Geraden abgeschnittene Strecken, welche mit Hilfe eines festen Kurvenpunktes und der zugehörigen Krümmung gezogen sind. Johann und Jacob Bernoulli übernehmen diesen neuen mathematischen Funktionsbegriff und verallgemeinern ihn in Zusammenarbeit mit Leibniz zum rein analytischen Begriff. So bezeichnet Jakob Bernoulli nicht nur die geraden von einer Kurve abhängigen Stücke, sondern auch die krummen, etwa Bogen28 längen etc. mit dem Ausdruck "lineae functionis". Den Eulersahen Begriff der Funktion gebrauchte wohl zuerst dessen Lehrer, Johann Bernoulli, 29 1698
der
die Funktion eine aus PF (Koordinate) und einer gegebenen Größe
zusammengesetzte Größe nennt: "composita pro lubitu ex Pf et datis". 1718 gibt er in einer Abhandlung der Académie des Sciences die für Euler und ein halbes Jahrhundert gültige Definition: "On appelle fonction d'une grandeur variable, un quantité composée de quelque manière que ce soit de cette grandeur variable et de constantes."^ 0 Daß im Funktionsgedanken die Dependenz wirksam ist, drückt er 1696 aus, wenn er von den Funktionen bemerkt, 25
26
27 28 29 30
"ipsa recta tangens vel aliae nonullae funotiones ab ea pendentes ... perpendiculares ... ordinata ... abscissa, quas per χ et y designari mos est" (GM V, p. 268). Vgl. den Aufsatz "Nova calculi differentialis applicatio ..." (GM V, p. 301 ff.), wo er definiert: "Functionem voco portionera rectae, quae ductis ope sola puncti fixi et puncti curvae cum curvedine sua dati rectis abscinditur" (GM V, p. 306). Vgl. den Aufsatz "Considerations sur la difference qu'il y a entre l'analyse ordinaire et le nouveau calcul des transcendentes" (GM V, p. 306 ff.), der 1694 im Journal des Sçavans erschien. An Huygens schreibt er am 28.6.1694: "J'appelle fonctions l'abscisse, la corde, tangente, perpendiculaire ... et quantité d'autres" (Der Briefwechsel von G.W. Leibniz mit den Mathematikern, hg. Gerhardt, Berlin 1899, Bd. 1, S. 740). Diese Definition entspricht genau der lateinischen in Anmerkung 26. Acta eruditorum Mai 1698. Vgl. Mahnke (1) p. 50. Vgl. Mahnke (1), S. 51. Joh. Bernoulli, Opera Omnia, Lausanne 1742, Vol. II, p. 241.
Die Problematik der Relation
228
sie seien "quantitates diversas utcunque datas per indeterminatam χ et constantes ... algebraicae vel transcendenter ... dependentes ab χ et constan31 tibus."
Damit hat Johann Bernoulli den Leibnizischen Funktionsbegriff aus
seinem geometrischen Rahmen befreit und ihn als Grundbegriff der Analysis bereitgestellt, indem er auch die wesentliche Terminologie vorbereitete: Er spricht von Konstanten, Quantitates indeterminatae (wofür Leibniz allerdings schon "Variable" gebrauchte) und von Dependenz. Im Briefwechsel mit Leibniz schlägt er zudem im August 1698 folgende Notation vor: "Ad denotandum Functionen! alicujus quantitatis indeterminatae x, mallem uti litera majuscula cognomine X vel graecoj, ut simul appareat cujus indeterminatae sit Functio" (GM III, p. 531). Die Unterteilung
der Funktionen
bzw. Kurven soll hier noch kurz zur
Sprache kommen, da sie in 3.3.2. von Bedeutung sein wird. Wie aus dem Zitat von Johann Bernoulli hervorgeht, teilt dieser die Funktionen in algebraische
und transzendente
ein. Diese Einteilung ist Leibnizens Ent-
deckung. Im 1684 in den Acta eruditorum erschienenen Aufsatz "De dimensionibus figurarum inveniendis" führt Leibniz die Cartesische Unterteilung in geometrische und mechanische Kurven weiter: "Excogitavi tarnen jam a multis annis subsidium Analyticum, et amicis ostendi, quod hue redit: ... data quai i bet curva AFC (ex illarum numero, quarum natura seu relatio inter ordinatam et abscissam per aequationem Algebraicam seu certi gradus exprimi 32 potest ...) " (GM V, p. 123).
Algebraische Kurven sind solche, die sich
durch Gleichungen eines gewissen endlichen Grades ausdrücken lassen, also durch endliche Anzahl algebraischer Operationen definierbar sind. Die transzendenten Funktionen (Kurven) hingegen transzendieren die algebraischen, d.h. sie sind nur durch unendliche Grade bzw. unendliehe braischen
Operationen
32
von
alge-
darstellbar. "Caeterum placet hoc loco, ut magis pro-
futura dicamus, fontem aperire Transcendentium 31
Iteration
quantitation, cur nimirum
GM II, p. 324 (vgl. auch GM II, p. 150). Zur Literatur über den Funktionsbegriff bei Leibniz und Bernoulli vgl. M. Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, New York/Stuttgart 1965, S. 215 f., 242, 456 f., und D. Mahnke: Die Entstehung des Funktionsbegriffes, Kant-Studien 31, 1926, S. 246-28. Damit meint Leibniz wahrscheinlich sein 1678/79 geschriebenes Stück, worin er die algebraischen Kurven analytische nennt: "Curva analytioa est, cujus natura aequatione certi gradus exhiberi potest" (GM V, 103).
Der mathematische
Funktionsbegriff
229
quaedam problemata neque sint plana, ñeque solida, ñeque sursolida, aut ullius certi gradus, sed omnem aequationem Algebraicam transcendant" (GM V, p. 2 2 8 ) . 3 3 Euler,
der Schüler von Johann Bernoulli, nimmt nun dessen Funktionsbe-
griff wieder auf, macht ihn zum Grundbegriff
der· Analysis
infinitorum
und
präzisiert den Ausdruck "une quantité composée de quelque manière que ce soit" der Bernoulli sehen Definition. "Functio quantitatis variabilis, est expressio analytica quomodocunque composita ex illa quantitate variabili, & numeris seu quantitatibus constantibus" (Euler (1), § 4). Den Ausdruck "expressio analytica" definiert Euler nun allerdings nicht näher, aus den Beispielen aber und den Arten von Funktionen erhellt, daß es sich um einen algebraischen Ausdruck handelt, also um einen Ausdruck, der aus Operationen der Analysis, d.h. Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Potenzierung, Radizierung, Differentiation und Integration zusammengesetzt ist. 3 ^ Was bedeutet diese Präzisierung nun für den Funktionsbegriff?
Funktionen
gehorchen allesamt einem algebraisch ausdrückbaren Gesetz. Als solche sind sie alle differenzierbar, also stetig. Der Begriff der Stetigkeit
deckte
sich bei Euler mit dem Begriff der Differenz ierbarkeit, denn er definiert die Stetigkeit folgendermaßen: "Ex hac linearum curvarum idea statim sequitur earum divisio in continuas cet curva continua
et discontinuas
seu mixtas.
Linea scili-
ita est comparata, ut eius natura per unam ipsius χ
functionem definitam exprimatur. Quodsi autem linea curva ita sit comparata, 33
34
Auch Wolff unterscheidet transcendentische und algebraische Linien: "Eine transcendentische Linie wird genennet, deren Natur durch keine algebraische Gleichung sich erklären lässt" (Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, Vol. IV, Halle 1750, p. 1679). Aus einer unveröffentlichten Handschrift Eulers zum Calculus differentialis, die wahrscheinlich noch vor 1730 datiert, wird die Bedeutung des Ausdruckes "expressio analytica" im oben angegebenen Sinne deutlich: "Quantitas quomodocunque ex una vel pluribus quantitatibus composita appellatur ejus unius vel plurium functio. Compositio autem vel additione, vel subtractione, vel multiplicatione, vel divisione, vel elevatione ad potestates, vel sumendis logarithmis, vel denique harum operationum pluribus simul absolví potest." Zit. in A.P. Youschkevitch: "Euler und Lagrange über die Grundlagen der Analysis" in: L. Euler 1707/1957, Berlin 1959, p. 226. Eulers Definition 1748 ist also weiter, denn die algebraischen Operationen Differentiation und Integration sind im "analytischen Ausdruck" enthalten.
230
Die Problematik der Relation
ut variae eius portiones BM, MD, DM etc. per varias ipsius χ functiones exprimantur, ita ut, postquam ex una functione portio BM fuerit definita, tum ex alia functione portio MD describatur, huiusmodi lineas curvas oontinuas
seu mixtas
dis-
et -irregulares appel lamus, propterea quod non secund-
um unam legem constantem formantur atque ex portionibus variarum curvarum 35 continuarum componuntur."
Dieser Begriff der Stetigkeit entspricht also
dem heutigen der Differenzierbarkeit. Ein geometrisches Beispiel einer im Eulerschen Sinne stetigen und unstetigen Funktion möge dies veranschaulichen:
stetig:
unstetig: Β
M
D
Bei den unstetigen Funktionen stellt sich das Problem - in heutiger Terminologie - der links- und rechtsseitigen Differentiation. Entscheidend ist also, daß Funktionen als Expressiones analyticas immer stetig 36 nach einem beständigen Gesetz fortgehen (Fluxion!).
sind, d.h.
Euler merkte bald, daß der Funktionsbegriff des ersten Buches (Expressio analytica) für die Untersuchungen über Kontinuität bzw. Diskontinuität der Funktionen zu eng war, denn schon im zweiten Buch (vgl. Zitat) redet er ja von diskontinuierlichen Funktionen,
die zusammengesetzt sind aus verschie-
denen kontinuierlichen und so nicht durch einen analytischen Ausdruck repräsentierbar sind. So sieht er sich veranlaßt, seinen Funktionsbegriff zu erweitern zu dem einer willkürlichen Zuordnung (Dependenz): "Quae autem quantitates hoc modo ab aliis pendent, ut his mutatis etiam ipsae mutationes subeant, eae harum functiones appellar! soient; quae denominatici patet atque ornnes modos, quibus una quantitas
35 36
latissime
per alias deterrrdnari
potest,
Zitiert aus Euler (1) aus der kritischen Ausgabe: Leonhard! Euleri Opera Omnia, Series I, vol. 9, S. 11. Diese Definition der Stetigkeit wirft ein Licht auf das im 18. Jhd. so heftig diskutierte Gesetz der Stetigkeit, das Leibniz inaugurierte und das heute so oft mißverstanden wird. Das Gesetz der Stetigkeit besagt nämlich primär nicht, daß zwischen zwei Formae oder zwischen zwei Punkten immer noch ein(e) dritte(r) gefunden wird, sondern es besagt die allgemeine Gesetzhaftigkeit der Erscheinungen.
231
Der Funktionsbegriff in Kants Entwicklung in se complectitur"
(Euler (3), p. VI). Damit ist wohl gezeigt, daß Euler
als der Schöpfer des Funktionsbegriffs der modernen Analysis zu gelten hat. Die Mathematik-Lehrbücher des 2. Teils des 18. Jhds. eignen sich denn auch 37 meist Eulers Definition der Funktion an. Eulers fundamentale Bedeutung für den Begriff der Funktion ersieht man auch daraus, daß seine Notation 38 einer Funktion (f(x)) heute noch im Gebrauch ist. Der Funktionsgedanke läßt sich bis auf die Antike zurückverfolgen. Leibniz ist allerdings der erste, der ihn auf einen Begriff brachte, indem er den alltäglichen Ausdruck "functio" (von "fungi", eine Aufgabe verrichten) für die Stücke einer Kurve verwendete, die eine Aufgabe bei der Bestimmung derselben verrichten (z.B. Tangente, Koordinate). Der grundlegende Gedanke der Funktion ist der der Relation,
die eine Dependenz ausdrückt. Weil z.B.
Wolff im Relationsbegriff diese Dependenz immer schon dachte, glaubte er, mit dem Relationsbegriff allein in der Mathematik auszukommen. Die Trennung von Funktion und Relation und damit eo ipso die Befreiung des Relationsbegriffs aus der Fessel der Dependenz (die keine symmetrischen Relationen zuläßt), wird bei Kant zu einem zentralen philosophischen Thema. 1755 hat Euler den Funktionsbegriff hinreichend allgemein gefaßt.
2.4.1.3. Der Funktionsbegriff in Kants Entwicklung Der mathematische Funktionsbegriff war Kant seit seiner Jugend geläufig. In seiner Erstlingsschrift spricht er von Funktionen der Geschwindigkeit: "wenn man aber eine kleinere Funktion als die Funktion
(wie Herr BUI finger sich ausdrückt)
der schlechten Geschwindigkeit nehmen wollte ..." (GWS,
S. 83; vgl. S. 173). Kant rekurriert hier also auf den Funktionsbegriff.
Bilfingerschen
Funktion ist, wie man aus dem Kontext ersieht, ein Linien-
stück, das die Linie der Geschwindigkeit bestimmt. Sie ist hier also noch ganz im analytisch-geometrischen Sinne von Leibniz und den ßernoullis
37
38
So etwa D'Alembert ira Artikel "Fonction" der Encyclopédie des Sciences, loc. cit.: "aujourd'hui on appelle fonction de x, ou en général d'une quantité quelconque, une quantité algébrique composée de tant de termes qu'on voudra, et dans laquelle χ se trouve d'une manière quelconque, mêlée, ou non avec des constantes." Vgl. M. Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Vol. III, New York/Stuttgart 1965, p. 882.
232
Die Problematik der Relation
gedacht. Bilfinger definiert denn auch in der bezüglichen Abhandlung "De viribus corpori moto insitis" die Funktion so: "Functionem alicujus lineae voco quanti tatem quamcumque ex linea illa sola vel cum quanti tati bus al i is 39 constantibus utcunque compositam."
Funktionen sind hier wie bei Leibniz
und den Brüdern Jakob und Johann Bernoulli gewisse geometrische Stücke, die eine Linie bestimmen, so etwa Geschwindigkeitskomponenten in einem Kräfteparallelogramm. Kant war also schon zu Beginn seiner Studienzeit mit dem mathematischen Funktionsbegriff, wenn auch mit 40 einem alten - der neue Eulersche erschien fast gleichzeitig - , vertraut. Er kennt ebenfalls den biologisch-physiologischen, den wir kurz philoso41 phischen nannten. So spricht er in (AA 9 , S. 463) von den "Funktionen 42 des Körpers"
oder genereller von den Funktionen des Organismus (AA 15,
S. 968). In einem allerdings von psychologischen
Vermögensvorstellungen
gereinigten Sinne spricht Kant auch von "intellectuellen Funktionen"
(vgl.
