Reisen in die Moderne: Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich [Reprint 2014 ed.] 9783050071916, 9783050028590


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German Pages 328 Year 1997

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Grundlagen der Untersuchung
a) Theoretische Vorüberlegungen zu den Begriffen „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit“ im Kontext von „Mentalitäten“ und „Diskursen“
b) Forschungsstand, Ziele und Methodik
c) Die Quellen und ihre Autoren
d) Die USA als Modell gesellschaftlicher Modernisierung? - Der Kontext der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien
2. Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert
a) Bürger unterwegs - Reisen im 19. Jahrhundert
b) Wahrnehmungsverlust und Fluchtcharakter - Zur Debatte um eine Theorie des Tourismus
c) Die Amerikareise um 1900
3. Amerika im Spiegel europäischer „Mythen“: Amerikabilder und -stereotype in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts
Kapitel 1. Freiheit und Gleichheit?. Gesellschaftsstrukturen in den USA aus deutscher Sicht
1. Soziale Gleichheit und Ungleichheit
2. Soziale Mobilität
3. Gesellschaft und Staat
4. Freiheit und Gleichheit in Amerika - die Fortdauer eines langlebigen europäischen Mythos?
5. Projektionen und realistische Analysen - Soziale Gleichheit und Mobilität in den USA und Europa vor 1914: Die Hintergründe des europäischen Amerikabildes
Kapitel 2. „Das Land, wo die Arbeit adelt“ - Wirtschaft, Arbeit und Beruf in den USA
1. Der Stellenwert von „Arbeit“, Professionalisierung und beruflicher Mobilität
2. Wirtschaftsstrukturen im Vergleich - „Die Mechanisierung des Menschen“
3. Lebensstandards im Vergleich - Wohlstand für alle?
4. Das Bild von den Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Prosperität - Deutsche Besonderheiten und europäische Gemeinsamkeiten
5. Wirtschafts- und Berufsstrukturen in Deutschland und den USA vor dem Ersten Weltkrieg - Faktoren und Determinanten des deutschen bzw. europäischen Blicks
Kapitel 3. „Der Amerikaner“ - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität
1. Materialismus und „Dollarjagd“ versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn
2. Pragmatismus, Fortschrittsglaube und Utilitarismus - Ein Land ohne Kunst und Kultur?
3. Religiosität und Säkularisierung
4. „Der Amerikaner“ - Ein spezifisch deutscher Blick?
5. „Der Amerikaner“ - Ein unbewußtes Selbstporträt der Wilhelminer?
Kapitel 4. Die „Herrschaft der Frau“ - Familie und Geschlechterrollen
1. „Die Amerikanerin“
2. Ehen und Scheidungen in den USA
3. Erziehungsmuster und die Beziehungen zwischen den Generationen
4. Die Umkehr der familiären Hierarchien in den USA - Ein europäisches Problem?
5. Kontinuität und Wandel des bürgerlichen Familienmodells in den USA und Europa - Dispositionen des „bürgerlichen Blicks“
Kapitel 5. Pragmatismus, Selbständigkeit und Effizienz - Amerikanische Bildungsinstitutionen aus deutscher Sicht
1. Bildung für alle - Der „Bildungsboom“ in den USA
2. Neue Ideale und Wirklichkeiten - Pragmatismus, Patriotismus und Modernität
3. Bildung als nationale Identität - Die Gemeinsamkeiten europäischer Urteilsmuster und die Dominanz der nationalen Vergleichsebene
4. Zwischen Wirklichkeitsnähe und Illusion - Das Bild amerikanischer Bildung als Spiegel sozialer, demographischer und institutioneller Umbrüche in Deutschland und den USA
Kapitel 6. Metropolis - Die Erfahrung der Großstadt
1. Die Großstadt als Inbegriff Amerikas - Ambivalenz von Faszination und Schrecken
2. Wohnen in Amerika: Jedem das eigene Heim?
3. Zwischen Stadtkritik und Fortschrittseuphorie - Die amerikanische Großstadt als europäische Kontrasterfahrung
4. Stadtdiskurs und Stadtentwicklung - Die Hintergründe der deutschen bzw. europäischen Wahrnehmungen
Kapitel 7. Europa und Amerika - Der Vergleich der Kontinente
1. „Alter“ Europas versus „Jugend“ Amerikas
2. Europäische Vielfalt versus amerikanische Monotonie
3. Die USA als Kontinent der Zukunft - Europa und die „amerikanische Gefahr“
4. Die „amerikanische Herausforderung“ - ein Spiegel europäischer Defizite?
Schluß
Anhang
1. Quellenverzeichnis
a) Deutsche Amerika-Reiseberichte 1890-1914
b) Deutsche Amerika-Studien 1890-1914
c) Französische und britische Reiseberichte und Studien
2. Literaturverzeichnis
3. Personenverzeichnis
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Reisen in die Moderne: Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich [Reprint 2014 ed.]
 9783050071916, 9783050028590

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Alexander Schmidt Reisen in die Moderne

Alexander Schmidt

Reisen in die Moderne Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft D 188/807 Abbildung auf dem Einband: Flatiron Building, New York (Fotografie von Ambrose Fowler, 1903) Quelle: The New-York Historical Society

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmidt, Alexander: Reisen in die Moderne : der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich / Alexander Schmidt. - Berlin : Akad. Verl., 1997 Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1994 ISBN 3-05-002859-9

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z. 39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Black Art, Berlin Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Meiner Mutter

Inhalt

Vorwort

11

Einleitung

13

1. Grundlagen der Untersuchung a) Theoretische Vorüberlegungen zu den Begriffen „Bürgertum" und „Bürgerlichkeit" im Kontext von „Mentalitäten" und „Diskursen" b) Forschungsstand, Ziele und Methodik c) Die Quellen und ihre Autoren d) Die USA als Modell gesellschaftlicher Modernisierung? Der Kontext der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien 2. Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert a) Bürger unterwegs - Reisen im 19. Jahrhundert b) Wahrnehmungsverlust und Fluchtcharakter Zur Debatte um eine Theorie des Tourismus c) Die Amerikareise um 1900 3. Amerika im Spiegel europäischer „Mythen": Amerikabilder und -stereotype in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts

13

Kapitel 1 Freiheit und Gleichheit? Gesellschaftsstrukturen in den USA aus deutscher Sicht 1. 2. 3. 4.

Soziale Gleichheit und Ungleichheit Soziale Mobilität Gesellschaft und Staat Freiheit und Gleichheit in Amerika die Fortdauer eines langlebigen europäischen Mythos? 5. Projektionen und realistische Analysen Soziale Gleichheit und Mobilität in den USA und Europa vor 1914: Die Hintergründe des europäischen Amerikabildes

13 25 38 52 58 58 63 68

81

93 93 100 104 109

113

8

Inhalt

Kapitel 2 „Das Land, wo die Arbeit adelt" Wirtschaft, Arbeit und Beruf in den USA

122

1. 2. 3. 4.

Der Stellenwert von „Arbeit", Professionalisierung und beruflicher Mobilität . . . Wirtschaftsstrukturen im Vergleich - „Die Mechanisierung des Menschen" . . . . Lebensstandards im Vergleich - Wohlstand für alle? Das Bild von den Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Prosperität Deutsche Besonderheiten und europäische Gemeinsamkeiten 5. Wirtschafts- und Berufsstrukturen in Deutschland und den USA vor dem Ersten Weltkrieg Faktoren und Determinanten des deutschen bzw. europäischen Blicks

Kapitel 3 „Der Amerikaner" Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

122 127 135 138

144

154

1. Materialismus und „Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn . . . 155 2. Pragmatismus, Fortschrittsglaube und Utilitarismus Ein Land ohne Kunst und Kultur? 163 3. Religiosität und Säkularisierung 170 4. „Der Amerikaner" - Ein spezifisch deutscher Blick? 174 5. „Der Amerikaner" - Ein unbewußtes Selbstporträt der Wilhelminer? 177

Kapitel 4 Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen 1. 2. 3. 4. 5.

. . . . 190

„Die Amerikanerin" 190 Ehen und Scheidungen in den USA 196 Erziehungsmuster und die Beziehungen zwischen den Generationen 199 Die Umkehr der familiären Hierarchien in den USA - Ein europäisches Problem? . 202 Kontinuität und Wandel des bürgerlichen Familienmodells in den USA und Europa - Dispositionen des „bürgerlichen Blicks" 206

Kapitel 5 Pragmatismus, Selbständigkeit und Effizienz Amerikanische Bildungsinstitutionen aus deutscher Sicht 1. Bildung für alle - Der „Bildungsboom" in den USA 2. Neue Ideale und Wirklichkeiten - Pragmatismus, Patriotismus und Modernität . . 3. Bildung als nationale Identität - Die Gemeinsamkeiten europäischer Urteilsmuster und die Dominanz der nationalen Vergleichsebene 4. Zwischen Wirklichkeitsnähe und Illusion - Das Bild amerikanischer Bildung als Spiegel sozialer, demographischer und institutioneller Umbrüche in Deutschland und den USA

217 217 221 227

231

Inhalt

Kapitel 6 Metropolis - Die Erfahrung der Großstadt

9

242

1. Die Großstadt als Inbegriff Amerikas - Ambivalenz von Faszination und Schrecken 243 2. Wohnen in Amerika: Jedem das eigene Heim? 250 3. Zwischen Stadtkritik und Fortschrittseuphorie Die amerikanische Großstadt als europäische Kontrasterfahrung 253 4. Stadtdiskurs und Stadtentwicklung Die Hintergründe der deutschen bzw. europäischen Wahrnehmungen 256

Kapitel 7 Europa und Amerika - Der Vergleich der Kontinente

267

1. 2 3. 4.

267 271 275 279

,Alter" Europas versus „Jugend" Amerikas Europäische Vielfalt versus amerikanische Monotonie Die USA als Kontinent der Zukunft - Europa und die „amerikanische Gefahr" . . Die „amerikanische Herausforderung" - ein Spiegel europäischer Defizite? . . . .

Schluß

288

Anhang

303

1. Quellenverzeichnis a) Deutsche Amerika-Reiseberichte 1890-1914 b) Deutsche Amerika-Studien 1890-1914 c) Französische und britische Reiseberichte und Studien 2. Literaturverzeichnis 3. Personenverzeichnis

303 303 305 306 307 326

Vorwort

Vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im April 1994 unter dem Titel „Die Wilhelminer in Amerika. Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Fremd- und Selbstwahrnehmung des deutschen Bürgertums im internationalen Vergleich (1890-1914)" vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Zahlreiche Anregungen, Hinweise und wichtige Ratschläge von Betreuern, Kollegen und Freunden haben zur Konzeption und Gestaltung der Studie entscheidend beigetragen. Besonders danken möchte ich in diesem Zusammenhang meinem Betreuer Prof. Dr. Hartmut Kaelble, der mich in diesem Vorhaben immer wieder bestärkt und mir geholfen hat, die richtigen Pfade im Dickicht der Forschungen und Ansätze zu finden. Ohne diesen intensiven fachlichen wie persönlichen Austausch wäre das Buch so nicht entstanden. Zu besonderem Dank bin ich ihm auch deshalb verpflichtet, weil er es mir ermöglichte, an wichtigen Tagungen und Konferenzen teilzunehmen, deren Ertrag wesentlich dazu beitrug, Fragestellungen und Begrifflichkeiten zu schärfen. Nicht zuletzt durch seine Fürsprache kam ich überdies in den Genuß eines Stipendiums der „Maison des Sciences de l'Homme", das mir im Sommersemester 1992 einen intensiven Forschungsaufenthalt in Paris ermöglichte - ich möchte deshalb auch dem damaligen Leiter der MSH, Herrn Prof. Clemens Heller, für diese großzügige Unterstützung besonders danken. Herzlich danken möchte ich zugleich Herrn Prof. Dr. Knud Krakau, der bereit war, die Arbeit aus der wohlwollend-kritischen Sicht des Amerikanisten heraus zu begutachten und der half, manches „eurozentrisch" schiefe Bild zu korrigieren. Ebenso bin ich Herrn Prof. Dr. Peter Brockmeier, dessen Literaturwissenschaftliche Anregungen mir nicht nur während meines Studiums, sondern auch bei dieser Arbeit von großem Nutzen waren, zu herzlichem Dank verpflichtet. Last not least gilt mein Dank nicht nur den Kollegen und Kolleginnen in Prof. Kaelbles Doktorandencolloquium, sondern vor allem auch den Leiter(inne)n und Teilnehmer(inne)n des Graduiertenkollegs „Gesellschaftsvergleich in historischer, soziologischer und ethnologischer Perspektive" (FU Berlin und Humboldt-Universität Berlin), denn die intensiven interdisziplinären Diskussionen im Rahmen dieses außerordentlichen Forums hatten entscheidenden Anteil an der Konzeption der Arbeit und waren für mich in jeder Hinsicht eine große Bereicherung - ohne diesen fachlichen und menschlichen Austausch und ohne diese Ratschläge und Anregungen wäre das Buch so nicht entstanden. Es wäre aber auch nicht entstanden ohne die Unterstützung meiner Eltern, die mich während

12

Vorwort

des Projekts immer wieder ermunterten und bestärkten, und es wäre so auch nicht geschrieben worden ohne die vielfältige Hilfe derjenigen, die mir in dieser Zeit am nächsten war. Alexander Schmidt

Einleitung 1. Grundlagen der Untersuchung

a) Theoretische Vorüberlegungen zu den Begriffen „Bürgertum" und „Bürgerlichkeit" im Kontext von „Mentalitäten" und „Diskursen" Das Bürgertum hat in der historischen Forschung zweifelsohne Konjunktur. Seit den 80er Jahren wird eine gesellschaftliche Formation (wieder)entdeckt, die lange vernachlässigt worden ist zugunsten der Geschichte der Arbeiter, der Unterschichten oder der in der Industrialisierung neu entstehenden Gruppe der Angestellten. Der „Boom" der Bürgertumsforschung in den letzten Jahren ist auch deshalb besonders interessant, weil eine Fülle neuer Ansätze in der Geschichtswissenschaft hier erprobt und umgesetzt werden konnte. Dazu gehört zunächst vor allem der Ansatz einer im europäischen Maßstab vergleichenden Forschung, der die lange Zeit fast ausschließlich dominierende nationale Perspektive aufgebrochen und damit neue Sichtweisen ermöglicht hat.1 Zudem ist bemerkenswert, daß nicht mehr nur wie bisher vor allem bestimmte Gruppen des Bürgertums wie das Bildungsbürgertum oder die Unternehmer näher untersucht werden, sondern daß umfassender nach den verbindenden Elementen dieser Gruppen und damit nach der theoretischen wie historisch konkreten Verortung des Bürgertums gefragt wird, wobei die Schwierigkeiten einer eindeutigen Definition dieser offenbar sehr heterogenen Gesellschaftsschicht offenkundig geworden sind.2 Auffallend dabei ist schließlich drittens, daß nicht nur in der makrohistorischen und langfristig orientierten Sicht geforscht wurde und wird, sondern daß zunehmend auch mikrohistorische Analysen versuchen, die konkreten Lebenswelten

1 Vgl. dazu J. Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. 3 Bde. München 1988. Vgl. als Überblick über die jüngste historische Bürgertumsforschung auch den Literaturbericht von U. Haltern: Die Gesellschaft der Bürger. In: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 100-134 sowie H.-U. Wehler: Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte. München 1993, S. 193-217 bzw. für Deutschland die Beiträge in D. Blackbourn/R. J. Evans: The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century. London, New York 1991, darin besonders als Überblick D. Blackbourn: The German Bourgeoisie. An Introduction, S. 145. Zur Entwicklung der international vergleichenden Sozialgeschichte in Europa vgl. H. Kaelble: Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Forschungen europäischer Historiker. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1993/1, S. 173-200. 2 Vgl. dazu die programmatischen Aufsätze von J. Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 21-63 und Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 11-76.

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Einleitung

hinter den großen Strukturen aufscheinen zu lassen bzw. beide Bereiche miteinander zu verbinden. 3 Es ergibt sich angesichts dieser unterschiedlichen Zugangsweisen und Forschungsintentionen die Notwendigkeit einer genaueren Definition des offenkundig besonders heterogenen Gegenstandes „Bürgertum". Theoretisch hat dabei vor allem M. Rainer Lepsius den ursprünglich stark prägenden, vorwiegend ökonomisch orientierten Marxschen Klassenbegriff im Rückgriff auf Max Weber zugunsten der Termini „Formation", „Schicht", „Sozialmilieu" und „Stand" bzw. „ständische Vergesellschaftung" differenziert, wobei gerade der Begriff der ständischen Vergesellschaftung durch den Einbezug zeitgenössischer Selbstdefinitionen für eine Analyse von Wahrnehmungsmustern, wie sie hier versucht werden soll, besonders fruchtbar ist: „Als ständische Vergesellschaftung wird hier im Anschluß an Max Weber eine Formation verstanden, die durch Interaktionsdichte und gleichartige Standards der Lebensführung charakterisiert ist und die unter dem Gebot ständischer Gleichheit auch ökonomische und politische Unterschiede zu einem gewissen Grade zu überbrücken vermag. Das Bürgertum entsteht aus der ständischen Verknüpfung unterschiedlicher beruflich strukturierter Statusgruppen in eine umfassendere Subkultur der Bürgerlichkeit. In ihrem Geltungsbereich gilt die Norm gegenseitiger Gleichheit, die in der Ausbildung von Verkehrskreisen, Heiratsmärkten und Vereinszugehörigkeiten ihren Ausdruck findet. Sie baut auf Statusgruppen gemeinsamer Sozialisation und beruflicher Funktion auf, vermittelt diese aber auf einem höheren Niveau." 4 Um diese etwas abstrakte Definition zu verdeutlichen: Das Bürgertum grenzte sich sozial in seinem Selbstverständnis wie auch aus der historischen Perspektive in erster Linie gegen Adel, Klerus, Bauern und Arbeiter ab, wobei die Frontstellung gegen den Adel und Klerus im Kontext der politischen Emanzipation des Bürgertums um und nach 1800 dominierte, wogegen mit der Etablierung des Bürgertums als sozioökonomischer und teilweise auch politischer Führungsschicht die Abgrenzung gegen die im Verlauf der Industrialisierung politisch wie numerisch immer stärker werdende Arbeiterschaft nach 1850 in den Vordergrund rückte5 - im Hinblick auf ihre Funktion als sozioökonomische wie politische Führungsschichten lassen sich die Gruppierungen des Bürgertums daher auch in einem erweiterten Sinne als „Eliten" charakterisieren, zu denen natürlich auch adlige Führungsschichten gerechnet werden müssen, deren Einfluß und Gewicht in den einzelnen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts erheblich differierte.6

3 Vgl. dazu die Analysen anhand konkreter Familienbiographien bei L. Gall: Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989 und F. Bauer: Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert. Göttingen 1991. Siehe dazu ferner die Untersuchungen von P. Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986 und Ders.: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München 1987 sowie zur Theorie W. Schulze: Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema. In: C. Meier/J. Rüsen (Hg.): Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 5: Historische Methode. München 1988, S. 319-341. 4 M. R. Lepsius: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1993, S. 301. Vgl. auch insgesamt ebda., S. 25-50 u. 289-314. 5 Vgl. zur Periodisierung im internationalen Vergleich Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 47-57. 6 Vgl. dazu z. B. D. Lieven: The Aristocracy in Europe, 1815-1914. New York 1992, passim und H.-U. Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750-1950. Göttingen 1990.

Grundlagen der Untersuchung

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„Bürgertum" als Begriff im engeren Sinne umfaßt dabei höchst unterschiedliche Berufsund Statusgruppen mit heterogenen ökonomischen Lebenslagen bzw. unterschiedlichen rechtlichen und politischen Privilegierungen, so ζ. B. Unternehmer, Kaufleute, Bankiers, Direktoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren, Gymnasiallehrer, evangelische Pfarrer, Ingenieure, Richter und höhere Verwaltungsbeamte. Als wichtigste Kriterien der Unterscheidung des Bürgertums von anderen sozialen Schichten oder Gruppen sind dabei in erster Linie „Besitz" und „Bildung" 7 genannt worden, wobei die erste Kategorie zumindest ein gesichertes Einkommen oder Vermögen weit oberhalb des Existenzminimums ohne Mitarbeit von Frau und Kindern bezeichnet, während unter „Bildung" vor allem der Erwerb von Bildungspatenten der höheren Schulen und Hochschulen, also mindestens der Abiturabschluß, verstanden werden kann, wobei für beide Gruppen zudem die Beschäftigung von Dienstpersonal und damit die Verwirklichung von Freizeit und Muße zur „standesgemäßen" Lebensweise gehörte. 8 Dementsprechend läßt sich vor allem das deutsche Bürgertum in ein Wirtschafts- bzw. Besitzbürgertum (die „Bourgeoisie" im engeren Sinne) und ein sich in erster Linie über Bildungswissen definierendes „Bildungsbürgertum" unterscheiden - ein Unterschied, der vor allem im Vergleich zu westeuropäischen Gesellschaften in Deutschland markant hervortritt, auch wenn es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend Annäherungstendenzen (u. a. über Vereine, Heiratskreise, gemeinsame kulturelle Praktiken und die Ausweitung von Bildungspatenten) des in sich heterogenen Bürgertums gab. 9 Periphere Gruppen des Bürgertums bildeten nach unten der sogenannte „alte Mittelstand", bestehend aus dem alten Stadtbürgertum wie ζ. B. selbständigen Handwerksmeistern u. ä. Berufen, und der „neue Mittelstand" der gegen Ende des Jahrhunderts in der Hochindustrialisierung rapide anwachsenden Angestellten. Beide Gruppen, die ökonomischen „Verlierer" des alten Mittelstands 10 wie die „Gewinner" des neuen, blieben auch begrifflich als „Kleinbürgertum" im 19. Jahrhundert am unteren Rande des Bürgertums situiert, da sie weder materiell noch unter Aspekten der Ausbildung die Standards des Bürgertums erfüllten, auch wenn sie diese immer noch oder aber als neues Ideal zu erfüllen

7 Korrespondierend dazu dominierten im Bürgertum das Ideal wirtschaftlicher Selbständigkeit und die Idee des Leistungsprinzips. Vgl. zum zentralen Stellenwert ökonomischer wie personaler „Autonomie" auch L. Gall: „ . . . ich wünschte ein Bürger zu sein. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. In. HZ 245,1987, S. 612f. 8 Damit sind trotz des universalistischen Ansatzes des bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs zugleich die materiellen Grenzen der „Verbürgerlichung" unterbürgerlicher Schichten bezeichnet, so daß generell in Europa nur maximal fünf bis fünfzehn Prozent der jeweiligen nationalen Bevölkerungen im 19. Jahrhundert zum Bürgertum gerechnet werden können. Vgl. dazu Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 12ff. 9 Vgl. dazu im Vergleich Deutschland und Frankreichs vor allem H. Kaelble: Französisches und deutsches Bürgertum 1870-1914. In: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 107-140 bzw. generell G a l l , . . . ich wünschte ein Bürger zu sein, S. 613ff und F. Zunkel: Das Verhältnis des Unternehmertums zum Bildungsbürgertum zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg. In: M. R. Lepsius (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Lebensführung und ständische Gesellschaft. Stuttgart 1992, S. 82-101. 10 Vgl. dazu z. B. H.-U. Wehler: Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums. In: H.-J. Puhle: Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft Politik Kultur. Göttingen 1991, S. 199-209.

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Einleitung

suchten. 11 Das sich vor allem aus den besonders erfolgreichen Unternehmern und Bankiers rekrutierende Großbürgertum kann als periphere Gruppe oberhalb des eigentlichen Bürgertums angesprochen werden, da Vermögen und Lebensstil die Möglichkeiten des Durchschnittsbürgers deutlich übertrafen. Allerdings ist die lange für Deutschland vertretene These einer „Feudalisierung" dieses Großbürgertums in den letzten Jahren eindeutig relativiert worden, denn es hat sich gezeigt, daß zum einen Verflechtungsprozesse dieser bürgerlichen Oberschicht mit dem Adel in allen westeuropäischen Ländern in unterschiedlichem Maße und zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden hatten; zum anderen ist deutlich geworden, daß das Ausmaß dieser Verflechtung im Kaiserreich über Konnubium, Berufswege, Gesellschaftskreise, Titel, Ämter usw. deutlich überschätzt worden ist und nur einen numerisch ganz geringen (wenn auch mental einflußreichen) Teil dieses Großbürgertums betraf. 12 Die zentralen Berufsgruppen des Bürgertums wiederum können weiterhin differenziert werden nach der Ausbildung spezifischer Rekrutierungsmechanismen entweder über Eigentumsrechte bzw. Bildungspatente oder über „Handlungsprivilegien" durch besondere Markt-, Kompetenz- und Machtchancen, so daß gerade im Hinblick auf einen internationalen Vergleich erweiternd in „Wirtschaftsbürgertum", „Dienstleistungsbürgertum" (wobei das „Bildungsbürgertum" eine entscheidende Unterkategorie bildet) und „politisches Bürgertum" unterschieden werden könnte, um die höchst unterschiedlichen Prägungen des deutschen „Bürgertums", der französischen „bourgeoisie", der britischen „middle class", der italienischen „borghesia" usw. genauer definieren zu können und damit vergleichbar zu machen.13 Bevor auf die kulturelle Dimension zur Charakterisierung des Bürgertums eingegangen wird, die hier besonders interessiert, muß noch kurz die politische und zugleich ökonomische Dimension angesprochen werden, ohne die eine solche notwendig grobe Skizze zur Einführung in das Problemfeld „Bürgertum" unvollständig wäre. Beide Dimensionen sind in erster Linie mit dem Begriff des „Staatsbürgers" bzw. „citoyen" oder „citizen" als Träger der „civil society" oder „bürgerlichen Gesellschaft" 14 umschrieben worden, konstituiert am

11 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 289 und Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, S. 30ff bzw. Ders., Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 11-26 sowie zum Kleinbürgertum im Vergleich H.-G. Haupt: Kleine und große Bürger in Deutschland und Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 252-275. 12 Vgl. H. Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880. München 1991, S. 7Iff. 13 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 292f bzw. 306ff. Vgl. zur Unterscheidung von „Bildungsbürgertum" und „Bourgeoisie" auch Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit, S. 33-41 sowie zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden der bürgerlichen Gruppen in den europäischen Ländern die Beiträge in Kocka (Hg.), Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, hier besonders: M. Meriggi: Italienisches und deutsches Bürgertum im Vergleich, S. 141-159; E. J. Hobsbawm: Die englische middle class 1780-1920, S. 79-106 sowie zum deutsch-französischen Vergleich Kaelble, Nachbarn am Rhein, bes. S. 59-86, wobei als wichtigste Unterschiede u. a. die stärkere Machtstellung des Adels, die tiefe Krise des Liberalismus nach 1880 und die geringere soziale Homogenität der bürgerlichen Gruppen in Deutschland im Vergleich zu Frankreich herausgestrichen werden. 14 Vgl. zur Begriffsgeschichte im internationalen Vergleich ausführlich R. Koselleck/U. Spree/W. Steinmetz: Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich. In: Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, S. 14-58.

Grundlagen der Untersuchung

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Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext von Aufklärung, neuer bürgerlicher Öffentlichkeit und Französischer Revolution: „.Bürgerliche Gesellschaft' meinte ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ordnung, die in Überwindung von Absolutismus, geburtsständischen Privilegien und klerikaler Gängelung das Prinzip rechtlich geregelter individueller Freiheit für alle realisiert, das Zusammenleben der Menschen nach Maßgabe der Vernunft gewährleistet, die Ökonomie auf der Grundlage rechtlich geregelter Konkurrenz marktförmig organisiert, die Lebenschancen im weitesten Sinn nach Maßgabe von Leistung und Verdienst verteilt, die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentativorgane an den Willen mündiger Bürger zurückbindet." 15 Dies war natürlich ein im Kern utopisches Modell und entsprach mehr oder weniger nur in Ansätzen der Realität im 19. Jahrhundert, aber es bezeichnete die Stoßrichtung der bürgerlichen Emanzipation und kann als Gradmesser für den Wandel bürgerlicher Werte und Normen dienen. Gemäß diesem Modell kann das Bürgertum theoretisch als Trägerschicht von Demokratisierung, Kapitalismus und „Aufklärung" im Sinne von Rationalisierung und Säkularisierung als Verbreitung von Meinungs- und Glaubensfreiheit bzw. Freiheit von Wissenschaft und Kunst gelten - wir kommen darauf weiter unten im Rahmen der Frage nach gesellschaftlicher Modernisierung noch zurück. Als entscheidende Klammer dieser überaus heterogenen Schicht hat sich trotz aller problematischen Vagheit des Begriffs jedoch „Kultur" als Gesamtheit von Werten, Normen, Habitusformen, Symbolen etc. erwiesen, die in erster Linie über Sozialisationsinstanzen wie Familie und Gymnasium bzw. Hochschule vermittelt wurden.16 Es sieht daher ganz so aus, als bilde „Bürgerlichkeit" als Modellbegriff für die Gesamtheit bürgerlicher Kulturmuster und -formen die eigentliche Basis „des Bürgertums", als sei eben gerade ein spezifisches Selbstverständnis aufgrund besonderer Werthaltungen und Lebensstile ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur Schicht des Bürgertums und auch bestimmend für den Prozeß von „Verbürgerlichung" von Grenzgruppen im Hinblick auf die Übernahme solcher bürgerlicher Normen und Werte.17

15 Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 34. Vgl. dazu auch Lepsius, Demokratie, S. 295ff. 16 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 310ff und Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, S. 42f sowie H. J. Puhle: Einleitung. In: Ders. (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, S. 7ff und Gall,... ich wünschte ein Bürger zu sein, S. 619. Für die Phase der Konstituierung des Bürgertums vgl. zur jugendlichen Sozialisation im Bildungsbürgertum auch W. Hardtwig: Auf dem Weg zum Bildungsbürgertum. Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750-1819. In: Lepsius (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 19-41. 17 Vgl. dazu F. Bauer, Bürgerwege, S. 288f, der besonders den Wert von „Bildung" für das bürgerliche Selbstverständnis zumindest in Deutschland hervorhebt; „Besitz" erscheint demgegenüber als notwendige Voraussetzung, nicht aber als Endziel. Man kann in diesem Zusammenhang auch insgesamt von „Alltagswissen" sprechen. Vgl. dazu ζ. Β. A. LUdtke: Lebenswelten und Alltagswissen. In: C. Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4: 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991, S. 57-90, bes. 76ff und zum Bürgertum 58ff. Vgl. ferner auch den Aufsatz von W. Hardtwig: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. In: Geschichte und Gesellschaft 16, 1990, S. 269-295, der die Bedeutung von Mentalität und „Bildung" im Hinblick auf das deutsche Staatsverständnis untersucht. Zum Phänomen der „Verbürgerlichung" vgl. T. Nipperdey: Aspekte der Verbürgerlichung. In: J. Kocka (Hg.): Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. München 1986, S. 49-52.

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Einleitung

Im Rückgriff auf Wolfgang Kaschuba ließe sich also „Bürgerlichkeit" folgendermaßen definieren: „Eben dies meint .Bürgerlichkeit' als ein sozial bestimmter und kulturell geformter Habitus: ein in sich zwar vielfach abgestuftes und variiertes, in seinen Grundzügen jedoch verbindliches Kulturmodell, das entscheidende Momente sozialer Identität in sich birgt. Es vermittelt bürgerliches Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, definiert durch den Gebrauch materieller Güter, durch den Bezug auf ideelle Werte, durch die Benutzung kultureller Verhaltensmuster, die zusammengenommen ein lebensweltliches Ensemble bilden. Es ist gleichsam die .zweite Natur' der Bürgerlichen, die sich darin verkörpert, die sich in eigenen Formen und Normen habitualisiert und damit der , Kultur' eine doppelte Funktion zuschreibt, als Identitätsmodell wie als Distinktionsmittel."18 Das Bürgertum konstituierte sich in seinen Gemeinsamkeiten also vor allem durch ein gemeinsames Weltverständnis und die daraus resultierenden gemeinsamen „Standards der Lebensführung", deren Basis besonders für das Bildungsbürgertum im Bildungswissen als „ständischer Qualifikation" begründet lag, die die Heterogenität nach Herkunft, Besitzstand und politischer Orientierung überformte.19 Als typisch bürgerliche Werte, die u. a. auch den bürgerlichen Geltungs- und Vorbildanspruch innerhalb der Gesellschaft begründen und rechtfertigen sollten, sind vor allem die besondere Hochschätzung von individueller Leistung, von regelmäßiger Arbeit, von rationaler und methodischer Lebensführung (manifest in Ordnungsdenken oder in Werten wie „Pünktlichkeit", „Sparsamkeit" oder „Solidität"), ferner das „Streben nach selbständiger Gestaltung individueller und gemeinsamer Aufgaben", die besondere Anerkennung von Bildung bzw. wissenschaftlichen Leistungen sowie ein „ästhetisches Verhältnis zur Hochkultur" 20 und vor allem ein spezifisch bürgerliches Familienideal genannt worden; diesem Muster an Werten läßt sich idealiter noch Autoritätsskepsis, Hochschätzung von Toleranz und Kompromißfähigkeit und Freiheitsliebe zuordnen.21

18 W. Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 18. Vgl. auch ebda., S. 15-20. Vgl. dazu auch H. E. Boedeker: Die „gebildeten Stände" im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zugehörigkeit und Abgrenzungen, Mentalitäten und Handlungspotentiale. In: J. Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 4: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989, S. 21-52. 19 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 304f. Vgl. zur Bildung als „Kultur der Gebildeten" auch Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 29-34. 20 Wie prägend gerade diese bürgerliche Selbstdarstellung in Formen der Literatur, des Theaters, der Museen, der Wissenschaft, der Kunst etc. gewesen ist und damit auch den sozial integrativen Charakter bürgerlicher Kultur bestimmte, so daß das Bürgertum in seiner kulturellen Konstituierung keineswegs nur aus sozioökonomischen Determinanten abgeleitet werden kann, zeigt F. H. Tenbruck: Bürgerliche Kultur. In: F. Neidhardt u. a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Opladen 1986, S. 263-285. Vgl. dazu ferner die Beiträge in J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 175-333 und speziell zur spezifisch bürgerlichen Musikkultur V. Kaiisch: Autonomer Mensch und autonome Musik. Die bürgerliche Musikkultur. In: Annali di Socilolgia 5, 1989, S. 45-61. 21 Vgl. dazu J. Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 27f bzw. Ders., Bürgertum und Bürgerlichkeit, S. 43ff sowie H. Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur. In: J. Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit, S. 121f bzw. insgesamt S. 121-142 und T. Nipperdey: Kommentar: „Bürgerlich" als Kultur. In: Ebda, S. 143-148 und Ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 382-395 sowie D. Rüschemeyer: Bourgeoisie, Staat und Bildungsbürgertum. Idealtypische

Grundlagen der Untersuchung

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Diese Werte prägten idealtypisch bürgerliche Kultur in ihrer bewußten wie unbewußten Form, d. h. als lebensweltliche und symbolische Praxis - manifest etwa anhand von Kleidung, Umgangsformen oder Konventionen - wie als oftmals unbewußt verinnerlichte „Mentalität", wobei zu klären ist, was genau der oftmals unklare Begriff „Mentalität(en)" besonders im Unterschied zu „Ideen" bzw. „Ideologien" bezeichnet. Der in Deutschland noch lange Zeit und teilweise bis heute vorwiegend pejorativ gebrauchte Begriff 22 hängt eng mit der Entwicklung der französischen „Annales"-Schule seit den 30er Jahren zusammen. Bereits die Gründerväter Marc Bloch und Lucien Febvre zielten in bewußter Abkehr vom traditionellen Paradigma der politischen und Ideengeschichte auf eine „histoire totale", die vor allem soziale, ökonomische und kulturelle Strukturen in den Mittelpunkt rückte und damit erstmals kollektive Deutungsmuster im Sinne des „outillage mental", also der „mentalen Werkzeuge" zur kollektiven Produktion von Sinn und Orientierung in den Blick nahm. Unter dem Einfluß anthropologischer und psychologischer Perspektiven kam es damit zu einer Abkehr von traditionellen „Zeitgeist"-Vorstellungen, wobei allerdings eine genaue Definition des Gegenstandsbereichs der „histoire des mentalités" kontrovers verlief, zumal gerade die Reichweiten, Erklärungsansprüche und soziologischen Anbindungen der „Mentalitäten" unklar blieben. So wird etwa bei einem führenden Vertreter der modernen Mentalitätsgeschichte in Frankreich, bei Jacques le Goff, Mentalitätsgeschichte folgendermaßen definiert: „Die Ebene der Mentalitätsgeschichte ist die des Alltags und des Automatischen, also dessen, was den individuellen Subjekten in der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht, also dessen, was Caesar und der letzte Soldat seiner Legionen, Ludwig der Heilige und der Bauer auf seinen Domänen, Christoph Kolumbus und der Matrose auf seinen Karavellen gemeinsam haben. Die Geschichte der Mentalitäten verhält sich zur Ideengeschichte wie die Geschichte der materiellen Kultur zur Wirtschaftsgeschichte." 23 Diese Definition weist zwar die grundsätzliche Richtung, ist jedoch sehr allgemein gehalten, wenig trennscharf und vor allem sozialhistorisch kaum differenziert, denn es bleibt bei diesem und vielen verwandten Ansätzen oftmals unklar, wie nun die Vermittlung der einzelnen Dimensionen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaftsstruktur und Mentalitäten methodologisch konzipiert werden soll.

Modelle für die vergleichende Erforschung von Bürgertum und Bürgerlichkeit. In: Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit, S. 102. Zur Entstehung des bürgerlichen Familienbegriffs vgl. allgemein D. Schwab: Familie. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2, Stuttgart 1975, besonders S. 278ff und S. 287-299 und allgemein zum bürgerlichen Familienideal und seiner Verwirklichung: H. Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1982, S. 257-309 und jüngst im Vergleich G. F. Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien von 1840 bis 1914. Diss. FU Berlin 1992, Göttingen 1994. 22 Zur Geschichte des Begriffs „Mentalität" vgl. U. Raulff: Die Geburt eines Begriffs. Reden von .Mentalität' zur Zeit der Affäre Dreyfus. In: Ders. (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin 1987, S. 50-68. 23 J. Le Goff: Eine mehrdeutige Geschichte. In: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 21. Vgl. zur Entwicklung der Geschichte der „Mentalitäten" besonders in Frankreich R. Chartier: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten. In: Ebda., S. 69-96 und P. Schöttler: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der .dritten Ebene'. In: A. Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Frankfurt/M., New York 1989, S. 86-94.

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Einleitung

V. Sellin hat dagegen im Rückgriff auf eine erstmalig 1932 von Theodor Geiger vorgenommene Begriffsbestimmung argumentiert, daß „Mentalität" als eine Art unbewußte Semantik eines spezifischen Kollektivs zu verstehen sei, wobei die Funktion dieser Semantik in erster Linie darin bestehe, Orientierungsmuster für das Verhalten des einzelnen und damit „unwillkürliche Sinngewißheiten" zu vermitteln. Mentalität ist damit definierbar als Gesamtheit unbzw. vorbewußter Dispositionen, die es einer sozialen Gruppe oder ganzen Gesellschaft ermöglicht, Ereignisse, Situationen, Konflikte etc. „einzuordnen" und dadurch ein sozusagen selbstverständliches Verhalten innerhalb dieser Gruppe oder Gesellschaft zu erzeugen. „Ideologien" können demgegenüber als bewußter „Überbau" dieser dem Individuum weitgehend unbewußten Mentalitäten betrachtet werden,24 wobei allerdings auch Ideologien soweit verinnerlicht werden können, daß die Trennung zwischen „bewußt" und „unbewußt" kaum mehr zu ziehen ist und sie damit Teil von Mentalitäten werden.25 Es wird sichtbar, daß diese Definition von Mentalität den Vorteil hat, die zentrale Dimension der unbewußten oder vorbewußten Ebene menschlicher Identität(en) nicht nur allgemein von der lange dominierenden psychoanalytischen oder aber geistesgeschichtlichen Ausrichtung allein auf das Individuum abzulösen und damit die verbindende kollektive Ebene stärker in den Blick zu nehmen, sondern auch eine konkrete sozialhistorische Verortung und soziologisch fundierte Anbindung dieser kollektiven Mentalitäten an Klassen, Stände, Schichten oder Milieus erlaubt. Mentalitäten sind damit begrifflich zu fassen als primär kollektive unbewußte Sinnstiftungs- und Deutungsmuster einer soziologisch bestimmbaren Schicht, Gruppe oder Klasse. Diese Deutungsmuster schlagen sich konkret in erster Linie in Handlungs- und Verhaltensweisen nieder, wobei allgemein ein starker Beharrungscharakter, eine bisweilen sogar die gesamte Gesellschaft umfassende Prägekraft und eine „lange Dauer" dieser Deutungsmuster unterstellt werden kann.26

24 V. Sellin: Mentalität und Mentalitätsgeschichte. In: HZ 241, 1985, S. 583-590. Vgl. zum Forschungsstand mit einer Fülle weiterführender Literatur auch F. Loetz: Histoire des mentalités und Medizingeschichte. Wege zu einer Sozialgeschichte der Medizin. In: Medizinhistorisches Journal. Internationale Vierteljahresschrift für Wissenschaftsgeschichte 27,1992, vor allem S. 272-281. Demgegenüber erscheinen Versuche, „Mentalitäten" als Literaturformen unmittelbar dingfest machen zu wollen, problematisch, da der formale Charakter zumal bei fiktionaler Literatur gerade die unbewußte Dimension stark zurückdrängt und zugleich den wesentlich kollektiven Charakter von Mentalität verkennt. Vgl. zum Konzept einer so verstandenen „retrospektiven Mentalität" Κ. P. Hansen: Utopische und retrospektive Mentalität: Überlegungen zu einer verkannten Tradition.In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57,1983, S. 569-592 und die Übernahme dieses Ansatzes in einer jüngsten Studie: U. Ott: Amerika ist anders. Studien zum Amerika-Bild in deutschen Reiseberichten des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 147ff. Zur Problematik des Begriffs der „Ideologien" vgl. auch Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse, S. 95-102. 25 Vgl. auch P. Dinzelbacher: Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte. In: Ders. (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1993, S. XXIIff. Er spricht in diesem Zusammenhang auch bildlich von der Mentalität als „Haut" bzw. von der Ideologie als „Gewand", das allerdings zur „zweiten Haut" werden könne. 26 Siehe dazu auch P. Burke: Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte. In: Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte, S. 127 bzw. den Definitionsversuch von Dinzelbacher, Zur Theorie, S. XXIf: „Historische Mentalität ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalität manifestiert sich in Handlungen."

Grundlagen der Untersuchung

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Damit rückt ein solcher Mentalitätsbegriff zugleich ganz in die Nähe neuerer wissenssoziologischer Ansätze, die vor allem die Muster der kollektiven Organsation von „Wissen" innerhalb bestimmter Gruppen oder Milieus untersuchen.27 „Wissen" meint dabei genau jene un- oder nur teilbewußten Deutungsmuster, die auch den Kern von Mentalitäten ausmachen. Soziale Schichten oder Milieus lassen sich damit als „Wissensgemeinschaften" mit ganz spezifischen „Wirklichkeitsmodellen" begreifen. Diese Wirklichkeitsmodelle konstituieren sich dabei einerseits durch relativ stabile und ganzheitlich organisierte „Normalitätsvorstellungen" und andererseits durch existentielle vorbewußte Anschauungs- und Orientierungsweisen; damit prägen sie subjektive Erfahrungen, determinieren sie aber nicht und lassen daher auch Raum für Wandel. Im Hinblick auf das wilhelminische Bürgertum können die angeführten bürgerlichen Werte je nach dem Grad ihrer Bewußtwerdung als Ausdruck solcher „Normalitätsvorstellungen" oder unmittelbaren Anschauungsweisen gelten. Die Gesamtheit dieser Werte und Prägungen läßt sich dementsprechend als „bürgerliches Wirklichkeitsmodell" begreifen. Wenn in dieser Studie also nach dem Amerika-Diskurs des Bürgertums gefragt wird, so geht es dabei vor allem darum, die Rolle und die Art und Weise gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung für die Konstituierung des bürgerlichen Wirklichkeitsmodells um 1900 auszuloten, denn mentale Wirklichkeitsmodelle „organisieren" Erfahrungen und deren Verarbeitung zu mehr oder weniger kohärenten Identitäten, indem sie Zugehörigkeiten, Wertschätzungen und allgemein Sinnorientierungen ermöglichen; sie werden aber zugleich auch durch neue (kollektive) Erfahrungen modifiziert und verändert. Solche mentalen Wirklichkeitsmodelle stellen also eine Art „fundamentale Semantik" gesellschaftlicher Ordnung dar, die an ganz bestimmte Klassenlagen gebunden ist (diese aber auch entsprechend konstituiert). Um Orientierung für das richtige Handeln und Verhalten relativ schnell und bruchlos zu ermöglichen, weisen solche Wirklichkeitsmodelle eine deutliche Vereinfachungstendenz auf, sie sind also sozusagen „Routinen" kognitiver Aneignung von Erfahrung, die die Aufgabe haben, die Komplexität der erfahrenen Wirklichkeit zu „ordnen" und das Individuum oder die Gruppe handlungsfähig zu machen. Gerade Stereotypen über „Fremde" sind hier besonders aufschlußreich, sie bilden jedoch nur die Spitze eines Eisbergs von milieuspezifischen „Vorurteilen", die zusammen die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" ausmachen. In diesem Sinne hat W. J. Mommsen gerade die Gesellschaft des Kaiserreichs in vier spezifische „Kulturmilieus" unterteilt, nämlich in ein aristokratisch-höfisches, ein bürgerlich-protestantisches, ein kleinbürgerlich-katholisches und ein sozialdemokratisches Kulturmilieu, die sich durch ihre spezifische „Konstruktion der Wirklichkeit" unterschieden und gegeneinander in den vielfältigsten Formen bis hin zur parteipolitischen Institutionalisierung abgrenzten, wobei klar ist, daß sich je nach Perspektive hier auch eine Fülle von Überschneidungen ergeben.28

27 Vgl. zu diesem Komplex allg. G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M., New York 1992, 5 1995, bes. S. 219-275 bzw. generell P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1980, bes. S. 139-195 zum Aspekt der Sozialisation. 28 Vgl. W. J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918. Frankfurt/M., Berlin 1994, S. 717.

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Hinleitung

Der historische Begriff der Mentalitäten oder der soziologische Begriff der Wirklichkeitsmodelle verweist im Hinblick auf das Bürgertum des 19. Jahrhunderts also auf den unbewußten Teil von „Bürgerlichkeit", der durch die Analyse konkreter Lebens- und Erziehungsformen, Selbstdarstellungen, Verhaltensweisen, Handlungsmuster und Gefühlsstrukturen auf der „Ausdrucksebene" aufgeschlüsselt werden kann. Ihren deutlichsten Ausdruck findet Bürgerlichkeit neben ihrer Symbolik und Manifestation in Lebensstilen daher vor allem in der Konstituierung einer spezifisch bürgerlichen Öffentlichkeit, die über Medien im weitesten Sinne wie Literatur, Presse, Kunst oder Musik geschieht, so daß der Analyse von Medien gerade unter dem Aspekt der Vergesellschaftung des Bürgertums zentrale Bedeutung zukommt.29 Ein Segment dieser bürgerlichen Öffentlichkeit soll im folgenden näher untersucht werden, indem die Debatte über die Gesellschaft der USA im deutschen Kaiserreich anhand von Reiseberichten und landeskundlichen Studien vorgestellt wird. Dabei gilt es vordringlich im Blick zu behalten, daß man sich mit Texten befaßt, die auf der Ausdrucksebene bürgerliche Selbstdarstellung explizit vorführen, in den zugrundeliegenden Wahrnehmungsstrukturen aber nur erfaßt werden können, wenn sie sozusagen „gegen den Strich gelesen" werden, wenn man also versucht, die mentalen Dispositionen jenseits der Ausdrucksebene aufzudecken - wie dies methodisch geschehen soll, wird weiter unten erläutert. Hier bleibt zunächst nur einschränkend anzumerken, daß durch die reine Konzentration auf nichtfiktionale Sachtexte wichtige Bereiche der Mentalitätsgeschichte, die wie gesagt tendenziell immer eine „histoire totale" anstrebt, ausgeklammert bleiben müssen, nämlich zum einen der Bereich der Gefühle, Träume und Empfindungen, zum anderen die konkreten Manifestationen dieser Dispositionen in Handlungen. Im Zentrum steht hier daher eine Form der Mentalitätsgeschichte, die sich primär als eine „Sozialgeschichte der Ideen" 30 versteht und damit vor allem auf gesellschaftliche „Diskurse" rekurriert. Der Begriff „Diskurs" führt ähnlich wie der Begriff der „Mentalitäten" in ein überaus schillerndes, semantisch vielfältiges und weitverzweigtes Diskussionsfeld ein, das hier nicht im Detail vermessen werden kann. Da diese Untersuchung jedoch den AmerikaDiskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg analysiert, muß definiert werden, was damit gemeint ist. Mentalitäten und Wirklichkeitsmodelle als „sedimentierte" Erfahrungen und Erwartungen der unterschiedlichen Schichten und Milieus artikulieren sich in erster Linie als „Diskurse" im Sinne einer Gesamtheit von Denk- und Argumentationsweisen. Konkret manifestieren sich diese Diskurse in Symbolen, Ritualen etc., vor allem aber auch in ganz konkreten öffentlichen Debatten über gesellschaftliche Probleme, Sinnstiftungen oder über gemeinsame Vergangenheits- und Zukunftsdefinitionen. Diskurse sind also Denk- und Argumentationssysteme mit spezifischen Gegenständen, „Grammatiken" und Relationen zu anderen Diskursen; sie „sind durch ihren Systemcharakter wie durch ihren Praxisaspekt an eine historische Zeit und an eine kulturelle Umwelt gebunden." 31

29 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 300f und Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 26ff. 30 Zur Unterscheidung von Ideen- bzw. Mentalitätsgeschichte und zur Tendenz hin zu einer „histoire totale" vgl. auch Dinzelbacher, Zur Theorie, S. XVIIIff bzw. XXVIIf. 31 A. Hartmann: Über die Kulturanalyse des Diskurses. In: Zeitschrift für Volkskunde 87, 1991, S. 23. Vgl. auch ebda., S. 19-28.

Grundlagen der Untersuchung

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Gegen im Kern ahistorische poststrukturalistische Diskurstheorien wie etwa bei Jacques Derrida, die Diskurse vor allem als autonome Sprach- und Zeichensysteme im Sinne eines „freien Spiels der Zeichen" unabhängig von „äußeren" Bezügen (wie Individuum bzw. Autor oder Gesellschaft) konzipieren, muß daher in (sozial-)historischer Perspektive mit Pierre Bourdieu (und in gewissem Sinn auch in der Tradition Michel Foucaults) daran festgehalten werden, daß der Sinn sprachlicher und symbolischer Praxen und Diskurse wesentlich durch die gesamte Sozialstruktur und ihre entsprechenden Herrschaftsverhältnisse geprägt und bestimmt wird, auch wenn diese Praxen ihrerseits wieder konstituierend auf die Sozialstruktur zurückwirken.32 So zutreffend die im Rahmen des poststrukturalistischen Diskursbegriffs bei Derrida u. a. geübte Kritik an der selbstverständlichen Gleichsetzung von Sprache bzw. Zeichen und Welt bzw. Bezeichnetem auch ist, und so richtig auch der Hinweis auf die von unmittelbarer Wirklichkeitswiedergabe abgelöste Intertextualität von sprachlichen und schriftlichen Äußerungen erscheint, so wenig vermag deren „Totalisierung" und Verabsolutierung zu überzeugen in dem Sinne, daß überhaupt keine Abbildfunktion der Sprache mehr möglich und denkbar sei und daß sämtliche Äußerungen und Quellen letztlich nur als „frei schwebendes" Spiel von Zeichen - geordnet allein durch die rein subjektive Auswahl des Historikers (als Schriftsteller) - zu verstehen seien. 33 Allerdings setzt sich das hier angewandte Diskurs-Konzept auch deutlich von der Tradition Foucaults34 ab, indem Diskurse hier nicht primär als soziale Praktiken und Institutionalisierungen von Herrschaft und Macht unter dem Deckmantel der „Aufklärung" verstanden werden, sondern vor allem als öffentliche Debatten und Kontroversen zu gesellschaftlich relevanten Themen, 35 hinter denen sich die skizzierten Wirklichkeitsmodelle und deren Wandel

32 Zur strukturellen Verbindung von Diskursen mit entsprechenden Sozialmilieus vgl. besonders P. Bourdieu: Ce que parler veut dire. L'économie des échanges linguistiques. Paris 1982 und dazu T. Laugstien: Bourdieus Theorie ideologischer Diskurse. In: Argument 26, 1984, S. 887-893 sowie zur Tradition Foucaults u. a. T. S. McCoy: Hegemony, Power, Media. Foucault and Cultural Studies. In. Communications 14, 1988, S. 71-89. Vgl. insgesamt zur Debatte um „Diskurse" und deren unterschiedliche Konzeptionen Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse, S. 102-116 und Ders.: Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse. In: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1988, S. 159-199. 33 Vgl. zu dieser Position vor allem D. Harlan: Intellectual History and the Return of Literature. In: American Historical Review (AHR) 94, 1989, S. 581-609 und als wichtige Kritik an diesem Ansatz (in seiner Ausschließlichkeit und irreführenden Verabsolutierung) auch D. A. Hollinger: The Return of the Prodigal: The Persistence of Historical Knowing. In: Ebda., S. 610-621 und J. Appleby: One Good Turn Deserves Another: Moving beyond the Linguistic; A Response to David Harlan. In: Ebda., S. 1326-1332. In diesem Sinne wird hier eher auf die kontextualistischen Ansätze von Pocock u. a. zurückgegriffen, die versuchen, im weitesten Sinne „literarische" Quellen in ihren historischen und sozialen Kontext zu stellen und damit historische Aussagekraft zu erhalten. 34 Vgl. dazu z. B. J. E. Toews: Intellectual History after the Linguistic Turn: The Autonomy of Meaning and Irreducibility of Experience. In: American Historical Review (AHR) 92, 1987, S. 890ff und jüngst allgemein zur Debatte um dekonstruktivistische bzw. poststrukturalistische Diskursbegriffe sehr aufschlußreich P. Jelavich: Poststrukturalismus und Sozialgeschichte aus amerikanischer Perspektive. In: Geschichte und Gesellschaft 21, 1995, S. 259-289. 35 Vgl. dazu Schöttler, Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse, S. 177.

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Einleitung

verbergen. Es gilt also, über den Weg der Diskursanalyse diese mentalen Wirklichkeitsmodelle zu entschlüsseln, was in neueren diskursanalytischen Studien vor allem über den Zugang lexikologisch-semantischer oder semiotischer Ansätze versucht worden ist.36 In Anknüpfung an diese jüngsten methodologischen Konzepte der Diskursanalyse wird es hier demnach in erster Linie um eine Sozialgeschichte kollektiver Denk- und Argumentationsmuster gehen, was gerade im Fall des Bildungsbürgertums um so sinnvoller erscheint, als dieses sich ja vor allem durch einen gemeinsamen Diskurskontext im Sinne von Bildungswissen konstituierte.37 „Diskursgeschichte" wird hier also als eine Form von Sozial- und Mentalitätsgeschichte verstanden, die versucht, soziale Strukturen und individuelle wie kollektive Erfahrungen und deren Deutungen miteinander in eine sinnvolle und erhellende Beziehung zu setzen, wobei vor allem die Frage nach der Erfahrung gesellschaftlicher Modernisierung anhand der Konfrontation mit einer fremden Gesellschaft im Zentrum steht. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß Mentalitätsgeschichte ohne Sozialgeschichte nicht sinnvoll denkbar ist. Andererseits muß betont werden, daß sich die Sozialgeschichte einer wichtigen Dimension beraubt, wenn sie die diskursive Verarbeitung von gesellschaftlicher Realität aus ihrem Horizont verbannt (wie lange Zeit besonders in der deutschen Sozialgeschichtsforschung geschehen), zumal wenn man berücksichtigt, daß auch und gerade Weltinterpretation und ,,-anschauung" Teil sozialen Handelns ist und auf dieses unmittelbar einwirkt. Studien im Anschluß an diesen sogenannten „linguistic turn" 38 haben daher diese Forschungslücken zu füllen versucht und eine allgemeine Debatte um die „kulturtheoretische" Erweiterung der Sozialgeschichte angestoßen, die darauf zielt, die traditionelle Gegenüberstellung von „harten" Strukturen und „weichen" Deutungen aufzulösen, indem die gesellschaftlichen Praxen und entsprechenden Diskurse der historischen Akteure als Schnittstellen zwischen „Strukturen" und „Erfahrungen" stärkere Bedeutung erlangen und

36 Vgl. zu Chancen und Grenzen dieser Ansätze u. a. Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse, S. 102-118. Einer der interessantesten Ansätze findet sich z. B. bei L. Hunt, die zeigt, daß der Diskurs bzw. die Sprache der Französischen Revolution erst eine kohärente Gruppe von Revolutionsträgern aus ehemals „marginal men" schuf und nicht umgekehrt. Vgl. dazu L. Hunt: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Frankfurt/M. 1989 und dazu Jelavich, Poststrukturalismus, S. 275ff. 37 Zu diesen neuen Ansätzen in der deutschen Geschichts- und Literaturwissenschaft im Hinblick auf die Erforschung einer „historischen Semantik", der Analyse von „Kollektivsymbolen" und der Untersuchung politischer Ideologien vgl. ebda., S. 176-179. Vgl. dazu auch Lepsius, Demokratie, S. 305, der schreibt: „So ist etwa ein Anwalt nicht über seine juristische Berufskompetenz ein Angehöriger des Bildungsbürgertums, sondern über seine Diskursfähigkeit im Rahmen des jeweils geltenden Bildungswissens. Gleichermaßen ist ein Maler nicht wegen seiner handwerklich-bildnerischen Fähigkeiten ein Mitglied des Bildungsbürgertums, sondern über die zugeschriebene Sinnbedeutung seiner Bilder innerhalb eines herrschenden Diskurskontextes." 38 Vgl. Brenner, Reisen, 5ff sowie Schöttler, Sozialgeschichtliches Paradigma, passim und M. Geyer/K. H. Jarausch: The Future of the German Past: Transatlantic Reflections for the 1990s. In: Central European History 22, 1989, S. 238-253 sowie R. Chartier: Le monde comme représentation. In: Annales E. S. C. 44, 6, 1989, S. 1505-1520. Vgl. zur intensiven Debatte um den Zusammenhang von Sozial- und Ideen-, bzw. Kulturgeschichte besonders in den USA auch die Beiträge in P. Karsten/J. Modell (Hg.): Theory, Method, and Practice in Social and Cultural History. New York und London 1992.

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damit ganz neue Fragestellungen und Erklärungsansätze ermöglichen. 39 Um Strukturen und Erfahrungen nicht mehr als Gegensätze zu begreifen und dementsprechend integrieren zu können, bedarf es also einer „dialektischen" Verknüpfung der „Texte" mit den „Kontexten": „Wenn auch die Kontexte von Texten potentiell unendlich sind, so spielt das dann für die Interpretation nur eine untergeordnete Rolle: Denn die Interpretation fragt nicht nach den Kontexten überhaupt, sondern sie geht von den Texten aus und fragt weiter ausgreifend nach den Kontexten, wo immer die Texte Anschlußstellen dafür bieten und damit weitere Fragehorizonte eröffnen." 40 Daher müssen auch die Kontexte in einem sinnvollen Bezug stehen, müssen gezielt an die Fragestellungen angepaßt und auf wesentliche Grundlinien konzentriert sein, um als Erkenntnishorizont den Quellen Aussagekraft verleihen zu können. Es gilt also einer doppelten Gefahr zu entgehen: Einerseits kann in diesem Fall allein „dichte Beschreibung"41 des Materials nicht ausreichen, um gerade im Hinblick auf mentale Dispositionen und Fragen gesellschaftlichen Bewußtseins zureichende Aussagen zu machen; andererseits dürfen aber die theoretischen Vorgaben nicht zu stark normativ sein, um nicht am Ende zwingend als Ergebnis zu erhalten, was zu Beginn schon vorgegeben wurde. Es gilt somit, die Analyse methodisch offen zu halten und die Texte nicht zugunsten eindeutiger Aussagen zu nivellieren, wenn Brüche und „Unstimmigkeiten" vorliegen. 42

b) Forschungsstand, Ziele und Methodik: Es ist auffallend, daß im Zusammenhang der Erforschung von Bürgerlichkeit in Deutschland bisher in erster Linie Quellen der Selbstdarstellung des Bürgertums wie Autobiographien, Familienchroniken oder Tagebücher zugrundegelegt worden sind, also vor allem bürgerliche

39 Vgl. dazu den Diskussionsband von C. Conrad/M. Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994 und die Debatte in der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft", so vor allem die Beiträge von F. Jaeger: Der Kulturbegriff Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte. In: GG 18, 1992, S. 371-393; U. Daniel: „Kultur" und „Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte. In: GG 19,1993, S. 69-99, die vor allem die Einflüsse aus der Ethnologie und Anthropologie analysiert; R. Sieder: Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft? In: GG 20, 1994, S. 445-468 und W. Kaschuba: Kulturalismus. Kultur statt Gesellschaft? In: GG 21, 1995, S. 80-95. Lepsius schreibt dazu aufschlußreich: „Der Reiz gerade dieser Forschungsrichtung liegt in der Überschneidung kultureller und sozialer Entwicklungen, im Zusammenwirken von Strukturen und Personen. In immer neuen .Sezessionen', konkurrierenden Programmen, in sozialer Isolierung und Abschottung, in losen und festeren Kommunikationsstrukturen und der Suche nach Verbreitungsmedien entwickelt sich ein vielfältiger, diskontinuierlicher und doch sozial vermittelter Kulturdiskurs." (Lepsius, Demokratie, S. 299). 40 Brenner, Reisen, S. 21, wobei er zugleich das Programm einer „hermeneutisch aufgeklärten Sozialgeschichte" bzw. einer „sozialgeschichtlich aufgeklärten Hermeneutik" bestimmt, das auch für diese Arbeit erkenntnisleitend sein soll. 41 Vgl. zu diesem Konzept vor allem C. Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987, bes. S. 743. 42 Zur Gefahr einer zu homogenen Interpretation gerade im Bereich der Mentalitäten vgl. auch Burke, Stärken und Schwächen, S. 133ff. Zur Notwendigkeit einer Diskursanalyse auf mehreren Ebenen im Hinblick auf innere Struktur, Transformation, institutionelle Verstrickung und Rolle der historischen Akteure vgl. Hartmann, Kulturanalyse, S. 27f.

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Selbstwahrnehmung und -darstellung im Vordergrund stand.43 Vernachlässigt wurden dagegen bisher Quellen, die die Wahrnehmung eines anderen Landes oder einer fremden Gesellschaft dokumentieren und aus einer veränderten Perspektive, so die Hypothese, damit ebenfalls einiges über wesentliche Elemente bürgerlicher Kultur vermitteln - dies zumindest teilweise aufzuholen, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Zentral ist also der Aspekt der Fremdwahrnehmung als Indiz bürgerlicher Mentalität, der auf die Ebene des zeitgenössischen Gesellschaftsvergleichs verweist, eng verwoben mit dem Aspekt des Wandels oder der langen Dauer von Mentalitäten. Beide Aspekte verweisen auf die Frage nach der mentalen wie „ideologischen" Verarbeitung von gesellschaftlicher Modernisierung, also auf den zeitgenössischen Diskurs über Modernisierung. Alle drei Bereiche sind bisher in der mentalitätshistorischen Forschung zum Bürgertum im 19. Jahrhundert relativ vernachlässigt worden, was eine eingehendere Untersuchung am „Fallbeispiel" Amerika um so lohnenswerter macht. Sehen wir uns die einzelnen Bereiche im Hinblick auf unsere Thematik etwas genauer an: Im Kontext der Fremdwahrnehmung erscheinen gerade die Auseinandersetzungen mit Gesellschaften anderer Länder für mentale Strukturen in der untersuchten Gesellschaft aufschlußreich. Gegen das vielfach vorherrschende soziologische Leitbild einer rein oder primär internen Differenzierung und Modernisierung entwickelter Gesellschaften muß die eminente Bedeutung des direkten oder indirekten Kontakts zwischen Gesellschaften und Kulturen für deren Entwicklung hervorgehoben werden: „Da jedes Volk, jeder Staat, jede Kultur, jede Religion von anderen umgeben ist, haben sie stets auf die nächsten und übernächsten Nachbarn geblickt, die man kennen und beachten muß, weil davon das eigene Schicksal abhängt. (...) Wenn das soziale Handeln auf der Orientierung am Handeln anderer beruht, so gehört zum gesellschaftlichen Handeln auch die Orientierung der Gesellschaften aneinander. (...) Dies gilt offenbar nicht bloß für die Wehrverfassung und betrifft keineswegs nur die Sicherung der eigenen Lebenschancen gegen äußere Bedrohung. Selbst wo diese völlig fehlt, stellen fremde Kulturen eine innere Herausforderung dar, die verarbeitet werden muß. (...) Die Wahrnehmung des Fremden treibt mit der Intensität der Berührung die eigene Kultur auf beiden Seiten zur ausdrücklichen Besinnung, Artikulation und Rechtfertigung im Blick auf die neuen militärischen, wirtschaftlichen, religiösen oder kulturellen Außenlagen mit entsprechenden Folgen für die Veränderung der eigenen Gesellschaft wie für die Gestalt der Beziehungen zur anderen Gesellschaft." 44 Die Entwicklungs-Dynamik, die der Kulturvergleich damit auslöst, wird besonders deutlich, wenn es sich um Phasen beschleunigten Gesellschaftswandels handelt. Tiefgreifende und rapide Veränderungen in der Lebenswelt und den alltäglichsten Lebenszusammenhängen

43 Siehe dazu u. a. Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 944 und M. Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim und München 1986, der eine Fülle von Autobiographien zugrundelegt. Vgl. ferner D. L. Augustine: Die wilhelminische Wirtschaftselite. Sozialverhalten, soziales Selbstbewußtsein und Familie. Diss. FU Berlin 1991 bzw. die Angaben unter Anm.3. 44 F. H. Tenbrock: Was war der Kulturvergleich, ehe es den Kulturvergleich gab? In: J. Matthes (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen 1992, S. 22f. Vgl. zu diesem ganzen Komplex des zeitgenössischen Kulturvergleichs ebda., S. 13-35.

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müssen verarbeitet werden, wozu die alten mentalen wie institutionell vermittelten Erklärungsmuster nicht mehr ausreichen bzw. zunehmend in Frage gestellt werden - es entsteht somit ein enormer Erklärungsbedarf, um die Wandlungsprozesse einordnen, um sich in der rapide veränderten Welt orientieren zu können. Bedenkt man ferner, wie unterschiedlich schnell sich Gesellschaften im Rahmen von Modernisierung entwickeln, welch unterschiedliche Wege sie dabei gehen und welchen verschiedenen „Logiken" sie dabei folgen, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß gerade in den zeitgenössischen Debatten über den „richtigen" Weg in die Moderne Gesellschaften, die gleichzeitig ähnliche oder vergleichbare Entwicklungswege durchliefen, als „Modelle" in positiver wie negativer Hinsicht erschienen.45 Dies läßt sich gerade anhand des im Gefolge der Industrialisierung ungeheuer beschleunigten ökonomischen und sozialen Strukturwandels in (West-)Europa und in den USA im (späten) 19. Jahrhundert beobachten. Hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst England als Initiator der Industrialisierung das Modell ökonomischer, technischer und sozialer Modernisierung auf dem europäischen Kontinent abgegeben, so verschoben sich die Gewichte am Ende des Jahrhunderts deutlich zugunsten der „Spätentwickler" Amerika und Deutschland, die schließlich die bis dahin in vielen Industriesektoren führenden Länder Westeuropas wie England, die Schweiz und Frankreich überflügelten und zugleich als Modernisierungsmodelle ablösten.46 Angesichts dieser Modellfunktion fremder Gesellschaften wird die Annahme zugrunde gelegt, daß gerade das Bild oder die Bilder von einem anderen Land bzw. einer fremden Gesellschaft mehr über den Betrachtenden als über das Betrachtete vermitteln, daß also in diesem Fall Amerika eher eine Projektionsfläche ist, die in Form bürgerlicher Reiseberichte mehr über den Beobachter und Beschreibenden als über das Beobachtete auszusagen vermag. Wolfgang Kaschuba hat im Zusammenhang des bürgerlichen Reisens nach 1800 diesen Umstand treffend umrissen: „Über die .Repräsentation des anderen', wie es Michel de Certeau formuliert, der kulturellen Selbstrepräsentanz auf die Spur zu kommen, in der Wahrnehmung des anderen das eigene Wahrnehmungsraster gespiegelt wiederzufinden - das ist ein von der neuen Ethnohistorie und Kulturanthropologie mittlerweile beschrittener Weg, um hinter die Schutzschilder unserer eigenen Kultur zu gelangen. Denn diese gibt sich ja meist hermetisch; sie besteht, konstituiert sich geradezu darin, daß sie uns beharren läßt auf diesem

45 Vgl. dazu R. Bendix: Freiheit und historisches Schicksal. Frankfurt/M. 1982, S. 120ff u. S. 131-135 sowie R. Koselleck: Fortschritt. In: O. Brunner/W. Conze/Ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 410-415, der den Modellcharakter des zeitgenössischen Gesellschaftsvergleichs als Erbe der französischen Revolution interpretiert. Zur Reise als Prozeß des dauernden Vergleichens aufgrund der Entfernung vom Bekannten vgl. auch E. J. Leed: Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage. Frankfurt/M., New York 1993, S. 81ff. 46 Vgl. zur industriellen Entwicklung Europas u. a. D. Landes: Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart. Köln 1973, bes. S. 124-332. Zur deutsch-französischen Diskussion um den Modellcharakter des jeweiligen Nachbarlandes vgl. H. Kaelble: Die vergessene Gesellschaft im Westen? Das Bild der Deutschen von der französischen Gesellschaft 1871-1914. In: Revue d'Allemagne 21, 1989, S. 181-196 und Α. Schmidt: Deutschland als Modell? Bürgerlichkeit und gesellschaftliche Modernisierung im deutschen Kaiserreich (1871-1914) aus der Sicht der französischen Zeitgenossen. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1992/1, S. 221-242.

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Anderssein als die anderen. Dieser Schlüssel, der versperren soll, kann indessen umgekehrt auch zum Öffnen benutzt werden: die kulturelle Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Kultur als Möglichkeit zur Dechiffrierung der eigenen." 47 So ist in der soziologischen bzw. sozialpsychologischen Forschung immer wieder herausgestellt worden, wie stark Wahrnehmungsmuster vorgeformt sind, wie wenig „unmittelbar" wahrgenommen wird. Unter dem Begriff „Stereotype" sind solche Muster der Einordnung einer ansonsten oft (gerade in einer fremden Gesellschaft) als verwirrend, chaotisch und unüberschaubar empfundenen Wirklichkeit gefaßt worden, wobei ein wesentliches Merkmal dieser Stereotype ist, daß sie als Bausteine von Mentalitäten eine unübersichtliche Wirklichkeit auf überschaubare „Bilder" reduzieren. Dabei dient das „Autostereotyp", d. h. das jeweilige Selbstbild als wesentliches Korrelationsmuster des „Heterostereotyps"; mit anderen Worten, Fremdwahrnehmung ist in starkem Maß an eine (wie auch immer reflektierte) Selbstwahrnehmung gekoppelt. Umgekehrt wirken auch die jeweiligen Autostereotypen einer Gesellschaft auf die Wahrnehmung von außen ein, was anhand der wichtigen Einflußnahme amerikanischer Selbstbilder und -Interpretationen auf den Blick der deutschen bzw. europäischen Reisenden im folgenden noch näher zu analysieren sein wird. Der eigene „Erfahrungsraum" wie auch der entsprechende „Erwartungshorizont"48 bilden so die Folie für die Erfaßbarkeit der fremden Wirklichkeit, die überhaupt nur erfahren werden kann, wenn sich darin bereits beim Beobachter existierende Wahrnehmungsmuster widerspiegeln.49 Es werden also Erwartungshorizonte schon im Vorfeld entworfen, die in der realen Konfrontation mit der fremden Gesellschaft und Kultur zugleich Spiegelungen der Zustände in der eigenen Gesellschaft erzeugen.50 Je nach dem Grad mentaler Offenheit für das Fremde kann dabei von „open" oder „closed mind" gesprochen werden, wobei alle Spielarten von der Absolutsetzung der eigenen Kultur bzw. Ethnie und der damit zumeist verbundenen starken Abwertung der fremden Kultur bis hin zur emphatischen Annahme des Fremden als Vorbild, Modell oder gar Utopie für die eigene Herkunftsgesellschaft möglich sind.51

47 W. Kaschuba: Erkundung der Moderne: Bürgerliches Reisen nach 1800. In: Zeitschrift für Volkskunde 87, 1991,1, S. 38. 48 Vgl. zur Begrifflichkeit von „Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont" als zentralen Kategorien historischer Erfahrung R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt/M. 3 1984, S. 349-375. 49 Vgl. dazu H. Husemann: Stereotypes in Landeskunde Shall We Join Them If We Can Not Beat Them? In: L. Bredella (Hg.): Mediating a Foreign Culture: The United States and Germany. Studies in Intercultural Understanding. Tübingen 1991, S. 16-25; Κ. Krakau: Einführende Überlegungen zur Entstehung und Wirkung von Bildern, die sich Nationen von sich und anderen machen. In: W. P. Adams/Ders. (Hg.): Deutschland und Amerika. Perzeption und historische Realität. Berlin 1985, S. 9 - 1 8 und F. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart 1986, S. 273-296, die auf der Basis neuester theoretischer Literatur einen phänomenologischen, einen situationalen, einen soziokulturellen und eine individualpsychologischen Aspekt der Fremdwahrnehmung bzw. des Stereotyps unterscheidet. 50 Vgl. Kaschuba, Erkundung, S. 39. 51 Vgl. Gewecke, alte Welt, S. 288-292. Zugleich gilt es gerade im Hinblick auf Negativurteile über das Fremde den Charakter der „Entlastung" und Bestätigung der eigenen Identität zumal in Phasen zunehmender kollektiver wie individueller mentaler Krisen im Auge zu behalten. Vgl. ebda., S. 278ff. Zur Infragestellung eigener individueller wie gesellschaftlicher Identität durch den Aufbruch in die Fremde vgl. auch Leed, Erfahrung, S. 55-58 u. 93-97.

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Diesen Tendenzen und Spielarten von Stereotypen als Mustern mentaler Verarbeitung52 des Fremden im deutschen Amerikabild gilt es im folgenden so differenziert wie möglich nachzugehen und den Amerikadiskurs als brisante Debatte über eigene gesellschaftliche Rückständigkeiten und Modernisierungsschübe zu analysieren, wobei zugleich zu fragen ist, ob dabei im Vergleich ein „deutscher Sonderweg" auszumachen ist oder ob nicht vielmehr Übereinstimmungen im Amerikabild der Deutschen, Briten und Franzosen auf gemeinsame Wertmuster des europäischen Bürgertums vor 1914 verweisen. Vor diesem Hintergrund erscheint gerade der europäisch-amerikanische Vergleich sinnvoll und erfolgversprechend, denn die Gesellschaftsformationen beider Länder bzw. Kontinente teilten wesentliche Charakteristika, und doch war Amerika seit der frühen Neuzeit (wie auch immer mythologisiert) gerade in den Augen der Europäer immer die entscheidende Alternative zu den Gesellschaften Europas gewesen. Der Europäer fand Bekanntes in der Neuen Welt, doch so verfremdet und abweichend, daß der Vergleich mit der Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft sich geradezu aufdrängte und zu einer Debatte über Alternativen und Utopien der eigenen Gesellschaft förmlich zwang; verstärkt wurde diese Tendenz zum Gesellschaftsvergleich zudem durch die ganz konkrete Entscheidung Tausender Europäer zugunsten der „Alternative Amerika" im 19. Jahrhundert in Form von Auswandererwellen in bis dahin unbekanntem Umfang. 53 Innerhalb des europäisch-amerikanischen Vergleichs tritt dabei zugleich die Ebene des deutsch-amerikanischen Vergleichs besonders markant hervor, denn gerade vergleichend orientierte Studien haben auffallende Ähnlichkeiten der ökonomischen und in mancher Hinsicht auch sozialen Entwicklung in beiden Ländern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert betont: So machten beide Länder im letzten Drittel des 19. Jahrhundert einen tiefgreifenden Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozeß durch, der in strukturell wie temporal bemerkenswert ähnlichen Entwicklungsphasen verlief und ähnliche Resultate erzeugte, so u. a. die drastische Schrumpfung des Agrarsektors, die rapide Verstädterung, die beschleunigte Entwicklung des Dienstleistungsbereichs und damit den Aufstieg neuer Sozialgruppen wie der Angestellten 54 - auf diese Phänomene wird später immer wieder zurückzukommen sein. Hier genügt es vorerst festzuhalten, daß eine Studie zur Wahrnehmung der USA seitens des wilhelminischen Bürgertums gerade vor dem Hintergrund der Ähnlichkeit der sozioökonomischen Entwicklungsprozesse beider Länder um so sinnvoller und interessanter erscheint, auch wenn eingeräumt werden muß, daß angesichts der unterschiedlichen Dimensionen auch die Grenzen der Vergleichbarkeit sichtbar werden. Bemerkenswert ist dabei zugleich, in welch außergewöhnlichem Maße die politischen Strukturen differierten, galt und gilt doch die USA in vielerlei Hinsicht geradezu als Urmodell der freien „Bürgergesellschaft" im Gegensatz zum deutschen „liberalen Defizit", das gerade für das Kaiserreich im Rahmen der

52 Siehe zum Ansatz, Stereotype bzw. Denkkategorien und „Paradigmen" als Schlüssel für Mentalitäten zu benutzen, auch Burke, Stärken und Schwächen, S. 137ff. 53 Vgl. dazu M. Durzak: Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Historische Voraussetzungen und aktuelle Beispiele. Stuttgart u. a. 1979, S. 9ff. 54 Vgl. dazu J. Kocka: Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: USA 1890-1940 im internationalen Vergleich. Göttingen 1977, S. 40ff u. S. 58-79.

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Diskussion über den Niedergang des Liberalismus und damit um einen vom westlichen Modell abweichenden deutschen „Sonderweg" immer wieder von der Forschung betont worden ist.55 Insofern kann die deutsche Auseinandersetzung mit den USA auch und gerade als Gradmesser für die Reflexion und Aktualität der oben kurz skizzierten bürgerlichen Grundwerte und Utopien dienen, die im Gefolge der Französischen (und Amerikanischen!) Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in Westeuropa und in Deutschland formuliert worden waren. 56 Damit ist der zweite Bereich der Mentalitäten und ihres Wandels angesprochen, denn besonders in diesem Kontext können Wandlungsprozesse bürgerlicher Mentalität sichtbar gemacht werden, die gerade vor dem Hintergrund der in der Forschung immer wieder betonten „langen Dauer" von Mentalitäten aufschlußreich sind; dabei muß natürlich immer im Blick behalten werden, in welchem Maße sich auch die amerikanische Gesellschaft rund hundert Jahre nach dem Entwurf ihrer Verfassung verändert hatte - und gerade die hier zur Debatte stehenden Phasen des „Gilded Age" vom Ende des Bürgerkriegs bis etwa 1900 und die anschließende „Progressive Era" bis zum Ersten Weltkrieg werden in vielerlei Hinsicht als starker Kontrast zur Situation der USA an der Wende zum 19. Jahrhundert dargestellt.57 So sehr also die Realität der Gesellschaft Amerikas um 1900 von der um 1800 und ihren Idealen zu unterscheiden ist, so sehr blieb doch besonders in den Köpfen der europäischen Besucher das Bild von der „Urdemokratie" lebendig, an dem man die amerikanische Wirklichkeit, aber auch die Realität der eigenen Gesellschaft maß und bewertete - ein Vorgang, der nicht zuletzt auf die frühe europäische Amerikaliteratur und hier besonders auf die „Bibel" der europäischen Amerikafahrer im 19. Jahrhundert, nämlich Alexis de Tocquevilles „De la démocratie en Amérique" vom Beginn der dreißiger Jahre, zurückzuführen ist. Die Utopien und Vorstellungen von Amerika gingen also auf intensive Debatten unter europäischen Intellektuellen zurück, die den diskursiven „Erfahrungsraum" und ,.Erwartungshorizont" der Reisenden stark prägten. Man hat dabei im nachhinein diese Debatten um das Für und Wider der gesellschaftlichen Realitäten beider Kontinente in den europäischen Reiseberichten immer wieder mit dem Hinweis auf den Stereotypencharakter der ausgetauschten Argumente kritisiert, so etwa mit dem Hinweis, nach Tocqueville habe kein Europäer bis auf wenige Ausnahmen wesentlich neue Sichtweisen und Argumente beibringen können; es habe also im Grunde gar keine echte

55 Vgl. dazu W. Hardtwig, Bürgertum, bes. S. 288f und D. Langewiesche: Liberalismus und Bürgertum in Europa. In: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 360f bzw. S. 384f sowie H. U. Wehler: Wie „bürgerlich" war das Deutsche Kaiserreich? In: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit, S. 243-280. Allerdings haben gerade englische Historiker das englische Modell relativiert und die These vom Sonderweg zum „Mythos" der deutschen Geschichtswissenschaft erklärt. Vgl. dazu u. a. D. Blackbourn/G. Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Frankfurt/M. 1980 sowie insgesamt H. Grebing: Der „deutsche Sonderweg" in Europa (1806-1945). Eine Kritik. Stuttgart u. a. 1986. 56 Vgl. zu Ideal und Realität der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland auch Gall,... ich wünschte ein Bürger zu sein, S. 601-624, bes. S. 606ffund 611ff. 57 Vgl. z. B. T. Schlereth: Victorian America. Transformations in Everyday Life, 1876-1915. New York 1991, S. XIXVI.

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Debatte gegeben, sondern es seien lediglich feste Grundmuster immer wieder neu formuliert worden. 58 Diese Auffassung beleuchtet trotz ihres allgemeinen Anspruchs jedoch nur eine Perspektive und erscheint auch nur dann sinnvoll, wenn man den (letztlich fiktiven) Maßstab eines objektiven und realitätsgerechten Amerikabildes zugrundelegt. Verändert man dagegen im skizzierten Sinne die Perspektive der Betrachtung und fragt nach den zugrundeliegenden Mentalitäten, so werden die Stereotypen und Muster durchaus aussagefahig und bringen verborgene mentale Dispositionen des Beobachters zum Vorschein. Zudem zeigt eine genauere Analyse, daß sich die Beobachtungen durchaus nicht in Stereotypen erschöpften, auch wenn bestimmte Sichtweisen die Debatte dominierten. Es gab immer auch Gegenargumente, abweichende Erfahrungen und Sichtweisen, Relativierungen, und es muß die Frage erlaubt sein, ob nicht vielmehr im nachhinein die Debatte durch die Forschung auf der Suche nach griffigen Formeln verengt worden ist, ob nicht die Forschung durch eindeutige Theoriedefizite eine Einheitlichkeit und Redundanz suggeriert hat, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. 59 Dabei käme es gerade in „mentalitätsgeschichtlicher Absicht" darauf an, Details, Abweichungen und Korrekturen ernst zu nehmen, um dem Diskurs und damit auch den zugrundeliegenden mentalen Dispositionen mehr Kontur zu verleihen - insofern versucht diese Arbeit, sich stärker als bisher mit einem spezifisch mentalitätsgeschichtlichen Ansatz von der traditionellen Stereotypenforschung abzusetzen.60 Aus diesen Gründen erscheint es auch sinnvoll, die Quellenbasis möglichst breit zu gestalten. In der existierenden Forschung ist die eindimensionale Sicht nicht zuletzt darauf

58 Vgl. ζ. B. A. Clément: Amerika als Herausforderung des Westens. In: Sprache im technischen Zeitalter 56, 1975, S. 330. 59 Als Beispiele für stark reduzierende und theoretisch nicht fundierte Arbeiten zum Amerikabild der Europäer, die sich in reiner Addition von Meinungen und Vorurteilen erschöpfen und bisher deutlich die imagologische Forschung beherrscht haben, seien u. a. folgende Arbeiten genannt: E. Anderson: Apraisal of American Life by French Travellers, 1860-1914. Diss. University of Virginia 1953; C. Brooks: America in France's Hopes and Fears, 1890-1925. 2 Bde. Diss. Harvard 1974. N. D. New York 1986f; E. Chester: Europe Views America. A Critical Evaluation. Washington D.C. 1962; T. MayerHammond: American Paradise: German Travel Literature from Duden to Kisch. Heidelberg 1980; H. Reiske: Die USA in den Berichten italienischer Reisender. Meisenheim a.G. 1971; D. Strauss: Menace in the West. The Rise of French AntiAmericanism in Modern Times. Westport, London 1978. Vgl. auch G. Raeithel u. a.: Europäische Amerika-Urteile im 20. Jahrhundert. In: Sprache im technischen Zeitalter 56, 1975, S. 333-341, der zwar einen sozial differenzierenden Projektvorschlag macht, zugleich aber durch eine extreme und theoretisch nicht gerechtfertigte Reduktion auf affektive Urteile eine ähnliche Verkürzung des europäischen Amerikabildes intendiert. 60 So tendiert eine zunächst vielversprechende Studie von M. Henningsen: Der Fall Amerika. Zur Sozialund Bewußtseinsgeschichte einer Verdrängung. Das Amerika der Europäer. München 1974 ebenfalls dazu, alle Differenzierungen einzuebnen zugunsten der pauschalen Grundthese, die Europäer hätten in Amerika „die Moderne" verdrängt und damit die amerikanische Realität nicht „objektiv" wahrgenommen bzw. bewußt negativ karikiert. Dabei wird der Anspruch einer Sozialgeschichte kaum eingelöst, vielmehr handelt es sich um traditionelle Ideengeschichte ohne Anbindung an soziale und mentale Realitäten, was auch daran deutlich wird, daß durchweg nur führende europäische Intellektuelle analysiert werden. Wie stark diese Reduktionen auch in neuesten Studien fortwirken, zeigt die oberflächliche und kritiklose Übernahme der Thesen von Henningsen bei M. Mathiopoulos: Amerika: Das Experiment des Fortschritts. Ein Vergleich des politischen Denkens in den USA und Europa. Paderborn 1987, S. 149-169.

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zurückzuführen, daß immer nur einige wenige berühmte Reiseberichte als Quelle für die Sicht der Europäer herangezogen worden sind61 und die große Masse der existierenden Amerikaliteratur als literarisch oder historisch „wertlos" beiseite gelassen wurde mit dem Argument, hier würden die Beobachtungen und Bewertungen der „Großen" nur redundant wiederholt. Dies trifft sicher in vielen Fällen zu, erweist sich aber aus der vorgeschlagenen Perspektive als irrelevant, denn gerade in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht erscheinen auch die sogenannt unbedeutenden Berichte der „Masse" der europäischen Amerikareisenden wichtig, gewinnen doch gerade anhand der Häufigkeit bestimmter Aussagen und Wahrnehmungsmuster mentale Dispositionen an Glaubwürdigkeit.62 Zudem läßt sich nur anhand einer breiteren Quellenbasis ein für die Repräsentativität der Beobachtungen und Urteile wichtiges und zumindest in Grundzügen aussagekräftiges Sozialprofil der Autoren erstellen, will man nicht in bloße Typisierungen (wie „der Auswanderer", „der Wissenschaftler", „der bürgerliche Reisende") 63 verfallen. Andererseits ist es notwendig, das Quellenmaterial nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ einzuordnen und zugleich sinnvoll zu beschränken. In diesem Sinne erscheint für eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Studie, in deren Zentrum die öffentliche Debatte über eine fremde Gesellschaft stehen soll, die Beschränkung auf explizit für die Öffentlichkeit bestimmte nichtfiktionale Quellen sinnvoll, da hier - abgesehen von rein privaten Quellen wie Tagebüchern u. ä. - die unmittelbare Wahrnehmung am wenigsten gebrochen erscheint. In fiktionalen Darstellungen dagegen dominiert zu stark das Element des (wie auch immer aus heutiger Sicht bewerteten) Kunstwerkcharakters, des bewußt im Hinblick auf Literarizität konzipierten Textes, auch wenn ihm eigene Erfahrungen des Autors zugrundeliegen mögen. Dies heißt natürlich nicht, daß nichtfiktionale Texte voraussetzungslos gelesen werden könnten und die vermittelte Wirklichkeit sozusagen unmittelbar widerspiegelten; auch bei diesen Texten muß es darum gehen, im geschilderten Sinne „gegen den Strich" zu lesen, um zeitgenössische Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse sichtbar machen

61 Dies gilt beispielsweise auch noch für eine jüngst erschienene Studie von C. Vann Woodward: The Old World's New World. New York, Oxford 1991. 62 Der kollektive Charakter der Mentalitäten ist oben bereits deutlich geworden. Insofern erstaunt es nicht, daß die Mehrzahl der bestehenden mentalitätsgeschichtlichen Studien vor allem serielle Quellen bzw. numerisch breite Quellenbasen benutzt, um zu repräsentativen Aussagen zu gelangen. Vgl. dazu M. Vovelle: Serielle Geschichte oder ,case studies': ein wirkliches oder nur ein Schein-Dilemma? In: Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte, S. 114-126. Demgegenüber meint eine jüngst erschienene Arbeit zum deutschen Amerikabild mit explizit (theoretischem) mentalitätsgeschichtlichem Ansatz ohne eine breite Quellenbasis auskommen zu können und beschränkt sich erneut auf die bekanntesten Autoren, was zu Einseitigkeiten in der Beurteilung führen muß: Vgl. P. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991, S. 25 f. 63 Vgl. ebda, und die Studie von B. Fournier-Galloux: Voyageurs français aux Etats-Unis (1919-1939). Contribution à l'étude d'une image de l'Amérique. Diss. Lille 1987, S. 118-141, die trotz einer differenzierten Sozialprofilanalyse der französischen Reisenden eine Typologie der Reisenden nach den formalen und inhaltlichen Schwerpunkten ihrer Berichte vorzunehmen versucht, die sich als theoretisch verkürzend erweist. Dies wird auch daran deutlich, daß die Verfasserin im Analyseteil diese Einteilung dann weitgehend ignoriert.

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zu können. Doch haben diese Texte eindeutig einen selbstgewählten Anspruch der Wirklichkeitswiedergabe ohne künstlerisch-literarische Verarbeitung und können entsprechend an dieser Vorgabe gemessen werden (um etwa auch fiktionale Elemente aufzudecken) - dieser Anspruch fehlt dem explizit fiktionalen Text, so daß die Absicht, soziale und mentale Realitäten an Texten mit einem hohen Grad an Literarizität unmittelbar messen zu wollen, äußerst problematisch erscheint64, auch wenn grundsätzlich natürlich fiktionale Quellen als mentalitätsgeschichtliche Schlüssel genutzt werden können. Daß jedoch die Texte an der jeweiligen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Realität zumindest in Grundzügen gemessen werden müssen, steht außer Frage, will man nicht in einem vagen l'art-pourl'art-Spiel der Meinungen enden.65 Bevor im folgenden Abschnitt die Vor- und Nachteile der Quellen etwas genauer umrissen werden, gilt es noch den dritten Bereich - den zeitgenössischen Diskurs über gesellschaftliche Modernisierung - in den Blick zu nehmen, denn das deutsche bzw. europäische Amerikabild erweist sich auch und wesentlich als Focus einer generellen Debatte um gesellschaftliche Modernisierung. Es muß daher zwischen der Debatte über das Modell der USA im besonderen und über die Auseinandersetzung um dessen Vorbildhaftigkeit für den deutschen bzw. europäischen Weg in die Moderne im allgemeinen unterschieden werden, denn Modernisierung ist - darauf hat R J. Brenner aufmerksam gemacht - nicht mehr nur als „... nachträgliche Konstruktion der Sozialwissenschaften, sondern als eine Kategorie, mit der die Epoche gleichermaßen ihr Selbstverständnis formuliert...", zu begreifen. 66 Es stellen sich dabei wichtige Fragen wie: Wann wurde über Amerika und wann über die eigene Gesellschaft gesprochen? Waren die USA immer ein Synonym für Modernität? Galt der reale oder vermeintliche Vorsprung auf allen Gebieten? Und vor allem: Wie ist die explizite Rede über Amerika auf den zumeist impliziten Diskurs über Modernität zu beziehen? Wie lassen sich beide verknüpfen, wie unterscheiden?

64 Vgl. dazu z. B. J. Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen 1988 und die Kritik bei Brenner, Reisen, S. 8, Anm.23. Andererseits erscheint auch Brenners Trennung einer privaten bzw. öffentlichen Intention anstelle einer klaren Trennung von fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur nicht stichhaltig, da die Grenzen hier extrem unscharf sind, bedenkt man beispielsweise nur den „öffentlichen" Charakter von Briefliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. Vgl. Brenner, Reisen, S. 13ff. 65 So vermerkt Brenner zurecht: „Nicht einzelne Texte also sind kohärent, sondern die sozialen Handlungszusammenhänge und die .Mentalitäten', aus denen sie hervorgehen, und in diese Kohärenz muß die Textinterpretation ihre Gegenstände hineinstellen und aus ihr heraus muß sie sie verstehen."(Brenner, Reisen, S. 19). Vgl. demgegenüber das Fehlen solcher notwendigen Kohärenz in den imagologischen Arbeiten unter Anm. 59 sowie die jüngst erschienene Arbeit von Ott, Amerika ist anders, die einseitig die politischen Entwicklungen als Einflußfaktoren übergewichtet und zugleich die den Einzelanalysen vorangestellten politischen Abrisse nirgendwo in die Textanalyse schlüssig integrieren kann. Bezeichnend ist daher auch, daß das Ergebnis einer insgesamt starken Kontinuität des deutschen Amerikabildes im 20. Jahrhundert kaum mit den extremen politischen Brüchen dieses Jahrhunderts in Einklang zu bringen ist. 66 P. Brenner, Reisen, S. 257. Er benennt dabei die Bereiche Großstadt, Lebensformen, Politik, Verwaltung und Gesellschaft, in denen der dialektische Prozeß von Fortschritt und Krise erfahren wurde. Vgl. ebda, S. 258ff.

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Allerdings soll der zeitgenössische Diskurs über „die Moderne" 67 im allgemeinen hier nicht explizit zur Korrelation herangezogen werden, zumal er selten direkt in den Texten aufscheint; vielmehr interessiert hier unter mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen gerade, wie „Moderne" bzw. „Modernisierung" am Beispiel der USA sozusagen indirekt erfahren und verarbeitet wurde. Dieser Ansatz macht daher eher den Rekurs auf aktuelle Modernisierungstheorien notwendig, wobei der Untersuchung jedoch keine „klassische" einheitliche Modernisierungstheorie zugrundegelegt werden soll, die den Blick zu stark auf bestimmte normative Vorgaben von Modernisierung festlegen würde. Die Forschung ist heute zudem gegenüber universalen Modernisierungsmodellen sehr viel skeptischer geworden, und es wird immer wieder betont, wie problematisch diese Modelle im Hinblick auf ihre normativen Vorgaben empirischer Befunde sind; außerdem ist der Anspruch einer universalen Modernisierungstheorie weitgehend fallengelassen worden angesichts der empirisch gewonnenen Erkenntnis, daß unterschiedliche Gegenstände auch unterschiedliche theoretische und methodologische Herangehensweisen benötigen und ein einheitliches Modernisierungsmodell in universaler Anwendung den vielfältigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten nicht gerecht wird.68 Allerdings sind jüngst im Rahmen heutiger rapider Wandlungsprozesse in Europa neue Ansätze zur Modernisierungstheorie vorgestellt worden, die sehr viel offener, ambivalenter und flexibler argumentieren und damit theoretische Rahmenbedingungen bereitstellen, die eine Einordnung des Materials ermöglichen und auch generalisierende Schlüsse zulassen. Damit kann ein flexibler Gebrauch von Modernisierungstheorien durchaus als Schlüssel für den Zugang zu den „verborgenen" Mentalitäten im Sinne von Zukunftserwartungen benutzt werden. Die Definition von Modernisierung und ihr theoretischer Rahmen, soweit er für diese Arbeit von Wichtigkeit ist, werden daher im Anschluß an die Analyse der Quellen und Autoren kurz skizziert. Die bisherigen Überlegungen haben das Erkenntnisinteresse sowie die Ziele und Grenzen der Untersuchung kurz umrissen; im folgenden sei daher nun das Programm und die Methodik der Arbeit in ihren Grundzügen skizziert, die dem Ansatz einer „rekonstruierenden Hermeneutik" 69 auf mehreren Vergleichsebenen entspricht. Zunächst wird im Rahmen einer weiteren Quellenkritik das Sozialprofil der Autoren vorgestellt: Welche Berufe hatten die Autoren bzw. welche beruflichen Schwergewichte ergeben sich? Wie alt waren die Autoren bei ihrer Reise? Wie lang hielten sie sich in den USA auf? War das Reisen eine reine Domäne der Männer oder finden sich auch Frauen in der „Reisegruppe"? Lassen sich politische bzw. „weltanschauliche" Profile der Gruppe feststellen? Welches Berufsprofil steht hinter welchen Bewertungen?

67 Dieser Diskurs ist im übrigen bereits intensiv untersucht worden. Vgl. aus der Fülle der Literatur ζ. B. die begriffsgeschichtliche Analyse von H. U. Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Brunner/ Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131 bzw. für die Zeit um 1900 besonders 120-126. 68 Vgl. dazu R. M. Lepsius: Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der „Moderne" und die „Modernisierung". In: R. Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 10-23 und H. U. Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975, S. 18-33 sowie P. Brenner, Reisen, S. 256ff. 69 Vgl. Brenner. Reisen, S. 18ff.

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Insgesamt, das sei hier vorweggenommen, ergibt sich dabei ein erstaunlich homogenes Bild, in dem Männer aus dem (Bildungs-)Bürgertum (vor allem Journalisten und Schriftsteller, daneben aber auch Akademiker, Unternehmer, Pfarrer usw.) im Alter zwischen vierzig und sechzig Jahren dominieren; Kleinbürgertum wie Arbeiterschaft sind gleichermaßen kaum vertreten, ebenso Frauen und junge Männer. Einige Autoren sind zwar von ihrer Herkunft her adlig, üben aber als Schriftsteller und Akademiker genuin bildungsbürgerliche Berufe aus und gehören damit eher dem sozial offenen, da primär über Bildungswissen rekrutierten „Kulturbürgertum" an.70 Damit erscheint die Homogenität der Quellen für die Frage nach der Mentalität des wilhelminischen Bürgertums als spezifischer gesellschaftlicher Formation in ausreichendem Maß gewährleistet, zumal der Quellenbestand mit über hundert Reiseberichten und Studien zwischen 1890 und 1914 auch in quantitativer Hinsicht repräsentative Aussagen erlaubt, auch wenn nicht geleugnet werden kann, daß die unterschiedliche Qualität der Berichte einige Autoren stärker ins Zentrum der Betrachtung rückt und die im Hinblick auf statistische Relevanz geringe Anzahl der Fälle keine quantitativ stichhaltige Berufsanalyse erlaubt, sondern lediglich bestimmte professionelle Gewichtungen ermöglicht. Ferner muß dabei einschränkend betont werden, daß es sich eben nur um ein wenn auch wesentliches Segment des Bürgertums handelt und nicht um das Bürgertum insgesamt. Ferner muß analysiert werden, ob es ein zeitliches Profil der Berichte gab, ob also aufgrund bestimmter politischer, sozialer u. a. Entwicklungen oder auch aufgrund bestimmter Trends des Buchmarkts und bestimmter Erwartungshaltungen des Lesepublikums Konjunkturen und Flauten der Berichte zu beobachten sind. Neben diesen äußeren Faktoren sind auch formale Fragen zu berücksichtigen: Schlägt sich ζ. B. in den Berichten auch formal deutlich nieder, ob es sich um eine rein touristische oder eine in erster Linie berufliche Reise handelte? Dominiert der sachliche, oft als Studie über die USA verfaßte Bericht oder finden sich in gleichem Maße „subjektivere" Formen wie Tagebuch oder Briefsammlung? Schließlich interessiert in diesem Kontext eine Sozialgeschichte des Reisens, wobei u. a. Passagierzahlen, Kosten und Verkehrsmittel einer Reise nach und in Amerika vorgestellt werden und die Frage nach typischen Reiserouten und -zielen in den USA sowie nach dem Einfluß von Reiseliteratur auf diese Reisewege beantwortet wird. Dabei wird auch nach den grundsätzlichen Wahrnehmungsmustern und -formen des Reisens im industriellen Zeitalter, nach der „Industrialisierung von Raum und Zeit" 71 und ihren Folgen des Wahrnehmungsverlustes auch für die Reiseberichte gefragt, d. h. zum Beispiel: Welchen Stellenwert nahmen die eigenen Erfahrungen explizit im Bericht ein, wo überlagern sich Erfahrungen und Reiseführerwissen, wo werden die eigenen Erfahrungen vom „objektiven" Wissen der Literatur zurückgedrängt bzw. wo zeigt sich der Mangel eigener Wahrnehmung anhand des

70 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 297, der in diesem Zusammenhang aufschlußreich schreibt: „ . . . übergreifen die ideellen Interessen verschiedene sozialstrukturelle Erfahrungen. Dadurch gelingt auch eine Zusammenbindung unterschiedlicher sozialer Schichten zu einem Kulturbürgertum, dem stets auch Angehörige des Adels, des Kleinbürgertums und später der .Arbeiteraristokratie' angehören." 71 Vgl. W. Schivelbusch: Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1980.

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„Abschreibens" von gängiger Amerikaliteratur? Diese Fragen erweisen sich bei genauerem Hinsehen nicht nur als wichtig und relevant für eine Sozialgeschichte des Reisens und seiner literarischen Verarbeitung, sondern auch als aufschlußreich für die Frage nach den Erscheinungsformen und Wandlungen bürgerlicher Mentalität im 19. Jahrhundert, liefern sie doch in erheblichem Maße Anschauungsmaterial für das im Rahmen eines humanistischen Bildungskanons entwickelte emphatische Persönlichkeitsideal des Bürgertums, das sich nicht zuletzt auch im Interesse an der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und in der Tendenz, die eigene Befindlichkeit und Weltansicht schriftlich zu dokumentieren, niederschlug. Bedenkt man in diesem Zusammenhang, wie hoch gerade das Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert als Bildungsfaktor der Persönlichkeit bewertet wurde,72 so läßt sich fragen, ob dies rund hundert Jahre später immer noch galt oder welche mentalitätsgeschichtlich wichtigen Veränderungen hier festzustellen sind. Nach diesen Grundfragen zur Sozialgeschichte des Reisens erscheint es notwendig, vor der Analyse der eigentlichen Quellen zumindest skizzenhaft einen Abriß der wichtigsten Stereotypen und Topoi über Amerika in der deutschen (und europäischen) Literatur seit der frühen Neuzeit zu geben. Es ist oben schon angedeutet worden, welchen zentralen Stellenwert solche Topoi und Stereotypen in der Wahrnehmung des Fremden einnehmen, so daß die Analyse der Texte ohne den Hintergrund solcher „Klischees" nicht auskommt. Die „Mythen" Amerikas wie „Freiheit", „Fortschritt", „Land der Zukunft", „Eldorado" usw. prägten die Bilder oft in so starkem Maße, daß gerade in diesem Bereich eine Unterscheidung zwischen Stereotyp und Wahrnehmung notwendig wird. Nur vor dem Hintergrund dieser Mythen lassen sich Brechungen, Abwandlungen und Widerlegungen sinnvoll feststellen, und nur so sind auch die Dimensionen von Wahrnehmung jenseits der literarischen Überlieferung erfaßbar; dies kann allerdings nur kursorisch und unter Verweis auf eine reichhaltige Literatur geschehen. Damit sind die Voraussetzungen für die Quellenanalyse des Hauptteils geschaffen, deren Methodik es ermöglichen soll, die Amerika-Debatte als Schlüssel für einen wichtigen Teil mentaler wie ideologischer Fremd- und Selbstwahrnehmung der deutschen Beobachter zu benutzen. Dabei stehen explizit gesellschaftliche Hauptthemen im Vordergrund; politische Strukturen und Ereignisse, reine Wirtschaftsfragen und kulturelle Institutionen wie Theater o.ä. werden, sofern sie keinen unmittelbaren Gesellschaftsbezug erkennen lassen, ausgeklammert bleiben, was sich auch dadurch rechtfertigen läßt, daß zu diesen Gebieten bereits Studien vorliegen und es hier in erster Linie um den Zusammenhang von Gesellschaft und Mentalitäten gehen soll, auch wenn rein politische oder ökonomische Themen durchaus auch für die Erkundung mentaler Strukturen aufschlußreich sein mögen. 73 Ferner geht es primär

72 Vgl. u. a. Kaschuba, Erkundung, S. 29ff und G. Sautermeister: Reisen über die Epochenschwelle. Von der Spätaufklärung zum Biedermeier. In: W. Griep/H. W. Jäger (Hg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986, S. 272ff und zu den verschiedenen literarischen Verarbeitungsformen S. 278-293. 73 Siehe dazu M. Buchwald: Das Kulturbild Amerikas im Spiegel deutscher Zeitungen und Zeitschriften 1919-1932. Diss. Kiel 1964. G. Deicke: Das Amerikabild in der deutschen öffentlichen Meinung von 1898 bis 1914. Diss. Hamburg 1956. H. Lange: Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in der Sicht der deutschen Reisenden (1865-1900). Diss. Göttingen 1967. R. Pommerin: Der Kaiser und Amerika. Die USA in der Politik der Reichsleitung 1890-1917. Köln, Wien 1986.

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um solche Themen, die einen unmittelbaren Vergleich mit Deutschland oder ganz Europa ermöglichen bzw. die schon in den Quellen unmittelbare Gesellschaftsvergleiche zwischen Europa und den USA aufweisen. Dadurch kann ζ. B. auf die ansonsten für die amerikanische Geschichte so bedeutsame Rassenfrage kaum oder nur am Rande eingegangen werden, da hier ein unmittelbarer Vergleich mit Europa kaum möglich ist.74 Programmatisch gilt es dabei zunächst den Amerika-Diskurs zu beschreiben: Beobachtungs- und Argumentationsmuster, unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven, klassische Stereotypen und differenzierende Abweichungen werden vorgestellt, um die Debatte mit Leben zu füllen. Zu dieser Programmatik gehört, daß die Stimmen zunächst in ihrer Einseitigkeit wie Varianz nicht en detail interpretiert, sondern in ihrer Repräsentativität für typische wie abweichende Beobachtungen und Bewertungen vorgestellt werden, da es im hier gewählten Kontext weniger um die rein individuelle Beobachtung oder Bewertung als um die Analyse kollektiver Deutungsmuster und der über die öffentliche Debatte hergestellten Strukturen von Sinnstiftung geht. Im jeweils folgenden Analyseteil werden dann zunächst zur Einordnung der Ergebnisse und zur „Dechiffrierung" zugrundeliegender Mentalitäten diachrone wie synchrone Vergleichsmuster herangezogen;75 soweit über die bisher bestehende Forschung möglich, wird daher untersucht, in welchem Maße das Amerika- und Europabild der Wilhelminer in einer Tradition des 19. Jahrhunderts stand bzw. inwieweit es auf Sichtweisen und Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts vorausdeutet. Wichtiger noch erscheint jedoch der synchrone Vergleich, d. h. die Korrelation der deutschen Sicht mit den Bildern, Wahrnehmungen und Bewertungen anderer Europäer, vornehmlich der Franzosen, aber auch - soweit über die Literatur erschließbar - der Briten und Italiener.76 Gerade diese Vergleichsebene ermöglicht es, deutsche Besonderheiten genauer zu unterscheiden und zugleich deutsche Bewertungen im Sinne eines „Sonderwegs" nicht zu überschätzen, was auch deshalb besonders aufschlußreich ist, als sich die bürgerlichen Gruppen in den europäischen Ländern ja, wie wir oben bereits angedeutet haben, strukturell deutlich voneinander unterschieden. Andererseits sind gerade im Hinblick auf Bürgerlichkeit bzw. bürgerliche Kultur in beiden Ländern interessante und wichtige Übereinstimmungen festgestellt worden, die es im Rahmen der Debatte über gesellschaftliche Modernisierung am Beispiel der USA zu überprüfen gilt, zumal die Analyse der Sozialprofile der reisenden Franzosen (sowie Briten und Italiener) zu ähnlichen Ergebnissen gelangt ist und damit die Vergleichbarkeit bürgerlicher Mentalität garantiert. So aufschlußreich diachrone und synchrone Vergleichsmuster sind, sie verbleiben dennoch auf der reinen Wahrnehmungsebene. Gerade um mentale Dispositionen aufspüren zu

74 Vgl. dazu Brenner, Reisen, S. 357-374. 75 Auf die Wichtigkeit dieser beiden Analyseverfahren vor allem zur ansonsten nur schwer feststellbaren Diagnose von mentalem Wandel hat Dinzelbacher, Zur Theorie, S. XXVff, aufmerksam gemacht. 76 Vgl. J. Portes: Une fascination réticente. Les Etats-Unis dans l'opinion française 1870-1914. Nancy 1990; Fournier-Galloux, Voyageurs, passim. R. Rapson: Britons View America. Travel Commentary, 1860-1935. Seattle u. London 1971 und Reiske, Die USA, passim sowie M. Beynet: L'image de l'Amérique dans la culture italienne de Γ entre-deux-guerres. Thèse de doctorat Aix-Marseille 1 1990 und A. Torielli: Italian Opinion on America as Revealed by Italian Travellers. Cambridge, Mass. 1941.

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können, muß in einem letzten Schritt ein Vergleich mit sozialhistorischen Forschungsergebnissen erfolgen, um mögliche Gründe für die Wahrnehmungs- und damit auch Mentalitätsmuster der Reisenden im Hinblick auf spezifisch bürgerliche bzw. spezifisch deutsche oder europäische Kennzeichen und Charakteristika zu gewinnen, aber auch um Stereotypen, Abweichungen, Vorprägungen analysieren und Fragen nach mentalem Wandel dabei beantworten zu können. Zugleich wird nur vor diesem Hintergrund sichtbar, welche Bereiche bezeichnenderweise ausgeblendet blieben bzw. „verdrängt" wurden und wie reflektiert diese Sichtweisen gerade auch im Hinblick auf eine europäische Dimension waren, d. h. in welchem Maß und bei welchen Themenkomplexen ein Bewußtsein für europäische Besonderheiten vorlag. Dieser Anspruch macht allerdings auch einen Rekurs auf die amerikanische Realität zumindest in Grundzügen nötig, um sich vor Fehleinschätzungen zu hüten. Dabei kann nur auf Überblicksdarstellungen oder explizit vergleichende Studien zurückgegriffen werden, da die Spezialliteratur zu den einzelnen Themen im Rahmen dieser Arbeit weder zu überblicken noch sinnvoll einzubeziehen ist.77 c) Die Quellen und ihre Autoren: „In den letzten 25 fetten Jahren vor dem Kriege machte eine ästhetisierende Schriftstellerei sich breit, die auch auf die Reisebeschreibung übergriff. Freude an der impressionistischen Bewegung nahm die Stelle von wirklichem Wissen und Erkennen ein. Persönliche Eitelkeit der an die augenblickliche Gegenwart verkauften Autoren trat an die Stelle der Ehrfurcht vor den Menschen und Dingen und versperrte so den Weg zu ihnen. Um ein paar geistreiche Aphorismen, einige gute Einfalle wurde ein ganzes Buch gruppiert. Auch die Schriftsteller wußten nicht, was sie liebten und haßten, was Kleinigkeiten und was Lebensbedingungen sind." 78

Mit dieser harschen Kritik aus einem unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs erschienenen Amerikabuch wird eine Tendenz kritischer Bewertung von Reiseliteratur umrissen, die bis in die gegenwärtige Forschung hinein gerade für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterwirkt. Galt die frühe Neuzeit und besonders das 18. Jahrhundert noch als Hochblüte des Reiseberichts, so schien im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Niedergang eingesetzt zu haben, der besonders an dessen Ende in rein impressionistischen Subjektivismus und damit in die Aufgabe jeglichen objektiven und aufklärerischen Wahrheitsanspruches eingemündet sei79 - ein Umstand, der auch anhand der Forschungsliteratur sichtbar wird, deren Schwerpunkt für Reiseliteratur eindeutig auf der frühen Neuzeit und dem 18. und beginnenden

77 Hierbei besteht allerdings das Problem, daß in der Sozialgeschichtsforschung der europäisch-amerikanische Vergleich insgesamt verhältnismäßig vernachlässigt worden ist. Vgl. dazu Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte, S. 179f. 78 Annalise Schmidt: Der amerikanische Mensch. Berlin 1920, S. 94. 79 Vgl. P. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989, S. 36-39. Vgl. für Frankreich auch F. Wolfzettel: Fabrik und Schwan: Zum Verhältnis zwischen Tourismus und Industrie im französischen Reisebericht der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 8, 1984, S. 591-614, bes. 591ff, der die 1830er und 1840er Jahre als Höhe- und gleichzeitig Wendepunkt der Gattung angibt.

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19. Jahrhundert liegt, wogegen zumal das späte 19. Jahrhundert weitgehend vernachlässigt worden ist.80 Es stellt sich im Kontext der hier zugrundegelegten Quellen die Frage, ob die Kritik einer wachsenden Belanglosigkeit des Reiseberichts durch seine Konzentration auf subjektivistischen Impressionismus im späten 19. Jahrhundert gerechtfertigt ist.81 Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, die enorme Expansion des Buchmarktes im 19. Jahrhundert wie auch den wachsenden Verlust traditionell bestimmter einheitlicher Weltbilder zugunsten einer Pluralisierung der Deutungsmuster von Wirklichkeit im Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung in den Blick zu nehmen. Der Aufstieg des Reiseberichts als genuiner authentischer Informationsquelle von (fremder) Wirklichkeit war in der frühen Neuzeit wesentlich durch eine Universalisierung des Weltbildes bedingt worden, die dichotomisch einerseits das Fremde zunehmend als Fremdes in den Blick nahm und zugleich in immer stärkerem Maße Menschheit und Welt als Einheit dachte. Die Zeit zwischen dem letzten Drittel des 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich als die „große Zeit" der enzyklopädischen Reisebeschreibungen und Landeskunden charakterisieren, die bei aller Heterogenität der Verfasser und Stile doch durch spezifisch gemeinsame Gattungskonventionen und umfassenden Anspruch auf Authentizität - verbürgt durch den unmittelbaren Kontakt mit dem fremden Land und durch die profunde Bildung ihrer Verfasser - gekennzeichnet werden können. Darstellungsweisen wie auch Deutungsmuster folgten bestimmten Konventionen, die dem Lesepublikum bekannt waren, wobei die Fülle der Themen gerade bei Berichten aus fernen Ländern ins Auge springt: „Klima, Bodenbeschaffenheit und Bodenschätze, Grad der Fruchtbarkeit und Zustand der Landwirtschaft; anthropologische Eigenschaften und ethnische Differenzierung der Bevölkerung; Regierung einschließlich Justiz, Finanzen und Militär; Religion; Nationalcharakter; Kleidung und Wohnung; Sitten und Bräuche, vor allem Hofzeremoniell, Hochzeits- und Trauerrituale; Blüte der Künste und Wissenschaften .. ,".82 Diese inhaltliche und gattungspoetische Kohärenz begann aber bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Aufklärung ihre Wirkungsmacht einzubüßen. Der universelle Wahrnehmungs- und Erkenntnisanspruch der Reisedarstellungen geriet angesichts aufklärerischer Erkenntniskritik zunehmend unter Legitimationsdruck. Damit setzte ein Prozeß der Pluralisierung der Gattung ein. Auch wenn der universelle Anspruch zunächst nicht aufgegeben wurde, so war es doch offenkundig, daß er fortan nur noch „künstlich" über den Versuch einer wissenschaftlichen Methodisierung und Quantifizierung zu erreichen sein würde. Angesichts der aufklärerischen Erkenntniskritik und der romantischen Gegenreaktion wurde dann aber ein enzyklopädischer Anspruch auf Wirklichkeitswiedergabe der fremden Kultur

80 Den umfangreichsten Überblick zur Reiseliteratur vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart gibt P. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990 (2.Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur). 81 Vgl. zur Krise des literarischen Reiseberichts in Deutschland nach 1880 S. Bogosavljevic: German Literary Travelogues Around the Turn of the Century 1890-1914. Diss. Urbana 1983, S. 52-75. 82 J. Osterhammel: Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert. In: H. J. König u. a. (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung. Berlin 1989, S. 25. Vgl. allgemein ebda., S. 9 - 4 2 und hier besonders 22-25.

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zunehmend aufgegeben zugunsten einer stärker individualistischen und zugleich ästhetisierenden Haltung - eine Tendenz, die auf den wachsenden Funktionsverlust des Reisens und der Reiseliteratur als eines besonderen Mediums von Wahrnehmung und Erfahrung im Laufe des 19. Jahrhunderts verweist. Andere Darstellungsformen und Medien wurden in diesem Zusammenhang immer wichtiger, das Reisen verlor zunehmend den Status einer privilegierten Erkenntnisform und „verkam" immer mehr zum bloßen „Tourismus". 83 Auf die konkreten Reisebedingungen als Hintergrund dieser Berichte wird im zweiten Kapitel noch näher eingegangen. Worauf es hier vor allem ankommt, ist die Feststellung einer inhaltlichen wie formalen Auffächerung der Reiseliteratur im 19. Jahrhundert. Analog zur Pluralisierung der Weltbilder kann also nicht mehr von dem Reisebericht gesprochen werden; denn neben dem literarischen Reisebericht als Dokument persönlicher ästhetischer Bildung und Erfahrung blieb weiterhin die landeskundliche Studie erhalten und erlebte sogar eine neue Blüte, wobei hier die Schilderung des Reiseverlaufs entweder nur den Rahmen abgab, ganz entfiel oder aber nur noch in Andeutungen oder persönlichen Anekdoten aufschien, so daß die persönlichen Erfahrungen des Autors weitgehend hinter der Intention objektiver Darstellung verschwanden. 84 Schließlich fällt ein dritter Typus von Reisebeschreibungen ins Auge, der mit der Expansion der Reisemöglichkeiten und der Entstehung der rein touristischen („Vergnügungs-" bzw. Urlaubs-)Reise im 19. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung gewann und etwa als „touristischer Reisebericht" gekennzeichnet werden könnte. Hier mischen sich subjektive und objektive Intentionen; der Bericht folgte vorwiegend dem Reiseverlauf und verband subjektive Impressionen mit generalisierenden und quantifizierenden Angaben, die in den meisten Fällen den analog zur Entwicklung des Tourismus sprunghaft expandierenden Reiseführern entnommen wurden; vielfach scheinen diese Berichte daher geradezu in der Manier der klassischen Baedeker-Führer geschrieben, was als Indiz für die wachsende Vereinheitlichung des Reisens entlang vorgegebener Routen spezifischer „Sehenswürdigkeiten" und der damit einhergehenden Prägung der Wahrnehmung durch normative Vorgaben gedeutet werden kann, wovon im folgenden Abschnitt noch eingehender die Rede sein wird. Festzuhalten bleibt angesichts der skizzierten Typologie der Reiseberichte im 19. Jahrhundert, daß es sich dabei um Idealtypen handelt, die in der historischen Wirklichkeit zumeist eher als Mischformen auftraten. 85 Dennoch ist eine solche Typologie wichtig, um die

83 Vgl. zu diesem Komplex Brenner, Erfahrung der Fremde, S. 16-39 und Ott, Amerika ist anders, S. 58-64. Vgl. zum Verhältnis von Reisen und Wissenschaft und der Rolle des Reisens für die Universalisierung des Weltbildes in der frühen Neuzeit auch J. Gebhardt: Reisen und Erkenntnis. Ursprünge und Folgen des .wissenschaftlichen' Reisens im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 38, 1986, S. 97-113. 84 Vgl. ζ. B. für Frankreich F. Wolfzettel: Das entzauberte Deutschland. Französische Reiseberichte zwischen 1870 und 1914. In: H. T. Siepe (Hg.): Grenzgänge. Kulturelle Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich. Essen 1988, S. 64-82, hier bes. 74. 85 Beispielhaft sei hier der Amerikabericht des Kulturhistorikers Karl Lamprecht genannt, der schon im Titel Reiseskizzen, persönliche Wahrnehmungen und zuletzt generalisierende Schlüsse zu verbinden sucht und damit einerseits die Auffächerung der Gattung wie auch die zahlreichen Versuche der erneuten Synthese dokumentiert: Karl Lamprecht: Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, Geschichtliche

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Quellen genauer bestimmen und die oben angedeutete Quellenkritik besser einordnen zu können. Wie stark die Mischformen gerade in der deutschen Amerika-Literatur vor dem Ersten Weltkrieg dominieren, wird schon daran sichtbar, daß im Grunde kein Reisebericht eines Schriftstellers der „Höhenkammliteratur" existiert, was interessanterweise auch für Frankreich gilt.86 Eine Analyse der literarisch „impressionistischen" Reiseberichte von Autoren wie Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Herrmann Bahr oder Alfred Kerr zeigt zumindest vor dem Ersten Weltkrieg die deutliche Vorliebe für exotische Gegenden in Asien oder an der europäischen Peripherie, während die USA dagegen weitgehend ausgeklammert bleiben, was auf die verbreitete Vorstellung von den USA als einem „poesielosen" und im Hinblick auf ästhetische Erfahrungen reizlosen Land hindeutet - wir werden dem anhand der Beschreibung deutscher USA-Stereotypen im folgenden noch begegnen.87 Bezeichnend ist ferner, daß damals viel gelesene, heute jedoch weitgehend vergessene Schriftsteller wie Arthur Holitscher, Ludwig Fulda, Wilhelm von Polenz oder Ernst von Wolzogen in ihren erfolgreichen und zum Teil mehrfach aufgelegten Amerikaberichten zur Abkehr von einer rein subjektiv-impressionistischen Sichtweise zugunsten des Versuchs einer integral angelegten Gesellschaftsstudie tendierten, so daß der Vorwurf bloß subjektiver Anekdotensammlung hier kaum zutreffend ist.88 Diese Feststellung korrespondiert mit der auffallenden Fülle „enzyklopädischer" Amerikastudien im untersuchten Zeitraum, die zwar oft auf eigenen Erfahrungen im Land basierten, diese dann aber häufig im skizzierten Sinne hinter dem Anspruch objektiver Schilderung von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur in den USA zurücktreten ließen; beispielhaft seien hier nur die wohl bekanntesten und vielfach aufgelegten Studien von Hugo Münsterberg und Ludwig Max Goldberger genannt,89 wobei gerade der Titel der Goldbergerschen Arbeit trotz der Konzentration auf Wirtschaftsfragen bis heute zum geläufigen Amerika-Stereotyp avancierte. Die Mehrzahl der deutschen Amerika-Reiseberichte entspricht jedoch der dritten skizzierten Kategorie des „touristischen" Reiseberichts - offenbar der entscheidende Grund für ihre völlige Nichtbeachtung in der historischen wie literaturwissenschaftlichen Forschung, obwohl sie, legt man einen erweiterten Literaturbegriff zugrunde, durchaus einbezogen werden müßte und hier gerade auch unter mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen wichtig

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Gesamtansicht. Freiburg/Br. 1906. Generell muß betont werden, daß der Reisebericht im 19. Jahrhundert keine eindeutige Gattung ist, sondern als „Pool" verschiedenster Inhalte, Formen und „Diskurse" gesehen werden muß. Vgl. dazu R. le Huenen: Qu'est qu'un récit de voyage? In: M. C. Gomez-Géraud (Hg.): Les modèles du récit de voyage. Paris 1990 (Littérales No.7), S. 13ff. Vgl. für Frankreich J. Portes, Une fascination, S. 21f. Siehe dazu Bogosavljevic, Travelogues, S. 75-211 sowie W. Reif: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts. In: Brenner (Hg.), Der Reisebericht, S. 434-462. Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse. Berlin 6 1913. Ludwig Fulda: Amerikanische Eindrücke. Stuttgart, Berlin 4 1914. Wilhelm v. Polenz: Das Land der Zukunft. Berlin 1903. Emst v. Wolzogen: Der Dichter in Dollarica. Blumen, Frucht und Dornenstücke aus dem Märchenlande der unbedingten Gegenwart. Berlin 1912. Hugo Münsterberg: Die Amerikaner. 2 Bde. Berlin 41912 (l.Aufl. 1904) und Ludwig Max Goldberger: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Beobachtungen über das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin, Leipzig 1903. 8.Aufl. 1911.

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und aufschlußreich erscheint. Unter dieser Kategorie sind die unterschiedlichsten Formen vereint: Brief, Tagebuch, Reportage, Essay, und verschiedenste Mischformen drücken sich in Titeln wie „Streiflichter", „Bilder", „Szenen", „Wanderungen", „Skizzen", „Land und Leute" aus und dokumentieren damit am ehesten das, was man den „impressionistischen" Reisebericht um 1900 genannt hat. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, wie oft sich auch hier die Formen mischten und daß der Rahmen der „touristischen" Reise keineswegs nur Urlaubsreisen, sondern vor allem auch eine Fülle von beruflichen Reisen 90 und besonders Vortragsreisen einzelner Reisender oder auch ganzer Gruppen gerade im Fall der USA einschließt, so daß sich hier viele Überschneidungen mit dem Typus der Landesstudie ergeben. Schließlich ließe sich in diesem Zusammenhang auch noch ein weiterer Typ deutscher Amerikareiseliteratur klassifizieren, der die Form des reinen Reiseberichts sprengt und mit dem Auswandererbericht verschmilzt, da er weniger auf einer touristisch-bürgerlichen Reise als vielmehr auf einem zwar zeitlich begrenzten, aber oftmals längeren Aufenthalt in den USA mit zum Teil harten Arbeitsanforderungen basierte; die Autoren dieser Berichte waren zwar häufig bürgerlicher Herkunft, hatten aber aus (zumeist verschwiegenen) Gründen nach Amerika auswandern müssen und legten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland oftmals „Rechtfertigungsberichte" vor, die aufgrund ihrer romanhaften Struktur persönlicher Erlebnisschilderung gerade in einem Land wie Deutschland mit sowohl hoher Auswanderungsbereitschaft wie auch einer viel gelesenen trivialen Romanliteratur über die USA und ihren „Wilden Westen" (als deren berühmtester Vertreter Karl May gelten kann) ein starkes Interesse fanden; diese Berichte gehörten im Kern aber nicht zum Typ des bürgerlichen Reiseberichts und sollen deshalb hier nur am Rande berücksichtigt werden, zumal breitere Reflexionen zur Gesellschaft hier in den meisten Fällen völlig hinter den persönlichen Erlebnissen zurücktraten; allerdings kann dieser Berichtstyp als ein wichtiges Indiz für das allgemein starke öffentliche Interesse an Amerika vor dem Ersten Weltkrieg angesehen werden.91 Festzuhalten bleibt, daß die Kategorie „impressionistischer Reisebericht" für die Zeit

90 Vgl. dazu auch Lange, Wirtschaft, S. XXIXff. Als Beispiel einer solchen beruflichen Studienfahrt sei u. a. genannt: Arthur Salomonsohn: Reise-Eindrücke aus Nordamerika. Bericht erstattet in der Sitzung des Aufsichtsrats der Diskonto-Gesellschaft am 29.April 1903. (Berlin 1903). Als Beispiel für eine Gruppenreise sei angeführt: Amerikanische Reiseskizzen. Berichte der Teilnehmer des Coaltar-Trip 1912. Zusammengestellt von Dr.Berthold Rassow. Leipzig 1913. Allerdings tauchten nach 1890 auch erstmals Titel auf, die die reine Urlaubsreise verrieten, so ζ. B.: Georg Schweitzer: Auf Urlaub in Amerika. Berlin 1894. Für die Verschmelzung von Reisebericht und Reiseführer vgl. beispielhaft Oswald Schroeder: Quer durch Amerika. Wanderungen in Kalifornien und Kanada. Leipzig 1906 - ein Bericht, der gerade durch sein persönlich gefärbten Titel kaum ein Reisehandbuch erwarten läßt. Vgl. dazu auch u. a. Johannes E. Rabe: Eine Erholungsfahrt nach Texas und Mexico. Hamburg, Leipzig 1893, S. 16, wo im Baedeker-Stil Routen, Kosten, Empfehlungen etc. aufgelistet werden, wobei der Bericht ansonsten vor allem rein persönliche Erlebnisse enthält. 91 Vgl. ζ. B. Hans v. Barnekow: Was ich in Amerika fand. Nach zwanzigjährigem Aufenthalt. Berlin 2 1911 oder (Dietrich v. Wernsdorff): Per aspera ad astra. Schicksale eines ehemaligen Offiziers in Amerika. 2 Bde. Berlin 1907 bzw. C. Keller: Als „Greenhorn" im Westen Nordamerikas. Hamburg 1893. Besonders erfolgreich war Erwin Rosen (eigentl. Erwin Carié): Der deutsche Lausbub in Amerika. 3 Bde. Stuttgart 1911-13, ein Werk, das 1922 bereits die 54. Auflage erreichte.

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der Jahrhundertwende zwar wichtige Tendenzen markiert, insgesamt aber inhaltlich wie formal zu unscharf ist und die angedeutete Differenzierung der Typen unterschlägt;92 zudem ist fraglich, ob diese Kennzeichnung lediglich für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg Gültigkeit hat oder ob nicht vielmehr der „impressionistische Reisebericht" durch die angesprochene Subjektivierung der Wahrnehmung und Darstellung zu einem repräsentativen Typus des modernen Reiseberichts bis in die Gegenwart geworden ist.93 Die Fülle der unterschiedlichen Formen bzw. Varianten der Gattung „Reisebericht" am Ende des 19. Jahrhunderts ist deutlich geworden: Es gab also allgemein typische Gattungsmuster mit unterschiedlichen Variationen, die gemeinsam hatten, daß sie besonderen „Beglaubigungsstrategien" (im Sinne einer vermeintlichen Authentizität des persönlich Gesehenen) und gemeinsamen Vergleichshorizonten sowie spezifischen Stilmustern folgten. 94 Insgesamt führte die Pluralisierung der Gattung jedoch dazu, daß über die geschilderten Typologien hinaus kaum noch feste Inhalts- und Formkonventionen prägend waren, was gerade für eine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung von Vorteil ist, weil Wahrnehmungen und Erfahrungen weniger hinter Gattungskonventionen verborgen wurden, sondern durch den Anspruch auf Authentizität gerade stärker zum Tragen kamen. Faßt man vor diesem Hintergrund Vor- und Nachteile der im weiteren Sinne verstandenen Quellengattung „Reisebericht" vor dem Ersten Weltkrieg zusammen, so ergibt sich etwa folgendes Bild. Zuerst zu den Nachteilen, die oben schon teilweise angedeutet worden sind: Die Reiseberichte folgten immer wieder Stereotypen, sie schrieben voneinander ab, die Autoren sahen die geschilderten Gesellschaften aus sehr begrenzten Blickwinkeln, und die Wirkung dieser Berichte auf die öffentliche Meinung ist nur begrenzt einschätzbar, zumal es sich nur um eine schmale Schicht von Verfassern handelte. Dagegen stehen jedoch die Vorteile, die im Hinblick auf die hier unternommene Fragestellung die Nachteile deutlich überwiegen: Zum einen ermöglicht die relativ hohe Anzahl und die Homogenität der Autoren ein weitgehend repräsentatives und damit vor allem sozialhistorisch valides Bild. Zudem hatte, wie gezeigt, die Pluralisierung der Gattung zu einer weitreichenden Unabhängigkeit der Gesellschaftsbeobachtungen von prägenden Konventionen geführt. Damit können die Berichte und Studien zumal in einer Zeit, in der sich die modernen Massenmedien erst entwickelten, trotz aller Einschränkungen als die Quellen zur öffentlich vermittelten Wahrnehmung fremder Gesellschaften gelten. Ein weiterer entscheidender Vorteil liegt zudem darin, daß sie trotz der oftmals eingeschränkten Reichweiten

92 So gelingt es Bogosavljevic in seiner Analyse literarischer Reiseberichte um 1900 beispielsweise nicht, Strömungen wie Symbolismus, Expressionismus, Neoromantizismus etc. klar begrifflich und inhaltlich zu differenzieren - Indiz für die Fülle von neuen Stilen und Mischformen um 1900, die eine eindeutige Kategorisierung kaum noch ermöglicht. Vgl. Bogosavljevic, Travelogues, S. 212-243 bzw. Brenner, Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 565ff. Zum Pluralismus verschiedenster Stile in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende vgl. auch V. Zmegac: Zum Begriff der Jahrhundertwende. In: Ders. (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981, S. IX-LI, bes. XVff. 93 Als ein jüngstes Beispiel für einen extrem subjektivistisch-impressionistischen USA-Bericht aus deutscher Feder unter anderen sei genannt: Hans-Christoph Buch: Der Herbst des großen Kommunikators. Amerikanisches Journal. Frankfurt/M. 1986. Vgl. dazu auch U. Ott, Amerika ist anders, S. 426-434. 94 Vgl. dazu für das 18. Jahrhundert Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 29-34.

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damit eben öffentlichkeitswirksam waren und angesichts teilweise hoher Auflagen einen wichtigen Beitrag zur Prägung kollektiver Einstellungen leisteten. Ein fünfter Vorteil der Quellen ist schließlich oben bereits angeklungen, nämlich der selbstgewählte Objektivitätsund Faktizitäts-Anspruch der Quellen, an dem sie sozialhistorisch meßbar sind. Unter der hier vorgenommenen mentalitätsgeschichtlichen Fragestellung und der Absicht, in erster Linie die öffentliche Amerikadebatte in Deutschland zu analysieren, ergeben sich folgende Auswahlkriterien für das zugrundegelegte Quellenkorpus: Da es hier primär um das wilhelminische Bürgertum gehen soll, wurden grundsätzlich nur USA-Berichte ausgewählt, die in Deutschland zwischen 1890 und 1914 geschrieben und veröffentlicht wurden, 95 wobei Ausnahmen wie der Druck als Manuskript oder auch eine verzögerte Drucklegung eines bis 1914 abgeschlossenen Manuskripts zugelassen wurden, um die Vorauswahl nicht zu eng zu gestalten. Wichtig war dabei jedoch, daß die Berichtszeit nicht vor 1880 lag, um die Vergleichbarkeit der historischen Hintergründe zu garantieren; Neuauflagen älterer Berichte etwa aus der ersten Jahrhunderthälfte wurden deshalb ausgeschlossen, allerdings Neuauflagen bekannter und erfolgreicher Berichte aufgenommen, soweit sie ab Anfang der 80er Jahre erstmals erschienen waren und damit Verhältnisse dokumentierten, die auch in den 90er Jahren noch als aktuell galten. In diesem Zusammenhang wurden auch einzelne berühmte und im Untersuchungszeitraum ins Deutsche übersetzte Reiseberichte anderer europäischer Autoren aufgenommen, so beispielsweise der einflußreiche und viel rezipierte Bericht von Herbert George Wells „Die Zukunft in Amerika" (1906 bzw. 1911), der in der deutschen Debatte ein breites Echo fand und damit einen Teil der deutschen Diskussion bildete 96 oder die berühmte Amerikastudie von James Bryce „The American Commonwealth" von 1888, die ausdrücklich im USA-Baedeker von 1904 zur vorbereitenden Lektüre empfohlen wurde und von den englischsprechenden Reisenden mit einiger Sicherheit zumindest teilweise rezipiert worden sein dürfte. 97 Ein weiteres Auswahlkriterium besteht darin, daß nur umfassende Schilderungen, die verschiedene Aspekte der amerikanischen Gesellschaft beleuchten, Berücksichtigung fanden, um die Breite des Amerikabildes zu gewährleisten; damit wurden einzelne Artikel in Zeitschriften ausgeschlossen (auch um die Homogenität des Quellenmaterials sicherzustellen), gleichzeitig jedoch zu Studien zusammengefaßte Artikelserien, wie sie oftmals von Journalisten publiziert wurden, aufgenommen. Zugleich wurden jedoch nur Berichte analysiert, die

95 Angesichts neuester mentalitätsgeschichtlicher Studien, die sich auf unveröffentlichte Quellen stützen, sei hier besonders der Aspekt der Veröffentlichung betont, da die Analyse der öffentlichen Amerikadebatte im Vordergrund stehen soll. Als Beispiel für den mikrohistorischen, regional begrenzten Ansatz auf der Basis unveröffentlichter Quellen auch in der Reiseliteraturforschung sei genannt: J. Studberg: Globetrotter aus dem Wuppertal. Eine Untersuchung großbürgerlicher Mentalität anhand autobiographischer Aufzeichnungen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs. Pfaffenweiler 1991. 96 Herbert George Wells: The Future in America. A Search after Realities. London 1906. Dt. Fassung: Die Zukunft in Amerika. Stockholm 1911. Vgl. zur (überaus positiven) Rezeption vor allem Johann Plenge: Die Zukunft in Amerika. Berlin 1912. 97 Vgl. James Bryce: The American Commonwealth. London 1888 bzw. 1910 und 1914. Dt.Fassung: Amerika als Staat und Gesellschaft. 2 Bde. Leipzig 1924. Vgl. auch Karl Baedeker: Nordamerika. Die Vereinigten Staaten nebst einem Ausflug nach Mexiko. Handbuch für Reisende. Leipzig 1904, S. LXII1.

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sich im Titel explizit und schwerpunktmäßig mit den USA auseinandersetzten - Berichte, die Amerika nur im Rahmen etwa einer Weltreise streifen, blieben daher bis auf wenige Ausnahmen ausgeklammert.98 Schließlich bildet, wie oben schon angedeutet, die eigene Amerikaerfahrung des Autors ein wesentliches Kriterium für die Auswahl des Berichts; dabei muß jedoch ausdrücklich betont werden, daß nur Berichte temporärer Aufenthalte analysiert werden und der gesamte Bereich der Auswandererliteratur bis auf die angesprochenen Sonderformen ausgeklammert bleiben muß, da sich hier nach Herkunft der Autoren, Art der Berichte und im Hinblick auf die angesprochenen Zielgruppen ein ganz neues und von den Reiseberichten abweichendes Forschungsfeld auftut, das im übrigen in den letzten Jahren recht ausführlich untersucht worden ist." Wie verteilte sich nun die deutsche Amerikaliteratur im Zeitrahmen von 1890 bis 1914? Gab es Konjunkturen oder eine gleichmäßige Verteilung der Neuerscheinungen über den gesamten Zeitraum? 100 Von den rund hundert erfaßten Berichten im Untersuchungszeitraum erschien die Mehrzahl in einer ersten Konjunktur zwischen 1891 und 1895, wobei 1893 und 1894 als Spitzenjahre rund dreizehn Neuerscheinungen oder -auflagen erlebten. Nach 1895 ist ein eindeutiges Abflauen bis zur Jahrhundertwende festzustellen: So erschien ζ. B. 1899 überhaupt kein Amerikabericht in Deutschland. Eine erneute Konjunktur fällt dann in die Zeit von 1902 bis 1906 mit den Spitzenjahren 1904 bis 1906, in denen jeweils rund zehn neue Amerikabücher auf den deutschen Markt kamen. Nach 1907 ist ein erneutes Nachlassen zu bemerken (allerdings mit rund fünf Titeln pro Jahr auf einem höheren Niveau als vor 1900), gefolgt von einer neuen Publikationswelle kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit erneut rund zehn Titeln für die Jahre 1911 bis 1913. Es lassen sich also eindeutig Konjunktur- und Flautenphasen des Buchmarktes im Hinblick auf die Publikation von Amerikaberichten mit rund zehnjährigem Wellenverlauf feststellen: Die Spitzen lagen 1893/94, 1904/06 und erneut 1911/13, die Hauten vor bzw. um 1890, um 1900 und erneut um 1909/10, was auch für Neuauflagen galt. Allerdings nahm insgesamt langfristig die Buchproduktion deutlich zu: So wurden von den hier erfaßten rund 125 Berichten zwischen 1890 und 1900 rund 40 Berichte publiziert, zwischen 1900 und 1910 schon rund 55 und in den folgenden vier Jahren bis zum Ersten Weltkrieg allein noch einmal ca. 30. Diese Entwicklung korrespondiert dabei eindeutig mit der

98 Eine Ausnahme betrifft den Bericht von Fritz Kummer: Eines Arbeiters Weltreise. Stuttgart 1913. ND Leipzig, Weimar 1986, da mit diesem Bericht einer der ganz wenigen Arbeiter-Berichte aus dem Kaiserreich vorliegt und damit in einigen Bereichen die Korrelation mit dem dominanten bürgerlichen Blick möglich wird, zumal die USA und ihre Gesellschaft einen zentralen Stellenwert in diesem Werk einnehmen. 99 Beispielhaft seien aus der Fülle der Literatur die Arbeiten von W. J. Heibich angeführt: W. J. Heibich: „Alle Menschen sind dort gleich ...". Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988 und Ders. u. a. (Hg.): Briefe aus Amerika. Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830-1930. München 1988. 100 Mit Amerikaliteratur sind die Reiseberichte und Studien im hier definierten Sinne gemeint; Literatur zu speziellen Themen, die weitaus umfangreicher ist, wird dabei ausgeschlossen. Zugrundegelegt wurden die hier benutzten Auflagen, soweit die Erstauflage nicht zu ermitteln war.

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allgemein starken quantitativen wie qualitativen Expansion des deutschen Buchmarkts, der erstmals durch industriell produzierte massenhafte Auflagen fast alle sozialen Schichten erreichte und mit einem umfassenden und differenzierten Angebot die unterschiedlichsten Lektürebedürfnisse abdeckte. Statistisch gesehen erreichte das Produktionsvolumen 1889 knapp 18.000 Titel, 1900 rund 25.000 Titel und 1913 bereits knapp 35.000 Neuerscheinungen, womit Deutschland den Spitzenplatz in der Weltbuchproduktion einnahm. 101 Angesichts dieser Zahlen nehmen sich natürlich die USA-Reiseberichte gering aus; berücksichtigt man jedoch die Anteile der einzelnen Sachgebiete, so relativiert sich das Verhältnis. Reiseberichte bildeten naturgemäß keine eigene Kategorie; sie verteilten sich als Studien auf die angewandten und politischen Wissenschaften bzw. als „literarische Berichte" auf die schöne Literatur. Dabei ergibt sich für die angewandten Wissenschaften zwischen 1890 und 1908 ein Anteil von 10-12% (hinter den führenden Jugendschriften und Naturwissenschaften), für die Rechts- und politischen Wissenschaften von 8-9,5 % und für Belletristik von 9 - 1 4 % , deren Expansion zugleich am auffälligsten ist, wobei das Ansteigen der Popularität von Reiseberichten gerade für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert worden ist. 102 Auch angesichts dieser Zahlen gilt es natürlich den Einfluß der Reiseberichte zu relativieren; andererseits wird das spezifische Amerika-Interesse bei Verlegern wie Lesern in Deutschland augenfällig, wenn man berücksichtigt, wieviel geringer das Interesse im Kaiserreich für Gesellschaft und Kultur vergleichbarer industrialisierter europäischer Länder wie etwa Frankreich war. 103 Dies galt jedoch offenbar wiederum nicht für Deutschland allein; so notierte der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton in seinem 1922 erschienen Amerikabericht bezeichnenderweise und fast entschuldigend: „Von jedem, der selbst nur für kurze Zeit nach Amerika geht, wird erwartet, daß er darüber ein Buch verfaßt - und natürlich tut dies auch fast jeder. Jemand, der dagegen seine Ferien in Trouville oder Dieppe verbringt, wird danach kaum mit der Frage konfrontiert werden: ,Wann wird Ihr neues Buch über Frankreich herauskommen?' Jemand, der sich zum Wintersport in die Schweiz begibt, wird nicht sofort durch die Bemerkung festgenagelt: ,Ich nehme an, Ihr Buch über die helvetische Republik wird dieses Frühjahr noch erscheinen?'" 104

Dieses breite Interesse in Deutschland speziell an den USA dokumentiert sich auch darin, daß keinesfalls nur einige wenige Verlage die Amerikaliteratur monopolartig dominierten, sondern die Streuung vom Kleinstverlag (bzw. Selbstverlag) bis hin zum bekannten Großverlag verlief, wenn auch die Masse der Literatur in einer Art Mittelfeld erschien - Indiz jedoch

101 Zugleich expandierten die Zeitschriften in starkem Umfang und auch die Orte mit mindestens einer Buchhandlung wuchsen zwischen 1875 und 1913 auf über das Doppelte. Vgl. dazu insgesamt R. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991, S. 271f bzw. insgesamt zum Buchmarkt um die Jahrhundertwende S. 271-300 sowie G. Jäger: Medien. In: C. Berg (Hg.), Handbuch, S. 473^176. 102 Ebda, S. 271f. Vgl. zur Popularität von Reiseberichten auch H. Hiller: Zur Sozialgeschichte von Buch und Buchhandel. Bonn 1966, S. 128. 103 Vgl. dazu Kaelble, Die vergessene Gesellschaft, S. 181-196. 104 Gilbert Keith Chesterton: What I Saw in America. London 1922. ND New York 1968, S. 295. Übersetzung vom Verfasser . Dies gilt auch für alle weiteren Übersetzungen, sofern nicht zeitgenössische Übersetzungen herangezogen wurden.

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dafür, daß offenbar auch auf knappe Kalkulation angewiesene mittlere und kleinere Verlage in der Auflage von Amerikaberichten, die zur Steigerung der Attraktivität vor allem ab 1900 gelegentlich auch mit Photographien ausgestattet wurden, ein Geschäft vermuteten und wohl auch Gewinne erzielten, wenn auch die Auflagen bis auf die wenigen bekannten Berichte naturgemäß relativ klein waren und selten über einige hundert oder tausend Stück hinaus kamen. Das breite Amerikainteresse entsprang dabei natürlich auch wesentlich der Tatsache, daß Deutschland zumindest bis in die 1890er Jahre mit die europaweit höchsten Raten von Auswanderern in die USA aufzuweisen hatte.105 Die Debatte über Vor- und Nachteile der Auswanderung für die Beteiligten wie für Deutschland prägte daher auch die bürgerliche Amerika-Debatte in starkem Maß und war nicht selten Motor des deutschen Amerikainteresses, worauf zurückzukommen ist. Als spezifischer Grund für die Konjunkturen der deutschen Amerikaliteratur sticht jedoch eindeutig der Faktor der Weltausstellungen in den USA ins Auge. So lassen sich für 1893 als Jahr der großen Chicagoer Weltausstellung sowie für 1904 - das Jahr der Weltausstellung von St. Louis - die Spitzenwerte der deutschen Buchproduktion zu Amerikathemen registrieren. Tatsächlich sind die meisten der um 1893 und 1904 publizierten Berichte unmittelbar aus Reisen zu den Weltausstellungen entstanden und widmen zumeist längere Passagen der Ausstellungsbeschreibung und -bewertung, zumal wenn es sich um professionelle Aufenthalte handelte. 106 Wie stark der Faktor der Weltausstellungen auf die Publikation von Amerikaberichten wirkte, wird auch im internationalen Vergleich deutlich, denn es lassen sich für Frankreich (dessen Auswanderungsraten im Vergleich zu Deutschland minimal waren) ähnliche Konjunkturen der Buchproduktion zu den USA um 1893 und 1904 und entsprechende Flauten um 1900 und 1910 registrieren.107 Damit ist der Rahmen der Quellengrundlage und ihrer sozialen Hintergründe umrissen. Wie steht es nun um das Sozialprofil der Autoren? Angesichts der relativ geringen Zahl an Autoren kann hier kein statistisch relevantes Sample aufgestellt, sondern nur eine ungefähre prozentuale Verteilung angegeben werden. Wie oben schon angedeutet, ergibt sich bei den rund hundert Autoren, die Amerikaberichte im oben skizzierten Sinne verfaßten, ein sehr homogenes (bildungs-)bürgerliches Sozialprofil, wobei hier in erster Linie sinnvollerweise von den Berufen und nicht von der sozialen Herkunft ausgegangen wird; daher lassen sich

105 So wanderten zwischen 1841 und 1910 rund fünf Millionen Deutsche nach USA aus, wobei die Jahre 1853-55 und um 1880 vor dem Hintergrund ökonomischer Krisen in Deutschland die höchsten Raten aufweisen, wogegen nach 1890 die Auswanderung bis zum Ersten Weltkrieg deutlich zurückging. Vgl. dazu Brenner, Reisen in die Neue Welt, S. 48f. 106 Als Beispiel sei der Amerikabericht eines deutschen Bauunternehmers angeführt, der 1904 in St. Louis wesentlich an der Errichtung des deutschen Pavillons beteiligt war: H. Knauer: Deutschland am Mississippi. Neue Eindrücke und Erlebnisse. Berlin 1904. 107 Vgl. dazu Portes, Une fascination, S. 387f. Vgl. allgemein auch J. A. Jakle: The Tourist. Travel in 20th Century North America. Lincoln, London 1985, S. 252ff. Zu Attraktivität und Rezeption der Weltausstellungen als den „Idealbildern" moderner Zivilisation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. auch A. Trachtenberg: The Incorporation of America. Culture and Society in the Gilded Age. New York 1982, S. 203-233 und H. Gold: Wege zur Weltausstellung. In: H. Bausinger u. a. (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991, S. 320-325.

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einige ζ. T. wichtige Autoren adliger Herkunft aufgrund ihrer akademischen oder literarischen Berufslage als Randgruppe des Bildungsbürgertunis einordnen, was auch durch die inhaltliche Analyse der Berichte im Hinblick auf Werthaltungen und typisch bürgerliche Urteilsmuster bestätigt wird. 108 Rund zwei Drittel der Autoren verfaßten Reiseberichte im engeren Sinne, rund ein Drittel übernahm eigene Erfahrungen in Berichte, die ansonsten eher den Charakter unpersönlicher Studien zur Gesellschaft, Politik, Wirtschaft oder Kultur der USA trugen. Die Berufe der Autoren ließen sich bis auf rund 10 % bei den Reiseberichten und rund 5 % bei den Studien rekonstruieren; auffallend ist bei den Reiseberichten die eindeutige Dominanz von Autoren, die als Journalisten und Schriftsteller bzw. zunehmend spezifisch als Reiseschriftsteller professionell schrieben; sie machen mit über 25 von insgesamt rund 80 Autoren ungefähr ein Drittel der Gesamtzahl aus. Gefolgt werden sie von Gruppen des Bildungsbürgertums wie den freien Berufen (Ärzten, Juristen und Ingenieuren) mit rund 10% und den Beamten mit rund 15%, aufgeteilt in Akademiker bzw. Hochschullehrer mit 10% (vorwiegend Geistesund Sozialwissenschaftler bzw. Geographen und Ökonomen) und Verwaltungsbeamte vorwiegend aus dem höheren Dienst mit rund 5 %. Zu dieser Gruppe lassen sich schließlich noch Geistliche (zumeist evangelische Pfarrer) ebenfalls mit rund 5 % hinzuzählen. Demgegenüber erscheint das Wirtschaftsbürgertum schwächer vertreten, wenn auch die Unternehmer mit insgesamt ebenfalls rund 10 % hier herausragen, gefolgt von Berufen aus Handel und Gewerbe mit rund 4 %. Als nicht unmittelbar bürgerliche Gruppe profilieren sich zudem die (teilweise ehemaligen) Offiziere mit rund 6 %. Die restlichen Anteile entfallen auf Politiker bzw. Diplomaten, Lehrer oder Landwirte mit rund 13 %. Auffallend ist das fast völlige Fehlen von Frauen 109 bzw. des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft, was auch für die Studien über die USA gilt - die Gründe dafür werden im folgenden Kapitel zur Sozialgeschichte des Reisens deutlich werden. Bei den rund 25 Amerikastudien ergeben sich erwartungsgemäß Verschiebungen zugunsten der Akademiker, wobei vor allem Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, Geographen und Geisteswissenschaftler dominieren. Alle anderen Gruppen spielen bis auf die Journalisten und Schriftsteller hier nur eine untergeordnete Rolle und belaufen sich auf jeweils 1 - 2 %. Dieses Sozialprofil erweist sich zwar als spezifisch bürgerlich, jedoch nicht als spezifisch deutsch. Gerade der Vergleich mit Frankreich und Großbritannien zeigt für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wie auch für die Zwischenkriegszeit ganz ähnliche Ergebnisse, also die Dominanz (bildungs-)bürgerlicher und intellektueller Berufe, wobei auch für Frankreich

108 Vgl. zum „Stand" des Bildungsbürgertums im Hinblick auf Beruf, Herkunft, soziale Stellung, soziales Prestige, Konfession und Randgruppen K. Vondung: Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit. In: Ders. (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976, S. 20-33, hier bes. S. 26ff und J. Kocka: Bildungsbürgertum. Gesellschaftliche Formation oder Historikerkonstrukt? In: Ders. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4, S. 9-20, hier bes. 9ff. 109 So existiert nur ein Bericht einer Unternehmersgattin auf Hochzeitsreise und eine Feuilleton-Sammlung einer Trivialautorin: Vgl. Aennie Norda: Augenblicksbilder von „drüben". Reiseeindrücke aus den United States. Berlin 1908 und Charlotte Niese (Pseud. Lucian Bürger): Bilder und Skizzen aus Amerika. Breslau 1891.