2.4.3.). Eine typische Stelle sei noch angeführt: "So hat der Körper des Menschen ein Verhältnis der Teile untereinander nach materiellen Gesetzen; aber, in so ferne er durch den Geist, der in ihm lebt, erhalten wird, haben seine verschiedenen Gliedmaßen und ihre Funktionen einen bezeichnenden Wert für diejenige Seelenkräfte, durch deren Wirkung sie ihre Gestalt, Tätigkeit und Beharrlichkeit haben" (Träume, S. 364). Kant referiert hier über Swedenborgs Geist-These in der traditionellen Terminologie der Diskussion über das Verhältnis von Funktionen der körperlichen Organe zu denen der Seele. Weil er den Wert der Funktionen des Körpers als von den Seelenkräften abhängigen darstellt, kann Swedenborg als Influxionist bezeichnet werden im Gegensatz zu Kants Thesen 1762, in denen er sich als Verfechter der Theorie der prästabilierten Harmonie ausweist (vgl. 2.2.1.). 39 40
41 42
Gedruckt in: Commentarli Academiae Petropolitanae, Tora I, 1728, p. 48. Kant kannte aber auch neben dem geometrischen Funktionsbegriff den Eulerschen algebraisch-analytischen, der die geometrische Funktion, die Linie, durch eine Zahlformel ausdrückt: "... daß sich eine solche Linie (z.B. die Parabel durch die Formel ax = y2) willkürlich denken ..." (AA 8, S. 192). Kant kennt auch die Bedeutung von Funktion eines Amtsinhabers, w e n n er von der "Funktion eines Universitätsgelehrten" (AA 6, S. 8) spricht. Vgl. auch die Terme "animalische Functionen" (AA 15, S. 64) und "functiones corporis vitales"(AA 15, S. 949) und "Funktionen des Körpers" (AA 9, S. 463).
233
Das erste Auftreten des Funktionsbegriffs Der mathematisoh-philosophisehe
Funktionsbegriff
taucht etwa 1773 kurz
vor den Reflexionen des Duisburger Nachlasses auf im Zusammenhang mit der Reflexion auf die Analogien der Erfahrung. Funktion meint Stellenanweisen im Sinne der analytischen Geometrie, in der Stellen in Raum und Zeit angewiesen werden. Die Reflexion auf die Leitfadenproblematik gestattet Kant die Übertragung auf logische Funktionen, die Stellen im Urteil
anweisen
(vgl. 2.4.3.). In der KrV wird der Funktionsbegriff einerseits als Begriff der Theorie der Erkenntnisvermögen, also in alter Tradition, gebraucht, andererseits wird der mathematische Sinn nahtlos in die Theorie der Funktionen des Verstandes eingebaut (vgl. 3.1.4.), die so nicht mehr psychologische, sondern transzendentale Theorie ist. Im Opus postumum wird die Verbindung zwischen Physik und Transzendental-Philosophie unter anderem auch im Funktionsbegriff gesucht: die Funktionen der bewegenden Kräfte (AA 21, S. 307) werden von den mathematischen und dynamischen Funktionen des Verstandes her bestimmt.
2.4.2. Das erste Auftreten des mathematisch-philosophischen
Funktionsbe-
griffs 1772-75
In der Dissertati o wies Kant den Zusammenhang von sinnlicher Form und Ordnung auf. Ordnung ist die Einheit des Gesetzes, und das Gesetz (Lex) ist die Form. In 2.3.3. sprachen wir von der ordnenden Funktion der Vernunft. Diese Vernunftform (Subordination) ist ebenso wie die der Sinnlichkeit (Koordination) in Akten gegründet. Die Differenz von Usus logicus und Usus realis intellectus führt zur gedoppelten Vernunftform: zur logischen und realen. In R 4629
(72-75) versucht nun Kant, diese ordnende
Funktion
der
Vernunft
im Zusammenhang mit derjenigen der Sinnlichkeit genauer zu bestimmen. Dies gelingt ihm durch eine erneute Reflexion auf das, was Ordnung ist. Er beginnt die Reflexion mit der Aufzählung dreier Grundbegriffe der Erkenntnis, 43 nämlich Qualität, Quantität und Quaeität ("wie etwas ist"). Danach grenzt
43
"Quaeität" als Frage nach dem Wie wird Titel der Relationskategorien. Dies bestätigt unsere These in 2.2.1.
234
Die Problematik der Relation
er die Form der Sinnlichkeit von der Sinnlichkeit schlechthin ab: "Das, wodurch die Dinge gegeben sind, ist empfindung; wie sie gegeben sind, reine Anschauungen." Das "Wie des Gegebenseins" ist die Frage nach der Form,
dem Modus der sinnlichen Erkenntnis. Die Antwort ist: als reine An-
schauungen, also als Formen der Anschauung. Wie kann man nun die Form des Verstandes aus dem Konnex von Form und Ordnung bestimmen? "Die logische Form ist eben das vor die Verstandes Vorstellungen von einem Dinge, was räum und Zeit vor die Erscheinungen derselben sind: nemlich jene enthalten die stellen, sie zu ordnen." Um die Analogie zu verstehen, muß die ordnende Funktion der Sinnlichkeit, wie sie 1772-75 gefaßt wird, genauer bestimmt werden. Wir greifen dabei auf die Resultate von 2.3.2. zurück. Danach stellt sich die Frage nach dem Ausdruck
"Verstandesvorstellungen",
der hier von einiger Bedeutung ist. Wir sahen, daß die Ordnung
der Sinnlichkeit
- metaphorisch ausgedrückt -
der Rahmen ist, in dem die Gesetze der Koordination definiert werden können. Kant rekurrierte dabei auf ein Koordinatensystem, das mit seinen Stellen (positus)
44
die Bedingung für die räumlichen und zeitlichen Stellen 45
ist. Stellen sind mathematische Loci.
Die sinnliche Form enthält also
Stellen, dadurch wir Gegebenes ordnen können. "Aber die Erscheinungen haben auch eine Form, einen in unserm Subiekt liegenden Grund, wodurch wir entweder die Eindrücke selbst oder das, was ihnen correspondírt, ordnen und jedem theile derselben seine Stelle geben" (R 4534; 72-75). Dabei ist der Ausdruck "ordnen"
entscheidend, denn er bedeutet das Zuordnen von etwas
zu etwas innerhalb einer bestimmten Ordnung. Die gesetzlichen also
44 45
Actus
ordnen
zu.
"positus" ist ein Ausdruck, den Kant schon in der Mp. Herder gebrauchte (Mp. Herder 34) und der auch bei Baumgarten geläufig ist. Den Ausdruck "Stelle" für den mathematischen Punkt im Koordinatensystem gebraucht Kant noch in der KrV: "Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d.i. bloße Stellen ihrer Einschränkung; Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen als aus Bestandteilen ... kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden" (B 211). Die Auffassung des Punktes (Stelle) als Limes konnte Kant bei Leibniz nachlesen, der in GM III, p. 536 schreibt: "Et revera puncta concipio, non ut elementa lineae, sed ut limites", vgl. KrV, Β 469.
235
Das erste Auftreten des Funktionsbegriffs Worin besteht nun die Übertragung auf die logische Form, sind doch die logische und sinnliche Form qua Form isomorph: die sinnliche enthält
Stellen, die die Erscheinungen ordnen, die logische enthält Stellen, die die Verstandesvorstellungen von einem Dinge ordnen. Was aber sind Verstandesvorstellungen? Kant schrieb zuerst "Begriffe", strich dies aber wieder durch. "Begriffe von Dingen" sind wohl gemeint, denn der Ausdruck "Verstandesvorstellungen" ist analog zu dem der "sinnlichen Vorstellungen" gebildet, welche letztere dadurch zu e r s t e m werden, daß der Verstand sie denkt: "Durch den Verstand werden entweder Dinge gedacht, oder nur ihre sinnliche Vorstellung" (R 4629). Es geht also Kant nicht um die Bestimmung des Denkens der Dinge "sicuti sunt", sondern um den Anteil des Verstandes an einer Erkenntnis, also um das Denken der Dinge "sicuti apparent". Verstandesvorstellungen sind also wohl Umfangsei emente eines möglichen Begriffs, d.h. diskursiv denkbare Vorstellungen. Was bedeuten nun die Aktus in einem solchen Form- und Ordnungsbegriff? 46 Ihnen kommt das Stellenanweisen
zu.
"Die Vorstellung, wodurch wir einem
obiect seine eigenthUmliche logische Stelle anweisen, ist der reale Verstandesbegrif und rein: z.E. Etwas, was ich jederzeit nur als subiect brauchen kann; Etwas, wovon ich hypothetisch auf ein consequens schließen muß" (ib.). Die Handlung
des Anweisens
wird also durch den Verstandesbegriff,
der ja eine Handlung des Denkens ist, bestimmt; der Bereich des Angewiesenen ist die Menge der logischen Stellen, die offenbar Stellen
in einem
Urteile
(kategorisch/hypothetisch) sind. Dieses Stellenanweisen ist nun aber keineswegs willkürlich, so wie man etwa im Koordinatennetz verschiedene Punkte als Funktionswerte auszeichnen kann. Entscheidend ist, daß ein gewisses Gesetz das Anweisen regelt. Schon bei Baumgarten heißt es: "Repraesentatio ex coniunctione eius cum aliis determinatus est positus (Stelle). Ubi ergo 46 Der Ausdruck "Stellenanweisen" kommt auch bei Lambert vor: "Und sollen wir denselben (seil, den Sachen) eine locale Stelle anweisen ..." (Architektonik § 431). Auch in der KrV ist dieser Ausdruck noch geläufig im Zusammenhang mit der Ordnung der Kategorien, also der Ordnung des Verstandes: "... gemäß der Ordnung der Kategorien vorstellig zu machen, und jedem seine Stelle beweisen" (B 282, Grillo schreibt anstatt "beweisen" "anweisen"). Die Ordnung der Kategorien ist sinnlich darstellbar in einer Tafel, die Stellen auszeichnet: "so ist es allerdings von gemeingültigen Urteilen verschieden und verdient in einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt ... eine besondere Stelle" (B 96 f.) .
236
Die Problematik der Relation
positus, ibi leges" (ßg. Mp. § 85). Die Stelle ist also dadurch bestimmt, daß sie ein bestimmtes Verhältnis zu andern Stellen hat. Das Stellenanweisen ist danach wesentlich durch die Relationen der Stellen bedingt. Es folgt also selbst gewissen Gesetzen. "Dadurch daß unsre Empfindungen eine bestimmte Stelle im Räume und der Zeit bekommen, erlangen sie ein function unter den Erscheinungen; die Stelle aber im Räume und in der Zeit ist bestimmt durch die Nachbarschaft anderer Empfindungen in denselben" (ib.). Die Actio mentis der Sinnlichkeit weist den Empfindungen bestimmte Stellen in Raum und Zeit zu, also etwa ein 4-Tupel (x^, y , Z y
t^). Die Stelle ist bestimmt, d.h. wie Kant
anmerkt: nicht willkürlich, sondern eben bestimmt durch die Relationen zu andern Stellen. Das Anweisen ist geregelt durch die andern Stellen bzw. durch das Verhältnis der angewiesenen Stellen zu den übrigen. Die angewiesenen Stellen, heißt es, erlangen eine Funktion
unter den Erscheinungen.
Die Empfindungen, denen eine Raum-Zeit-Stelle zugewiesen wird, sind aber Erscheinungen, d.h. durch das Zuweisen erhalten sie einen gewissen Wert 47 innerhalb des Relationsgefüges der Erscheinungen. Funktionsbegriff
der Mathematik
Damit hat nun Kant den
für die philosophische Problematik frucht-
bar gemacht, ganz ähnlich, wie er den mathematischen Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einführte. Der Begriff ist eindeutig mathematisch, denn es ist von "anweisen (zuordnen) einer Stelle" (in einem Koordinatensystem) die Rede. Der Funktionsbegriff (Stellenanweisen) ist also dem analytisch-geometrischen Zusammenhang entnommen und meint die Actio im Rahmen einer Ordnung (Koordinatensystem). Zugleich wird er aber verallgemeinert, denn auch in andern Ordnungen (Verstandesordnung) bekommt er . 48 seinen cSinn.
47
48
Vgl. die R 3955 (1769), wo die Empfindungen zusammen mit der Form der Anschauung als Erscheinung verstanden werden: "Die empirische Erkenntnisse sind empfindung, Erscheinung und empirischer Begrif; aus dem ersten ist die materie alles Erkenntnisses herzuleiten, die zweite fügt die form der Anschauung dazu." Der Zusammenhang mit Ordnung, innerhalb deren Funktionen einen Sinn haben, bleibt auch in der KrV gewahrt: "Jene Doctrin (seil, der Urteilskraft) handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, gerade den Funktionen und der Ordnung jener Gemütskräfte gemäß" (B 169).
Das erste Auftreten des Funktionsbegriffs
237
Das analoge Verhältnis im logischen Falle, wo also Verstandesvorstel1 ungen Stellen angewiesen werden, lautet so bei Kant: "Durch die Bestimmung der logischen Stelle bekommt die Vorstellung eine Function unter den Begriffen, e.g. antecedens, consequens" (ib.). Die Actus mentis weisen Stellen an, deren Verhältnis zueinander durch die Form geregelt wird. Was aber meint der Ausdruck "logische Stelle",
der bei Adickes einige Verwirrung
ausgelöst hat? In der Logik-Reflexion 1690 (64-75?), die von der Klarheit und Deutlichkeit der anschaulichen und begrifflichen Vorstellungen handelt, wird das Gegensatzpaar Ordnung und Verwirrung von Deutlichkeit und Undeutlichkeit abgegrenzt, über die Ordnung bezüglich der sinnlichen und intellektuellen Form sagt Kant: "Ordnung im Raum und der Zeit (perspicuitas). Ordnung durch Stellen unter den Begriffen." Als logische Stelle nennt Kant in einem Zusatz (76-78): "1. Subiect und praedicat; 2. Grund und Folge; 3. Ganzes und Eintheilung." Damit ist wohl klar, daß die Stellen Stellen der Ordnung des Verstandes in dem hier angegebenen terminologischen Sinne 49 sind.