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sichtbar wird, daß es im Durchschnitt Autoren des „zweiten" und „dritten Gliedes" waren und die bekanntesten Schriftsteller sich bis auf wenige Ausnahmen nicht mit den USA auseinandersetzten. 110 Neben dem Sozialprofil gilt es zur Charakterisierung der Autoren auch das Altersprofil und das politische Profil in den Blick zu nehmen, wobei insbesondere letzteres schwer zu ermitteln ist und im Grunde nur aus den Beurteilungen der amerikanischen Gesellschaft erschließbar wird, also erst im Verlauf der Arbeit an Kontur gewinnen kann. Es läßt sich aber schon jetzt sagen, daß die Mehrzahl der wilhelminischen bürgerlichen Reisenden erwartungsgemäß einem konservativen bis (national-)liberalen Spektrum angehörte - eine Annahme, die auch durch die in der Forschung festgestellte enge und bemerkenswert stabile Prägung des spezifisch bürgerlichen „sozialmoralischen Milieus" durch Parteizugehörigkeiten des liberalen bis konservativen Spektrums gedeckt wird;111 dezidiert sozialistische oder sozialdemokratische Positionen wie die eines Arthur Holitscher bildeten dagegen trotz Agitationsreisen einiger sozialistischer Führer wie Wilhelm Liebknecht (vor 1890) oder Carl Legien (1912 bzw. 1914) eine dünne Minderheit, zumal nach jüngsten Forschungsergebnissen „kein deutscher Sozialdemokrat von Rang, vor allem kein Theoretiker in Buchform, also monographisch, über die USA geschrieben hat" und generell das Amerikabild der SPD bis in die Weimarer Republik erstaunlich konturlos und uninformiert bzw. ideologisch verstellt blieb.112 Dennoch bieten die wenigen Berichte einen wichtigen Kontrast zum Mainstream des bürgerlichen Blicks, der in europäischer Dimension schon von der Forschung aufgearbeitet worden ist und hier als Hintergrund herangezogen werden soll.113 Ähnlich homogen wie das Sozial- und politische Profil gestaltet sich das Altersprofil der untersuchten Reisenden, soweit es recherchierbar war. Von rund sechzig erschließbaren Autoren sind die meisten zwischen 1841 und 1865 geboren mit Spitzen in den Jahren 1846-1850 sowie vor allem 1851-1855 und 1861-1865, während nur wenige Autoren vor 1840 bzw. nach 1866 (jeweils rund 5 Autoren) geboren worden waren. Kann man daher von einer Generation der Wilhelminer sprechen? Der Generations-Begriff wird in der Forschung generell mit Skepsis betrachtet, denn zumeist bleiben dabei Fragen nach dem Verhältnis von Klasse und Generation, nach dem Zusammenhang von biologischem Wechsel und gesell-

110 Vgl. dazu für die Zeit von 1870 bis 1914 Portes, Une fascination, S. 21f und für die Zwischenkriegszeit Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 118ff bzw. für Großbritannien Rapson, Britons, S. 14fundbes. 198ff. 111 Vgl. Lepsius, Demokratie, S. 25-50 bzw. 47ff, der zeigt, wie stabil nationalliberale bzw. konservativliberale Positionen trotz aller Auffächerung im Kaiserreich mit dem bürgerlich-protestantischen Milieu verbunden blieben. 112 W. Kremp: In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfangen der SPD bis zur Weimarer Republik. Münster, Hamburg 1993, S. 680 bzw. passim und bes. S. 679-706 - eine Analyse, die sich vor allem auf die umfassende Auswertung der wichtigsten linken Zeitungen, Zeitschriften und generell Periodika stützt, erneut allerdings der Korrelation mit den sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen in Deutschland und den USA aus dem Weg geht und an deren Stelle fragwürdige theoretische Setzungen wie „erwachsene Realitätswahrnehmung" setzt. Vgl. dazu ebda., S. 15-23. 113 Vgl. R. L. Moore: European Socialists and the American Promised Land. New York 1970. Zur Reise von W. Liebknecht von 1886 vgl. S. 25-29. Vgl. ferner Carl Legien: Aus Amerikas Arbeiterbewegung. Berlin 1914.

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schaftlich-politischem Wandel sowie nach der Beziehung von Individuum und Gesellschaft ungelöst.114 Gerade unter mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen spricht jedoch auch einiges für die Anwendung eines Generations-Begriffs, denn er bezieht sich anders als der primär ökonomische Klassen-Begriff vor allem auf gemeinsam prägende Sozialisationserfahrungen einer Altersgruppe, deren mentalitätsprägende Relevanz oben ja bereits angedeutet worden ist. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich ζ. B. politische Großereignisse oder fundamentale sozioökonmische und kulturelle Umbrüche wie etwa Revolutionen, Kriege oder Staatsgründungen bzw. -Zusammenbrüche als Prägefaktoren gemeinsamer generationeller Erfahrungen bestimmen. Gerade die diskursive Verarbeitung solcher Umbrüche kann dabei als Indiz für die Existenz einer „geistigen Generation" im Sinne gemeinsamer mentaler Prägungen, die auch Klassen- (und Geschlechter-)grenzen überbrücken können, gelten.115 In diesem Sinne ist besonders die vor und im frühen Kaiserreich sozialisierte Generation als Beispiel einer solchen „geistigen Generation" gedeutet worden: „Im Jahre 1914 finden wir in Deutschland eine Gesellschaft vor, die - mit ganz wenigen Ausnahmen unter älteren Menschen - von den charakteristischen atmosphärischen Bedingungen des etablierten Kaiserreichs geprägt ist. Massenhafter wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg, Obrigkeitsstaatlichkeit und Untertanenerziehung, außenpolitische Machtentfaltung, diese Dinge haben die Mentalität von 30 bis 40 Jahrgängen im Sinne einer immer verbreiteteren Sorglosigkeit beeinflußt. Das so beschaffene Wilhelminische Lebensgefühl ist damals im deutschen Volk wegen der langen Dauer seiner Einwirkung so tief verwurzelt. Es findet sich bei Junkern und Unternehmern, bei Beamten und Arbeitern. Nicht bei allen im gleichen Maße, aber doch bei den allermeisten Zeitgenossen in irgendeiner - möglicherweise verdünnten - spezifischen Beschaffenheit. Nur wenn man diese mächtige Prägung richtig sieht und einschätzt, begreift man das Zustandekommen des patriotischen Konsensus von 1914."116 Wie weit hier wirklich sozialer und ökonomischer Aufstieg im breiten Maße gegeben und wie wirksam die „Untertanenerziehung" wirklich war, wird im folgenden noch zu klären sein, aber unbestreitbar dürfte doch sein, daß die in der Phase der Einigungskriege und der folgenden Reichsgründung sozialisierte Generation eine ganze Reihe gemeinsamer mentaler Dispositionen teilte, die den patriotischen Konsens bis zu einem gewissen Grad auch über Klassengrenzen hinweg garantierte. Wir haben oben gesehen, daß die meisten Autoren zwischen 1841 und 1865 geboren worden waren. Die älteren waren dabei zweifelsohne noch vor den Kriegen und der Reichsgründung sozialisiert worden, aber die überwiegende Mehrzahl der behandelten Autoren befand sich zum Zeitpunkt der Reichsgründung noch im Kindes- oder Jugendalter, so daß die Reichsgründung und die Bismarck-Ära deshalb für sie zum prägenden Sozialisationserlebnis wurde. Die Erfahrung der 48er Revolution war daher für diese Generation schon Vergangenheit, während die Erfahrung erfolgreicher Kriegsführung, der anschließenden Reichsgründung „von oben", schließlich auch der illiberalen Wende am Ende der 70er Jahre und des

114 Vgl. dazu H. Jaeger: Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption. In: Geschichte und Gesellschaft 3, 1977, S. 429-452. 115 Vgl. ebda., S. 450f. Vgl. auch Vondung, Zur Lage, S. 20-33. 116 Jaeger, Generationen, S. 449.

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gerade im Bürgertum in den 80er Jahren verbreiteten Bismarck-Kults für die mentale Prägung dominant wurde. Als Deutschland schließlich nach 1890 in die wilhelminische Ära eintrat, war diese Generation durch ihre Altersstruktur in die beherrschenden Positionen der Gesellschaft eingerückt und bestimmte deren Entwicklung bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es folgerichtig, bei aller Problematik des Begriffs gerade diese Generation als „die Wilhelminer" zu bezeichnen, auch wenn deren Sozialisation vor der eigentlichen wilhelminischen Ära lag. Aber die in der Forschung in diesem Zusammenhang festgestellten mentalen Prägungen wie „Autoritätsfixierung", „Harmonieorientierung", .Aggressivität" und „Assimiliationsbereitschaft" der besonders zwischen 1853 und 1865 Geborenen," 7 zu der die Mehrzahl der Autoren gehörte, lassen sich gerade auf Faktoren der wachsenden Illiberalität des Bürgertums in der Bismarck-Ära zurückführen, die die alten revolutionären Muster, die die Eltern-Generation noch zu großen Teilen geprägt hatten, völlig in den Hintergrund drängten. Es war gerade diese Generation, die die imperialistische Großmachtpolitik nach außen und die autoritär-illiberale Politik nach innen unter Wilhelm II. entscheidend mittrug und schließlich dafür auch ihre dann im wilhelminischen Deutschland geborenen Söhne in den Weltkrieg schickte. Insofern erscheint es sinnvoll, im folgenden zur Charakterisierung des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg gerade unter mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten von den „Wilhelminern" zu sprechen, auch wenn dieser Begriff in der bisher schwerpunktmäßig an sozioökonomischen Klassenkriterien orientierten Forschung eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Im Hinblick auf das konkrete Reisealter der Autoren ist dabei zugleich festzustellen, daß die Mehrzahl der Autoren, die in den 90er Jahren reisten und schrieben, in den 40er oder Anfang der 50er Jahre geboren worden waren, während die Autoren der Berichte, die kurz vor dem Weltkrieg erschienen, mehrheitlich in den 60er Jahren zur Welt gekommen waren. Daraus ergibt sich ein relativ einheitliches Reisealter zwischen Mitte 40 und Ende 50, also ein in dieser Ausschließlichkeit nach heutigen Begriffen relativ hohes Alter, das angesichts der im folgenden zu schildernden Reisekosten jedoch erklärlich werden wird. Nur wenige Reisende wagten den Schritt über den Ozean noch in einem Alter über 60 Jahren, was angesichts der allgemein geringeren Lebenserwartung im Kaiserreich im Vergleich zu heute kaum überraschen dürfte. Ebenso konnten sich junge Leute kaum eine USA-Reise leisten; es ist daher auffallend, daß alle Berichte, die von Autoren unter 30 Jahren (wie etwa Erwin Rosens Bestseller „Der deutsche Lausbub in Amerika" von 1911-13 ff) verfaßt wurden, dem Typ des „Auswandererberichts" entsprechen und damit keine genuinen Reiseberichte im geschilderten Sinne sind. Auch in dieser Kategorie ergibt sich kein spezifisch deutsches Muster, sondern offenbar ein Charakteristikum bürgerlicher Reisekultur in anderen europäischen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts; so reisten auch die französischen Reisenden vor 1914 mehrheitlich in einem Alter zwischen Ende 30 und Ende 50 (im Schnitt 41 Jahre); auch hier bildeten Reisende in einem Alter unter 30 oder über 60 Jahren die Ausnahme.118

117 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S.41ff bzw. zur Definitionsproblematik von „Generation" ebda., S. 38ff. 118 Vgl. Portes, Une fascination, S. 32f.

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d) Die USA als Modell gesellschaftlicher Modernisierung? Der Kontext der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien: Wenn hier von „Reisen in die Moderne" bzw. von einer Debatte über Amerika als dem „Vorreiterland" der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Moderne schlechthin die Rede ist, so muß eine begriffliche Klärung von „Moderne" im Sinne von „Modernisierung" vorausgeschickt werden, zumal dann, wenn der Amerika-Diskurs auch vor allem als Debatte über gesellschaftliche Modernisierung im eigenen Land begriffen werden soll. Dazu kommt, daß gerade das Bürgertum - wie wir oben bereits anhand des Konzepts der „bürgerlichen Gesellschaft" angedeutet haben - im Hinblick auf sein Selbstverständnis wie auch in der historischen Entwicklung immer wieder als Träger von Modernisierung in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bezeichnet und beschrieben worden ist - ein Umstand, der eine genauere Begriffsbestimmung um so gebotener erscheinen läßt. 119 Dabei ist zugleich feststellbar, daß viele Parameter von „Modernisierung" weitgehend dem Kanon klassischer bürgerlicher Wertmuster und Ziel Vorstellungen im 19. Jahrhundert entsprechen und damit eine in diesem Kontext wichtige Brücke zwischen bürgerlichen Mentalitäten und der gegenwärtigen Modernisierungsdebatte schlagen. Und schließlich ist ein solcher Exkurs auch deshalb lohnend, weil bereits um 1900 von den Gründervätern der Soziologie wie Max Weber, Ferdinand Tönnies oder Emile Durkheim eine intensive Debatte um die Modernisierung der westlichen hochindustriellen Gesellschaften geführt worden ist, der in dieser hochreflexiven Form natürlich nicht ins breite Bewußtsein drang, aber als intellektueller Rahmen und Zeithorizont unbedingt Beachtung verdient. 120 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Entwicklung und die Fülle der inzwischen breit diskutierten Ansätze und Theorien innerhalb der Modernisierungsforschung zu analysieren - dies würde den Rahmen des vorliegenden Projekts bei weitem sprengen, so daß eine Skizze unter Verweis auf die zahlreiche Literatur genügen muß; zudem sei vorausgeschickt, daß hier lediglich der Aspekt der gesellschaftlichen Modernisierung angesprochen wird und wichtige Modernisierungsaspekte der Politik und Ökonomie ausgeklammert bleiben müssen. Nach den angedeuteten frühen Ansätzen um 1900 erlebte die Modernisierungsforschung besonders in den 50er und 60er Jahren einen massiven „Boom" vor allem in der amerikanischen Sozialforschung. Dieser Boom wurde dabei wesentlich von der Idee (und teilweise auch praktischen Handlungsanweisung) gesellschaftlicher Neuordnung in Europa nach 1945 bestärkt, erhielt danach aber auch weiterhin Auftrieb durch die Vorstellung einer Entwicklung der Länder der sogenannten „Dritten Welt" zu mehr Demokratie und Wohlstand nach dezidiert amerikanischem Modell - gerade hieran wird deutlich, wie sehr auch in der Forschung die USA lange Zeit durchaus als das Modernisierungsmodell schlechthin figurierten und normativ der „American way of life" als universalisierbarer Weg zu Wachs-

119 Vgl. z. B. K. Wahl: Die Modernisierungsfalle. Gesellschaft, Selbstbewußtsein und Gewalt. Frankfurt/M. 1989, S. 7 2 - 1 2 5 . 120 Vgl. H. van der Loo/W. van Reijen: Modernisierung. Projekt und Paradox. München 1992, S. 14-18.

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tum, Wohlstand und Demokratie begriffen wurde. 1 2 1 In diesen eher locker verbundenen und nicht immer logisch geschlossenen Theorieansätzen wurde „Modernisierung" vor allem in den vier Dimensionen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur verstanden als Industrialisierung bzw. Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen und als langfristiges Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens, ferner als soziale Mobilisierung und funktionelle bzw. strukturelle Differenzierung der Gesellschaft durch Urbanisierung, Bildungsexpansion und Abbau von traditionellen Mobilitätsbarrieren; im politischen Sektor als Entwicklung des modernen Nationalstaats in Form von Institutionalisierung von Konflikten, Rechtssicherheit, Steigerung politischer Partizipation und verstärkter staatlicher Organisation mittels Bürokratisierung sowie kulturell in der Tradition der Aufklärung als Rationalisierung, Säkularisierung, Entkoppelung von Staat und Kirche und als Wandel von partikularistischen hin zu universalistischen Orientierungen und Wertmaßstäben. 1 2 2 Zugleich sollten sich durch diese Differenzierung in teilautonome Systeme und durch wachsende gesellschaftliche (Binnen-)Kommunikation und internationale Verflechtung die Steuerungs- und Leistungskapazitäten der solchermaßen modernisierten Gesellschaften erhöhen. 1 2 3 Bereits in den 70er Jahren setzte massive Kritik an diesem Modell bzw. an dessen vorbildhafter Verwirklichung in den USA ein, die sich zum einen auf die außen- wie innenpolitische Krise der USA (Vietnam-Krieg, Bürgerrechtsbewegung, Urban Crisis etc.) Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre bezog, die zum anderen aber auch die Schwierigkeiten bzw. das Scheitern dieses Modells in den Ländern der Dritten Welt konstatierte. Entsprechend konzentrierte sich die „liberale" wie marxistische Kritik 124 vor allem auf die als zu linear und zu statisch gesehene „Evolutionsmechanik" der Modelle sowie auf einen westlichen „Ethnozentrismus", bei dem man im Allgemeingültigkeitsanspruch dieses westlichen Modells das Fortwirken sozialdarwinistischen Denkens erblickte. Gleichzeitig wurde vor allem die zu mechanistische Dichotomie von „traditionellen" und „modernen" Gesellschaften in Frage

121 Vgl.dazu Wehler, Modernisierungstheorie, S. 7-33; P. Flora: Modernisierungsforschung. Zur empirischen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung. Opladen 1974, S. 13-17 und Lepsius, Soziologische Theoreme, S. 10-15 sowie P. Wehling: Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien. Frankfurt/M., New York 1992, S. 107-133. 122 Vgl. speziell zu diesem Aspekt z. B. D. Lerner: Die Modernisierung des Lebensstils: eine Theorie. In: W. Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels. Köln, Berlin 1969, S. 362-381. 123 Vgl. dazu Lepsius, Soziologische Theoreme, S. 24-29; Flora, Modernisierungsforschung, S. 39-56 und J. Alber: Nationalsozialismus und Modernisierung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41, 1989, S. 349 sowie H.Schilling: Die Geschichte der nördlichen Niederlande und die Modernisierungstheorie. In: Geschichte und Gesellschaft 8,1982, S. 475ff mit einer Fülle weiterführender bibliographischer Angaben. 124 Vgl. van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 18-22 sowie Lepsisus, Soziologische Theoreme, S. 1521 und P. N. Stearns: Modernization and Social History. Some Suggestions and a Muted Cheer. In: Journal of Social History 14, 1980, S. 190ff sowie G. Wiswede/T. Kutsch: Sozialer Wandel. Zur Erklärungskraft neuerer Entwicklungs- und Modernisierungstheorien. Darmstadt 1978, S. 98-103 und zuletzt Wehling, Die Moderne, S. 14-58.

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gestellt 125 und auf Brüche, Gegentendenzen und „Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen" hingewiesen, wobei moderne Aspekte traditionaler Gesellschaften wie beispielsweise das römische Recht oder die Autonomie der Städte West- und Mitteleuropas seit dem Mittelalter oder aber „Rückständigkeiten" moderner Gesellschaften wie ζ. B. die Rassismusproblematik, das Präsidialsystem des 18. Jahrhunderts oder der verhältnismäßig unterentwickelte Sozialstaat in den USA das Bild differenzierten. Auch blieb ungeklärt, wie sich die Dimensionen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur theoretisch wie empirisch zueinander verhielten, wobei immer wieder ζ. B. unter Hinweis auf die rapide ökonomische Modernisierung bei gleichzeitiger geringer Entwicklung politischer Partizipation im deutschen Kaiserreich die zeitlichen Brüche und Ungleichzeitigkeiten des Prozesses in den unterschiedlichen Sektoren hervorgehoben wurden.126 Dabei stellte sich der Ansatz, vor allem die aus diesen unterschiedlichen Entwicklungstempi und Überlappungen entstehenden Modernisierungskrisen127 als Schlüssel für das Phänomen „Modernisierung" zu untersuchen, als fruchtbar und vielversprechend heraus, denn trotz aller Einwände blieben doch gewichtige Vorzüge der modernisierungstheoretischen Ansätze unverkennbar. Diese Vorzüge bestanden und bestehen vor allem darin, einen theoretischen Rahmen für die hochkomplexen Entwicklungspfade moderner Gesellschaften bereitzustellen, der es erlaubt, kausale Beziehungen zwischen den skizzierten historischen Dimensionen zu erkennen und damit auch Zäsuren und Periodisierungen plausibel zu machen, die ohne diesen Rahmen kaum sinnvoll aufeinander beziehbar wären. Zudem stellt dieser Rahmen wichtige Kriterien für den Vergleich der unterschiedlichen nationalen Entwicklungspfade bereit, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede bzw. ungleichzeitige Ent-

125 Diese relativ statischen und stark normativ aufgeladenen Gegenüberstellungen prägten vor allem die frühe Soziologie, so bei Ferdinand Tönnies, der in seinem berühmten Gegensatz von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" (1887) die Homogenität und mentale wie soziale Sicherheit der traditionellen „Gemeinschaft" pries und ihr die „Entfremdung" und Orientierungslosigkeit in der modernen, in distinkte Einzelgruppen zerfallenen „Gesellschaft" idealtypisch gegenüberstellte. Ähnlich unterschied Emile Durkheim, wenn auch mit umgekehrter Wertung, zwischen einer traditionellen starren und den einzelnen in jeder Hinsicht einschnürenden „mechanischen" Gesellschaft bzw. „Solidarität" mit geringer Arbeitsteilung und einer modernen, flexiblen, mobilen, hochgradig arbeitsteiligen und damit „organischen Solidarität" bzw. Gesellschaft. Vgl. dazu u. a. van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 14-18 u. 84-87 und zur Kritik dieser zu einfachen Dichotomie im Hinblick auf die MentalitätenGeschichte auch Burke, Stärken und Schwächen, S. 133ff. 126 Vgl. zu diesem Komplex insgesamt vor allem Wehler, Modernisierungstheorie, S. 18-33 und Flora, Modernisierungsforschung, S. 23-38. Vgl. zu den Problemen der Modernisierung speziell im deutschen Kaiserreich auch T. Nipperdey: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1986, S. 4 4 - 5 9 . 127 Siehe dazu Wehler, Modernisierungstheorie, S. 35-38, wo er u. a. „Identitätskrisen" (im Verlust alter Wertmuster und Orientierungen), „Integrationskrisen" bzw. „Penterationskrisen" (so z. B. die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in der frühen Neuzeit), „Distributionskrisen" (der Umverteilung von Gütern und Lebenschancen etwa im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft) und „Partizipationskrisen" bzw. „Legitimationskrisen" (in Form revolutionärer Umbrüche) unterscheidet. Vgl. auch Flora, Modernisierungsforschung, S. 89-92 und Ch.Tilly: Western State-Making and Theories of Political Transformation. In: Ders. (Hg.): The Formation of National States in Western Europe. Princeton 1975, S. 601-638, hier bes.607ff.

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Wicklungen theoretisch zureichend analysieren zu können, was zugleich dem gerade für mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen wichtigen Brückenschlag zwischen historischempirischer Forschung und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung dient. 128 Die jüngste Forschung hat - auch aufgrund gegenwärtiger massiver Wandlungsprozesse in Ost-(Mittel-)Europa - das Konzept der Modernisierung insofern differenzierter und kritischer wiederaufgegriffen 129 und sich weitgehend auch von den ehemals stark normativen Wertungen befreit. So haben sich neueste Ansätze aufgrund einer breiten Analyse der bestehenden Forschung vor allem auf den „paradoxalen Charakter" der Moderne bzw. Modernisierung konzentriert und Widersprüche, Gegentendenzen und Dichotomien im Sinne einer Dialektik von Anspruch und Realität in den Vordergrund gerückt, was sie vor allem für die Analyse der hier besonders wichtigen mentalen Folgen von Modernisierung so attraktiv macht. 130 Im folgenden sollen daher kurz die vier wichtigsten „paradoxalen" Entwicklungstendenzen vorgestellt werden, die zusammen und eng miteinander verwoben Modernisierung ausmachen: Es geht somit im Hinblick auf strukturelle Veränderungen in den vier Dimensionen vor allem um „Differenzierung", „Individualisierung", „Rationalisierung" und „Domestizierung".131 Unter Differenzierung läßt sich ein Prozeß der „Maßstabsvergrößerung" fassen, in dessen Verlauf die Netzwerke und Kommunikationssysteme in den einzelnen historischen Dimensionen immer größer, vielgestaltiger, veränderlicher und mobiler werden. Die tendenziell kleinräumigeren und stabileren Netzwerke lösen sich dabei zugunsten globalisierter Kommunikationszusammenhänge auf, zugleich nimmt die Arbeitsteilung und die Auffächerung von Institutionen und Organisationen als strukturelle Differenzierung zu. Dies gilt insbesondere auch für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt: So werden soziale Hierarchien tendenziell aufgebrochen und an die Stelle der sozialen Zuordnung durch Herkunft, Stand oder Privileg treten wirtschaftliche Kriterien bzw. individuelle Leistung - eine Tendenz, die genau dem bürgerlichen Programm der Aufklärung und sozialen bzw. politischen Emanzipation von adliger Privilegienherrschaft im Kontext der Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts entsprochen hatte. Lepsius definiert diesen Prozeß folgendermaßen: „In diesem Sinne wird unterstellt, daß soziale Entwicklung stets auch soziale Differenzierung bedeute: etwa in

128 Vgl. Wehler, Modernisierungstheorie, S. 39-50 bzw. 59-63; Flora, Modernisierungsforschung, S. 56-89 sowie Stearns, Modernization, S. 193-205 und Schilling, Geschichte, S. 476ff. Zur Verbindung von Theorie und Empirie gerade im Bereich der Mentalitäten vgl. besonders P. L. Berger/B. Berger/H. Kellner: Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt/M., New York 1975, S. 9-23. 129 Siehe dazu W. Zapf: Modernisierung und Modernisierungstheorien. Eröffnungsvortrag zum 25.Deutschen Soziologentag (9.10.1990) in Frankfurt/M. Berlin 1990, S. 122. (Wissenschaftszentrum Berlin, Arbeitsgruppe Sozialberichterstaattung). Dennoch bleibt auch weiterhin grundsätzliche Kritik an sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien bestehen, so ζ. B. bei Wehling, Die Moderne, passim, bes. S. 368-395. 130 Vgl. besonders Wahl, Modernisierungsfalle, S. 126-165, bes. 164f sowie van der Loo/van Reijen, Modernisierung, passim sowie mit Blick auf die Phase der Bundesrepublik U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986. 131 Dieser Ansatz und die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf van der Loo/van Reijen, Modernisierung, bes. S. 28-42.

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Berufe, Öffentlichkeit und Privatspähre, Staat und Kirche, zentrale und lokale Macht usw. Modernisierung wird so weitgehend gefaßt als Prozeß beständiger sozialer Differenzierung von Rollen und Institutionen: wachsende Arbeitsteilung, Spezialisierung, Ausdifferenzierung ehemals verbundener .Funktionen', institutionelle Autonomisierung, Fragmentierung, Atomisierung und Anomie einzelner Lebensbereiche. Damit wird dann weiter angenommen, daß mit jeder Differenzierung eine neue Integration auf höherem Niveau einhergehe, denn sonst könne ja nicht von einer Differenzierung eines sozialen Systems gesprochen werden, sondern man müßte von einer Teilung des Systems sprechen." 132 Diese Integration ist dabei u. a. auch an der Angleichung von Lebensstilen und Habitusformen festgemacht worden, auch wenn gegenläufige Tendenzen erneuter Distinktionsversuche der Eliten (wie auch der unteren Schichten) feststellbar waren. 133 Der paradoxale Charakter der Entwicklung liegt in diesem Zusammenhang vor allem darin, daß die wachsende Autonomie des einzelnen im Prozeß des Abbaus sozialer Schranken und Ungleichheiten von einer insgesamt verstärkten Abhängigkeit durch die globalisierende Vernetzung der Sektoren begleitet wird. Der zweite Bereich der Rationalisierung wird vor allem als Systematisierung der Wirklichkeit mit dem Ziel ihrer Beherrschbarkeit verstanden; auch diese Zielsetzung entspricht dem genuin bürgerlichen Wertekanon im Hinblick auf das Ideal einer Weltordnung bzw. -Steuerung aufgrund rationaler Prinzipien. Im Rückgriff auf Max Webers Theorie von der wachsenden Säkularisierung und Bürokratisierung in der modernen „entzauberten Welt", die an die Stelle mythischer und religiöser Weltbilder zunehmend wissenschaftlich-rationale Deutungsmuster setzt und durch Wissenschaft, Technik und Bürokratie kollektives Handeln rationalisiert, zeigt sich, daß durch das Übergreifen bürokratischer Prinzipien wie Funktionalität, Hierarchie, Un- bzw. Überpersönlichkeit auch die zwischenmenschlichen Beziehungen immer stärker von Zweckrationalität als beherrschendem Prinzip geprägt werden. 134 Auch hier ergibt sich so das Paradox einer zunehmenden Freisetzung des einzelnen aus traditionellen Bindungen und Unfreiheiten, die von einer wachsenden Unfreiheit durch den „eisernen Käfig" (M. Weber) moderner bürokratischer Gesellschaftsorganisation konterkariert wird. Zugleich bringt der damit einhergehende Prozeß der Pluralisierung von Werten und Normen ein Verschwimmen traditioneller Orientierungen mit sich, so daß sich zwar individuelle Horizonte einerseits erweitern, andererseits aber eine Reduktion in dem Sinne erfolgt, daß neu gefundene Normen und Werte nicht mehr kollektiv, sondern tendenziell nur noch individuell verbindlich sind. Damit eng verknüpft ist der dritte Bereich der Individualisierung, der genau diesen Prozeß der Loslösung der Individuen aus den relativ festen Normen traditioneller Gesellschaften im Prozeß der Modernisierung meint: Damit zerfallen übergreifende kollektive Identitäten immer mehr zugunsten partieller oder gar rein individueller Zugehörigkeiten, sichtbar

132 Lepsius, Soziologische Theoreme, S. 24. Vgl. ebda, S. 25ff; Flora, Modernisierungsforschung, S. 3 9 - 4 4 und Berger/Berger/Kellner, Unbehagen, S. 6 0 - 7 0 sowie van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 8Iff; Wahl, Modernisierungsfalle, S. 132-142 und Beck, Risikogesellschaft, S. 121-142. 133 Vgl. van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 106-111. 134 Vgl. van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 118-158 und Berger/Berger/Kellner, Unbehagen, S. 43-58.

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etwa am Verlust der Kohärenz der Familienstrukturen in Form steigender Scheidungsraten, wachsender individueller Mobilität auch innerhalb der Familie, wachsender Geschlechterkonflikte usw. Auch hier entsteht das Paradox, daß immer mehr Chancen zur Selbstentfaltung und zu persönlichem Wachstum (wie sie zu den Hauptforderungen der bürgerlichen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert zählten) einhergehen mit einer durch den kollektiven Orientierungsverlust bedingten „Krise des Selbstbewußtseins" und - im Rückgriff auf die Theorien von David Riesman und Christopher Lasch - einer immer stärkeren Außensteuerung des Individuums durch „Apparate" der Öffentlichkeit wie Staat, Bürokratie und Medien und einem damit (indirekt) verbundenen wachsenden Narzißmus und Egoismus des einzelnen.135 Schließlich hängt damit viertens der Prozeß der Domestizierung zusammen, der als zunehmende Beherrschung der inneren wie äußeren Natur gedeutet werden kann - auch hier findet sich die ursprüngliche aufklärerische Zielsetzung wieder, die die Befreiung des Individuums nicht nur aus gesellschaftlichen und politischen, sondern wesentlich auch aus natürlichen Fesseln vorsah. Die Beherrschung der äußeren Natur ist damit eng an den Prozeß der Rationalisierung als zunehmender Beherrschung und industrieller Ausbeutung der Natur und ihrer Ressourcen durch Wissenschaft und Technik im Sinne von „Fortschritt"136 gekoppelt. Domestizierung meint aber im Sinne von Selbstdisziplinierung auch die wachsende Beherrschung der inneren Natur bei den Eliten (und damit auch gerade dem Bürgertum) in den westlichen Gesellschaften seit dem Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit, wie sie vor allem Norbert Elias in seinem Klassiker „Über den Prozeß der Zivilisation"137 geschildert hat. Anders gewendet kann sie aber auch als Domestizierung des modernen Menschen durch staatliche Macht und Gewalt interpretiert werden, wie das besonders - wie oben schon angedeutet - Michel Foucault in seinen Arbeiten etwa zum frühneuzeitlichen Strafsystem oder zur Entwicklung öffentlicher „domestizierender" Institutionen wie Krankenhäusern oder Irrenanstalten untersucht hat. 138 Auch hier haben wir es jedenfalls im Hinblick auf das Individuum mit dem Paradox einer durch die technologische Entwicklung zunehmenden Befreiung aus natürlichen Fesseln auf der einen Seite und einer wachsenden Abhängigkeit von diesem technischen Fortschritt wie auch von verinnerlichten sozialen und kulturellen Normen auf der anderen Seite zu tun, wobei gerade für das Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts diese Verinnerlichung von

135 Vgl. insgesamt van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 159-195 und speziell zu Riesman und Lasch S. 150-156; Berger/Berger/Kellner, Unbehagen, S. 70-85 und Wahl, Modernisierungsfalle, S. 93-101 u, 157-163 sowie Beck, Risikogesellschaft, S. 161-219. 136 Vgl. dazu Wahl, Modernisierungsfalle, S. 101-108. Zum Zusammenhang von technologischer Produktion und kollektivem Bewußtsein vgl. auch Berger/Berger/Kellner, Unbehagen, S. 27-41. 137 N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/M. 1976. Vgl. dazu auch die Beiträge in H. Kuzmics/I. Mörth (Hg.): Der unendliche Prozeß der Zivilisation. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Norbert Elias. Frankfurt/M., New York 1991, darin bes. im Zusammenhang mit Modernisierungstheorien den Beitrag von A. Bogner: Die Theorie des Zivilisationsprozesses als Modernisierungstheorie, S. 33-58. 138 Vgl. dazu zusammenfassend van der Loo/van Reijen, Modernisierung, S. 196-235 und zu Foucault und seinen Kritikern bes. 208-228.

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sozialen Normen und eine entsprechende rigide Selbstdisziplinierung (etwa im Hinblick auf Sexualität und Geschlechterrollen allgemein) immer wieder festgestellt und beschrieben worden ist - davon wird im Kapitel zu Familie und Geschlechterrollen noch eingehender zu reden sein. Damit ist ein theoretischer Kontext in der gebotenen Kürze umrissen, der es erlaubt, die Beobachtungen und Beurteilungen der amerikanischen Gesellschaft als Modernisierungsdiskurs im Hinblick auf die eigene Gesellschaft zu lesen. So kann sichtbar gemacht werden, wie die Wilhelminer die paradox verlaufenden Entwicklungen der Modernisierung in den USA wahrnahmen, diskursiv verarbeiteten und ob bzw. wie sie sie auf die eigene hochgradig unter Modernisierungsdruck geratene Gesellschaft übertrugen. Damit läßt sich ein teilweise bewußtes, jedoch zumeist unbewußtes „mentales Modell" gesellschaftlicher Modernisierung aufdecken, das den gesellschaftlichen Erwartungshorizont des deutschen bzw. europäischen Bürgertums als wichtigen Teil von „Bürgerlichkeit" erhellen soll.

2. Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert Im folgenden soll eine kurze Charakteristik des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert versucht werden, indem technische Voraussetzungen, Organisationsformen, Reiseliteratur, Reisetypen, Personenkreise etc. näher betrachtet werden. Zugleich ist dabei die Frage nach dem Wandel von Wahrnehmungen durch neue Formen des Reisens zu stellen, wobei auf den Zusammenhang von Reisen und Industrialisierung im Kontext moderner Tourismus-Theorien eingegangen wird. Mit der Frage ihrer Anwendbarkeit auf Amerikareisen im 19. Jahrhundert lassen sich schließlich die konkreten Umstände des Reisens (wie Dauer, Kosten, Routen etc.) in den USA um 1900 aufzeigen. a) Bürger unterwegs - Reisen im 19. Jahrhundert Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert verband sich vor allem mit dem Programm der „Bildungsreise", das sich als ein Teil des spezifisch bürgerlichen Bildungsideals am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland besonders ausgeprägt entwickelt hatte. Die Bildungsreise setzte sich zwar deutlich von der Forschungsreise der Neuzeit ab, indem sie bekannte und vor allem historische Stätten humanistischer Bildungsideale anvisierte, war aber im Anspruch, Reisen als Erkenntnis(-prozeß) zu verstehen, durchaus mit dieser verwandt. Gemeinsam war die Grundlage eines Ideals integraler Persönlichkeitsbildung, zu dem das Reisen als Erweiterung des persönlichen Horizonts im wahrsten Sinne des Wortes zählte. Gerade die Aufklärung erblickte im Reisen einen Schlüssel zu Welterkenntnis überhaupt, und in wohl keinem Jahrhundert ist das Reisen so emphatisch thematisiert worden wie in der Zeit zwischen 1750 und 1850, denn die Reiseliteratur erstreckte sich nicht nur auf enzyklopädische Landesstudien wie Friedrich Nicolais „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781" oder auf politische Dokumentationen etwa im Umfeld der Französischen Revolution wie beispielsweise Johann Heinrich Campes „Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben"

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(1789/90), sondern fand ihren Niederschlag auch in einer Fülle literarischer Formen wie dem Brief- oder Entwicklungsroman (etwa Goethes „Wilhelm Meister" u. a.). 139 Die Wurzeln dieser schon von den Zeitgenossen teilweise beklagten „Reisewut" vieler Bürger bzw. Intellektueller liegen in der „Grand Tour" des Adels, dem weitgehend ein „freies" Reisen bis ins späte 18. Jahrhundert vorbehalten geblieben war. Vor diesem Hintergrund erscheint die bürgerliche „Reisewut" einerseits als Imitation adliger Vorbilder, andererseits aber vor allem als Angriff auf adlige Privilegien, unterschieden sich doch die Reiseformen beider Schichten in vielen Punkten. Die Adligen der „Grand Tour"140 in der frühen Neuzeit erfüllten den Bildungsanspruch ihrer Schicht, den Adel Europas kennenzulernen und auf oftmals mehrjährigen Reisen Etikette, Sprachen und Weltgewandtheit zu erlernen. Dabei gab es einen festen Kanon der Reiseziele, der weniger an historischen als an gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Zentren Westund Mitteleuropas orientiert war: London, Paris, einige niederländische Städte, verschiedene (süd-)deutsche Höfe, die Schweiz und schließlich Oberitalien und Rom standen im Mittelpunkt. Entscheidend war dabei eine rigide soziale und kulturelle Exklusivität; der reisende Adlige reiste mit Diener oder Erzieher und war integriert in die jeweiligen Hofgesellschaften ohne Kontakt zu anderen Schichten, und auch das Besuchsprogramm beschränkte sich weitgehend auf Paläste, Kirchen und andere standesgemäße Einrichtungen. Charakteristisch war eine umfassende Reiseplanung im Vorfeld der Reise mit Hilfe von ,Apodemiken" als Vorläufern der modernen Reiseführer, Briefwechseln, Empfehlungsschreiben, Sicherheitsmaßnahmen etc. Man informierte sich soweit als möglich umfassend über Klima, Geographie, Kultur, Kunst, Politik, Wirtschaft und die führenden Schichten der zu besuchenden Länder oder Städte, und während der Reise wurde oft Reisetagebuch geführt als Vorläufer bzw. -form des Reiseberichts.141

139 Dieser Umstand findet sich auch im Umfang der Forschungsliteratur zur Sozialgeschichte des Reisens bestätigt, die sich vor allem mit der frühen Neuzeit und dem 18. Jahrhundert beschäftigt hat. Aus der Fülle der Literatur seien nur erwähnt: W. Griep/H.-W. Jäger (Hg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986. B. J. Krasnobaev/G. Röbel u. a. (Hg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980 oder W. E. Stewart: Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn 1978. Vgl. ferner zum Thema politischer Reiseliteratur H. Peitsch: Das Schauspiel der Revolution. Deutsche Jakobiner in Paris. In: Brenner (Hg.), Reisebericht, S. 306-332 und J. Weber: Wallfahrten nach Paris - Reiseberichte deutscher Revolutionstouristen von 1789 bis 1802. In: Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 179-185. Zum enzyklopädischen Reisebericht eines Nicolai vgl. auch L. Pikulik: Das romantische Reisen. In: N. Hinske/ M. J. Müller (Hg.): Reisen und Tourismus. Auswirkungen auf die Landschaft und den Menschen. (Trierer Beiträge Sonderheft 3), 1979, S. lOf sowie B. Lauterbach: Baedeker und andere Reiseführer. Eine Problemskizze. In: Zeitschrift für Volkskunde 85, 1989, S. 218f. 140 Vgl. dazu Leed, Erfahrung, S. 199-207; H. de Ridder-Symoens: Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert. In: Brenner (Hg.), Reisebericht, S. 197-223 sowie H.-W. Prahl/A. Steinecke (Hg.): Der Millionen-Urlaub. Von der Bildungsreise zur totalen Freizeit. Darmstadt, Neuwied 1979, S. 135-139 und W. Günter: Geschichte der Bildungsreise. In: Ders. (Hg.): Handbuch für Studienreiseleiter. Starnberg 1982, S. 17-21 sowie M. Berwing: Wie die Leute reisen lernten. In: Dies./K. Köstlin (Hg.): Reise-Fieber. Regensburg 1984, S. 21f. 141 Vgl. dazu U. Kutter: Der Reisende ist dem Philosophen, was der Arzt dem Apotheker - Über Apodemiken und Reisehandbücher. In: Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 38-46. Zu den verschiedenen Reiseformen der frühen Neuzeit wie Wallfahrten, Pilgerfahrten, Berufsreisen von Handwerkern, Kaufleuten, Händlern, Künstlern etc. vgl die verschiedenen Beiträge ebda., S. 23-90.

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Die bürgerliche Bildungsreise am Ende des 18. Jahrhunderts nahm verschiedene Elemente der adligen „Grand Tour" auf, so vor allem natürlich den Bildungsgedanken, die Idee eingehender Planung und Vorinformation, die eigene Reisechronik als Tagebuch sowie den Kanon der Reiseziele,142 dessen Schwerpunkte sich allerdings im Rahmen des humanistischen Bildungsideals nun mehr auf Italien und seine Geschichte sowie auf die gefeierte „grandiose" Natur der Schweiz verlagerten. Dennoch blieben auch London und Paris wichtige Ziele bürgerlichen Reisens um 1800, bei denen allerdings mehr und mehr der Aspekt der modernen Großstadt und nicht mehr der Hof in den Vordergrund des Interesses trat. Damit werden Unterschiede deutlich: In klarer Absetzung vom Adel und seinen Werten und Lebensformen, die das bürgerliche Selbstverständnis um 1800 bestimmte, verschob sich das Interesse vom Erlernen der höfischen Etikette hin zur persönlichen Bildung im humanistischaufklärerischen Sinne. Reisen sollten nun „Anschauung" gewähren, die eine Grundidee des emphatischen bürgerlichen Bildungsbegriffs verkörperte; Goethes Reisen nach Italien wurden in diesem Kontext zum Modell einer Ergänzung von Theorie und Praxis, von Studium und Anschauung, deren Dialektik erst eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung ermöglichte.143 Dieser Hauptunterschied einer Subjektivierung des Bildungsgedankens, die das bürgerliche Programm gegen das des Adels entworfen hatte, schlug sich auch in der wachsenden Naturbegeisterung in der Nachfolge Rousseaus nieder und spielte vor allem in Reiseschilderungen vieler Schriftsteller der Romantik eine entscheidende Rolle. Besonders die Alpen und zunehmend auch die Meeresküsten gewannen im Kontext romantischer Empfindung an Bedeutung für die Ausbildung des „Gemüts" der Persönlichkeit, dem die Romantiker im Gegensatz zur Aufklärung immer mehr Gewicht beimaßen und damit die skizzierte Subjektivierung radikalisierten.144 In diesem Zusammenhang wurde auch die Geschichte neu entdeckt; Antike und Renaissance in Italien, das Mittelalter in Deutschland und Frankreich, und die Kulturen des alten Orients wurden zu Brennpunkten der Bildungsreise; dementsprechend gewannen neue Reiseziele wie die Burgen des Rheins oder - im Gefolge der napoleonischen

142 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch amerikanische Reisende im 19. und 20. Jahrhundert in Europa auf der Suche nach den Wurzeln der (eigenen) Kultur und Zivilisation diesem Kanon der Grand Tour bzw. bürgerlichen Bildungsreise folgten. Vgl. dazu F. Rhea Dulles: Americans Abroad. Two Centuries of European Travel. Ann Arbor 1964, S. 68-85. Zur Rolle der Europareise als „kultureller Selbstvergewisserung" amerikanischer Ober- und Mittelschichten vgl. u. a. auch J. B. Phillips: American Tourism in Europe: Seeing Europe as an American Model for the Construction of the Civilized. Diss. Cornell University 1987, passim. Vgl. zu den Reisezielen im einzelnen auch die Beiträge in Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 221-242. 143 Vgl. Günter, Bildungsreise, S. 22f und W. Kaschuba: Die Fußreise-Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungsbewegung. In Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 168f bzw. zur Italienreise um 1800 A. Meier: Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert. In: Brenner (Hg.), Reisebericht, S. 284-305. Zur Griechenlandreise vgl. E. Osterkamp: Auf dem Weg in die Idealität - Altertumskundliche Reisen zur Zeit des Greek Revival. In: Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 186-192. 144 Vgl. Pikulik, Das romantische Reisen, S. 12ff und Kaschuba, Fußreise, S. 168ff. Vgl. zur „Entdeckung" der Meeresküste auch A. Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840. Berlin 1990.

Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert

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Eroberung Ägyptens - die Stätten altägyptischer und orientalischer Kultur an Bedeutung. Zugleich sei hier auf einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen adligem und bürgerlichem Reisen hingewiesen: War das adlige Reisen letztlich vor allem gesellschaftliche Pflicht, so gestaltete sich die bürgerliche Bildungsreise immer mehr zum Selbstzweck, wurde zunehmend „Vergnügungsreise" und bahnte damit indirekt auch den Weg zum modernen Freizeittourismus. Damit hing auch eine deutliche Verkürzung der Reisezeit zusammen; der Bürger hatte nicht mehr Jahre zur Verfügung, er mußte die Bildungsreise innerhalb von Wochen oder einigen Monaten absolvieren, und es verwundert daher nicht, daß bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Karikaturen über eilig durch Europa hastende Bildungstouristen entstanden. Allerdings darf diese Bild nicht überzeichnet werden, waren dem „hastigen" Reisen Anfang des 19. Jahrhunderts doch noch deutliche Grenzen gesetzt durch schlechte Straßen, lange Fahrten mit der Postkutsche und die Gefahr eines Überfalls in ärmeren Gebieten; allerdings zählten schon um 1800 Fußmärsche zumindest über längere Distanzen zu den Ausnahmen des bürgerlichen Reisens, auch wenn einer der berühmtesten Reiseberichte der Zeit - Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" eine solche Art des Reisens eindringlich dokumentiert.145 Festzuhalten bleibt, daß die bürgerliche „Demokratisierung" des Reisens eine neue räumliche wie „zeitliche" Vielfalt der Reisetypen und -formen mit sich brachte. Die Bildungsreise spaltete sich in zwei Typen: Neben die „klassische" Bildungsreise in die Vergangenheit und pittoreske Gegenwart der von Modernisierung kaum berührten südeuropäischen Länder trat besonders für die Deutschen die Reise in die Gegenwart, die gerade die politische, soziale und ökonomische Modernisierung in den westeuropäischen Vorreiterländern der Moderne wie Großbritannien, Frankreich und Belgien zum Gegenstand nahm. Hinzu kam die literarischfiktionale Verarbeitung, die nicht zuletzt auch in utopische Dimensionen zu fuhren vermochte und damit weitere Aspekte des Reisemotivs entfaltete und variierte.146 Das Reisen vermittelte so im skizzierten aufklärerischen Sinne neue Perspektiven und Sichtweisen als Teil bürgerlicher Bildung:„Das Sehen, das Beschreiben, das Einordnen der neuen Dinge und Bilder macht die Reise zur bürgerlichen Sehschule. Blicke werden eingeübt: der historische Blick, der ökonomisch-bilanzierende Blick, der technisch-zivilisatorische Blick, der ethnographische Blick."147 Dabei ergibt sich - wie schon anhand der Reiseberichte oben aufgezeigt - eine Fülle von Mischformen und Überschneidungen. Vor allem aber wohnt der Erweiterung der Perspektiven durch das Konzept der bürgerlichen Bildungsreise auch schon ihre Kritik inne, wie sie

145 Vgl. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Hg. und kommentiert von A. Meier. München 1985. Kaschuba betont dabei allerdings, daß im Gefolge der Romantik das Wandern als Freizeitvergnügen in der ersten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts beim Bürgertum stark an Attraktivität gewann. Diese Faszination für das „ziellose" Reisen, das sich klar vom adligen „Nützlichkeitsreisen" absetzte und insofern der skizzierten antifeudalen Stoßrichtung des Bürgertums entsprach, fand ihren Ausdruck u. a. besonders im Alpinismus und setzte sich in der Wandervogelbewegung um 1900 und nachfolgenden Formen bis ins 20. Jahrhundert fort. Vgl. dazu Kaschuba, Fußreise, S. 171ff. 146 Vgl. dazu G. Sautermeister: Reisen über die Epochenschwelle. Von der Spätaufklärung zum Biedermeier. In: Griep/Jäger (Hg.), Reisen, S. 271-293, hier bes. 278f sowie Kaschuba, Erkundung, 36ff. 147 Kaschuba, Erkundung, S. 36.

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insbesondere von (bürgerlichen!) Schriftstellern der deutschen Romantik gegen aufklärerisches „Nützlichkeitsdenken" und gegen die Zwänge eines normierten Bildungskanons formuliert wurde;,.Reisen" thematisiert damit zugleich den Ausbruch aus der bürgerlichen Gesellschaft, wird als Metapher des „Wanderns" zum individuellen Anspruch auf Nonkonformität und zur Suche nach alternativen bzw. utopischen Lebens- und Gesellschaftsformen.148 Diese dem Konzept der Bildungsreise inhärente Kritik manifestiert sich in dem Maße literarisch und beharrt auf dem Emanzipations- und Freiheitsanspruch, indem auch das Reisen im Lauf des 19. Jahrhunderts von der Industrialisierung erfaßt wird und sich damit die Reisemöglichkeiten und -ziele wie auch die Wahrnehmungsformen verändern - als später Reflex auf diese romantische Utopie können auch die oben erwähnten impressionistischen Reiseberichte der Jahrhundertwende mit ihrer Vorliebe für exotische Räume gelten, bei denen allerdings der romantische Freiheitsimpetus nur noch individuell und nicht mehr gesellschaftlich nachwirkt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Entstehung des modernen Tourismus vor allem auf die „Industrialisierung" des Reisens und seiner Wahrnehmungsformen im Kontext der Erfindung und Expansion der Eisenbahn zurückführt. Dies wird schon daran deutlich, daß England als Vorreiterland der Industrialisierung in Europa das erste Land war, das einen organisierten Tourismus entwickelte.149 Der erste Reiseführer erschien 1836 in England (John Murrays „Red Book"), wo auch die ersten organisierten Reisen 1841 von Thomas Cook veranstaltet wurden. Cook gründete dann auch als erster 1845 ein Reisebüro, das bereits voll durchorganisierte Rundreisen durch Großbritannien, Frankreich, die Schweiz, den Rhein entlang und ab 1870 sogar durch Palästina und den Orient anbot. Dem touristischen Vorreiterland England folgten die übrigen industrialisierten Länder Europas bald nach. Der erste deutsche Baedeker-Reiseführer erschien bereits 1839 („Die Rheinreise"), und 1863 eröffneten die Gebrüder Stangen das erste deutsche Reisebüro in Berlin, das allerdings sozial sehr viel exklusiver war als das von Cook, der ursprünglich im Sinne bürgerlicher Sozialreform vor allem kleinbürgerliche Kreise und Arbeiterschichten mit regionalen Ausflügen zu erreichen versucht hatte, dann allerdings nach großem Erfolg auch den Tourismus der Oberschichten profitabel organisierte.150 Immer neue Gebiete wurden durch den rasch expandierenden Tourismus erschlossen, so vor allem die Alpen, die Küsten Italiens und die historischen Monumente Ägyptens.151 Möglich wurde diese Entwicklung durch den rapiden Ausbau der Eisenbahn und des Dampfschiffs vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte, der die Demokratisierung des Reisens weiter vorantrieb und schon vor dem Ersten Weltkrieg erste Formen eines „Massentourismus" aufkommen ließ, die allerdings gemessen an heutigen Maßstäben lokal und sozial

148 Vgl. Pikulik, Das romantische Reisen, S. 10-14. 149 Vgl. H. M. Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In. Einzelheiten I. Frankfurt/M. 1962, S. 182 u. 191f, der darauf hinweist, daß die Wörter „tourist" bzw. „tourism" bereits um 1800 in englischen Wörterbüchern auftauchen. Vgl. ferner auch W. Treue: Zum Thema Auslandsreisen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 35,1953, S. 329-333. 150 Vgl. dazu allg. Günter, Bildungsreise, S. 24ff; Enzensberger, Theorie, S. 188f, 194f u. 198f und H. Spode: Zur Geschichte des Tourismus. Eine Skizze der Entwicklung der touristischen Reisen in der Moderne. Starnberg 1987, S. 16ff sowie Lauterbach, Baedeker, S. 217f und G. M. Knoll: Reisen als Geschäft. Die Anfange des organisierten Tourismus. In: Bausinger u. a.(Hg.), Reisekultur, S. 336-343. 151 Vgl. Spode, Geschichte, S. 3-14 und Berwing, Leute, S. 25ff.

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sehr begrenzt blieben; dennoch: in der Phase der Hochindustrialisierung während des Kaiserreichs erlebte Deutschland eine erhebliche Expansion des Tourismus - Indiz für den engen Konnex beider Phänomene. So verfünffachten sich die Fremdübernachtungen in Deutschland zwischen 1872 und 1913 vor dem Hintergrund eines Eisenbahnnetzes, das zwischen 1860 und 1914 von 11.600 auf 63.700 Kilometer anwuchs.152 Die Tendenz zur „Demokratisierung" des Reisens erschloß neue Schichten: Immer breitere Kreise des Bürgertums wie auch des mit der Industrialisierung schnell wachsenden neuen Mittelstands wurden mobiler und reisten zumindest innerhalb des eigenen Landes. Die wachsende Verstädterung und Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse erzeugte überdies einen wachsenden Gegensatz zwischen Arbeit und „Urlaub" als spezifischer Erholungsphase: So erhielten Beamte und rund zwei Drittel der Angestellten ab 1873 in Deutschland 7-14 Tage Urlaub im Jahr (allerdings ohne Anspruch); ausgeschlossen von Urlaub und Freizeitreisen blieb jedoch trotz wiederholter Forderungen seitens der Arbeiterbewegung und der bürgerlichen Sozialreform die Masse der Arbeiter, die erst nach 1918 und dann besonders nach 1933 erstmals einige Tage bezahlten Urlaub im Jahr und im Rahmen von NS-Organisationen wie „Kraft durch Freude" auch die Möglichkeit der Teilnahme an organisierten Reisen erhielt.153 Das Kaiserreich war damit auch eine Zeit touristischer Innovationen. Neben die klassische Bildungsreise trat die moderne Urlaubsreise als Kur- oder Bäderreise bzw. „Sommerfrische" in den Bergen oder am Meer, die nun erstmals auch zur Familienreise avancierte.154 Hier wirkten romantische Ziele wie die Erfahrung der Natur nach, doch kann gar nicht deutlich genug betont werden, wie sehr sich das Reisen im „bürgerlichen" 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung verändert hatte, wie tief die Kluft geworden war, die das Reisen um 1800 von den Formen des Tourismus um die Jahrhundertwende abhob. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den „mentalen Kosten" dieser touristischen Expansion im 19. Jahrhundert. Hier sind von der Forschung vor allem zwei Aspekte diskutiert worden: Zum einen wurde auf einen unverkennbaren Verlust an „authentischer" Wahrnehmung durch die Industrialisierung des Reisens hingewiesen, zum anderen stand der Fluchtcharakter des Reisens aus der industrialisierten Welt im Mittelpunkt der Debatte.

b) Wahrnehmungsverlust und Fluchtcharakter Zur Debatte um eine Theorie des Tourismus: In seiner mittlerweile klassischen Studie zur „Geschichte der Eisenbahnreise" hat Wolfgang Schivelbusch den Wahrnehmungswandel deutlich gemacht, der durch die industriell erzeugte Bewegung - sei es Dampfschiff oder Eisenbahn - im 19. Jahrhundert ausgelöst wurde.

152 Vgl. Prahl/Steinecke, Millionen-Urlaub, S. 149ff und Spode, Geschichte, S. 21ff bzw. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 177-181. Vgl. auch allg. zum Reisen als Teil des „modernen Lebensstils": U. Becher: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen - Wohnen - Freizeit - Reisen. München 1990, S. 198-219. 153 Vgl. Spode, Geschichte, S. 19-24 u. 29-33 und Berwing, Leute, S. 33ff sowie Enzensberger, Theorie, S. 194f und allgemein C. Keitz: Die Anfänge des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik. In: Archiv für Sozialgeschichte 33,1993, S. 179-210. 154 Vgl. Spode, Geschichte, S. 25-29 und Berwing, Leute, S. 28ff.

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War vorindustrielle Bewegung noch „Mimesis an die äußere Natur" durch den Einsatz natürlicher Kräfte wie Wasser, Wind und Tierkraft gewesen, so löste die Dampfmaschine dieses Verhältnis radikal auf; durch die kontinuierliche Bewegung begann der Raum zu „schrumpfen", ausgedrückt im schon früh verbreiteten Topos einer durch die Eisenbahn ausgelösten „Vernichtung von Raum und Zeit". 155 Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang der Revolutionierung der Wahrnehmungsformen durch die Eisenbahn eine Beobachtung Heinrich Heines von 1843: „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig... In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen (von Paris, A. S.). ( . . . ) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee." 156

Die gerade Linie der Eisenbahnstrecke „rationalisiert" insofern die Landschaft: „ . . . das maschinelle Ensemble schiebt sich zwischen den Reisenden und die Landschaft. Der Reisende nimmt die Landschaft durch das maschinelle Ensemble hindurch wahr. Dies macht die neue Wahrnehmung aus." 157 Durch die paradoxe Entwicklung einer Erweiterung des Raums, die zugleich dessen Verkleinerung bedeutet, entsteht das „panoramatische Reisen", in dem die Landschaft zum Tableau, zum nicht mehr unmittelbar sinnlich erfahrbaren Panorama hinter der Scheibe des Waggons gerät; die Eisenbahn wird zum „Projektil", das Reisen zum „Geschossenwerden" durch den Raum. Es verliert damit zugleich seinen Selbstzweck; man reist nurmehr, um anzukommen.158 Der Unterschied zur Reise um 1800 wird offenkundig: „Mit dieser Intensität des Reisens, die im 18. Jahrhundert ihren kulturellen Höhepunkt erlebt und im literarischen Genre des Reiseromans ein bleibendes Denkmal erhalten hat, macht die Eisenbahn Schluß. Die Geschwindigkeit und mathematische Geradlinigkeit, mit der sie durch die Landschaft schießt, zerstören das innige Verhältnis zwischen Reisendem und durchreistem Raum." 159 Dem korrespondiert zum einen ein Kommunikationsverlust, indem sich die Reisenden mit Lektüre gegen die neue Langeweile beim Reisen versorgen - ein Bedürfnis, dem der rasch expandierende Bahnhofsbuchhandel Rechnung trägt. Zum anderen wird die anfänglich starke Angst vor Unfällen durch ein wachsendes Vertrauen in die Technik und durch eine „Verdrängung" der Gefahr ersetzt - Indiz für die Verinnerlichung der Naturbeherrschung, die zugleich die Empfänglichkeit gegenüber Außenreizen senkt: Das „industrialisierte Bewußtsein" beginnt sich erfolgreich gegen Schocks und Traumata zu schützen.160

155 Vgl. Schivelbusch, Eisenbahnreise, S. 14ff bzw. 35-44. 156 Zitiert nach Schivelbusch, Eisenbahnreise, S. 38f. Vgl. zu weiteren literarischen Verarbeitungen der Eisenbahnerfahrung um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch D. Vorsteher: Bildungsreisen unter Dampf. In: Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 304-310. 157 Vgl. Schivelbusch, Eisenbahnreise, S. 28. 158 Ebda., S. 51-66 bzw. Kaschuba, Erkundung, S. 41ff. 159 Schivelbusch, Eisenbahn, S. 52. Vgl. dazu auch Enzensberger, Theorie, S. 179ff, der die literarische Reisebeschreibung eines Jean Paul um 1800 mit derjenigen Max Frischs im Roman „Homo Faber" von 1957 in dieser Hinsicht eindrucksvoll kontrastiert. 160 Schivelbusch, Eisenbahn, S. 121-151 und Vorsteher, Bildungsreisen, S. 308ff.

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Mit der wachsenden realen wie verinnerlichten Naturbeherrschung im Prozeß der Industrialisierung wächst jedoch zugleich der Wunsch, dieser zu entgehen; diese Fluchtbewegung hat eindringlich Hans Magnus Enzensberger in einer Theorie des Tourismus bereits zu Beginn der 60er Jahre formuliert und beschrieben. Je mehr Landschaft und Geschichte von der Industrialisierung „zugedeckt" werden, um so stärker wächst das Bedürfnis nach „unberührter" Landschaft und Geschichte, dem der moderne Tourismus unter Rückgriff auf Wurzeln in der Romantik zu entsprechen sucht: „Er ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu verwirklichen. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen." 161 Die Eisenbahn erleichterte diese Flucht und verhinderte ihren Erfolg zugleich, indem sie das Unberührte durch seine Erschließung als solches vernichtete. Im modernen Tourismus spiegelt sich die Sehnsucht nach dem Gegenpol zur im Weberschen Sinne immer stärker rationalisierten und bürokratisierten Arbeits- und Lebenswelt, nach Abenteuer und Entdeckung des „ganz anderen"; doch er vernichtet „das andere", indem er es erreichbar macht und durch Normung in Form organisierter Reisen oder Reiseführer mit Sternchen-Prinzip auf das Bekannte reduziert. Die Reise, so die pointierte These Enzensbergers, wird selbst zur Ware. Das Grunddilemma des Tourismus, die angestrebte Freiheit von der industriellen Welt zu verraten durch eine Flucht, die den Prinzipien des industrialisierten Bewußtseins verpflichtet bleibt, ist nicht aufhebbar; so führen alle Ausbruchsversuche (wie Camping-Urlaub, Wanderreise etc.) immer wieder zur Normung zurück.162 Um dabei gleich einem Mißverständnis zuvorzukommen: Enzensbergers Kritik am Warencharakter des modernen Tourismus hebt sich damit deutlich von Tourismus-Kritiken konservativer Couleur ab, die bereits das Entstehen des modernen Tourismus immer wieder wortreich mit dem Hinweis auf die „Dummheit" und Ungebildetheit der „Massen-Touristen" kritisiert hatten und in vielen Tourismus-Kritiken bis heute nachwirken, dabei aber kaum verhehlen konnten und können, daß sie letztlich nur den Verlust alter Privilegien beklagen.163 Diese konservative Tourismus-Kritik durchzieht nicht nur eine Fülle literarischer Werke des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern findet sich naturgemäß auch in vielen Reiseberichten (auch und gerade über die USA), wobei die Autoren als „Reisende" gerade durch die Abgrenzung gegen die „falschen" bzw. blinden „Touristen", die nur den „ausgetrampelten Pfaden" zu folgen verstehen, ihren eigenen Anspruch auf Authentizität zu beglaubigen suchen.164 So einfach die konservative Tourismus-Kritik zu entlarven ist, so schwer tun sich andererseits auch moderne Tourismustheorien mit der These vom Warencharakter des modernen Reisens. So ist ζ. B. gegen Enzensbergers These unter Hinweis auf die Konstanz des Reisebedürfnisses seit der Antike und seiner Zielsetzungen wie Geschichte, Natur und Kunst eingewandt worden, daß Reisen als „elementares Bedürfnis" und nicht als „erworbene

161 Enzensberger, Theorie, S. 190f. 162 Ebda., S. 196-200. 163 Siehe dazu die aufschlußreiche Studie von J.-D. Urbain: L'idiot du voyage. Histoire des touristes. Paris 1991, passim. 164 Vgl. zu dieser literarischen Tourismuskritik im 19. Jahrhundert die erhellende Studie von J. Buzard: The Beaten Track. European Tourism, Literature and the Ways to „Culture" 1800-1918. Oxford 1993, passim.

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Reaktion" zu verstehen sei.165 Diese Kritik zielt jedoch am Kern der These vorbei, denn es geht ihr ja nicht um die Frage von an sich schon fragwürdigen (da zumeist ahistorisch gedachten) anthropologischen Konstanten, sondern um Transformationsprozesse der Wahrnehmung und Identität in der industrialisierten Welt, die zu tief sind, als daß sie sich leugnen ließen. Dies wird auch nicht durch den Hinweis auf Ungleichzeitigkeiten im Modernisierungsprozeß relativierbar;166 eine solche Relativierung verkennt, daß auch jede „Reise in die Vergangenheit" bzw. an die kaum industrialisierte Peripherie Europas das Grunddilemma des Niederschlags eines „industriellen Bewußtseins" im modernen Tourismus nicht aufheben kann. Dies gilt auch für den Einwand, der moderne Tourismus sei auch ein emanzipatorisches und regeneratives Programm - sinnfällig etwa anhand der genossenschaftlichen Arbeiterreisen der Zwischenkriegszeit - , so daß die Beschränkung auf den Fluchtcharakter zu kurz greife.167 Dem wäre entgegenzuhalten, daß Emanzipation in diesem Kontext nur scheinbar stattfindet, gerade weil sie nur Regeneration für den Arbeitsprozeß bedeutet und zudem den Grundstrukturen des modernen Tourismus ebenso verhaftet bleibt. Dazu gehört auch und wesentlich, daß der Tourismus in immer stärkerem Maße als Statusdemonstration bzw. „demonstrativer Erfahrungskonsum" verstanden werden kann. Indem Reisen zum Zweck des sozialen Prestiges mit seinen Symbolen in Form von Postkarten und Fotos unternommen werden, leiten sie gesellschaftskritische oder emanzipatorische Potentiale eher ab und bestätigen damit den Scheincharakter des Reisens als Alternative zum Bestehenden.168 Insofern ist Enzensberger im Hinblick auf die Theorie eines spezifisch touristischen Reisens zuzustimmen, auch wenn man seine gesellschaftliche Fundamentalkritik nicht unbedingt teilen muß. Es bleibt allerdings die Frage, ob der Tourismus als Flucht aus der industriellen Welt die einzige Reiseform der Moderne war und ist. Insofern muß die These Enzensbergers in zweierlei Hinsicht modifiziert werden. Zum einen zeigt sich in anthropologisch beeinflußten Reisestudien, daß der Fluchtcharakter zwar zentral ist, aber nicht nur in eine bloße Reproduktion „der Verhältnisse" mündet, sondern im Gegenteil fiktionale Gegenwelten produziert, die nur aus einer gesellschaftlichen Fundamentalkritik heraus als solche negiert werden können. So hat ζ. B. Jean-Didier Urbain in einer jüngsten Studie gezeigt, in welchem Ausmaß die Welt des Badestrands als fiktionale Gegenwelt der Körperlichkeit, des Spiels, der verringerten gesellschaftlichen Komplexität mit ganz eigenen Riten, Freiheiten, Konventionen, Verhaltensmustern etc. begriffen werden kann und sich damit kollektiven Gegenwelten wie dem Fest, dem Karneval u. ä. Riten annähert, die identitfikatorische Potentiale und Freiräume jenseits der konventionellen Ordnungen eröffnen (können).169

165 Vgl. Günter, Bildungsreise, S. 26f bzw. H. Bausinger: Grenzenlos . . . Ein Blick auf den modernen Tourismus. In: Ders. u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 346ff. 166 So bei Spode, Geschichte, S. 38ff. 167 Hierzu D. Kramer: Aspekte der Kulturgeschichte des Tourismus. In. Zeitschrift für Volkskunde 78, 1982, S. 1-13. 168 Vgl. zu dieser Debatte die Beiträge von H.-J. Knebel: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus. Trend „Demonstrativer Erfahrungskonsum" und dagegen H. Kentler/T. Leithäuser/H. Lessing: Der moderne Tourismus. In: H. W. Prahl/A. Steinecke (Hg.): Tourismus. Stuttgart 1981, S. 132-136 bzw. S. 137-140. 169 Vgl. J.-D. Urbain: Sur la plage. Moeurs et coutumes balnéaires. Paris 1994, passim. Vgl. auch für die Zeit um 1800 die Studie von Corbin, Meereslust, passim.

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Ein solcher, im Kern interdisziplinär angelegter anthropologisch-historischer Ansatz, der die gesellschaftliche Konstruktion von symbolischen Gegenwelten im touristischen Verhalten genauer zu analysieren hätte, könnte sich in einer ansonsten zumindest in Deutschland wissenschaftlich wenig profilierten Tourismus-Diskussion170 als vielversprechend erweisen und in einem gewissen Sinn wird ja auch in der vorliegenden Arbeit ein solcher Versuch unternommen, die Erfahrung des Reisens als mentale Produktion von Gegenwelten zu begreifen. Die zweite Modifikation bezieht sich auf das Verhältnis von Peripherie und Zentrum. Wie oben schon kurz angedeutet, läßt sich als „modernisierte" Form der Bildungsreise durchaus eine Reiseform seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen, die gerade nicht weg vom Zentrum der Modernisierung führt, sondern mitten hinein, mithin die Industrialisierung selbst zum Ziel der Reise wird. Fabriken und Großstädte werden Anziehungspunkte für eine Reise in die Moderne, die in England als dem Vorreiter der Industrialisierung in Europa bereits um 1800 beginnt und im Laufe des Jahrhunderts auch die neuen Konkurrenten Englands - vor allem die USA und Deutschland - in den Blick nimmt, wobei England und Frankreich oder Belgien als Vorreiter der ersten Jahrhunderthälfte171 gegen Ende des Jahrhunderts als Paradigmen deutlich zurücktreten. Dabei wird deutlich, wie sehr sich hier die eskapistische „Vergnügungsreise" oft in ihr Gegenteil - den unmittelbaren Schock angesichts der skizzierten Zerstörung des „Unberührten" - verkehrt oder aber (zugleich) in Fortschrittsfaszination und -euphorie angesichts der ungeahnten technischen Möglichkeiten und Innovationen mündet. 172 Die Diskurs-Muster - „Tempo", „Beschleunigung", „Verdichtung", „Komplexität" etc. dieser paradoxalen Erfahrung aus Schrecken und Faszination angesichts der Reise in die Moderne ähneln sich in allen Fällen; sie werden aber besonders markant am Beispiel der USA als dem „Land ohne Vergangenheit" schlechthin. James F. Muirhead, der Verfasser des ersten USA-Baedeker, schrieb denn auch in seinem viel gelesenen Amerikabuch „The Land of Contrasts" über die USA als dem Reiseland der Moderne und über die Notwendigkeit einer von Europa verschiedenen Erwartungshaltung:

170 Vgl. zum Stand der Tourismusforschung in Deutschland und zu den Beiträgen aus den einzelnen Disziplinen H. Hahn/H. J. Kagelmann: Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft. München 1993. 171 Vgl. zu Ingenieurreisen nach England, Belgien und Frankreich in der ersten Jahrhunderthälfte auch K. Herrmann: Ingenieure auf Reisen - Technonolgieerkundung. In: Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, S. 297-303. 172 Vgl. Kaschuba, Erkundung, passim und für Frankreich Wolfzettel, Fabrik, S. 599-614 bzw. Schmidt, Deutschland, passim. Vgl. ferner M. Maurer: Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten. Deutsche Englandreiseberichte des 19. Jahrhunderts. In: Brenner (Hg.), Reisebericht, S. 406-433 bzw. zur Großstadt im 20. Jahrhundert A. Gleber: Die Erfahrung der Moderne in der Stadt. Reiseliteratur der Weimarer Republik. In: Ebda., S. 463^189. Dieser Umstand wird auch anhand der Baedeker deutlich, die um 1840 im Gegensatz zur zweiten Jahrhunderthälfte für England und Frankreich noch Angaben über industrielle Anlagen enthalten; bezeichnenderweise enthalten die ersten USA-Baedeker von 1893 und 1904 wieder entsprechende Angaben. Vgl. die Ausgabe von 1893, S. LVIf und von 1904, S. LUIff bzw. Lauterbach, Baedeker, 219.