Der Ausdruck "logische Stelle" ist kein Novum in Kants Reflexionen.
Die Reflexion auf die Topik, die das "domus conceptuum intellectualium" (R 4446; vgl. 2.3.3.) skizziert, hängt ja eng mit der Leitfadenfrage zusammen. Die Loci metaphysici, oder wie es bei Lambert heißt: Loci 50logici, sind ja nichts anderes als Stellen in der Ordnung des Verstandes.
Adickes
sagt zur zitierten Reflexion: "Stellen? Das Wort ist doch wohl als Infinitiv zu- fassen ... indem man die Dinge unter Begriffe stellt (bringt)." Diese Interpretation verdirbt aber den Sinn der Reflexion vollständig. Adickes' Kommentar ist wohl nur dadurch zu erklären, daß er die Metaphysik-Reflexionen noch nicht kannte.
49
50
Schon Segner spricht in seiner Logik von Stellen im Urteil: "Subjectum in propositione primum locum occupet, praedicatum secundum", J.A. Segner, Specimen logicae, Jenae 1740, p. 70. In einer zur logischen parallelen Reflexion zur Metaphysik schreibt Kant zum selben Thema: "Deutlichkeit ist der Undeutlichkeit, Ordnung der Verwirrung opponiert. Die Ordnung kommt darauf an, daß man jeder Theilvorstellung ihre Stelle gebe, also ist es nicht blos das Bewusstseyn dieser Theilvorstellung (Deutlichkeit), sondern auch die zusammenund unterordnung. Die Verstandesdeutlichkeit kommt auf die Zergliederung an, und bekommt Ordnung durch die logischen Stellen" (R 4641; 73-75).
Die Problematik der Relation
238
Fassen wir zusammen: im Falle der Form der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) mit deren spezifischen Ordnung sind die Argumente Empfindungen, die zugewiesenen Funktionswerte Erscheinungen. Im logischen Falle mit seiner spezifischen Ordnung sind Vorstellungen, seien sie nun sinnlich oder apriori, Argumente, denen als Funktionswerte Begriffe als logische Stellen im Urteil zugeordnet werden. Was es zu bedeuten hat, daß die Funktionswerte Stellen im Urteil sind, werden wir noch näher untersuchen (2.4.3.). Wir wollen nun noch den Zusammenhang sophischen
Funktionsbegriffs
dieses von Kant entwickelten
mit dem mathematischen
philo-
betrachten. Zuerst soll
die terminologische Obereinstimmung festgehalten werden, danach sollen die Kantischen Reflexionen über diese Obereinstimmung dargelegt werden. Funktionen weisen Stellen an oder determinieren (bestimmen) sie. Als Ausgangspunkt wählen wir Kästners Lehrbuch, das von Kant gerühmt wurde und 51 das er selber besaß
: Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen, Göttin-
gen 1760. Kästner definiert in dem Kapitel "Von den krummen Linien", also einem Kapitel der analytischen Geometrie, die Funktion wie folgt: "Eine veränderliche Grösse y; die auf was für Art man will durch eine veränderliche Grösse x; und Grössen, die immer einerley Werth behalten, wenn gleich χ und y andere Werthe bekommen, durch beständige heißt eine Function
Grössen
bestimmt wird;
von x" (ib. § 323). Kästner bedient sich also hier
Eulers fortschrittlicher Definition (1755; vgl. 2.4.1.2.), denn die "expressio analytica" wird zum "omnes modos" oder bei Kästner zum "auf was für eine Art man will". Dadurch ist also eine Übertragung des Funktionsbegriffs auf beliebige Kontexte - auch auf philosophische - angezeigt. Zudem bestimmen
(bei Euler: determinare) Funktionen die Funktionswerte,
d.h. in der Terminologie von Euler und Kästner: die Funktionen werden bestimmt, denn sie identifizieren
Funktionswert
und Funktion
(also aktives
gesetzliches Zuordnen). Segner, den Kant ja auch kannte, wie wir aus Prol. § 2 wissen, faßt die Funktion als Einheit des Gesetzes der Zuordnung auf,
51
Vgl. Warda, loc. cit. S. 39 und NG, S. 170: "Niemand hat vielleicht deutlicher und bestimmter gewiesen, was man sich unter den negativen Größen vorzustellen habe, als der berühmte Herr Prof. Kästner, unter dessen Händen alles genau, faßlich und angenehm wird." Vgl. auch die Rezension zur Ausgabe von Kästners Werken (AA 20, S. 410 ff.).
239
Das erste Auftreten des Funktionsbegriffs
nämlich als formula (Expressio analytica), und grenzte sie gegenüber Function als abhängiger variablen Größe (Funktionswert) ab: "Si ν detur per constantes quascunque et variabilem x, vel variabiles χ, y , ζ, etc. mediante formula quacunque: dicetur formula illa Funotio
variabilis χ, vel
variabi1ium, quae in earn ingrediuntur. Saepe etiam ipsa quantitas v, quae ita datur, ejusdem variabilis, vel earundem variabilium, Functio appella52 bitur."
Kant scheint sich vorerst der traditionellen Bedeutung von Funk-
tion,als abhängige Variable,(Funktionswert) anzuschließen, denn das Anweisen ist ein Anweisen beispielsweise an eine Funktion unter den Erscheinungen. Im analytisch-geometrischen Falle sind die Funktionen bei Kästner naten:
Ordi-
"Deren (seil. d. Abszissen) Funktionen die Ordinaten sind" (ib.
§ 331). Hinter den Ausdruck "Ordinaten" schreibt Kästner: "ordinatiti) appi icatae". Diesen Ausdruck verwendete Kant in seiner Dissertati o zur Vorstellung der Form der Zeit (vgl. 2.3.2.). Ordinaten sind also Produkte einer ordinatim Anweisung, d.h. einer Anweisung nach bestimmter Ordnung, eben beispielsweise der Koordination. Bei Kant sind die Funktionen als Erscheinungen oder als Begriffe auch "ordinatim applicatae": sie werden als Funktionen nach der Ordnung des Raumes oder der Begriffe untereinander bestimmten Stellen zugewiesen. Es scheint also offensichtlich, daß der Begriff der Funktion, der zwischen Handlung, Form und Ordnung vermittelt, seinen präzisen Sinn
aus der Mathematik entlehnt.
Neben der gedanklichen und terminologischen Übereinstimmung
zwischen
mathematischem und philosophischem Funktionsbegriff kann man aber auch Kants Bestreben aufweisen, mathematische Begriffe für die Philosophie fruchtbar zu machen. Dieses Bemühen muß man unterscheiden von der Übernahme der mathematischen Methode in die Philosophie, was Kant ja früh schon ablehnte aus Einsicht in die differente Materie, die differente Methoden fordert. Der Grund der Übernahme von mathematischen Begriffen in Philosophie liegt darin, daß die Form jeder Wissenschaft dieselbe ist: "In beyden (seil. Logik und Metaphysik) ist die Vernunft das Obiect, denn die (rationale) Form ist in jeder Wissenschaft der philosophie und Mathe-
52
J.A. Segner: Elementa Analyseos infinitorum, Haile/Magdeburg 1767, p. 38 (vgl. AA 24, S. 488).
240
Die Problematik der Relation
matik" (R 3939; 1769). Kant hat zur Form "rational" beigefügt und meint wohl damit logische Form z.B. in Definitionen nach dem Satz der Identität. Mathematische Definitionen können aber, ebenso wie analytische, philosophische sein: "Denn der Gebrauch der Vernunft ist in der Geometrie in Ansehung ... der form discursiv" (R 4938; 76-78). Als er den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einführte, schrieb Kant: "Was die Metaphysik anlangt, so hat diese Wissenschaft, anstatt sich einige von den Begriffen oder Lehren der Mathematik zu Nutze zu machen ..." (NG, S. 167). Und explizit spricht er von einem Gewinn für die Metaphysik, wenn man mathematische Begriffe in ihr definiert: "Ich unternehme es, der Weltweisheit den Gewinn von einem annoch ungebrauchten, obzwar höchst nötigen, Begriffe zu verschaffen ..." (NG, S. 169). Mit dem gleichen Recht und mit der gleichen transzendentalen Reflexion wie Kant die negativen Größen in die Philosophie einführte, nämlich mit der Reflexion auf den mechanistisch-mathematischen Ansatz der Physik, der einfache asymmetrische Relationen voraussetzt, kann Kant den Funktionsbegriff einführen, da in der Physik die Kräfte, die Grund-Folge-Relationen also, Funktionen sind von Masse und Beschleunigung.
2.4.3. Die Funktionsarten Die formale Bestimmung der Funktion (Stellenanweisen) läßt je nach Ordnung, in der Stellen ausgezeichnet sind, und je nach Differenz der Actus verschiedene Funktionsarten zu. Die Funktionen, als Akte verstanden, können in weniger formaler Bedeutung als Verrichtungen eines Vermögens verstanden 53 werden, also im alten philosophischen Sinne (vgl. 2.4.1.1.). So unterscheidet denn Kant auch zur Zeit der Einführung des Funktionsbegriffes in die Philosophie (1772-75) sensitive und intellektuale, logische und reale Funktionen und Funktionen der Apperzeption und der Apprehension. 53
"Die reale Funktion des Verstandes; 2. die formale und logische, sowie bei der Sinnlichkeit die reale affectionen (Empfindung) und die form a l e " (R 408, 70-78?). Daß diese R aus dem Anthropologie-Nachlaß stammt ist ein Indiz dafür, daß hier "Funktion" diesen alten philosophischen Sinn hat.
Die Funktionsarten
241
Am Ende der R 4629, wo Kant den Funktionsbegriff für die Analogien von Sinnlichkeit und Verstand einführt, unterscheidet er sensitive von intellektualen Funktionen. Sobald aber die Sinnlichkeit als reine Rezeptivität verstanden wird und nicht mehr vom Actus mentis coordinans der Dissertatio her gedeutet wird, wird der Ausdruck "sensitive Funktion", der ein Hapax legomenon ist, bedeutungslos. Die Leistung der sensitiven Funktion wird einer intellektualen Funktion, der realen, im Gegensatz zur logischen, übertragen, einer Funktion des Verstandes also, der nun allein Spontaneität, Handlung ist. Die reale Funktion ist die Kategorie, die als Handlung des Usus realis intellectus gedeutet wird, als Art des Setzens. Kant erkennt dabei bereits das Resultat der metaphysischen Deduktion: das Zusammentreffen von logischer und realer Funktion. So kann er die realen Funktionen nach den logischen der Relation und der Qualität unterteilen in Funktionen der Apprehension und Funktionen der Apperzeption. Wir beginnen unsere Erörterung der Funktionsarten mit der Abgrenzung von Sinnlichkeit und Verstand und eo ipso von sensitiver und intellektualer Funktion. Am Schluß der R 4629 (vgl. 2.4.2.) schreibt Kant: "Doch ist die sensitive Function der Grund der intellectual en." Die sensitive Funktion muß diejenige sein, die einer Empfindung eine Raum-Zeit-Stelle anweist. "Sensitive Funktion" scheint, wenn man Sinnlichkeit als Rezeptivität versteht und "Funktion" als aktives Stellenanweisen, ein hölzernes Eisen zu sein. Nun spricht Kant ja allerdings in der Dissertatio von der Actio mentis coordinans als einer Tätigkeit der Sinnlichkeit. Also ist nur in diesem Rahmen der Ausdruck sinnvoll. Die Abgrenzung von Sinnlichkeit und Verstand im Sinne von reiner Rezeptivität und Spontaneität ist ihm also noch nicht gelungen. In einer erneuten Reflexion auf Raum und Zeit, in der er versucht, die Anschauungsformen abzugrenzen, kommt Kant zu einer neuen Bestimmung ihrer Funktion in der Erkenntnis. "Denn sie (seil, die Zeit) ist die Bedingung der coordination durch den inneren sinn, welche nicht anders als durch die Vorstellungen, welche darnach gestellt
werden, bestimmt und eingeschränkt werden muß. Sich
selbst kan die Receptivitaet der Zusammenordnungen nicht einschränken" (R 4673; 1774; u.v.V. ). Die Zeit ist selber nicht mehr Actus coordinationiSj sondern bloße Bedingung
der Koordination. Die Koordination der Vorstellun-
242
Die Problematik der Relation
gen wird durch das Stellen selbst bestimmt, und das heißt, sie wird durch die stellenden Akte des Verstandes limitiert. Die Zeit ist also kein spon54 tanes Koordinieren, sondern bloße Rezeptivität.
Es ist nun nicht mehr
die sensitive Funktion, die stellt, vielmehr werden die Positus durch die Kategorien bestimmt. Dies gilt es zu zeigen.
(Stellen)
Raum und Zeit ord55
nen nicht aktiv, sondern sind bloß passive Bedingungen des Empfangens. So ist der Raum z.B. nicht die im Ordnen sich vollziehende Ordnung, sondern bloß das, was Ordnung möglich macht: "Die Ordnung ander Ordnung
der Dinge,
die
seyn, ist nicht der Raum, sondern der Raum ist daß, was eine oder besser coordination
nebeneinsolche
nach bestimmten Bedingungen möglich macht"
(ib.). Diese Kritik an Leibniz, Wolff und Crusius, die alle den Raum als Ordnung verstanden, hat nun zur Folge, daß die aktive Funktion des Ordnens 56 allein dem Verstände zufallen kann.
"Wir haben keine Anschauungen als
durch die Sinne; also können dem Verstände keine andern Begriffe beywohnen, als welche auf die disposition und die Ordnung unter diesen Anschauungen gehen. Diese Begriffe müssen das allgemeine enthalten und Regeln" (ib.). Die Verstandesbegriffe allein gehen also auf Disposition (Auseinandersetzung und Ordnung, und enthalten die allgemeine Regel für die Zeitrelationen, 57 die den Erscheinungen ihre Stelle anweisen. Damit ist nun die Abgrenzung von Sinnlichkeit und Spontaneität.