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Hinleitung

„(...) Derjenige, der sich für die Auswirkungen der Zivilisation unter völlig neuen Bedingungen interessiert; derjenige, der unter diesen Bedingungen in der Lage ist, seine Geisteshaltung schnell und leicht zu verändern; derjenige, der gelernt hat, die modernen Bequemlichkeiten eines neuen Landes zumindest zeitweise gern gegen den Verlust der alten einzutauschen (...); derjenige, der das Wachstum des allgemeinen Wohlstandes auf Kosten gesellschaftlicher Privilegien zu schätzen vermag; derjenige, der sich an vielversprechenden Experimenten in Politik, Gesellschaft und Bildung erfreut, mit einem Wort derjenige, der nicht im Althergebrachten erstarrt, sondern bereit ist, Erneuerungen in ihrem Wert oder Unwert zu akzeptieren - derjenige wird, wenn ich nicht völlig fehlgehe, in den Vereinigten Staaten Erfahrungen machen, die ihm Schweizer Alpen oder italienische Seen, gotische Kathedralen und palladianische Paläste, historische Stadtviertel und altehrwürdige Grabdenkmäler, Gemälde von Raphael und Statuen von Phidias bei weitem ersetzen werden." 173 D i e Facetten dieser Form der Reise in die Moderne sollen im folgenden aufgefächert werden. Zuvor gilt es j e d o c h noch, die konkreten Umstände der Amerikareise um 1 9 0 0 in den Blick zu nehmen.

c) Die Amerikareise um 1900 B e g i n n e n wir mit den Verkehrsmitteln: Bis zum Ersten Weltkrieg waren die U S A von Europa aus naturgemäß nur mit dem Schiff zu erreichen, w o b e i die 1890er Jahre eine deutliche Zäsur markieren, indem sie eine Phase ungewöhnlich vieler Verbesserungen, technischer Neuerungen und einer allgemein starken Expansion des Schiffsverkehrs bzw. der (deutschen) Reedereien mit sich brachten - so wurden die H A P A G in Hamburg und der Norddeutsche L l o y d in Bremen in diesem Zeitraum trotz stark wachsender internationaler Konkurrenz zu den führenden Reedereien der Welt. Zugleich wurden die S c h i f f e i m m e r größer und komfortabler, entwickelten sich die Transatlantik-Liner zu s c h w i m m e n d e n Grand H o t e l s . 1 7 4 Gerade Deutschland trieb den zivilen w i e militärischen Flottenbau

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gefördert durch den „Flottenkult" des Kaisers und der politischen Eliten, die Stapelläufe großer S c h i f f e zu nationalen Festtagen stilisierten - in diesem Zeitraum ungeheuer voran und besaß 1914 die zweitgrößte Dampferflotte der Welt hinter Großbritannien und noch vor den U S A . 1 7 5 Entsprechend der starken europäischen Auswanderung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stiegen die Passagierzahlen zwischen 1890 und 1914 trotz temporärer Schwankungen

173 James Fullarton Muirhead: The Land of Contrasts. Leipzig 1900, S. 12f. 174 Vgl. dazu insgesamt A. Kludas: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt. Bd. 2: Expansion auf allen Meeren 1890 bis 1900. Hamburg 1987, S. 9f bzw. 230 und Bd. 3 : Sprunghaftes Wachstum 1900 bis 1914. Hamburg 1988, S. 7f. Siehe dazu ferner J. M. Brinnin: The Sway of the Grand Saloon. A Social History of the North Atlantic. New York 1971, S. 305-400. Zur zeitgenössischen Darstellung vgl. u. a. Ernst von Hesse-Wartegg: Tausend und ein Tag im Occident. Kulturbilder, Reisen und Erlebnisse im nordamerikanischen Kontinent. Bd. 1. Dresden, Leipzig 21896, S. 8-24 und G. Ravenschlag: Bei Uncle Sam auf Besuch. Bilder einer Amerikareise. Witten/Ruhr 1914, S. 12f. 175 Vgl. Kludas, Schiffahrt, Bd. 3, S. 7f und 233. Zugleich stieg die Schiffsgröße von rund 10 000 BRT 1890 im Schnitt auf 50 000 BRT 1914. Vgl. zur Entwicklung der Seefahrt und Seemacht im Kaiserreich auch die verschiedenen Beiträge in V. Plagemann (Hg.): Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich. München 1988, passim, zur Passagierschiffahrt bes. S. 159-188.

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stetig an. Die HAPAG führte 1891 245 Reisen mit rund 126.000 Passagieren durch (davon allein 190 Reisen mit rund 104.000 Passagieren nach New York und anderen nordamerikanischen Häfen); 1900 waren es bereits insgesamt 419 Reisen mit rund 166.000 und 1913 1109 Reisen mit ca. 463.000 Passagieren. Dabei ging die Masse der Reisen in die USA: Die HAPAG transportierte im Schnitt 120.000 Passagiere (1908-1912) pro Jahr nach New York (von Hamburg und den Mittelmeerhäfen). Der Norddeutsche Lloyd übertraf die HAPAG dabei noch: Die Passagierzahlen insgesamt stiegen von 1891 mit ca. 212.000 auf rund 305.000 1901 und schließlich auf rund 662.000 1913 (wobei es Schwankungen gab wie der kurzfristige Wirtschaftseinbruch 1907, der die Zahlen von 661.000 1907 auf 458.000 1908 zurückgehen ließ). 176 Diese Zahlen spiegeln zwar einerseits deutlich die skizzierte Expansion des Tourismus, die anhand der wachsenden Zahl der Reiseberichte zwischen 1890 und 1914 schon angedeutet wurde. Sie zeigen aber vor allem die starke Auswanderungsbewegung, die in diesem Zeitraum vor allem die ost- und südeuropäischen Länder ergriff. So sind von den 540.000 Passagieren nach New York 1900 nur rund 138.000 Passagiere mit Kajüte verzeichnet; von den 1.338.000 1913 waren es sogar nur 380.000. Die Mehrzahl der Reisenden waren insofern Auswanderer im Zwischendeck, was auch am Verhältnis der Hin- und Rückfahrten deutlich wird: Beispielsweise kehrten von den 104.000 Passagieren, die die HAPAG 1891 nach USA transportierte, nur rund 18.500 zurück.177 Die Mehrzahl der hier untersuchten Autoren reiste natürlich nicht im Zwischendeck oder in der dritten, sondern in der ersten oder zweiten Klasse; die „Klassengesellschaft" an Bord spiegelte so die allgemeine gesellschaftliche Situation in Europa. Sie wurde von den bürgerlichen Reisenden bis auf wenige Ausnahmen als so selbstverständlich genommen, daß die bloße Existenz dieser Zwischendecksauswanderer kaum in das Bewußtsein trat und in den Berichten bis auf wenige Ausnahmen nicht erwähnt wurde.178 Allerdings muß betont werden, daß sich die Überfahrtsbedingungen auch im Zwischendeck gegenüber den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts erheblich verbessert hatten. So verfügten auch die Zwischendeckspassagiere über regelmäßige warme Mahlzeiten, sanitäre Anlagen, warme Unterbringung und ärztliche Behandlung (selbst vegetarische oder rituelle Kost konnte vor der Reise beantragt werden), was deutlich macht, daß die viel geschilderten

176 Vgl. ebda., Bd. 2, S. 223ff und Bd. 3, S. 227ff. Betrachtet man alle am Transatlantikverkehr beteiligten Reedereien (1914 waren es bereits zweiundzwanzig!), so ergibt sich ein ähnliches Bild: Von Europa nach New York wurden 1900 838 Reisen mit rund 540 000 Passagieren unternommen, 1907 waren es schon 1182 Reisen mit 1 287 000 und 1913 fast 2300 Reisen mit 1.338.000 Passagieren. Vgl. ebda. 177 Allerdings lassen sich aus den vorhandenen Zahlen keine genauen Differenzierungen zwischen Auswanderern und bloßen Touristen für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg feststellen. Angaben über touristische Ein- und Ausreisen liegen erst für die Zeit nach 1930 vor, die durch die relativ starke Expansion des Tourismus nach dem Ersten Weltkrieg kaum übertragbar erscheinen. Vgl. dazu Historical Statistics of the United States. Colonial Times to 1970. Washington D.C. 1975, Bd. 1, S. 119f. 178 Bezeichnenderweise liefert der Bericht des dezidierten Sozialisten Arthur Holitscher hier eine Ausnahme. Holitscher nahm die Klassengesellschaft an Bord deutlich und sehr kritisch wahr. Vgl. dazu Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 11-17. Ähnlich kritisch äußerte sich der Sozialist und Gewerkschaftsführer Carl Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 16f.

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katastrophalen Überfahrtsbedingungen der Auswanderer in der ersten Jahrhunderthälfte endgültig der Vergangenheit angehörten.179 Dazu gehörte auch, daß sich die Dauer der Überfahrt deutlich verkürzte. Um 1870 hatte man im Schnitt noch zwölf Tage gebraucht, was allerdings gegenüber den rund drei Wochen der ersten Jahrhunderthälfte schon einen großen Fortschritt darstellte. Die angesprochene Fortschritts-Zäsur der 1890er Jahre führte auch hier zu erheblichen Verkürzungen: So dauerte die Überfahrt um 1900 im Schnitt nur noch sechs bis acht Tage, und die schnellsten Dampfer stellten sogar Rekorde von fünfeinhalb Tagen auf (so die „Lusitania" 1910). 180 Zugleich stieg die Sicherheit der Überfahrt, auch wenn ein so spektakuläres Unglück wie der Untergang des Riesendampfers und angeblich sichersten Schiffs der Welt „Titanic" im April 1912 das Vertrauen kurzfristig erheblich erschütterte.181 Dieses Unglück schien wie ein Menetekel die Grenzen des technischen Fortschritts aufzuzeigen, wurde dann aber zunehmend als Folge eines unverantwortlichen Leichtsinns und Rekordfiebers gesehen - Indiz für die im Zusammenhang mit der Eisenbahnreise skizzierte verinnerlichte Vorstellung absoluter Naturbeherrschung und Verdrängung der Gefährdungen durch eine unkontrollierbare und sich verselbständigende Technik. Das Gefühl von Sicherheit, Komfort und Luxus dominierte die Reiseerfahrung, zugleich rückte der Verlust des Abenteuers als Kehrseite in den Blick. Die oben skizzierte Beobachtung Heines über die „Vernichtung von Raum und Zeit" variierend, hieß es in einem Amerika-Reisebericht von 1892 einleitend: „Wäre Faust thatsächlich ,up to date', d. h. bis auf diesen Tag am Leben, so sähe er seinen Wunsch nahezu erfüllt, denn Blitzzüge und Schnelldampfer tragen den Menschen heute mit einer Schnelligkeit über Land und Meer, die unsem Voreltern, und zwar nicht nur zu Faust's Zeiten, sondern noch vor wenigen Jahrzehnten, zauber- und märchenhaft erschienen wäre. Die Entfernungen sind zeitlich auf ein Mindestmaß zusammengerückt, Jules Verne's .Reise um die Welt in 80 Tagen' ist vermöge der neueren und neuesten Verkehrsmittel und Verbindungen längst überholt, und ein Ausflug nach Nordafrika oder den Vereinigten Staaten ist heutzutage weniger umständlich und zeitraubend, als seiner Zeit Goethe's Reise nach Italien. Es mag sein, daß der Tourist früher die Welt mit größerer Gründlichkeit besehen hat und überhaupt mit mehr innerem Behagen gereist ist als heute, wo wir Hunderte von Meilen ohne Aufenthalt in fliegender Hast zurücklegen, um nur an ein bestimmtes Ziel zu gelangen; aber wie verschwindend klein war bis gegen die Mitte dieses Jahrhunderts die Minderheit, der bei dem damals noch erforderlichen Aufwand von Zeit und Geld es überhaupt vergönnt war, ferne Länder zu sehen, während heute die Möglichkeit des Reisens mehr und mehr Gemeingut wird

179 Vgl. Kludas, Schiffahrt, Bd. 3, S. 234f. Dennoch darf man sich die Zustände bei der Überfahrt im Zwischendeck keineswegs komfortabel vorstellen. Vgl. dazu die aus eigenem Erleben kritische Schilderung bei Kurt Aram: Mit 100 Mark nach Amerika. Berlin 1912, S. 9-29. 180 Vgl. Portes, Une fascination, S. 30 bzw. die Angaben im Baedeker von 1893, S. XIXff und 1904, S. XXIff. Im Winter dauerten Überahrten allerdings witterungsbedingt oft länger; vgl. dazu Paul Lindau: Altes und Neues aus der Neuen Welt. Eine Reise durch die Vereinigten Staaten und Mexico. 3 Bde. Berlin 1893, Bd. 1, S. 1-14. 181 Vgl. dazu Brinnin, Grand Saloon, S. 366ff. 182 Julius Pieck: Von Hamburg nach San Francisco. Eine sechswöchentliche Urlaubsreise. Berlin 1892, S. 9f. Vgl. dazu auch Portes, Une fascination, S. 30ff. Das neue Reisetempo schlug sich auch in einigen Titeln nieder, so z. B. Walter Mancke: Im Fluge durch Nordamerika. Berlin 1893.

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Auffallend ist, wie deutlich der Unterschied zum Reisen um 1800 empfunden, wie stark zumindest indirekt die geschilderte Veränderung der Wahrnehmung wie auch die Expansion des Tourismus reflektiert wurde. Andererseits zeigt sich gerade darin die Befangenheit des „bürgerlichen Blicks", daß er von „Gemeingut" spricht, wo einer Amerikareise vor allem aus heutiger Sicht eine ähnliche Exklusivität anhaftete, wie sie dem Autor für die Zeit um 1800 erschien. Wie sehr Amerikareisen um 1900 ein Luxus waren, geht aus den Kosten der Überfahrt und des Reisens in den Zügen in den USA hervor. Die Überfahrtskosten variierten je nach Saison: die Winterfahrten waren erheblich billiger; ebenso machte die Reise mit einem Post- oder aber einem Schnelldampfer einen erheblichen finanziellen Unterschied aus. So kostete ζ. B. 1904 eine einfache Fahrt von Europa nach New York in der 1.Klasse zwischen 240-300 Mark (Postdampfer im Winter) und 300-380 Mark (Postdampfer im Sommer), steigerbar bis zu 380-440 Mark (Schnelldampfer im Sommer). Die 2.Klasse lag etwas darunter; sehr viel günstiger waren naturgemäß die 3.Klasse und das Zwischendeck; sie bewegten sich in der Regel zwischen 130 und 180 Mark. 183 Da die Mehrzahl der touristisch Reisenden im Frühjahr bis Herbst unterwegs war und Winterfahrten nur bei Berufs- und Kongreßreisen unternommen wurden, kann man die höchste Preiskategorie zugrundelegen, wobei es interessant ist, daß die Preise zwischen 1900 und 1914 relativ konstant blieben und nur beim kurzfristigen Konjunktureinbruch 1907/08 etwas fielen, danach aber durch die entsprechende Nachfrage sofort wieder deutlich anstiegen. Die Reisekosten in den USA selbst wurden vom Baedeker relativ hoch veranschlagt: Hotels und Eisenbahnen waren demnach im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa deutlich teurer, bedingt nicht zuletzt durch die ungeheuren Entfernungen. Im billigsten Fall - reiste man also in der einfachsten Zugklasse und stieg in Boarding-Houses ab - errechnete der Baedeker von 1893 fünf bis siebeneinhalb Dollar am Tag Reisekosten, was bei einem Kurs von eins zu vier rund zwanzig bis dreißig Mark entsprach. Für die durchschnittlichen bis gehobenen Reiseansprüche mußte man jedoch mit mindestens zehn Dollar am Tag, also rund 40 Mark rechnen. Die Gesamtkosten einer sechswöchigen Amerikareise beliefen sich demnach im Durchschnitt auf 2500-3000 Mark. 184 Die Exklusivität einer solchen Reise wird jedoch erst deutlich, wenn man sich die Einkommens- und Lohnstruktur im Kaiserreich kurz vor Augen hält. Danach verdienten 1912 rund 98 % aller Besteuerten im Deutschen Reich unter 3000 Mark im Jahr trotz stetig wachsender Reallöhne und Einkommen, die sich zwischen 1890 und 1913 mehr als verdoppelt hatten.185 Diese Exklusivität tritt eindrucksvoll vor Augen, wenn man sich zugleich die durchschnittliche Dauer der Amerikareisen vor Augen hält. Soweit Angaben dazu ermittelbar waren, zeigt sich, daß die Mehrzahl der Reisenden keineswegs mit sechs Wochen Reisezeit

183 Vgl. Kludas, Schiffahrt, Bd. 3, S. 23lf. 184 Vgl. USA-Baedeker von 1893, S. XVIIff und ähnliche Angaben 1904, S. XVIIIff. Vgl. auch Wolzogen, Dichter, S. 234ff. 185 Hierzu W.Fischer: Deutschland 1850-1914. In. Ders. u.a. (Hg.): Handbuch der europäischen Wirt schafts- und Sozialgeschichte. Bd. 5. Stuttgart 1985, S. 387. Der durchschnittliche Arbeitsverdienst eines Arbeitnehmers wird hier für 1912 mit 1000 Mark im Jahr angegeben.

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auskam. Die Reisedauer bewegte sich in den meisten Fällen zwischen zwei und vier Monaten, zumal dann, wenn die USA von Küste zu Küste bereist wurden. Lediglich Reisende mit konkreten Zielen wie etwa der Chicagoer Weltausstellung oder aber Weltreisende, die die USA nur durchfuhren, um nach Asien zu gelangen bzw. von dort zurückkehrten, verbrachten eine kürzere Zeit in den USA, die allerdings zwei bis drei Wochen nicht unterschritt; in den meisten Fällen wurden jedoch auch Aufenthalte bei den Weltausstellungen dazu genutzt, längere Rundreisen zumindest durch die benachbarten Staaten zu unternehmen. Wer sich eine Reise nach Amerika generell leisten konnte, wollte dann in den meisten Fällen auch mehr von dem riesigen Kontinent sehen, zumal wenn er darüber in generalisierender Weise zu schreiben gedachte. Daher wurde die Reisedauer sogar gelegentlich direkt im Titel angegeben, um anzudeuten, daß es sich nicht nur um flüchtige Reisenotizen, sondern um einen auch zeitlich vertieften Einblick handelte.186 Eine ganze Reihe von Berichten basierte daneben auf längeren Reisen bzw. auf mehreren USA-Reisen, zumal wenn es sich - etwa bei Journalisten oder Akademikern - um berufliche Aufenthalte handelte, die zum Teil sogar über ein Jahr oder länger dauerten, beispielsweise im Rahmen erster Austauschbeziehungen zwischen deutschen bzw. preußischen und amerikanischen Universitäten kurz vor dem Ersten Weltkrieg (wie im Fall des Austauschprofessors Hugo Münsterberg).187 Allerdings kann hier kaum noch von „Reisen" im engeren Begriff gesprochen werden, zumal diese Aufenthalte in der Mehrzahl dann nicht mehr als Reisebericht, sondern als Studie dokumentiert wurden. Jacques Portes hat für die französischen Reisenden zwischen 1870 und 1914 ebenfalls einen Schnitt von zwei bis drei Monaten Reisezeit errechnet, wobei sich die Reisezeit insgesamt ab 1890 etwas verkürzte, was auf die schon angedeuteten technischen Verbesserungen der Verkehrsmittel am Ende des Jahrhunderts zurückzuführen sein dürfte. Insofern waren auch hier die deutschen Reisenden keine Ausnahme, und der Rückgriff auf die britischen Reisenden zeigt, daß auch im Hinblick auf die Reisedauer ein „europäisches Muster" sichtbar wird.188 Welche Staaten und Städte wurden in diesen wenigen Monaten in den USA vor allem besucht? Kristallisieren sich - etwa analog zum oben skizzierten klassischen Kanon der „Grand Tour" in Europa - spezifische Routen durch die Vereinigten Staaten heraus? Es zeigt sich, daß es tatsächlich so etwas wie eine „Grand Tour" durch die Staaten gab, wobei die Routen in den meisten Fällen einerseits von den Reiseführern, vor allem aber von den Eisenbahnstrecken vorgegeben wurden. Die Eisenbahn war neben der Stadtbahn in den Städten um die Jahrhundertwende in den USA das Verkehrsmittel schlechthin; sie hatte weitgehend die Kutsche abgelöst und mußte noch nicht die Konkurrenz des Autos oder des Autobusses auf sich nehmen. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg benutzten auch europäische Reisende

186 Vgl. dazu ζ. B. Christian Jensen: Eine viermonatliche Reise nach Amerika. Brecklum 1895 oder der anonym erschienene Bericht eines Oberst von John: 3 Monate in Amerika. Plaudereien über eine Reise in die Vereinigten Staaten von einem deutschen Offizier. Berlin 1891. 187 Vgl. dazu ausführlich B. vom Brocke: Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 31, 1981, S. 128-182. 188 Vgl. Portes, Une fascination, S. 34f sowie Rapson, Britons, S. 25ff.

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in Amerika schon das Auto für Touren innerhalb eines begrenzten Gebietes, wobei es sich meist um eingeladene Berufsgruppen handelte, die von ihren amerikanischen Gastgebern zu den entsprechenden Institutionen oder Sehenswürdigkeiten chauffiert wurden.189 Das Auto war in Europa, aber auch in den USA um 1900 trotz der rapide expandierenden Industrie noch ein Luxusobjekt, das allerdings durch die Innovationen der Fließbandproduktion in der Automobilindustrie eines Henry Ford in Amerika sehr viel schneller in der gesamten Gesellschaft Verbreitung fand als in Europa. Im Vergleich zu Europa konstatierte dementsprechend ein deutscher Beobachter 1912: „Verblüffender als diese in einigen Äußerlichkeiten geschilderten Verkehrseinrichtungen der Eisenbahn wirkt auf den Fremden die Ausdehnung des Automobilwesens. Bei uns ist der Kraftwagen noch das Fahrzeug der Wohlhabenden (...). In Amerika wird das Automobil mehr und mehr Allgemeingut. Es ist keine Übertreibung, daß ich in Detroit wenige, in Chicago überhaupt kaum Pferde gesehen habe. Die Zahl der Motorwagen beträgt dafür im letzteren Ort über 50.000 Wagen (...). Einen wesentlichen Anteil an der Popularisierung dieses modernsten Gefährts hat die Massen-Fabrikation, die in ihrem Hauptsitze, Detroit, die Blüte dieser Stadt herbeigeführt hat." 190

Diese Wahrnehmung wird durch die Wachstumsraten der Automobilproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts bestätigt: So gab es 1900 nur rund 8000 registrierte private Automobile in den USA; 1910 waren es bereits 458.000, 1920 dann schon ca. 8 Millionen und 1930 23 Millionen! 191 Der Ausbau der Straßen und der notwendigen Logistik (Tankstellen, Restaurants etc.) erfolgte in großem Maßstab auch in Amerika erst nach dem Ersten Weltkrieg und auch hier vor allem in den dicht besiedelten und hochgradig urbanisierten Gebieten der Ostküste und des mittleren Westens, weniger jedoch im rückständigen Süden oder im vielfach noch kaum erschlossenen Westen der USA. Diese Verkehrsverteilung entsprach auch den Eisenbahnrouten vor dem Ersten Weltkrieg, deren Netz im Osten und mittleren Westen weitaus dichter war als im Süden oder Westen. Es nimmt insofern nicht wunder, daß die meisten Reisenden abgesehen von der räumlichen Nähe zu Europa vor allem die Ostküste und die Regionen des mittleren Westens besuchten und sich hier besonders auf die Städte konzentrierten. Für diese Konzentration auf den

189 Vgl. dazu die Berichte von Rassow (Hg.), Reiseskizzen und Ernst Klien: Amerikafahrt der deutschen Teilnehmer am Bostoner internationalen Handelskongreß. September - Oktober 1912. Berlin 1914. Daneben wurde das Auto auch schon privat zu Ausflügen genutzt. Vgl. dazu den Bericht der Untemehmergattin Aennie Norda, Augenblicksbilder, S. 85ff u. 114ff. Der erste deutsche Reisebericht, dem eine dreimonatige Autoreise durch Europa zugrundelag, war Otto Julius Bierbaums „Eine empfindsame Reise im Automobil" von 1903, der die langsamere Form der Autoreise interessanterweise in Analogie zur Kutschfahrt und gegen das Tempo der Eisenbahn emphatisch feierte als Rückkehr zu alten Reiseund damit Wahrnehmungsformen. Vgl. dazu Reif, Exotismus, S. 4 3 4 ^ 4 2 . 190 Otto Münsterberg: Amerikanische Eindrücke. Danzig 1912, S. 38f. 191 Vgl. dazu Jakle, Tourist, S. 101-119. 1910 kostete demnach eine Auto noch einige tausend Dollar, ein Arbeiter verdiente im Jahr durchschnittlich jedoch nur 574 Dollar. Zum Vergleich der USA mit Europa siehe R. Braunschweig: Der Wandel der öffentlichen Meinung über motorisierte Fahrzeuge. In: H. Pohl (Hg.): Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986. Wiesbaden 1988 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 52), S. 79-83 und P. Borscheid: Auto und Massenmobilität. In: Ebda, S. 117-141, der die breite Motorisierung in Deutschland erst mit dem Boom der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ansetzt.

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(Nord-)Osten und mittleren Westen gibt es aber noch weitere Gründe: Bis auf wenige Ausnahmen kamen alle Reisenden in New York an, so daß bei beschränkter Reisezeit nur der Osten oder/und mittlere Westen erreichbar blieben; zudem bildeten, wie oben schon angedeutet, die Weltausstellungen in Chicago und St. Louis einen Hauptanziehungspunkt, so daß es nicht verwundert, wenn sich die meisten Reisenden in diesen Regionen bewegten. Ferner fällt auf, daß die Reiseführer neben einigen Naturwundern wie den Niagara-Fällen oder den Nationalparks im Westen vor allem die Großstädte und ihre Umgebung an der Ostküste bzw. in Neuengland und im mittleren Westen beschrieben und als sehenswert empfahlen; so werden im Baedeker von 1893 von den rund 440 Seiten ca. 300 Seiten auf Empfehlungen und Routenvorschläge für Neuengland, die Ostküste und den mittleren Westen (bis Chicago und St. Louis) verwandt, während die Westküste nur auf rund 100, die Südstaaten gar nur auf 40 Seiten Erwähnung finden.192 Abgesehen von New York, das praktisch alle Reisenden als Eingangs- oder/und Ausgangshafen besuchten, waren die Spitzenreiter Chicago193 sowie Buffalo mit den NiagaraFällen - Indiz für die skizzierte Dialektik einer Reise in die Moderne, die zugleich die Flucht davor enthält und spiegelt; es ist jedoch eine Flucht, die gerade in den USA nicht wirklich gelingt: So boten die Niagara-Fälle nicht selten die Enttäuschung totaler touristischer Erschließung sowie technischer Kraftwerksnutzung, und auch die grandiosen Landschaften des Westens wie der Yellowstone-Park oder das Yosemite-Valley in Kalifornien erwiesen sich durch ihre Parkstruktur mit Hotels und Führung als touristisch bereits weitgehend erschlossen - diese im Sinne der Enzensbergerschen Dialektik gemachte touristische Naturerfahrung soll im folgenden noch näher untersucht werden. Neben Chicago und seinen umgebenden Staaten wie Ohio, Indiana, Michigan und Illinois stand durch die Weltausstellung von 1904 St. Louis und Umgebung im Mittelpunkt der deutschen Aufmerksamkeit, gefolgt von der Hauptstadt Washington sowie den größeren Städten des Nordostens wie Boston, Philadelphia, Baltimore, Pittsburgh und Detroit. Die Reisenden, die an die Westküste weiterfuhren (etwa ein Drittel), taten dies vor allem von St. Louis aus über Kansas City, Denver, Colorado Springs und Salt Lake City mit seiner Attraktion als Mormonenstadt, um schließlich San Francisco zu erreichen, das den Besucherrekord aller an die Westküste Reisenden hielt und nicht nur als Stadt (auch durch das Erdbeben von 1906!), sondern auch durch die Umgebung des Yosemite-Tales besonders attraktiv war. Ungefähr gleich (bei etwa einem Fünftel der Reisen) verteilte sich die Strecke zurück zur Ostküste auf eine nördliche Route über Portland und Seattle entweder durch Kanada oder die nördlichen Staaten des Westens (die allerdings reine „Durchfahrtstaaten" blieben und kaum eingehender besucht wurden) zurück nach Chicago oder auf eine südliche Strecke über Los Angeles zum Grand Canyon, durch New Mexico und Texas zurück nach St. Louis und Chicago bzw. New York. Auffallend ist dabei, daß die Südstaaten bis auf das „exotische" New Orleans, das von

192 Vgl. USA-Baedeker von 1893, S. VII-XV. Ein ähnliches Verhältnis ergibt sich auch für die Ausgabe von 1904, vgl. S. VII-XV. Diese Reiseschwerpunkte gelten auch für die Zeit von 1865 bis 1890, was die Kontinuität dieser Routen deutlich macht. Vgl. dazu Lange, Wirtschaft, S. XXXVII-XLII. 193 So beschäftigte sich z. B. ein Reisebericht ausschließlich mit Chicago. Vgl. Ernst von Hesse-Wartegg: Chicago. Eine Weltstadt im amerikanischen Westen. Stuttgart u. a. 1893.

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einigen Reisenden auf der Südroute noch aufgesucht wurde, fast völlig ignoriert wurden, da sie durch die Niederlage im Bürgerkrieg als rückständig galten und nicht dem Bild von Amerika als Modelland der ökonomischen wie gesellschaftlichen Modernisierung entsprachen. 194 Vergleicht man diese Schwerpunkte mit den französischen, britischen oder italienischen Reisenden, so fällt erneut auf, daß hier ein europäisches Muster vorliegt, 195 das nur in Details abwich; so ergibt sich im Vergleich bei den deutschen Reisenden eine Vorliebe für die stark von Deutschen besiedelten Staaten im Norden des mittleren Westens (vor allem Wisconsin), während die Franzosen eher den Süden - also das ehemals französische Louisiana - bevorzugten, doch dies waren insgesamt nur leichte Abweichungen von einem ansonsten sehr homogenen europäischen Muster. Anhand dieses Musters wird auch die oben skizzierte wachsende Normierung des Reisens durch Reiseführer und organisierten Tourismus deutlich; die Vorgaben des Baedekers (der bereits 1894 ins Französische übersetzt wurde) zeigen so eine weitgehende Übereinstimmung mit den tatsächlichen Reiseverläufen. Es bleibt damit die Frage, ob sich diese Normierung auch in den Reiseerfahrungen und -Wahrnehmungen konkret niederschlug. Dabei wird sichtbar, daß die Organisation der Reise in den USA um die Jahrhundertwende noch keineswegs so problemlos war, wie es aus heutiger Sicht im Zeitalter des Pauschaltourismus wirken mag. Der an einheitliche staatliche Organisation gewöhnte Europäer hatte in den USA eine Fülle von Problemen mit den zahlreichen Privatbahnen zu lösen, zumal die Mehrzahl der Reisenden auf eigene Faust fuhr und die anfallenden Organisationsprobleme selbst zu bewältigen hatte. Der bekannte deutsche Gewerkschaftsführer Carl Legien beschrieb die Organisationsprobleme seiner Agitationsreise von April bis Juli 1912 anschaulich: .Abgesehen von solchen kleinen Unannehmlichkeiten (dem Ausschankverbot von Alkohol in Prohibitionsstaaten, A. S.) reist es sich auf den amerikanischen Bahnen recht gut. Nur die Orientierung über die Zugverbindung ist recht schwierig. An der Hand des Reichskursbuches kann man in Deutschland in wenigen Minuten nicht nur die Verbindung auf deutschen, sondern auch auf ausländischen europäischen Bahnen zuverlässig feststellen. Deswegen war ich einigermaßen überrascht, als ich in New York hörte, daß man einem Agenten die Zusammenstellung meiner Reisetour übertragen wolle (...). Noch überraschter war ich, als der Agent erklärte, daß bei der Dauer und Kompliziertheit der Reise die Zusammenstellung wenn auch nicht unmöglich, so doch äußerst schwierig sei. Klar wurde mir die Sache allerdings, als ich von Denver ab die Tour bis zur Westküste und von da mit verschiedenen Umwegen nach New York zurück selbst zusammenstellen mußte (...). Schon als Genosse Baumeister auf dem Bahnhof in St. Louis das Kursbuch brachte, das er für 1 Dollar erworben hatte, bekam ich einen Schreck, der sich in gelindes Grauen verwandelte, als ich

194 So befaßte sich nur ein Reisebericht explizit bzw. ausschließlich mit den Südstaaten. Vgl. Max Schüller: In den Südstaaten Nordamerikas. Berlin 1893, bes. S. 5f, wo die „klassische" Vernachlässigung des Südens thematisiert wird. Vgl. zur industriellen Rückständigkeit des Südens im Vergleich zum Nordosten bzw. zum expandierenden Westen auch J. R. Killick: Die industrielle Revolution in den Vereinigten Staaten. In: W. P. Adams u. a. (Hg.): Die Vereinigten Staaten von Amerika. Frankfurt/M. 1977, S. 133-153. 195 Vgl. Portes, Une fascination, S. 57-60 sowie Rapson, Britons, S. 28-40 und Reiske, Berichte italienischer Reisender, S. 135ff. Dieses Muster blieb offensichtlich in seinen Schwerpunkten auch nach dem Ersten Weltkrieg aktuell. Vgl. dazu für Frankreich Fournier-Galloux, Voyageurs français, S. 161-169.

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die ersten Orientierungsversuche in dem Buche machte. Es werden darin zunächst rund 1560 Eisenbahngesellschaften aufgeführt." 196

Auch wenn im Rahmen dieser Reise zum Teil recht abgelegene Orte aufgesucht wurden, was die Problematik der Organisation etwas erklärt, so ist doch der Gesamteindruck der Kompliziertheit selbst für professionelle Reiseplaner auffällig. Wenn man sich zudem vor Augen hält, daß die meisten Reisenden im Fall von Berufsreisen allein reisten - sofern sie nicht Teilnehmer an einer branchenspezifischen organisierten Gruppenreise waren - oder aber bei touristischen Reisen zu zweit (zumeist mit einem Freund oder der Ehefrau) unterwegs waren, werden die Organisationsschwierigkeiten verständlich, zumal wenn man die oft nur mangelhaften oder gar ganz fehlenden Englischkenntnisse der Reisenden in Rechnung stellt. Allerdings gab es auch in den USA schon erste Anfänge des organisierten Reisens über Pauschalangebote der schon erwähnten Reisebüros Cook bzw. Stangen oder aber amerikanischer Anbieter; 197 sie waren aber bei weitem nicht so detailliert wie in Europa und enthielten in erster Linie Zusammenstellungen von Bahnanschlüssen mit entsprechenden Tickets, Hotelcoupons und Buchungen lokaler Ausflüge wie etwa zu den Niagara-Fällen oder auf dem Hudson River, kaum aber vollständig durchorganisierte Rundreisen wie in Europa. 198 So schwierig sich die Organisation gelegentlich gestaltete, so positiv wurde insgesamt das Bahnfahren in Amerika bewertet, besonders wenn es sich um die Sonderwagen der „pullman cars" oder „parlor cars" handelte, deren Komfort als mit europäischen Verhältnissen kaum vergleichbar empfunden wurde. Andererseits stellten diese Sonderformen die Einheitlichkeit der Wagenklasse, die als Indiz der allbeherrschenden Idee gesellschaftlicher Gleichheit in den USA aufgefaßt wurde, in Frage, was manchem Autor als Zeichen für die wachsende Hierarchisierung der amerikanischen Gesellschaft erschien. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, daß die Art des Reisens in der Eisenbahn bereits Anlaß zu Beobachtungen und Spekulationen über die amerikanische Gesellschaft gab, worauf im folgenden zurückzukommen sein wird. Charakteristisch für diesen Zusammenhang sei hier nur die Beobachtung des Sprachwissenschaftlers Adolf Rambeau zitiert, der 1912 schrieb: „Auf der eisenbahn gibt es für alle reisenden nur eine klasse; jeder wagen bildet ein sehr lang gestrecktes, geräumiges und durch keine abteilungen getrenntes zimmer und ist mindestens in fernzügen in jeder hinsieht vorzüglich ausgestattet. Die reisenden arbeiter, die übrigens besser und sauberer gekleidet sind, als ihre genossen in Europa, wenn sie zur arbeit gehen oder davon zurückkehren, ziehen sich gern in den rauchwagen zurück, der in jedem zuge vorhanden ist ( . . . ) . Auch die Schlafwagen sind für alle reisenden dieselben. Eine Ausnahme von der allgemeinen gleichheit im reisen bildet der Salonwagen (Pullman car), wo man noch mehr

196 Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 8f. Vgl. dazu auch u. a. H. Paasche: Kultur- und Reiseskizzen aus Nord- und Mittelamerika. Magdeburg 1894, S. 158ff sowie die ausführlichen Angaben im Baedeker von 1893, S. XXIIff bzw. von 1904, S. XXVff. 197 Vgl. dazu die Angaben im Baedeker von 1893, S. XX bzw. von 1904, S. XXXIV. 198 Als Beispiel einer in einem Reisebericht angeführten Reiseplanung über Reisebüros vgl. Richard Heymann: USA. Persönliche Erlebnisse und unpersönliche Betrachtungen. Amerikanische Reisebeschreibung. Wüstegiersdorf 1903, S. lf. Vgl. zur Attraktivität der Naturwunder für organisierte Rundreisen auch Jakle, Tourist, S. 53-83, bes. 67ff.

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komfort als in den gewöhnlichen wagen des fernverkehrs findet und sich einen platz für eine keineswegs hohe zuschlagssumme verschafft." 199

Die Beobachtung eines höheren Lebensstandards amerikanischer Arbeiter im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen wird uns im folgenden noch öfter begegnen. Auffallend ist hier vor allem, daß durch die schiere Präsenz von Arbeitern in Zügen, deren Benutzung zumindest zu Reisezwecken in Europa ein weitgehend bürgerliches Privileg bis dato geblieben war, dem deutschen Leser der Eindruck sozialer Gleichheit vermittelt wurde. Dieser schichtenspezifischen Gleichheit entsprach auch eine geschlechterspezifische, die in der für europäische Reisende nicht selten schockierenden Tatsache bestand, daß in den Schlafwagen keine rigide Geschlechtertrennung herrschte - ein Umstand, der im Rahmen der zentral diskutierten unterschiedlichen Geschlechterrollen einen wichtigen Platz einnahm, was noch ausführlich zu illustrieren sein wird. 200 Das Phänomen vermeintlicher oder realer gesellschaftlicher Gleichheit zeigte sich, wie die Beobachtung Rambeaus deutlich macht, aber auch schon rein räumlich im Fehlen der europäischen Abteile zugunsten des einheitlichen Großraumwagens. Auch wenn die Reisenden kaum die Ursprünge dieses Unterschieds - das Vorbild des Dampfschiffs in den USA im Gegensatz zur Kutsche in Europa 201 - erfaßten, so fiel er doch hinreichend auf und wurde entsprechend gedeutet. Vor allem aber wurde durchaus wahrgenommen, daß die amerikanischen Bahnen eine andere Funktion als die europäischen im Gesamtleben der Gesellschaft einnahmen. Bauten die europäischen Bahnen weitgehend auf bestehenden Infrastrukturen auf, so kam den amerikanischen Bahnen die Funktion der verkehrstechnischen wie allgemein zivilisatorischen Erschließung des riesigen Kontinents zu. So vermerkte ein Reisender 1897: „Die .Eisenbahn' hat wohl nirgends auf der Welt eine so hervorragende Bedeutung wie hier in Nordamerika. Beinahe allüberall in der alten Welt haben die eisernen Bahnen Verkehr und Handel neu belebt und erleichtert, während sie hier in dieser neuen Welt fast die einzigen möglichen Straßen des Verkehrs in umermeßliche Fernen sind und zusammen jenes großartige Nervensystem des Landes bilden, das nur durch sie eines so regen Wechselverkehrs aller seiner Völkerteile sich erfreut. Die amerikanische Cultur ist ohne Eisenbahn gar nicht denkbar." 202

Schivelbusch hat in diesem Zusammenhang daraufhingewiesen, wie stark die amerikanische Geschichte und Identität durch Industrie und Mechanisierung positiv geprägt wurde im Gegensatz zu Europa, wo Industrie und Mechanisierung immer wieder auch als zerstörende

199 Adolf Rambeau: Aus und über Amerika. Studien über die Kultur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Marburg 1912, S. 107. (Kleinschreibung im Original). Vgl. auch Gustav Müller: Aus amerikanischem Leben. Leipzig 1894, S. 82 und Paasche, Kultur- und Reiseskizzen, S. 148f. 200 Dazu bemerkte ein Reisender 1893 stellvertretend: „Im Pullmann werden die Plätze der Reihenfolge nach Begehr verkauft. Es gibt keine Damenabteilung, und da hat sich denn eine Harmlosigkeit von Schlafengehen und Aufstehen ausgebildet, die jede Dame der alten Welt in die größte Verlegenheit stürzen würde. Diese Biwak-Zustände sind hier aber so landesüblich, daß Niemand (sie) darüber nachdenkt, ob das auch anders sein könnte." Vgl. Korff's Weltreise: Bd. 1 Amerika, Berlin (1893), S. 130. Vgl. auch u. a. Fulda, Eindrücke, S. 75ff. 201 Vgl. Schivelbusch, Eisenbahn, S. 84-105. 202 Otto Zardetti: Westlich! Durch den fernen Westen Nord-Amerikas. Mainz 1897, S. 28f.

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Kräfte empfunden und entsprechend bekämpft wurden; insofern also die amerikanische Geschichte von Anfang an Industriegeschichte war, verkoppelten sich anders als in Europa nationale Identität und Mechanisierung in den USA unmittelbar miteinander - im Kapitel über Arbeit und Wirtschaft wird dabei deutlich werden, daß auch die reisenden Europäer diesen Zusammenhang zumindest indirekt registrierten und als wesentlichen Unterschied zu Europa verbuchten.203 Ein anderer Aspekt der rapiden Erschließung des amerikanischen Kontinents lag allerdings darin, daß die Sicherheitsstandards im Vergleich zu Europa erheblich niedriger lagen und damit bei den Reisenden die oben angedeutete „Pathologie der Eisenbahnreise", die Angst vor dem Unfall (oder - besonders im Westen der USA - auch dem Überfall) fast so akut werden ließ wie in der ersten Jahrhunderthälfte in Europa. 204 Dies wurde sogar im Baedeker ausdrücklich formuliert und fand ein breites Echo in den Berichten. So hieß es vergleichend und zugleich warnend in der Ausgabe von 1904: „Die Sicherheit ist auf deutschen Eisenbahnen ungefähr dreimal so groß als in Amerika, da die Schienenwege infolge des unzureichenden Beamten- und Arbeiterpersonals schlecht bewacht werden und die Niveaukreuzungen bis jetzt nur an wenigen besonders verkehrreichen Stellen beseitigt sind. Auch auf den Bahnhöfen fehlt es fast durchweg an Unter- oder Überführungen. ( . . . ) Man ist Uberall auf sich selbst angewiesen, auf irgendwelche Fürsorge darf man nicht rechnen, kaum daß die Beamten Auskunft erteilen." 2 0 5

Dazu kam, daß besonders im Westen der USA die Züge oft nur langsam vorankamen bzw. immense Verspätungen aufwiesen - die Reise nach Westen geriet so zur Reise aus der Moderne und in die „Wildnis". Kontrastiv ließen sich dabei zugleich deutsche Werte wie vorbildliche Pünktlichkeit und Sicherheit gegenüberstellen, die eigene Modernisierungsvorsprünge scheinbar offenbarten. 206 Dennoch wurde die Wildnis des Westens vom Eisenbahnfenster aus kaum als solche wahrgenommen; gerade in diesem Kontext läßt sich anschaulich zeigen, wie sehr die Reiseberichte den oben skizzierten Wahrnehmungsverlust durch das „industrialisierte" Reisen widerspiegeln: „Von den lebendigen Bewohnern der Prairien habe ich bis anhin noch wenig gesehen. Ein Adler mit weitausgebreiteten Fittichen, aber ob seines Fluges Höhe kaum sichtbar, schien uns erinnern zu wollen, daß wir in Amerika sind ( . . . ) ; eine Schaar von Antilopen soll in weiter Ferne sichtbar gewesen sein, aber wie ich sie erspähen wollte, waren sie schon verschwunden ( . . . ) . Sausend ging es durch Landstriche, die bis in die 207 neueste Zeit im vollen Sinn des Wortes noch .Terra Incognita' gewesen."

203 Vgl. Schivelbusch, Eisenbahn, S. 84-105. 204 Vgl. ebda., S. 106-120. Vgl. dazu beispielhaft Johannes Hoffmann: Amerikanische Bilder. Eindrücke eines Deutschen in Nord-Amerika. Berlin 1893, S. 15f oder von John, Plaudereien. 205 USA-Baedeker, 1904, S. XXVI. 206 Vgl. u. a. Fulda, Eindrücke, S. 81ff bzw. Korff's Weltreise, Bd. 1, S. 260ff und Lamprecht, Americana, S. 148ff. 207 Zardetti, Westlich!, S. 32f. Mit diesem Wahrnehmungsverlust ging auch einher, daß als Ersatz die zurückgelegte Kilometerstrecke beeindrucken sollte. Vgl. dazu ζ. B. Johannes Heckmann: In NordAmerika und Asien 1902/03. Reiseeindrücke. Berlin-Schöneberg o.J., S. 41, der voll Stolz berichtet, in 70 Tagen 16 000 Kilometer zurückgelegt zu haben.

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Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Reisens im 19. Jahrhundert

Parallel dazu läßt sich eine „Flucht" in Assoziationen aus dem klassischen Bildungsgut feststellen, um Eindrücke der Natur oder selbst der Industrie einordnen zu können. Die Kenntnis bedeutender Kunstwerke schiebt sich dem „Bildungsbürger" sozusagen vor die unmittelbare Wahrnehmung. Gerade weil diese immer weniger möglich wird, muß sie „ästhetisch" werden und auf künstlerische Ausdrucksformen rekurrieren, die noch ihrer Existenz entsprangen. Beispielhaft zeigt sich dies an einem Ausschnitt zur Ozeanüberfahrt aus dem Reisebericht des damals bekannten Kulturhistorikers Karl Lamprecht, der sich dieses Verlustes an direkter Wahrnehmung durchaus bewußt wurde, als er 1906 notierte: „Die großen Dampfer nehmen dem Fahrgast das unmittelbare Verhältnis zum Meer: entfernen ihn von der Natur, je mehr sie Naturkräfte einspannen. ( . . . ) Die Poesie des großen Meeres (Ozeans) ist von der Dichtung noch nicht ergriffen (...): so wenig wie die Poesie der höheren Gebirge, ehe sie leicht gangbar waren (...): die Gefahr muß aufhören, ehe die Betrachtung beginnt. Am meisten noch in der Musik erreicht: Schubert (,Ans Meer'), Wagner (.Fliegender Holländer'), auch Weber (.Oberon'). Daneben käme die Malerei in Betracht: Courbets .Große Welle', Edward Morans .Highway of the nations'."

ΛΛΟ

Daß dies kein spezifisch deutsches, sondern ein Element bürgerlicher Wahrnehmung im europäischen Rahmen war, macht der Blick auf die Erfahrungen und Sichtweisen der französischen Reisenden sichtbar; der Wahrnehmungsverlust wie auch die Haupteindrücke der Eisenbahnreisenden in den USA - die Faszination der „uneuropäischen" Großraumwagen bei gleichzeitigem Gefühl geringerer Sicherheitsstandards, die nur durch die Luxuswaggons durchbrochene soziale Gleichheit der Reisenden (die nicht wie in Europa nur privilegierten Schichten angehörten), der „Schock" über die Geschlechtermischung in den Schlafwagen scheinen ein allgemein europäisches Wahrnehmungsmuster zu bilden,209 dem zum einen die geschilderten unterschiedlichen Reiseformen, zum anderen aber vor allem die Erfahrung schärferer sozialer Trennlinien in Europa zugrundelagen, was ausführlicher Gegenstand der folgenden Kapitel sein soll. War die Zugreise zumindest im Westen wenigstens noch von einem Hauch von „Romantik und Abenteuer" umgeben, so boten die Hotels in den amerikanischen Großstädten die Kontrasterfahrung extremer Modernität, deren Dimensionen sich in Europa nichts an die Seite stellen ließ. Der technische Komfort der amerikanischen Großhotels (die um 1900 erstmals 500 und mehr Zimmer erreichten) in Gestalt von Zentralheizung, Aufzügen mit für damalige Begriffe rasantem Tempo, Elektrizität sowie nach 1900 einem Telefonanschluß in allen Zimmern löste bei den europäischen Reisenden immer wieder Erstaunen und lange bewundernde Kommentare aus - vor allem im Hotel ließen sich so für den Durchschnittsreisenden die technischen Fortschritte der Moderne in Amerika unmittelbar erleben. So schrieb der Schriftsteller Ludwig Fulda zu Beginn des Jahrhunderts am Beispiel des Waldorf-Astoria in New York über diese „Schlösser des Großbürgertums" (Enzensberger):

208 Lamprecht, Americana, S. 11. Vgl. dazu auch u. a. A. Norda, Augenblicksbilder, S. 39f bzw. 51f, wo der Besuch eines Schmelzwerkes ästhetisch überhöht wird und zum Vergleich mit Adolf Menzels berühmten Bild des „Eisenwalzwerks" anregt. 209 Vgl. dazu Portes, Une fascination, S. 37—41.

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Einleitung

„Nur ein Land von so hoch entwickelter Reisekultur konnte ein Gasthofwesen ausbilden, dessen Durchschnittsleistungen man erst wahrhaft schätzen lernt, wenn man von seinen glänzenden Schaustücken nicht mehr geblendet wird. Denn der erste Eindruck amerikanischer Hotels ist Verblüffung über ihre Dimensionen und den Prunk ihrer Ausstattung. Eine weite marmorprangende Halle empfangt den Eintretenden; daran schließen sich, oft mit einem Wintergarten vereint, unabsehbare Restaurationsräume ( . . . ) Mehrere Fahrstühle vermitteln in stetigem Auf und Nieder den Verkehr zwischen den zahlreichen Stockwerken. Sie führen bis zu dem flachen Dach empor, auf dem als lockender Sommeraufenthalt ein künstlicher Garten sich ausdehnt. Aber auch unter der Erde liegt noch eine Welt; da findet man ein billigeres Bierrestaurant (...), Billardsäle, Waschräume ( . . . ) und luftige Lokalitäten für den Großbetrieb einer Legion von Barbieren. Noch ein Stockwerk tiefer breitet sich das Reich der Wirtschaftsräumlichkeiten und der technischen Anlagen aus (...). Eine ganze unterirdische Stadt, von emsigstem Leben erfüllt! (...) Auch der Komfort in den Wohnräumen überbietet in wesentlichen Punkten den der ersten europäischen Gasthöfe. Zu jedem besseren Zimmer, auch zu jedem einbettigen, gehört, beinahe selbstverständlich, ein Badekabinett und ein Waschtisch mit fließendem kalten und warmen Wasser ( . . . ) Zur Regulierung der Zentralheizung findet man in neuen Häusern an der Wand eine Skala, deren Zeiger man nur auf die Zahl des Temperaturgrades zu schieben braucht. Das in jedem Zimmer angebrachte Telephon vermittelt nicht nur den Verkehr mit dem Bureau und mit der Dienerschaft, sondern kann ohne weiteres auch zu beliebigen Stadt- und Ferngesprächen benützt werden." 2 1 0

Allerdings stellte sich zugleich in Parallele zur Eisenbahnerfahrung der Eindruck geringerer sozialer Hierarchien auch in den Hotels ein; die europäischen Reisenden empfanden vielfach die Behandlung „wie jedermann" als ungewohnt bzw. unerfreulich und erstaunten über die fehlende „Untertanenmentalität" beim amerikanischen Dienstpersonal: „Wie im privaten Haushalt, so bildet auch im Hotelbetrieb die Bedienungsfrage eines der schwierigsten Probleme des amerikanischen Alltagslebens. Der demokratische Geist erblickt zwar in der Arbeit an sich, ob sie nun hoch oder niedrig sei, etwas prinzipiell Ehrenvolles; aber die persönliche Handreichung nimmt er merkwürdigerweise davon aus. (...) Der immer hilfsbereite deutsche Hausknecht, diese Seele von einem Menschen, hat in der Neuen Welt keinen Rivalen. Das Zimmermädchen ist eine strenge und exklusive Lady, die sich zwar herbeiläßt, das Bett zu machen, außerhalb dieses Ressorts aber keine Aufträge zu empfangen wünscht. Gibt man Kleider und Stiefel des Nachts vor die Tür, so deutet man damit nur an, daß sie einem gestohlen werden können; 211 werden sie es trotzdem nicht, so findet man sie am Moigen in unverbessertem Zustande wieder."

Ironisch gebrochen und doch zugleich europäische Verhältnisse tendenziell verklärend wird hier beispielhaft beschrieben, wie stark schon in diesen Details der unmittelbaren Reiseerfahrung die europäischen Gesellschaftsmuster und -hierarchien in den USA in Frage gestellt wurden. Besonders die für Europäer aus dem Großbürgertum ungewöhnliche Schwierigkeit, Dienstboten in den USA zu finden bzw. mit deren geringer „Untertänigkeit" zurechtzukommen, tauchte in diesem Kontext immer wieder auf und wurde im Rahmen der Debatte über die allgemeinen sozialen Strukturen in den USA eindringlich diskutiert.

210 Fulda, Eindrücke, S. 88ff. Vgl. ferner u. a. Ernst Below: Bilder aus dem Westen. Leipzig 1894, S. 23; Hesse-Wartegg, Chicago, S. 27ff; Korff's Weltreise, Bd. 1, S. 139 sowie Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 15ff und 73f; Wolzogen, Dichter, S. 236ff und Eugen Zabel: Bunte Briefe aus Amerika. Berlin 1905, S. 47-65. Vgl. allg. dazu auch Enzensberger, Theorie, S. 201f bzw. Portes, Une fascination, S. 4 9 - 5 2 und zur Verbreitung des Telefons im Vergleich zu Europa auch W. Rammert: Telefon und Kommunikationskultur. Akzeptanz und Diffusion einer Technik im Vier-Länder-Vergleich. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42,1, 1990, S. 20-40. 211 Fulda, Eindrücke, S. 90f. Vgl. auch z. B. v. John, Plaudereien, S. 8f und Korff's Weltreise, Bd. 9: Wieder nach Amerika. Berlin (1899), S. 43f.

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Damit sind Bedingungen und Wahrnehmungsmuster des Reisens in Amerika um 1900, die in der konkreten Themenanalyse immer wieder auftauchen werden, in ihren Grundzügen umrissen. Zuvor müssen jedoch die gängigen Amerikabilder und -stereotypen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, die die Reisenden bei ihrer Ankunft mehr oder weniger stark prägten, in einem Überblick vorgestellt werden, um feststellen zu können, wie prägend diese Muster waren und ob bzw. wo sie durch die konkrete Erfahrung aufgebrochen werden konnten.

3. Amerika im Spiegel europäischer „Mythen": Amerikabilder und -stereotype in der deutschen Literatur des 19. Jahrunderts „Eldorado" - Die Utopie des „goldenen Zeitalters" und der „gute Wilde" - Das „Land ohne Geschichte und Kultur" - Das „Land der Freiheit und Gleichheit, des Fortschritts und der Zukunft" Es ist oben schon sichtbar geworden, in welch besonderem Maße Bilder und Stereotypen über ein anderes Land der gesellschaftlichen und individuellen Situation des Betrachtenden oder Reisenden entspringen. Dies gilt besonders für europäische Bilder von Amerika, deren utopischer Grundcharakter seit der Entdeckung Amerikas 1492 unverkennbar ist. Manfred Durzak bemerkt dazu treffend: „So sind die Beschreibungen im Bilde Amerikas zugleich Auslotungen einer europäischen Bewußtseinslage. Und das, was an übertriebenen Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen artikuliert wird, ist, stärker als vom Gegenstand Amerika selbst, bestimmt von den politischen und sozialgeschichtlichen Bedingungen dieser Bewußtseinslage, vom europäischen Schicksal derer, die ihre Gegenwart und Zukunft im Topos Amerika euphorisch umschreiben oder auch als verlorene Möglichkeit mit allen Zügen der Bitterkeit und Desillusioniertheit bekennen. Dies gilt für literarische Spiegelungen Amerikas in der deutschen Literatur unserer Tage ebenso wie für die sich mit Amerika beschäftigenden Bücher des vergangenen Jahrhunderts." 212

212 M. Durzak: Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Historische Voraussetzungen und akuteile Beispiele. Stuttgart u. a. 1979, S. 17f. Siehe dazu auch ebda., S. lOf. Vgl. dazu auch die immer noch gültige Studie von H. Meyer: Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers ,Amerika-Müden'. Hamburg 1929, S. 5f sowie H. Jantz: The Myths About America: Origins and Extensions. In: Jahrbuch für Amerikastudien 7, 1962, S. 6f und P. Boerner: Amerikabilder der europäischen Literatur: Wunschprojektion und Kritik. In: Amerikastudien 23, 1978, S. 49f. Zur frühen Neuzeit vgl. auch W. Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991, bes. S. 307ff und P. Mason: The Deconstruction of America. Diss. Utrecht 1990, bes. S. 1-12. Einen Überblick über den älteren, aber bisher kaum revidierten Forschungsstand für Deutschland gibt H. Galinsky: Deutschlands literarisches Amerikabild. Ein kritischer Bericht zu Geschichte, Stand und Aufgaben der Forschung. In: A. Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York 1977, S. 4-27. Vgl. auch die Bibliographie ebda., S. 562-606.

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Diese „europäische Bewußtseinslage", wie sie sich vor allem in der fiktionalen Literatur manifestierte, ist von der Forschung relativ breit geschildert worden und soll hier unter Hinweis darauf nur knapp umrissen werden, um die Relevanz dieser Stereotypen für das deutsche Amerikabild um 1900 erkennen zu können. Wir werden uns also in diesem Kapitel bis auf einige Ausnahmen wie beispielsweise besonders einflußreiche Auswandererratgeber vor allem mit der fiktionalen Literatur über Amerika zu beschäftigen haben, was außerdem gestattet, die Reiseberichte als eigenständige Quelle von der Belletristik abzuheben, wie das oben in der Quellenanalyse schon angeklungen ist. Der Einfluß der durch die fiktionale Literatur vermittelten Amerikabilder erscheint um so wichtiger, als es gerade vornehmlich Schriftsteller und Journalisten waren, die diese Bilder seit der frühen Neuzeit entwickelten und überlieferten; wir haben oben gesehen, wie stark das Sozialprofil der Autoren von Reiseberichten um 1900 von diesen zwei Berufsgruppen dominiert war, was eine Beeinflussung des Bildes durch die literarischen Vorgänger nur um so wahrscheinlicher macht. Zudem liegt es in der Natur von Stereotypen und „Mythen" als Parametern von Weltinterpretation und Sinngebung, daß sie relativ ort- und zeitlos sind, also in wechselndem Gewand immer wieder in unterschiedlichen Kontexten auftauchen und auch oftmals eng ineinander verwoben sind.213 Charakter und Funktion von Mythen bestehen also - ähnlich den Stereotypen - vor allem darin, Welt unmittelbar zu deuten und Orientierung bzw. Sinn vor jeder rationalen Erkenntnis zu vermitteln: „Der Mythos erklärt und verklärt das Undurchschaubare der Welt, der Gesellschaft, er anthropomorphisiert und projiziert, er wirkt regressiv, greift zurück auf früh gelernte Bilder und Zusammenhänge bei der Erfassung der Welt, er verwechselt geschichtlich Gewordenes mit natürlich Gegebenem. Der Mythos war und ist im Grunde ein Phänomen der religiösen Weltdeutung (...) und als solches enthält er religiöse Momente, die Sicherheit geben: Glaube und Vertrauen statt Durchschauen und Erkenntnis." 214 Es wird daher sinnvoll sein, die europäischen Amerika-Mythen seit der frühen Neuzeit kurz zu skizzieren und dann ihren Wandel oder ihre Kontinuität bis zur Jahrhundertwende zu verfolgen, wobei zu überlegen sein wird, wann welche Mythen bzw. Bilder dominierten und aus welchen Gründen. Dabei wird auch zu fragen sein, ob die industrielle und politische „Doppelrevolution" seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und für Deutschland dann besonders in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen entsprechenden Wandel in den Amerikabildern ausgelöst hat, wie sie analog als epochaler Einbruch schon anhand des bürgerlichen Reisens sichtbar geworden ist, oder ob die Kontinuität dominierte. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß in der frühen Neuzeit - besonders im 16. und 17. Jahrhundert - der Schwerpunkt des europäischen Verständnisses von „Amerika" durch die spanischen und portugiesischen Eroberungen vor allem auf Süd- und Mittelamerika lag. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts rückten die nordamerikanischen Kolonien stärker ins

213 Vgl. dazu J. Beneke: Anfange. Amerika als mythischer Ort. In: Ders./F. Jarman/D. Whybra (Hg.): Aspekte amerikanischer Kultur. Hildesheim u. a. 1989, S. 2f. 214 Wahl, Modernisierungsfalle, S. 93. Dies ist natürlich nur eine von vielen möglichen Interpretationen des außerordentlich vielschichtigen Begriffs „Mythos"; an dieser Stelle kann es jedoch nur darum gehen, im Vorfeld zu verdeutlichen, was im folgenden unter „Mythen" verstanden werden soll.

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europäische Bewußtsein, bis sie durch die Revolution von 1776 und die anschließende Unabhängigkeit als Vereinigte Staaten von Amerika schließlich vor allem in West- und Mitteleuropa zum Synonym für „Amerika" wurden und den südlichen Teil des Kontinents weitgehend aus dem europäischen Bewußtsein verdrängten (sieht man einmal von Südeuropa ab). Diese Entwicklung wurde überdies durch die ab Anfang des 19. Jahrhunderts stark einsetzende europäische Auswanderung verstärkt, deren Ziel nun in erster Linie die USA wurden. Interessanterweise wurden allerdings die Mythen der frühen Neuzeit fast bruchlos auf die nordamerikanischen Verhältnisse übertragen und fortgeführt - deutliches Indiz dafür, daß die europäische Erwartungshaltung und Utopie gegenüber „Amerika" stärker war als die konkrete und berichtete Erfahrung und durch diese nur bedingt verändert wurde.215 Dabei trugen diese Stereotypen oder Mythen keineswegs einen eindeutigen Charakter, sondern waren durchaus ambivalent im Hinblick auf die Bewertung der amerikanischen Zustände, die man solchermaßen erkannt zu haben glaubte. Die Amerikaerfahrung oder auch bloße -projektion brach generell die vertrauten europäischen Interpretationsmuster auf und führte in positiver wie negativer Hinsicht zu erstaunlich radikalen Positionen der Annahme oder Ablehnung - ein Umstand, der bis heute im geläufigen Gegensatzpaar vom „Amerikanismus" bzw. „Antiamerikanismus" fortwirkt.216 Dabei bestanden allerdings die positiven wie negativen Stereotypen fast immer nebeneinander, wenn es auch zeitliche Phasenverschiebungen in der deutschen bzw. europäischen Amerikabewertung gab. Zudem liefen die Mythen durch alle sozialen Schichten, auch wenn sich hier tendenziell das Überwiegen einer kritischeren Sicht Amerikas bei europäischen Intellektuellen und Künstlern herausstellt, wogegen „die Masse" der Auswanderer aus den Unter- bzw. unteren Mittelschichten

215 Vgl. dazu Jantz, Myths, S. 6ff sowie Meyer, Nord-Amerika, S. 9f; Durzak, Amerika-Bild, S. 8f und Vann Woodward, Old World, S. XXIIIff. Wie stark spezifische Topoi gerade in der frühen Neuzeit das Amerikabild bestimmten, macht Neuber, Fremde Welt, ausführlich deutlich. Vgl. bes. ebda, S. 26ff. 216 Vgl. dazu u. a. F. Trommler: Aufstieg und Fall des Amerikanismus in Deutschland. In: Ders. (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte. Opladen 1986, S. 666-676; D. Diner: Trauma Amerika. Deutscher Antiamerikanismus. Die Geschichte eines Ressentiments. Frankfurt/M. 1992, passim und A. N. J. den Hollander: Europäisches Kulturbewußtsein und Anti-Amerikanismus. In: Amerika - Europa. Freund und Rivale. Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1970 (Sozialwissenschaftliche Studien für das Schweizerische Institut für Auslandsforschung 14), S. 33-52; W. Wagner: Das Amerikabild der Europäer. In: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hg.): Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme. Suttgart, Zürich 1977, S. 18f und G. Raeithel: Antiamerikanismus als Funktion unterschiedlicher Objektbeziehungen. In: Englisch-Amerikanische Studien 6, 1984, S. 8 - 2 1 , der psychoanalytisch versucht, die negativen Stereotypen von Europäern und Amerikanern auf unterschiedliche „Objektbeziehungen" zurückzuführen; so soll die amerikanische Kultur dem „philobatischen" Typus, der sehr mobil ist, grenzüberschreitende Phantasien entwickelt und Personen und Sachen schnell und relativ problemlos wechselt, entsprechen, wogegen die europäische Kultur eher dem stark bodenständigen, immobilen und auf Sicherheit bedachten „oknophilen" Typus gleichkäme; diese Zuschreibung von personalen Eigenschaften auf ganze Kulturen erscheint jedoch sehr problematisch, sitzt sie doch nicht selten genau den Stereotypen auf, die sie zu entlarven vorgibt. Auch inhaltlich erscheint diese Interpretation nicht stichhaltig, wenn man bedenkt, daß es gerade die Europäer waren, die zu Tausenden nach Amerika aufbrachen und damit ganz und gar nicht dem Typus des Oknophilen entsprachen.

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naturgemäß sehr viel positivere Erwartungen hegte und entsprechende Bilder transportierte217 - gerade die massive Auswanderung zeigt dabei, wie sehr sich Mythos und Erfahrung verschränkten; man wird daher gut daran tun, kein zu eindeutiges Amerikabild zu erwarten und immer wieder die impliziten Ambivalenzen betonen müssen, zumal diese Bilder keineswegs - wie Peter Boerner betont hat - nur einer Nationalliteratur entsprangen, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen bilden.218 Grundsätzlich jedoch wird sichtbar, daß Amerika in europäischen Augen gerade in zeitlicher Hinsicht immer als „das ganz andere" erschien und mehr oder weniger bewußt als die rückwärts- oder vorwärtsgewandte Utopie betrachtet und entsprechend bewertet wurde - von Europa aus gesehen gingen somit „Amerikas Uhren" immer anders, zeigten sie doch, was in Europa nicht mehr oder noch nicht an der Tagesordnung war. Dabei verschob sich der Schwerpunkt eindeutig am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der rückwärtsgewandten Utopie zur Zukunftsvision, auch wenn Elemente beider Projektionen vor und nach der „Epochenschwelle" teilweise erhalten blieben.219 Was waren nun die dominierenden europäischen Amerikamythen? Hier ergeben sich bei genauerem Hinsehen vier Schwerpunkte: Zum einen erschien Amerika früh als „Eldorado", als Goldland, das das Ende aller materiellen Sorgen verhieß. Der zweite Mythos bezog sich auf die Utopie eines paradiesartigen Zustandes im Rückgriff auf Ideen eines vorzeitlichen „Goldenen Zeitalters", die auf antike Überlieferungen zurückgingen. Dem korrespondierte die Vorstellung vom „guten Wilden" als dem natürlichen, noch nicht durch die Zivilisation „verdorbenen" und also „guten" Menschen, angeschlossen an die Vorstellung einer Westwanderung der Menschheitskultur, die ebenfalls auf antike Vorstellungen zurückging. Dieser dritte Topos wurde jedoch konterkariert durch die Idee von der Wildheit, Brutalität und Kulturlosigkeit Amerikas - in dieser Sicht mochte eines Tages die Kultur im Westen ihre stärkste Blüte entfalten, doch in der Gegenwart schien der völlige Mangel an eigenständiger Kultur und Geschichte dominant. Dennoch knüpfte sich an diese Erwartungshaltung der vierte wichtige Mythos, der Amerika als Land der Freiheit und Zukunft, als „promised land" im religiösen und auch politischen Sinne verstand.220

217 Vgl. dazu u.a. H.A. Strauss: Stereotyp und Wirklichkeiten im Amerikabild aus der Perspektive der Vorurteilsforschung. In: Adams/Krakau (Hg.), Deutschland, S. 22ff und E. Krippendorf: Die westdeutsche Linke und ihr Bild von den USA. In: Ebda, S. 39-46. 218 Vgl. Boerner, Amerikabilder, S. 49. 219 Vgl. dazu M. Durzak: Perspektiven des Amerikabildes, historisch und gegenwärtig. Reisen in der Zeitmaschine. In: Sprache im technischen Zeitalter 56, 1975, S. 297-321 und H. Dippel: Faszination und Wandel im europäischen Amerikabild. Vom Eldorado zum Paradigma. In: H.-J. König u. a. (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung. Berlin 1989 (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 7), S. 88f u. 95f sowie Vann Woodward, Old World, S. 78ff und Leed, Erfahrung, S. 175-190. 220 Vgl. dazu zusammenfassend Jantz, Myths, S. 8-18 und Boerner, Amerikabilder, S. 4 0 - 5 0 sowie E. Franzen: Europa blickt auf Amerika. In: Der Monat 5, 1952/53, S. 129ff. Zur Ambivalenz des europäischen Amerikabildes zwischen „Wildheit" und Zukunftsland vor allem mit Bezug auf den „Wilden Westen" vgl. auch die detaillierte Analyse von R. A. Billington: Land of Savagery, Land of Promise. The European Image of the American Frontier in the Nineteenth Century. New York 1980.

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Auffallend ist, wie stark alle vier Mythen miteinander verwoben erscheinen und sozusagen nur unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb einer Utopie setzen, die vor allem europäische Mißstände reflektierte. Der Mythos vom Goldland „Eldorado" dominierte vor allem die spanischen und portugiesischen Eroberungen und Erkundungen Süd- und Mittelamerikas im 16. und 17. Jahrhundert als Suche nach der „materiellen Utopie" eines sagenhaften Reichtums und dem Ende der in Europa stets gegenwärtigen Armut oder Gefahr der Verarmung; Nahrung erhielt dieser Mythos durch tatsächliche Gold- und Silberfunde bei den Indianerkulturen, die eine Fülle von Abenteurern nach Südamerika lockten. Diese Konzentration auf die Edelmetalle, die im Rahmen eines sich langsam in Europa entwickelnden Kapitalismus auch als Machtfaktor immer wichtiger wurden, verdrängte jegliche Offenheit für die fremde Kultur der Indianer und erzeugte nur deren Zerstörung und Vernichtung. 221 Die Sogwirkung des Mythos sowie die erwähnte relativ bruchlose Übertragung der Vorstellungswelt eines „Eldorado" von Süd- auf Nordamerika erwies sich dann im berühmten kalifornischen Goldrausch Ende der 40er Jahre bzw. anhand der Goldfunde in Dakota in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und zeitigte für die Indianer ähnlich verheerende Folgen. War das europäische Bild vom „Amerikaner" im 16. und 17. Jahrhundert noch vorwiegend durch ein negatives Indianerbild geprägt gewesen, so verschob sich diese Wahrnehmung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts besonders im europäischen Bürgertum und in Intellektuellenkreisen unter dem Einfluß der kulturkritischen Schriften Jean Jacques Rousseaus deutlich zur positiven vorzivilisatorischen Utopie des „guten Wilden"; 222 die räumliche und zugleich „materialistische" Utopie vom Goldland Eldorado wandelte sich so zur rückwärtsgewandten „Uchronie" eines Paradieses und Garten Edens vor dem zivilisatorischen „Sündenfall", die auch und wesentlich durch die noch unberührte Natur Amerikas ausgelöst wurde. Zugleich wurde der Indianer als Synonym für „Amerikaner" im europäischen Denken durch den weißen Siedler abgelöst, der nun in direkte Opposition zum „guten Wilden" trat. Bemerkenswert dabei ist überdies, daß die Idee des guten Wilden zwar zumeist eine intellektuelle Projektion ohne empirische Überprüfung innerhalb einer schmalen Schicht von Gebildeten blieb, zugleich aber das Interesse an den konkreten Lebensbedingungen der amerikanischen Ureinwohner gerade bei den europäischen Intellektuellen verstärkte und eine Reihe von ethnologischen Forschungsreisen Anfang des 19. Jahrhunderts auslöste, die in zum Teil noch heute bemerkenswerten Reiseberichten ihren Niederschlag fanden. 223

221 Vgl. Dippel, Faszination, S. 85ff sowie Beneke, Amerika, 4ff und Ott, Amerika ist anders, S. 66-72. Vgl. dazu auch umfassend U. Bitterli: Alte Welt - Neue Welt. Formen des überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986. 222 Vgl. Beneke, Amerika, S. 7 - 1 5 und Boerner, Amerikabilder, S. 45f sowie Ott, Amerika ist anders, S. 72-75 und B. Ostendorf: .America is a Mistake, a Gigantic Mistake." Patterns of Ethnocentrism in German Attitudes Towards America. In: In Their Own Words III, 1986, S. 26f. Vgl. zu Amerika als europäischer Paradies-Utopie auch C. L. Sanford: The Quest for Paradise. Europe and the American Moral Imagination. Urbana/Illinois 1961 und Vann Woodward, Old World, S. 6ff. 223 Vgl. dazu Brenner, Reisen in die Neue Welt, S. 188-250.

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Einen entscheidenden Einschnitt im europäischen Denken über Amerika bildete dann die Amerikanische Revolution von 1776, 224 mit der die Utopie sozusagen konkreter wurde und ihren Niederschlag in der freiheitlichen Verfassung von 1787 fand. Diese Revolution und neuartige Verfassung lösten gerade in Deutschland bei vielen Schriftstellern und Intellektuellen des „Sturm und Drang" und der Aufklärung große Begeisterung aus und erschienen als Vorbild für die eigene Befreiung aus traditionellen absolutistischen Fesseln; obwohl die alten Mythen weiterwirkten, wurde nun der angesprochene vierte Mythos von Amerika als dem politischen „promised land" für die Unterdrückten Europas zentral, auch wenn sich darin spezifisch deutsche bzw. europäische Projektionen bündelten und eine eingehende Analyse der Besonderheiten Amerikas weitgehend ausblieb. 225 Diese konkrete politische Utopie war dabei vielfach an einen tiefen Europa-Pessimismus geknüpft, der im Topos von der „Europamüdigkeit" seinen Ausdruck fand: Europa erschien als „gealterter" Erdteil voller Schranken, Blockaden und Hemmnisse in politischer wie gesellschaftlicher Hinsicht. 226 Goethe bemerkte dazu in einem seither viel zitierten Diktum aus den „Xenien" 1827: „Amerika, du hast es besser/ Als unser Kontinent, der alte/ Hast keine verfallenen Schlösser/ Und keine Basalte./ Dich stört nicht im Innern/ Zu lebendiger Zeit/ Unnützes Erinnern/ Und vergeblicher Streit." 227 Der Einschnitt dieser Revolution im europäischen Diskurs über Amerika war insofern tief, als damit Amerika in europäischen Augen zunehmend zum Paradigma geriet und nicht mehr nur als Objekt der Ausbeutung verstanden wurde - die Kolonien wurden damit zum konkreten Testfall für europäische Verhältnisse, was sich nicht zuletzt im Einfluß der amerikanischen Verfassung auf das Revolutionsgeschehen in Frankreich niederschlug. 228 Auch wenn insgesamt die Französische Revolution von 1789 für den politischen Diskurs in Europa und Deutschland wichtiger wurde und Amerika schon aus Mangel an konkreter Erfahrung bzw. Erreichbarkeit dahinter zurücktrat, blieb doch eine Reihe von Elementen der amerikanischen Verfassung gerade aufgrund ihrer föderativen Struktur für viele deutsche Liberale und Demokraten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere dann in der Revolutionsphase von 1848/49 vorbildhaft und machte die amerikanische Verfassung zum viel diskutierten Modell. 229

224 Vgl. H.-U. Wehler (Hg.): 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung. Göttingen 1976 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 2). Darin besonders: H. Dippel: Die Wirkung der amerikanischen Revolution auf Deutschland und Frankreich, S. 101-121. 225 Vgl. dazu Meyer, Nord-Amerika, S. 6 - 1 0 und E. Fraenkel: Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens. Äußerungen deutscher Staatsmänner und Staatsdenker über Staat und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika. Köln, Opladen 1959, S. 20ff und S. Markham: Workers, Women and Afro-Americans. Images of the United States in German Travel Literature from 1923 to 1933. New York u. a. 1986, S. 57ff. 226 Vgl. Meyer, Nord-Amerika, S. 39ff sowie Fraenkel, Amerika, S. 16ff und G. Barraclough: Europa, Amerika und Rußland in Vorstellung und Denken des 19. Jahrhunderts. In: HZ 203,1966, S. 281ff. 227 Zit. nach W. Malsch: Einleitung. Neue Welt, Nordamerika und USA als Projektion und Problem. In: In: S. Bauschinger/H. Denkler/W. Malsch (Hg.): Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt - Nordamerika-USA. Stuttgart 1975, S. l l f . Vgl. auch insgesamt ebda, S. 9-16. 228 Vgl. Dippel, Faszination, S. 90ff. 229 Siehe dazu die eingehende Analyse von E. G. Franz: Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49. Zum Problem der Übertragung gewachsener Verfassungsformen. Heidelberg 1958, bes. zusammenfassend S. 134-140. Vgl. ferner dazu Meyer, Nord-Amerika, S. 4 3 - 4 9 und jüngst J. Garber:

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Freilich muß sogleich eingewandt werden, daß sich besonders nach dem Scheitern der Französischen Revolution und dem Bekanntwerden der „Terreur" in den Jahren 1793/94 gerade unter deutschen Intellektuellen und Schriftstellern, für die Goethe und Schiller hier repräsentativ stehen mögen, ein starker Pessimismus gegenüber revolutionärer Veränderung breitmachte, der auch auf das Amerikabild übergriff und die jungen Vereinigten Staaten als Modell zurücktreten ließ.230 In diesen Zusammenhang gehört, daß die in der Romantik nach 1800 einsetzende Kritik an der Aufklärung auch eine wachsende Amerika-Kritik im Gefolge hatte; neben den Mythos vom Land der Freiheit und Gleichheit trat nun im Kontext der literarischen Romantik wie der politischen Restauration nach 1815 das erwähnte Stereotyp von der „Kultur-" bzw. Geschichtslosigkeit Amerikas.231 Die ursprünglich als feudale Erblast empfundene Geschichtlichkeit und Traditionalität Europas erfuhr eine positive Umwertung besonders in Deutschland im Zusammenhang mit dem neu erwachten Nationalgefühl nach den Befreiungskriegen von 1813-1815; die Rückbesinnung auf Mittelalter und „deutsche Renaissance" als Wurzeln spezifisch deutscher Identität in der (politischen) Literatur dieser Phase ließ Amerika als geschichtslosen Ort an Wert verlieren oder mündete sogar in Feindbilder, die die Vereinigten Staaten als Land ohne Geist und beherrscht von bloßem Pragmatismus und Materialismus erscheinen ließen.232 Lediglich der Topos von Amerika als vorzivilisatorischem „Garten Eden" fand - u. a. angeregt durch die Romane von James Fennimore Cooper über das Leben in der amerikanischen Wildnis - in der Naturschwärmerei der Romantik etwa eines Joseph v. Eichendorff ein positives Echo. 233 Die Erfahrung des Dichters Nikolaus Lenau, der 1832 nach Amerika reiste und in Briefen von seinen Erlebnissen berichtete, ist für die Ambivalenz des romantischen deutschen Amerikabildes bezeichnend geworden, war er doch mit den größten Erwartungen im Sinne der geschilderten Mythen vom „Land der Freiheit" wie auch der paradiesartigen und unverstellten Natur nach den USA gekommen. Die hohen Erwartungen schlugen jedoch schnell in Enttäuschung um, die sich entsprechend radikal äußerte und ihn das karikaturhafte Negativbild einer Gesellschaft entwerfen ließ, die anstelle von Freiheit und Natürlichkeit nur von Habgier und Profitdenken geprägt zu sein schien: „Bruder, diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Tod für alles geistige Leben, maustodt... Eine Niagarastimme gehört dazu, um diesen

Von der Natur- zur Aufklärungstopographie: Die deutsche Intelligenz und die Amerikanische Revolution (1776-1800). In: P. Mesenhöller (Hg.): Mundus Novus. Amerika oder die Entdeckung des Bekannten. Das Bild der Neuen Welt im Spiegel der Druckmedien vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dortmund 1992, S. 68ff und H. Reiter: Amerikabilder der Revolution 1848/49. In: Ebda., S. 76-91 sowie K. v. Beyme: Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt. München 1986, S. 28-32. 230 Vgl. dazu Ostendorf, America, S. 33ff. Zum Wandel des Amerikabildes bei Goethe und Schiller vgl. Fraenkel, Amerika, 16ff sowie V. Lange: Goethes Amerikabild. Wirklichkeit und Vision. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 6 3 - 7 4 sowie Meyer, Nord-Amerika, S. lOff. 231 Zur Idee von Amerika als .jungem" Land ohne Geschichte und Tradtition vgl. Jantz, Myths, S. 16f und Vann Woodward, Old World, S. 66-72. 232 Vgl. Meyer, Nord-Amerika, S. 13-20. 233 Ebda., S. 22ff.

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Einleitung

Schuften zu predigen, daß es noch höhere Dinge gebe, als die im Münzhause geschlagen werden." 234 Dieser Topos der Kulturlosigkeit und des Materialismus Amerikas im Vergleich zu Europa bzw. Deutschland fand in der Folgezeit selbst bei Autoren ihren Niederschlag, die ursprünglich viel Sympathie für die amerikanische Revolution und Verfassung gehabt hatten, sich nun aber enttäuscht von Amerika abwandten. Als beispielhaft für diese Haltung darf Heinrich Heine gelten, der nach anfanglicher Begeisterung bald von Amerika als dem „Freiheitsstall" der „Gleichheitsflegel" schrieb, freilich ohne jemals dort gewesen zu sein - allerdings gilt es auch hier im Auge zu behalten, daß dies kein dominanter Charakterzug im deutschen Denken über Amerika war. Bei anderen Autoren des „Jungen Deutschland" wie Ludwig Börne oder Karl Gutzkow überwogen durchaus weiterhin positive Bilder von Amerika als dem demokratischen Leitbild der Welt schlechthin.235 Im übrigen finden sich ähnliche kulturkritische Äußerungen auch bei britischen und französischen Autoren, die schon in der ersten Jahrhunderthälfte zahlreich in die USA reisten; hier wird augenfällig, wie sehr diese intellektuelle Kulturkritik an Amerika ein gesamteuropäisches Phänomen seit Beginn des 19. Jahrhunderts war und auch im 20. Jahrhundert als wichtiger Strang des europäischen Amerikabildes aktuell blieb. 236 Dennoch bleibt festzuhalten: So ambivalent das deutsche bzw. europäische Amerikabild in der ersten Jahrhunderthälfte erscheint, so deutlich wird auch, daß die Erwartungshaltung gegenüber Amerika gerade vor dem Hintergrund der von vielen europäischen Intellektuellen als drückend empfundenen Restauration in Europa enorm hoch war;237 so sehr einzelne Auto-

234 Zit. nach Meyer, Nord-Amerika, S. 29. Vgl. ebda., S. 26-32 sowie Ostendorff, America, S. 36ff; Durzak, Amerika-Bild, S. 38ff; Vann Woodward, Old World, S. 3 4 ^ 2 und Jantz, Myths, S. 15f. 235 Vgl. zu Heine bzw. den Autoren des Jungen Deutschland" Markham, Workers, S. 59f; Meyer, NordAmerika, S. 50ff und J. Hermand: Auf andere Art so große Hoffnung. Heine und die USA. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 81-92, bes. 89. 236 Vgl. allg. Wagner, Amerikabild, S. 19ff und für die britischen Autoren wie Basil Hall, Frances und Anthony Trollope oder Charles Dickens: Boerner, Amerikabilder, S. 44f; Vann Woodward, Old World, S. 20-25 und Rapson, Britons, S. 3ff sowie jüngst ausführlich H. K. Heineman: Three Victorians in the New World: Interpretations of the New World in the Works of Frances Trollope, Charles Dickens and Anthony Trollope. New York u. a. 1992. Zum französischen Amerikabild in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. R. Rémond: Les Etats-Unis devant l'opinion française 1815-1852, Paris 1962/63 und Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 34-39 bzw. für das 20. Jahrhundert D. Strauss: Menace in the West, passim und A. Grewe: Das Amerikabild der französischen Schriftsteller zwischen den beiden Weltkriegen. Diss. Heidelberg 1985, bes. S. 328-360 u. 516-543. Wie aktuell und langlebig gerade dieses Stereotyp über Amerika geblieben ist, geht aus jüngsten Umfragen zum deutschen Amerikabild der Gegenwart hervor. Vgl. dazu U. Wuggenig: Das Amerikabild der Deutschen. In: Beneke u. a. (Hg.), Aspekte, S. 39f. 237 Amerika wurde in dieser Phase zum politischen wie gesellschaftlichen „Land der Zukunft", gerade weil es keine Geschichte und alte Kultur hatte. Hegel bemerkte dazu stellvertretend in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: „Amerika ist somit das Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll: es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt." Allerdings schränkte er zugleich den Vorbildcharakter Amerikas ein und beließ im Gegensatz zu Tocqueville die Aussage über diese Zukunft im Ungefähr. Vgl. Fraenkel, Amerika, S. 113.

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ren wie Lenau ihrer Enttäuschung Ausdruck gaben, so sehr galt andererseits vielen Demokraten und Liberalen kein anderes Land in solchem Maße als Modell politischer und gesellschaftlicher Erneuerung. Brisanz erhielt die deutsche Amerikadebatte dann vor allem durch die hohen Auswanderungszahlen, wobei die Auswanderung bei vielen nicht zuletzt durch Romane und Berichte deutscher Autoren über Amerika angeregt wurde. So schrieb der Amerikafahrer Friedrich Gerstäcker in den 40er Jahren einige viel gelesene Romane, die auf eigene Erlebnisse in der Wildnis Amerikas zurückgingen und in der Verbindung von spannender Unterhaltung mit praktischer Aufklärung direkt für potentielle Auswanderer konzipiert waren, indem sie einerseits versuchten, ohne dezidierten literarischen Anspruch das Negativbild Lenaus u. a. zu relativieren bzw. zu widerlegen und andererseits zugleich auf die Chancen eines erfolgreichen Neubeginns in der,.Neuen Welt" verwiesen.238 In eine ähnliche Richtung ging ein Buch von Gottfried Duden, das trotz seines barock-umständlichen Titels „Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas und einen mehrjährigen Aufenthalt am Missouri, in Bezug auf Auswanderung und Überbevölkerung oder: Das Leben im Innern der Vereinigten Staaten und dessen Bedeutung für die häusliche und politische Lage der Europäer" (Elberfeld 1829) enorme Sogkraft auf die deutsche Auswanderung ausübte und unter Vernachlässigung möglicher Schattenseiten den alten Mythos vom neuen Kontinent als Paradies und „promised land" so stark und verlockend beschrieb, daß trotz der Berufung auf eigene Erfahrungen die perfekte Illusion gelang - bezeichnenderweise hagelte es bald so viel Kritik von Seiten enttäuschter Auswanderer, daß sich Duden genötigt sah, acht Jahre später eine Revision zu verfassen und vor zu leichtfertiger Auswanderung zu warnen.239 Realistischer (wenn auch ähnlich europakritisch) gestaltete sich die Analyse von Charles Sealsfield (dem gebürtigen Österreicher Karl Posti), der ähnlich wie Tocqueville in seinem Buch „Die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach ihren politischen, gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen betrachtet" (Stuttgart, Tübingen 1827) die Vorzüge der amerikanischen Demokratie pries, zugleich aber auch auf deren Gefährdung in der Zukunft hinwies ein Hauptgrund für die geringe Resonanz des Buches, paßte eine Krisenschilderung amerikanischer Verhältnisse doch kaum in den zeitgenössischen europäischen Erwartungshorizont.240 Insgesamt geht man offenbar nicht fehl, wenn man die gescheiterte deutsche Revolution von 1848/49 tendenziell auch als Wendepunkt im deutschen Amerikabild begreift. Es ist

238 Vgl. dazu ausführlich Durzak, Amerika-Bild, S. 41-58. Das wohl wichtigste Buch war: „Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas" von 1844. 239 Vgl. Börner, Amerikabilder, S. 42f und Ott, Amerika ist anders, S. 83f. Wie stark gerade die Auswanderung auch in der fiktionalen Literatur des 19. Jahrhunderts thematisiert wurde, zeigt die ausführliche Studie von Mikoletzky, Amerika-Auswanderung, passim. Zur Ikonographie der Auswanderung vgl. P. Mesenhöller: ,Schön geträumte Bilder': Anmerkungen zur Ikonographie der Auswanderungsdiskussion in den populären Medien des 19. Jahrhunderts. In: Ders.(Hg.), Mundus Novus, S. 54-75. Zur Auswanderer-Werbung vgl. S. Görisch: Träume von Besitz, Arbeit und Unabhängigkeit. Die Vereinigten Staaten im Spiegel deutscher Informationsschriften für Auswanderer im 19. Jahrhundert. Diss. FU Berlin 1988. 240 Vgl. Durzak, Perspektiven, S. 304f. Vgl. auch zur romanhaften Verarbeitung von Sealsfields AmerikaErfahrungen H. Emmel: Recht oder Unrecht in der Neuen Welt. Zu Charles Sealsfields Roman ,Der Legitime und die Republikaner'. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 75-80.

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auffallend, wie sehr nach 1850 die hohen Erwartungen im Hinblick auf Amerika als Modell gesellschaftlicher und politischer Erneuerung Europas bzw. Deutschlands zurückgingen und im Zuge eines immer stärker werdenden Nationalismus einer weitaus nüchterneren und zum Teil auch extrem kritischen Amerikasicht Platz machten. Stellvertretend für diesen Wandel können zwei Romane stehen, die geradezu programmatisch schon im Titel die Grundhaltung vor und nach 1848 dokumentieren. Publizierte der Schriftsteller Ernst Willkomm 1838 einen Bildungsroman über die Auswanderung nach Amerika noch mit dem provokativen Titel „Der Europamüde", so konterte der Romancier Ferdinand Kürnberger 1855 mit seinem viel gelesenen Gegenbild „Der Amerikamüde". Hatte Willkomm noch die intellektuelle „Kollektivneurose" unter der restaurierten Feudal- und Kirchenherrschaft in Europa nach 1815 beschrieben und seinem nach Freiheit suchenden Helden nur Amerika als einzige Alternative gewiesen, so bündelte Kürnberger in zunehmend deutsch-nationalem Chauvinismus siebzehn Jahre später fast alle antiamerikanischen Klischees zu einer „Entlarvung" des Mythos Amerika, der jedoch weit über das Ziel hinausschoß und zur Karikatur geriet, dabei aber extrem meinungsbildend wurde und insbesondere das schon bei Lenau angedeutete Stereotyp des amerikanischen Materialismus und „Ungeistes" in Deutschland verfestigen half. 241 Sucht man nach Gründen für diesen Einstellungswandel im deutschen (Bildungs-)Bürgertum gegenüber den USA, so wird sichtbar, daß die negative Wendung des Amerikabildes eindeutig in die Restaurationsphase der 50er und 60er Jahre fällt, in der das liberale Bürgertum zugunsten der Sicherung des ökonomischen Aufstiegs politisch weitgehend seinen Frieden mit dem (besonders in Preußen) noch bzw. wieder fast unangefochten regierenden Adel 242 geschlossen hatte und zunehmend in eine defensive Abwehrhaltung gegen die wachsenden und auf politische Partizipation drängenden Unterschichten geriet. Dies stand in offenkundigem Kontrast zur revolutionären bürgerlichen Phase nach 1789 und um 1848, als die freiheitliche Verfassung Amerikas ein direktes Modell für die bürgerlichen Emanzipationsforderungen gegenüber dem Adel gewesen war. Die eingangs getroffene Feststellung, daß das europäische bzw. deutsche Amerikabild stark von der jeweiligen politischen wie gesellschaftlichen und ökonomischen Situation in Europa abhing, zeigt sich gerade in diesem

241 Vgl. zur Gegenüberstellung Willkomms und Kürnbergers: Durzak, Amerika-Bild, S. 19-37; F. Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 178f und Mayer Hammond, American Paradise, S. 53-61 sowie zur Analyse des Romans von Kürnberger: Meyer, Nord-Amerika, S. 6 9 - 1 2 7 sowie R. Steinlein: Ferdinand Kürnbergers ,Der Amerikamüde'. Ein .amerikanisches Kulturbild' als Entwurf einer negativen Utopie. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 154-177. Zur Enttäuschung vieler ausgewanderter „48er" über Amerika vgl. auch Meyer, Nord-Amerika, S. 54-61 sowie H. Reiter: Amerikabilder der Revolution von 1848/49. In. Mesenhöller (Hg.), Mundus Novus, S. 76-91 und zum allgemeinen Umschwung des Amerikabildes in Deutschland nach 1848 auch Fraenkel, Amerika, S. 3Off. 242 Vgl. dazu W. Conze: Gesellschaft - Staat - Nation. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1992, S. 289-297 sowie F. L. Carsten: Der preußische Adel und seine Stellung in Staat und Gesellschaft bis 1945. In: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 112-125. Zur Situation in den anderen deutschen Staaten vgl. auch K. Möckl: Der deutsche Adel und die fürstlich-monarchischen Höfe 1750-1918. In: Ebda., S. 96-111.

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Zusammenhang besonders deutlich. Dem gemessen an den Forderungen von 1848 eindeutigen Rückzug des deutschen Bürgertums aus der politischen Emanzipation (bis auf die Enklaven der kommunalen Selbstverwaltung) korrespondierte so die Abkehr vom politischen Mythos von Amerika als der Utopie von Freiheit und Gleichheit. Entsprechend dem rapiden ökonomischen Aufstieg Deutschlands nach der industriellen wie politischen „Doppelrevolution" von 1845 bzw. 1848/49243 und besonders dann im geeinten Kaiserreich nach 1871, als dessen Träger sich das Bürgertum vorwiegend verstand, rückte auch im Blick auf die USA nun vor allem das ökonomische Modell „Amerika" (wieder) in den Vordergrund und verdrängte die alten Leitbilder vom Paradies ungehinderter Persönlichkeitsentfaltung und sozialer Gleichheit. Das „Land der Zukunft" wurde so immer weniger politisch und sozial, dafür immer mehr ökonomisch verstanden, was eine verschärfte Kulturkritik nicht ausschloß, sondern im Gegenteil genau dem Bild vom durch und durch materialistischen „Yankee" entsprach, wobei der zunehmende Materialismus im deutschen Bürgertum weitgehend ignoriert und im Selbstbild vom „Kulturvolk" verdrängt wurde 244 - davon wird im folgenden noch ausführlicher zu sprechen sein. Dies hing einerseits mit dem ebenfalls rapiden wirtschaftlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg von 1861-1865 zusammen, war aber wesentlich durch die Haltung eines Bürgertums in Deutschland bestimmt, das sich immer mehr über wirtschaftlichen Erfolg und nationale Identität und immer weniger über Liberalismus und politische Emanzipation definierte. Dazu kam, daß die vor allem um die Mitte des Jahrhunderts rapide anschwellende deutsche Auswanderung 245 immer mehr als Bedrohung der nationalen Stärke empfunden wurde und eine entsprechende antiamerikanische Propaganda von diesem Schritt abhalten sollte.246 Dieser Wandel darf jedoch nicht zu starr und linear interpretiert werden, zumal die tendenziell negative und „antiaufklärerische" Wendung des Amerikabildes nach 1848 nicht nur auf Deutschland, sondern bezeichnenderweise auch auf Frankreich, das im Zweiten Kaiserreich nach der gescheiterten Revolution ebenfalls eine antiliberale Restauration erlebte, zutrifft. 247 So sehr auch das ökonomische (und zunehmend auch technologische) Modell, Amerika" die Vorstellungen zu dominieren und damit auch neue Mythen zu erzeugen begann, so offenkundig bestanden daneben doch noch die alten Träume vom „guten Wilden" und „Garten Eden" weiter, wie die immensen Erfolge der Romane Karl Mays zeigen, die implizit und

243 Vgl. dazu die umfassende Analyse von H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformara bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 1815-1845/49. München 1987. 244 Ein charakteristisches Beispiel für die Kritik am amerikanischen Materialismus sind die Äußerungen Friedrich Nietzsches zu den USA, wobei er allerdings darin untypisch war, eben auch auf den wachsenden Materialismus und „Ungeist" der bürgerlichen Eliten in Deutschland besonders nach der Reichsgründung kritisch hinzuweisen. Vgl. dazu I. Seidler: ,Den Blick fernhin auf Nordamerika richten'. Zur Amerikaperspektive Nieztsches. In: Bauschinger (Hg.), Amerika, S. 218-228. 245 Vgl. dazu auch G. Moltmann: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert. In: Trommler (Hg.), Amerika und die Deutschen, S. 40-49. 246 Vgl. Mayer Hammond, American paradise, S. 46ff 247 Siehe dazu Grewe, Amerikabild, S. 17ff und Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 34-39.

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dabei teilweise reduziert die alte Utopie sozialer Harmonie gegen die sich real verfestigende Klassengesellschaft weiterschrieben.248 Diese Ambivalenzen und Brüche im Amerikabild des deutschen Bürgertums nach 1850 und im frühen Kaiserreich werden auch sichtbar, wenn man die typischen und am meisten gelesenen Illustrierten der Zeit analysiert: Bilder von ungeheurer ökonomischer und technischer Energie, Mobilität und Effizienz werden kontrapunktiert von Topoi der Kulturlosigkeit und extremen Wildheit in Form einer ungebändigten Natur, einer immer noch virulenten Bedrohung durch die Indianer und einer im Vergleich zu Europa extrem hohen Kriminalität besonders in den Großstädten und im „Wilden Westen". 249 Diese Brüche und Verschiebungen änderten jedoch nichts daran, daß Amerika ein für allemal zum stark diskutierten Paradigma einer technisch-industriellen Moderne geworden war; insofern läßt sich auf die eingangs gestellte Frage antworten, daß der Einschnitt der politischindustriellen Revolution, wie er in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts besonders virulent wurde, deutlich das Amerikabild veränderte und neue Akzente setzte; die lange dominierende „rückwärtsgewandte" Utopie hatte sich somit endgültig im 19. Jahrhundert zur Zukunftsvision auch für europäische Verhältnisse gewandelt, auch wenn Amerika aus deutscher und europäischer Perspektive trotz seiner europäischen Wurzeln noch lange „das ganz andere" blieb. Daß Amerika diesen Charakter des Fremden behielt, hatte allerdings auch damit zu tun, daß die alten Mythen unterschwellig weiterwirkten und im Verlauf des Wandels im 19. Jahrhundert neue Gesichter annahmen ohne endgültig aus dem Fundus des europäischen Bewußtseins zu verschwinden - andernfalls hätte Amerika auch kaum die Rolle der Utopie und Zukunftsvision spielen können, wäre es doch zu einer modernen Gesellschaft unter vielen geworden, deren Modellcharakter im positiven wie negativen Sinne niemals so eingehend diskutiert worden wäre. Den Bereichen dieser Debatte wollen wir uns nun im folgenden zuwenden.

248 Vgl. dazu P. U. Hohendahl: Von der Rothaut zum Edelmenschen. Karl Mays Amerikaromane. In: Bauschinger u. a. (Hg.), Amerika, S. 229-245. Wie sehr das Bürgertum überdies nach Synthese der Modernisierungsbrüche strebte, zeigen u. a. die Amerikamotive in den viel gelesenen Romanen Wilhelm Raabes, in denen vor der Zerstörung deutscher Tradition durch den amerikanischen „Geschäftsgeist" gewarnt bzw. das Ziel einer glücklichen Synthese beider Seiten evoziert wird. Vgl. dazu Martini, Auswanderer, S. 188-196. 249 Vgl. H. Gebhardt: Die Neue Welt für alle - Amerikabilder in deutschen Illustrierten des 19. Jahrhunderts. In: Mesenhöller (Hg.), Mundus Novus, S. 124-138 und J. Czaplicka: Amerikabilder and the German Discourse on Modern Civilization, 1890-1925. In: Ders. (Hg.): Envisioning America. Prints, Drawings and Photographs by George Grosz and His Contemporaries 1915-1933. Harvard-University 1990, S. 36-44.

Kapitel 1

Freiheit und Gleichheit? Gesellschaftsstrukturen in den USA aus deutscher Sicht

Beobachtungen und Bemerkungen zu den Gesellschaftsstrukturen in Amerika insgesamt gehörten - zumal nach dem richtungsweisenden Bericht von Tocqueville, der dieses Thema zentral diskutiert hatte1 - fast zum „Standardrepertoire" eines Amerikabuches aus europäischer Feder; kaum ein Bericht ließ diesen Bereich aus, vielmehr bildete er oftmals die Grundlage aller weiteren Beobachtungen und Urteile über die USA. Dabei sollen im folgenden vor allem drei Bereiche behandelt und unterschieden werden, nämlich erstens die Frage sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit in Amerika, zweitens - eng damit verknüpft - der Bereich sozialer Mobilität und drittens das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Dabei sei vorausgeschickt, daß hier vor allem generelle Aussagen und Bewertungen zur amerikanischen Gesellschaft als ganzer vorgestellt werden sollen und Details bzw. konkrete Ansichten und Lokalitäten in den späteren Kapiteln zur Familie, zur Bildung oder zur Stadt stärker sichtbar gemacht werden.

1. Soziale Gleichheit und Ungleichheit Kaum ein Phänomen wurde in den deutschen Amerika-Reiseberichten immer wieder so vorrangig konstatiert wie das Fehlen sozialer Klassen im deutschen oder europäischen Sinn. Auffallend ist dabei vor allem, daß gerade hier die Beobachter fast immer mit Deutschland oder sogar Europa insgesamt verglichen und der alte Kontinent und besonders das eigene Land als Gesellschaft mit weitaus schärferen sozialen Trennlinien und festen Klassenstrukturen erschien. Dies läßt sich vor allem bei den Reiseberichten im engeren Sinne feststellen, die dieses Bild im gesamten Zeitraum und von Autoren fast aller Berufssparten vermitteln, während die stärker reflexiven und überarbeiteten Studien über Amerika hier zwar auch einen deutlichen Schwerpunkt aufweisen, zugleich aber stärker differenzieren und einige Korrekturen und Abweichungen anbringen. Wir haben oben schon gesehen, wie direkt sich „soziale Gleichheit" auf Reisen in den Hotels oder Eisenbahnen der Staaten erfahren ließ. Es war insofern kein Wunder, daß selbst

1

Vgl. H. Kaelble: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980. München 1987, S. 56f.

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Freiheit und Gleichheit

in den weniger reflexiven und stärker aus der direkten Anschauung heraus verfaßten Reiseberichten dieses T h e m a immer wieder angesprochen und variiert wurde, w o b e i Autoren aus allen beruflichen Sparten und mit unterschiedlichen politischen Grundansichten darin übereinstimmten, daß die amerikanische Gesellschaft grundsätzlich weniger soziale Trennlinien a u f w i e s und „Klassen" im europäischen Sinn nicht zu kennen schien. S o notierte ζ. B . der ansonsten überaus amerikakritische sozialistische Schriftsteller Arthur Holitscher 1913: „Nein, die Klasse existiert in Amerika gewiß nicht in der Form, wie in Europa drüben. Der Unterschied zwischen dem einen arbeitenden und dem anderen arbeitenden Mann ist sicher ein wesentlich geringerer als in Europa, wo zu allen Verbarrikadierungen der Menschen gegeneinander auch noch die Klassifizierung der Arbeit kommt, die die Klassen regelt, zerstückelt, in kleine Unterabteilungen numeriert und wertet." 2 Aber auch aus der für die Mehrzahl der Amerikaautoren typischen liberal-bürgerlichen Perspektive sprang das Fehlen der Klassen in den U S A unmittelbar ins Auge; so hob ζ. B. der Schriftsteller L u d w i g Fulda deutlich hervor: „Oder welche Tatsache ginge schwerer in ein europäisches Gehirn, als daß die Heimat des fortgeschrittensten Kapitalismus zwar erbitterten Interessenkämpfen zum Schauplatz dient, aber keinem Klassenkampf, ja nicht einmal einem Klassengegensatz? Noch mehr, daß man Klassen in unserem Sinn, das heißt hermetisch abgeschlossene Kasten, aus denen kein Ausgang, zu denen kein Übergang freisteht, gar nicht kennt? Im Gegenteil, das Selbstbewußtsein, das auch den Armen als Glied des amerikanischen Gemeinwesens erfüllt, wird vom Staat wie von der Gesellschaft systematisch geschont, gepflegt und geachtet." 3 U n d sogar die kaum gesellschaftsorientierten „Rechtfertigungsberichte" strichen vielfach gerade i m Kontrast zur leidvollen Erfahrung der Klassengesellschaft in Deutschland den zentralen Aspekt der sozialen Offenheit in den U S A heraus, die auch d e m in Deutschland sozial Geächteten einen gesellschaftlichen Neuanfang ermögliche. S o schrieb der ehemalige Offizier Freiherr Hans von B a m e k o w über die Erfahrung der Klassengesellschaft im deutschen Kaiserreich nach langem Aufenthalt in den U S A : „Im Deutschen Reich ist ein den oberen Schichten der Gesellschaft Angehörender, auch nur eines leichten moralischen Vergehens gerichtlich Bestrafter gesellschaftlich tot, wird in den meisten Fällen aus der eigenen Familie ausgestoßen und hat verzweifelt geringe Aussicht, sich in den Augen seiner Standesgenossen wieder aufzurichten. (...) Das von den amerikanischen gänzlich verschiedene soziale Leben in Deutschland und die in diesem Lande noch stark ausgeprägte Grenze zwischen Ständen und Berufsklassen (...) fällt da schwer ins Gewicht. (...) In Amerika verfährt man anders. Selbst dem aus dem Zuchthaus Entlassenen, der wegen schweren Verbrechens dort Aufnahme fand, wird reichlich Gelegenheit, sich wieder aufzurichten." 4

2

Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 103. Ähnlich äußerte sich auch der sozialistische Arbeiter Fritz Kummer, der 1913 schrieb: „Dem Einwanderer wird nicht, wie im Vaterland, auf Schritt und Tritt zu verstehen gegeben, daß er nichts als ein Untertan, ein Paria sei. Gesellschaftlich wird er als gleichberechtigt behandelt. Amerika zeigt sich ihm nicht in der Gestalt des knuffenden Unteroffiziers, des unersättlichen Steuereinnehmers. In seinen Familienangelegenheiten wühlt nicht die Polizeifaust. Seine Freizügigkeit ist gesetzlich nicht beschränkt. (...) Seine Jungen werden nicht die besten Lebensjahre in die Kaserne gesteckt, die Kinder erhalten Schulunterricht sowie Lehrmittel unentgeltlich. Will er seine Söhne studieren lassen, bedarf es keiner Vorrechte oder eines großen Geldsackes." (Kummer, Weltreise, S. 207 bzw. 206f).

3 4

Fulda, Eindrücke, S. 285. Vgl. auch ebda., S. 268f u. 285ff. Barnekow, Amerika, S. 7.

Soziale Gleichheit und Ungleichheit

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Damit wird deutlich, wie aus verschiedenen Perspektiven und mit höchst unterschiedlichen, durch die persönliche Situation bedingten Sichtweisen doch ein so markanter gesellschaftlicher Unterschied zwischen Deutschland bzw. Europa und den USA akzentuiert wurde, der besonders auch nach dem Ende der Reise bei der Wiederankunft in Deutschland vielen Besuchern erst so deutlich ins Bewußtsein trat. So bemerkte dementsprechend auch ein durchaus konservativer Zentrums-Abgeordneter nach der Rückkehr aus Amerika in bezeichnender Weise: , A l s aber am Bahnhof von Hannover ein hoher General, sein Vater, unsern Reisegefährten begrüßte und zwei noble betreßte Diener bereit standen, das Gepäck des Leutnants in Empfang zu nehmen - da war die tiefe Kluft geöffnet, welche in Deutschland die Stände voneinander trennt. Jetzt erst wieder kam mir zum vollen Bewußtsein, daß ich in der .alten Heimat* bin, wo die Menschen nicht nur nach der Größe des Geldsackes, wie es auch in Amerika der Fall ist, bewertet werden, sondern auch nach den Kleidern, nach dem Titel, nach dem Amte, nach der Abstammung, ja sogar nach dem Stande, dem Einer angehört."

Im Vergleich dazu wirkte Amerika als reale Einlösung der Gleichheitsutopie: „Im Allgemeinen jedoch gilt in Amerika der Mensch als solcher noch mehr wie bei uns. Der Arbeiter, sobald er seinen guten Rock und weiße Wäsche angelegt hat, sitzt im .Lunchroom' neben dem Millionär und genießt und verlangt dieselbe prompte Bedienung wie Jener. Da gibts keinen Vorzug im Wagen der Hochbahn und der Eisenbahn, keine Zurücksetzung auf den öffentlichen Spiel- und Vergnügungsplätzen, keine Geringschätzung der Kinder untereinander - mit Ausnahme der Negerkinder."5

Bezeichnend ist also, daß dieser fehlende Klassencharakter nicht nur aus der Perspektive der Arbeiter, sondern auch aus bürgerlicher Perspektive deutlich herausgestrichen und unmittelbar empfunden wurde. Hier wird sichtbar, wie konkret sich dem Reisenden aus dem wilhelminischen Deutschland die gesellschaftliche Gleichheit in den USA im alltäglichen Leben bzw. in der Öffentlichkeit darstellte, zugleich aber - fast unbewußt und im nicht näher beleuchteten Nachsatz - die Feststellung auftauchte, daß anstelle von rigiden Klassentrennlinien in den USA durchaus rigide Rassenschranken etabliert worden waren. Doch diese Rassenschranken wurden in der Mehrzahl der Fälle entweder nur am Rande wahrgenommen oder aber als „natürlich" gewertet, war doch der Schwarze oder auch Indianer im „kolonialen Blick" des wilhelminischen Bürgertums kaum auf eine Stufe mit der weißen Mehrheit zu stellen, zumal die Vergangenheit der Sklavenexistenz der Schwarzen in den USA aus der häufig eingenommenen (vulgär-)sozialdarwinistischen Perspektive die Unterlegenheit dieser ethnischen Minderheit zu erweisen schien. Auf rassistische bzw. sozialdarwinistische Ideologie- und Argumentationsmuster wird im Kapitel über „Mentalitäten" noch zurückzukommen sein; hier gilt es zunächst nur festzuhalten, daß sich die Feststellung sozialer Gleichheit in den USA ausschließlich auf die weiße Mehrheit der Bevölkerung bezog, wobei besonders die im Vergleich zu Europa relativ privilegierte gesellschaftliche Situation der Arbeiter ins Auge sprang; 6 die Feststellung des gering ausgeprägten Klassencharakters der amerikani-

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Liborius Gerstenberger: Vom Steinberg zum Felsengebirg, Ein Ausflug in die neue Welt im Jahre der Weltausstellung von Saint-Louis 1904. Würzburg 2 1905, S. 341 und 343 bzw.insgesamt 340-345. Vgl. dazu auch Below, Bilder, S. 32f u. 79f. So notierte der liberale Publizist und Politiker Theodor Barth nach einer von mehreren Amerikareisen 1907:" Der amerikanische Arbeiter fühlt sich durchweg nicht als Proletarier, nicht als Angehöriger einer

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sehen Gesellschaft wurde denn auch innerhalb des gesamten Diskurses immer wieder aufgegriffen und besonders im Rahmen der Debatte um die intensiv diskutierte Frage nach dem Fehlen des Sozialismus in den U S A fortgeführt und variiert, w a s im folgenden deutlich werden wird. D i e Vergleiche betonten dabei immer wieder, daß sich die soziale Gleichheit in den U S A vor allem auf U m g a n g s f o r m e n und Selbstverständnis, 7 kaum dagegen auf reale materielle Gleichheit bezog. Dabei ist zugleich erstaunlich, daß diese Gleichheit der U m g a n g s f o r m e n und der fehlende „Kastengeist" in den U S A in scharfem Kontrast zu Deutschland und Europa nicht nur allgemein registriert, sondern auch von der Mehrzahl der Autoren auffallend positiv bewertet wurde. S o vermerkte der Journalist A d a m Röder in seinen ansonsten extrem kritischen und insgesamt negativ aufgeladenen „Reisebildern" 1906 dezidiert: „Das einzig Menschlich-Angenehme, was mir in den Staaten auffiel, war die Tatsache, daß man in der Behandlung von Mensch zu Mensch nicht dem lächerlichen antihumanen und unchristlichen Kastengeist fröhnt wie bei uns. Nicht als ob in der Union die Stände beseitigt werden - ich habe im Gegenteil nachgewiesen, daß die Ständebildung ebenso scharf ist wie hier, ja, daß die rein wirtschaftlichen , Klüfte' eher größer sind denn im alten Europa. Aber die Stellung von Mensch zu Mensch ist drüben doch eine ungleich liberale; Aufgeblasenheit, Hochmut, Nichtachtung, Überhebung sind viel weniger an der Tagesordnung denn bei uns. Auch der Hochgestellte glaubt sich nichts zu vergeben, wenn er mit seinem letzten Hausknecht auf dem Fuße der allgemein menschlichen Achtung und Wertschätzung verkehrt. Wie oft wird bei uns auf diesem Gebiete o gesündigt. Und zwar in allen Ständen, nicht etwa nur bei Junkern und Ostelbiern!" Trotz des Gesamteindrucks von Chancengleichheit und egalitärer sozialer Praxis ließ sich allerdings gerade von den genauer beobachtenden Autoren eine wachsende Hierarchisierung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft feststellen, die vor allem auf m a s s i v e und stetig

Klasse, die durch die ökonomische Struktur unseren modernen kapitalistischen Welt auf der Stufe der Lohnarbeiter festgehalten wird. (...) Er betrachtet seine Arbeitskraft als eine Ware, die er möglichst teuer an den Mann zu bringen sucht. (...) Indem er versucht, den Einfluß der gewerkschaftlichen Organisation auf Gesetzgebung und Verwaltung zu steigern, handelt er nicht anders als der kapitalistische Industrielle, der die Erhaltung und Steigerung von Schutzzöllen anstrebt, um das in der geschützten Industrie angelegte Kapital ergiebiger zu machen. In all diesen Bestrebungen der Lohnarbeiter zur besseren Verwertung ihrer Arbeitskraft tritt aber nirgends ein besonderer Klassencharakter hervor." (Theodor Barth: Amerikanische Eindrücke. Berlin 1907, S. 42). Auf die negative Seite dieses fehlenden Klassenbewußtseins innerhalb der Arbeiterschaft und die daraus erwachsenden scharfen Trennlinien zwischen ungelernten bzw. eingewanderten und gelernten bzw. amerikanischen Arbeitern machte allerdings ein Autor aufmerksam, der aufgrund seines starken Interesses für die soziale Frage ein Jahr unter Arbeitern in Chicago gelebt hatte: Vgl. Alfred Kolb: Als Arbeiter in Nordamerika. Unter deutsch-amerikanischen Großstadtproletariern. Berlin 1904, S. 66. 7

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Vgl. dazu auch Richard Oberländer: Von Ozean zu Ozean. Kulturbilder aus dem Westen von Amerika. Leipzig 1885 bzw. 2 1897, S. 29; Wolzogen, Dichter, S. 182f; Conrad M. Unruh: Amerika noch nicht am Ziele: Transgermanische Reisestudien. Frankfurt/M. 1904, S. 23, 34f, 42f und Lamprecht, Americana, S. 17. Adam Röder: Reisebilder aus Amerika. Berlin 1906, S. 129. Entsprechend forderte der Autor auch dazu auf, die Klassenschranken in Deutschland abzubauen. Vgl. ebda, S. 129f sowie Gerstenberger, Steinberg, S. 344f, der hier die USA ebenfalls als Vorbild für Deutschland empfahl, sowie Mancke, Im Fluge, S. 35 und A. Wadsack: Die Studienreise der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft nach Nord-Amerika. Leipzig 1904, S. 126.

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steigende Einkommens- und Vermögensunterschiede zurückzuführen war. Diese Hierarchisierung wurde aufgrund des immer wieder dichotomisch-vergleichenden Denkens von einigen Autoren als „Europäisierung" Amerikas gedeutet, schien sie doch dem demokratischen Urprinzip des amerikanischen Selbstverständnisses entgegenzulaufen und sich europäischen Klassenstrukturen anzunähern. Eine ganze Reihe von Autoren vor allem der landeskundlichen Studien wies demgegenüber jedoch auf eine Form der Hierarchisierung hin, die vorrangig nicht nach traditionell europäischen Mustern wie Stand, Tradition und Herkunft, sondern nach genuin amerikanischen Parametern erfolgte, die vor allem rein ökonomischen Kriterien gehorchten. Insofern wurde diese Form der Hierarchisierung gerade als Kontrast zu Europa bzw. Deutschland empfunden, wo die gesellschaftlichen Riten zwar schärfere mentale und symbolische Trennlinien zogen, die konkrete materielle Ungleichheit insgesamt jedoch geringer ausgeprägt erschien. Diese Beobachtung wurde in einigen Reiseberichten vor allem als Hinweis für Auswanderer thematisiert,9 um vor übertriebenen materiellen Erwartungen zu warnen; es waren jedoch besonders die reflexiver angelegten Amerikastudien, die diese Frage näher analysierten und zu differenzierten Ergebnissen kamen. So konstatierte der Jurist Ernest Bruncken nach langem Aufenthalt in den USA 1911 : „Die soziale Gleichheit, von der mancher demokratische Theoretiker in Europa geträumt, hat in dem klassischen Lande der Demokratie nie länger als ein paar Jahre in den ersten Anfängen der Entwicklung bestehen können. ( . . . ) Die hergebrachten europäischen Begriffe von Adel, Bürgern und Bauern darf man allerdings nicht ohne weiteres auf diese amerikanischen Bildungen übertragen, und vor allem muß man nicht vergessen, daß bis jetzt noch keine amerikanische Gruppe auch nur im entferntesten daran gedacht hat, nach europäischer Weise sich durch Gesetze von anderen Elementen abzuschließen und ihre Fortdauer künstlich schützen zu wollen." 10

Doch das konnte für den Autor nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich eine breite, genuin amerikanische „middle class" immer mehr von einer davon deutlich distinkten Arbeiterklasse mit völlig anderen ökonomischen Möglichkeiten, aber auch abweichenden Werten, Habitusformen und politischen Ansichten unterschied. Vor diesem Hintergrund wirkten die europäischen Klassen durch gemeinsame Geschichte und Kultur sogar verbundener als die amerikanischen (weißen) Bevölkerungsteile, die durch starke ethnische Heterogenität und unterschiedliche Einwanderungsphasen voneinander getrennt erschienen.11 Allerdings war dies eine sehr pronocierte Sicht, die eher für die amerikanische als für die deutsche Perspektive typisch war und dezidiert gegen den allgemeinen Tenor der deutschen Berichte und Amerikabücher anschrieb, die immer wieder den aus kritischer Perspektive spezifisch europäischen,.Mythos" von der amerikanischen Gleichheit variierten. Die meisten deutschen Berichte verkannten daher auch bezeichnenderweise vielfach das Problem sozialer Konflikte in den USA, das zumeist allenfalls im Rahmen der Rassenproblematik wahrgenommen

9 Vgl. z. B. Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 192ff; Aram, Mit 100 Mark, S. 158f; Wolzogen, Dichter, S. 169ff u. 175ff sowie Barnekow, Amerika, S. 142f und Karl Zimmermann: Onkel Sam. Amerikanische Reise- und Kulturbilder. Stuttgart 1904, S. 196f. 10 Ernest Bruncken: Die amerikanische Volksseele. Gotha 1911, S. 24f. 11 Vgl. ebda. S. 24ff und 3 Iff bzw. 67-79. Vgl. dazu auch Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 33 und Rabe, Erholungsfahrt, S. 28.

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wurde; die Binnenstruktur der weißen Gesellschaft dagegen schien durch die fehlenden Klassengegensätze aus deutscher Sicht kaum scharfe soziale Konflikte zu enthalten.12 Auch wenn einige Reiseberichte und Studien innerhalb der Arbeitswelt Konflikte in Form von Streiks und Lohnkämpfen registrierten (worauf im folgenden Kapitel zurückzukommen sein wird), so ließ der Eindruck prinzipieller sozialer Gleichheit in Amerika die Idee „revolutionärer" sozialer Konflikte nicht zuletzt deshalb verblassen, weil solche Konflikte im Kern eben als ein Spezifikum der europäischen Geschichte und Gegenwart erschienen; es war daher auch kein Wunder, daß die Autoren auf der Suche nach Gründen für diesen Unterschied immer wieder primär auf ideelle und mentale Faktoren zurückgriffen, die uns in verschiedenen Varianten im folgenden immer wieder begegnen werden. Dennoch wurden materielle Faktoren in der Argumentation nicht gänzlich ausgeklammert, denn die deutschen Besucher registrierten ja durchaus die verschärften materiellen Ungleichheiten in den USA, wofür die Mehrzahl der deutschen Autoren die rapide ökonomische Expansion der USA, die entsprechende Herausbildung monopolartiger Trusts und die damit einhergehende Kapitalkonzentration in den wenigen Händen einiger großer Wirtschaftsbosse wie Carnegie, Rockefeller oder Vanderbilt verantwortlich machte: „Die Kreise dieser leitenden Geldmenschen sind für jeden gewöhnlichen Sterblichen unbedingt verschlossen; man lebt darin ganz ,unter sich', etwa so wie in manchen Gegenden heute noch der Adel. Das Geld reißt im ,freiesten Lande der Erde' eine Kluft zwischen den Menschen, wie sie jahrhundertelange Arbeit bevorrechl% teter Kasten in Europa kaum fertig gebracht hat."

Und der bekannte Soziologe Werner Sombart kam 1906 zu dem Schluß: „ ( . . . ) soviel ist außer Zweifel, daß die absoluten Gegensätze zwischen Arm und Reich nirgends auf der Erde auch nur annähernd so große sind wie in den Vereinigten Staaten. Vor allem weil ,die Reichen' drüben so sehr viel .reicher' sind als bei uns." 14

Allerdings wurde zunehmend auch darauf hingewiesen, daß nicht nur die mit der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung wachsende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen zur Hierarchisierung der amerikanischen Gesellschaft beitrug, sondern daß zunehmend auch die „feinen Unterschiede" der familiären Herkunft, des Berufs und des entsprechenden Lebensstils eine Rolle im Prozeß der gesellschaftlichen Hierarchisierung und damit vermeintlichen „Europäisierung" spielten.15

12 Zu den Ausnahmen gehörten vor allem Beobachter, die länger in USA lebten bzw. gelebt hatten und dadurch vertieften Einblick in soziale Spannungen gewonnen hatten, so ζ. B. Oetken, Landwirtschaft, S. 580ff und Goldberger, Land, S. 47f. 13 Albert Kleinschmidt: Bilder aus Amerika. Weinheim 1894, S. 115. Vgl. auch ebda., S. 119f sowie Ernst von Hesse-Wartegg: Amerika als neueste Weltmacht der Industrie. Bilder aus Handel, Industrie und Verkehr in den Vereinigten Staaten. Stuttgart 2 1909, S. 89ff und 98ff. 14 Werner Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Stuttgart 1906, S. 15 bzw. 14ff. Vgl. dazu Josef Aquilin Lettenbaur: Jenseits der Alten Welt. Eine neue Amerikabetrachtung. Leipzig 1919 (geschr. 1914), S. 141f. 15 Vgl. Lettenbaur, Jenseits, S. 108-115 und H. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 235-243 und 260ff sowie besonders 310-338. Vgl. auchPlenge, Zukunft, S. 12f u. 61f; Gustav Diercks: Kulturbilder aus den Vereinigten Staaten. Berlin 1893, S. 77 bzw. 354-361 sowie Rambeau, Amerika, S. 108f, 218f u. 228f

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Dennoch - und dies gilt es festzuhalten - blieben diese Unterschiede tatsächlich „feine" gemessen an europäischen Maßstäben; die „Europäisierung" der gesellschaftlichen Trennlinien war insofern nur eine graduelle, und gerade der Aspekt der scharfen materiellen Unterschiede erschien den meisten Beobachtern als spezifisch amerikanisch.16 Wie scharf die sozialen Frontstellungen in Deutschland (und Europa generell) dabei von den Beobachtern des Bürgertums registriert wurden, macht eine Passage aus dem Amerikabuch des Nationalökonomen Johann Plenge von 1912 deutlich, der in seiner kritischen Haltung zwar nicht typisch für die Mehrzahl der Wilhelminer war, aber doch darauf verweist, daß die Frontstellung des Bürgertums gegenüber den Unterschichten nicht nur als Definitonskriterium aus der historischen Rückschau gerechtfertigt ist, sondern auch zeitgenössischem Selbstverständnis entsprang: „ ( . . . ) Das zweite ist die Klassenstimmung einer vom Staat emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft ohne alle starken sozialen Gegensätze (in den USA, A. S.)· Das ist eine Stimmung, wie sie das aufsteigende Bürgertum Europas nie in dieser Reinheit und in dieser Gegensatzlosigkeit gekannt hat, so daß diese Gegensatzlosigkeit einer noch unentwickelten, rein bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die in Amerika zur Tatsache geworden ist, in Europa wie so viele andere rein bürgerlich-kapitalistische Ideen zum Programmpunkt unseres demokratischen Sozialismus hat werden können. Denn in Europa hatte das Bürgertum stets andere Schichten unter sich und neben sich, und seine Klassenstimmung konnte sich nie ungehemmt entfalten. In Amerika ist die bürgerliche Lebensanschauung das allgemeine nationale Bewußtsein geworden." 17

Auch wenn Plenge konzedierte, daß auch in den USA in der Gegenwart ein Wandel zu wachsender Binnendifferenzierung der Gesellschaft zu beobachten war,18 änderte dies an der grundsätzlichen Selbsteinschätzung des deutschen bzw. europäischen Bürgertums „zwischen den sozialen Fronten" im Gegensatz zu den USA nichts. Immer wieder variierten daher nicht nur die Reiseberichte, sondern auch die Amerikastudien die Beobachtung fehlender Klassenstrukturen in den USA, indem im Kontrast zu Deutschland etwa auf das Fehlen eines traditionell privilegierten Geburtsadels hingewiesen 19 oder auch das Fehlen eines distinkten Kleinbürgertums und entsprechender scharfer gesellschaftlicher Stadt-Land-Kontraste registriert wurde.20 Solche Bemerkungen galten allerdings, das muß noch einmal betont werden,

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und zur Rolle von Stadt-Land-Gegensätzen auch Friedrich Oetken: Die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sowie die allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und Kulturverhältnisse dieses Landes zur Zeit des Eintritts Amerikas in das 5. Jahrhundert nach seiner Entdeckung. Berlin 1893, S. 585ff. Vgl. ζ. Β. H. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 33Iff u. 372f bzw. S. 318, wo er trotz großer materieller Unterschiede einen relativ einheitlichen Lebensstil in der amerikanischen Gesellschaft feststellt. Vgl. ferner Oetken, Landwirtschaft, S. 587f. Plenge, Zukunft, S. 60. Vgl. zur Andersartigkeit der „sozialen Frage" in den USA im Vergleich zu Europa auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 472ff. Vgl. ebda, S. 61f. Vgl. ζ. B. Wolzogen, Dichter, S. 280f oder Philipp Harjes: Eine Reise nach dem Land, wo die Arbeit adelt. Objektive Erinnerungen aus den Vereinigten Staaten Nordamerikas. Gotha 1905, S. 131f, der im Rahmen der „Hierarchisierungsthese" jedoch auf das wachsende Entstehen einer „Geldaristokratie" in Amerika hinwies. Vgl. dazu auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 310ff und Rambeau, Amerika, S. 114. Vgl. Lettenbaur, Jenseits, S. 142f.

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in erster Linie den Umgangsformen und Lebensstilen21 (etwa sichtbar anhand von Kleidung und Mode 22 ) und weniger den konkreten materiellen Verhältnissen - es waren also eher „atmosphärische" Stimmungslagen und Gefühle größerer sozialer wie individueller Freiheit, die in diesen Beobachtungen zum Ausdruck kamen und sich zugleich mit dem schon oben angedeuteten Amerika-Mythos vom „promised land" des individuellen Glücksversprechens und der aufgehobenen Unterdrückung verbanden. Entsprechend emphatisch beschrieb der Ökonom und Bankier Ludwig Max Goldberger in seinem so suggestiv betitelten Amerikabuch „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten" vom Anfang des Jahrhunderts die gesteigerte individuelle Freiheit und atmosphärische Mobilität innerhalb der amerikanischen Gesellschaft: „Auf der anderen Seite ist darauf hinzuweisen, daß in Amerika der Entwicklung der menschlichen Individualität größere Freiheit gewährleistet ist. In dieser Freiheit vermögen die Menschen sich selbständiger zu entfalten und ihre Kräfte besser zu stählen, zu ihrem eigenen Glück und zum allgemeinen Besten. In Zusammenhang damit steht die Voraussetzungslosigkeit, die die Menschen lediglich nach dem bewertet und behandelt, was sie im Rahmen des Ganzen und an der Stelle, auf der sie stehen, für das Ganze zu leisten vermögen, ohne Rücksicht auf Herkunft und Glauben. Ohne Neid, vielmehr mit freudiger Anerkennung wird das Emporkommen des einzelnen durch eigene Kräfte und Gaben verfolgt ( . . . ) Es gibt drüben auch keine Orden und Titel; der gesellschaftliche Verkehr kennt keine Rangstufen und macht zwischen Gentleman und Gentleman keinen Unterschied." 23

Mochte hier auch in starkem Maß die klassische Idealvorstellung des Liberalismus vom größten allgemeinen Nutzen durch freie ökonomische Entfaltung des einzelnen prägend gewesen sein, so offenbart diese Einschätzung der USA als dem Kontinent der Einlösung dieser genuin bürgerlichen Forderung doch die Vorstellung von mehr sozialer Gleichheit und, eng damit zusammenhängend, von größerer sozialer Mobilität.

2. Soziale Mobilität Ähnlich einstimmig wie zum Thema der sozialen Gleichheit äußerten sich vor allem die Reiseberichte zur Frage sozialer Mobilität, die primär als gesellschaftlicher Aufstieg begriffen wurde. Die Mehrzahl der Reisenden entwarf das Bild einer deutlich stärkeren Mobilität in den USA vor allem im Vergleich zu Deutschland und Europa insgesamt, die sich analog zum Phänomen der sozialen Gleichheit primär auf ein spezifisches soziales Klima zurückzuführen lassen schien. So vermerkte der Danziger Kommerzienrat Otto Münsterberg 1912 anhand von mehreren Beispielen allgemein: „Amerika ist ein Land des Optimismus. Ein jeder glaubt an sich, an seine Zukunft, an die Bedeutung seiner Stadt und an die Überlegenheit der neuen Welt über die alte. (...) Typisch für Kaufleute und Industrielle ist:

21 Vgl. u. a. Polenz, Land, S. 64 u. 90; Rambeau, Amerika, S. 106f, 114f u. 272f; Sombart, Sozialismus, S. 127ff; Lettenbaur, Jenseits, S. 18f, 137f u. 152ff; Oetken, Landwirtschaft, S. 585ff, 622f u. 633f und Jürgen Ludwig Neve: Charakterzüge des amerikanischen Volkes. Leipzig 1902, S. 26f. 22 Vgl. dazu Oetken, Landwirtschaft, S. 561f. 23 Goldberger, Land, S. 89f.

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aus Armut und Niedrigkeit zu Reichtum und Größe. Selten ein ganz gerader Aufstieg. Meist geht das Leben im Zickzack, Uber Unglücksfälle und Mißerfolge, bei den Siegern aber schließlich aufwärts." 24 U n d selbst ein hoher württembergischer Hofbeamter konnte trotz seiner Abneigung gegen die „Gleichheitsflegelei" in den U S A nicht umhin, die Vorzüge dieser Mobilität und Freiheit d e s einzelnen zu gesellschaftlichem Aufstieg anzuerkennen: „Ich gewöhne mich allmählich an dieses Land der freien Ellenbogen. Thätige, keine Arbeit scheuende Leute, die herüberkommen, können hier auch Erfolge erzielen, wie zu Hause nicht. (...) Es besteht ja ohne Zweifel die sogenannte Gleichheitsflegelei, aber auf der anderen Seite auch die große Annehmlichkeit, daß sich keiner um den anderen zu kümmern braucht und jeder seinen Weg geht, wie es ihm gefallt; die Art der Arbeit und des Erwerbs ist hier ohne Einfluß auf den Grad der Achtung, welche der einzelne genießt." 25 Speziell die Arbeiter schienen aus deutscher Sicht bessere Aufstiegschancen zu haben als in Deutschland. S o machte der Journalist Johannes Hoffmann nach langem Aufenthalt in den U S A 1893 die Beobachtung: „Hier kann ein Arbeiter sich so viel ersparen, daß er ein wohlhabender Mann wird. Das ist in Deutschland nicht möglich. Ein deutscher Arbeiter hatte 1000 Dollars gespart; dafür kaufte er sich einen Store (Laden) und ist jetzt ein steinreicher Mann. Das gelingt natürlich nur Wenigen, aber in Deutschland ist es überhaupt kaum denkbar." 26 Hier wurde w i e in vielen Berichten das berühmte Muster v o m „selfmade man" entwickelt und variiert (etwa im bekannten Mythos „vom Tellerwäscher zum Millionär"), doch stützte es sich auch auf konkrete Beobachtungen, Erfahrungen und Berichte vor Ort, in denen immer wieder von den in Amerika einzigartigen Chancen individuellen Aufstiegs (besonders für Arbeiter) gesprochen wurde. Zwar konstatierte der Unternehmer Philipp Harjes rund zehn Jahre später bezeichnenderweise ein Aufholen und eine g e w i s s e Annäherung Deutschlands an amerikanische Verhältnisse, doch der Vorsprung der U S A blieb in dieser Hinsicht nach w i e vor sichtbar: „Vor 30,40 Jahren, das ist unleugbar, lagen die Chancen ganz entschieden auf amerikanischer Seite. Was im alten Vaterlande unmöglich gewesen wäre: ein Heraustreten aus den erdrückenden Verhältnissen, ein Beginnen auf neuer Grundlage, unbelästigt von den Schatten der Vergangenheit, ein Entfalten aller schlummernden, nach Betätigung ringenden Kräfte - das gewährte die Neue Welt mit ihren tausend Hilfsquellen, ihren zahllosen, noch unbebauten, unerschlossenen Gebieten (...). Seitdem hat aber eine merkliche Verschiebung zugunsten der europäischen Verhältnisse stattgefunden. Auf den weiten Gebieten des Handels und der Industrie haben wir bedeutende Fortschritte gemacht, sind vielfach sogar erfolgreich mit Amerika in die Schranken getreten. Vor allem hat sich der Arbeiterstand im allgemeinen gehoben. Der erweiterte Lehrplan unserer Volksschulen, der durchgeführte Schulzwang, die Fortbildungs und Fachschulen, das politische Leben selbst,

24 O. Münsterberg, Eindrücke, S. 20f. Vgl. dazu auch u. a. Paul Darmstädter: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Leipzig 1909, S. 233. 25 Heinrich Graf Adelmann: 62 Tage unter den Yankees. Reise-Erlebnisse. Stuttgart 3 1894, S. 133. Vgl. auch ebda, S. 46f. 26 Hoffmann, Bilder, S. 30. Vgl. auch Philipp Berges: Moderne Wege zum Wohlstand. Skizzen aus dem nordamerikanischen Leben. Erfurt, Leipzig 1892, S. 5ff und Barnekow, Amerika, S. 129-133, wo er anhand von Beispielen eingewanderter Deutscher den Rollentausch von „Herr und Knecht" in Amerika vor Augen führt.

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das den einzelnen viel mehr ergreift und in Anspruch nimmt als früher, das alles hat neue Verhältnisse, neue Ansichten, neue Menschen geschaffen. Der Arbeiter ist seinem Arbeitgeber viel näher gerückt, der Ton im Verkehr zwischen ihnen ist im großen und ganzen ein vollständig anderer g e w o r d e n . " 2 7

Schwingt in dieser Feststellung sicherlich eine große Portion Stolz auf erreichte unternehmerische Leistungen im „neuen" wilhelminischen Deutschland mit, so springt doch andererseits die Vorbildfunktion des „amerikanische Modells" für die deutsche Entwicklung unverkennbar ins Auge - ein Vorbild, das nicht zuletzt in der Aufhebung von entwicklunghemmenden Klassenschranken zu bestehen schien, wie es die für deutsche Verhältnisse erstaunliche Nähe im Umgang von Unternehmer und Arbeiter und die besondere Rolle eines sozial weitaus offeneren Bildungssystems dokumentierte, worauf zurückzukommen sein wird. Vorerst bleibt festzuhalten, daß fast alle deutschen Reisenden, die sich in ihren Berichten mit diesem zentralen Thema beschäftigten, zu dem Ergebnis allgemein höherer sozialer Mobilität in den USA im Vergleich zu Deutschland kamen. 28 Diese soziale Mobilität wurde - darin folgten die deutschen Beobachter natürlich auch einem massiven amerikanischen Selbstbild - vor allem als Aufstiegsmobilität begriffen, auch wenn gelegentlich auf die Möglichkeit rapiden sozialen Absturzes als Schattenseite der allgemeinen Wirtschaftsprosperität vor allem ab Mitte der 90er Jahre hingewiesen wurde. Dabei hing diese gesteigerte soziale Offenheit der amerikanischen Gesellschaft auch wesentlich mit einer aus deutscher Sicht extremen räumlichen Mobilität der Amerikaner zusammen: „Der echte Yankee setzt seine Holzhütte mitten in die Wüste ( . . . ) . Für ihn ist der Grund und Boden nicht die zukünftige Heimstätte seiner Kinder, sondern eine Quelle möglichst schnellen Erwerbs. Ist die Gelegenheit zu günstigem Verkauf geboten, so verläßt er die Stätte, wo er jahrelang gearbeitet und sucht anderswo schnell und leicht reich zu werden; denn ,to make money' ist für ihn das einzige Losungswort. Wie anders die Deutschen! Mit schwerem Herzen haben sie sich losgerissen von dem heimatlichen Dorf und haben den oft recht kleinlichen Verhältnissen den Rücken gewandt, weil sie nicht im Stande waren, sich den eigenen Herd zu gründen und die eigene Scholle zu bearbeiten. Finden sie aber in der neuen Heimat Gelegenheit sich anzusiedeln, so betrachten sie die neue Heimstätte mit derselben Ehrfurcht, wie sie daheim die alten Bauerngehöfte als unantastbare Erbteile früherer Zeiten angesehen haben ( . . . ) . '

Mochte hier auch bürgerliche „Bauernromantik" eine die eigene Heimat tendenziell verklärende Rolle spielen, so wird doch eine Beobachtung im Vergleich sichtbar, die für die meisten Wilhelminer zur Wahrnehmung Amerikas gehörte und damit zugleich in deutlichem Kontrast zu Deutschland stand. Erneut zeigt sich in diesem Zusammenhang, daß „Mobilität" hier vor allem als mentale Disposition mit entsprechenden sozialen Folgen verstanden wurde und sich keineswegs nur auf die räumliche Mobilität der ländlichen Bevölkerung bezog. 3 0

27 Harjes, Reise, S. 187ff. 28 Vgl. ζ. B. auch Wolzogen, Dichter, S . 183f; Bruncken, Volksseele, S. 30; Ravenschlag, Uncle S a m , S. 8 sowie Wilhelm August Fritsch: Aus Amerika. Stargard 1905, S. 64f und Graf von Vay zu Vaya und zu L u s k o d : Nach Amerika in einem Auswandererschiffe. D a s innere Leben der Vereinigten Staaten. Berlin 1908, S. 289. 29 Paasche, Kultur- und Reiseskizzen, S. 79f. Vgl. auch u. a. Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 294f und Bruncken, Volksseele, S . 88f sowie Diercks, Kulturbilder, S. 68ff. 3 0 Vgl. dazu auch Rambeau, Amerika, S. 166; Sombart, Sozialismus, S. 135-142 und für die 90er Jahre: Diercks, Kulturbilder, S . 241 und Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 701.

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Dies galt auch für einen weiteren Bereich, mit dem sich vor allem die Studien zur amerikanischen Gesellschaft beschäftigten - dem aus deutscher Sicht bemerkenswerten Phänomen eines ausgeprägten sozialen Selbstbewußtseins amerikanischer Arbeiter, das die Autoren besonders im Kontrast zu ihren deutschen bzw. europäischen Kollegen überraschte. So bemerkte der Schriftsteller Wilhelm von Polenz in seinem Amerika-„Bestseller" „Das Land der Zukunft" kurz nach der Jahrhundertwende: „Die Möglichkeit sich vorwärts zu bringen ist es auch, die dem Arbeiterstande von Amerika das besondere Gepräge aufgedrückt hat. Leute, die aus ihrer Mitte Präsidenten, Erfinder, Multimillionäre, Bankdirektoren haben hervorgehen sehn (sie), kennen keine Grenzen für ihre Hoffnungen und Forderungen. (...) Die Leute verlassen nicht bloß ihre Stellung häufig, sie wechseln auch gern ihren Beruf und ziehn in dem großen Lande von einem Staate zum anderen. Die Versuchung, es mit etwas Neuem anzufangen, die Neuerungssucht und Abenteuerlust bilden die Schattenseite der Ungebundenheit. Daß es der Arbeiterklasse an Abschluß nach oben fehlt, daß ein Aufsteigen möglich und häufig ist, kommt aber auch im guten zum Ausdruck. Hoffnung macht selbstbewußt. Der Arbeiter fühlt sich drüben nicht als Sklave der Arbeit. Seine Stellung zum Arbeitgeber ist eine freiere; Unternehmer und Arbeiter stehen sich als gleichberechtigte Kontrahenten gegenüber. Ihr Klassenbewußtsein ist minder vergiftet als bei uns." 31

Wie in einem Brennspiegel sind hier die für die deutsche Wahrnehmung der amerikanischen Gesellschaft um 1900 typischen Muster vergleichend zusammengefaßt: mehr soziale Gleichheit im Sinne des Fehlens einer traditionellen Stände- bzw. Klassengesellschaft, allgemein gesteigerte soziale Mobilität und größere Aufstiegschancen „für jedermann", aber auch leichtere räumliche und berufliche Wechsel - auf diesen Aspekt wird in einem folgenden Kapitel noch gesondert einzugehen sein. Diese Beobachtungen bezogen sich, wie wir gesehen haben, vor allem auf mentale Dispositionen, Lebensstile und Umgangsformen, weniger auf materielle Faktoren, auch wenn gerade im Hinblick auf soziale Mobilität der beobachtete größere materielle Wohlstand amerikanischer Arbeiter im Vergleich zu ihren deutschen oder allgemein europäischen Kollegen als wesentlicher Faktor des Bewußtseins sozialer Aufstiegsmöglichkeiten gesehen wurde. Wie eng jedoch relativer Wohlstand und das Bewußtsein individueller Aufstiegschancen zusammenhingen, beleuchtete Goldberger in seinem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" emphatisch und doch präzise: „Der amerikanische Arbeiter sorgt dagegen durch ausreichende und beinahe gewählte Nahrung und durch gesunde Wohnung für Erhaltung seiner Kraft, deren er bedarf, um die erforderte Leistung zu bewältigen und sich oder seinen Kindern die Möglichkeit zum Vorwärtskommen, zum Übertritt in die Klasse der wirtschaftlich Selbständigen so schnell wie irgend tunlich zu verschaffen. Ist doch in ihm das Bewußtsein lebendig, daß nicht wenige der großen Industrie- und Handelsmänner des Landes selbst aus der Klasse der Vermögenslosen hervorgegangen sind und täglich neu hervorgehen, ebenso wie er weiß, daß mancher, der heute Hunderttausende im Vermögen besitzt, vielleicht schon morgen wieder genötigt ist, als Arbeiter oder Angestellter von vorne anzufangen. Deshalb und ferner weil in Erziehung, Unterricht und im sozialen Verkehr Klassen- und Kastenunterschiede nur in beschränktem Umfang existieren, erweckt der Luxus, den sich der Begüterte

31 Polenz, Land, S. 88. Vgl. auch Rambeau, Amerika, S. 222f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 476-481 und Sombart, Sozialismus, S. 126-136, der besonders die zentrale Rolle der Gewinnbeteiligung der Arbeiter in einigen wichtigen amerikanischen Unternehmen für das gesellschaftliche Selbstverständnis dieser Schicht hervorhob. 32 Goldberger, Land, S. 201f. Vgl. zum geringen Respekt vor Autoritäten generell auch ebda., S. 33f.

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gestatten kann, kein Neidgefühl, daß ihn mißvergnügt und unlustig macht, sondern eröffnet seinem Optimismus immer wieder die Zuversicht, es recht bald oder erneut zu ähnlichen Glücksumständen bringen zu können." 32 Dabei machte Goldberger allerdings die entscheidende Einschränkung, daß dies im wesentlichen nur für den gelernten und in den U S A geborenen oder aber relativ schnell assimilierten Arbeiter gelte; die Einwanderer mit mangelnden Anpassungsfähigkeiten nahm er d e m g e genüber ausdrücklich aus, worauf auch andere Beobachter hinwiesen. 3 3 A l s Begründung für dieses soziale Selbstbewußtsein fügte er eine Bemerkung hinzu, die symptomatisch für die Sichtweise der meisten deutschen Reisenden und Beobachter war und die zugleich zum dritten Komplex, zur Rolle des Staates überleitet: „In solcher jeden einzelnen beseelenden Hoffnung verschlägt es dem amerikanischen Arbeiter nichts, daß weder Staat noch Unternehmertum ihn mit zwangsweiser oder freiwilliger Fürsorge, mit Wohlfahrtseinrichtungen umgeben haben. Kein Industrieller hat ihn nach Art der Krupp und Stumm mit Wohnhäusern versehen, keine staatliche Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- oder Altersversicherung nimmt ihm die Sorge für die Zukunft ab oder erleichtert sie ihm. Manchmal hat es mir, wenn ich in Gesprächen mit diesem oder jenem Arbeiter oder Angestellten von Industriewerken und Verkehrsunternehmungen auf unser vorbildliches soziales Versorgungswerk hinwies, fast den Anschein erweckt, als wolle man drüben das alles schon um deswillen nicht, weil man vermeint, selbst den Schein bekämpfen zu müssen, als sei man nicht stark genug, sich aus eigener Kraft vor den Folgen der Krankheit oder der Erwerbsunfähigkeit zu sichern." 34

3. Gesellschaft und Staat Der „schwache Staat" - s o ließe sich der Grundtenor deutscher Beobachtungen und Analysen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den U S A zumal i m Kontrast zu Deutschland zusammenfassen. Reiseberichte wie Studien konstatierten das gleichermaßen und versuchten es vor allem anhand mangelnder staatlicher Interventionen i m sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu belegen. S o stellte der Nationalökonom August Sartorius von Waltershausen 1 8 9 0 generell im Vergleich mit Europa fest: „Wenn irgendwo der Marx'sche Satz, daß der heutige Staat nur ein Ausfluß der Bourgeoisie zur Verwaltung der eigenen Angelegenheiten sei, eine Bedeutung gehabt hat, so ist dies in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen. Diese Beugung des Gesamtinteresses unter gesellschaftliche Mächte oder diese Staatsschwäche kann indessen aus der demokratischen Staatsform nicht alleine erklärt werden, denn wir finden dergleichen in diesem Maße nicht annähernd weder in Frankreich noch in der Schweiz. Vielmehr ist bisher in den Vereinigten Staaten der stärkste Impuls zu der Bildung einer starken Staatsgewalt lange nicht in der Weise wie in Europa zur Geltung gekommen: die Notwendigkeit des Schutzes anderen Staaten gegenüber. (...) Die Staatsmacht ist infolge dessen auch gegen die inneren socialen Kräfte schwach. Sie ist bisher unfähig gewesen, eine ernstliche Socialpolitik überhaupt nur zu wollen. Dem entspricht, daß das amerikanische Volk, welches wohl Nationalgefühl besitzt (...) kein Staatsgefühl wie der Deutsche, der Österreicher oder der Franzose hat. Der Amerikaner fühlt, daß sein Staatswesen unfähig ist sich

33 Vgl. ebda., S. 200 bzw. Anm.28. 34 Goldberger, Land, S. 202.

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seiner Wünsche anzunehmen. Er verlangt daher auch nicht viel von ihm und war bisher stolz darauf, nicht zu sehr auf dasselbe rechnen zu brauchen." 35 D o c h nicht nur aus kritischer sozialdemokratischer Sicht wurde dieser fundamentale Unterschied z w i s c h e n Deutschland bzw. Europa und den U S A konstatiert. S o vermerkte der Ingenieur J. H. West 1904 ganz d e m liberalistisch-fortschrittlichen Credo folgend: „Während wir in Europa damit beschäftigt sind, in mühsamer Arbeit ein altes, weitgehend entwickeltes System von Gesetzen allmählich umzugestalten, den materiellen und intellektuellen Fortschritten der Nationen entsprechend, und nur langsam und in hartem Ringen uns von den Ketten befreien, die uns an die Vorzeit binden, geht die Entwicklung in Amerika fast den entgegengesetzten Weg. Dort ist man erst dabei, ein System von Gesetzen zu schaffen. (...) Man spricht drüben mit Bezug auf Europa von seinen .patronizing governments' - oder in freier Wiedergabe des zu Grunde liegenden Gedankens, von der , Bemutterung europäischer Untertanen durch die Behörden und die Gesetze' - und will von einem ähnlichen weitgehenden Schutz drüben nichts wissen." D i e s e r Grundgedanke des Vergleichs zwischen „starkem Staat" in Deutschland oder Europa und „schwachem Staat" in den U S A dominierte die Debatte der Wilhelminer, auch wenn die Bewertungen dabei unterschiedlich ausfielen. Die positive Sicht Wests, der im folgenden den schwachen Staat für die gewaltige ökonomische Prosperität in den U S A als wichtigen Faktor einschätzte und den Sozialstaat in Amerika aufgrund der persönlichen „Stärke" und Durchsetzungskraft der Auswanderer und der eingeborenen Amerikaner für nicht notwendig hielt, war nicht unbedingt typisch, im Gegenteil: In den meisten Berichten dominieren - ähnlich w i e bei Waltershausen, der im Verlauf seines Berichts auf die zukünftige Notwendigkeit eines Sozialstaates auch in den U S A hinwies 3 7 - doch die Schattenseiten, und es läßt sich aus den A n a l y s e n zugleich ein gewisser Stolz angesichts der vergleichsweise enormen Leistungen des deutschen (Sozial-)Staats herauslesen. S o vermerkte zum Beispiel der Beamte Alfred Kolb, der ein Jahr lang als Arbeiter in Chicago kurz nach der Jahrhundertwende die sozialen Verhältnisse der Unterschichten vor Ort genauestens erkundet hatte, über staatliche Armenfürsorge im Vergleich: „ Vielleicht ist die Art, wie unsere Polizei mit diesem Problem sich abfindet, auch keine ideale. Immerhin erkennt unser Staat es als seine Schuldigkeit an, keinen verhungern zu lassen. Die Erkenntnis sozialer Verpflichtung beginnt der großen Republik erst langsam aufzudämmern. Noch herrscht in ihr die vor einem Menschenalter vielleicht zutreffende Meinung, daß, wer arbeiten will, auch Arbeit findet, und daß deshalb die Gesetzgebung nicht nötig habe, sich über die Frage der Armenfürsorge den Kopf zu zerbrechen." 38

35 August Sartorius von Waltershausen: Der moderne Sozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin 1890, S. 410f. Das geringe „Staatsbewußtsein" wurde auch immer wieder im Hinblick auf ein für eine Demokratie zunächst erstaunliches geringes politisches Engagement des Durchschnittsamerikaners konstatiert. Vgl. dazu u. a. Barth, Eindrücke, S. 102ff; Hoffmann, Bilder, S. 66ff; Wolzogen, Dichter, S. 67f und Niese, Bilder, S. 15f. 36 J. H. West: Hie Europa! Hie Amerika!. Berlin 1904, S. 15f. Vgl. dazu auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 256ff und Polenz, Land, S. 98ff sowie Oetken, Landwirtschaft, S. 610-614. 37 Sartorius von Waltershausen, Sozialismus, S. 413f. Auch Hugo Münsterberg kam zu dem Schluß, daß die Staatsidee in den USA in der Zukunft an Gewicht gewinnen müsse und würde. Vgl. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 329f. 38 Kolb, Arbeiter, S. 24.