54
55
56
57
58
und Verstand 58
vollzogen als Unterschied von Rezeptivität
Dasselbe gilt nun für den Raum. Auch er wird zur "ersten Bedingung der Möglichkeit äußerer Vorstellungen" (ib.). Und: Der Raum "ist nichts anderes als das Bewusstseyn seiner eigenen Receptivität, Vorstellungen (Eindrücke) der Dinge nach gewissen Verhältnißen unter einander zu empfangen" (ib.). Kant bedient sich zur Charakterisierung von Raum und Zeit nur noch passiver Verben: "Denn die Fähigkeit, mehrere Eindrücke von äußeren Dingen zuzulassen, oder die Empfänglichkeit hat an sich keine schranken" (ib.). 1770/1 sprach Kant noch Raum und Zeit und der Vernunft ordnende Funktion zu. "Gleichwie die Sinnlichkeit ein Vermögen ist, die Dinge nach Verhältnissen von Raum und Zeit zu ordnen, also auch die Vernunft ist ein Gesetz der Zusammenordnung der Dinge abgesondert von den Gesetzen der Sinnlichkeit" (R 4378, 70/1?; entstanden aus R 3958)(vgl. 2.3.3.). "Würde ich nicht durch eine allgemeine Bedingung der relation in der Zeit iedes Verhältnis derselben bestimmen, so würde ich keiner Erscheinung ihre Stelle anweisen" (R 4682; 73-75). "Die Sinnlichkeit ist die Passibilität (= Af fectibilität nach R 212) meiner Vermögen, die Intellectualität ist die Spontaneität derselben" (R 202; 69/70?). Diese R ist sicher falsch datiert.
Die Funktionsarten
243
Doch nicht nur die Abgrenzung ist damit vollzogen, sondern auch die Beziehung, also die Idee des Schematismus.
Der Gedanke des Schematismus konnte
erst entstehen, wenn der Sinnlichkeit deren aktive, ordnende Rolle abgesprochen wurde, und sie als pure passive Bedingung verstanden wird. Denn weil die Kategorien in ihrem Ordnen von Raum und Zeit her bestimmt sind, müssen sie schematisiert, d.h. unter sinnliche Bedingungen gestellt werden. "Raum und Zeit enthalten die Bedingungen der Regeln der Erscheinung, daher alle categorien in Ansehung ihrer Anwendung sie zum Grunde legen" (R 4673). Die Beschränkung auf die schematisierende Funktion der Zeit allein hat Kant wahrscheinlich im Zusammenhang mit den im Duisburger Nachlaß herausgearbeiteten Analogien der Erfahrung geleistet (vgl. 2.4.4. und 2.4.5.). "Es dienen also die Begriffe Substanz, Grund und Gantzes nur dazu, um ieder realitaet in der Erscheinung ihre Stelle anzuweisen, indem ein jedes eine function oder dimension der Zeit vorstellt, darin das obiect, was wargenommen wird, soll bestimmt und aus der Erscheinung Erfahrung werden" (R 4682). Die ordnende Funktion der Sinnlichkeit
bzw. die sensitive Funktion iiber59 trägt sich also ganz auf die Kategorien, also die realen Funktionen, deren Verhältnis zu den logischen nun untersucht werden soll. "Die logische Handlungen sind actus, wodurch wir die data zu Vorstellungen der Dinge respective gegen einander setzen und ordnen. Dadurch bekommen die Vorstellungen logische functionen. Die reale function besteht in der Art, wie wir eine Vorstellung an und vor sich selbst setzen; also ist es eine Handlung (a priori), welche ieglichem dato (a posteriori) correspondirt und wodurch dieses zum Begriffe wird. Diese handlungen sind die Quellen, woraus die logischen Möglich sind" (R 4631; 72-75). Die logischen Handlungen sind respektive Positionen, also Urteile. Das, was gesetzt ist, ist für die logische Handlung unwesentlich, wichtig allein ist, daß es geordnet wird, und zwar durch logische Stellen im Urteile. Die logischen Handlungen geben also den Vorstellungen logische Funktionen, d.i. logische Stellen. Die reale Funktion dagegen ist die Art des Setzens,
59
in der Terminologie
Die Reflexionen zu den realen Funktionen gehen auch ein in die L o g i k und Anthropologie-Vorlesungen dieser Zeit: vgl. z.B. RR 408, 413, 3041.
244
Die Problematik der Relation
von 1771/2 also die Kategorie. Sie bringt, in der Terminologie der KrV (vgl. 3.2.1.) aposteriorische Vorstellungen, Anschauungen auf die als Kategorien
Begriffe,
Begriffe a priori sind. "Dasjenige an der Vorstellung,
wodurch sie ihre eigenthlimliche function hat, stellet das Obiect vor (reale function); ihre function im Urtheile ist die respective function, wodurch sie ein Vielgültigkeit in ansehung anderer Vorstellungen hat. Die erste function geht auf das, was in der Vorstellung liegt; die zweyte, was dadurch erkannt werden kann" (R 4635; 72-75). Die reale Funktion geht also auf den kategorialen Inhalt, auf das, was in der Vorstellung liegt. Sie bringt die Argumente der logischen Funktion auf Begriffe, d.h. regelt den Argumentbereich der logischen Funktion, der selbst als solcher vielgültig ist, und der die Menge der logischen Objekte meint, über die geurteilt wird Kant dachte sich in dieser Zeit die reale Funktion als Quelle der Möglichkeit der logischen, insofern als sie überhaupt die Argumentbereiche der logischen bestimmt. Die logische Funktion regelt das Urteilen, denn Urteilen
-ist
Erkennen.
Die lange R 4634 aus derselben Zeitspanne nimmt sich der Frage des Verhältnisses von Erkennen und Urteilen an, indem sie zunächst die synthetischen Urteile thematisiert:
"Wir kennen einen jeden Gegenstand nur durch
prädikate, die wir von ihm ... gedenken. Vorher ist das, was von Vorstellungen in uns angetroffen wird, nur zu Materialien, aber nicht zum Erkenntnis zu zählen. Daher ist ein Gegenstand nur ein Etwas überhaupt, das wir durch gewisse Praedikate, die seinen Begriff ausmachen, uns gedenken." Diese Notiz ninmt die Gedanken der 69er Jahre zu den Urteilen wieder auf. Das Kennen bzw. Erkennen eines Gegenstandes geschieht nur durch Urteile, genauer durch prädikative. Insofern ist also alle Erkenntnis Urteil: "Alle Erkenntnis besteht in Urtheilen. Die Urtheile mögen nun unmittelbar oder mittelbar (Vernunftschlüsse) seyn, ... Denken heißt Urtheilen. Selbst die Begriffe sind praedicate" (R 4638; 72-75). Wir erkennen also (durch reale Funktionen) begriffene Objekte durch Urteile, die durch logische Funktionen geregelt sind. "Demnach werden Begriffe, denen kein Gegenstand gegeben ist, welche aber doch die Arten, Gegenstande überhaupt zu denken,
60
Die Gedanken der R 4634 gehen ein in das Kapitel "Vom logischen Verstandesgebrauche" der KrV. Sogar die Beispiele sind dieselben.
Die Funktionsarten
245
ausdrücken sollen, dasienige in sich enthalten, was in den Urtheilen relativ von zwey Begriffen aufeinander gedacht wird ... Die bestirnte logische Function einer Vorstellung Uberhaupt ist der reine Verstandesbegrif" (ib.). Dies ist nun bereits das Resultat
der metaphysischen
Deduktion,
d.h. das
Zusammentreffen der Kategorien mit den logischen Funktionen zu Urteilen. Das bedeutet, daß hier die Leitfadenkorrespondenz
nicht mehr nur bloß
entdeckt, sondern auch begriffen ist.6^ Die Kategorien (Verstandesbegriffe) enthalten also die logischen Funktionen (vgl. 3.2.1.) oder, anders ausgedrückt, die Kategorien sind die bestimmten logischen Funktionen (Funktionswerte), die durch Anwendung auf Gegenstände überhaupt ("denen kein Gegenstand gegeben ist"), als Argumente, resultieren. Nun versteht man auch besser, weshalb die realen Funktionen (Kategorien) die Quellen der Möglichkeit der logischen sind: die logischen sind die Ratio cognoscendi der realen, d.h. durch sie werden die realen erkannt und abgezählt, wohingegen die realen die Ratio essendi der logischen sind, da sie sie in nuce 62 enthalten.
"So sind die realfunctionen der Grund der Möglichkeit der
Vorstellung der Sachen und die logische Functionen der grund der Möglichkeit der Urtheile, folglich der Erkenntnisse" (R 4631; 72-75). Die eigentliche Aufgabe der logischen Funktionen ist das Ordnen und respective Setzen. Auf dieser Ordnung beruht nun die Kategorie und ist als inhaltliches Denken des Gegenstandes die Form der respective Gesetzten. "Diese handlungen (seil, realen Funktionen) sind die Quellen, woraus die logischen Möglich sind. Daraus entspringen alle Erkenntnisse, wie wir nemlich data fassen und uns selbst etwas, was Erkenntnis heißt, formiren können" (R 4631; 72-75). Aus der Genesis des Kantischen Denkens sieht man sehr schön, daß es nie darum gehen kann, zwölf logische Urteilsformen als fix und vollständig gegeben anzusehen und daraus nun Kategorien abzulesen. Das Entscheidende am Leitfadengedanken ist, daß die Urteilsarten Ratio cognoscendi der Kate61 62
Vgl. auch R 4672 (73-75). In der KrV drückt Kant diesen Gedanken so aus: "Sie (seil, die Kategorien) sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird" (B 128). Kategorien bestimmen also die logische Funktion in Ansehung eines Gegenstandes (Anschauung) und enthalten so die bestimmte logische Funktion.
246
Die Problematik der Relation
gorien sind, das aber bedeutet nicht, daß allen Urteilsarten genau eine Kategorie entsprechen muß. Man darf daher auch nicht darüber klagen, daß die Urteilstafel erst eigentlich in der KrV in ihrer Zwölfzahl auftaucht, denn die Tafel hat bloß darstellende Bedeutung, nicht aber ist sie ein Index dafür, daß Kant den Leitfadengedanken begriffen hat (vgl. 3.1.3.). Wie aber sind nun die realen Funktionen aufgegliedert? Kant unterscheidet Funktionen der Apprehensiori von denjenigen der Apperzeption,
was auf
die kritische Unterscheidung von Qualitäts- und Relations funktionen
hinaus-
läuft. "Dadurch, daß es (x, die Empfindung) als realitaet vorgestellt wird, wird er die Materie einer Regel oder wird Empfindung einer Regel fähig und a ist nur eine Function der apprehension der Erscheinung als überhaupt gegeben. Weil nun alles in der Zeit gegeben seyn muß, sie also alles in sich befasset, so ist b. ein actus der apperception, nemlich das Bewusstseyn des Subiekts, welches appercipirt, als desjenigen, was in der gantzen Zeit gegeben ist, ist nothwendig damit verbunden, denn sonst würde die Empfindung nicht als zu mir gehörig vorgestellt werden" (R 4676; 73-75). Die Funktionen der Apprehension sind subjektive Bedingungen, unter denen wir Empfindungen wahrnehmen. Sie heißen so auch Funktionen der Wahrnehmung (R 4677; 73-75). Die Funktionen der Apperzeption dagegen sind objectiv, sie werden in der Selbstwahrnehmung (= Apperzeption, vgl. R 4677) unter eine Einheit gebracht und miteinander durch die Funktionen der Apperzeption verbunden. Ob die sensitive Funktion der Funktion der Apprehension entspricht, ist kaum eindeutig entscheidbar, denn der Duisburger-Nachlaß bietet ein sehr verwirrendes Bild der Genesis der transzendentalen Deduktion. Um es aufzuschlüsseln, müsste man die Begriffe "subjektiv" und "objektiv" pünktlich analysieren. Entscheidend ist, daß die Funktionen der Apperzeption die drei Relationskategorien sind. Aus den Funktionen der Apprehension (Wahrnehmung) werden die Qualitätskategorien, denn in der zitierten Reflexion wird durch sie ja die Empfindung als Realität vorgestellt. Sie sind aber noch eigenartig verquickt mit den Analogien. So etwa in (R 4646; 72-75): "Die Größe ist vor die reine Anschauung überhaupt ohne data. Die qualitaet vor den Unterschied der Empfindung überhaupt. Die darunter gehörige categorien beziehen sich auf Empfindungen der Verhaltnisse, welche durch die Thätigkeit der Seele gesetzt
247
Exponent und Regel
werden." Die Qualität macht also die Empfindungen zu Realitäten und bringt sie so als Relate in den Argumentbereich der Analogie-Funktionen. Damit ist wohl gezeigt, wie sich alle Funktionsarten, die Kant 1772-75 unterscheidet, zu den Funktionen der KrV läutern.
2.4.4. Exponent und Regel
In diesem Kapitel soll die mathematische Bedeutung des philosophischen Funktionsbegriffes vertieft interpretiert werden. Dazu gehen wir zunächst vom mathematischen tionsbegriff
Begriff des Exponenten
und dessen Verhältnis zum
begriffes und werden dies auf die Exposition Kästner63
Funk-
aus, interpretieren hernach damit das Verständnis des Regelder Erscheinungen
beziehen.
führt den Funktionsbegriff über sogenannte stetige Reihen ein.
Er definiert eine stetige Reihe von Größen, die dadurch bestimmt ist, daß die Differenz zweier Glieder einer Reihe "weniger als jede gegebene Größe betrage." 64 Reihe ist hier im Sinne einer Zahlenfolge verstanden, die ihre Glieder nach einem bestimmten Gesetz entstehen läßt. 6 5 Das Gesetz kann durch ein allgemeines Reihenglied (Terminus generalis) ausgedrückt werden: a
, = a + ..., n+1 η
wo a
n+l
eine Funktion von a
η
ist.
Das allgemeine Glied drückt also das Verhältnis aus zwischen zwei aufeinanderfolgenden, aber sonst beliebigen Gliedern. Dieses Verhältnis kann z.B. als Exponent bezeichnet werden, denn der Exponent ist "die Zahl, womit das Vorderglied eines Verhältnisses zu multiplizieren ist, um das Hinterglied
63 64
65
Kästner (1), § 322. Es ist ein Vorurteil der Mathematik-Historiker, daß die exakte Definition der Stetigkeit erst bei Bolzano gegeben sei, dem Entdecker des Zwischenwertsatzes; denn Bolzano definiert sozusagen wörtlich mit Kästner übereinstimmend: "wenn χ irgend ein solcher Wert ist, der Unterschied f(x+w) - f(x) kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden kann" (Bolzano: Rein analytischer Beweis ... Prag 1817, S. 21). "Eine Reihe ist nicht bloß eine Anzahl von Größen oder Gliedern; sondern es gehöret ein Gesetz dazu, nach welchem die Glieder aufeinander folgen und einander bestimmen." So definiert Lambert die Reihe (Joh.H. Lambert: Opera mathematica, ed. A. Speisefr, Zürich 1946, Bd. II, S. 301).
248
Die Problematik der Relation
zu erhalten."*^ Oer Terminus generalis kann aber insofern verallgemeinert werden, daß er eine beliebige Formel ist, durch die jedes Glied der Reihe ausdrückbar wird. So kann er z.B. eine Funktion sein: "Bedeutet nun y das allgemeine Glied einer solchen Reihe, so nennet man y eine Grösse.
veränderliche
Die Glieder der Reihe habne im Falle der Sinus-Funktion das
Verhältnis der Ordinaten untereinander: y^
: y 2 = sin x.j : sin x^·
Der Sinus fungiert dabei also in einem allgemeinen Sinne als
Exponent.^
Damit wird nun auch das mathematische Verhältnis von Exponent und Funktion klar. Funktion als Expressio analytica, Formula, verstanden, ist ein verallgemeinerter
Exponent,
nämlich der Exponent zwischen χ und y. So ist
z.B. die lineare Funktion y = ax als unendliche Menge von Rationes mit demselben Exponenten auffaßbar. Diesen Hintergrund müssen wir im Augen behalten, wenn wir nun im folgenden den Regelbegriff
zur Zeit des Duisburger-
Nachlasses interpretieren. Der Regelbegriff ist für Kants Funktionstheorie von fundamentaler Bedeutung (vgl. 2.4.5.), man braucht nur an die Interpretation der Urteile
als Regeln
bei der KrV zu denken.
Im Duisburger Nachlaß nennt Kant die Bestandstücke
einer Regel:
"Zur Ent-
stehung einer Regel werden drey Stücke Erfodert: 1. x. als das datum zu einer Regel
(obiect der Sinnlichkeit, oder vielmehr sinnliche reale Vor-
stellung). 2. a. die aptitudo zur Regel oder die Bedingung, dadurch sie überhaupt auf eine Regel bezogen wird. 3. b. der exponent der Regel" (R 4676; 73-75). Die Buchstabenfolge x, a, b gebrauchte Kant schon seit etwa 1769 zur Erklärung von prädikativen Urteilen, χ war der zu subsumierende Gegenstand, a der Begriff des Subjekts, unter den χ fällt, und b das Prädikat, das mit a verglichen wird. Hier versucht nun Kant, das Urteil zu verallgemeinern, indem er es als Regel versteht gemäß seinen Einsichten in die Analogien der Erfahrung, auf hypothetsiche und disjunktive Urteile, allerdings un66
Kästner: Anfangsgründe der Arithemtik, Göttingen 1761, S. 26. Vgl. Crusius, Mp. § 16 f.
67 68
Kästner (1) (ib.). Der Terminus "Exponent einer Reihe" in dem allgemeinen Sinne des G e setzes des Verhältnisses der Glieder untereinander ist in der damaligen Mathematik geläufig. So z.B. Kästner (1), § 628: "Dieses Verfahren setzt nun voraus, daß man die Exponenten der gesuchten Reihe, oder die Gestalt dieser Reihe (formam seriei) schon weiß ...".
249
Exponent und Regel ter Beibehaltung der einzelnen Bestandstücke.
Wir wollen diese Bestandstücke noch etwas näher bestimmen, um dann zur Definition der Regel zu kommen. Zu erwähnen bleibt noch, daß Kant bei diesen Verallgemeinerungsversuchen oft Änderungen vornahm und wir hier die uns definitiv scheinende Lösung herausgreifen; definitiv, d.h. diejenige, die dann auch in den Definitionen der Regel in späterer Zeit (etwa KrV, erste Auflage) angesetzt wird. x
ist das "Bestimmbare"^, "die sinnliche Bedingung des Subjekts (a), "substratum"^, die sinnliche Bedingung,
die a
spezifiziert
χ ist also eigentlich die Erscheinung von a. α
ist dagegen die Bedingung der Regel, d.i. ein B e g r i f f t , der eigentlich den Argumentbereich absteckt, auf den dann eine Funktion der Regel angewendet werden kann. Durch es wird das Bestinmbare χ gedacht, d.i. a ist das apperzipierte x.
b
ist der Exponent und das heißt, b ist das Verhältnis von Bedingung und 72 Assertion.
b ist sozusagen die All gemeingültigkeit von a, das also
einer Assertion Geltung verschafft und das wiederum heißt, daß a in χ determiniert. a exponieren,
a in χ determinieren bedeutet auch die Erscheinung von d.h. dem a eine Stelle unter den Erscheinungen
b hat also bestimmende Funktion.
bestimmen.
Nun heißt es aber an anderen Orten
,
daß b die Funktion der Regel sei. Funktion und Exponent müssten also dasselbe sein, als was sie ja in der Tat mathematisch auch aufgefaßt 69 70 71 72
73
(R 4674 ; 73-75). (R 4676; 73-75). (R 4680; 73-75) vgl. auch R 4678 (73-75). Assertion ist im Falle einer kategorischen Regel das Prädikat, das behauptet wird, also in einem gewissen Sinne die Kopula; im Falle des Grund-Folge-Verhältnisses und des Ganzes-Teil-Verhältnisses das behauptete Verhältnis selbst. Diese Terminologie hat Kant für seine Analyse der Syllogismen und der Dreiteilung der Syllogismenarten fruchtbar gemacht. Vgl. etwa KrV Β 360/1; Β 364; Β 378; Β 386 f.; R 3202, 90er Jahre. Den Begriff des Exponenten, der das Verhältnis einer Regel ausdrückt, macht Kant für die logische Analyse der Urteile geltend: "Das Verhältnis der Begriffe, (exponent): das subiect zu praedicat der Grund-Folge - Gantze-Theil" (R 3063; 76-89?). Vgl. auch R 3039 (7275?): "Die Form oder das Verhältnis exponirt copula." (R 4676; 73-75); (R 4674; 73-75), (4680; 73-75).
250
Die Problematik der Relation
werden können. Denn der Exponent als das Verhältnis von Bedingung und Assertion ist all gemeingültig, d.h. er macht eigentlich die Bedingung all gemeingültig dadurch, daß er sie auf eine Assertion bezieht, die behauptet, von allen x, die die Bedingung erfüllen, gültig zu sein, was aber heißt, daß der Exponent das spezifizierte a vermöge der Assertion mit den übrigen Erscheinungen in Verhältnis bringt. Gleicherweise ist die Funktion b der Regel die Handlung, die x, als unter der Bedingung a gedacht, d.h. als etwas (a) begriffen, oder als Element des Argumentbereiches der Funktion aufgefaßt, bestimmt, insofern sie a spezifiziert, dadurch, daß sie die Erscheinung χ in Verhältnis zu den übrigen Erschei74 nungen bringt, a also eine Stelle in χ anweist. So faßt Kant das Verhältnis von Exponent und Funktion in R 4676 (7375) dahingehend zusammen, daß die Funktion, als Handlung, den Exponenten bestimmt, daß sie aber als Expressio analytica der Handlung des Verstandes, der Exponent ist: "So wird a das allgemeine der warnehmung bedeuten, χ die (sinnliche) Bedingung des subiects (substratum) darin diese Warnehmung ihre Stelle bekommen soll
... b endlich die allgemeine function
des Gemüths, dem a seine Stelle in χ zu determi niren, also den exponent der Verhältnis der Warnehmungen ..., mithin deren Stelle nach einer Regel zu bestimmen" (R 4676; 73-75). Kant kann also in geläuterter Form, nach den Wirrnissen des DuisburgerNáchlasses, die Aufgabe einer Regel so darstellen: "Wenn gleich die Regel nicht in die Sinne fällt, so muß man den Gegenstand doch als einer Regel gemäß sich vorstellen, um es als dasienige, was etwas vorstellt, d.i. unter den übrigen Bestimmungen eine gewisse Stelle und Function hat, zu concipiren" (R 5203; 76-78). Wie hat man nun eine Regel von ihrer formalen Struktur her zu verstehen? (Vx)[a(x) ->· b(x,y,z)] Die Regel ist ein allgemeiner Satz, der besagt, daß, falls χ als u n t e r à erkannt (begriffen) wird, etwas von ihm gilt, d.h. eine bestimmte Funktion angewendet werden kann. Diese Funktion ist ein ein- (im kategorischen Falle)
74
"So muß die Bestimmung von a, d.i. b, eine allgemeine Handlung sein, wodurch die Erscheinung von a exponirt ..." (R 4674; 73-75).
251
Exponent und Regel
oder mehrstelliges (hypothetisch, disjunktiv) Prädikat, also eine Relation, die dem χ seine Stelle unter andern Erscheinungen anweist, d.i. seinen Exponenten, also das Verhältnis zu andern bestimmt. So ist die Regel "nur eine allgemeiner Grund des Gebrauchs eines Vermögens, wodurch das Mannigfaltige desselben Einstimmig wird. Durch eine Regel wird das Manigfaltige in dem Erkenntnis unter Einheit gebracht, eben dadurch begriffen, und hat etwas bestandiges" (R 4809; 70-76?). Die Regel 75 ist also nicht die Funktion
selbst,
sie bringt vielmehr Mannigfaltiges
(x) unter eine Einheit (Begriff a), so daß ein Vermögen gebraucht werden kann, d.h. daß Funktionen
angewendet
werden können. Die Funktionen geben
natürlich die Bedingung vor, denn diese sind ja die Argumentbereiche, also ein essentiales Stück der Funktionen, oder, anders gesagt, sie sind Relate des Exponenten, die durch denselben bestimmt werden und dadurch allgemeingültig sind. Der entscheidende Bestandteil einer Regel ist nun der Exponent, die Funktion. Das Regelhafte bedeutet einzig den präskriptiven Charakter, den eine Regel für die Verhältnisse (Exponenten) der Erscheinungen hat. 7 6 Diese Bedeutung des Exponenten geht nun ein in die Exposition nungen.
der
Erschei-
Bevor wir diesen Begriff bestimmen können, müssen wir nochmals auf
die mathematische Bedeutung zurückgehen. Wir sagten, die Funktion drücke die Gleichheit des Exponenten für unendlich viele Rationes aus. Die Gleichheit von Exponenten heißt in der Mathematik Analogie: a : b
=
c : d
Der Exponent kann mit (a : b) ausgedrückt werden, sofern damit ein Bruch gemeint ist. Der Exponent drückt also die Qualität eines Verhältnisses aus. Er ist ein "Verhältnisprädikat". 77 Diesen mathematischen Begriff macht nun 75 76
77
Die Funktion selber ist eigentlich eine Formel, also der Exponent. "Die Regel muß von der Formel derselben unterschieden werden" (ib.). Falls das präskriptive Moment zwingenden Charakter hat, spricht Kant vom Gesetz. "Nun heißt aber die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige, (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann, eine Regel, und wenn es so gesetzt werden muß, ein Gesçtz" (A 114). Sind zudem diese Bedingungen a priori d.h. sind sie Begriffe a priori, die über die Allgemeinheit hinaus noch Notwendigkeit haben, so sind die Regeln also Gesetze. "Regeln a priori sind Gesetze" (R 4812; 70-76?) (Vgl. A 127). (R 4676; 73-75): "Bestimmte praedicate (Verhaltnispraedicate), welche
252
Die Problematik der Relation
Kant ebenfalls (wie den Begriff der negativen Größen, und den der Funktion) für die Philosophie brauchbar. Gemäß den drei Analogien der Erfahrung kennt er drei
Exponenten.
Wir wollen nun sehen, wie der Begriff "Analogie" in diesem Zusammenhang sinnvoll wird: "In der theologia Naturali erkenen wir das Urwesen nur in Verhältnis auf die Welt, folglich nicht nach dessen absoluten Prädikaten ... sondern nach Verhältnispraedicaten in Ansehung der Welt; also nur die caussalitaet, mithin den exponenten der Verheltnis zur Welt. e.g. Wie a (ein Kunstwerk) zu b (dem verständigen Künstler): so c (die Welt) zu χ (dem, was ich in Gott Verstand nenne)" (R 4732; 73-75). Kant nimmt hier die alte philosophische Thematik der analogia entis wieder auf. Das Verhältnisprädikat, der Exponent, ist die Kausalität, die identisch ist (Analogie) in den Rationes a : b und c : x. Auch bei der Bestimmung der drei Exponenten geht Kant von mathematischen Begriffen aus: vorausgeschickt werden muß, daß der Exponent (a : b) das Verhältnisprädikat von χ ist: "In Urtheilen aber ist ein Verhältnis von a : b, welches beydes sich auf χ bezieht, a und b in χ, χ vermittelst des a : b, endlich a + b = x" (R 4676; 73-75). Kant erläutert diese drei Exponenten so: "Hiebey sind drey exponenten: 1. der Verhältnis zum Subiect, 2. der Verhältnis der Folge ... 3. der Zusammennehmung" (R 4674; 73-75). a : b kann also meinen: - a ist Prädikat
von x, und b ist Prädikat von x, wobei man hinzufügen muß, 78 daß a das gedachte χ ist, also eigentlich Prädikat, aber gedachtes Sub-
jekt. So ist hier a : b das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im kate-
78
real sind, gehen nur auf Verhaltnisse. Deren sind drey. nach den drey Verhältnissen in Urtheilen." Daß sie Verhältnisprädikate und nicht etwa einfach Relationen heißen, hat seinen Grund in der erkenntnistheoretischen Einsicht Kants, daß wir das Substanziale nur durch Akzidenzen erkennen, also die eigentlichen Subjekte nur durch Prädikate. "Wir denken uns alles durch Prädikate, also ist iederzeit ein Verhältnis zu x" (ib.). Vgl. auch R 4732. Zudem nimmt der Ausdruck das Problem auf, wie man die Fundamentalverhältnisse, also die Respectus reales, die ja Begriffe (Prädikate) sind, analysieren kann. Verhältnisprädikate sind also die lange gesuchten Fundamentalverhältnisbegriffe. Vgl. (R 4674; 73-75): "x ist also das Bestimmbare (obiect), welches ich durch den Begriff a denke, und b ist dessen Bestimmung (oder Art, es zu bestimmen."