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Und er fuhr in diesem Sinne fort, indem er das Ergebnis einer Diskussion unter deutschen und amerikanischen Arbeitern zusammenfaßte: „Die deutsche Sozialreform, die Vorteile unserer Kranken, Unfall und Invalidenversicherung, unserer Gewerbeinspektion und ihre Handhabung durch Beamte mit reinen Händen fanden volle Anerkennung. Besonders dieser letzte Vorzug, die Integrität unseres Beamtenstandes wurde gegen die Amerikaner gern betont." 39 Gerade i m Zusammenhang mit der Debatte über die Qualität staatlicher Verwaltung wurde von den deutschen Reisenden immer wieder das Problem einer aus ihrer Sicht massiven politischen und staatlichen Korruption in den U S A als Folge von schwachem Staat und allgemein demokratischer Verfassung diskutiert, zumal hier der Kontrast zum amerikanischen Selbstbild einer „idealen" politischen Verfassung direkt in die Augen stach. Verantwortlich für diese Korruption des Staatsapparates schien vor allem die allgemeine Ökonomisierung des öffentlichen und politischen Lebens in den U S A zu sein, die immer wieder unter dem Topos von der „Politik als Geschäft" diskutiert und variiert wurde. Die Deutschen nahmen diese Entwicklung nicht zuletzt deshalb so stark wahr, weil sie die Beobachtung machen mußten, daß die Eliten des Landes i m Unterschied zu Deutschland gerade nicht in den Staatsdienst, sondern in die weitaus lukrativere und auch gesellschaftlich angesehenere Wirtschaft drängten: „Wie in Amerika .regiert' wird, davon hat der Deutsche gar keine Ahnung. Wir sind in Deutschland gewöhnt, die Regierung als eine Institution zu betrachten, die Autorität, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit besitzt. Gewiß haben unsere Beamten recht vielfach einen großen Dünkel und neigen zu schematischer Behandlung bürgerlicher Interessen. Aber wir wissen, daß sie treu sind und ehrlich und daß Unbestechlichkeit der Grundzug ihres Beamtencharakters ist. Mit diesen Vorstellungen muß man ganz aufräumen, wenn man amerikanische .Regierungsverhältnisse' betrachtet. (...) Die Politik ist in den Vereinigten Staaten durchaus Geschäft. Wer die Macht hat, nutzt sie aus, um sich und seinen Freunden die Taschen zu füllen." 40 Aber auch sachlichere Stimmen sahen das Problem amerikanischer Administrationen, w o b e i vor allem eine geringere Professionalisierung der Beamten in den U S A im Vergleich zu Deutschland als Hauptgrund ins Feld geführt wurde. 4 1

39 Ebda, S. 87f. Vgl. auch Harjes, Reise, S. 73f, 190f u. 233ff; Holitscher, Amerika, S. 313f; Barnekow, Amerika, S. 13f u. 126ff und Karl Zimmermann: Onkel Sam. Amerikanische Reise- und Kulturbilder. Stuttgart 1904, S. 187. 40 Röder, Reisebilder, S. 28f. Vgl. auch ebda, S. 34ff sowie Unruh, Amerika, S. 64f; Zimmermann, Onkel Sam, S. 185f; Wolzogen, Dichter, S. 64ff; West, Hie Europa!, S. 20f; Barnekow, Amerika, S. 145-161 und Friedrich Klein: Nordamerika und Ostasien. Reiseerinnerungen mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Interessen. Leipzig 1907, S. llOf. Zum Fehlen der Eliten in der Politik vgl. u. a. HesseWartegg, Occident, Bd. 3, S. 65ff u. 70-77. 41 Vgl. ζ. B. Robert Bürgers: Kulturbilder aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Liegnitz 1911, S. 26. Die eminente Bedeutung des Staatsbeamtentums in Europa im Gegensatz zu den USA hob auch Max Weber in seinem Vortrag auf dem wissenschaftlichen Kongreß zur Weltausstellung in St.Louis 1904 hervor: „In alten Kulturländern begrenzter wirtschaftlicher Expansionsmöglichkeiten spielen der Gelderwerb und seine Vertreter eine erheblich geringere Rolle als in einem Lande, das noch neu ist. Die Schicht der Staatsbeamten ist und muß in Europa sehr viel wichtiger sein als in den Vereinigten Staaten. Die sehr viel kompliziertere soziale Organisation macht in Europa ein Heer fachgeschulter Beamter mit lebenslänglicher Anstellung unentbehrlich, das in den Vereinigten Staaten auch dann zahlenmäßig geringer sein wird, wenn die Beamtenreformbewegung alle ihre Ziele erreicht haben wird." Vgl. Max Weber: Kapitalismus und Agrarverfassung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108,3, 1952, S. 437.

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Insgesamt bot sich diese politische Landschaft kaum als Vorbild für deutsche Verhältnisse an, ja nicht selten wurde der Korruptionsvorwurf unmittelbar mit der demokratischen Regierungsform verknüpft; der Mangel einer starken Staatsidee bzw. einer staatlichen Zentralgewalt (was implizit natürlich zumeist das Modell einer konstitutionellen Monarchie meinte) ließ so aus wilhelminischer Sicht eine Herrschaft der Trusts, Wirtschaftsmonopole und korrupten Berufspolitiker auf allen Ebenen bis hinunter in die Kommunen entstehen.42 Zwar wurden auch Reformbemühungen und Gegenmaßnahmen gegen die Korruption gelegentlich registriert, aber dies blieben Einzelstimmen, und es ist insgesamt erstaunlich, wie wenig sich die organisierten Reformbewegungen des späten 19. Jahrhundert wie die „Populisten" oder die Reformansätze innerhalb der „progressive era" nach 1900 in den Berichten und Studien niederschlagen.43 Zu dem Eindruck allbeherrschender Korruption und einer Politik „als Geschäft" kam eine für Europäer kaum vorstellbare Fülle von Beschränkungen im zivilen Leben durch einzelstaatliche Gesetze hinzu, die vor allem im Rahmen der amerikanischen Sonntagsheiligung bzw. Temperenzbewegung als Alkoholverbot in vielen Staaten von den deutschen Reisenden kritisch vermerkt wurde, selbst wenn ansonsten durch den Kontrast mit amerikanischen Freiheiten auch über die „polizeistaatliche" Gängelung des Bürgers in Deutschland kritische Bemerkungen fielen. So konstatierte der Unternehmer Max Bahr 1906: „Neben der Freiheit von Polizeibevormundung finden sich doch auch Einschränkungen, und sie werden mit einer Rücksichtslosigkeit durchgeführt (...), welche uns Bürgern des Polizeistaats mehr als spanisch vorkommt. Daß am Sonntag ohne Essen kein Glas Bier verzapft, daß kein weltliches Schauspiel aufgeführt wird, in manchen Staaten selbst im Eisenbahnwagen beim Durchfahren kein Bier oder Alkohol geschänkt werden soll, all dies sind Dinge, die uns unverständig erscheinen und die zweifellos übej das berechtigte Maß hinausgehen." 44

Gerade dieser Aspekt staatlicher Restriktionen vertrug sich in deutschen Augen kaum mit der Doktrin vom Land der unbeschränkten Freiheit und ließ beobachtete Vorzüge wie die im Ver-

42 Vgl. Gerstenberger, Steinberg, S. 295-303; Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 54f; Bürgers, Kulturbilder, S. 13f; Lettenbaur, Jenseits, S. 50f u. 141f; Polenz, Land, S. 68f; Neve, Charakterzüge, S. 21ff; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1,S. 94f und im Hinblick auf lokale Beispiele Kummer, Weltreise, S. 109ffu. 160f (Pittsburgh) und Mancke, Im Fluge, S. 42ff (Chicago) sowie allgemein Julius Scherff: Nord-Amerika. Reisebilder, sozialpolitische und wirtschaftliche Studien aus den Vereinigten Staaten. Leipzig 1898, S. 262-265 und Wernsdorff, Per aspera, Bd. 1, S. 109f sowie Hugo von Knebel-Doberitz: Besteht für Deutschland eine amerikanische Gefahr? Berlin 1904, S. 84f. 43 Zu den Gegentendenzen vgl. Barth, Eindrücke, S. 102ff und Max Bahr: Reise-Berichte über Amerika. Landsberg a.W. 1906, S. 250f. Die wachsende soziale Kritik in den USA (Populisten u. a.) findet als wichtige politische und gesellschaftliche Kraft nur bei dem „Fachmann" Johann Plenge Erwähnung, der (als Einzelstimme) die allgemeine Korruption nicht als spezifisch amerikanisches, sondern als allgemein kapitalistisches Phänomen relativierte, zugleich aber auch die amerikanische Verfassung als veraltet und damit reformunfähig und korruptionsanfällig kritisierte. Vgl. Plenge, Zukunft, S. 72-76 bzw. 41f u. 63-67. 44 Bahr, Reise-Berichte, S. 249. Vgl. auch u. a. Fulda, Eindrücke, S. 269f sowie Wolzogen, Dichter, S. 174f; Zimmermann, Onkel Sam, S. 192ff und O. W. Nölting: Unter dem Sternenbanner. Hannover 2 1907, S. 31f.

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gleich zu Deutschland geringere individuelle Gängelung des Bürgers im Umgang mit Polizei und Behörden45 insgesamt verblassen. Dennoch wäre es verkürzend, wollte man nur die Negativsicht des amerikanischen Staates beleuchten. Gerade die grundsätzlich positiven Amerika-Berichte hoben durchaus auch die Vorzüge der amerikanischen Staatsform hervor, in der der einzelne nicht als „Untertan" unter der Autorität eines vom Volk abgelösten allmächtigen Staates zu stehen schien, sondern der Staat als Teil des Volkes und als dessen Diener gedacht und praktiziert wurde. In diesen Berichten wurde deutlich der Akzent auf den Grundgehalt der amerikanischen Verfassung als einer Staatsform „vom Volk, durch das Volk und für das Volk" gelegt, während die vorwiegend negativ urteilende Mehrzahl der Berichte vor allem Krisenphänomene des späten 19. Jahrhunderts aufgriff und die zugrundeliegende demokratische Idee kaum noch mitdachte. So schrieb der Jurist und Deutschamerikaner Ernest Bruncken wie schon im Hinblick auf die Frage der sozialen Schichtung gegen die „herrschende Meinung" an, als er 1911 ausführte: „Zwei Dinge sind es hauptsächlich, in denen die amerikanische Auffassung des Staatswesens sich von der europäischen unterscheidet. Ganz fremd ist dem Amerikaner der Gedanke, daß die Regierung ein vom Volke Verschiedenes, sich gegensätzlich zu ihm Verhaltendes ist; und die auf Zwangsmitteln beruhende Tätigkeit der Regierung ist im Vergleich zu Europa auf ein sehr bescheidenes Maß zurückgesetzt." 4 6

Und in deutlicher Kritik an seinen Landsleuten vermerkte der Journalist Richard Oberländer zu den Erfolgen der amerikanischen Republik bildhaft und etwas pathetisch: „Die Verteidiger der monarchischen alten Regierungsform haben die Behauptung aufgestellt, daß die Republik in gesellschaftlicher Beziehung eine Karosse sei, die ohne Hemmschuh einen Berg hinunterlaufe, um am Fuße desselben schließlich elendiglich zu zerschellen. Sieht man aber nach mehr denn hundertjährigem Laufe den glänzenden Wagen der Republik auf ebener Bahn dahinrollen und beobachtet die gefälligen Formen, welche nicht nur die .oberen Zehntausend' kennzeichnen, sondern die sich bis in alle Kreise erstrecken, so kann man doch nicht umhin, obige Behauptung Lügen gestraft zu sehen (.. .)." 4 7

45 Als Beispiel für eine durchaus kritische Sicht deutscher Verhältnisse in dieser Hinsicht kann der Bericht von Gustav Müller dienen, wo es heißt: „.. .ich glaube, daß die Amerikaner, wenn sie zu uns nach Deutschland kommen, unendlich viel mehr Mängel in unserem lieben Vaterlande finden würden, wo die Pedanterie, der kleinliche Kastengeist, der Militarismus und all die verknöcherten Vorurteile unserer Gesellschaft gemeinsam einen prächtigen Blumenstrauß bilden, dessen unheimlicher Duft den freien Republikanern etwas unheimlich um die Nase wehen dürfte." (Müller, Leben, S. 98f). Vgl. auch ebda., S. 108 sowie Below, Bilder, S. 21f u. 96; Rabe, Erholungsfahrt, S. 28f; Kummer, Weltreise, S. 207f und Diercks, Kulturbilder, S. 61, der die stärkere Gesetzesloyalität des einzelnen in den USA im Vergleich zum „polizeistaatlichen" Europa hervorhob. 46 Bruncken, Volksseele, S. 51. Vgl. auch ebda, S. 52f u. 60f sowie Barth, Eindrücke, S. 102ff und Goldberger, Land, S. 87ff, der das autoritäre Verhältnis des Staates gegenüber dem Bürger in Europa kritisch dem „dienenden" in den USA gegenüberstellte. 47 Oberländer, Ozean, S. 27. Vgl. dazu auch Barth, Eindrücke, S. 1 lOff und Lamprecht, Americana, S. 104f, der die amerikanische Verfassung durchaus als Vorbild für die europäischen Staaten empfahl. Entsprechend positiv notierte auch der Arbeiter Fritz Kummer auf seiner Weltreise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, daß die amerikanischen Arbeiter aufgrund dieser Verfassungsform im Gegensatz zu ihren europäischen Kollegen nicht grundsätzlich staatsfeindlich eingestellt seien. Vgl. Kummer, Weltreise, S. 207ff.

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Diese Wendung, gerade das politische Modell in Gestalt der amerikanischen Verfassung für die Prosperität und Modernität der USA verantwortlich zu machen, wurde natürlich von der Mehrzahl der Autoren nicht geteilt, doch eine publizistisch einflußreiche Minderheit wurde nicht müde, gegen die gängige wilhelminische Vorstellung von der per se korrupten amerikanischen Demokratie anzuschreiben, indem sie die allgemein positiv gewertete soziale Gleichheit nicht von der politischen Verfassung trennte und als rein ökonomisches Phänomen betrachtete. Daß andererseits das Ausmaß politischer Korruption vor allem während des berühmt-berüchtigten „Gilded Age" vor 1900 durchaus nicht nur als eine Karikatur deutscher Autoren gesehen werden kann, wird abschließend noch zu zeigen sein.

4. Freiheit und Gleichheit in Amerika die Fortdauer eines langlebigen europäischen „Mythos"? Es ist oben deutlich geworden, daß die deutschen Amerikaberichte und -Studien das Bild einer vor allem im Vergleich zu Deutschland (und insgesamt zu Europa) weitgehend klassenlosen Gesellschaft in den USA entwarfen und dabei ideelle und mentale Faktoren ins Zentrum stellten. Die Befunde fielen dabei auffallend einhellig aus, so daß kaum Unterschiede im Hinblick auf zeitliche Konjunkturen oder Sozial- und Berufsprofile feststellbar sind. War es also vor allem eine spezifische Bewußtseinslage, die zumindest das „weiße Amerika" von europäischen Trennlinien im Hinblick auf Selbstbewußtsein, Lebensstile, Berufe usw. weitgehend freihielt, so fällt doch die vorwiegend positive Bewertung dieser Gleichheit ins Auge, auch wenn es immer wieder Berichte gab, die die „Gleichheitsflegelei" einseitig karikierten. Angesichts dieser Tatsache darf vermutet werden, daß hier durchaus der grundsätzlich bürgerliche Wert sozialer Chancengleichheit und des Abbaus geburtsständischer Privilegien vom Anfang des Jahrhunderts nachwirkte und mental das wilhelminische Bürgertum in seinem Selbstverständnis prägte. Dieser „urbürgerliche" Wertekomplex konnte dabei um so leichter gerade anhand des Amerikabildes wirksam werden, als es sich hierbei vor allem um ideelle Faktoren handelte, die das Gesellschaftsbild ja insgesamt stark dominierten. Kam man dagegen auf den materiellen Bereich zu sprechen, so löste sich das Bild des „Landes der Freiheit und Gleichheit" dann doch teilweise bis zur Unkenntlichkeit auf, ja die gigantische ökonomische Prosperität der USA mit ihrer Kapitalkonzentration in wenigen Händen ließ eine wachsende Ungleichheit entstehen, die den Mythos nicht nur der realen Gleichheit, sondern auch der Chancengleichheit verblassen ließ und vielen als „Europäisierung", einigen genaueren Beobachtern allerdings als spezifisch amerikanische, da allein nach ökonomischen Kriterien erfolgende Hierarchisierung erschien. Grundsätzlich fällt anhand der Urteile auf, daß fast alle vergleichenden Beobachtungen Deutschland und Europa weitgehend gleichsetzten, so daß gerade die gesamtgesellschaftlichen Unterschiede eher als europäisch-amerikanische denn als deutsch-amerikanische Gegensätze beschrieben wurden; Deutschland erschien allerdings im Hinblick auf Klassengesellschaft und starken Staat auch vor dem Hintergrund der massiven deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert als besonders krasser Fall innerhalb Europas und verkörperte in

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den Augen nicht nur linker Kritiker durchaus eine Fülle alteuropäischer „feudaler" Relikte, die es von Amerika auch im europäischen Vergleich besonders abhob. Stellt man den diachronen Vergleich an, so zeigt sich, daß der Mythos von sozialer Gleichheit und mehr Aufstiegschancen schon in der ersten Jahrhunderthälfte zum mentalen Inventar deutscher Amerikareisender gehört hatte. Offenbar wurde somit der „selfmade-man" in deutschen Augen bereits im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts zum amerikanischen „Idealtyp" stilisiert. Am Ende des Jahrhunderts rückte allerdings, wie gesehen, die wachsende soziale Ungleichheit, die vorher kaum wahrgenommen worden war, massiv in den Vordergrund und relativierte das Bild in der gezeigten Weise. 48 In diesem Beobachtungsmuster wirkte der oben schon kurz skizzierte amerikanische Urmythos verwirklichter europäischer Hoffnungen von Gleichheit und Freiheit fort und erwies sich auch im Laufe des 20. Jahrhunderts noch als relativ stark, indem er immer wieder Grundtendenzen des europäischen Bildes von der amerikanischen Gesellschaft weiterhin prägte, was eine Fülle von Reiseberichten bis in die Nachkriegszeit belegt 49 - insofern haben wir es also beim Amerikabild der Wilhelminer gerade in diesem Bereich nicht mit einer völlig zeitspezifischen Sicht, sondern eher mit besonderen Schwerpunktsetzungen innerhalb eines sehr langlebigen europäischen Musters zu tun, das vor allem europäische Verhältnisse reflektierte. Entsprechend steht auch das politische Bild in einer deutlichen Tradition des 19. Jahrhunderts. Das Verblassen des Ideals der amerikanischen Verfassung zugunsten eines düsteren Gemäldes aus Parteienstreit, „Pöbelherrschaft", Korruption, Agitation, Bestechung und des Fehlens eines höheren Staatsideals bzw. einer höheren Instanz „über den Parteien" im Sinne deutschen Staatsdenkens läßt sich bereits mit der Wende von 1848/49 beobachten, 50 hat mithin auch damit zu tun, daß in Deutschland die bürgerliche Revolution gescheitert war und das Bürgertum nun die mentale „Flucht nach vorn" antrat und sich besonders dann nach 1871 in wachsendem Maße mit dem starken Staat identifizierte. Allerdings darf die Spezifizität dieser deutschen Einschätzung nicht übertrieben werden. Gerade der synchrone Vergleich zeigt, daß das politische Bild der USA spätestens ab der zweiten Jahrhunderthälfte bei der Mehrzahl der europäischen Besucher, also auch bei Briten und Franzosen, deutlich an Ausstrahlungskraft verlor, so daß nach 1850 und teilweise sogar schon davor die negativen Auswüchse im geschilderten Sinne zu dominieren begannen. 51 Besonders in Frankreich scheint sich der Mythos von „Freiheit und Gleichheit" in den USA

48 Vgl. Brenner, Reisen, S. 339f. Vgl. zur Beurteilung der Rassenproblematik auch S. 362-374, wobei auch hier eine Kontinuität deutlich wird, die soziale Konflikte vor allem zwischen Schwarz und Weiß situiert und zugleich vielfach in rassistischer Argumentation die Rasse der (nach 1865 ehemaligen) Sklaven für „natürlich unterlegen" erklärte. Auffallend ist allerdings, daß der Rassenproblematik ähnlich wie bei den Wilhelminern insgesamt relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, weil zum einen die Vergleichsmöglichkeiten zu Deutschland fehlten und zum anderen der Süden schon vor dem Bürgerkrieg weitaus weniger bereist wurde. 49 Vgl. Kaelble, Weg, S. 5 6 - 6 0 und Vann Woodward, Old World, S. 107-114. Vgl. ferner für die 20er und 30er Jahre U. Haupenthal: Amerika im Fotojournalismus der 1920er und frühen 1930er Jahre. In: Mesenhöller (Hg.), Mundus Novus, S. 146-150 und für die Bundesrepublik Wuggenig, Amerikabild, S. 38ff. 50 Vgl. Brenner, Reisen, S. 346-357. 51 Vgl. Portes, Une fascination, S. 151-167 bzw. Rapson, Britons, S. 62ff.

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am Ende des Jahrhunderts rapide aufgelöst zu haben, so daß die U S A als soziales Modell deutlich in den Hintergrund traten; allerdings ist auffallend, daß ähnlich w i e i m Fall der deutschen Reisenden und Beobachter die Dichotomie aus geringeren Klassen- und Trennlinien bei anwachsenden bzw. schärferen materiellen Ungleichheiten in den U S A im Gegensatz zu Frankreich bzw. Europa insgesamt das Bild zu beherrschen begann. 5 2 S o vermerkte ζ. B. der Historiker und Ö k o n o m Vicomte Georges d'Avenel 1908 als charakteristischen Unterschied zu Frankreich ähnlich w i e die Wilhelminer im Hinblick auf Deutschland: „In Frankreich sind alle Bürger vor dem Gesetz gleich, aber sie sind es eben nur vor dem Gesetz. Sie sind es nicht im direkten gesellschaftlichen Umgang untereinander. Es existieren in unserer Republik immer noch vielfaltige Klassenunterschiede, und diese Klassenunterschiede werden nur durch die Vorstellungen selbst derjenigen, die sie abschaffen wollen, aufrechterhalten. (...) Man glaubt bei uns an solche Unterschiede. (...) In Amerika glaubt man daran weder an der gesellschaftlichen Spitze noch in den Unterschichten. Jeder ist fest davon überzeugt, Gleicher unter Gleichen zu sein; das ist ein großes Glück und eine enorme Stärke für die Nation." 53 Ähnlich fielen auch die Ansichten zur sozialen Mobilität bei den Franzosen aus. A u c h hier schien die französische Gesellschaft im Vergleich zur amerikanischen d e m Individuum weitaus mehr Hindernisse und traditionelle Vorgaben entgegenzustellen, die der Philosoph Emile B o u t m y 1911 folgendermaßen zusammenfaßte: „Fügen wir hinzu, daß derjenige, der in Frankreich seinen Weg machen will, sich durch tausenderlei Umstände und Zufälle behindert fühlt und zugleich in starkem Maße von vielen anderen abhängig ist. In Amerika fühlt sich dagegen jeder im allgemeinen als seines eigenen Glückes Schmied; es genügt ihm, den Moment abzupassen, in dem er seine Chance haben wird, und dieser Augenblick wird immer kommen. Er beugt sich unter der Last seiner Aufgaben, aber niemals vor mächtigeren Personen, die Zuwendungen verteilen." 54

52 Vgl. dazu Portes, Une fascination, S. 271-276 u. 292ff. Dabei wird deutlich, daß die französischen Beobachter gerade auch die scharfen Unterschiede zwischen gelernten bzw. in Amerika geborenen und ungelernten bzw. eingewandereten Arbeitern registrierten und ihnen damit die soziale Mobilität in den USA deutlich gebremster erschien. 53 Vicomte G. d'Avenel: Aux Etats-Unis. Les champs - les affaires - les idées. Paris 1908, S. 201f. Zugleich vermerkte dieser Autor auch die „feineren" Unterschiede der „Sozialmilieus" innerhalb der europäischen Gesellschaften, als er schrieb: „Kein Amerikaner hat das Gefühl, daß es zwischen den Einzelnen unüberbrückbare Gräben geben könnte und daß ein gestern reich gewordener Bergarbeiter nicht einem vor dreißig Jahren zu Vermögen gekommenen Bodenspekulanten gleichgestellt wäre. (...) In Europa dagegen sind die Rituale des Umgangs und der Lebensformen komplizierter, hier ist der Umgangston stark durch bestimmte Gesellschaftsmilieus unterschieden, und jeder ist in ein solches Milieu eingebunden, das mehr oder weniger seine politischen Ansichten bestimmt." Vgl. ebda., S. 204. Vgl. ferner u. a. die umfassende und sehr ausgewogene Gesellschaftsstudie von Marie Dugard: La société américaine. Paris 1896, S. 18ff bzw. im Hinblick auf schärfere materielle Trennlinien in den USA z. B. Georges Sauvin: Autour de Chicago. Paris 1893, S. 85f u. 99f. 54 Emile Boutmy: Elements d'une psychologie politique du peuple américain. Paris 31911, S. 102. Dementsprechend erschien auch hier der persönliche materielle Reichtum als einziges gesellschaftliches Kriterium der Differenzierung, was zugleich dazu führte, daß die Mehrzahl der Eliten nicht in die Politik, sondern in die Wirtschaft ging - auch dies erinnnert deutlich an die Sicht der Wilhelminer. Vgl. ebda., S. 95-101 und u. a. Edmond de Nevers: L'âme américaine. Bd. 2, Paris 1900, S. 213f.

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Folge dieser sozialen Mobilität war damit auch aus französischer Sicht ein ungewöhnliches Selbstbewußtsein des Durchschnittsamerikaners, das nicht zuletzt auf einen im Vergleich zu Europa außergewöhnlichen „Wohlstand" der Arbeiter in Amerika zurückging - ein Wohlstand, der überdies zu einer mit europäischen Maßstäben kaum mehr zu messenden „Verbürgerlichung" dieser Schicht zu führen schien.55 Und auch die britischen Reisenden waren von Chancengleichheit, egalitären Umgangsformen und der Freiheit von feudalen Ständestrukturen in den USA im Gegensatz zu Europa beeindruckt, wenngleich auch hier die Verschärfung der sozialen Frage gegen Ende des Jahrhunderts erste Schatten warf und das Bild von der idealen gleichen Bürgergesellschaft durch gestiegene und teilweise im Vergleich zu Europa krassere materielle Ungleichheit massive Risse bekam. 56 Doch der Kern einer „Verbürgerlichung" breiter Teile der amerikanischen Bevölkerung wurde auch von vielen britischen Besuchern registriert, so ζ. B. von dem bekannten Schriftsteller Herbert George Wells in seinem Buch über die „Zukunft in Amerika" von 1906, das in der deutschen Fassung von 1911 auch von vielen deutschen Lesern rezipiert wurde: „Das amerikanische Gemeinwesen, das muß sehr betont werden, entspricht durchaus nicht einem europäischen in seiner Gesamtheit, sondern nur seinen mittleren Massen, also der Klasse der Handeltreibenden und Industriebeflissenen etwa vom Magnaten bis zum Kommis und gelernten Arbeiter. Es ist der Kern des europäischen Organismus, dem aber das sinnende Haupt und die versklavten unteren Extremitäten fehlen. (...) Amerika ist ganz wesentlich eine zu einem Gemeinwesen ausgewachsene Mittelstandsklasse (,..)." 5 7

Für die Tatsache eines im Kern „europäischen" und nicht nur deutschen Blicks spricht ferner, daß die sozialen Konflikte innerhalb des weißen Amerika ebenfalls von Engländern und

55 Entsprechend schrieb der Schriftsteller Edmond de Nevers um 1900 überrascht: „Wer auch immer Gelegenheit gehabt hat, Baustellen, Fabriken, Werkhallen oder Minen in Europa und Amerika zu besichtigen, hat sich nicht des Eindrucks einer in rein materieller Hinsicht eindeutigen Überlegenheit der amerikanischen Produktion erwehren können. Der in Gegenwart seines Vorarbeiters demütige und gehorsame europäische Arbeiter ( . . . ) erscheint als ziemlich armselige Gestalt neben dem robusten und selbstbewußten amerikanischen Arbeiter. (...) Bei diesem spürt man die vertraute Würde des freien Mannes, und man hat bei ihm den Eindruck, daß ihm eigentlich nichts unmöglich ist." (de Nevers, L'âme américaine, Bd. 2, S. 262f.). Vgl. auch u. a. Sauvin, Autour de Chicago, S. 85f und Raymond Gros/Pierre Bournand: L'Oncle Sam chez lui. Paris 1907, S. 132f. 56 Vgl. Rapson, Britons, S. 55-62 und allg. Vann Woodward, Old World, S. 114-121. Als Beispiel für die grundsätzlich positive Einschätzung amerikanischer Gleichheit kann eine Passage aus dem berühmten „Standardwerk" „The American Commonwealth" von James Bryce dienen, das nach seinem Erscheinen 1888 eine Fülle neuer Auflagen erlebte: „Der zweite Zauber des amerikanischen Lebens ist einer, den mancher Europäer belächeln würde. Er besteht in der sozialen Gleichheit. Für viele Europäer hat das Wort einen widerlichen Klang. Es erinnert an einen schmutzigen Gesellen in einer Bluse, der die besser Gekleideten in einer Menschenmenge mit dem Ellbogen stößt (...) oder es erinnert jedenfalls an Aufdringlichkeit und schlechte Manieren. Das genaue Gegenteil ist die Wahrheit. Gleichheit verbessert die Manieren, denn sie befestigt die Grundlage aller guten Manieren, die Achtung aller Männer und Frauen, ohne Rücksicht auf deren Lebensstellung, einfach als Männer und Frauen. (...) Die Leute verkehren auf einem einfachen und natürlichen Fuße, mit mehr Freimütigkeit und Ungezwungenheit, als das in Ländern möglich ist, wo jedermann entweder empor oder hinabblickt." (Vgl. Bryce, Amerika als Staat und Gesellschaft, Bd. 2, S. 5320· 57 Wells, Zukunft in Amerika, S. 64.

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Franzosen nicht als Grundstruktur der Gesellschaft, sondern lediglich als spezielle und stark begrenzte Arbeitskämpfe um konkrete Forderungen wahrgenommen wurden und überdies nur eine Randstellung in der Gesamtdebatte einnahmen. Es zeigt sich also bereits hier, daß der Blick auf die amerikanische Gesellschaft ein genuin bürgerlicher Blick war, der weniger nationalen Grenzen als offenbar vielmehr einer allgemein europäischen Sichtweise am Ende des Jahrhunderts entsprach. Dennoch dürfen die Unterschiede nicht eingeebnet werden: Als deutsche Besonderheit bleibt bestehen, daß gerade die Rolle des starken Staates so positiv bewertet wurde und die demokratiefreundlichen Stimmen deutlich in den Minderheit blieben - die aus den im Kern demokratisch-republikanisch verfaßten Staaten kommenden französischen und englischen Reisenden dagegen vermißten weniger den „starken Staat" (auch nicht im Hinblick auf die Anfänge des Sozialstaats), sondern beklagten allenfalls die Entartungen einer im Kern positiven Demokratie.58 Insofern muß die Frage nach der Fortdauer des europäischen Mythos von amerikanischer Gleichheit, Freiheit und sozialer Aufstiegsmobilität am Ende des Jahrhunderts ambivalent beantwortet werden: Die spezifisch europäischen Konturen sind unverkennbar, und auch die Grundtendenz der Sichtweise von den im Vergleich zu Europa offeneren Gesellschaftsstrukturen in Amerika blieb bestehen; doch von der Fortdauer des „Mythos" kann kaum gesprochen werden, denn die Berichte wurden, wie wir gesehen haben, durchaus kritischer und realistischer, betonten die Brüche und Hierarchisierungstendenzen aufgrund des Wirtschaftsbooms stärker und ließen insgesamt keinen Zweifel daran, daß die Tage eines ungebrochenen .American Dream" endgültig vorüber waren.

5. Projektionen und realistische Analysen Soziale Gleichheit und Mobilität in den USA und Europa vor 1914: Die Hintergründe des europäischen Amerikabildes Vergleicht man die deutschen oder europäischen Beobachtungen mit den Ergebnissen der sozialhistorischen Forschung, so stellen sich in der Tat einige bemerkenswerte Übereinstimmungen heraus. So war der Eindruck geringerer sozialer und mentaler Trennlinien bei gleichzeitiger schärferer materieller Ungleichheit in den USA im Vergleich zu Europa durchaus realistisch. Und auch die Tatsache, daß die Deutschen wie Briten und Franzosen diese Unterschiede vor allem an Mentalitäten, Lebensstilen, Umgangs- und Habitusformen festmachten, wird von der Forschung bestätigt. So ist z. B. gezeigt worden, daß die „Kragenlinie" zwischen Arbeitern und Angestellten in den USA im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weitaus weniger scharf gezogen war als in Europa, wo sich Angestellte vor allem in Deutschland im Hinblick auf soziale Kontakte, Heiratskreise, Wohnviertel, Lebensstile (also Kleidung, Konsumstile usw.) und Umgangs- bzw. Habitusformen deutlich von den Arbeitern abzugrenzen suchten, wozu besonders in Deutschland noch die

58 Dies galt bezeichnenderweise auch für die italienischen Reisenden. Vgl. dazu Torielli, Italian Opinion, S. 72-108.

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staatliche Sozialpolitik und die stark antisozialistische Haltung der Angestelltenverbände beitrug. 59 Auffallend ist allerdings, daß die gesellschaftliche Ungleichheit in den einzelnen Bereichen wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Krankheit usw. in (West-)Europa vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte zugenommen hatte, sich dagegen in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund steigender Reallöhne und -einkommen, der Verbesserung der breiten Versorgung mit Konsumgütern und Arzneimitteln, zunehmender Maßnahmen der (bürgerlichen) Sozialreform und der staatlichen Sozialversicherung und einer deutlichen Expansion der Bildungsinstitutionen mit (etwas) erweiterten Zugangschancen eher verminderte. 60 Diese Verminderung verlief jedoch nicht kontinuierlich und auch nicht in allen Bereichen gleichermaßen; zudem war sie für die Zeitgenossen wohl kaum so spürbar wie sich dies in der historischen Rückschau heute darstellt, ja es könnte sogar sein, daß gerade durch die massive Bevölkerungsexplosion im Kaiserreich die soziale Frage in ihrer „Massenhaftigkeit" weitaus stärker ins Bewußtsein rückte und die soziale Wirklichkeit eher als Verschärfung der Gegensätze erfahrbar machte. Dieser Umstand dürfte sich auch in den USA bemerkbar gemacht haben, da sich auch hier in der ersten Jahrhunderthälfte eine deutliche Verschiebung hin zu mehr sozialer Ungleichheit feststellen läßt61 und die USA Europa insgesamt im Hinblick auf deutliche Kontraste zwischen Arm und Reich am Ende des Jahrhunderts überholten, wobei mit „Europa" immer das bereits industrialisierte bzw. sich rapide industrialisierende West- und Mitteleuropa gemeint ist. Diese schärferen materiellen Ungleichheiten in Amerika (die sich vor allem an den Einkommensabständen feststellen lassen) 62 wurden dabei von den Europäern auch deshalb so stark wahrgenommen, weil die Erwartungshaltung eher in die andere Richtung verwies und die oben skizzierten Mythen eher auf mehr soziale Gleichheit hinzudeuten schienen. Besondere Gründe für diese stärkeren Ungleichheiten in den USA im Vergleich zu Europa wie u. a. das niedrigere Heiratsalter und die Rassenproblematik wurden, bis auf den Faktor des unterentwickelten Sozialstaats,

59 Vgl. Kocka, Angestellte, S. 296-301 bzw. zur Zwischenkriegszeit und den Gründen S. 301-336. Vgl. ferner Kaelble, Weg, S. 56-60. 60 Vgl. H. Kaelble: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz. Göttingen 1983, bes. S. 216-229 und F. Rothenbacher: Soziale Ungleichheit im Modernisierungsprozeß des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York 1989, S. 281f u. 287ff. Zur Theorie sozialer Ungleichheit in modernen Industriegesellschaften vgl. die Beiträge in H. Strasser/J. H. Goldthorpe (Hg.): Die Analyse sozialer Ungleichheit. Kontinuität, Erneuerung, Innovation. Opladen 1985. 61 Vgl. dazu E. Pessen: Status and Social Class in America. In: L. S. Luedtke (Hg.): Making America. The Society and Culture of the United States. Waschington D.C. 2 1990, S. 270-280 und zur wachsenden Ungleichheit innerhalb der Arbeiterschicht auch R. van Capelleveen: Middle Class Society Made in USA - oder: Der amrikanische .Abschied vom Proletariat'. In: F. Unger (Hg.): Amerikanische Mythen. Zur inneren Verfassung der Vereinigten Staaten. Frankfurt/M, New York 1988, S. 243-253. 62 Vgl. Kaelble, Weg, S. 42-50. Zahlen zur Einkommensverteilung liegen zwar nur ab der Zwischenkriegszeit vor, doch läßt die Entwicklung einer insgesamt leichten Abschwächung im 20. Jahrhundert darauf schließen, daß die Abstände vor dem Ersten Weltkrieg eher noch krasser waren. Vgl. dazu auch besonders für die Großstädte der USA S. C. Cashman: America in the Gilded Age. From the Death of Lincoln to the Rise of Theodore Roosevelt. New York, London 1984, S. 112-119 und Trachtenberg, Incorporation, S. 99f.

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dabei von den Beobachtern allerdings kaum wahrgenommen, entzogen sie sich doch weitgehend der unmittelbaren Anschauung und sind sie doch oft erst überhaupt in der historischen Rückschau auszumachen. Die Vorstellung von der stärkeren sozialen (Aufstiegs-)Mobilität in den USA im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa in den europäischen Reiseberichten läßt sich allerdings nur bedingt mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Sie hatte allerdings auch - und dies erscheint als ein insgesamt keinesfalls unerheblicher Faktor - stark mit dem amerikanischen Selbstbild zu tun, das den Europäern natürlich auch auf ihren Reisen gerade durch die Besuche bei eingewanderten (erfolgreichen) Deutschen bzw. Europäern immer wieder vermittelt wurde und damit auch das Bild entscheidend prägte. Gerade der Glaube an Chancengleichheit und das prinzipielle Versprechen der Möglichkeit sozialen Aufstiegs gehörten (und gehören) in starkem Maße zur amerikanischen Identität bzw. zum amerikanischen Selbstverständnis oder „Credo", und besonders die durch die ökonomische Prosperität ungeheuer in Bewegung geratene Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts war von diesem „Glauben" zutiefst erfüllt, sichtbar u. a. auch an den damals berühmten Trivialromanen eines Horatio Alger, der in seinen Büchern immer wieder den Mythos des Aufstiegs vom „Tellerwäscher zum Millionär" variierte und damit einen beträchtlichen Erfolg hatte.63 Amerikanische zeitgenössische Kritiker wie ζ. B. der später bekannt gewordene Soziologe Thorstein Vehlen,64 die ähnlich manchen europäischen Beobachtern auf die wachsende soziale Ungleichheit und abnehmende Mobilität in den USA hinwiesen, blieben dagegen Einzelstimmen, auch wenn im Rahmen des „progressive movement" vor allem nach 1900 auch in der Literatur - etwa in den Romanen Upton Sinclairs65 oder Theodore Dreisers - durchaus massive Sozialkritik an der amerikanischen Realität geübt wurde. Dies gilt es im Auge zu behalten, um das amerikanische Selbstbild nicht allzu homogen zu zeichnen und damit zu verzerren; diese Korrekturen blieben dennoch letztlich intellektuelle Randphänomene, die zwar den kritischen Blick schärften, insgesamt aber an der Realität wenig zu ändern vermochten. Gegenüber dem amerikanischen Selbstbild bleibt daher dennoch als europäische Besonderheit die skizzierte Ambivalenz zwischen mentalen und materiellen Trennlinien bestehen, die den genuin amerikanischen Diskurs in diesem Maße nicht prägte.

63 Vgl. Pessen, Status, S. 270ff sowie Kocka, Angestellte, S. 307ff und van Capelleveen, Middle Class Society, S. 233ff, wobei der Autor auf die interessante Tatsache verweist, daß sich über achtzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung nach dem 2.Weltkrieg als zur „middle class" gehörig betrachteten Indiz für die Langlebigkeit dieses zentralen Faktors amerikanischer Identität. Vgl. dazu auch umfassend R. Münch: Die Kultur der Moderne. Bd. 1: Ihre Grundlagen und ihre Entwicklung in England und Amerika. Frankfurt/M. 1986, S. 416-^60. 64 Vgl. z. B. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class (1899). Dt.: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt/M. 1986, wo er vor allem die neu entstehenden Geldeliten in den USA (und Europa) kritisch analysierte und den „Heldenkult" um den self-made man zu entlarven trachtete. 65 So ζ. B. in „The Jungle" von 1906, der das soziale Elend der (eingewanderten) Arbeiter in den Chicagoer Schlachthöfen eindringlich schilderte und damit nicht nur in der liberalen amerikanischen Öffentlichkeit, sondern auch bei einer ganzen Reihe (linker) europäischer Besucher ein großes Echo fand. Vgl. zur Rolle amerikanischer Selbstkritik auch Vann Woodward, Old World, S. 36ff. Für die Zeit nach 1945, die eine deutliche Verstärkung dieser Tendenz sichtbar macht, siehe P. Hollander: Anti-Americanism. Critiques at Home and Abroad, 1965-1990. New York, Oxford 1992, S. 3-330.

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Vergleicht man nun etwas genauer die Realität sozialer Mobilität in den USA und Europa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, so zeigt sich, daß von einer generell stärkeren Mobilität in Amerika kaum gesprochen werden kann. Im Grunde gab es nur zwei Bereiche, in denen der Mythos (bis in die Zeit nach 1945!) einige realistische Berechtigung hatte: Das betraf zum einen die Chancen des Aufstiegs von ungelernten Arbeitern in die Schicht der gelernten Arbeiter oder sogar der unteren middle class; 66 zum anderen galt es für die größere soziale Offenheit akademischer Karrieren, auf die im Abschnitt zur Bildung zurückzukommen sein wird. In allen anderen Bereichen läßt sich dagegen kein eindeutiges amerikanisches Muster stärkerer sozialer Mobilität beobachten - und dies gilt für die Mobilität zwischen den Generationen (intergenerationelle Mobilität) wie auch für die Mobilität innerhalb eines Berufslebens (Karrieremobilität), wobei allerdings massive Binnenunterschiede innerhalb Europas und der USA berücksichtigt werden müssen. 67 Offenkundig war die prinzipielle Ähnlichkeit der industriellen Entwicklung in den USA und Europa für diese Gemeinsamkeiten ausschlaggebend; die etwas leichtere Aufstiegsmobilität der (ungelernten) Arbeiter, die ja, wie geschildert, auch einigen deutschen Beobachtern besonders auffiel, lag vor allem an dem in den USA insgesamt größeren Dienstleistungssektor und an der schnelleren Mechanisierung und Standardisierung der industriellen Produktion, während die besonders industrieintensive Beschäftigungsstruktur Europas den Aufstieg von Arbeitern ins Kleinbürgertum eher hemmte. Von diesen unterschiedlichen Arbeitsstrukturen wird im folgenden noch ausführlicher zu sprechen sein; hier genügt es zu betonen, daß im Gegensatz zur Auffassung der Wilhelminer keineswegs nur mentale Faktoren eine Rolle spielten, sondern ganz konkrete Wirtschaftsstrukturen die soziale Mobilität erleichterten oder aber hemmten. Dennoch bleibt insgesamt festzuhalten, daß diese Mobilität zu begrenzt blieb, um von einem wirklichen amerikanischen Muster reden zu können. Dies galt im übrigen auch für die räumliche Mobilität, die die deutschen und. europäischen Besucher immer wieder als amerikanische Besonderheit wahrzunehmen meinten. Zweifelsohne gab es in den USA eine enorme räumliche Mobilität und Bevölkerungs-Fluktuation (bis in die 1970er Jahre hinein!), die sich darin zeigt, daß ungefähr die Hälfte aller Amerikaner

66 Vgl. dazu die umfassende Analyse von S. Thernstrom: The Other Bostonians. Poverty and Progress in the American Metropolis 1880-1970. Cambridge, Mass. 1973, bes. S. 232-262, der zugleich auf die relativ geringen Abstiegsraten von Söhnen aus der Mittelschicht hinweist. 67 Vgl. dazu insgesamt H. Kaelble: Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen 1983, S. 150-170 bzw. F. Ringer: Education and Society in Modern Europe. Bloomington 1979, S. 253-260, wo die stärkere soziale Mobilität auch im Bildungsbereich relativiert und die entsprechende europäische Wahrnehmung analog zu den Beobachtungen der Wilhelminer vor allem auf ein demokratischeres Grundklima in den USA zurückgeführt wird. Zu den inneramerikanischen Unterschieden vgl. auch die Beiträge in E. Pessen (Hg.): Three Centuries of Social Mobility in America. Lexington u. a. 1974, wobei allerdings Thernstrom immer wieder auf die erstaunliche Ähnlichkeit der amerikanischen Mobilitätsmuster quer über den Kontinent hinweist. Deutliche Mobilitätsunterschiede verliefen in den USA demnach nicht nach geographischen bzw. Stadt-LandUnterschieden, sondern vor allem nach ethnischen Gesichtspunkten. So gelang Einwanderern zumeist erst in der folgenden Generation ein sozialer Aufstieg, und selbst numerisch starke Minderheiten wie vor allem die Schwarzen blieben von den Aufstiegschancen vielfach fast völlig ausgeschlossen. Vgl. Thernstrom, Bostoninans, S. 220-262.

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seit 1880 ihren Wohnort innerhalb von zehn Jahren wieder verließ, was interessanterweise nicht nur für Großstädte, sondern auch für kleine Gemeinden galt68 - ein Umstand, der sicher zum Eindruck hoher sozialer Mobilität beitrug, zumal sich das Gilded Age in besonderem Maße durch gewaltige Wanderungsbewegungen (Einwanderung, Stadt-Land-Wanderungen, Westwanderung etc.) auszeichnete. Doch solche Umbrüche wurden im gleichen Zeitraum auch in Deutschland und Westeuropa massiv wirksam; gerade im Deutschland des Kaiserreichs wanderten Tausende von Menschen vom Land in die Stadt bzw. wechselten innerhalb von Regionen und Städten generell den Wohnort, so daß es nach den vorliegenden Forschungen sogar ganz so aussieht, als hätte das Kaiserreich überhaupt die stärksten Wanderungsbewegungen der deutschen Geschichte erlebt.69 Das in den Berichten oft entworfene Bild einer traditionellen, „schollengebundenen" deutschen Gesellschaft im Gegensatz zum Amerikaner als „entwurzeltem Nomaden" muß angesichts dieser Umstände deutlich relativiert werden. Hier zeigt sich, wie wenig die Bürger des wilhelminischen Deutschland die Umbrüche in der eigenen Gesellschaft (zumindest was die Unterschichten, die das Hauptkontingent der „Wanderer" stellten, anging) wirklich registrierten und gedanklich reflektierten oder aber wie sehr sie es verdrängten. Das Bild des vormodernen Deutschland als traditioneller „Idylle", in der zumal die nichtbürgerlichen Schichten ihren festen Platz einzunehmen hatten, dominierte hier eindeutig, und Amerika konnte damit auch als Warnung vor einer Gesellschaft verstanden werden, die mit ihrer lokalen Fixierung auch ihre angestammten Werte zu verlieren drohte. An dieser Stelle versagten daher auch die mentalen und ideellen Bégrûndungszusammenhânge, die es erlaubt hatten, „urbürgerliche" Werte wie Chancengleicheit und Aufstieg nach persönlicher Leistung in den USA positiv zu bewerten. Insgesamt wird deutlich, wie stark die „ungeregelte" und extrem rasch sich wandelnde amerikanische Gesellschaft die deutschen Beobachter verunsicherte und doch zugleich in der Konfrontation positive wie negative Eigenschaften der eigenen Gesellschaft ins Bewußtsein rief und über die eigene kollektive Identität reflektieren ließ. Dies galt auch und gerade im Hinblick auf die Rolle des Staates, wobei die Feststellung des im Verhältnis zu Europa und besonders zu Deutschland relativ schwachen Staates in den USA auch von der Forschung immer wieder herausgestrichen worden ist.70 Vor allem aber ist die besonders starke Staats-

68 Vgl. Thernstrom, Bostoniens, S. 220-232, der zugleich darauf hinweist, daß diese Fluktuation sozial differenziert werden muß: So wanderten vor dem Ersten Weltkrieg vor allem unglernte Arbeiter bzw. allg. Unterschichten, während nach 1920 bzw. nach 1945 die Mittel- und Oberschichten mobiler wurden. 69 Dazu kamen außerdem noch viele Fremdarbeiter aus dem Ausland - insbesondere aus Polen - , auch wenn diese Gruppen natürlich nie den Umfang der Immigration nach den USA annahmen. Vgl. für die USA u. a. Schlereth, Victorian America, S. 7 - 2 2 und für Deutschland die Beiträge in K. Bade (Hg.): Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. Ostfildern 1984 sowie D. Langewiesche: Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialsierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914. In: VSWG 64, 1, 1977, S. 1-40. Zum Wandel der Lebenswelt der unterbürgerlichen Schichten im Kaiserreich W. Kaschuba: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S. 19-36. 70 Vgl. zur Entstehung beider „Staatstypen" in der frühen Neuzeit den in vergleichender Perspektive höchst aufschlußreichen Aufsatz von S. P. Huntington: Political Modernization: America vs. Europe. In: World Politics 18, 1966, S. 378-414.

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Orientierung des deutschen (Bildungs-)Bürgertums in Theorie und Praxis im gesamten 19. Jahrhundert immer wieder von den verschiedensten Seiten beleuchtet worden;71 insofern verwundert der in den Berichten oft geäußerte Stolz auf deutsche Staatsleistungen und eine hervorragend ausgebildete und effiziente wie zuverlässige Beamtenschaft kaum, zumal dann, wenn man bedenkt, daß die meisten der Reisenden wie Autoren selber Bildungsbürger und nicht selten Beamte waren - gerade ihnen mußte insofern das Manko eines fehlenden starken Zentralstaates besonders auffallen. Und in der Tat war die in den 80er Jahren unter Bismarck verwirklichte staatliche Sozialversicherung mit den Säulen Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung und dem Prinzip eines Versicherungszwangs für das Gros der Beschäftigten international eine Vorreiterleistung, auch wenn die Leistungen noch vielfach völlig unzureichend waren und man sie kaum an den Maßstäben des modernen Wohlfahrtsstaates, wie er sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, messen kann. 72 Dennoch: Vergleicht man die erreichten Leistungen innerhalb Europas und erst recht mit den USA, wo sich Ansätze zu einer staatlichen Sozialpolitik erst mit der Weltwirtschaftskrise und dem anschließenden „New Deal" Anfang der 30er Jahre entwickelten und die „soziale Frage" um die Jahrhundertwende bis auf einige staatliche Unterstützungszahlungen an Kriegsveteranen des Bürgerkriegs weitgehend privater Wohltätigkeit überlassen wurde, so ergibt sich doch ein deutlicher Vorsprung Deutschlands, auch wenn das „Modell Deutschland" mit seiner breiten Zwangs-Sozialversicherung „von oben" auch in Europa in dieser Form zunächst keine Nachahmer fand. 73 Aus dieser spezifisch deutschen (bildungs-bürgerlichen und zugleich im Kern apolitischen Staatsorientierung74 läßt sich auch die grundsätzliche Einschätzung der amerikanischen Demokratie ableiten: Gerade das Fehlen einer stark staatsorientierten und loyalen Beamtenschaft mußte in deutschen Augen zu Korruption und einer „Politik als Geschäft" führen; allerdings war diese Beobachtung, wie wir gesehen haben, keine deutsche Besonder-

71 Vgl. ζ. B. Hardtwig: Bürgertum, S. 269-295 und Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 60ff u. 70-76 bzw. zum Vorbild des Beamten auch für die Angestellten in Deutschland im Gegensatz zu den USA Ders., Angestellte, S. 3 lOff. Diese Staatsorientierung galt selbst in außergewöhnlichem Maße für die freien Berufe wie Juristen und Ärzte. Vgl. dazu ζ. Β. M. John: Between Estate and Profession; Lawyers and the Development of the Legal Profession in 19th Century Germany. In: Blackbonin/Evans (Hg.), German Bourgeoisie, S. 162-197. 72 Vgl. zur Ideengeschichte und Entstehung des Sozialstaats in Deutschland im internationalen Vergleich G. A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München 1989, S. 60-100 (HZ Beihefte Bd. 11) und E. Rosenhaft/W. R. Lee: State and Society in Modern Germany Beamtenstaat, Klassenstaat, Wohlfahrtsstaat. In: Dies. (Hg.): The State and Social Change in Germany, 1880-1980. New York u. a. 1990, S. 1-45, bes. 23-29. Zur spezifisch europäischen Dimension des Sozialstaats im Vergleich zu den USA vgl. auch Kaelble, Weg, S. 73-78. 73 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 138-144 und zum deutsch-amerikanischen Vergleich auch G. V. Rimlinger: Welfare Policy and Industrialization in Europe, America and Russia. New York u. a. 1971, S. 89-136 u. 193-244; zum innereuropäischen Vergleich vor allem mit Großbritannien und Frankreich: D. E. Ashford: The Emergence of the Welfare States. Oxford 1986. 74 Vgl. dazu im internationalen Vergleich auch H.-U. Wehler: Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive - Elemente eines „Sonderwegs"? In: Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum, S. 215-237 sowie Nipperdey, Geschichte, S. 590-601.

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heit, gilt doch gerade die Phase des Gilded Age auch in der Forschung als Ära besonders krasser politischer Korruptionsfälle in den Großstädten wie New York oder Chicago, wo „Parteimaschinen" auf der Basis umfassender Klientel-Bindungen an mächtige Einwanderergruppen Protektion gegen Wählerstimmen „verkauften" und damit teilweise ganze Stadtverwaltungen unter ihre Kontrolle brachten - erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den in den 80er Jahren wohl spektakulärsten Fall von „Tammany Hall", einer ursprünglichen Interessen-Vereinigung, die mit dem Erfolg dieses Systems dann zum organisatorischen Gerüst der Demokratischen Partei in New York avancierte.75 Aber auch das seit den 30er Jahren unter Präsident Jackson auf Bundesebene eingeführte „spoils system" 76 - die Ämterpatronage nach Wahlen - war kaum dazu angetan, in deutschen bzw. europäischen Augen den Eindruck einer zuverlässigen und vorbildhaften Staatsverwaltung zu vermitteln, auch wenn 1883 mit dem „Civil Service Act" einschneidende Korrekturen am spoils system vorgenommen worden waren, die eine wachsende Professionalisierung der Verwaltung eingeleitet hatten. Auch hier wurden die „Entartungen" der amerikanischen Demokratie allerdings erneut besonders scharf wahrgenommen, weil die Erwartungshaltung durch den „idealen" Charakter der Verfassung entsprechend hochgeschraubt war. Allerdings bleibt auffallend, daß die zahlreichen und teilweise widersprüchlichen Reformansätze der intellektuellen Bewegung des „Progressivism" und auch die zunächst durchaus erfolgreichen Oppositionsansätze der „Populisten" in den 1890er Jahren kaum registriert wurden, was allerdings offenbar auch für Briten und Franzosen galt. Dies lag vermutlich vor allem daran, daß die Populisten insgesamt doch nur eine kurze Zeit lang als eigenständige Kraft wirksam wurden und bereits um 1900 ihr Profil und ihren Einfluß weitgehend verloren hatten; und auch die Reformziele und -ansätze der „Progressives" im Sinne sozialtechnischer Steuerungsmaßnahmen (wie ζ. B. Maßnahmen gegen die Korruption der Verwaltungen und für die Restriktion der Alleinherrschaft von „Big Business" zugunsten von mehr öffentlicher Kontrolle städtischer Dienstleistungen und für mehr kommunale Stadtplanung zur Eindämmung des Wohnungselends der Einwanderermassen) waren für ausländische Beobachter letztlich zu verdeckt und bis auf wenige spektakuläre Fälle (wie etwa das berühmte Sozialreformprojekt „Hull House" der Sozialreformerin Jane Addams gegen das Slumelend in Chicago) kaum zu registrieren, zumal auch hier die konkreten Wirkungen bis zum Ersten Weltkrieg eher marginal blieben, auch wenn einige Erfolge wie ζ. B. Arbeiterschutzgesetze in einzelnen Bundesstaaten nach 1911 erreicht werden konnten.77 Insgesamt aber entwickelten sich kommunale Selbstverwaltung und ein Berufsbeamtentum in den USA im Vergleich zu Europa und besonders Deutschland sehr viel langsamer, und staatliche Interventionen im sozialen und ökonomischen Bereich kamen vor dem Ersten Weltkrieg über Ansätze kaum hinaus, auch wenn eingeräumt werden muß, daß durchaus nichtstaatliche Institutionen sozia-

75 Vgl. Cashman, America, S. 125-133 und Kocka, Angestellte, S. 62f. 76 Vgl. F. Unger: Demokratie ohne Optionen: Zur Kultur der politischen Herrschaft in den USA. In: Ders. (Hg.), Amerikanische Mythen, S. 56f und J. Portes: Les Etats-Unis. De l'indépendance à la première guerre mondiale. Paris 1991, S. 3 9 ^ 4 u. 130ff. 77 Vgl. zum Populismus bzw. den Reformansätzen der „progressives" u. a. Unger, Demokratie, S. 57-68 und Kocka, Angestellte, S. 72-75.

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1er Unterstützung wie Kirchen, ethnische Gruppen und eben auch die angesprochenen lokalen „Parteimaschinen" existierten - Existenz, Rolle und Reichweite dieser nichtstaatlichen Institutionen wurden den europäischen Besuchern allerdings kaum bewußt. Die an staatlichen Institutionen orientierten deutschen Besucher konnten daher die USA in diesem Punkt kaum als Vorbild empfinden, im Gegenteil: Gerade hier mußte den Wilhelminern eher Deutschland als Modell für die USA erscheinen, was die Mehrzahl im Stolz auf (vermeintliche) Lösungen der sozialen Frage durch den starken Staat in einer monarchischen bzw. antidemokratischen Identifizierung und Mentalität bestärkte.78 So ergibt sich zusammenfassend in der allgemeinen Beurteilung ein ambivalentes Bild der amerikanischen Gesellschaft, das wie gesehen bis auf einige spezifisch deutsche Akzente vor allem europäische Züge trägt und zugleich trotz aller „Mythen" im Kern doch erstaunlich realistisch war. So sehr die amerikanische Gesellschaft auch um 1900 noch genuin bürgerliche Werte wie Chancengleichheit und das Fehlen geburtsständischer Privilegien modellhaft vorführte und damit durchaus auch Anlaß zu gesellschaftlicher Kritik an deutschen „überlebten" Verhältnissen gab, so wenig konnten die wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit und die Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze durch das Fehlen staatlicher sozialer Auffangnetze in Amerika übersehen werden. Der Mythos vom „Land der Freiheit und Gleichheit" wirkte zwar in den Berichten noch nach und vermittelte teilweise immer noch die Prägekraft des alten bürgerlichen Emanzipationsmodells, doch ließen sich die realen Schattenseiten, die durch die rapide Industrialisierung offenkundig geworden waren, kaum noch übersehen. Neben mentalen „Fluchtbewegungen", die den Modernisierungsweg der USA als gefährlichen Pfad ins soziale und politische Chaos antizipierten und zugleich vielfach unter Verkennung einer ähnlich rapiden Industrialisierung und ihrer sozialen Folgen in Deutschland ein Bild vormoderner Sozialharmonie im eigenen Land entwarfen, mußte doch auch den realistischeren Besuchern das amerikanische Modell zweifelhaft werden, zumal staatliche Leistungen und Erfolge der bürgerlichen Sozialreform in Deutschland zumindest die Illusion einer Lösbarkeit der sozialen Frage nahelegten. Dennoch: Dies war nur die eine Seite der Medaille, denn insgesamt ist es angesichts des dominierenden Bildes vom wilhelminischen Bürger als „Untertan" doch erstaunlich, wie sehr die Erfahrung der amerikanischen Gesellschaft vertraute Interpretationsmuster aufbrach und - das galt für alle politischen Haltungen vom konservativen katholischen Zentrumsabgeordneten oder protestantischen Hofbeamten bis zum liberalen oder auch sozialdemokratischen Schriftsteller oder Journalisten - genuin bürgerliche Kritik am „Kastengeist" im immer noch im starken Maße vom Adel dominierten Kaiserreich freisetzte. Damit wird auch deutlich, wie sehr die Debatte über die amerikanische Gesellschaft ein allgmeiner Diskurs über gesellschaftliche Modernisierung im oben skizzierten Sinne war: In den USA erlebten die Wilhelminer die „Maßstabsvergrößerung" der sozialen und kommuni-

78 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das spezifisch deutsche Konzept des „Kulturstaats" im wilhelminischen Bürgertum, das den Staat als besondere und genuine Kulturleistung mit der Aufgabe einer „Sinnstiftung von oben" verband. Vgl. dazu R. vom Bruch: Kulturstaat - Sinndeutung von oben? In: Ders. u. a. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften. Die Krise der Moderne und der Glaube an die Wissenschaft. Wiesbaden 1989, S. 63-102.

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kativen Netzwerke und das Aufbrechen der traditionellen sozialen Hierarchien - persönliches Einkommen und individuelle Leistung rückten in dieser „traditionslosen" Gesellschaft an die Stelle der in Deutschland immer noch massiv wirksamen Zuordnungsmuster von Herkunft, Stand und Klasse. Und ebenso fiel ihnen die massive Angleichung der Lebensstile und Habitusformen im breiten gesellschaftlichen Maßstab (von der sich nur eine kleine „Geldaristokratie" abzusetzen vermochte) immer wieder als zentrales Kennzeichen auf. War dies auch gelegentlich von dem Vorwurf der sozialen „Nivellierung" begleitet, dominierte doch insgesamt eine positive Bewertung dieses Abbaus von Klassenschranken. Allerdings blieben die USA bei aller Herausforderung hier doch ein distanziertes Modell, dessen direkte Übertragbarkeit auf deutsche bzw. allgemein europäische Verhältnisse kaum denkbar erschien, so daß eine „Amerikanisierung" Europas angesichts der Massivität der europäischen Klassenstrukturen in der Sicht der Deutschen wie auch Franzosen und Briten kaum bevorstand - das sollte sich nach dem umwälzenden Ereignis des Ersten Weltkriegs ändern, nach dem auch die paradoxe Schattenseite der Freisetzung des einzelnen - seine Vereinsamung und zugleich „Vermassung" - nun zentral im Kontext der Amerikadebatte auftauchte. Die USA boten daher vor 1914 vornehmlich liberalen Autoren allenfalls ein Vorbild der „Kurskorrektur" innerhalb des bestehenden Rahmens. Dennoch: Vor diesem Hintergrund ist auffallend, daß die Wilhelminer im Kontext der Wahrnehmung der amerikanischen Gesellschaft somit keineswegs den Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung generell ablehnten, sondern im Kern bejahten, jedoch eine staatliche Regelung diese Prozesses „von oben" deutlich bevorzugten und den „ungeregelten" Weg der amerikanischen Gesellschaft ohne sozialstaatliche bzw. institutionelle sozialreformerische Steuerungsmaßnahmen als Modell eindeutig verwarfen. Auch hier rückten die damit verbundenen „paradoxen" Entwicklungen der Modernisierung hin zu immer größeren Steuerungskomplexen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die alte soziale und religiöse Orientierungsordnungen zunehmend verdrängten, kaum oder gar nicht ins Bewußtsein. Zwar finden sich auch, wie gesehen, deutliche Hinweise auf die Verklärung vormoderner kleinräumiger und vermeintlich stabiler Strukturen, doch blieben diese bei den deutschen „Amerikafahrern" insgesamt hinter der positiven Würdigung der - genuin bürgerlichen - Chance auf individuelle Leistung und damit sozialen Aufstieg zurück, die zumindest unterschwellig die Fortdauer traditionell bürgerlicher Normen und Werte bezeugt. Wie verführerisch das amerikanische Modell für die selbstbewußten deutschen Bürger sein konnte, wird auch im folgenden Abschnitt zu den Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen deutlich werden, die mit den Gesellschaftsbeobachtungen teilweise direkt zusammenhingen.

Kapitel 2

„Das Land, wo die Arbeit adelt" Wirtschaft, Arbeit und Beruf in den USA

Ein zentrales und mit den Gesellschaftsstrukturen eng verknüpftes Thema in den deutschen Reiseberichten und Studien zu den USA waren die Wirtschaftsstrukturen, die hier in erster Linie auf ihre soziale Dimension hin untersucht werden sollen.1 Es werden daher im folgenden vor allem die Arbeits- und Berufsstrukturen im Mittelpunkt stehen, zumal diese auch in den Berichten einen prominenten Platz einnehmen. Wir werden zunächst die Beobachtungen zum Stellenwert von Arbeit und Beruf innerhalb der Gesellschaft näher untersuchen, um dann die Aussagen zum Vergleich der Industriestrukturen und ihrer Entwicklung in den Blick zu nehmen. Abschließend sind schließlich noch die sich daraus ergebenden Lebensstandards, die im ersten Kapitel schon kurz angedeutet wurden, zu analysieren. Dabei sei hier schon vorweggenommen, daß sich zu diesen Bereichen erwartungsgemäß vor allem Autoren aus wirtschaftsbürgerlichen Berufen äußerten und sich zwischen den Reiseberichten und den Amerikastudien bis auf wenige Abweichungen kaum Unterschiede finden lassen, so daß beide Quellentypen hier nicht gesondert behandelt werden.

1. Der Stellenwert von „Arbeit", Professionalisierung und beruflicher Mobilität Die zentrale und wohl am meisten gemachte Beobachtung war, daß jede Arbeit in den USA anders als in Europa als solche gesellschaftlich geachtet erschien, ja daß angesichts eines in Amerika fehlenden Geburtsadels nur die Arbeit „adele" und damit gesellschaftliche Distinktion erlaube bzw. erzeuge. Der Gothaer Maschinenbau-Unternehmer Philip Harjes schrieb denn auch 1905 in seinem entsprechend titulierten Reisebericht enthusiastisch: „Das Größte aber, was die Neue Welt vor der Alten voraus hat, ja das einzig wirklich Große, das ist der im ganzen Staats-, Gesellschafts- und Privatleben geltende und durchgeführte Grundsatz: daß Arbeit adelt! Und zwar nicht bloß die Arbeit mit Pinsel oder Feder, mit Kopf und Geist, sondern ebenso die harte Arbeit mit Spaten und Haue, mit Pflug und Sense, an der Maschine wie in der Werkstatt, Arbeit, die die Muskeln spannt und die Hände hart und rauh macht! - Und bei uns? - Bei uns gibt es nicht nur einzelne beschränkte Individuen, welche sich für zu gut für die Arbeit halten, sondern es gibt, Gott sei's geklagt, ganze Kreise, welche

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Vgl. ansonsten Lange, Wirtschaft, passim.

Der Stellenwert von .Arbeit", Professionalisierung und beruflicher Mobilität

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seit Jahrhunderten an der Idee kranken, daß Arbeit an und für sich etwas Unadliges sei, etwas, das Pflicht für den Plebejer, aber entehrend für den Vornehmen wäre (...). Ich stehe nicht an zu behaupten, daß der Standpunkt der Amerikaner der Arbeit gegenüber ihre höchste Errungenschaft ist." 2

In ähnlich positiver Weise wertete der liberale Politiker und Publizist Theodor Barth den Stellenwert der Arbeit in den USA, wobei die enge Verbindung dieser spezifisch amerikanischen Mentalität mit der der oben skizzierten Chancengleichheit und dem Glauben an soziale Mobilität sichtbar wird: „Unter den charakteristischen Gegensätzen zwischen der alten und der neuen Welt ist die verschiedenartige Beurteilung der Arbeit einer der wesentlichsten. Jemand kann in Amerika gestern Holzhauer oder Handwerker oder Kaufmann oder Journalist gewesen sein, niemand wundert sich, wenn er morgen Gouverneur, Senator oder auch Präsident der Vereinigten Staaten wird. (...) Ohne diese demokratische Methode, jedem aufstrebenden Talent eine Chance zu geben, ohne diese rückhaltlose Anerkennung jeder nützlichen Arbeit als Quelle öffentlicher Auszeichnung würde Amerika niemals in so kurzer Zeit zu einem gewaltigen Kulturstaat herangewachsen sein." 3

Doch nicht nur aus konservativer oder liberaler, sondern auch aus dezidiert sozialistischer Perspektive wurde der besondere Stellenwert der Arbeit in Amerika im kritischen Vergleich zu Deutschland bzw. Europa insgesamt beobachtet. So vermerkte der Gewerkschaftsführer Carl Legien auf seiner .Agitationsreise" 1913: „Die Arbeit, gleichviel welcher Art sie sei, wird nicht mißachtet und der Kellner oder Gepäckträger, der Straßenbahnschaffner oder Eisenbahnbedienstete, er fühlt sich als freier Bürger, und wer versuchen wollte sie bei ihren Dienstleistungen anzuschnauzen oder von oben herab zu behandeln, wie es in Deutschland von Leuten beliebt wird, die mit der Pflege ihrer Finger die Arbeitstätigkeit erschöpft haben und gesellschaftlich nutzbringende Arbeit kaum dem Namen nach kennen, würden sehr schlecht fahren. (...) Daraus zu schließen, daß nun in den Vereinigten Staaten völlige Gleichheit herrsche und die Klassenunterschiede sich nicht bemerkbar machten, wäre verfehlt." 4

Auch hier begegnet uns - unabhängig von der politischen Grundeinstellung - erneut allgemein die schon oben skizzierte Beobachtung, daß die amerikanische Gesellschaft weniger durch materielle Gleichheit als solche, sondern vielmehr durch eine besondere Einstellung und Haltung gegenüber dem Phänomen „Arbeit" geprägt wurde - es war also besonders dieser Aspekt, der Amerika so deutlich von einem durch scharfe sozial-mentale Trennlinien durchzogenen Deutschland und Europa unterschied. Der grundsätzlich positiven Bewertung von .Arbeit" in den USA entsprach demgemäß aus deutscher Sicht vor allem ein spezifischer Habitus, der die amerikanische Gesellschaft grundlegend von den europäischen Gesellschaften unterschied. Dieser Habitus war es, der den „Geist" der Gleichheit in den USA im Gegensatz zu Europa und speziell Deutschland ausmachte und die gesellschaftliche Realität entsprechend prägte. So erstaunte es deutsche Beobachter immer wieder, selbst Studenten oder Frauen der bürgerlichen „middle class" mit dem größten Selbstverständnis arbeiten zu sehen, was in Europa und besonders in Deutschland als eindeutige Statusminderung oder sogar

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Harjes, Reise, S. 189f (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Fulda, Eindrücke, S. 289 und für die 90er Jahre: Adelmann, 62 Tage, S. 133 und Müller, Leben, S. 44f. Barth, Eindrücke, S. 66f. Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 33.

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„Das Land, wo die Arbeit adelt"

als Statusverlust qualifiziert worden wäre. Auffallend ist dabei allerdings, daß praktisch kein Beobachter die deutschen Zustände in Schutz nahm, sondern daß im Gegenteil die amerikanischen Verhältnisse gerade auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten zumeist eindringlich als Vorbild beschrieben wurden. So notierte der Unternehmer Max Bahr 1906 im Hinblick auf die Frauenarbeit: „Außerdem wird die Arbeitskraft des weiblichen Geschlechts in viel ausgedehnterem Maße und viel höher verwertet, als in Europa. Wie in der Schule, so ist auch auf anderen Gebieten, im Laden, im Kontor, in den Bureaus der öffentlichen Verwaltung, in allen Berufen die Frau und das Mädchen in sehr viel höherem Maße tätig, als bei uns. (...) Abgesehen von allem anderen ist dies Moment für die Steigerung des Nationalwohlstandes nicht zu unterschätzen, und es ist der geringe Stand der wirtschaftlichen Einsicht Europas zu beklagen, welcher noch immer nicht begreifen läßt, daß jeder Mensch, ob Mann oder Frau, stets gleichzeitig Produzent und Konsument sein muß, daß tausend Frauen, welche erwerbstätig werden, wohl eine Anzahl Männer verdrängen mögen, gleichzeitig aber einer großen Zahl von Arbeitern durch ihren Verdienst Beschäftigung geben, und daß das Gesamtprodukt, in welches die vorhandene Bevölkerung sich teilt, durch ihre Mitarbeit größer, durch ihre Untätigkeit kleiner wird." 5

Dies war sicher eine spezifisch unternehmerisch bzw. ökonomisch gedachte Argumentation und in ihrer positiven Bewertung von Frauenarbeit nicht unbedingt repräsentativ für den Grundtenor der deutschen Urteile - wir werden darauf im Kapitel über Familie und Geschlechterrollen zurückkommen. Hier genügt es vorerst festzuhalten, daß Arbeit nach amerikanischem Modell, d. h. in ihrer sozialen Anerkennung über alle „Standesgrenzen" hinweg bei den Wilhelminern durchweg positiv bewertet wurde.6 Eine Ausnahme bildete allerdings der Bereich der privaten häuslichen Dienstleistungen; und das galt, freilich aus verschiedenen Blickrichtungen, für Deutsche wie für Amerikaner, denn es fiel den deutschen Besuchern immer wieder die geringe Bereitschaft zu direkt abhängiger persönlicher Dienstleistung auf, faßbar besonders anhand des Problems von Haushalten der middle oder upper class, eine für europäische Verhältnisse ausreichende Zahl bezahlbarer Dienstboten zu bekommen. Hier zeigten sich die Wilhelminer ganz als an persönliche Dienstleistungen und entsprechende Abhängigkeitsverhältnisse gewöhnte Bürger, die zwar die amerikanische Abneigung gegen eine solche Verletzung des „Gleichheitspostulats" historisch herleiten konnten, insgesamt aber doch kaum Verständnis für die Haltung der Unterschichten in dieser Frage aufbrachten und sie sogar als Gefährdung der familiären und häuslichen Harmonie betrachteten.7

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Bahr, Reise-Berichte, S. 245. Vgl. ferner zur positiven Wertung von Abeit in den USA, u. a. anhand des Beispiels der Studentenarbeit: Gerstenberger, Steinberg, S. 216; Münsterberg, Eindrücke, S. 23; Unruh, Amerika, S. 22f; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 122f; Polenz, Land, S. 267 sowie Oskar Hintrager: Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten? Nordamerikanische Reiseskizzen. Berlin, Leipzig 1904, S. 95 und Ludwig Schneller: Unter dem Sternenbanner. Amerika-Reisebriefe. Cöln 1911, S. 7f. Zur Beobachtung und positiven Bewertung von (Studenten-)Abeit in den Amerikastudien vgl. u. a. Kleinschmidt, Bilder, S. 106f; Oetken, Landwirtschaft, S. 622f; Rambeau, Amerika, S. 167f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 246ff. Vgl. dazu u. a. Wolzogen, Dichter, S. 105; Aram, Mit 100 Mark, S. 160f; Barnekow, Amerika, S. 110-117; Gerstenberger, Steinberg, S. 216 und v.Wernsdorff, Per aspera, Bd. 1, S. 224f.

Der Stellenwert von „Arbeit", Professionalisierung und beruflicher Mobilität

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D i e s e Ausnahme änderte allerdings nichts an dem allgemeinen Eindruck, daß nicht nur die grundsätzliche Einstellung zu jeglicher Arbeit in den U S A positiver als in Deutschland resp. Europa war, sondern daß auch die Arbeitsintensität und -energie in allen Gesellschaftsschichten stärker als in der Heimat zu sein schien. Im Hinblick auf die Arbeitsleistungen in den Industriebetrieben vermerkte der Brauereiunternehmer Friedrich Goldschmidt 1901: „Mir ist nun aufgefallen, daß die amerikanischen Arbeiter in derselben Zeit ein größeres Maß an Arbeit vollbringen als die europäischen. Diese Erfahrung wird bei allen Industriezweigen, in der Textil- und Eisenindustrie und nicht zum mindesten in der Brauereiindustrie gemacht. (...) Die Überlegenheit des amerikanischen Arbeiters wird mir von allen Seiten bestätigt, sei es, daß er Spinnmaschine oder Webstuhl bedient, in Hüttenwerken arbeitet oder in der Spielwaarenindustrie (sie) und tausend anderen Gewerben." 8 Goldschmidt machte dafür zwar auch die unterschiedliche technische Organisation der Betriebe in Europa und den U S A , die im folgenden noch betrachtet werden wird, verantwortlich, doch blieb der Eindruck einer spezifisch dynamischen Einstellung zur Arbeit durch die Vielzahl der beobachteten Fälle im gesamten Untersuchungszeitraum zentral. 9 In diesem Zusammenhang fiel das Fehlen einer echten Altersruhephase auf, so daß der Amerikaner in allen Schichten bis zum Tode durchzuarbeiten schien: „Der Arbeitsfanatismus (...) beginnt bereits in jungen Jahren. Jung wie die Industrie des Landes sind auch die Leiter großer Betriebe, beinahe noch Jünglinge. Andererseits gibt es drüben kaum Männer, die sich als Rentner zur Ruhe setzen, auch wenn sie Millionen erworben haben." 10 D i e s e amerikanische Arbeitsintensität und -einstellung wurde dabei vor allem von deutschen Unternehmern als Vorbild für Deutschland generell und deutsche Betriebe im besonderen empfohlen. 1 1 Kehrseite dieser starken Arbeitsintensität war allerdings in deutschen A u g e n ein relativ geringer Professionalisierungsgrad besonders in den freien und akademischen Berufen, der zugleich eine hohe Berufsmobilität zuließ. S o notierte der Sprachwissenschaftler A d o l f R a m b e a u 1912: „Geht es in dem einen berufe nicht, so geht es vielleicht besser in einem anderen; und arbeit schändet nicht. Der Wechsel der berufstätigkeit ist auch dadurch erleichtert, daß die theoretischen anforderungen, verglichen mit Europa, in der regel weniger hoch, weniger gleichmäßig und weniger stabil sind, und daß die nötige fachwissenschaftliche ausbildung und die rein theoretische Vorbereitung für das spezielle fach gewöhnlich weniger komplizirt (sie) und von geringerer ausdehnung ist." 12

8 Friedrich Goldschmidt: Zum dritten und vierten Male in den Vereinigten Staaten. 2 Vorträge. Berlin 1901, S. 18. Vgl. auch West, Hie Europa, S. 34f. Vgl. für die zweite Jahrhunderthälfte auch Lange, Wirtschaft, S. 343-348. 9 Vgl. u. a. Oetken, Landwirtschaft, S. 542ff u. 618-624; Kleinschmidt, Bilder, S. 106f; Sombait, Sozialismus, S. 30f; Neve, Charakterzüge, S. 68f; Hintrager, Wie lebt, S. 210f u. 217; Kummer, Weltreise, S. 200f; Oberländer, Ozean, S. 24f u. 45ff; Rosen, Lausbub, S. 194f und Alber Pfister: Nach Amerika im Dienste Friedrich Schillers. Der Völkerfreundschaft gewidmet. Stuttgart, Berlin 1906, S. 132-135 sowie speziell zu den Unternehmern in USA: Knauer, Deutschland, S. 12f. 10 Goldberger, Land, S. 32. Vgl. auch ebda., S. 16f u. 28-32 sowie die Angaben unter Anm. 9. 11 Vgl. z. B. Harjes, Reise, S. 255; Heymann, USA, S. 160f und R. E. Schmidt: Einige allgemeine Eindrücke und Betrachtungen. In: Rassow (Hg.), Reiseskizzen, S. 24f. 12 Rambeau, Amerika, S. 234. Vgl. dazu auch ebda., S. 127, 164ff u. 254f sowie Below, Bilder, S. 191f und Hintrager, Wie lebt, S. 218.

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„Das Land, wo die Arbeit adelt"

Eine in den USA stark auf Pragmatismus und Flexibilität ausgerichtete Arbeitsmentalität, bei der es weniger auf Theorie und geregelte Leistungsnachweise als auf praktisches Können und rasche Auffassungsgabe ankam,13 erleichterte so den Berufswechsel in einem für deutsche Verhältnisse erstaunlichen Ausmaß. Der Verwaltungsbeamte Conrad von Unruh bemerkte dazu 1904 im Kontext der schon skizzierten körperlichen Arbeit von Studenten: „ Auch später treten die sozialen Differenzierungen viel weniger, wenn überhaupt, hervor, als bei uns. Man kann es dem jungen Manne auf der Straße nicht wie bei uns, auf hundert Schritte ansehen, ob er sich der Wissenschaft, der Technik oder Kunst gewidmet hat (...) Die Bindung an den Beruf ist auch durchweg weniger streng und fest, als bei uns. Geht's in dem einen Fach nicht vorwärts, so bald in einem zweiten und niemand denkt daran, im Berufswechsel einen Vorwurf zu finden." 14

Hier finden sich erneut die schon angedeuteten stärkeren sozial-mentalen Trennlinien in Deutschland im Vergleich zu den USA bestätigt, wobei im Unterschied zur insgesamt positiv bewerteten größeren sozialen Mobilität in Amerika die stärkere berufliche Mobilität und der geringere Grad an Professionalisierung besonders in den vergleichbaren Berufen der „middle class" weniger Anklang fand.15 Allerdings wurde auch die positive Seite dieser Mobilität durchaus in den Blick genommen, was sich vor allem im Hinblick auf die Fähigkeit bezog, sich nach beruflichem Scheitern wieder neu zu etablieren. Der lange in Harvard lehrende Psychologieprofessor Hugo Münsterberg schrieb dazu: „So wie jede Arbeit, die nicht Preisgabe des freien Willens erheischt, für jeden passend ist, so ist nun auch der einzelne mit der besonderen Form der Arbeit weniger identifiziert als etwa in Deutschland. Wechsel des Berufs erfolgt in den Staaten sehr viel häufiger. (...) Der Glaube an die soziale Gleichwertigkeit drückt die Bedeutung eines Berufswechsels auf das geringste Maß herunter; es fragt sich, ob die vielgerühmte Versatilität und Anstelligkeit des Amerikaners nicht gerade hierin ihr Haupthilfsmittel findet; er ist sich deutlicher als irgendein Europäer bewußt, daß der Wechsel der Umstände an seiner Persönlichkeit nichts ändert, es also keiner wirklich neuen inneren Anpassung bedarf, die stets schwierig ist, sondern nur äußerlichen technischen Umlernens. Am überraschendsten zeigt sich das, wenn der Wechsel der Umstände durch einen plötzlichen Herabsturz erfolgt ist; die Sicherheit und die Ruhe, mit der der Amerikaner solche Wandlung hinnimmt, wäre geradezu unmöglich, wenn nicht der Geist der Selbstbehauptung ihn sein Leben lang gelehrt hätte, daß die äußeren Umstände nicht den eigentlichen Menschen darstellen." 16

Gerade anhand dieser Beobachtung wird erneut die zugrundeliegende positive Bewertung der im Vergleich zu Europa höheren sozialen Mobilität als Bewußtseinsform in den USA sichtbar, auch wenn das Bild im Hinblick auf die „Ruhe" nach persönlichem Scheitern überzeichnet erscheinen mag. An dieser Stelle wird es notwendig, nach den ökonomischen Bedingungen dieser Mobilität zu fragen und damit die grundsätzliche Einschätzung der amerikanischen Wirtschaftsformen und ihrer sozialen Wirkungen durch die deutschen Reisenden genauer in den Blick zu nehmen.

13 Vgl. dazu u. a. Hintrager, Wie lebt, S. 219 und Wadsack, Studienreise, S. 110. 14 Unruh, Amerika, S. 39. Vgl. auch Wolzogen, Dichter, S. 106f; Lettenbaur, Jenseits, S. 80f und Barnekow, Amerika, S. 110-117 u. 129ff, der als in Deutschland „gescheiterter Offizier" diese Chance zum beruflichen Neubeginn allerdings höchst positiv einschätzte. 15 Vgl. dazu ζ. B. Wolzogen, Dichter, S. 105f. 16 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 249. Vgl. ebda., S. 250 u. Bd. 1, S. 373 sowie Lettenbaur, Jenseits, S. 80f u. 171; Neve, Charakterzüge, S. 38f und für die 90er Jahre: Oetken, Landwirtschaft, S. 622f.

Wirtschaftsstrukturen im Vergleich - „ D i e Mechanisierung des Menschen"

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2. Wirtschaftsstrukturen im Vergleich „Die Mechanisierung des Menschen" Generell dominierte im deutschen Amerikabild um 1900 im Hinblick auf allgemein wirtschaftliche und speziell industrielle Entwicklungen die Vorstellung gewaltiger Prosperität und Expansion, die der Bankier Ludwig Max Goldberger auf die seither oft gebrauchte Formel v o m „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" brachte und die fortan das Bild bis auf w e n i g e Abstriche bis z u m Ersten Weltkrieg und darüber hinaus prägte. 1 7 Trotz der Vorstellung prinzipieller Ähnlichkeiten der industriellen Entwicklung in Europa und Amerika nahmen die deutschen Beobachter in diesem Zusammenhang allerdings eindeutig die gravierenden Unterschiede i m Verlauf der Industrialisierung stärker wahr. Generell erschienen die U S A durch das Fehlen alter traditioneller Strukturen ökonomisch avancierter, moderner und effizienter als deutsche und allgemein europäische Produktionsformen. S o notierte der Nationalökonom A. Sartorius v. Waltershausen bereits 1890: „Entsprechend der Größe des amerikanischen Wirthschafts- und Absatzgebietes ist eine centralisierte, industrielle Massenproduktion wie mit einem Zauberschlage lebensfähig geworden, die bald auf dem Weltmarkte eine ungeahnte Machtfülle zeigen wird und deren Wirkungen der amerikanischen Getreidekonkurrenz gewiß nicht nachstehen werden. Die amerikanische Industrie ist nicht in derselben Weise geschaffen worden, wie die heutige europäische. Während diese sich aus der Manufaktur des 17. und 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, wurde jene ohne einen Entwicklungsprozeß durchzumachen mit einem Male neben dem bestehenden Handwerk durch den Unternehmungsgeist der Yankees, der sich nach der Niederwerfung der Sklavenhalter ungehindert entfalten konnte, mit Benutzung der europäischen Erfahrungen geschaffen." 18 Vor allem der Grad der Arbeitsteilung und Spezialisierung durch Rationalisierung der Arbeitsabläufe und durch Maschinisierung und damit verbunden das Ersetzen von Arbeitskräften durch maschinelle Produktionsformen trat schon in den 1890er Jahren ins Zentrum der Berichte und Überlegungen: „Man muß aber das Volk der Vereinigten Staaten bei der Arbeit selbst gesehen haben, um begreiflich zu finden, daß es leisten konnte, was es geleistet hat und zu leisten fortfährt. Maschinen überall, um im großen zu schaffen, und die Arbeitsteilung so sehr durchgeführt, daß schließlich der Mensch selbst entweder zur Maschine oder zum Aufseher einer Maschine geworden ist. (...) Wo es möglich ist, die Arbeit in einzelne Handgriffe zu zerlegen, da wird der einzelne Handgriff zum Beruf gemacht, weil damit eine Übung gewonnen wird, die eine größere Sicherheit in diesem Handgriff gibt und seine häufigere Wiederholung in einem bestimmten Zeitmaß zuläßt." 19

17 Vgl. Goldberger, Land, S. 12f, 16ff u. 297ff sowie Bahr, Reise-Berichte, S. 239-247; Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 7ff, 31ff u. 47; Röder, Reisebilder, S. 32f; Rambeau, Amerika, S. 179 und Unruh, Amerika, S. 28f. Einwände blieben selten und bezogen sich durch das Ende der „frontier" allenfalls auf die Relativierung der „unbegrenzten" Möglichkeiten. Andererseits blieben auch für diese Beobachter die USA das Land des „totalen", da historisch gewissermaßen unbelasteten Kapitalismus. Vgl. dazu Plenge, Zukunft, S. 7-13 u. 77f u. Sartorius v. Waltershausen, Sozialismus, S. 9-12. 18 Sartorius v. Waltershausen, Sozialismus, S. 9. 19 Goldberger, Land, S. 34f. Vgl. ebda., S. 34-41; ferner Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 117ff und für die 90er Jahre z. B. Diercks, Kulturbilder, S. 57f u. 108f.

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„Das Land, w o die Arbeit adelt"

Und der Unternehmer Philip Harjes faßte seine Beobachtungen vor Ort 1904 enthusiastisch zusammen: „Was mir ganz besonders in den großen Fabriken aufgefallen ist, das sind die zahlreichen, uns gänzlich unbekannten, oft geradezu genialen Maschinen, überall nach dem Grundsatz ,Time is money' ausgedacht, immer dessen eingedenk, daß es darauf ankommt, möglichst viele Operationen auf einen Druck herzustellen. ( . . . ) Dies System ist so vervollkommnet worden, daß eine geradezu fabelhafte Masse Ware an einem Arbeitstage fertiggestellt werden kann, und auf diese Weise ist es auch nur möglich, bei den hohen Löhnen erfolgreich 20 und dauernd auf dem Markte mit Europa zu konkurrieren."

Dies stellten nicht nur liberale Ökonomen, Techniker und Unternehmer fest, sondern es fiel fast allen reisenden Wilhelminern auf. So befand am Beispiel einer Lokomotivenfabrik der katholische Geistliche und Zentrums-Politiker Liborius Gerstenberger 1905: „Der praktische Amerikaner macht in seinen Fabriken nur wenige Sorten und diese in großen Mengen. Kommt einmal ein wirklich erprobtes, praktisches neues Modell, dann baut er zuerst seine Maschinen hiefür und stellt dann neue Lokomotiven in ungezählter Menge her. Die alten werden, wenn ausgelaufen, nicht repariert, sondern zum alten Eisen geworfen. Einfach im Bau, billig in der Massenherstellung, nur auf so lange berechnet, bis etwas Neues, Besseres kommt, ist amerikanisches Prinzip. Allen individuellen Anforderungen zu entsprechen, sauber und sorgfältig gearbeitet, für lange Zeit bestimmt und immer wieder repariert, ist gut deutsches System." 2 1

Doch es war nicht nur die Industrie, die effizienter und massenhafter, aber auch verschwenderischer und undifferenzierter produzierte. Auch die Landwirtschaft fiel durch einen höheren Technisierungs- und Maschinisierungsgrad und damit erhöhte Effizienz auf. So bemerkte der Journalist Richard Oberländer: „Ein Vergleich zwischen dem gewöhnlichen deutschen Bauer und dem amerikanischen Farmer, der ihm an Vermögen gleichsteht, fällt stets zu ungunsten des deutschen Bauern aus. Der Amerikaner ist sowohl einsichtiger als thätiger. Wenn der kleine amerikanische Farmer nicht selber Dresch- und Mähmaschinen und Heupressen anschaffen kann, so mietet er sie. A l l e seine Werkzeuge sind von bestem Material und mustergültig in Form. Bei uns beschlagen zwei oder drei Arbeiter ein Pferd, in Amerika besorgt einer dieselbe Arbeit."22

Auch wenn die Behauptung gleicher Vermögenslagen kaum belegt wurde und eher als klassischer Fall der Warnung vor übertriebenen Erwartungen hinsichtlich amerikanischer Prosperitätschancen verstanden werden muß, fällt doch anhand dieser konkreten Beobachtung ein Umstand auf, den auch andere Besucher immer wieder registrierten. Dabei rückte der Farmer in den U S A direkt in die Nähe des Industriellen:

20 Harjes, Reise, S. 75. V g l . auch ebda., S. 23Off; Polenz, Land, S. 94f u. 116ff; Bahr, Reise-Berichte, S. 242f; Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 17f; Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 15ff; West, Hie Europa!, S. 22ff un Victor Laverrenz: Prinz Heinrichs Amerikafahrt. Berlin 1902, S. 127f sowie im Hinblick auf die Chicagoer Schlachthöfe: Klien, Amerikafahrt, S. 96ff. 21 Gerstenberger, Steinberg, S. 178. V g l . auch u. a. Oberländer, Ozean, S. 48ff und mit Bezug auf den riesigen Binnenmarkt der U S A , der allein die industrielle Massenproduktion sinnvoll mache: Otto Graf Moltke: Nord-Amerika. Beiträge zum Verständnis seiner Wirtschaft und Politik. Berlin 1903, S. 22f. 22 Oberländer, Ozean, S. 95. V g l . ζ. B. auch Barnekow, Amerika, S. 74ff und Hintrager, W i e lebt, S. 12f sowie Neve, Charakterzüge, S. 35ff.

Wirtschaftsstrukturen im Vergleich - „Die Mechanisierung des Menschen"

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„Der amerikanische Farmer ist vom Industriellen gar nicht so sehr weit entfernt. Er stellt sein Produkt beinahe fabrikmäßig her, möglichst viel gleichmäßige Ware. Sein Ziel ist Geld und nur Geld. Unser Landmann will vom Ertrage seines Guts mit den Seinen leben; was dann noch übrig bleibt, ist sein Überschuß." 23 Zugleich w i e s e n Historiker und Soziologen wie Karl Lamprecht, Johann Plenge oder M a x Weber in d i e s e m Zusammenhang auf die unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge und das Fehlen einer im (kontinental-)europäischen Sinne verstandenen traditionellen Bauernschaft in Amerika hin. S o heißt es bei Plenge: „Das amerikanische Land ist von Europa mehr verschieden wie die amerikanische Stadt trotz Trust und Skyscraper. Farmerland ist weder Bauernland noch Junkerland, sondern Unternehmerland mit Menschen, die mit ihrem bürgerlich-individualistischen Geist durchaus im 19. Jahrhundert leben, die nicht auf der heimischen Scholle sitzen, sondern ihr Kapital im Boden verwerten. In unserem Sprachgebrauch: Farmerland ist von Grund auf liberales Land, ohne ererbte Verehrung von alten Autoritäten, ohne die Gewohnheit, Herrenrechte gegen das Gesinde zu haben, ohne das Bedürfnis, sich mit einer neuen industriellen Herrenschicht politisch zu verbinden." 24 U n d M a x Weber w i e s in seinem Vortrag „Kapitalismus und Agrarverfassung", den er 1 9 0 4 auf e i n e m die Weltausstellung von St.Louis begleitenden wissenschaftlichen Kongreß hielt, auf die starke Traditionsverhaftetheit des kontinentaleuropäischen Bauern i m Vergleich zum (anglo-Amerikanischen modernen Farmer hin: „Die Macht der Tradition herrscht unvermeidlich in der Landwirtschaft vor; auf dem europäischen Kontinent schafft und erhält sie die ländlichen Bevölkerungstypen, die in einem Neuland wie den Vereinigten Staaten nicht existieren. Zu diesen Typen gehört zunächst der europäische Bauer. Der Bauer ist grundverschieden vom Farmer Englands oder Amerikas. (...) Der amerikanische Farmer produziert für den Markt; der Markt ist älter als der Produzent. Der europäische Bauer alten Schlages war ein Mann, der sein Land meistens ererbte und in erster Linie für den Eigenbedarf produzierte. In Europa ist der Markt jünger als der Produzent." 25 Mit „Markt" meinte Weber natürlich den modernen industriekapitalistisch organisierten Markt; anhand weiterer europäisch-amerikanischer Unterschiede w i e beispielsweise d e m fehlenden „Neuland" in Europa im Gegensatz zu den U S A , der in Amerika fehlenden europäischen (latent) kriegerischen Konkurrenz und der weitaus schärferen Kapitalismuskritik durch traditionelle Institutionen und Gruppen w i e den Kirchen, d e m Adel oder der „Bildungsaristokratie" in Europa stellte er die These auf, daß sich der Kapitalismus in Europa durch das Fortbestehen traditioneller hierarchischer Strukturen i m Gegensatz zu den U S A weitaus schwieriger und unter „autoritäreren" Vorzeichen habe durchsetzen können, während sich in Amerika der Kapitalismus durch deren Fehlen sozusagen in nuce entwickelt

23 Polenz, Land, S. 172. Vgl. ebda, S. 168-174. Vgl. auch Neve, Charakterzüge, S. 33ff. Vgl. zu den einzelnen Bereichen der Landwirtschaft für die Zeit vor 1900 detailliert Lange, Wirtschaft, S. 62-160. 24 Plenge, Zukunft, S. 75. Vgl. auch - freilich die deutschen Zustände romantisierend, aber im Kerngedanken ähnlich: Lamprecht, Americana, S. 64ff und Hintrager, Wie lebt, S. 1-9. Dies stellten auch andere europäische Beobachter immer wieder fest wie z. B. Herbert George Wells in seinem schon damals sehr erfolgreichen Reisebericht „The Future in America" von 1906, auf den sich Plenge auch explizit bezog. Vgl. Wells, Zukunft in Amerika, S. 63f. 25 Weber, Kapitalismus, S. 433.

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habe 26 - wir werden diesem Argument anhand der Frage nach dem Fehlen des Sozialismus in den USA wiederbegegnen. Allerdings muß natürlich gesehen werden, daß ein solch differenziertes Bild nicht typisch sein konnte für die Mehrzahl der deutschen Reisenden, zumal es sich kaum durch den Augenschein oder direkte Kontakte entwickeln ließ. Die Thesen Webers (wie auch Plenges) zeigen jedoch, daß die konkreten Beobachtungen durchaus in der soziologischen und nationalökonomischen Forschung der Zeit aufgegriffen und als für die Gegenwart besonders brisant bewertet wurden. Wir haben gesehen, wie positiv der Eindruck war, den die Konfrontation mit dem hohen Grad an Technisierung und standardisierter Massenproduktion in den USA bei den Wilhelminern generell hinterließ und damit vor allem bei den Ökonomen und Unternehmern als Vorbild für Deutschland erschien.27 Das bedeutet allerdings nicht, daß nicht auch Schattenseiten dieses insgesamt sehr positive Bild verdunkelten. Zu diesen Schattenseiten gehörten in deutschen Augen neben der optisch überall in ungeheuren Formen präsenten Produktwerbung und Reklame 28 vor allem die einseitige Konzentration der Ressourcen und Produktionsmittel in den wenigen Händen einiger Großkonzerne oder Trusts und damit die nahezu totale Standardisierung der Produktion. Zur Konzentrationstendenz der amerikanischen Industrie bemerkte dementsprechend Wilhelm von Polenz: „Von der Landwirtschaft abgesehen drängt in Nordamerika alles zum Großbetriebe. Überall, in Industrie, Handel, Verkehrswesen, Geldgeschäft, findet Konzentration gleichgearteter Interessen statt. Das Motiv dabei ist, wie so vieles in der Neuen Welt, durch Vereinfachung der Methode Zeit zu sparen, das Arbeitsprodukt zu verbilligen und dadurch höhern (sie) Gewinn zu erreichen. ( . . . ) Dieser Zug zur Interessenzusammenballung schafft Monsterindustrien.(...) Das Ziel ist, möglichst alle in Frage kommenden Zweige von sich abhängig zu machen, in seine Gewalt zu bekommen, zu .kontrollieren'.'

•ja

Allerdings konnte der Autor wie viele deutsche Beobachter der Effizienz dieser Konzentration kaum seine Anerkennung versagen, zumal gerade hier auch der schon skizzierte Mythos vom „self-made man" in Gestalt großer Trustgründer und -führer wie Vanderbilt, Rockefeiler oder Carnegie durchaus Einfluß auf die Beurteilung gewann und der Unternehmer damit auch anders als in Europa als das gesellschaftliche Ideal schlechthin erschien.30 Deutsche Beobachter machten in diesem Kontext zugleich eine in der Fachliteratur, zum Teil aber auch in den Reiseberichten und breiteren Studien heftig diskutierte „amerikanische Gefahr" aus, die für die europäische Wirtschaft am Himmel heraufzuziehen schien: 26 Vgl. ebda., S. 434-452. Vgl. dazu auch W. J. Mommsen: Die Vereinigten Staaten von Amerika im politischen Denken Max Webers. In: HZ 213,1971, S. 363ff. 27 Vgl. u. a. Goldberger, Land, S. 72f und die Angaben unter Anm. 11. 28 Vgl. dazu u. a. Hesse-Wartegg, Occident, Bd. 1, S. 127-138; Röder, Reisebilder, S. 72ff; Zimmermann, Onkel Sam, S. 197f; Lindau, Altes und Neues, Bd. 2, S. 113ff; Ravenschlag, Uncle Sam, S. 56f und H.Krekeler: Eine Reise von Deutschland nach Amerika und in Amerika. Vollmerdingsen 1896, S. 32ff sowie Moritz Leiffmann: Zu den Wundern Amerikas. Reisebeschreibung. Düsseldorf 1908, S. 99. 29 Polenz, Land, S. 189. Vgl. dazu insgesamt für die Zeit bis zur Jarhundertwende: Lange, Wirtschaft, S. 318-343. 30 Vgl. dazu ζ. B. Hesse-Wartegg, Amerika, S. 89ff, Polenz, Land, S. 121ff bzw. 207f und Goldberger, Land, S. 26ff sowie Oetken, Landwirtschaft, S. 597ff und Diercks, Kulturbilder, S. 358f bzw. zum gesellschaftlichen Ideal des Unternehmers u. a. Neve, Charakterzüge, S. 18f, Lettenbaur, Jenseits, S. 53f und Polenz, Land, S. 112f u. 119ff.

Wirtschaftsstrukturen im Vergleich - „Die Mechanisierung des Menschen"

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„Die Vorzüge dieser Art und Weise sind nicht zu verkennen; sie bestehen in der Vereinfachung der Verwaltung durch rationelle Arbeitsteilung, Übersichtlichkeit und erhöhte Schlagfertigkeit. (...) Die Überlegenheit amerikanischer Industrien über die von Europa ist nicht zum geringen Teile auf die geschickte Konzentrierung von Kapital- und Interessengruppen zurückzuführen, die sich bei uns bis aufs Messer bekämpfen. In den einzelnen Unternehmungen aber herrscht die engste Verquickung der mehr technischen Zweige: Urproduk•51 tion und Verarbeitung und der eigentlichen Finanzierung."

Bis auf einige sehr kritische Stimmen, die diese Konzentrationsformen unter Hinweis auf die schon erwähnten amerikanischen Protestgruppen sozusagen als „Verrat" am amerikanischen Urgedanken von Chancengleichheit und freier individueller Entfaltung aufs Korn nahmen,32 wurden also weniger die Monopolisierungstendenzen als solche, sondern in erster Linie die damit einhergehenden Folgen kritisch bewertet. Dies galt im Hinblick auf die konkrete industrielle Produktion vor allem für die standardisierte Massenproduktion in den USA, von der sich die Vielfalt deutscher bzw. allgemein europäischer Produktionsformen positiv abhob und damit zugleich die ökonomische „amerikanische Gefahr" für Europa relativierte. Vor allem wegen unterschiedlicher Traditionen und Konsumformen konnte in wilhelminischen Augen das amerikanische Prinzip in Europa kaum Fuß fassen, mochte es auch für den gewaltigen Binnenmarkt der USA noch so sinnvoll sein: „Um nun die richtige Stellung zu finden, die wir bezüglich der ungeheuren Fortschritte der amerikanischen Maschinenindustrie einzunehmen haben, ist folgendes wohl zu beachten: .Unsere' Stärke und ,unsere' Erfolge beruhen auf ganz anderen Grundlagen und werden durch ganz andere Umstände bedingt als die der Union. (...) Charakteristisch für das deutsche kaufende Publikum ist die Abweichung der Geschmacksrichtungen in den verschiedenen Gegenden unseres Vaterlandes. (...). In Amerika liegt die Sache ganz anders: In New York, in San Francisco, in Chicago und in St.Louis findet man dieselben Formen der Haus- und Tafelgeräte. Infolge dieser Gleichförmigkeit des Geschmacks und der prozentual größeren Kauffähigkeit des Publikums ist es drüben angezeigt und durchgängig lohnend, hauptsächlich Massenartikel zu fabrizieren und die zu Massenartikeln geeigneten Maschinen überall an die Stelle der veralteten treten zu lassen. (...) Eine Gefährdung für unsere deutsche Industrie durch die amerikanische ist, solange wir uns selbst treu bleiben und die Augen offenhalten nicht zu fürchten, weil eben unsere Stärke auf ganz anderen Gebieten liegt und, dem Nationalcharakter und den Verhältnissen nach, immer liegen wird." 33

Auffallend ist auch hier erneut die Begründung unterschiedlicher Produktionsweisen mit unterschiedlichen scheinbar unveränderlichen und „ewigen" Mentalitäten und Traditionen, wie sie als Argumentationsmuster schon anhand der allgemeinen Gesellschaftsbeobachtungen sichtbar geworden sind. Dies betraf allerdings vor allem die Formen von Produktion und Konsum; die Schattenseiten amerikanischer industrieller Produktionsweise wurden vor allem von kritischen Stimmen im Hinblick auf die Unmenschlichkeit hochgradig mechanisierter und spezialisierter industrieller Produktionsverfahren als „Mechanisierung des Menschen" beschrieben, wobei sich dezidiert linke Autoren wie Arthur Holitscher und

31 Polenz, Land, S. 190. Vgl. auch Heymann, USA, S. 157f bzw. Knebel-Doberitz, amerikanische Gefahr, passim und die Angaben zu dieser Debatte bei Pommerin, Der Kaiser und Amerika, S. 207-220. 32 Vgl. z. B. Plenge, Zukunft, S. 13f. 33 Harjes, Reise, S. 237ff. Vgl. auch Münsterberg, Eindrücke, S. 38ff; Moltke, Nord-Amerika, S. 50f und Schmidt, Eindrücke, S. 28f. Zur Relativierung der „amerikanischen Gefahr" vgl. auch u. a. West, Hie Europa!, S. 3 - 9 u. 55 sowie Moltke, Nord-Amerika, S. 20f, 26ff u. 47ff.

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, J)as Land, wo die Arbeit adelt"

konservativ-liberale Schriftsteller w i e Wilhelm von Polenz in diesem (Negativ-)Befund durchaus ähnelten, in den Beurteilungen bzw. Begründungen allerdings deutlich voneinander abwichen. S o argumentierten konservativ-liberale Autoren, sofern sie diese Schattenseiten überhaupt wahrnahmen, in kulturpessimistischer Grundhaltung mit der „Nivellierung" des modernen M e n s c h e n durch Demokratie und „Industrialismus": „Gesellschaften wie die großen Aktienunternehmungen, Warenhäuser, Riesenetablissements aller Art, Stahltrusts, Eisenbahnkartelle haben etwas Unpersönliches. Es fehlt ihnen die Beseelung. Die Kräfte, die sie treiben, bleiben unsichtbar im Hintergrunde. Der einzelne ist nur eine kleine Schraube, ein Maschinenteil, mechanisch angetrieben, einer Kraft gehorchend, die nicht aus ihm selbst stammt. Der Arbeiter braucht, ebenso wie er nur bestimmte Muskeln tagein tagaus anstrengt, auch nur gewisse Geisteskräfte anzuwenden zu seiner ihm von der Maschine diktierten Arbeit." U n d als Beispiel für „diese Mechanisierung des Menschen" führte er die Arbeit des Schweineschlächters in Chicagos Schlachthöfen drastisch vor Augen mit der Folgerung: „Ich denke keineswegs an das Ekelhafte des blutigen Handwerks, wenn ich die Frage aufwerfe: Führt dieser Schlächter ein menschenwürdiges Dasein? Ist hier der Mensch bei aller Eleganz der Arbeitsleistung nicht zum Maschinenteile herabgesunken? Kann er seine Seele in eine solche Arbeit legen? (...) Solche Existenzen (...) erzeugt eben der zum Riesenwuchs entartete, in der Spezialisierung der Einzelleistung auf die Spitze getriebene Großbetrieb. Je größer das Unternehmen, desto tiefer muß die Selbständigkeit des einzelnen gedrückt werden. Je besser abgeschliffen und aufeinander eingeschlagen die Teile sind, desto glatter arbeitet das Ganze. Ein Mensch, ein Handgriff! Schließlich bekommen wir Naturen, die wie Uferkiesel gleich sind. Wahrhaftig, wenn das das Ergebnis des verflossenen Jahrhunderts wäre, dann hätten Männer wie Goethe, Emerson, Ruskin umsonst gelebt." 34 Auffallend ist dabei allerdings, daß der gleiche Autor hohe Erwartungen in die Technik hegte und sich k e i n e s w e g s auf Kulturkritik und Vergangenheitsverklärung eines vermeintlich „ganzheitlichen" und autonomen Handwerks beschränkte, sondern im Gegenteil den technischen Fortschritt als „Heilmittel" empfahl und eine Entwicklung prognostizierte, die aus heutiger Sicht erstaunlich modern anmutet - Indiz für die Ambivalenz, mit der die Industrialisierung und ihre Folgen nicht nur im Hinblick auf die U S A beurteilt wurden: „Ein Gegenmittel gegen die abstumpfende, geisttötende Wirkung der Maschine liegt in der fortschreitenden Verbesserung der Technik. Je vollkommener die Maschine wird, desto mehr nimmt sie dem Menschen die gröbste Arbeit ab. Der Arbeiter wird zu einer Art von Aufsichtsbeamten, der nur noch nachhelfend und korrigierend einzugreifen braucht. Je mehr sich die Maschine vergeistigt, desto leichter werden die Handgriffe, desto höhere Intelligenz und desto tieferes Verständnis für das Ganze des Betriebs wird aber auch vorausgesetzt. So mag vielleicht die mechanische Arbeit in der Fabrik, die den Arbeiter scheinbar zum gedankenlosen Sklaven hinabdrückt, ihn schließlich zum raschdenkenden, kenntnisreichen Ingenieur emporheben. Anzeichen für diesen Gang der Dinge sind in der hochentwickelten Maschinenindustrie der Vereinigten Staaten zu finden." 35

34 Polenz, Land, S. 203ff. Vgl. auch Kleinschmidt, Bilder, S. 107 und Goldberger, Land, S. 193. 35 Polenz, Land, S. 205f. Vgl. auch u. a. Goldberger, Land, S. 198f. Vgl. zur Ambivalenz der Beurteilung auch Vay von Vaya, Amerika, S. 117ff u. 272-282, der einerseits Pittsburgh und seine Fabriken in bildungsbürgerlicher Tradition mit Dantes „Inferno" aus der „Göttlichen Komödie" verglich, andererseits aber die gewaltigen Wirtschaftsleistungen der amerikanischen Produktionsweise pries und die „Mechanisierung des Menschen" zwar erwähnte, letztlich aber bemerkenswerterweise nicht weiter verfolgte, obwohl der

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D i e s e Relativierung der Schattenseiten eines Arbeitssystems mit hochgradiger Arbeitsteilung und Spezialisierung, in der sich Mythen der Technik mit der schon skizzierten sozialen Mobilität verbanden zur Idee einer technischen Lösbarkeit sozialer Probleme durch zunehm e n d e „Bildung", fand sich auch bei anderen Autoren in wechselndem Gewände und macht die A m b i v a l e n z der bürgerlichen Wahrnehmung industrieller Produktion deutlich. S o verstieg sich der Schriftsteller Ernst von Wolzogen in eine ästhetisierende Betrachtung der Chicagoer Schlachthöfe, die ähnliche Muster wie bei Polenz wiederholte: „Der Zweck, nämlich die Versorgung der Menschheit mit tadellos zubereiteter Fleischspeise, heiligt die Mittel, und die Mittel heiligen wiederum auch den Zweck; denn um mir die gutgepökelte Zunge in sauberer, luftdicht verschlossener Büchse auf den Tisch zu setzen, haben Menschenwitz und Menschenfleiß ihr Letztes hergegeben und durch geniale Ausnützung des Materials und Hinaufsteigerung aller Energien zu äußersten « Leistungen das blutige Chaos in vollendete und darum ästhetisch wirkende Harmonie verwandelt." D i e s e Glorifizierung industrieller Massenproduktion, die gerade am Beispiel der industriellen Schlachtung besonders markant ins A u g e fällt, wurde dagegen von dezidiert linken Autoren nicht geteilt. S o klagte der sozialistische (wenn auch seiner Herkunft und Sozialisation nach durchaus „bürgerliche") Schriftsteller Arthur Holitscher die hochgradige Arbeitsteilung und Spezialisierung des einzelnen Arbeiters auf w e n i g e Handgriffe im maschinellen Ablauf, die er vor allem als Stück- und Akkordarbeit in den U S A kennenlernte, auch mit Hinblick auf deren Einfluß in Europa an: „Was aber sind die Folgen dieser Stückarbeit, dieses mörderischen Tempos, für den Arbeiter und die Industrie? Erst rangiert der Tüchtige den Untüchtigen aus, das ist selbstverständlich. Dann aber rangiert der Tüchtigste sich selbst, wie gesagt, den Tüchtigsten aus. Denn bei dieser Art von Arbeit wird natürlich ein solch ungeheures Plus an Waren produziert, daß die Fabriken immer öfter und für immer längere Zeit zusperren müssen (...) Das System aber, das hundsföttische Stückarbeit-Schindsystem in seiner neuesten Variante blüht, erobert sich in dem weiten Amerika einen Fabrikationszweig nach dem anderen, eine Fabrik nach der anderen, streckt schon seine Fangarme zu uns herüber, nach dem Creuzot, nach Essen, nach dem Vogtland, überallhin.. ,". 37

sozialkritische Tenor des Berichts unverkennbar war und schon im Titel durch das .Auswandererschiff' angedeutet wurde: „Wie jede Umdrehung eines Rades angeordnet ist und jeder Hammer auf Befehl schlägt, so bewegt sich auch jedes menschliche Glied nur in Übereinstimmung damit; und wie jedes Rad oder jeder Hebel der gewaltigen Maschinerie nur eine gewisse Funktion ausübt und nur einen Teil eines Artikels hervorbringt, so ist auch jede menschliche Hand nur mit einem Einzelding beschäftigt, verrichtet und wiederverrichtet immer nur die gleiche Arbeit, verfertigt immer nur das gleiche Werk. Ob es für den einzelnen ein Vorteil, so zu verfahren, ist eine andere Frage. Man darf bezweifeln, daß es für einen Menschen wünschenswert sei, ein Stück Maschine zu werden. Doch das liegt außerhalb unseres Gegenstandes. Hier will ich nur von der Teilung der Arbeit sprechen, die geradezu wunderbar (...) ist. (...) Die Geschichte eines der großen kommerziellen Unternehmen zu hören, klingt fast wie ein Feenmärchen, obwohl sie nicht von verzauberten Wäldern und schlafenden Schönen erzählt: es ist eine neue Ausgabe im Einklang mit diesem Zeitalter des Rauchs und der Erfindung." (S. 119). 36 Wolzogen, Dichter, S. 231. 37 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 308. Vgl. auch ebda., S. 307ff und 316ff, wo der Autor auch durch drastische Photographien die Unmenschlichkeit des Systems etwa hinsichtlich der Altersgrenze der Arbeiter, die die 40 kaum überschreiten durften, wollten sie noch eine neue Arbeit finden, sichtbar zu machen suchte.

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„Das Land, wo die Arbeit adelt"

Und aus eigener Anschauung beschrieb ein deutscher Beamter, der kurz nach der Jahrhundertwende ein Jahr lang als einfacher Arbeiter in Chicago gearbeitet hatte, um die brennende „soziale Frage" von unten kennenzulernen, den Charakter industrieller Stückarbeit: „Ich will beim technischen Detail unserer Arbeit hier nicht länger verweilen. Genug, daß sie mich damals über die Maßen gelangweilt hat, diese Arbeit. Über ihr ist mir das Verständnis aufgegangen für gewisse Vorwürfe wider die moderne Arbeitsteilung. Solche Teilung ist freilich unerläßlich. Die ganze heutige Technik wäre undenkbar ohne sie. Aber um so weniger darf man die Augen verschließen vor dem freudlosen, Sinn und Gemüt ausdörrenden ewigen Einerlei einer Beschäftigung, welche im monotonen Spiel weniger Muskeln besteht und so wenig eigenes Denken erheischt, daß sie gewissermaßen unter der Schwelle des Bewußtseins abläuft. Es dürfte schwer halten, in solcher Arbeit, die ohne Rücksicht auf individuelle Begabung den Menschen zum Maschinenteil herabdrückt und ihn gleichsam ,als bloßen Lückenbüßer menschlicher Erfindungskunst verbraucht', noch dasjenige Ausmaß sittlicher Würde zu finden, das kein Beruf auf die Dauer entbeh•30 ren kann, ohne ethische Gefährdung derer, die ihm obliegen."

Auch hier wird erneut deutlich, wie ambivalent das Urteil ausfiel: Technik und Fortschritt „mußten sein", aber die Erfahrung einer Degradierung des Menschen durch extreme Einseitigkeit seiner Tätigkeit zum „Maschinenteil" brachte doch gerade das bürgerliche Welt- und Menschenbild eines Anspruchs auf integrale Persönlichkeitsbildung stark ins Wanken und konnte - wie bei Polenz beispielhaft gesehen - nur über die Vorstellung gesteigerter Technisierung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, wobei jedoch eine Lösung zumindest gedanklich immer angestrebt wurde; diese wie auch immer ambivalente Kritik trat allerdings bezeichnenderweise vor allem nach der Jahrhundertwende auf und äußerte sich in den 1890er Jahren, als diese Produktionsform in ihrer ganzen Tragweite noch in der ersten Entwicklung steckte, nur vereinzelt. Ganz konkret wurde jedoch - und da waren sich die deutschen Beobachter jeglicher professioneller wie politischer Herkunft einig - das Problem der „Unmenschlichkeit" amerikanischer Arbeitsbedingungen in der Industrie greifbar anhand fehlender Bestimmungen und Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter in den Betrieben, aber auch hinsichtlich staatlicher oder betrieblicher Unfallversicherung, wobei Deutschland und sein schon oben skizziertes System staatlicher bzw. innerbetrieblicher Sicherung erneut als Vorbild gegenüber amerikanischen Verhältnissen erschien. Etwas karikierend, aber dennoch den allgemeinen Tenor treffend, meinte Holitscher dazu: „Ohne einzelne Fabriken, die ich gesehen habe, zu denunzieren, muß ich sagen, daß ich auf dermaßen unhygienische, mörderische und verbrecherisch vernachlässigte .Shops' doch nicht vorbereitet war. Daß ich selber heiler Haut aus diesen Räumen herauskam, in denen Treibriemen ohne Schutzgitter herumsausen, siedende Wachsmasse frei herumspritzt, Ätherstoffe ohne Maske auf Schuhleder gerieben werden, tausend Unzukömmlichkeiten auf Schritt und Tritt auffallen (...) dafür sage ich hiermit meinem Schutzengel (...) öffentlich tiefgefühlten Dank. Unfallversicherungen, Altersversorgung, Invaliditätspension und ähnliche zivilisierte Dinge kennt das demokratische Land des freien Wettbewerbs nicht. Neben den Bettlern mit heiler Haut fallen einem die Verstümmelten aller Kategorien peinlich auf." 39

38 Kolb, Arbeiter, S. 71f. Vgl. auch ebda., S. 37ff und aus Arbeitersicht auch Kummer, Weltreise, S. 150ff. 39 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 313. Vgl. dazu auch Kummer, Weltreise, S. 76 u. 200ff; Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 18f; Kolb, Arbeiter, S. 121 ff; Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 53f u. 60f sowie von Unternehmerseite Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 20f und Schmidt, Eindrücke, S. 32. Vgl. dazu auch Lange, Wirtschaft, S. 352ff u. 374ff.

Lebensstandards im Vergleich - Wohlstand für alle?

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Diese Schattenseiten fielen jedoch, wie gesehen, weitaus weniger ins Gewicht als die generelle Leistung der amerikanischen Industrie, und nur eindeutig linke Autoren rückten sie in den Mittelpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Die weitgehende „Verdrängung" dieser sozialen Problematik wurde vor allem durch einen Umstand erleichtert, der einen zentralen Platz in den Berichten einnahm und dem wir uns abschließend noch zuwenden wollen - dem am europäischen Maßstab gemessenen allgemein hohen Wohlstand der Bevölkerung in den USA, was besonders für die Arbeiter zu gelten schien.

3. Lebensstandards im Vergleich - Wohlstand für alle? Ein wesentlicher Ausgleich für den fehlenden Arbeitsschutz auf betrieblicher wie staatlicher Ebene schien der allgemein relativ hohe Wohlstand amerikanischer Arbeiter zu sein, der den deutschen Beobachtern insgesamt so stark auffiel, daß diese Beobachtungen die skizzierten Schattenseiten in vielen Berichten überlagerten oder gar ganz verdrängten. Dieser vor allem im Vergleich zu deutschen bzw. allgemein europäischen Arbeitern auffallende Wohlstand war dabei eingebettet in einen allgemein höher erscheinenden Lebensstandard der amerikanischen Gesellschaft. Dieser generell höhere Lebensstandard fiel jedoch besonders anhand der Arbeiterverhältnisse so stark ins Auge, weil die aus der „Klassengesellschaft" kommenden deutschen Besucher diese materiellen Errungenschaften nur aus der eigenen Schicht bzw. aus kleinbürgerlichen Schichten kannten. So stellte beispielsweise der deutsche Unternehmer Max Bahr 1906 in den USA erstaunt fest, „daß auch Arbeiterfamilien drüben kleine Häuschen bewohnen mit 4, S, 6 Zimmern, darunter vielfach Badezimmer und Badeeinrichtung, und daß solche Familien nach und nach zu bescheidenem Wohlstande gelangen." 40

Und der Jurist und Richter O. Hintrager brachte den Unterschied auf den Punkt, als er 1904 schrieb: „Der Arbeiter, der namentlich im Westen meist sein eigenes Heim hat, hält es durchaus nicht für Luxus, Bodenteppiche, Dauerbrandöfen, bequeme Möbel, besonders viele Schaukelstühle zu haben. Seine Frau kleidet sich nach der Mode. (...) Was dem Europa besuchenden Amerikaner zuerst aufzufallen pflegt, sind die armen, zerlumpten, mit Handkarren die Straßen durchziehenden Leute in großen Städten; und der Europäer, der durch die Vereinigten Staaten reist, wundert sich darüber, die Frauen und Töchter der Cowboys und der Minenarbeiter des Westens ebenso elegant und modern gekleidet zu sehen wie die Frau des Minenbesitzers (.. .)." 41

40 Bahr, Reise-Berichte, S. 243. Vgl. auch ebda., S. 242ff u. 58ff. Vgl. dazu für die zweite Jahrhunderthälfte insgesamt auch Lange, Wirtschaft, S. 354-360. 41 Hintrager, Wie lebt, S. 95. Vgl. auch Gestenberger, Steinberg, S. 122f; Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 20f; Hoffmann, Bilder, S. 62f; Röder, Reisebilder, S. 126ff; Oberländer, Ozean, S. 24f; Leiffmann, Zu den Wundern, S. 95f und Harjes, Reise, S. 71 sowie Neve, Charakterzüge, S. 14f, der als Pfarrer aus eigener Anschauung urteilte: „Es ist nicht der prosaische Kampf ums Dasein, von dem er sich zu seinem Ringen angetrieben fühlt. Dieses Ringen um die bloße Existenz, nur um sein Brot zu haben, kennt man in Amerika fast nicht. Denn dort haben selbst die sogenannten Armen, d. h. die weniger Besitzenden in Hülle und Fülle ihr täglich Brot. Eine Armut, wie man ihr in breiten Volksschichten der europäi-

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„Das Land, w o die Arbeit adelt"

Galt dies auch nicht generell, sondern vor allem für den Westen und in erster Linie für die in Amerika geborenen Amerikaner und kaum für die europäischen Einwanderer,42 so war doch der Grundtenor vor allem im Vergleich zu europäischen Verhältnissen durchgängig der gleiche. Auffallend ist dabei, daß diese Beobachtungen gerade in den Reiseberichten zentral auftauchten und die breiter angelegten Studien dieses Phänomen aufgriffen und entsprechend statistisch untermauerten.43 Dabei wurde auch deutlich, daß nicht nur bei den Arbeitern bzw. in den Unterschichten dieses Wohlstandsgefälle zu Europa auffiel, sondern auch im (Klein-)Bürgertum, wobei ja schon im ersten Abschnitt sichtbar geworden ist, wie stark generell die „Klassengrenzen" in den USA verschwammen und Lebensstile für die an scharfe Distinktionen gewöhnten Wilhelminer bis auf die wenigen Ausnahmen der ganz Reichen und ganz Armen kaum noch in ihren gesellschaftlichen Unterschieden auszumachen waren.44 Auch wenn viele Reisende die Kehrseite deutlich höherer Kosten des Lebensunterhalts in den USA im Vergleich zu Deutschland vor allem im Bereich existentieller Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen und Kleidung immer wieder beobachteten (was allerdings von den statistisch vergleichenden Analysen deutlich relativiert wurde),45 konnte doch der Gesamteindruck des allgemeinen „Wohlstandes" fast aller Amerikaner kaum getrübt werden. Allerdings lagen die Schattenseiten dieses Wohlstandes aus deutscher Sicht nicht nur in relativ höheren Lebenshaltungskosten, sondern vor allem in der Wahrnehmung eines in Amerika weitaus härteren Existenzkampfes, bei dem unvermittelt Arbeitslosigkeit drohte; immer wieder bemerkten deutsche Reisende die Schwierigkeit, in den USA Arbeit zu finden, was erstaunlicherweise sogar weniger für die Krisenphase der frühen 90er Jahre als vielmehr für die Prosperitätsphase nach der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg galt, wobei sich diese Beobachtung allerdings besonders auf Auswanderer bezog und damit auch Teil der schon angesprochenen Warnungsstrategie vor zu leichtfertiger Auswanderung war. Aber dieses Arbeitsproblem stellte im Gegensatz zur Erwartung des „Landes der unbegrenzten Möglichkeiten" durchaus eine zentrale Erfahrung vor allem der Reisenden dar, die in den USA auch arbeiteten bzw. als Journalisten (wie beispielsweise Kurt Aram oder O. W. Nölting) die dortigen Arbeitsbedingungen „von unten" kennenlernen wollten oder aber als

sehen Länder begegnet, bei deren Anblick einem das Herz weh tut, habe ich in Amerika fast nirgends zu finden vermocht." Dies war sicher im Hinblick auf die U S A überzogen und schrieb partiell den amerikanischen Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten fort, doch zeigt gerade der Kontrast zu Europa die Blickrichtung an, auf deren Folie Amerika als deutliches Vorbild erschien. 4 2 Vgl. auch Legien, Arbeiterbewegung, S. 34f bzw. Goldberger, Land, S. 198-203, bes. 200f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 474f. 43 Vgl. dazu z. B. im Hinblick auf den Vergleich der Arbeitslöhne in Deutschland und den U S A besonders Sombart, Sozialismus, S. 8 3 - 9 4 bzw. insgesamt 9 1 - 1 2 6 ; West, Hie Europa!, S. 24ff u. 45ff sowie für die 90er Jahre Oetken, Landwirtschaft, S. 583ff 4 4 Vgl. dazu u. a. auch Polenz, Land, S. 64 u. 91; v. Wernsdorff, Per aspera, Bd. 2, S. 94ff; Krekeler, Reise, S. 26f sowie Rambeau, Amerika, S. 220ff u. 238ff und Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 12f. Zum Beispiel des Wohnens vgl. auch Kolb, Arbeiter, S. 57f u. Kummer, Weltreise, S. 50. 45 Vgl. u. a. Kolb, Arbeiter, S. 42f; Oberländer, Ozean, S. 45ff; Vay v. Vaya, Amerika, S. 126f und Kummer, Weltreise, S. 203ff und dagegen die Angaben von Sombart. Sozialismus, S. 94—112.

Lebensstandards im Vergleich - Wohlstand für alle?

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„gescheiterte Existenzen" sich durchschlagen mußten und diese Erfahrungen in den oben skizzierten „Rechtfertigungs"- bzw. Abenteuerberichten dokumentierten. 4 6 In diesen Kontext eines i m Vergleich zu Europa härteren Existenzkampfes, der zumal durch den Eindruck des „melting pot" unterschiedlichster Einwanderergruppen besonders verschärft erschien, 4 7 gehörte auch die Beobachtung von im Vergleich zu Europa stärkeren Boomphasen, aber auch schärferen Wirtschaftskrisen 4 8 und damit einhergehend schnelleren Vermögensgewinnen und entsprechenden -Verlusten, die den Mythos von den unbegrenzten Möglichkeiten konterkarierten und nicht selten das dramatische Bild eines „unbegrenzten Scheiterns" entwarfen, auch w e n n ein erneuter Aufstieg danach durchaus wieder möglich erschien. Der Sprachwissenschaftler A d o l f Rambeau notierte dazu: „Durch kluges spekuliren (sie) (...) lassen sich für den kundigen, für den eingeweihten in Amerika hohe gewinne schneller und leichter, auch wohl weit höhere gewinne erzielen, als es gewöhnlich in Europa geschieht. Aber der plötzliche krach (.panic') ist im geschäftlichen verkehr, im kommerziellen und industriellen zustande des ganzen landes oder einzelner gegenden und auch in einzelnen geschäftszweigen ebenso häufig als der plötzliche aufschwung." 49 Eine weitere Schattenseite bildete in diesem Zusammenhang die vor allem in den Studien vermerkte Heftigkeit der Arbeitskämpfe, die oben schon kurz angedeutet worden ist. Selbst Goldberger konnte kaum über diese Tatsache hinwegsehen und stellte zugleich erneut in dies e m Zusammenhang die grundsätzlich ähnliche soziale Ausgangsposition beider Gruppen w i e auch die fehlende staatliche Regie fest: „Der Widerstreit und die Gegensätzlichkeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind (...) in der Union noch viel schärfer als anderwärts, vielleicht weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer einander in den Grundanschauungen und Grundbestrebungen so außerordentlich ähneln. Die beiden Gruppen bewegen sich dort durchaus auf dem gleichen Boden des Gelderwerbs. Von Sentimentalität ist nicht die Rede. Überall starrste Interessenvertretung. Dazu kommt, daß von einer Arbeiter-Fürsorge im Sinne und Geiste unserer sozialpolitischen Einrichtungen nirgends ein Hauch zu verspüren ist." 50 Entsprechend gestaltete sich auch der Charakter von Streiks in den U S A anders als in Europa. Vor allem die deutlich geringere politische Dimension der Streiks und Arbeitskämpfe bzw. der

46 Vgl. Aram, Mit 100 Mark, bes. S. 90-95 u. 152ff; Kolb, Arbeiter, S. 1-36; Nölting, Sternenbanner, S. 45-50; Rosen, Lausbub, Bd. 1, S. 222ff; v.Werndsorff, Per aspera, Bd. 1, S. 50ff; Zimmermann, Onkel Sam, S. 178fu. 188f und Holitscher, Amerika heute und morgen, S.311f. 47 Vgl. u. a. Rambeau, Amerika, S. 20f u. 162f. 48 Vgl. dazu u. a. Polenz, Land, S. 98f u. 218f. 49 Rambeau, Amerika, S. 261. Vgl. auch Polenz, Land, S. l l l f , der zugleich die mentale Abneigung gegen „Spekulieren" im deutschen Bildungsbürgertum, aber auch im Adel und Offizierkorps deutlich macht; für die 90er Jahre vgl. u. a. Oetken, Landwirtschaft, S. 582. Dieser Umstand eines harten Existenzkampfes und der Gefahr eines plötzlichen Absturzes in die Tiefen des sozialen Elends schien so typisch amerikanisch, daß er sogar Eingang in die Karikatur der Zeit fand. Vgl. dazu Peter Richards: Amerika durch die Lupe der Karikatur. Leipzig 1913, S. 28ff u. 70ff. 50 Goldberger, Land, S. 47. Vgl. auch ebda., S. 47-51. Vgl. auch Polenz, Land, S. 96ff. Bezeichnenderweise beklagte dementsprechend ein an der Weltausstellung von St.Louis beteiligter deutscher Bauunternehmer die Stärke amerikanischer Gewerkschaften und die schnelle Bereitschaft zum Arbeitskampf und pries demgegenüber den in seinen Augen „staatlichen Augleich" zwischen den Arbeitsparteien in Deutschland. Vgl. Knauer, Deutschland, S. 168f.

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Gewerkschaften wie der „Knights of Labor" und später vor allem der führenden „American Federation of Labor" (AFL) fiel deutschen Besuchern immer wieder auf, wenn sie diesen Bereich überhaupt thematisierten, was in erster Linie die landeskundlich ambitionierten Studien unternahmen: „Ein Unterscheidungsmerkmal fallt, wenn man die Streiks im außerenglischen Europa mit denen der Vereinigten Staaten vergleicht, vor allem in die Augen: die Politik wird so gut wie gar nicht in den Lohnkampf hineingezogen. (...) Der Lohnkampf wird als legaler Austrag von wirtschaftlichen Differenzen zwischen Parteien im Sinne des Prozeßrechts betrachtet."51

Allgemein gilt jedoch, daß dieser Bereich im wirtschaftlichen Kontext weniger stark wahrgenommen wurde als im Zusammenhang einer fehlenden mentalen Disposition der Amerikaner zum „Sozialismus" generell, weshalb hier die Andeutung der Beobachtungsrichtung genügen soll und dieses Themenfeld im Rahmen des Kapitels zu den „Mentalitäten" einer näheren Betrachtung unterzogen wird.

4. Das Bild von den Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Prosperität Deutsche Besonderheiten und europäische Gemeinsamkeiten Wir haben gesehen, in welchem Maße Arbeit, Wirtschaft und Berufswelt um 1900 die Amerikadebatte deutscher Autoren thematisch bestimmte - dies war offensichtlich ein neuer Entwicklungstrend im deutschen Amerikadiskurs, denn in diachroner Vergleichsperspektive fällt auf, daß „Arbeit" in der deutschen USA-Reiseliteratur der ersten Jahrhunderthälfte noch kein zentrales Thema war; die Berichte, die diesen Bereich jedoch thematisierten, spiegeln allerdings ähnliche Muster wie um die Jahrhundertwende. Offensichtlich fielen Pragmatismus, allgemeine Hochschätzung von Arbeit, Energie und Effizienz deutschen Unternehmern und Ingenieuren schon um die Jahrhundertmitte als spezifisch amerikanisch auf und veranlaßten sie zu überaus positiven Kommentaren, die das amerikanische Modell für Deutschland propagierten.52 Zugleich dominierte bis zur Jahrhundertwende ein ausgeprägter Fortschritts- und Sozialoptimismus das deutsche Amerikabild, wobei das idealisierende amerikanische Selbstbild der Chance zu sozialem Aufstieg durch Selbsthilfe aufgrund universeller Arbeitsmöglichkeiten größtenteils übernommen und Schattenseiten wie die zunehmende Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten besonders in den Großstädten verharmlost wurden. 53 Offenkundig entwickelte sich das Bild am Jahrhundertende nach den gewonnenen Erkenntnissen differenzierter und ambivalenter, auch wenn beispielsweise das mentale

51 Polenz, Land, S. 211. Vgl. auch Rambeau, Amerika, S. 160f und Darmstaedter, Vereinigte Staaten, S. 228ff. Siehe dazu für die Zeit nach 1865 insgesamt auch Lange, Wirtschaft, S. 364-381. 52 Vgl. dazu Brenner, Reisen, S. 308-316. 53 Vgl. ebda., S. 375-400, wobei Brenner allerdings nicht klar zwischen einzelnen Großstädten wie New York und den USA insgesamt unterscheidet und damit die Beurteilung überkritisch ausfallt, auch wenn berücksichtigt wird, daß vor allem die Städte von den deutschen Reisenden besucht wurden.

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Muster des Glaubens an die Lösbarkeit sozialer Probleme durch technischen Fortschritt wie gesehen durchaus fortwirkte. Es ist unverkennbar, wie stark die USA um 1900 zum Modelland des industriell-technischen Fortschritts aufstiegen und damit, wie oben gezeigt, ihre soziale und politische Vorbildfunktion zunehmend zurückgedrängt wurde. Diese Tendenz setzte sich vor allem in der Zwischenkriegszeit fort, als die amerikanische Prosperität vielen deutschen Ökonomen, Unternehmern, Technikern, aber auch Schriftstellern und Intellektuellen eine Übernahme amerikanischer Produktionsmodelle zur Genesung der am Boden liegenden deutschen Nachkriegswirtschaft zu verheißen schien. Am stärksten wurden dabei zwei Modelle diskutiert, die als „Taylorismus" bzw. „Fordismus" bezeichnet wurden und zum einen auf die Ideen eines „scientific management", wie es der Ingenieur F. W. Taylor ab 1895 entwickelt hatte, zum anderen auf die standardisierte Massenproduktion von Automobilen in den Ford-Werken Detroits vor allem nach 1915 zurückgingen.54 Beide Modelle waren Teil größerer technologischer Systembauentwürfe, die den Aufstieg der Massenproduktion und der Großbetriebe am Ende des 19. Jahrhunderts begleiteten.55 Vor allem Taylors Konzept wurde nach 1900 auch in Europa breit rezipiert, obwohl ähnliche Ansätze auch in europäischen Industriebetrieben entwickelt worden waren.56 Sein Konzept „wissenschaftlicher Betriebsführung" hatte zum Ziel, die Arbeitsproduktivität zu steigern, indem mittels genauer Arbeitsablaufstudien die menschliche Arbeitsleistung rationalisiert und standardisiert werden sollte. „Taylorismus" wurde damit zugleich zum zentralen Begriff einer Integration von Mensch und Maschine im Dienste industrieller Massenproduktion und deren Perfektionierung, wobei zugleich ein Modell der Integration von Arbeiterschaft und Management und damit ein technisches Lösungsmodell sozialer Gegensätze mitgedacht wurde. Allerdings gilt es im Auge zu behalten, daß die tayloristische Konzeption keineswegs so fundamental neu war, sondern auf einer bereits hochgradigen Mechanisierung aufbaute. So lassen sich die Anfänge der Fließbandproduktion bereits ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen, und gerade im Bereich der Nahrungsmittelproduktion läßt sich ein rapider Modernisierungsschub ab den 1860er Jahren feststellen. So konzentrierte sich die auf schnelle Verarbeitung angewiesene Fleischproduktion im Verkehrszentrum Chicago besonders in den 1890er Jahren zu riesigen Konzernen (wie .Armour" oder „Swift"), die sich 1902 zudem noch zu einem marktbeherrschenden Trust zusammenschlössen und abgesehen von den gewaltigen Produktionsvolumina weitaus rationalisierter und arbeitsteiliger produzierten als etwa ihre deutschen oder

54 Vgl. zur Rezeption dieser Modelle in der Weimarer Republik: T. P. Hughes: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA nach 1870. München 1991, S. 287-297. Vgl. zu einer ähnlich intensiven Rezeption vor und nach dem Ersten Weltkrieg auch in Frankreich: P. Hinrichs/I. Kolboom: Taylor, Ford, Fayol. Wissenschaftliche Arbeitsorganisation (OST) in Frankreich zwischen Belle Epoque und Weltwirtschaftskrise. In: Zwischen Fahrrad und Fließband. Absolut modern sein. Culture technique in Frankreich 1889-1937. Ausstellungskatalog Berlin 1986, S. 75-94. 55 Vgl. zu diesen verschiedenen Systemen Hughes, Erfindung, S. 190-207 und S. Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt/M. 1987, S. 120-155. Vgl. allgemein zum ökonomischen Wandel zwischen 1870 und 1914: E. J. Hobsbawm: The Age of Empire 1875-1914. London 1987, S. 34-55, hier bes. 43ff und Landes, Prometheus, S. 220-332. 56 Siehe dazu Landes, Prometheus, S. 300ff.

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französischen Gegenstücke. 57 Wir haben gesehen, wie stark gerade diese Industrie die Aufmerksamkeit der deutschen Besucher auf sich zog, was auch insofern nicht verwunderlich ist, als Chicago wie gezeigt nach New York die am meisten besuchte Stadt der USA war. Besonders anschaulich realisiert erschien das Taylorsche Modell allerdings in der Automobilproduktion Henry Fords in Detroit, wo von 1900 bis 1913 bzw. 1916 das später legendäre „Modell T" als Standardmodell für den Massenkonsum entwickelt wurde 58 - wir haben darauf oben im Zusammenhang mit den Reiseformen in Amerika und der stärkeren Verbreitung des Autos in den USA vor dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zu Europa bereits hingewiesen. Als Ford seine Prinzipien 1922 in seinem Werk „My Life and Work", das umgehend ins Deutsche und viele andere Sprachen übersetzt wurde, erläuterte, begann insbesondere in Deutschland eine breite Rezeption dieser Ansätze. Unter dem Leitbild des „Fordismus" wurde dabei eine umfassende „progressive" Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie verstanden, die nach Fords Prinzipien eine Spirale ökonomischer Prosperität favorisierte, indem hohe Löhne und eine entsprechend hohe Kaufkraft in fast allen Gesellschaftsschichten durch die Kombination mit niedrigen Preisen aufgrund von standardisierter Produktion einen neuartigen Massenkonsum ermöglichen sollten - ein Massenkonsum, der dann seinerseits wieder die Produktion ankurbeln würde. Dieses Modell wurde zugleich zum Synonym für „Amerikanismus" schlechthin und in den 20er und 30er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und ganz (West-)Europa heftig und kontrovers diskutiert, wobei die Gegner vor allem in der schon angedeuteten kulturpessimistischen Tradition durch den Massenkonsum eine allgemeine kulturelle Nivellierung und geistige Verflachung Europas befürchteten 59 - wir werden darauf im Schlußkapitel über den Vergleich der Kontinente zurückkommen. Die Debatte der 20er und 30er Jahre nahm insofern Tendenzen und Grundpositionen der Vorkriegszeit auf, die nur durch die europäische Krise der Nachkriegszeit besonders verschärft und stärker konturiert wurden. Vor dem Ersten Weltkrieg war der „Taylorismus" vor allem in Fachkreisen stark diskutiert worden und zwar zunächst im Hinblick auf das System von Lohnanreizen für gesteigerte individuelle Produktivität und schließlich nach der Krise von 1907/08 im Hinblick auf das gesamte technisch-organisatorische Instrumentarium des Taylorschen Konzeptes, wobei allerdings die gesellschaftliche Dimension weitgehend

57 Vgl. dazu ausführlich Giedion, Herrschaft, S. 103-119 u. 238-277. Vgl. zur frühen Ausbildung eines spezifischen „American System of Manufacture" etwa auch im Bereich der Waffenproduktion: A. Schüler: Erfindergeist und Technikkritik. Der Beitrag Amerikas zur Modernisierung und die Technikdebatte seit 1900. Stuttgart 1990, S. 24ff. 58 Vgl. dazu Hughes, Erfindung, S. 209-224 und detailliert D. A. Hounshell: From the American System to Mass Production. The Development of Manufacturing Technology in the United States, 1850-1920. Diss. Univ. of Delaware 1978, S. 331-386. 59 Vgl. Hughes, Erfindung, S. 290-297 und J. Hermand/F. Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik. Frankfurt/M. 1988, S. 4 9 - 5 8 bzw. für Frankreich: Grewe, Amerikabild, S. 265-302 u. 473-498 bzw. Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 229-247 sowie für Italien: Beynet, L'image, S. 638-666. Zur durchaus kontroversen Debatte um das amerikanische Wirtschaftsmodell im Dritten Reich vgl. auch H.D. Schäfer: Amerikanismus im Dritten Reich. In: M.Prinz/R. Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991, S. 199-215.

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unberücksichtigt gelassen wurde - das Ziel war jedoch eindeutig: es ging um die Modernisierung deutscher Betriebe nach amerikanischen Mustern unter Anpassung an spezifisch deutsche Gegebenheiten.60 Dabei hat gerade ein jüngster deutsch-britischer Unternehmervergleich ergeben, daß deutsche Unternehmer vor dem Ersten Weltkrieg weitaus mobiler waren und sehr viel mehr Auslandsaufenthalte vor allem auch in den USA für sich verbuchen konnten als ihre britischen Kollegen - Indiz für das Interesse an den USA im Rahmen der rapid „aufholenden Industrialisierung" in Deutschland.61 Kommen wir nach diesem Exkurs in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück zum synchronen Vergleich mit den Sichtweisen anderer Europäer vor 1914, der sich allerdings aufgrund der Forschungslage erstaunlich schwierig gestaltet, da die zum britischen und französischen Amerikabild vorliegenden Arbeiten diesen zentralen Bereich seltsamerweise nur am Rande oder gar nicht berühren. Dennoch soll nach der Durchsicht einer Reihe von französischen Berichten zumindest eine vergleichende Tendenz sichtbar werden, die die Perspektive der Wilhelminer zu ergänzen vermag. Wir haben gesehen, wie auffallend hoch der Stellenwert von .Arbeit" als amerikanische Besonderheit von den Wilhelminern beurteilt wurde. Auch hier stellte sich heraus, daß diese Bewertung - ähnlich wie bei der Frage der sozialen Gleichheit und eng mit ihr verknüpft sich vor allem auf einen spezifischen amerikanischen Habitus bezog, der Arbeit jeglicher Art und damit auch im Unterschied zu Europa körperliche Arbeit gleichwertig hoch einschätzte und umgekehrt den „Müßiggang" privilegierter europäischer Schichten gerade auch als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal entschieden ablehnte. In diesem Kontext zeigte sich auch, daß lediglich Berufe der persönlichen Dienstleistung in den USA von dieser Hochschätzung ausgenommen blieben, was als „Dientsbotenproblem" besonders den reisenden Europäern immer wieder massiv auffiel. Verbunden mit dieser Hochschätzung von Arbeit in den USA war in deutschen Augen eine besondere Arbeitsenergie, aber auch ein Pragmatismus und eine Flexibilität, die Praxis und Erfahrung höher als Diplome wertete und damit zu einer hohen Berufsmobilität führte, die in deutscher Sicht allerdings die Schattenseite geringerer Professionalisierung besonders in den freien Berufen mit sich brachte. Im Vergleich mit französischen Autoren zeigt sich jedoch, daß Bewertung wie Beurteilung in dieser Hinsicht keine deutsche Besonderheit darstellten. Fast alle Aspekte wurden von den französischen Beobachtern in ähnlicher Weise registriert und tendenziell auch ähnlich bewertet. So schrieb ζ. B. der Anglist André Chevrillon in seinen „Etudes anglaises" 1901 über die besondere amerikanische Arbeitsenergie im Kontrast zu Europa: „In unserem alten, kulturgeschichtlich so überreichen Europa sind die Lebensläufe der Individuen so fest abgesteckt und vermessen wie die Ländergrenzen. Überall, selbst in der Industrie und im Handel, sind die Tätigkeits- und Produktionsfelder schon so eingehegt und festgelegt wie die Gänge und Schienen in einem Bergwerk. Eine Generation folgt hier ohne große Veränderung der anderen. (...) Im Gegensatz dazu arbeitet

60 Vgl. dazu ausführlich H.Homburg: Anfänge des Taylorsystems in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Problemskizze unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitskämpfe bei Bosch 1913. In: Geschichte und Gesellschaft 4, 1978, S. 170-180. 61 Vgl. H.Berghoff/R. Möller: Unternehmer in Deutschland und England 1870-1914. Aspekte eines kollektivbiographischen Vergleichs. In: HZ 256, 1993, S. 367ff.

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der Amerikaner in einer Mine, die ihm jeden Tag reicher und tiefer erscheint und deren Grenzen er in Jahrhunderten kaum zu ermessen vermag. Er ist trunken vor Kühnheit und Enthusiasmus, und sein Stolz und Patriotismus speisen sich immer wieder aus der Überzeugung, daß seine Goldader die reichste von allen sei; das möchte er beweisen, hier gräbt er immer weiter, (...) und die Arbeit des Abbaus wird sein eigentliches Lebensziel, wird für ihn zu einer Sache, die er immer mehr um ihrer selbst willen tut." 62

Hintergrund dieser Beobachtungen war eine rapide Industrialisierung der Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg, deren Erfolge die Wilhelminer wie auch die Franzosen außerordentlich beeindruckten. Durch das im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa fehlende Hemmnis alter Strukturen und Traditionen erwies sich die amerikanische Industrie als moderner im Sinne von fortgeschrittener Rationalisierung, Technisierung und Spezialisierung, was die deutschen und französischen Besucher vor allem in den Industriezentren des Ostens (wie Pittsburgh) oder des mittleren Westens anhand der Schwerindustrie und des Maschinenbaus, aber auch am Beispiel der Nahrungsmittelindustrie (so vor allem der Chicagoer Schlachthöfe) konstatierten.63 Doch galt diese höhere Technisierung auch aus französischer Sicht nicht nur für den industriellen Bereich, sondern auch und gerade für die Landwirtschaft, die den amerikanischen Farmer als Marktproduzenten in einen klaren Kontrast zum immer noch primär selbstversorgenden deutschen bzw. europäischen Bauern stellte. 64 Schattenseiten dieser Wahrnehmung waren die hohe Konzentrationstendenz von Unternehmen in wenigen Händen und die Bildung von Trusts sowie damit einhergehend die extreme Standardisierung der Produktion, doch gestaltete sich das Urteil hier durchaus ambivalent, mußten die meisten deutschen wie französischen Beobachter doch die außerordentliche ökonomische Effizienz dieses Systems konzedieren. Dennoch wurden, wie wir gesehen haben, vor allem zwei höchst unterschiedliche Gefahren in der Beurteilung dieses ökonomischen Booms der USA gesehen. Die eine bezog sich ganz konkret auf die Konkurrenz für Deutschland bzw. Frankreich oder ganz Europa am Weltmarkt und wurde als „amerikanische Gefahr" zum Teil heftig diskutiert,65 zugleich aber auch unter Hinweis auf unterschiedliche

62 André Chevrillon: Etudes anglaises. Paris 1901, S. 66f. Vgl. zur starken Berufsmobilität und geringen Wertschätzung persönlicher Dienstleistungen in den USA auch ebda.S. 58-65 sowie insgesamt zu diesem Bereich Vicomte d'Avenel, Aux Etats-Unis, S. 15ff u. 189-195, der das europäische „Skandalon" von studentischer Handarbeit im Kontrast zu Amerika beschrieb: „ So gibt es zum Beispiel in den Universitäten arme Studenten, die von den reichen Studenten für Hilfsdienste bezahlt werden. In französischen Instituten würde es als Schande empfunden werden, wenn sich weniger begüterte Studenten derart erniedrigen würden. (...)." (S. 193). Vgl. dazu ferner Dugard, La société américaine, S. 114f; Sauvin, Autour de Chicago, S. 28ff u. 35ff und Henry de Varigny: En Amérique. Souvenirs de voyage et notes scientifiques. Paris 1895, S. 266ff. 63 Vgl. für Frankreich z. B.Jules Huret: En Amérique, Bd. 1: De New-York à la Nouvelle-Orléans. Paris 1904, S. 291-311 sowie Georges Vergnaud: Un voyage en Amérique. Sarlat 1911, S. 69f; Georges Blondel: Deux mois aux Etats-Unis d'Amérique. Paris 1905, S. 3-8; Paul de Rousiers: La vie américaine. Ranches, fermes et usines. Paris (1892), S. 262-280 und Edouard Rod: Reflets d'Amérique. Paris 1905, S. 7-24. 64 Vgl. ζ. Β. Vicomte d'Avenel, Aux Etats-Unis, S. 74f; de Rousiers, La vie américaine, S. 153f und Nevers, L'âme américaine, Bd. 2, S. 115f bzw. für England Wells, Zukunft in Amerika, S. 63f. 65 Vgl. ζ. B. de Rousiers, La vie américaine, S. 337 und Firmin Roz: L'Energie américaine. (Evolution des Etats-Unis). Paris 1910, S. 73-81.