Exponent und Regel
253
79 gorisehen Urteil. - a : b bedeutet, daß χ vermittelst des Verhältnisprädikats"Kausalität" gedacht wird, das heißt als Folge von etwas oder als Grund von etwas. - a : b bedeutet, daß χ als eingeteilter 80 also a oder b (qua Umfänge) fallen.
Begriff
gedacht wird, unter den
Diese drei Exponenten sind es nun, die die Erscheinungen
exponieren,
d.i.
deren Verhältnis untereinander bestimmen. Die Prinzipien der Exposition heißen, von der mathematischen Herkunft 81 82 : Analogien der Ersaheinimg.
des Begriffs "Exposition" her folgerichtig
Was aber ist nun die Exposition der Erscheinungen? "Die Exposition der Erscheinungen ist also die Bestimmung des Grundes, worauf der Zusammenhang der Empfindung i η denselben beruht" (R 4674; 73-75). Der Grund, das Fundament des realen Zusammenhanges der Erscheinungen liegt in den drei Funktionen der Apperzeption, die exponieren, d.i. nach einer Regel in Verhältnis 83 setzen.
Das Prinzip der Exposition der Erscheinungen ist im Duisburger-
Nachlaß ein Begriff, der die objektive
Gültigkeit
der exponierten Relatio-
nen ausdrücken soll im Gegensatz zu den "Prinzipien der Erscheinung", die 79
80
81
82
83
Das Verhältnis von a:b ist hier durch den Satz vom Widerspruch geregelt "x:a = m:n. Wenn a die condition anzeigt, wodurch χ gegeben wird, so folgt das Verhältnis von a:b nach dem Satz des Widerspruchs und gilt allgemein ohne Einschränkung des zugleich. z.E. in jeder realität ... ist ein Verhältnis der substantz zum accidens" (R 4679; 73-75). Vgl. auch R 4675 (73-75): "a und b können auf dreyfache art vermittelst des χ in Verhältnis seyn: entweder χ oder a:x:b oder a+b = x." / \ a : b Kant nennt auch in der KrV die formale Herkunft des Begriffs "Analogie" aus der Mathematik, wobei er allerdings betont, daß es sich nicht um quantitative Analogien, sondern um qualitative handelt (B 222). Im Duisburger-Nachlaß spricht Kant von "Analogien der Erscheinung" (R 4682), in R 4602 dagegen schon von "Analogien der Erfahrung". Kant spricht auch von "Analogien des Verstandes" und von "Analogien der Beobachtung" (RR 4674, 4681, 4684) ebenso wie von "Analogien der Natur" (R 4674). Dies ist nun genau der Begriff der Exposition, den Kant in der Dissertatio gebraucht, wenn er lehrt, daß die Begriffe von Raum und Zeit einen allgemeinen nexus nur bezeugen (testari), aber nicht exponieren. (Vgl. 2.3.2.) Hier irrt also Haering, wenn er sagt: "Noch in der Dissertatio kommt der Begriff (seil, der Exposition) nur in gewöhnlicher, nicht technischer Bedeutung vor", Haering (1), S. 144. Natürlich ist der Begriff der Exposition noch nicht durch die Beziehung auf die Funktion geklärt, wohl aber in diesem Sinne gemeint.
Die Problematik der Relation
254
bloß subjektive Formen, also Prinzipien der Form sind.
84
Die Erscheinungen
exponieren heißt also, sie unter Regeln bringen, deren Funktion die Hand85 lungen des Verstandes sind, und die so Objektivität gewährleisten. Wir sind ausgegangen vom mathematischen Zusammenhang von Exponent und Funktion. Diesen Zusammenhang hat Kant für die Analogien der Erscheinung fruchtbar gemacht durch Vermittlung mit dem Regelbegriff. Das bedeutet nun aber nicht, daß dieser Zusammenhang nur für die Relations-Grundsätze gilt; Kant entdeckte diese bloß zuerst im Rahmen seiner Reflexion auf die realen Relationen, deren Realität er in den Prinzipien der Exposition gründet. In der KrV ist nämlich für alle Grundsätze eine Exposition der Erscheinungen reklamiert. Was noch zu klären bleibt, ist die Frage nach dem Fundament Exposition
der Erscheinungen,
Relationen
zwischen
also nach dem Fundament
der Realität
der
der
Erscheinungen.
2.4.5. Funktion und Realität der Relationen
In einer Reihe, deren Glieder untereinander gesetzlich zusammenhängen, ist das Fundament der Relationen der Glieder die Funktion, d.i. das Gesetz des Exponenten. Diese der Mathematik entnommenen Zusammenhänge überträgt Kant auf die Philosophie und kommt zur These, daß das Fundament der realen Relationen in der Reihe der Erscheinungen die Funktion des Verstandes ist: "Hie (seil, in der Vorstellung der Erscheinungen) ist also Einheit, nicht vermöge desienigen: worin, sondern: wodurch das Manigfaltige in eines gebracht wird, mithin all gemeingültigkeit. Daher sind es nicht formen, sondern funetionen, worauf die relationes der Erscheinungen beruhen" (R 4674; 73-75). Die Funktionen
84 85
sind also das Fundament
der realen
Relationen.
Diese
"Die Prinzipien der Erscheinung sind blos von der Form, nemlich die Zeit" (R 4674; 73-75) (Vgl. 2.4.5.). Diese Bedeutung des Ausdruckes "Exposition der Erscheinungen" hat sich in der KrV noch erhalten: "Seine (seil, des Verstandes) Grundsätze sind bloße Prinzipien der Exposition der Erscheinungen" (B 303). Der Terminus "Grundsätze", der in der KrV dafür eintritt, ist schon v o n der Gliederung (nach der klassischen Logik: Analytik der Begriffe, Grundsätze, Schlüsse) her sinnvoll. Zudem hat ein geläuterter Erfahrungsbegriff diese Umbenennung erfordert, vgl. Haering (1), S. 143 f.
Funktion und Realität der Relationen
255
schlanke These ist von langer Hand vorbereitet. Wir müssen sie exponieren. Wenige Jahre früher noch konnte Kant meinen, die Relationen beruhten auf Formen der Vernunft. Was ist der Grund zur Verwerfung dieser These? Er liegt zunächst im Wandel des Formbegriffes. Die Form konnte 1769/70 noch als Fundament gedacht werden, weil sie als Gesetz bestimmt wurde, etwa als Gesetz des Aatus coordinane,
also als Gesetz von Raum und Zeit. Mit dem 86 Zuschreiben aller Actus mentis zum spontanen Verstände kann die sinnliche Form nicht mehr als Gesetz des Actus verstanden werden. "Die Verheltnisse der Dinge werden überhaupt jederzeit durch real Verknüpfungen vorgestellt, und die Zeit ist nur die form der Erscheinung, 87 in der diese auf Die Form der Erschei-
solche weise verknüpften Dinge angeschauet werden."
nungen wird hier, wie in der KrV, von der Form des Denkens der Gegenstände 88 getrennt.
Allein worin besteht die Form des Denkens der Gegenstände, oder
die Weise des Verknüpfens
(Modus compositions)? In derselben R heißt es:
"Es kan aber nichts in der absoluten Zeit vorgestellt werden, sondern Dinge werden nur in einer reihenfolge vorgestellt, so fern eine reale Verknüpfung derselben concipirt wird, wodurch ein Glied das andere nach sich zieht; also kan nichts in einer Reihe als wirklich erkant werden, wenn der Übergang vom Vorhergehenden zu demselben nicht nothwendig ist nach einem allgemeinen Gesetze" (ib.). Zweierlei ist von Bedeutung für den Modus composi tionis des Verstandes: (1) die Relate werden erst durch die Relationen als wirklich
erkannt und
(2) die Relationen Stehen unter allgemeinen
Gesetzen.
und notwendigen
Wir wollen zunächst auf (2) eingehen. Die Erläuterung des Regelbegriffs im vorigen Kapitel zeigte, daß sie wesentlich auf einer Funktion und einer Bedingung beruht. Die Funktion der 86
87 88
"Die Verstandesbegriffe drücken alle actus der Gemütskräfte aus, insofern nach ihren Allgemeinen Gesetzen Vorstellungen möglich sind, und zwar diese ihre Möglichkeit a priori" (R 4642; 72-75; u.v.V.). (R 4174; 69-75?) 1769 ist auf alle Fälle zu früh datiert, 1773-75 scheint am wahrscheinlichsten. Man kann die Form von Raum und Zeit als Bedingung der Möglichkeit der Anordnung verstehen: "Die Anordnung der Erscheinungen nach Verhältnis des Raumes und der Zeit erfordert eine Regel, so wie Erscheinung selbst eine Form" (R 4680, 73-75). Die Form der Erscheinung gibt bloß die Stellen der sinnlichen Darstellung, nicht der realen Vorstellung.
256
Die Problematik der Relation
Regel aber soll all gemeingültig und notwendig sein. Damit wird sie Gesetz: "Gesetze haben eine allgemeingültigkeit, Regeln können eine bloße gemeingültigkeit haben" (R 5226; 73-78?). Die eingangs zitierte Reflexion setzte ja ebenfalls den Unterschied zwischen Form und Funktion in die Allgmeingültigkeit, also Gesetzlichkeit der letzteren. Diese Gesetzliohkeit Funktionen
ermöglicht die Gesetzlichkeit
der
der Natur, die wesenhaft als ge-
setzliches Realtionsgefüge angesetzt ist: "In der Natur können uns keine data vorkommen, als daß, wenn man Gesetze darin warnimnvt, sie den allgemeinen arten korrespondieren, wornach wir etwas setzen, weil sonsten keine gesetze würden bemerkt v/erden oder überhaupt kein Obiect ... Da wir also obiecte nur durch unsere Veränderungen Vorstellen können, so fern sie etwas unsern Regeln zu setzen und aufzuheben gemäßes an sich haben, so sind die realfunctionen der Grund der Möglichkeit der Sachen" (R 4631; 72-75). Gesetze der Natur sind also bestimmt von unseren Arten des Setzens. Diese Arten des Setzens sind ihrerseits durch die Funktionen bestimmt, denn sie sind Arten des als Argument einer Funktion Setzens, also Kategorien (reale Funktionen). Damit ist die Brücke zu (1) geschlagen: Die Gesetze men die Relate:
(Funktionen)
bestim-
"Damit die Erscheinungen gewissen Regeln eigen oder dar-
nach bestimmt vorgestellt werden, gehöret, daß sie als unter eine oder andere funktion derselben gehörig vorgestellt werden. Dadurch werden sie auf bestimmte Weise obiectender Gedanken; sonst ist nichts in ihren Verhaltnissen (denn Empfindungen sind nicht gedanken) was sie vor dem Verstände denklich machte" (R 4672; 73-75). Das Reale in den Relationen die Empfindungen,
sondern bloß die Funktionen,
sind nicht
die die Relate als reale
bestimmen. Die Relate sind nur durch Beziehung auf ein allgemeines Gesetz Objekte: "Alles, was a priori ein Gesetz unserer Vorstellungen macht, mithin die Beziehung der Vorstellungen auf ein (a priori feststehendes) allge89 meines Gesetz, ist das obiect" (R 4642;72-75). Diese Bestimmung des Objekts impliziert einen spezifischen Seinsbegriff bzw. Realitätsbegriff: "Das soll darunter (seil, dem allgemeinen Gesetze) gedacht werden, stellet 89
Vgl. auch R 4675 (73-75). "Denn meinen Vorstellungen Gegenstände zu setzen, dazu gehört immer, daß die Vorstellung nach einem allgemeinen Gesetze determinirt sey, denn in dem allgemeingültigen Punkte besteht eben der Gegenstand."
257
Funktion und Realität der Relationen die Sache vor, wie sie ist, d.i. wie sie vor allen Erscheinungen gilt"
(R 4642; 72-75). Hier wird deutlich der Fortschritt Uber die Dissertation hinaus bezüglich des phänomenalen und realen Seins sichtbar: Das Vorstellen des Verstandes ist nicht mehr ein Vorstellen der Dinge "sicuti
sunt",
im Gegensatz zum Vorstellen "sicuti apparent", sondern das "sunt" wird zum "Gelten",
d.h. zur objektiven Gültigkeit nach all gemeingültigen Geset90
zen. Diese Allgemeinheit ist die wahre
Allgemeinheit.
Wir haben demnach
Urtheile a posteriori, welche synthetisch seyn, aber auch urtheile a priori, die doch synthetisch seyn und darum von keiner Erfahrung abgeleitet werden können, weil sie so wohl eine wahre all gemeinheit, mithin nothwendigkeit enthalten, als auch lauter Begriffe in sich fassen, welche 91aus der Erfahrung nicht haben geschöpft werden können" (R 4634; 72-75). Die Gesetze 90
Lamberts Philosophie der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist auch für die Genesis des Kantischen Begriffs von Apriorität entscheidend. In der Dianoiologie unterscheidet er aposteriorische und apriorische Allgemeinheit (Dianoiol., § 642). Die apriorische Allgemeinheit ist "wahre Allgemeinheit" (ib. § 661). Diesen Ausdruck findet man auch in Kants KrV (A 1): "Eben darum gibt sie (seil, die aposterische Erkenntnis) keine wahre Allgemeinheit." Lamberts Kriterium für die wahre Allgemeinheit ist genau wie bei Kant die Apriorität als Unabhängigkeit von der Erfahrung: "Demnach wird sie (seil, die Erkenntnis) von der Erfahrung unabhängig. Und dieses ist ein Requisìtum der Erkenntnis a priori im strengsten Verstände" (ib. § 656). So Kant in (R 4473; 1772): "Es ist die Frage, wie wir Dinge völlig a priori, d.i. unabhängig von aller Erfahrung uns vorstellen können." Ein weiteres Requisit der wahren Allgemeinheit formuliert er in der Architektonik, seiner Grundlehre, die im eigentlichsten Sinne eine Kategorientheorie ist: die wahre Allgemeinheit soll alle Varietäten und Spezialfälle unter sich enthalten (Architektonik § 193). Diesen Begriff von Allgemeinheit, der gestattet, die Einzelfälle herzuleiten, nennt Kant in terminologischer Anlehnung an Lambert in R 5553 auch "wahre Allgemeinheit": "Die Art, das Besondere als eine Bestimmung des Allgemeinen anzusehen (des wahren Allgemeinen, was nicht als induction aus dem Besonderen gezogen ist) ist eine Einheit a priori, die von der Erfahrungseinheit ganzlich unterschieden ist" (1778-89?). Vgl. auch R 4397 (69-75?).
91
Kant stellt hier u.W. zum ersten Mal explizite das Programm der synthetischen Urteile a priori auf, und zwar im Zusammenhang mit der brennenden Frage nach der Realität (bzw. objektiven Gültigkeit) der Relationen. Ein Indiz mehr also, daß die transzendentale Frage als Frage nach der Realität der Relationen zu verstehen ist. Erwähnt sei noch, daß auch Lambert synthetische und analytische Urteile in seiner Grundlehre forderte: die sogenannten Postulate, die, im Gegensatz zu den analytischen Grundsätzen, eine "synthetische Theorie der Dinge" konstituieren (Architektonik § 524).
258
Die Problematik der Relationen
bzw. die daraus abgeleiteten Arten des Setzens (Kategorien) sind also a priori, d.h. sie bestimmen die Relate als Objekte. "Gesetze sind obiective Vorschriften, Regeln Vorschriften aus subiectivem Grunde" (R 5238; 9? 69-78?). Fassen wir zusammen: Die Relationen beruhen auf Funktionen, die Zuordnungen sind, welche durch all gemeingültige und notwendige Gesetze geregelt sind. Diese Funktionen bestimmen die Relate als Objekte, d.h. als reale Erscheinungen. Diese Bestimmung erfolgt durch reale Funktionen bzw. Kategorien, die a priori den Begriff des Objektes oder des Gegenstandes ausmachen. Daraus wird erstmals deutlich, inwiefern Kant eine Wende in der Theorie des Fundamentes der Relationen
kopernikanische
durchführt: die Rela-
tionen beruhen nicht auf ihren Relaten, sondern vielmehr auf ihrem "Zwischen", das als all gemeingültiges Gesetz eine Funktion des Verstandes ist. Das Zwischen, die reale Synthesis kann nicht von einem empirischen Seinsbegriff (Gegebensein) her bestimmt werden: "Die reale synthesis ist nun nicht blos in der Empfindung gegeben, kann auch nicht construiert werden, liegt aber doch in der Erscheinung weder als Anschauung noch Empfindung" (R 4674; 73-75). Das In-Liegen
in Erscheinungen wird nicht als inesse ge-
deutet, sondern als apriorisches Hineinlegen.
Erst sekundär bestimmt sich
der Objektbegriff durch unser Erkenntnisvermögen: die Kategorien sind bloße a priori-Bestimmungen der Argumentbereiche der Funktionen. Das also, daß die kopernikanische Gegenstandes Relationen.
gegründet
bedeutet,
Wende in der Theorie der Erkenntnis
ist auf derjenigen
des
in der Theorie der Realität
der
Diese Deutung ist auch nahegelegt durch den Umstand, daß in
einer Natur, die als Relationsgefüge verstanden wird, der Gegenstand im Wie seines Gegebenseins innerhalb eines Systems von wechselwirkenden Gegenständen, die unbestimmt als Punkte gesetzt werden, befragt wird und daß daher nicht das Wesen des Gegenstandes das Esse ausmacht, sondern vielmehr sein Fallsein eines Gesetzes, das die Verhältnisse (Relationen) der Gegenstände untereinander regelt. Die Frage nach der Objektivität der Erscheinungen und eo ipso die transzendentale Deduktion zielt also primär auf die Objektivität der Gesetze bzw. auf die Realität der Relationen.
92
Diese Bestimmung gibt den Grund für Kants Äußerung in der 2. Aufl. der KrV, die Deduktion der ersten sei "subjektiv". In ihr ist denn auch tatsächlich viel häufiger die Rede von "Regeln".
3. FUNKTION UND RELATION IN DER KRV
Teil 2 zeigte Kants Entwicklung der Relationsproblematik bis zum Duisburger-Nachlaß auf. Kennzeichen dieser Entwicklung ist die völlige Loslösung des Relationsproblems aus dem traditionellen substanzontologisehen Ansatz einerseits und dem neuzeitlichen Ansatz andrerseits. Kants Neuinterpretation dieses Problems nimmt ihren Ausgang bei der Thematik der Realität der Relationen. Seine kritische These lautet, daß die Relationen in Funktionen fundiert sind, d.h. in gesetzlichen Einheiten der Ordnung des Verstandes, der ein Vermögen des Beziehens ist. Diese Konzeption ermöglicht erst die kopernikanische Wende in der Theorie des Erkennens. Das Anliegen dieses dritten und letzten Teils ist es, die KrV systematisch vom Relationsproblem her zu interpretieren, indem der begriff ins Zentrum der transzendentalen als Logik der Funktionen
Funktions-
Logik gerückt wird, diese also
begriffen wird, die dadurch eigentlich
Grundlagen-
reflexion der formalen Logik ist, daß der extensionalen, formalen Logik das Fundament im mathematisch zu interpretierenden Begriff der Funktion gelegt wird (3.1.). Damit fällt ein neues Licht auf die problematik
Vollständigkeits-
der formalen Logik, welche letztere nun nicht mehr einfach
unhinterfragter Ausgangspunkt für die transzendentale Logik ist, gleichsam das zugrundeliegende Faktum, sondern sich überhaupt erst in transzendentaler Reflexion als formale bestimmt. Die leitenden Bestimmungen der transzendentalen Analytik, Kategorie,
Syn-
thesis und Einheit·, können so vom Grundbegriff der Funktion her interpretiert werden. Für die Differenzen von Kategorie und Funktion, Einheit der Synthesis und synthetischer Einheit ergeben sich dabei klare Unterscheidungsmerkmale (3.2.). Gleichzeitig erhellt die Einheit der transzendentalen
Logik: die Dialektik
muß nicht mehr als Appendix gleichsam, oder als bloße Polemik gegen die zeitgenößische Philosophie aufgefaßt werden, sondern sie kann als integrie-
260
Funktion und Relation in der KrV
render Bestandteil der Logik der Funktionen, die gleichzeitig Logik des transzendentalen Inhalts ist, angelegt werden, und zwar im noch zu bestimmenden Sinne als Logik der transzendenten Funktionen (3.3.).
3.1. Extension und Funktion
Die extensionale Logik zielt nicht auf Darstellung der Verhältnisse zwischen Inhalten, sie seien nun Begriffsintensionen oder Inhalte von Urteilen, sondern ihr eigentliches Thema ist das Gebrauchmachen von Begriffen, also das Urteilen. Der Begriff verliert seine ontologische Bedeutung qua Intension, die strukturisomorph zum Wesen ist, zugunsten einer erkenntnistheoretisch-transzendentalen: er wird zum Erkenntniselement (bzw. -mittel) und muß auf dem Hintergrund des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit, oder eben von Begriff und Gegenstand interpretiert werden. Der Begriff wird extensional als Repraesentatio communis verstanden, transzendental, d.i. bezüglich seiner Funktion in der Erkenntnis wird er als unbestimmte Sphäre, die aber wesenhaft bestimmbar ist, gedeutet, also ganz von seinem Gebrauch in der Erkenntnis bzw. von seiner Anwendbarkeit oder Gültigkeit her. Dieser transzendentale Gesichtspunkt ist Fundament für den extensional-logischen. Weil die transzendentale Logik die formale fundiert, deshalb muß sich eine adäquate Bestimmung der logischen Termini von transzendentalen Erwägungen leiten lassen. So sind denn auch die Erwägungen, die entwicklungsgeschichtlich zur extensionalen Logik bei Kant führten, transzendentale: 1768/9 die Gedanken zur Differenz von Sinnlichkeit und Verstand. Wir versuchen nun in diesem Kapitel die transzendentalen Hintergründe, wie sie in der KrV niedergelegt sind, aufzuzeigen und stoßen dabei vor allem auf den Funktionsbegriff, der sich mit dem Frege-Russellschen in wesentlichen Hinsichten deckt und zugleich seine Bestimmungen vom Eulerschen mathematischen Funktionsbegriff herleitet. Der Begriff "Begriff" kann in Analogie zur mathematischen Quantitas variabilis, die verschiedene Werte (Valores) annehmen kann, bestimmt werden bei Kant und bei Euler (3.1.1.). Begriffe verweisen so auf Bestimmung, auf Sättigung. Diese Bestimmung ist durch Funktionen geregelt, Funktionen, die - transzendental iter gesehen - Einheiten von Operationen des spontanen Ver-
262
Funktion und Relation in der KrV
standes sind (3.1.2.). Diese Fassung des Funktionsbegriffs impliziert eine neue Bestimmung des Problems der Vollständigkeit
der Urteilstafel,
denn
diese Operationen und ihre Einheit lassen sich aus der logischen Form gewinnen, allerdings nicht so - wie es üblicherweise gedeutet wird - , daß sie aus der logisch vollständigen Urteilstafel einfach Ubertragen werden können, sondern so, daß die möglichen Urteile gleichsam nur den Rahmen bilden, innerhalb dessen die die transzendentale Reflexion Einheiten von Verbindungen findet (3.1.3.). Diese Operationen des Verstandes sind ganz in Analogie zu den algebraischen strukturieren
Operationen
konzipiert, die die Funktionen
(3.1.4.).
3.1.1. Begriff und Quanti tas variabilis
Der Begriff der Quantitas variabilis ist für das Verständnis des Funktionsbegriffs notwendig. Es ist zu zeigen, daß seine wesentlichen Bestimmungen mit denjenigen des Begriffs "Begriff" sich bei Kant und Euler decken. Was aber bedeutet der von Leibniz (vgl. 2.4.1.2.) in die Mathematik
eingeführte
Begriff der Quantitas variabilis oder Quantitas indeterminata? Analysis ist eine Theorie der variablen Größen. Als solche ist sie eine Teildisziplin der Mathematik, die eine Wissenschaft der Größen i s t J
"Zuvörderst wird
alles dasjenige eine Größe genannt, was einer Vermehrung oder Verminderung fähig ist, oder wozu sich noch etwas hinzusetzen oder wovon sich etwas hin2
wegnehmen läßt."
In diesem Begriff der Größe ist der des Bestimmens, des Messens angelegt, 3 das auf einem definiten Verhältnisbegriff (einer Ordnungsrelation)
beruht.
"Es läßt sich also eine Größe nicht anders bestimmen oder ausmessen, als daß man eine andere Größe derselben Art als bestimmt annimmt, und das Verhältnis angibt, in dem diese zu jener steht" (ib. Kap. 1, § 3). Plouaquet
verbindet
ebenfalls in seinem Aufsatz "Disputatio de natura et mensura Quantitatum" 1
2 3
"Die Mathematik ist überhaupt nichts anderes als eine Wissenschaft der Größen", Euler: Vollständige Anleitung zur Algebra, Petersburg 1755, Kap. 1, § 2. Ib. Kap. 1, § 1. Die zweite, vor allem bei Kant geläufige Bestimmung der Mathematik als Meßkunst, erhebt den sicher fundamentaleren Gesichtspunkt zum Definiens.
263
Begriff und Quantitas variabilis
(1771) den Größenbegriff mit dem zugrundeliegenden Akte des Bestimmens: "Quantitas & hoc modo definiri potest, quod sit determi nabi 1 i tas unius ex altero in eodem modo" (Ploucquet (1), p. 323). Im Gegensatz zu Euler aber hebt er das Bestimmen als fundamentaleren Terminus der Mathematik heraus, das denn auch konsequent aus dem Akte des Vergleichens hergeleitet wird. Daraus folgt nun sofort die für die höhere Analysis fundamentale Unterscheidung von Quantitas
variabilis
und Quantitas
constane,
die eben eine
Quantitas determinata ist. "Quantitas constans est quantitas determinata, perpetuo eumdem valorem servans" (Eu 1er (1), § 2). Die Bestimmung einer Größe ordnet ihr also einen Wert (Valor) zu. Dagegen ist eine variable Größe eine unbestimmte, aber bestimmbare, die alle bestimmten
(konstanten)
Größen umfaßt: "Quantitas variabilis est quantitas indeterminata seu universalis, quae omnes omni no valores determi natos in se compiectitur"
(Euler
(1). § 3). Eine variable Größe wird also als universale Menge konzipiert, die alle bestimmten Werte in sich enthält. Als was erweist sich dadurch der offensichtlich für die Größenlehre fundamentale Begriff des Bestimmens? In der 4 Mathematik wird das Bestimmen durch Zahlen geregelt.
Also ist die Quanti-
tas variabilis die Menge aller Zahlen, d.h. wie aus Euler (1), § 3 hervorgeht, (t, die Menge der komplexen Zahlen. Euler ist sich der logischen Bedeutung des Terminus "bestimmen" bewußt und kommt konsequenterweise zur Auszeichnung der variablen Quantität als Genus:
"Quemadmodum scilicet ex ideis individuorum formantur ideae specie-
rum & generum, ita quantitas variabilis est genus, sub quo omnes quantitates determinatae continentur" (Euler (1), § 2). Die variable Quantität ist also ein extensional
("sub quo continentur") verstandenes Genus, das bestimmt
werden kann, indem man ein Element seines Umfanges unter es subsumiert. Gilt nun auch die Umkehrung, daß also der Begriff als variable Quantität verstanden werden kann? Eulers Begriffstheorie beruht auf der Annahme einer Analogie zwischen 4
"Hieraus geht hervor, daß sich alle Größen durch Zahlen ausdrücken lassen", Euler, Vollständige Anleitung zur Algebra, § 5.
264
Funktion und Relation in der KrV
Quantitas variabilis und Begriff. Wie wir in 1.6.1. sahen, ist nach Euler die Begriffsextension eine unendliche
Menge.
Das Moment der Unendlichkeit
legt auch die Veranschaulichung eines Begriffs durch die Quantitas variabi5 Iis Raum fest.
Diese extensionale Bestimmung des Begriffs ist unter dem
Moment der Anwendbarkeit
betrachtet, das logische (bei Kant transzendental -
logische) Äquivalent zur mathematischen Bestimmbarkeit der variablen Quantität ist. "Quantitas variabilis determinatus dum ei valor quicunque determinatus tribuitur" (Euler (1) § 3). Die Bestimmung erfolgt also dadurch, daß der Quantitas variabilis eine Quantitas determinata (Valor) aus dem Umfang zugeordnet wird. Sie wird als Substitution
gedacht, 6 als ein Bedeutung
verleihen. "Neque significatus quantitatis variabilis exhauritur, nisi omnes valores determinati ejus loco fuerint substituti" (ib. § 3).
Urteilen ist
in diesem Ansatz Zuordnen zu einer Einzelerkenntnis, die immer schon unter dem Prädikatsbegriff enthalten ist, also Anwenden von Begriffen. Begriffe sind also ohne Determinationen nicht denkbar, d.h. sie qua Umfang beruhen auf ihren determinierten Werten. Aus diesen Erörterungen folgt, daß der Begriff bei Euler als Quantitas variabilis zu verstehen ist. Wir wollen nun, bevor wir Eulers Funktionsbegriff von 1748 beleuchten, gleich einen Sprung machen zu Kants Begriffstheorie,
die wir bereits in
1.6.3.2. erläuterten. Dort sahen wir, daß das Wesen des Begriffs in seiner Extension liegt, die als unendliche Menge unbestimmter, d.i. aber bestimmbarer logischer Objekte konzipiert ist. Der Begriff ist also auch bei Kant Quantitas variabilis. Die "Unbestimmtheit der logischen Sphäre in Ansehung 5
6 7
"Da ein allgemeiner Begriff eine unendliche Menge von einzelnen Dingen enthält, so betrachtet man ihn als einen Raum, worinn alle diese einzelnen Dinge eingeschlossen sind" (Euler (2), 102. Brief). Genauso faßt Kant den Begriffsumfang als Raum und damit als unendliche Menge auf, wenn er bei Gelegenheit der Erörterung des unendlichen Urteils schreibt: "Dadurch aber wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen insoweit beschränkt, daß das Sterbliche davon abgetrennt, und in dem übrigen Umfang ihres Raums (Lesart von A: Raum ihres Umfangs) die Seele gesetzt wird" (B 97 f.). "Quantitas ergo variabilis innumerabilibus modis determinari potest, cum omnes omnino numéros ejus loco substituere liceat" (Euler (1), § 3). Der Fregesche Ansatz, daß das Significat, die Bedeutung, die Sache ist, findet sich schon bei Lambert und Kant: "und die Verbindungen untersuchen, welche zwischen Zeichen und der dadurch bedeuteten Sache vorkommen" (Architektonik § 646). Bei Kant ist die Bedeutung selbst die Beziehung auf den Gegenstand: "wenn man diese (seil, sinnliche) Bedingung wegnimmt, alle Bedeutung, d.i. Beziehung aufs Objekt, wegfällt" (B 300).
265
Functio und Quanti tas variabilis
der möglichen Einteilung" (ß 684), die das logische Gesetz der Spezifikation fordert, verweist auf das transzendentale Moment am Wesen des Begriffes, auf dessen Bestimmbarkeit, Anwendbarkeit, Gebrauchbarkeit. Diese These impliziert das Verwiesensein
der
Begriffe
auf
Bestimmung,
auf Urteile.
Bevor wir nun dieses Verweisen als Funktion interpretieren, ist noch auf die Strukturänderung in der Logik hinzuweisen. Die Auffassung des Begriffs als Quantitas variabilis, als Bestimmbares, begründet die Priorität des Urteils vor dem Begriff. Der Begriff ist nur im Kontext des Urteils sinnvoll: Begriffe sind bloß "Prädikate in einem möglichen Urteil" (B 94). Kants These von der Priorität des Urteils ist so alt wie seine Rationalismuskritik
(vgl. 1.3.1.). Daß nun Euler, dessen
Begriffstheorie ja mit der Kantischen ganz eng verwandt ist, nicht auf Q
diese Konsequenz kommt und an der alten Gliederung der Logik festhält, ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß er Anschauung und Begriff und eo ipso Sinnlichkeit und Verstand nicht sauber trennt und immer noch g von einzelnen Begriffen spricht.
Die These, daß Begriffe Urteile schon
voraussetzen, gewinnt überhaupt erst Bedeutung, wenn man die Spontaneität des Verstandes und dessen Anteil an jeder Erkenntnis als Erkenntnis untersucht. Diese transzendentale Dimension der Kantischen Fragestellung blieb Euler aber verschlossen, obwohl er durchaus transzendental philosophische Überlegungen anstellte, etwa in seinem 97. Brief (der den Kantischen Titel trägt: Widerlegung des Idealism!), in dem er die Regelhaftigkeit aller Wahrnehmung aufweist. Es gilt nun also das Verhältnis von Begriff und Funktion aufzuzeigen.
3.1.2. Functio und Quantitas variabilis
Wie läßt sich nun mittels des Begriffs der Quantitas variabilis der Funktionsbegriff einführen? Wir wollen zunächst Eulers Definition untersuchen, um hernach die Übertragung auf logische Verhältnisse darzulegen, wobei wir 8 9
"Diese allgemeinen Begriffe nun, die durch Abstraktion gebildet werden, sind der Grund all unserer Urteile und Schlüsse" (Euler (2), Brief 102). Euler redet von "Ideen von Gegenständen", also von singulären Ideen oder Begriffen, z.B. in Euler (2), Brief 98.
266
Funktion und Relation in der KrV
uns an Kants Kapitel über den logischen Verstandesgebrauch
in der KrV
orientieren. "Functio quantitatis variabilis, est expressio analytica quomodocunque composita ex illa quantitate variabili, & numeris seu quantitatibus constantibus" (Euler (1), § 4; vgl. 2.4.1.2.). Was aber bedeutet die Funktion als Expressio analytica mathematisch? Euler ist sich wahrscheinlich der Schwierigkeit bewußt, Funktion als Zuordnung nach einem Gesetz mathematisch zu definieren. Deshalb ordnet er ihrer Definition die Bedeutung einer Größe zu. Funktion ist eine variable Quantität, deren Ausdruck eben durch ein Gesetz, eine Gleichung, gegeben ist. Damit löst er die Schwierigkeit in einem modernen mengentheoretischen Sinne, indem er Funktion als Menge definiert; so wird sie auch heute per Genus gleich wie die Relation als Menge von geordneten Paaren verstanden, mit der spezifischen Differenz gegenüber der Relation, daß jedem Argument genau ein Funktionswert entspricht. "Functio ergo quantitatis variabilis ipsa erit quantitas variabilis" (Euler (1), § 5). Das bedeutet nun in moderner Terminologie, daß die Funktion das Bild einer Abbildung ist, also f(X), die Menge aller Funktionswerte, die selbst aufgrund der Eulerschen Annahme der Stetigkeit aller Funktionen, alle möglichen Werte eines gewissen Intervalles enthält, also Quantitas variabilis ist. Diese Bestimmung gewinnt ihren Sinn noch von Leibniz' analytisch-geometrischem Begriff, in dem Funktion eine abhängige Linie (Quantitas continua) in einer Figur bezeichnete. Im Zusammenhang mit der Entdeckung der unstetigen Funktionen (vgl. 2.4.1.2.) erweitert Euler dieses an stetigen Kurven orientierte enge Verständnis und hebt vor allem die Momente der Dependenz
und der
Determination
hervor: "Quae autem quantitates hoc modo ab aliis pendent, ut his mutatis etiam ipsae mutationes subeant, eae harum functiones appellari soient; quae denomi natio latissime patet atque omnes modos, qui bus una quantitas per alias determinan' potest, in se complectitur. Si igitur χ denotet quantità tem variabilem, omnes quantitates, quae utcunque ab χ pendent seu per earn determinantur, eius functiones vocantur" (Euler (3), p. V). Funktionen sind abhängige variable Quantitäten. Dependenz bedeutet dabei Determination. Funktionen - auch einzelne Valores können so genannt werden - werden deter-
267
Functio und Quanti tas variabilis miniert durch die variable Quantität, durch den Definitionsbereich der
Funktion, und zwar auf verschiedenste Weise (omnes modos, utcunque), also primär wohl noch, aber nicht mehr ausschließlich, durch einfache algebraische Operationen. Funktion wird also immer noch mit Funktionswert identifiziert, so allein ist sie eine Quantität, allerdings aber als von der Weise der Determination (Formula, Gesetz) abhängig betrachtet. Im selben Dilemma, ob nun Functio eine Expressio bzw. Formula, also der Modus determ i n a n d o selbst ist oder identifiziert wird mit dem Valor bzw. der Menge der Valores, befand sich, wie wir in 2.4.2. zeigten, auch Segner. Funktion, um mathematisch définit zu sein, ist also Quantität (Größe), die aber bestimmt ist durch einen Modus determinandi. Wir sahen im vorigen Kapitel, daß die Funktion durch Substitution, d.i. durch Tribuere eines Valor, determiniert wird. Der Modus determinandi ist dabei vom analytischen Ausdruck abhängig. Das Bestimmen ist das Anwenden
der Funktion:
einem XQ
aus der variablen Quantität einen Wert zuordnen. Die Funktion bestimmt den Valor, ihr Modus determinandi das "utcunque". Das Determinare bezieht sich sowohl auf die Quantitas variabilis χ als auch auf die Functio als Quantitas variabilis. Worin liegt nun hier die Analogie zum Kantisahen
Funktionsbegriff?
"Ich
verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (B 93). Funktion ist nicht die Handlung des Unterordnens selbst, sondern deren Einheit. Was das bedeutet, wird nun zu analysieren sein. Dabei muß man sich am Zusanmenhang des Urteils mit dem Begriff orientieren, denn "Begriffe beruhen auf tionen"
Funk-
(ib.).
Ein Begriff qua Repraesentatio communis ist eine variable Quantität, die nur in bezug auf Bestimmung Sinn hat. "Begriffe aber beziehen sich, als Prädikate möglicher Urteile, auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande" (B 94). Dieses transzendentale Moment des Begriffes sein Verwiesensein auf Bestimmung, sagt dessen wesentliche
Ungesättigtheit
aus. Der Gebrauch eines Begriffes oder das Anwenden ist das Bestiirmen, das Kant Urteilen nennt. "Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt" (B 93). Das bedeutet, daß der Begriff für sich allein nicht bestimmt ist, daß er nur ein
Ausdruck
268 in einem Urteil
Funktion und Relation in der KrV ist, nämlich ein Prädikatsausdruck in einem möglichen Ur-
teile, der sich auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande bezieht. Die Nähe zum Fre^eschen Begriff der ungesättigten Funktion und zum Russ e U s c h e n Begriff der "propositional function"^ 0 wird sofort deutlich: "φχ is a propositional function if, for every value of χ, φχ is a proposition, determinate when χ is given. Thus 'x is a man' is a propositional function" (Russell (1), p. 19). 1 1 Der Begriff als variable Quantität ist bloß Prädikat in einem möglichen Urteil. Wird dem Begriff ein Gegenstand (Value) gegeben, so urteilen ("determinate proposition") wir. Das Urteilen als Gebrauch machen von Begriffen bedeutet das Beziehen eines Begriffes 12 auf die Vorstellung (Anschauung oder Begriff) eines Gegenstandes.
Das
Wesentliche am Begriff besteht in seiner Anwendbarkeit, also in seiner wesenhaften Unbestimmtheit, in seiner Variabilität, die Frege Ungesättigtheit nennt. Russell s Begriff dafür ist "ambiguity"·. "That is to say, it (scil. the propositional function) differs from a proposition solely by the fact, that it is ambigous: it contains a variable of which the value is unassigned ... It would seem that the essential characteristic of a function is ambiguity" (Russell (2), p. 38 f.). Die Proposition ist also von der Funktion dadurch unterschieden, daß sie nicht ungesättigt (ambigous) 13 ist, sondern daß sie durch einen Wert substituiert wurde. Wird also die
10
11
12
13
Frege ist nicht der erste, der den Funktionsbegriff für die Logik fruchtbar machte. Nach Kant bemerkte auch Lotze, daß der Begriff inadäquat als Merkmal ssumme ausgedrückt wird, daß er viel eher als Funktion der Merkmale bestimmt werden muß: "... daß ein zutreffendes Symbol für den Bau eines Begriffs nicht die Gleichung S = a + b + c + d ..., sondern höchstens die Bezeichnung S = F ( a , b , c , — ) ist, welcher mathematische Ausdruck eben nur andeutet, daß a,b,c,.,. auf eine im Einzelfall genau angebbare, im Allgemeinen höchst vielförmige Weise verknüpft werden müssen, um den Werth von S zu ergeben." Frege konnte sich also auf die Vorarbeit von Lotze in dessen Logik, Leipzig 1880, S. 47, vgl. S. 137, abstützen. "By a 'propositional function' we mean something which contains a variable χ, and expresses a proposition as soon as a value is assigned to χ." Diese etwas präzisere Definition findet sich in Russell (2), p. 38. "So wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen" (B 93). "When we speak of tyx' where χ is not specified, we mean one value of the function, but not a definite one. We may express this by saying
Functio und Quantitas variabilis
269
Variable bestimmt, d.i. wird ein Argument eingesetzt, so ist der Wert der 14 Funktion
eine Proposition.
"It agrees with the ordinary functions of
mathematics in the fact of containing an unassigned variable; where it differs is the fact, that values of the functions are propositions" (ib.). Russells - genauso wie Freges - Begriff der Funktion stimmt strukturell also mit dem mathematischen überein. Was haben wir nun gewonnen? Ausgehend von der Bestinmung des Begriffs als Quantitas variabilis konnten wir die Verwiesenheit (sowohl in der transzendentalen Analytik wie in der Mathematik) auf Funktionen nachweisen und zugleich die Übereinstimmung des transzendentalen Moments des Begriffs mit der Ungesättigtheit (Ambiguity) des Frege-Russell sehen Funktionsbegriffs. Auf das Problem des Funktionswertes wollen wir nach einem die Analogie KantRussell bestätigenden Absatz eingehen. Zur Bestätigung, wie nahe Kants Analyse des Verhältnisses von Begriff und Urteil (Funktion) der Russellschen kommt, wollen wir einen Text Russells zitieren und ihn auf Kant in Fußnoten beziehen. "It has always been customary to divide propositions into subject and predicate; but this division has the defect of ommitting the verb. It is true that a graceful concession is sometimes made by loose talk about the copula, but the verb deserves 15 far more respect than is thus paid to it.
We may say broadly, that every
proposition may be divided, some in only one way, some in several ways, into a term (the subject) and something which is said about the subject, which something I shall call the assertion.
14 15
16
Thus 'Socrates is a man 1 may
that '¿x' ambigously denotes «!a, i\>, ic, etc., where ¿a, ^b,