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Produktions- und Konsumformen in den USA und Europa relativiert. Die zweite Gefahr bezog sich eher auf den Binnenbereich der Arbeitswelt und meinte die vermeintliche bzw. reale „Mechanisierung des Menschen". Überdeckt wurde diese Sicht durch die Wahrnehmung eines im Vergleich zu Europa auffallenden relativ hohen Wohlstandes der amerikanischen Gesellschaft allgemein und insbesondere der Arbeiterschaft - sichtbar anhand eines fast (klein-) bürgerlichen Lebensstandards in bezug auf Kleidung, Essen und Wohnen sowie Freizeit - , dessen Wirkung so stark war, daß selbst Schattenseiten wie ζ. B. der im Vergleich zu Europa wesentlich geringere staatliche bzw. betriebliche Schutz vor Unfällen und eine teilweise hohe Arbeitslosigkeit verdeckt wurden. Auch wenn kritische Beobachter durchaus registrierten, daß sich dieser Wohlstand weitgehend auf gelernte und in Amerika geborene Arbeiter und kaum auf die ungelernten und neu eingewanderten bezog, und der Existenzkampf gerade im vermeintlichen „melting pot" 66 USA härter als in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien erschien, blieb doch der Eindruck einer Beteiligung der Arbeiterschaft an der allgemeinen amerikanischen Prosperität vorrangig. Das zeigte sich in deutschen Augen auch und wesentlich anhand der Arbeitskämpfe, die zwar hart geführt wurden, zugleich aber sehr konkret auf Arbeitsbedingungen zielten und im Vergleich zu Europa weitaus weniger politisch bzw. ideologisch aufgeladen erschienen - hier kämpften nicht Klassen gegeneinander, sondern prinzipiell gleichgestellte Interessenvertretungen rangen um Positionsverbesserungen. Auch hier ergeben sich interessante Übereinstimmungen der französischen mit den deutschen Beobachtungen. So fiel auch den Franzosen vor allem die „Mechanisierung" des Menschen, 67 die geringe Arbeitsplatzsicherheit und der fehlende Arbeitsschutz vor Unfällen in den Betrieben auf. Diese Schattenseiten wurden aber genauso wie bei den Deutschen durch die vergleichsweise sehr hohen Löhne überlagert, die einen für Arbeiter ungewöhnlich „bürgerlichen" Lebensstil ermöglichten. So rief beispielsweise sogar der sozialistische und durchaus amerikakritische Journalist Urbain Gohier emphatisch und zugleich etwas karikierend, aber darin bezeichnend aus: „ Ach, diese wohlbeleibten und gut gekleideten, frisch gewaschenen und gut ausgeruhten Arbeiter mit ihren Gehältern von französischen Universitätsprofessoren im Vergleich zu unseren eingeschüchterten Proletarieren! (...) Diese Farmer, die weder Steuern noch Pacht noch kaum Dünger bezahlen müssen und die mit modernsten Maschinen zwei Ernten im Jahr einfahren im Vergleich zu unserem schmutzigen und armseligen Landarbeiter, der jede Erdscholle einzeln umgräbt ohne sich jemals ein Vergnügen zu gestatten! Der Überfluß

66 Bereits in den 1960er Jahren war das deskriptiv wie normativ lange Zeit wirksame Leitbild vom ethnischkulturellen „Schmelztiegel" Amerika verblaßt und durch kritischere Untersuchungen und Modelle ersetzt worden, die zeigten, daß der „melting pot" nicht stattgefunden hatte. Vgl. dazu die Pionierstudie von N. Glazer/D. P. Moynihan: Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City. Cambridge, Mass. 1963, bes. S. 288-315. 67 Zur „Mechanisierung des Menschen" bemerkte ζ. B. Jules Huret nach eingehenden Recherchen vor Ort: „ Jeder der mathematisch genauen Handgriffe des Arbeiters zielt auf ein ganz bestimmtes Resultat, niemals verweilt er oder hält im Arbeitsfluß inne. Er hat nich einmal Zeit, einen Blick auf die zudringlichen Besucher zu werfen; er ist eine lebende Maschine, ein lebendiger Automat." (Huret, En Amérique, Bd. 2, S. 232f). Vgl. ferner u. a. de Varigny, En Amérique, S. 266ff. Vgl. allg. auch Portes, Une fascination, S. 276-282.

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jener Amerikaner - das, was sie wegwerfen und verschleudern, weil es ihrer hohen Ansprüche nicht würdig ist - würde das Auskommen und fast den Wohlstand der meisten Franzosen ausmachen." 68

Allerdings unterschieden Franzosen wie Deutsche zumindest in den kritischeren und genaueren Studien zwischen den gelernten, einheimischen Arbeitern, auf die sich dieser „Wohlstand" ausschließlich bezog, und den ungelernten, oft der englischen Sprache nicht mächtigen Einwanderern, für die der Existenzkampf härter als im Heimatland erschien.69 Auffallend ist in der deutschen wie französischen Debatte insgesamt die durchaus differenzierte und oftmals ambivalente Sicht, auch wenn einzelne Berichte naturgemäß deutliche Schwerpunkte setzten; das Gesamtbild der Debatte in beiden Ländern war jedoch keineswegs eindimensional, sondern erstaunlich vielschichtig. Als deutsche Besonderheit in einem ansonsten durchaus europäischen Diskurs fällt dabei vor allem die Intensität der Debatte auf und zugleich die geringere Distanz gegenüber dem amerikanischen Wirtschaftsmodell, das insgesamt vorbildhafter erschien als in französischen Augen. Während die Franzosen also stärker den Abstand zwischen französischen und amerikanischen Wirtschaftsformen und -mentalitäten hervorhoben und damit zumeist auch kritischer über die amerikanischen Institutionen urteilten, strichen deutsche Beobachter eher die Modellhaftigkeit der amerikanischen Wirtschaft heraus. Im folgenden soll daher versucht werden, die Gründe für diese deutsche Sicht im Vergleich herauszuarbeiten.

5. Wirtschafts- und Berufsstrukturen in Deutschland und den USA vor dem Ersten Weltkrieg Faktoren und Determinanten des deutschen bzw. europäischen Blicks Wie erklärt sich nun der Eindruck der außerordentlichen Modernität der amerikanischen Wirtschafts- und Arbeitsstrukturen bei den europäischen Besuchern? Vor allem drei Aspekte erscheinen hier zunächst relevant. Zum einen nahmen die deutschen (wie auch die französischen70) Besucher vor allem Großbetriebe wahr; nur sehr selten wurden auch kleinere oder mittlere Unternehmen besucht oder registriert, was u. a. den Modernitätseindruck der amerikanischen Industrie erklärt; wäre die Palette breiter ausgefallen, wäre sicher auch das Bild der „totalen" Modernität amerikanischer Produktionsmethoden relativiert worden. Dazu kommt, daß die Mehrzahl der reisenden Unternehmer und Ingenieure selber aus eher kleineren oder mittleren Betrieben stammten (zumindest diejenigen, die über ihren Amerikaaufenthalt ausführlicher und nicht nur in Fachorganen publizierten) und daher der Erfahrungsabstand zu den Großbetrieben in den USA besonders groß gewesen sein dürfte. Nach Auswertung der Fachzeitschriften sieht es jedenfalls ganz so aus, als seien Spitzenmanager

68 Urbain Gohier: Le peuple du XXe siècle. Paris 1903, S. 15. 69 Vgl. zur französischen Sicht: Portes, Une fascination, S. 276-282 sowie für Großbritannien ζ. B. Bryce, Amerika als Staat und Gesellschaft, Bd. 2, S. 530ff und Wells, Zukunft in Amerika, S. 90ff. 70 So fallt auf, daß die reisenden Franzosen sich auf ganz ähnliche Betriebe konzentrierten wie die Deutschen. Vgl. Portes, Une fascination, S. 276ff.

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von deutschen Großunternehmen auch etwas skeptischer gegenüber den amerikanischen Erfolgen und Modellen gewesen.71 Zum anderen fällt auf, daß die deutschen und französischen Besucher vor allem Großunternehmen der ersten industriellen Revolution in Augenschein nahmen, so neben den genannten Nahrungsmittelproduzenten vor allem Eisenbahn- und Maschinenbauindustrien (wie Pullman bei Chicago oder Baldwin bei Pittsburgh); die modernsten Anlagen der sogenannten zweiten industriellen Revolution - also in erster Linie der Chemie- und Elektroindustrie - wurden dagegen kaum registriert, obwohl hier die USA ähnlich wie Deutschland bedeutende Fortschritte zu verzeichnen hatten. Der Eindruck der Modernität entstand insofern erstaunlicherweise eher an älteren, wenn auch sehr hoch entwickelten Formen der Industrialisierung. Eng damit zusammen hängt ein dritter, vor allem für Deutschland relevanter Aspekt, nämlich die ebenfalls erstaunliche Verkennung ähnlich hoch entwickelter Produktionsanlagen in Deutschland. Angesichts der scheinbar hypermodernen amerikanischen Anlagen verblaßten deutsche Fortschritte; stattdessen wurde immer wieder die Dichotomie zwischen amerikanischer Modernität und deutscher bzw. europäischer Traditionalität eröffnet, die aus heutiger Sicht zumindest für Deutschland kaum bestätigt werden kann und lediglich für Frankreich (und Großbritannien) einige Berechtigung erhält, was u. a. die stärkere Distanzerfahrung und geringere Vörbildhaftigkeit des amerikanischen Modells in französischen Augen erklären dürfte. Die Forschung hat in diesem Zusammenhang gezeigt, daß gerade Deutschland mit seinen hundert größten Unternehmen vor dem Ersten Weltkrieg extrem modern war und der amerikanischen Realität weitaus näher stand als der etwa vergleichbaren britischen oder der strukturell kaum vergleichbaren französischen. 72 Dies galt vor allem für die sogenannte „funktionale Integration" wie auch für die „Diversifikation" der Produktpalette, wobei Integration die zunehmende Vereinigung aller der Produktion vorangehenden Tätigkeiten (so die Gewinnung von Rohstoffen und Halbfertigprodukten) wie auch die Einbeziehung der nachfolgenden Funktionen (wie Vertrieb und Verkauf) unter einem Dach meint. „Diversifikation" bezieht sich auf die wachsende Erweiterung der Produktpalette eines Betriebs bzw. Konzerns zur Risikoverteilung und Erweiterung der Marktanteile.73 Die starke Integration und ihr Effizienzzugewinn ist am Beispiel der amerikanischen industriellen Fleischproduktion schon sichtbar geworden und fiel, wie geschildert, auch den Zeitgenossen besonders auf. Erstaunlich ist jedoch, daß die schon 1887 beobachtbare und bis 1927 stetig zunehmende Integration und Diversifikation deutscher

71 Vgl. Homburg, Anfange, S. 177ff und C. Picht: Amerikareisen, Amerikaerfahrung und Amerikabild deutscher Elektroindustrieller vor dem Ersten Weltkrieg. In: G. Hübinger u. a. (Hg.): Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Freiburg/Br. 1994, S. 231-347. 72 Vgl. dazu insgesamt J. Kocka: Großunternehmen und der Aufstieg des Manager-Kapitalismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Deutschland im internationalen Vergleich. In: HZ 232, 1981, S. 50ff sowie A. D. Chandler Jr.: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism. Cambridge, Mass., London 1990, S. 12ffu. 393ff. 73 Vgl. H.Siegrist: Deutsche Großunternehmen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik. Integration, Diversifikation und Organisation bei den hundert größten deutschen Industrieunternehmen (1887-1927) in international vergleichender Perspektive. In: Geschichte und Gesellschaft 6, 1980, S. 60-89.

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Großunternehmen im zeitgenössischen Vergleich mit den USA kaum ins Bewußtsein drang. So war die Diversifikation in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg sogar schon weiter fortgeschritten als in den USA,74 wobei die breitere Produktpalette in Deutschland - sofern sie wahrgenommen wurde - charakteristischerweise, wie gezeigt, weniger als Unternehmensstrategie interpretiert, sondern eher als Reaktion auf bestimmte nationale Traditionen und Mentalitäten gesehen wurde. Und ähnliches gilt auch für die Form der Betriebsorganisation, denn die USA und Deutschland waren etwa im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich ähnlich modern im Hinblick auf die Entwicklung des modernen Manager-Unternehmens in Ablösung des älteren Modells, in dem der Eigentümer noch stark dominiert hatte; hier waren deutsche Konzerne zum Teil ebenfalls moderner und weiter entwickelt als die amerikanischen.75 Angesichts dieses Kontraste von zeitgenössischer Wahrnehmung und historischer Forschung zumindest im deutschen Fall stellt sich die Frage nach den Gründen für diese Sicht. Ein wesentlicher Grund - die Herkunft der Reisenden aus kleineren bis mittleren Betrieben bzw. aus generell wirtschaftsfremden Berufen - ist oben schon angedeutet worden. Dazu kam zweitens, daß diese Industrien nicht nur etablierter waren (sie wurden dementsprechend auch im Baedeker erwähnt, was nicht zu unterschätzen ist), sie waren auch anschaulicher als die Betriebe der „hermetischeren" Chemie- und Elektroindustrie. Zudem waren die Nahrungsmittelbetriebe in den USA auch sehr viel stärker unter den hundert größten Unternehmen vertreten als in Deutschland, was ihre Attraktivität mit erklären dürfte. 76 Dieser Mangel an Anschaulichkeit galt auch für die betrieblichen Organisationsformen, so daß es nicht verwundert, wenn sich die Ausbildung des modernen Manager-Unternehmens erst aus der historischen Rückschau erschließt. Ferner darf drittens die Ausstrahlungskraft des oben schon skizzierten amerikanischen Wirtschaftsmythos nicht unterschätzt werden. Gerade in den Betrieben wurde nicht nur ein selektiver und möglichst positiver Blick zugelassen, es wurde auch massiv ein fortschrittsoptimistisches Selbstbild vermittelt, das den Blick der Besucher stark beeinflußt haben dürfte. Dazu kam der Mythos vom amerikanischen Unternehmer, der in dieser Phase extremer Monopolisierungstendenzen während des „Gilded Age" mit Männern wie Carnegie, Rockefeiler oder Vanderbilt zur amerikanischen Leitfigur schlechthin aufstieg.77 Dieser Mythos verdeckte dabei erstaunlicherweise die große Leistung der vielen Erfinder wie Alexander G. Bell, Samuel Insull, Nikola Tesla oder des berühmten Thomas A. Edison, die die USA nach 1870 zu dem Land der technologischen Innovationen schlechthin machten und durch die Erfindungen von Telephon, Telegraph, Elektrizität usw. eine Transport- und Kommunikationsrevolution einleiteten.78 Offensichtlich wurden diese

74 Vgl. ebda., S. 81ff. 75 Vgl. dazu und besonders zu den Gründen, die hier nicht näher vorgestellt werden können, Kocka, Großunternehmen, S. 5 4 - 6 0 und Chandler, Scale, S. 47-86 bzw. 393ff u. 587ff. 76 Vgl. Kocka, Großunternehmen, S. 48. 77 Vgl. dazu Cashman, America, S. 34-85. Vgl. zum Unternehmer als „Idealtyp" der amerikanischen Gesellschaft in dieser Phase auch und gerade unter sozialdarwinistischen Interpretationsmustern: Trachtenberg, Incorporation, S. 80-86. 78 Siehe dazu ausführlich Hughes, Erfindung, S. 62-190 sowie Cashman, America, S. 12-25 und Schüler, Erfindergeist, S. 22ff bzw. 33ff.

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Leistungen (bis auf einige wenige Besucher, die Edison und seine Mitarbeiter an seinem berühmten Arbeitsplatz „Menlo Park" aufsuchten) nach 1890 schon als so selbstverständlich beurteilt, daß sie nicht mehr eigens erwähnt wurden. Und die Macht der Großunternehmer und -konzerne schien so evident, daß - wie oben gesehen - fast alle Gegenmaßnahmen wie die Widerstände der Populisten, Reformer oder der Gesetzgebung (wie der „Sherman Act" von 1890 gegen die Trust-Bildung) und die massiven Streiks und Arbeitskämpfe in der Praxis vor 1914 bzw. 1917 kaum durchgreifende Wirkung zeigten und insofern auch kaum von außen wahrgenommen wurden. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß auch in Europa die Tendenz zu Monopolbildung über Zusammenschlüsse und Kartelle zunahm und die amerikanische Entwicklung sich in den Augen der Zeitgenossen nur durch ihre besonderen Dimensionen davon abhob.79 Doch es lassen sich noch weitere Gründe für die skizzierten Wahrnehmungen der Deutschen (und Franzosen) vermuten. So kristallisiert sich aus der heutigen Rückschau die gerade im Vergleich zu den USA sichtbare europäische Besonderheit einer besonders industrieintensiven Beschäftigungsstruktur heraus, d. h. die Masse der Beschäftigten arbeitete in den meisten hochentwickelten europäischen Ländern im sekundären Beschäftigungssektor, während in den USA schon vor dem Ersten Weltkrieg der tertiäre Dienstleistungssektor stärker entwickelt war.80 Das lag u. a. an der europäischen Tradition handwerklicher und nicht standardisierter Produkte, die stärker national oder regional differierten und damit einen auffälligen Kontrast zur standardisierten Massenproduktion in den USA bildeten. Dieser Kontrast sprang daher besonders ins Auge (auch wenn die relativ abstrakte historische Herleitung selten oder gar nicht ins Bewußtsein rückte) und ließ zwar eine hohe Arbeitsintensität in amerikanischen Betrieben wahrnehmen, doch wurde gerade vor diesem Hintergrund der Verlust handwerklich-individueller Autonomie und die „Mechanisierung des Menschen" besonders deutlich. Schließlich könnte es auch sein, daß der Modernitätsvorsprung der amerikanischen Unternehmen deshalb so stark empfunden wurde, weil immer wieder nicht nur mit Deutschland oder Frankreich, sondern mit Europa insgesamt verglichen wurde, auch wenn diese Vergleichsebene selten sehr detailliert ausfiel und meist nur diffus als Kontrast zwischen Kontinenten aufgefaßt wurde. Vergleicht man auch aus der heutigen Perspektive nicht nur mit Deutschland, sondern mit Europa allgemein, so ergibt sich allerdings ein deutlicher Modernitätsvorsprung amerikanischer Unternehmen in den skizzierten Dimensionen bis in die Zeit nach 1945.81 Dieser Eindruck einer allgemein europäischen „Traditionalität" im Vergleich zu den USA dürfte daher auch das Bild der deutschen Autoren geprägt haben. Doch gab es neben diesen eher unterschwelligen Gründen auch ganz konkrete Anlässe, die amerikanische Wirtschaft und Industrie als moderner zu empfinden. Dazu gehörte die vor

79 Vgl. zur europäischen Entwicklung: Landes, Prometheus, S. 23Iff. 80 Vgl. zu dieser europäischen Besonderheit und ihren Gründen: Kaelble, Weg, S. 25-30. Allerdings sticht dieser Unterschied besonders im europäisch-amerikanischen Vergleich hervor. Vergleicht man nur Deutschland und die USA vor 1914, so dominieren in der Beschäftigungsstruktur erneut eher die Ähnlichkeiten starker Industriebeschäftigung. Vgl. Kocka, Angestellte, S. 39ff. 81 Vgl. Kaelble, Weg, S. 30-34.

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allem negativ vermerkte Allgegenwart von Reklame und Produktwerbung im öffentlichen Raum, die tatsächlich nach 1865 in den USA enorm anstieg, so daß der Weg zum Massenkonsum nun auch optisch kaum noch zu übersehen war. So hatten sich beispielsweise die Ausgaben amerikanischer Unternehmen für Anzeigen und Werbemittel von 1865 bis 1900 auf 95 Mio. Dollar verzehnfacht. Ebenso wurden immer neue Werbeträger - Autos, Tickets, die stark expandierenden Zeitschriften, Wandtafeln usw. - wie auch erste Theorien der Käuferpsychologie entwickelt. Diese Tendenzen gab es zwar auch in Europa, sie waren hier aber vor dem Ersten Weltkrieg vergleichsweise viel gebremster und wesentlich geringer dimensioniert.82 Ein weiterer zentraler Aspekt anschaulicher ökonomischer Modernität in den USA war, wie wir gesehen haben, die vergleichsweise hochentwickelte Technik in der Landwirtschaft. Tatsächlich ist die von den Zeitgenossen wahrgenommene tiefe Differenz zwischen dem für den Markt quasi industriell produzierenden amerikanischen Farmer und dem wesentlich noch auf Selbstversorgung eingestellten europäischen Bauern auch von der Forschung weitgehend für diesen Zeitraum bestätigt worden. Allerdings galt diese großbetriebliche Mechanisierung der Landwirtschaft nicht für alle Teile der USA, sondern in erster Linie für den mittleren Westen; es ist jedoch anhand der Reiserouten oben deutlich geworden, daß die deutschen wie insgesamt europäischen Reisenden vor allem diese Region besuchten und daher der amerikanische Vorsprung hier besonders intensiv feststellbar war. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese Modernisierung durch die Notwendigkeit, riesige Präriegebiete zu erschließen, mittels Eisenbahn und Mähmaschine sowie ab 1905 mit Hilfe erster Traktoren beschleunigt, so daß die Arbeitszeit zur Bestellung eines Acres Weizenlandes von 20 Arbeitsstunden 1880 auf 12,7 zwischen 1909 und 1916 und schließlich auf 10,7 zwischen 1917 und 1921 sank.83 Diese im Vergleich zu Europa hochgradige Mechanisierung und Marktproduktion durch gewaltige Produktionsleistungen führte allerdings auch zu Überproduktionskrisen (wie beispielsweise 1873, Anfang der 90er Jahre bis 1897 und am schlimmsten dann Ende der 20er Jahre in der Weltwirtschaftskrise), die viele Farmer besonders hart trafen und sie nicht selten zur Abwanderung zwangen - die von den meisten Europäern vor allem auf mentale Dispositionen zurückgeführte höhere räumliche Mobilität vieler Amerikaner hatte also zum großen Teil ganz handfeste ökonomische Gründe.84 Aus diesem Bündel an Gründen für die Einschätzung eines deutlichen ökonomischen Modernitätsvorsprungs der USA geht klar hervor, in welcher Gemengelage aus realistischen Einschätzungen und eher selektiven oder unterschwelligen und oft unbewußten Wahrnehmungen das Amerikabild zusammengesetzt war. Dies gilt auch für den Bereich der beruflichen Mobilität, den die Wilhelminer, wie wir sahen, gerade im Hinblick auf die eigene vergleichbare Schicht der „middle class" und insbesondere der freien Berufe konstatierten. Aus heutiger Sicht wird dieser Rückstand an „Professionalisierung" amerikanischer Ärzte, Juristen, Lehrer, Ingenieure etc. im Vergleich zu Deutschland durchaus bestätigt, wenn man unter

82 Vgl. dazu Schlereth, Victorian America, S. 157-164. 83 Vgl. dazu Giedion, Herrschaft, S. 169-194 und Schlereth, Victorian America, S. 43ff. 84 Vgl. Trachtenberg, Incorporation, S. 18-22 u. 38ff sowie Portes, Etats-Unis, S. 115ff und C. Landauer: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Stuttgart 1981, S. 104ff.

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Professionalisierung vor allem die (staatliche) Regelung von Ausbildungswegen, Abschlüssen und Berufszugängen in einem Berufszweig versteht. Hier bildeten die USA und Deutschland geradezu extreme Gegenpole, indem in den USA im 19. Jahrhundert der Weg zur Professionalisierung abgesehen von staatlicher Einflußnahme auch im Rahmen relativ autonomer Verbände sehr schwierig und steinig war und Amerika hier bis zum Ersten Weltkrieg im Vergleich zu Europa noch deutlich zurücklag.85 Dominierte hier das schon mehrmals erwähnte Leitbild des freien Unternehmers,86 so war es in Deutschland gerade der extreme Gegenpol der oben schon angedeuteten starken Staatsorientierung, wie sie das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. So richtig der Eindruck einer im Vergleich zu Deutschland und Europa geringeren Professionalisierung in den USA bei den Wilhelminem (und Franzosen) war, so aufschlußreich für ihre Mentalität ist doch, daß sie anders als Franzosen, Briten oder Amerikaner unter Professionalisierung vor allem die staatliche und weniger die relativ autonome berufsständische Regelung von Bildungspatenten und Zugangsberechtigungen verstanden87 - eine Sichtweise, die allerdings vor allem die vergleichbaren Berufe der Mittelschichten betraf. Es stellt sich daher die Frage, wie realistisch die entfernte Arbeitswelt der Arbeiter in den Fabriken beschrieben wurde. Trafen die französischen wie deutschen bürgerlichen Besucher insofern - wenn überhaupt - nur mit der amerikanischen „Arbeiteraristokratie" zusammen und lernten daher kaum das Slumelend der Einwanderer in den Millionenstädten kennen, so war das Bild doch erstaunlich realistisch, was sicher auch daran lag, daß diese „Beobachtungen" nicht unbedingt vor Ort gemacht wurden, sondern sich aus der Literatur erschließen ließen. Dabei macht allerdings auch die Forschung deutlich, daß der in den USA vergleichsweise zu Europa höhere Wohlstand der gelernten Arbeiter im Hinblick auf die Basisbedürfnisse Kleidung, Wohnung und Nahrung doch deutlich von Variablen wie dem Ausbildungsgrad des Vaters, der Anzahl der Kinder (im Hause bzw. bei der Arbeit), der Mitarbeit der Ehefrau, der sozialen und ethnischen Herkunft oder der Region abhing.88 Auch wenn man berücksichtigt, daß sich die Lebensstandards und Löhne bzw. Einkommen in Deutschland in allen Schichten zwischen 1850 und 1914 langfristig deutlich verbesserten, bleibt doch der Unterschied vor allem der

85 Vgl. dazu vor allem T. Göbel: Ärzte und Rechtsanwälte in den USA 1800-1920. Der schwierige Weg zur Professionalisierung. In: Geschichte und Gesellschaft 16, 1990, S. 318-342 sowie J. Herbst: Professionalization in Public Education, 1890-1920. The American High School Teacher. In: W. Conze/J. Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. Stuttgart 1985, S. 495-528. 86 Vgl. M.Burrage: Unternehmer, Beamte und freie Berufe. Schlüsselgruppen der bürgerlichen Mittelschichten in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten. In: H.Siegrist (Hg.): Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Göttingen 1988, S. 72-80. 87 Vgl. dazu C. E. McClelland: Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland. In: Conze/Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 233-247. 88 Siehe dazu Kocka, Angestellte, S. 60f und speziell für die USA: Historical Statistics of the United States, 1, S. 79-100 und J. E McClymer: Late Nineteenth-Century American Working-Class Living Standards. In: Journal of Interdisciplinary History XVII,2, 1986, S. 379-398 sowie Schlereth, Victorian America, S. 77ff, der als Durchschnittslohn eines gelernten Arbeiters in den USA um 1900 8,37 und bei ungelernten Arbeitern 5,5 Dollar pro Woche angibt.

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Unterschichten bzw. Arbeiter, aber auch der Gesellschaft insgesamt im Vergleich zu den USA signifikant, 89 auch wenn die Heterogenität gerade der deutschen Arbeiterschaft nach Variablen des Geschlechts, der Region, der Wirtschaftsbranche, der Konfession oder der Mobilität unbedingt berücksichtigt werden muß. 90 Dieser beobachtete Unterschied gilt auch für die Härte, aber doch unpolitische Natur der Arbeitskämpfe in den USA - zwei Aspekte, die auch den französischen Beobachtern besonders auffielen 91 , wobei auch von der historischen Forschung der im Vergleich zu europäischen Gewerkschaften geringe Grad an grundsätzlicher ideologischer Gesellschaftskritik bei den amerikanischen Gewerkschaften wie den in den 70er Jahren dominierenden „Knights of Labor" und vor allem der ab 1886 führenden „American Federation of Labor" (AFL) festgestellt worden ist.92 Generell gesellschaftskritische Ansätze eines Sozialismus im europäischen Sinne wie ζ. B. innerhalb der 1879 gegründeten „Socialist Labor Party" wurden dementsprechend vor allem von eingewanderten europäischen und besonders deutschen Arbeitern getragen, fanden aber bei der Masse der amerikanischen Arbeiter keinen oder nur geringen Anklang, was auch europäische Sozialisten wie Karl Liebknecht u. a. auf ihren Agitationsreisen durch die USA immer wieder zu ihrer Enttäuschung feststellen mußten. 93 Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie stark europäische Sozialisten durch die besondere Entwicklung des Kapitalismus „in nuce" in den USA gerade hier den Beginn der sozialistischen bzw. kommunistischen Weltrevolution im Sinne der Klassenkampflehre von Marx und Engels erwarteten und daher große Hoffnungen im Hinblick auf die amerikanische Entwicklung hegten. Indessen beeindruckte die geringe Resonanz sozialistischer Ideen in der genuin amerikanischen Arbeiterschaft und vor allem der relative Wohlstand dieser Schicht „revisionistische" Denker wie Bernstein, Jaurès oder die britischen „Fabians" stark und ließ die USA vielfach als Gegenmodell zur Klassenkampftheorie erscheinen - in beiden Fällen wird jedoch deutlich, wie stark auch hier die USA eine Herausforderung darstellten und zum negativen wie positiven Modell avancierten.94 89 Für Deutschland vgl. Fischer, Deutschland 1850-1914, S. 387-390. Die 1000 Mark Durchschnittsjahreseinkommen (Nominallohn) eines deutschen Arbeitnehmers 1912 (!) wurden daher von den umgerechnet rund 1500 Mark eines gelernten Arbeiters in den USA um 1900 deutlich übertroffen. Einschränkend ist jedoch zu sagen, daß die Wachstumsraten der Nominal- bzw. Reallöhne wie auch der Lebenshaltungskosten zwischen 1883 und 1913 in USA und Deutschland relativ ähnlich ausfielen. Der Unterschied wird hier erneut vor allem auf europäischer Ebene sichtbar, wo die Reallöhne besonders nach 1900 in Großbritannien und Frankreich sogar sanken, während sie in Deutschland leicht und in den USA vergleichsweise deutlich stärker stiegen. Siehe dazu G. A. Ritter/K.Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. Bonn 1992, S. 469ff u. 475ff. 90 Siehe dazu vor allem die umfassende Studie von Ritter/Tenfelde, Arbeiter, passim bzw. zu den Löhnen und Lebenshaltungskosten bes. S. 475-506. 91 Vgl. Portes, Une fascination, S. 282-294. 92 Siehe dazu u. a. Landauer, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 111-119; Portes, Etats-Unis, S. 120ff u. Cashman, America, S. 145-172 sowie Kocka, Angestellte, S. 61ff. 93 Vgl. dazu bes. A. Fischer: Sozialistische Agitation in der .Neuen Welt': Karl Liebknechts Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1910. In: Rußland, Deutschland, Amerika. Festschrift für F. T. Epstein. Wiesbaden 1978, S. 131-162. 94 Vgl. zu diesem Komplex die ausführliche Studie von Moore, European Socialists, bes. S. 25-165 und v.Beyme, Vorbild Amerika?, S. 32-37.

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Verläßt man die Ebene der zeitgenössischen Wahrnehmung, so bleibt allerdings auch aus der historischen Rückschau gerade im Vergleich zu den USA die Form des Arbeitskampfes eine europäische Besonderheit, wenngleich große innereuropäische Unterschiede bestanden und bis heute bestehen. Dies galt vor allem für die Zahl der Mitglieder in Gewerkschaften, die in Westeuropa und besonders in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg (aber auch danach relativ zu den USA) besonders hoch war und für die besonders enge Verflechtung der europäischen Gewerkschaften mit politischen Parteien, die in dieser Form in den USA fehlte. 95 Die AFL als vor allem nach 1890 führende amerikanische Gewerkschaft, die bezeichnenderweise vor dem Ersten Weltkrieg auch nur die „Arbeiteraristokratie" der weißen, amerikanischen Facharbeiter vertrat, beschränkte sich dagegen vorwiegend auf konkrete und zumeist betriebsinterne Forderungen wie Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen und zeigte sich kaum empfanglich für grundsätzliche Gesellschaftskritik im europäischen Sinne. Ebenso verliefen die Konfliktlinien in den USA vor allem zwischen den Gewerkschaften und einzelnen Unternehmen, während die Konflikte in Europa eher landesweit zwischen nationalen Gewerkschaften und nationalen Arbeitgeberorganisationen ausgetragen wurden. 96 Dieser Umstand mag auch u. a. erklären, warum die amerikanischen Arbeitskämpfe abgesehen vom professionellen Interesse einiger sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Autoren besonders bei den liberalen und konservativen Autoren auf nur geringe Resonanz stießen. Dazu kam wohl auch, daß die Arbeitskämpfe in den 70er und 80er Jahren vergleichsweise häufiger und spektakulärer gewesen waren als in der Prosperitätsphase nach 1896 und darum in der Amerikaliteratur nach 1890 nicht mehr so stark diskutiert wurden. 97 Vor allem zeigte sich gerade in den 90er Jahren und um die Jahrhundertwende, daß die schärfste genuin amerikanische Sozialkritik weniger von den Industriearbeitern und den Gewerkschaften als vielmehr von den Farmern u. a. als Protest gegen die großgrundbesitzenden „robber barons" im Rahmen der schon erwähnten Populisten-Bewegung oder aber von den Intellektuellen im Zusammenhang mit den Reformansätzen des „progressive movement" nach 1900 kam. Doch haben wir andererseits bereits oben gesehen, daß auch diese Reformansätze und Proteste kaum registriert wurden, was dafür spricht, daß die Formen sozialen Protestes generell in den „bürgerlichen" Berichten eher „verdrängt" oder eben als rein „mentales" und weniger als konkret soziales und wirtschaftliches Problem bewertet wurden, wozu sicher auch beitrug, daß die Streiks in den USA zumindest vor dem Ersten Weltkrieg trotz der Gewalttätigkeit der Auseinandersetzungen letztlich fast alle erfolglos blieben und damit die Macht der Konzerne und Trusts auch dem ausländischen Beobachter sinnfällig vor Augen trat. Versucht man nach dieser Fülle von Details ein Fazit zu ziehen, so fällt auf, daß sich bei aller Selektivität des Blicks doch ein erstaunlich realistisches und ambivalentes Bild ergibt,

95 Vgl. dazu allg. Kaelble, Weg, S. 82-91. 96 Vgl. ebda. Siehe dazu ferner auch Thernstrom, Bostonians, S. 230ff, der argumentiert, daß die hohe räumliche Mobilität der amerikanischen Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg wesentlich dazu beitrug, daß deren fundamentale Politisierung und entsprechende institutionelle Einbindung in den USA erschwert wurden. 97 Vgl. dazu Trachtenberg, Incorporation, S. 70ff u. 89-98 sowie U. Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Stuttgart 2 1980, S. 253ff.

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in dem indessen im deutschen Fall die positiven Züge deutlich überwiegen. Gerade im Bereich )VArbeit" waren die Wilhelminer vom „Modell Amerika" stark beeindruckt und angezogen, und der technisch-industrielle Fortschritt aufgrund einer ungebrochenen „Arbeitsmentalität" in den USA war dabei offenkundig so faszinierend, daß selbst vergleichbare deutsche Leistungen dahinter zurücktraten, wobei diese .Arbeitsfaszination" der Wilhelminer auch mit einer generellen bürgerlichen Werthaltung im 19. Jahrhundert zu tun hatte. Wir haben in diesem Zusammenhang einleitend schon bemerkt, wie stark die Hochschätzung von Arbeit im bürgerlichen Wertekanon gerade auch als Protest gegen Müßiggang als Privileg und Erkennungszeichen der Oberschichten bzw. des Adels verankert war - insofern nimmt diese Hochschätzung im amerikanischen Kontext keineswegs wunder und verweist zugleich auf die Kontinuität dieser Werthaltung im „langen 19. Jahrhundert". 98 Auch wenn die Schattenseiten der zunehmenden sozialen Verelendung breiter Massen und der Mechanisierung des Menschen stärker als um die Jahrhundertmitte ins Bewußtsein traten, überwog doch der Glaube an die Lösbarkeit sozialer Probleme durch „technische" Lösungen - ein Glaube, der naturgemäß vor allem für Ökonomen, Unternehmer und Ingenieure galt, aber auch von erstaunlich vielen (liberalen bzw. konservativen) Schriftstellern und Intellektuellen geteilt wurde, woran zugleich sichtbar wird, daß die Mehrzahl der Autoren insofern für eine Steigerung von „Rationalisierung" im Sinne des oben skizzierten Modernisierungsparadigmas votierte, auch wenn „paradoxe" Gegenentwicklungen wie die immer stärkere Trustbildung und Entwicklung monopolistischer Großkonzerne durchaus als Negativbefund registriert, jedoch letztlich vom Fortschrittsenthusiasmus überdeckt wurd e n . " Nur dezidiert linke Autoren zeichneten ein kritischeres Bild ebenso wie Autoren, die in USA nicht nur reisten, sondern selbst auf Arbeitssuche gehen mußten und die Probleme der Arbeitslosigkeit „von unten" kennenlernten. Die meisten Autoren lernten jedoch nur die „Lichtseiten" amerikanischer Arbeitsformen in den Betrieben kennen, so daß der selektive Blick auch und wesentlich vom amerikanischen positiven Selbstbild mitgeprägt wurde. Es spiegelt sich darin aber auch die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung der deutschen Beobachter, in deren Stolz auf eigenen technischen Fortschritt und im „Glauben an die Technik" ein Wandel im bürgerlichen Wertekanon des frühen 19. Jahrhunderts festzustellen ist. So wurde die Infragestellung des bürgerlichen Humanitätsideals des „ganzen" autonomen Menschen durch die moderne Industriearbeit tayloristischen Zuschnitts zwar bei einigen Autoren sichtbar und auch entsprechend reflektiert, doch die Mehrzahl bewertete diesen Wandel mehr oder weniger bewußt als Notwendigkeit der modernen Entwicklung, rationalisierte die beobachtete Mechanisierung des Individuums durch Ästhetisierung der „perfekten" Arbeitsabläufe und akzeptierte den Arbeiter bzw. das Individuum damit letztlich als Teil der Maschine; und man wird in diesem Zusammenhang nicht völlig fehlgehen, wenn man die charakteristische Ästhetisierung des Todes in den Chicagoer Schlachthöfen mit der späteren

98 Siehe dazu u. a. P. N. Stearns: Be a Man! Males in Modern Society. New York, London 2 1990, S. 128f. 99 Indiz für diese Technikbegeisterung im Hinblick auch auf soziale Problemlagen ist auch die fiktionale Literatur. Vgl. dazu anhand des Beispiels von Bernhard Kellermanns Roman „Der Tunnel" von 1913 als „fordistischer Utopie" H.Segeberg: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 173-208.

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(literarischen) Verklärung des maschinellen Massentodes von Menschen im Ersten Weltkrieg in unmittelbare Verbindung bringt. Die tiefe mentale Kluft zwischen den Klassen, die in dieser Perspektive zum Ausdruck kommt, wird ferner daran deutlich, daß gerade die USA durch den relativen Wohlstand der Arbeiter und der damit einhergehenden geringen Empfänglichkeit für den Sozialismus europäischer Provenienz darüber hinaus die Illusion bereitstellte, daß unter Fortbestehen der gesellschaftlichen Hierarchien die Klassengegensätze ideologisch aufhebbar erschienen - gerade auch dieser Aspekt mußte die amerikanische Gesellschaft zumindest in diesem Bereich für deutsche bzw. europäische Beobachter zum „bürgerlichen" Vorbild und Modell schlechthin machen.

Kapitel 3

„Der Amerikaner" Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

Wir haben bereits in den vorhergehenden zwei Kapiteln zur Gesellschaft und Wirtschaft gesehen, wie stark mentale Deutungsmuster das Bild der Wilhelminer von den USA bestimmten - ein Umstand, der nicht zuletzt auf die Suche nach stabilen und langfristigen Strukturen und Urteilsmustern angesichts der sich rapide verändernden Lebenswelten zurückgeführt werden kann; so wurden spezifisch amerikanische Formen der Mobilität und Chancengleichheit vor allem als besondere mentale Dispositionen wahrgenommen, die die Amerikaner kollektiv von den Deutschen bzw. Europäern zu unterscheiden schienen. Es ist daher auch nicht besonders verwunderlich, daß Beobachtungen zur „amerikanischen Mentalität" einen zentralen Platz in den Reiseberichten und Studien einnehmen und daher hier auch im Zentrum der Analyse stehen, denn sie bilden in vielerlei Hinsicht einen Schlüssel zum generellen Verständnis von Gesellschaft im deutschen Bürgertum. Es wird sich daher auch in den folgenden Abschnitten zur Familie, Bildung und Stadt wie auch zum kontinentalen Kulturvergleich immer wieder zeigen, wie stark die Autoren bestimmte Mentalitäten oder in der Sprache der Zeit: ein bestimmter „Nationalcharakter" bzw. eine spezifische „Volksseele" - zur Erklärung nationaler oder kontinentaler gesellschaftlicher Unterschiede heranzogen, wobei klar zwischen dem heutigen und dem damaligen Sprachgebrauch unterschieden werden muß und Begriffe wie „Nationalcharakter" stärker auf wertende Unterschiede und vermeintliche Unter- oder Überlegenheiten zielten als der heute sehr viel neutraler gebrauchte Begriff der Mentalitäten. Das heißt jedoch nicht, daß die Sicht amerikanischer Mentalität eindimensional und ausschließlich stereotyp gewesen wäre, auch wenn immer wieder im Kollektivsingular von „dem Amerikaner" gesprochen wurde. Auch hier gilt erneut, daß einzelne Berichte je nach grundsätzlicher Einschätzung der amerikanischen und deutschen Gesellschaft bestimmte positive oder negative Schwerpunkte setzten, daß sich aber zugleich die Debatte insgesamt auffallend vielschichtig und ambivalent gestaltete. Zugleich ist dieser Teil der Debatte in der Einordnung besonders schwierig und entzieht sich auch mangels umfassender wissenschaftlicher Studien speziell zum amerikanisch-europäischen Vergleich1 immer wieder einer eindeutigen oder vollständigen Überprüfbarkeit; andererseits ist dies ein Bereich, der besonders viel Aufschluß über die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung der Wilhelminer gibt und des-

1 Vgl. Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte, S. 179.

Materialismus und „Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn

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halb auch als eigenständiges Kapitel zentral und nicht nur im Kontext der „konkreten" Gesellschaftsbeobachtungen behandelt werden muß, zumal sich auf diesem Feld eine Reihe von Indizien zur wilhelminischen Einstellung im Hinblick auf die oben skizzierten Modernisierungsentwicklungen finden läßt, denn gerade hier zeigt sich, wie sehr Amerika ein Spiegel deutscher Projektionen zum gesellschaftlichen Wandel im allgemeinen war. So sehr viele Beobachtungen durchaus realistische Züge trugen, so sehr muß andererseits betont werden, daß vor allem spezifisch deutsche oder generell bürgerliche Hoffnungen und Befürchtungen im Hinblick auf Modernisierung das Bild prägten, so daß hier die These aufgestellt werden kann, daß das Bild des amerikanischen „Nationalcharakters" in vielerlei Hinsicht eher einem oft versteckten oder unbewußten Selbstporträt wilhelminischer Mentalität entspricht und Einstellungen zur Modernisierung der eigenen Gesellschaft preisgibt. Damit ist das Problem der Begrifflichkeiten angesprochen: Wenn im folgenden immer wieder von „Materialismus" und „Idealismus", von „Gemeinsinn" oder „Pragmatismus" usw. die Rede sein wird, so bezieht sich dies weniger auf heutige Bedeutungen als weitgehend auf die zeitgenössischen Konnotationen und auf die explizit wie implizit in den Berichten wie Studien aufgestellten Dichotomien, um die Ebene des Diskurses nicht zu stark zu verfälschen. Erst im vergleichenden Abschnitt sollen dann die zeitgenössischen Begriffe etwas stärker in ihren Kontext eingeordnet und damit auch relativiert werden, auch wenn es in diesem Zusammenhang nicht um eine detaillierte Begriffsgeschichte gehen kann, die bei so aufgeladenen Begriffen wie „Idealismus" oder „Pragmatismus" eine eigene Arbeit erforderlich machen würde. Die Beobachtungen zur amerikanischen Mentalität kreisten in verschiedenen Variationen immer wieder um vier zentrale Brennpunkte, die keineswegs immer klar getrennt waren und sich vielfach überschnitten. Generell entspann sich die Debatte zwischen den Polen des Vorwurfs der „Dollarjagd" und des krassesten egoistischen Materialismus, konterkariert durch Beobachtungen eines außerordentlichen Idealismus und Gemeinsinns. Zwischen diesen Polen drehte sich die Debatte immer wieder um die Dominanz von „Rationalität" und um einen die amerikanische „Seele" beherrschenden Pragmatismus und Fortschrittsglauben, gekoppelt mit der (vermeintlichen) Beobachtung eines Landes ohne Kunst und Kultur. Schließlich bildete die Diskussion um die besondere Form amerikanischer Religiosität sowie die schon mehrfach angedeutete Beobachtung einer in den USA fehlenden Basis für Sozialismus oder Kommunismus einen Kernpunkt der Überlegungen.

1. Materialismus und „Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn Der Vorwurf, daß „Materialismus" und ein im Bild der „Dollarjagd" ausgedrücktes ausschließliches Profitstreben die amerikanische Lebenseinstellung dominierten, findet sich in fast allen deutschen Reiseberichten wie auch in vielen Studien über die USA im gesamten Untersuchungszeitraum und bezog sich zugleich auf alle Schichten der Gesellschaft. Dabei wurden beide Begriffe oft synonym gebraucht oder die Metapher von der „Dollaijagd" als einprägsame Vokabel für ein komplexeres Phänomen eingesetzt, das vor allem eine durchgehende Ausrichtung der Lebensziele und -aktivitäten auf individuelles Streben nach materiellem

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„Der Amerikaner" - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

G e w i n n und Profit meinte. Werner S o m b a r t und andere Theoretiker erblickten d e m e n t s p r e c h e n d a l s Kristallisation d i e s e s mentalen M a t e r i a l i s m u s in der a m e r i k a n i s c h e n W i r t s c h a f t und G e s e l l s c h a f t den I n b e g r i f f d e s K a p i t a l i s m u s , 2 und selbst ein Unternehmer w i e der s o n s t s o p o s i t i v v o m Wirtschafts- und A r b e i t s l e b e n in den U S A überraschte Philip H a r j e s verm e r k t e in A n k n ü p f u n g an die oben s c h o n erwähnte „ S p e k u l a t i o n s w u t " und d i e rapiden Verm ö g e n s g e w i n n e und -Verluste: „Und so geht es drüben durch alle Zweige des Lebens und Strebens: ,Racen' überall, im Geistigen wie im Materiellen, im Geschäft wie in der Wissenschaft! (...) Noch verhängnisvoller aber ist die Sucht, in der Jagd nach dem Dollar es dem anderen zuvorzutun, im Tempo des Reichwerdens den Nebenmenschen auszustechen. Diese Sucht hat eine grenzenlose und oft skrupellose Spekulationswut im Gefolge, die schon manchen zugrunde gerichtet hat. - Es ist dort etwas Alltägliches, daß man reich, arm und wieder reich wird, - aber wie viele bleiben dann auf der vorletzten Staffel stehen, d. h. sie gehen samt ihrer Familie elendiglich zugrunde." E i n k o n s e r v a t i v e r O f f i z i e r schrieb entsprechend kritisch bereits A n f a n g der 9 0 e r J a h r e , a l s er m i t ü b e r 6 0 J a h r e n nach A m e r i k a reiste: „Der Amerikaner will Geld haben, und sein ganzes Sinnen und Trachten und Schaffen ist allein darauf gerichtet. ( . . . ) Diese Gattung Mensch will Geld coûte qui coûte." Und mit Bezug auf die Großstadt Chicago, die ihm als baulicher Inbegriff dieser Einstellung erschien: „Die Organisation (der Eisenbahnen, A. S.) arbeitet gut; hier hört in der That in Geschäftssachen die Gemütlichkeit auf: ,time is money'. Geräuschlos gehen hier Existenzen zugrunde und geräuschlos erstehen Millionäre. In kalter Berechnung, nur auf Gewinn, auf Geld gerichtet, arbeitet Geist und Körper. Es ist die neue Zeit, es ist die neue Kraft, die hier über Vorurteile und Altbestehendes kalt hinwegschreitet und sich Alles unterwirft." 4 U n d kritisch äußerte sich auch der ansonsten a u s langer A m e r i k a - E r f a h r u n g sehr positiv und a u s g e w o g e n über die U S A urteilende D i p l o m a t J o s e f A . L e t t e n b a u r k u r z v o r d e m E r s t e n Weltkrieg: „Man höre nur Schulkinder auf der Straße, zarte Jugend im Gespräch, Mädchen im Backfischalter - welches Wort drängt sich immer vor? ,Der Dollar', und vielfach mit einer Betonung, wenn es in die hohen Zahlen geht, als ob jemand von seiner Leibspeise spräche. Die Freude hängt zuviel am Zweck und am Besitz." 5 S o sehr d i e s e r E i n d r u c k d i e d e u t s c h e S i c h t der a m e r i k a n i s c h e n G e s e l l s c h a f t b e h e r r s c h t e und nicht selten - w i e g e r a d e bei L e t t e n b a u r 6 - zu r o m a n t i s i e r e n d e n V e r g l e i c h e n m i t einer

2 Sombart, Sozialismus, S. 7-12 und Plenge, Zukunft, S. 7ff. Vgl. zum primär negativen Amerikabild Sombarts, der die USA in einer im Kern apolitisch-kulturkritischen Perspektive mit den Negativtendenzen der Moderne schlechthin in Gestalt von Kapitalismus, Materialismus, Großstadtkultur etc. gleichsetzte, auch F. Lenger: Die Abkehr der Gebildeten von der Politik. Werner Sombart und der „Morgen". In: G. Hübinger/W.J. Mommsen (Hg.): Intellektuelle im Kaiserreich. Frankfurt/M. 1993, S. 64-68. 3 Harjes, Reise, S. 150f. Vgl. auch Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 192f; Müller, Leben, S. 45f; Röder, Reisebilder, S. 69ff und Friedrich Klein: Nordamerika und Ostasien. Reiseerinnerungen mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Interessen. Leipzig 1907, S. 109f. 4 Korff, Weltreise, Bd. 1, S. 82 u. 87. Vgl. dazu auch Mancke, Im Fluge, S. 113f u. 116f; Adelmann, 62 Tage, S. 46f; Gerstenberger, Steinberg, S. 164; Below, Bilder, S. 80; Wadsack, Studienreise, S. 105f; Zimmermann, Onkel Sam, S. 4f, 172ff u. 183f sowie v.Wernsdorff, Per aspera, Bd. 1, S. 115. 5 Lettenbaur, Jenseits, S. 165. Vgl. dazu auch Sombart, Sozialismus, S. 17-24. 6 Vgl. ebda. bzw. u. a. Mancke, Im Fluge, S. 116f.

Materialismus und ,.Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn

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vermeintlichen europäischen bzw. deutschen Resistenz gegen diesen „totalen" Materialismus der Amerikaner einlud, so wurde doch in einigen Berichten und Studien relativierend gegen diesen Grundtenor der Meinungen angeschrieben. Dabei negierten die Einwände nicht generell, daß materialistisch ausgerichtete Grundwerte in der amerikanischen Gesellschaft dominierend waren, sondern sie schränkten vor allem im Vergleich zu Europa die vermeintliche amerikanische Besonderheit dieser mentalen Prägung ein. So erschien beispielsweise dem konservativen Kulturhistoriker Gustav Diercks die gesamte moderne Kultur auch in Europa von Materialismus und Hedonismus geprägt zu sein, und die amerikanische Gesellschaft stellte in dieser Sicht nur eine - wenn auch besonders auffallende und extreme - Variante dieser allgemein „westlichen" Kulturentwicklung dar.7 Andere Einschränkungen richteten sich darauf, daß der deutsche Vorwurf des Materialismus durch die ungeheure Arbeitsleistung in den USA ungerechtfertigt sei und die Jagd nach dem Dollar weniger einer rein profitorientierten individuellen „Habgier" entspringe, als vielmehr eine Art „Sport" sei, was an den teilweise großzügigen gemeinnützigen Schenkungen amerikanischer Millionäre sichtbar zu werden schien.8 Ferner wurde durch historische Erklärungsansätze - etwa durch Hinweise auf die genuin amerikanische Entwicklung einer puritanischen Geschäftsmoral - oder über die Analyse von Gegenbewegungen wie den Reformansätzen der „progressives" eine Relativierung des deutschen Materialismus-Vorwurfs angestrebt.9 Doch blieben diese Ansätze der Relativierung, die sich vor allem in den differenzierenderen Studien und Reiseberichten finden, relativ gering, denn auch die ausgewogeneren Studien konzedierten immer wieder die „Allmacht" des Geschäftssinns besonders in der amerikanischen middle und upper class,10 wobei eine Variante dieser Beobachtung in dem im Vergleich zu ökonomisch orientierten Berufen geringen Sozialprestige von Künstlern und Gelehrten in den USA lag, das den Deutschen immer wieder besonders als Kontrast zu europäischen Verhältnissen auffiel.11 Zu diesem kontinentalen Gegensatz gehörte allerdings auch, daß dem Amerikaner im Gegensatz zum Europäer in deutscher Sicht der Prozeß und Erfolg des Geldverdienens wichtiger als der eigentliche Besitz erschien. So resümierte der schon mehrfach erwähnte Professor der Psychologie Hugo Münsterberg: „Dem kontinentalen Europäer gilt der wirtschaftliche Beruf als ein durchaus ehrbarer, aber nicht als ein edler. Wirtschaftliche Tätigkeit erscheint ihm als ein Mittel, sich und die Seinen zu erhalten, und seine einzige Aufgabe scheint es zu sein, wirtschaftliche Bedürfnisse, die nun einmal existieren, zu befriedigen. Der Kaufmann fühlt sich dort nicht als freier Schöpfer, wie der Künstler und Gelehrte. Er ist kein Erfinder und kein Eroberer und kein Erzeuger, und die geistige Energie, die er aufwendet, scheint dadurch in den Dienst eines

7 Vgl. Diercks, Kulturbilder, S. 74-81 und Vay v. Vaya, Amerika, S. 139f sowie Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 366ff. 8 Vgl. dazu u. a. Oberländer, Ozean, S. 24f und Beck, Bilder, S. 11 sowie Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 357-370. 9 Siehe dazu vor allem Bruncken, Volksseele, S. 114-126 u. 131ff. 10 Vgl. u. a. Kleinschmidt, Bilder, S. 116f und Neve, Charakterzüge, S. 13ff. Dieser Eindruck war so beherrschend, daß er auch in der Karikatur über die amerikanische Gesellschaft dominierte. Vgl. dazu Richards, Karikatur, S. 28ff. 11 Vgl. dazu z. B. Bruncken, Volksseele, S. 135; Hoffmann, Bilder, S. 46; Scherff, Nord-Amerika, S. 265 und zum hohen Sozialprestige des „Businessman": Klien, Amerikafahrt, S. 34f.

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„Der Amerikaner" - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

niedrigen Zweckes gestellt. (...) Der amerikanische Kaufmann schafft um des Geldes willen nicht anders, als wie der echte Maler um des Geldes willen malt. (...) So wie ein Knabe vielleicht schon früh Verse macht oder Skizzen zeichnet, so strebt in Amerika schon der jüngste Bauernbursche oder Stadtjunge, in diesem nationalen Wirtschaftsgetriebe irgendwo und irgendwie mitzuhelfen. (...) So kommt es denn, daß gerade die begabtesten Jungen, die sozial tüchtigsten Kräfte, sich dem Wirtschaftsleben zuwenden, und die Söhne der besten Häuser nach dem Universitätsbesuch mit Begeisterung ins Kontor eintreten. (...) Der Mittelpunkt dieses ganzen Getriebes liegt also nicht in der Habsucht, überhaupt nicht in dem Gedanken ans Geld, sondern io durchaus in dem Geist der Selbstbetätigung." D i e s e relativ positive Bewertung der amerikanischen „Wirtschaftsmentalität" war sicher nicht typisch für die meisten Wilhelminer, sondern schrieb eher gegen den vielfach auch durch bildungsbürgerliche „Vorurteile" geprägten negativen Grundtenor an, wobei auch die Idee des tendenziell wirtschaftsfeindlichen Kontinentaleuropäers historistisch-traditionalistischen Denkmustern entsprang; doch die grundsätzliche Einschätzung gewichtiger mentaler Unterschiede z w i s c h e n den U S A und Europa (und nicht nur Deutschland!) teilten in dies e m Bereich viele Reisende. D i e s kam auch darin zum Ausdruck, daß die Amerikaner in europäischen A u g e n eine auffällige Vorliebe für quantitative Bewertungen und Superlative entwickelt hatten - eines der Indizien für einen vermeintlichen Wandel v o m ursprünglich dominierenden revolutionären „Idealismus" zum „harten" ökonomischen Realismus der Gegenwart, w o b e i „Idealismus" in der Antithese zu „Materialismus" vor allem die Ausrichtung individueller w i e kollektiver Energien und Tätigkeiten auf die Prägung des Gemeinw e s e n s durch übergeordnete und auf Gemeinsinn gerichtete Prinzipien meinte. D i e s e vermeintliche Abkehr von solchen g e m e i n s a m verbindlichen Idealen registrierte nicht nur der Unternehmer Philip Harjes, als er kurz nach der Jahrhundertwende schrieb: „Viel - das müssen wir uns bei näherem Hinsehen sagen - ist von dem idealen Schwung der brausenden Jugendjahre dieser Freistaaten nicht mehr übriggeblieben, - ein kräftiger, ja ein übermächtiger Realismus hat drüben Platz gegriffen, - und wenn heute der Bürger der Union mit unbändigem Stolz auf die Entwicklung seines Vaterlandes blickt, so tut er es von einem ganz anderen Standpunkt aus als die großen Männer seiner 1 Vergangenheit (...).' Entsprechend vermerkte der Historiker Karl Lamprecht auf seiner Amerikareise 1906 zur neuen Mentalität der Superlative ironisch: ,.Diese Urteile verbindet alle derselbe Zug, der den Europäer in der amerikanischen Reklame so oft, je nach dem Temperament, erbost oder erlustigt (sic). The largest in the world, the greatest in the world: wie oft muß man das hören und lesen. Ich habe in irgendeinem Dining car irgendeines Eisenbahnzuges sogar the purest water of the world getrunken. Was aber ist das Gemeinsame aller dieser Rede- und Denkweisen? Das quantitative Urteil." 14

12 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 367-371. Vgl. ferner Neve, Charakterzüge, S. 16f und Kleinschmidt, Bilder, S. 116f. 13 Harjes, Reise, S. 241. Vgl. auch u. a. Zimmermann, Onkel Sam, S. 158ff. Es gab allerdings auch Gegenstimmen, die auf wichtige „idealistische" Gegengewichte wie z. B. die Expansion der Universitäten und Museen hinwiesen. Siehe dazu z. B. Erich Mareks: Historische und akademische Eindrücke aus Nordamerika. Eine hamburgische Abschiedsrede. Hamburg 1913, S. 28ff. 14 Lamprecht, Americana, S. 69. Vgl. auch Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 26f; Münsterberg, Eindrücke, S. 20; Oberländer, Ozean, S. 23; Bahr, Reise-Bilder, S. 29; Gerstenberger, Steinberg, S. 201f u. 211; Hesse-Wartegg, Occident, Bd. 2, S. 112f; Kummer, Weltreise, S. 176f; Leiffmann, Zu den Wundem, S. 45f und Röder, Reisebilder, S. 86ff.

Materialismus und „Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn

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Lamprecht führte als Kulturhistoriker und -theoretiker diese Tendenz vor allem auf den immer noch kolonialen Charakter der U S A zurück und setzte diesem die D o m i n a n z „qualitativer" Urteile in alten Zivilisationen w i e der europäischen entgegen, 1 5 w o b e i er allerdings die Tatsache völlig außer acht ließ, daß die amerikanische Kultur zumal in ihrer Frühphase wesentlich ein europäisches Produkt g e w e s e n war. D o c h diese Sicht der U S A als Kolonialland bestimmte durchaus den deutschen Amerika-Diskurs, w a s sich auch und wesentlich

in

einer aus deutscher

Sicht gravierenden

Schattenseite

amerikanischer

Mentalität niederschlug, nämlich d e m verschwenderischen und nicht selten brutalen U m g a n g mit der Natur und natürlichen Ressourcen. D i e Klage über den Raubbau an der Natur, der sich gerade v o m Eisenbahnfenster aus immer wieder eindringlich beobachten ließ, fand sich in sehr vielen Reiseberichten und wurde einem weitaus schonenderen U m g a n g mit der Natur in Europa und besonders in Deutschland gegenübergestellt. Stellvertretend für viele deutsche Beobachter befand der „Gartenlaube"-Journalist und Trivialautor Paul Grzybowski 1894: „So sehr ich auch den Wald liebe und eine Fahrt durch den geheimnißvollen (sie) Waldesschatten zu den erhebendsten Genüssen zähle, so haben doch die Wälder Michigans mich eher mit Schmerz und Wehmuth, denn mit Freude erfüllt. (...) Wild und wüst schauen diese Waldungen aus, in denen die menschliche Hand seit Jahrzehnten vernichtend und niederreißend gehaust hat, ohne auch nur einmal durch Nachpflanzung zu ersetzen, was sie ihnen genommen hat. (...) Die ,Waldpoesie', welche das Herz des Deutschen mit süßem Zauber erfüllt (...), hier ist sie nicht zu finden, und wenn sie einstmals auch über diesen Wäldern gethront, so ist sie entsetzt daraus entflohen, als die Axt des Holzfällers in brutaler Weise nach rechts und links zugeschlagen und nichts als Verwüstung zurückgelassen hat." 16 Hintergrund dieser Zerstörung einer scheinbar unerschöpflichen Natur war eine

aus

deutscher Sicht spezifisch amerikanische Verschwendungshaltung gegenüber natürlichen Ressourcen. S o faßte der Reiseschriftsteller Ernst von Hesse-Wartegg seine detaillierten Ausführungen zur Naturverwüstung in den U S A zusammen, als er bereits 1896 schrieb: ,.Nach all' dem, was ich in verschiedenen Theilen der Vereinigten Staaten in dieser Hinsicht gesehen, haben die Amerikaner ganz curiose Begriffe von Oeconomie. Sie zeigen sich darin gerade so wie junge Burschen, die plötzlich in den Besitz eines großen Vermögens gelangen. Statt von den Interessen desselben zu leben und seine Vermehrung anzustreben, zehren sie an dem Vermögen selbst und verschwenden es, so lange es eben da ist." 17

15 Vgl. Lamprecht, Americana, S. 46 u. 67-72. So notierte er im Hinblick auf die Basis nationalen Selbstbewußtseins: „Das nationale Selbstbewußtsein und Selbstgefühl des Amerikaners ist bekanntlich stark entwickelt. Dies möchte sein; was den Europäer aber besonders abstößt, ist die Tatsache, daß es sich zum großen Teile auf quantitativen Urteilen aufbaut und mit ihnen begründet zu werden pflegt. Da ergibt sich denn, bei der mehr qualitativen Auffassungsweise des Europäers für ihn und den Amerikaner überhaupt keine gemeinsame Plattform der Erörterung mehr; man spaziert mit seinen Gründen aneinander vorüber, ohne sich zu treffen, und das Mißbehagen ist da." (S. 71). 16 Paul Grzybowski: Land und Leute in Amerika. Berlin 1894, S. 3ff. Vgl. auch Barnekow, Amerika, S. 78ff; Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 49; Lamprecht, Americana, S. 16, 29ff, 35 u. 38 und Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 68ff. 17 Hesse-Wartegg, Occident, Bd. 2, S. 99. Vgl. ebda., S. 96-112 sowie Klien, Amerikafahrt, S. 1 lOf; Müller, Leben, S. 79; Scherff, Nord-Amerika, S. 24; Georg Asmussen: Ein Besuch bei Uncle Sam. Dresden 1905, S. 30f u. 55 und Ludwig Brinkmann: Eroberer. Ein amerikanisches Wanderbuch. Frankfurt/M. o. J. (1910), S. 37f u. 98ff.

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„Der Amerikaner" - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

Die Beobachtung dieses amerikanischen Verhältnisses gegenüber der Natur ließ in einigen Berichten das Bild von der europäischen „Kulturlandschaft" im Gegensatz zur amerikanischen Naturverschwendung entstehen und variierte damit den oben schon skizzierten alten Topos von der „Wildnis" des neuen Kontinents,18 wobei sich diese Verschwendungshaltung dabei zugleich auch auf andere Lebensbereiche wie etwa den alltäglichen Konsum bezog. 19 Hintergrund dieses exzessiven Raubbaus an Ressourcen war für die meisten deutschen Beobachter ein stark auf Tempo ausgerichteter „hektischer" Lebensstil der Amerikaner, der schon im Topos der „Dollarjagd" angeklungen ist. Zum Teil steigerten sich solche Wahrnehmungen in dichotomische Typologisierungen, die den permanent agilen Amerikaner als Typus des emotionslosen, reinen „Verstandesmenschen" dem „gemütlichen" und gefühlreichen Deutschen gegenüberstellten, wobei kein Zweifel blieb, wem dabei die Sympathie gehörte. 20 Hier spielte deutsche Selbststilisierung im Sinne bürgerlicher, auf alten Traditionen und Werten basierender Gefühls- und Bildungskultur eine starke Rolle, die man den Amerikanern aufgrund ihrer fehlenden Geschichte und also Kultur aberkennen zu können glaubte. Aber selbst ein so kritischer Schriftsteller wie Arthur Holitscher, der im übrigen den Topos von der „Dollarjagd" als falsches Klischee kritisierte, bemerkte kurz vor Ausbruch des Weltkrieges: , J3ie Hast Amerikas ist keine simple Hetzjagd nach dem Dollar, das ist eine Verleumdung, begangen an dem in angestrengtester Weise arbeitenden Volk der Welt! Sondern der Dollar ist nun mal eben die gegenwärtige Münzeinheit, durch die die ungeheure Arbeit, die Amerika in seiner Hast fördert, bezahlt wird. Eines der größten Schimpfworte hier herüben ist (...) das Wort: ,slow'. Langsam! Der Indianer, der Neger, sind ,slow people', darum stürmt die Nation in ihrem mörderischen Tempo über sie hinweg, darum bleiben sie beide zerschunden auf dem Wege hinter dem Amerikaner liegen. Aktivität ist das Wort, das dieses Land, das Rätsel 21 dieses befremdlichen Landes erklärt, nicht Dollar."

Ausdruck dieser Aktivität war in deutschen Augen auch die zentrale Rolle des Sports im öffentlichen und universitären Leben der USA - sinnfälliges Zeichen jenes Konkurrenzdenkens, das alle Lebensbereiche infiziert zu haben schien. 22

18 Siehe dazu Wolzogen, Dichter, S. 212-219 u.258ff; Polenz, Land, S. 70fu. 173ff;Plenge, Zukunft, S. 11; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 384-387; Diercks, Kulturbilder, S. 53ff sowie Legien, Arbeiterbewegung, S. 47. 19 Vgl. u. a. Friedrich Ratzel: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 2. München 2 1893, S. 722. 20 Vgl. Grzybowski, Land und Leute, S. 198f und am Beispiel von Festen S. 217ff; ferner Jensen, Reise, S. 144f; Oberländer, Ozean, S. 22f; Röder, Reisebilder, S. 15; Hoffmann, Bilder, S. 47; Below, Bilder, S. 31; Heymann, USA, S. 26 u. 41f; Nölting, Sternenbanner, S. 18; Zimmermann, Onkel Sam, S. lOOf; Mancke, Im Fluge, S. 30 und Hugo Bluth: Wanderleben in den Vereinigten Staaten. Leipzig 1902, S. 6Iff. 21 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 382f. Vgl. auch Polenz, Land, S. 57 und Kleinschmidt, Bilder, S. 106f u. 116f. Wie stark dieses Bild vom hektischen Lebensstil der Amerikaner das europäische Bild prägte, zeigt auch die Vorliebe für entsprechende Karikaturen. Siehe dazu Richards, Karikatur, S. 40. 22 Vgl. u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 250 bzw. Bd. 1, S. 382f; Pfister, Amerika, S. 137 und Münsterberg, Eindrücke, S. 15f. Zum Konkurrenzdenken allg. vgl Kleinschmidt, Bilder, S. 116f; Polenz, Land, S. 66f und Sombart, Sozialismus, S. 20f.

Materialismus und „Dollarjagd" versus Idealismus, Toleranz und Gemeinsinn

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S o hart dieses allgemeine „Hilf-Dir-Selbst-Prinzip" 2 3 in der amerikanischen Gesellschaft zu wirken schien und gnadenlos alle „Untüchtigen" scheitern ließ, so beeindruckt waren die Wilhelminer andererseits auch von Erfahrungen, die diesem Bild eines die ganze Gesellschaft dominierenden krassen E g o i s m u s der Individuen diametral zuwiderliefen. S o findet sich in vielen Berichten immer wieder die Wahrnehmung eines ausgeprägten Gemeinsinns bzw. „ c o m m o n sense", einer beeindruckenden Toleranz und Gastfreundschaft und einer v i e l e D e u t s c h e verblüffenden Geduld bei Konflikten in der Öffentlichkeit. Hier schienen die durch Materialismus vermeintlich zerstörten Werte des alten revolutionären und von den Pionieren eroberten Amerika noch lebendig geblieben zu sein und korrigierten das Zerrbild der reinen „Dollarjagd". Besonders die Erfahrung der Gastfreundschaft war für die Reisenden in d i e s e m Zusammenhang prägend und wurde in vielen Berichten immer wieder betont: „Gastfreundschaft ist ein Charakterzug der Amerikaner. Lange Zeit hindurch unbekannt oder verkannt, freuen sie sich, wenn Fremde sie aufsuchen und lieben es, ihren nationalen Fortschritt, ihre Größe und Macht zu zeigen. Mit beinahe kindischer Eitelkeit zählen sie ihre Erfolge auf, mit unbegrenzter Befriedigung blicken sie auf ihre Vergangenheit. (...) Die amerikanische Gastfreundschaft hat insofern den Vorzug über die unsere, als sie sich nicht begnügt, den Aufenthalt angenehm zu gestalten, sondern sich bemüht, zugleich nützlich zu sein. Sobald sie erfahren, daß uns irgendein Gegenstand interessiert, bieten sie alles auf, damit man diesen gründlich, vielseitig und in kürzester Zeit kennen lernen kann." 24 D i e s e charakteristische Passage zeigt allerdings auch einen anderen Zug amerikanischer Mentalität, der oben schon andeutungsweise im Zusammenhang mit der Vorliebe für Superlative und quantitative Maßstäbe aufgefallen ist, nämlich das starke patriotische Selbstwertgefühl der Amerikaner, das die so überaus nationalistisch orientierten Wilhelminer naturgemäß massiv herausforderte. Aber auch ein relativ ausgewogener und durchaus die e i g e n e Gesellschaft kritisch beurteilender Autor w i e Wilhelm von Polenz schrieb dazu etwas ironisch, aber doch auch bewundernd: „Dem Amerikaner ist der Patriotismus selbstverständlich. (...) Der amerikanische Patriotismus erstreckt sich auf alles, auf die Gesetze, die Einrichtungen, selbst auf die anerkannten Mängel des Landes. Der Yankee ist Patriot im Schlafen und Wachen, beim Essen und Trinken, in jeder Lebenslage. Der erste Schrei des Neugeborenen ist bereits ein Triumphgesang auf Amerika. (...) Dieser Patriotismus bleibt jedoch nicht in äußerlicher Begeisterung bei Ovationen und Demonstrationen stecken, er ist mehr als Hurrapatriotismus; er hat sich glänzend bewährt in schwerer Zeit, als Opfermut." 25 23 Dies wurde bezeichnenderweise vor allem von den Autoren besonders betont, die nicht im bürgerlichen Sinne reisten, sondern sich selber in der Fremde durchschlagen mußten. Vgl. Barnekow, Amerika, S. 13f und Rosen, Lausbub, Bd. 1, S. 57-60, ferner Fulda, Eindrücke, S. 291f. Aber auch die „distanzierteren" Studien griffen diesen Grundzug immer wieder auf. Siehe dazu u. a. Goldberger, Land, S. 30ff und Diercks, Kulturbilder, S. 42f u. 50f. 24 Vay von Vaya, Nach Amerika, S. 288. Vgl. auch Fulda, Eindrücke, S. 276ff; Gerstenberger, Steinberg, S. 161f; Münsterberg, Eindrücke, S. 9; Heymann, USA, S. 25; Schweitzer, Urlaub, S. 57ff u. 180f; Wolzogen, Dichter, S. 9f; v.John, Plaudereien, S. 35 und Carl Beck: Amerikanische Streiflichter. Berlin 1905, S. 65f und Ph.Samhammer: Beobachtungen in den Vereinigten Staaten Nordamerikas. Sonneberg 1894, S. 9f. 25 Polenz, Land, S. 59f. Vgl. auch Haijes, Reise, S. 208ff; Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 7f; Unruh, Amerika, S. 24f; Bahr, Reise-Berichte, S.46f; Barth, Einrücke, S. 26f u. 30f; Oberländer, Ozean, S. 128f und Schweitzer, Urlaub, S. 180f. Diese Sicht wurde auch in den Studien relativ stark betont. Vgl. u. a. Lettenbaur, Jenseits, S. 57 und für die 90er Jahre Ratzel, Vereinigte Staaten, S717f und Kleinschmidt, Bilder, S. 118-121.

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„Der Amerikaner" - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

So nationalistisch borniert manchem kritischen Autor dieser Patriotismus vorkommen mochte,26 so sehr wurde von einigen Autoren andererseits betont, daß dieser Patriotismus sich im Unterschied zu den europäischen Staaten weitaus weniger aggressiv und militaristisch gab und eher dem Stolz auf erreichte Leistungen, als der Konkurrenz mit anderen Nationen entsprang.27 Vor allem aber wurde der amerikanische Patriotismus in einigen Studien tendenziell idealisierend auf die Ideen der Verfassung und nicht auf ,31ut und Boden" wie in Europa zurückgeführt.28 Hintergrund dieses „idealistischen" Patriotismus war die Wahrnehmung eines auf dem schon skizzierten sozialen Egalitätsbewußtsein aufbauenden außerordentlichen Gemeinsinns, eines spezifisch amerikanischen „common sense", der zugleich auch die Macht der öffentlichen Meinung in den USA spiegelte. 29 Im Vergleich zu Deutschland notierte Hugo Münsterberg dementsprechend: „Der Deutsche ist stets überrascht, wie musterhaft sich die amerikanische Masse benimmt, wie die größten Menschenmengen bei öffentlichen Anlässen ohne jede fühlbare Polizeiein wirkung sich selber leiten, wie die Verkehrsgesellschaften fast ohne jede Kontrolle auskommen, vertrauend, daß jedermann seine Pflicht tut, ja, wie überhaupt das ganze Zusammenleben in jeder Weise auf wechselseitigem Vertrauen aufgebaut ist. Dieses Gefühl, daß Regierende und Regierte ein und dasselbe sind, durchdringt die gesamten Verhältnisse, und deren Folgen werden weit über das politische Gebiet hinaus empfunden. Es macht vor allem auch in der sozialen Sphäre die niedern (sie) Klassen frei; sie ordnen sich willig der Disziplin unter, weil sie sich gleichzeitig als Herren empfinden, und ihre Mündigkeit wirkt als zuverlässigstes Mittel zur Ordnung." 30

Münsterberg, der diesen Grundzug im Gegensatz zu Deutschland sogar unter Berufung auf Lehrerstimmen in den Schulklassen festzustellen meinte, griff hier erneut die schon bekannte Idee des sozialen Gleichheitsbewußtseins auf, die gerade den Bürgern des wilhelminischen Deutschland sozusagen als Ideallösung der in Europa so belastenden „sozialen Frage" scheinen mußte, unterwarfen sich doch die „niederen Klassen" in dieser zweifelsohne idealisierenden Sicht ohne Probleme dem genuin bürgerlichen Gesellschaftskonzept. Diese oft beschworene allgemeine Disziplin innerhalb des amerikanischen common sense kam in deutscher Sicht auch in der erstaunlichen Fähigkeit zu Geduld, Toleranz und Humor im persönlichen Umgang 31 zum Ausdruck - ein Verhalten, das kaum zur immer wieder behaupteten Dynamik und „Hektik" des amerikanischen Lebensstils zu passen schien und die (oft unbewußten) Brüche im deutschen Bild der amerikanischen „Volksseele" sichtbar macht.32

26 So ζ. B. Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 399ff. 27 Vgl. ζ. B. Müller, Leben, S. 44 und Kummer, Weltreise, S. 173. 28 Siehe dazu u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 63; Lettenbaur, Jenseits, S. 55ff und mit Bezug auf die amerikanischen Arbeiter Sombart, Sozialismus, S. 28f u. 76ff. 29 Siehe zur Macht der öffentlichen Meinung in den USA u. a. Lettenbaur, Jenseits, S. 28-32; Sombart, Sozialismus, S. 78ff und Bürgers, Kulturbilder, S. 13f. 30 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 90. Vgl. auch ebda., S. 90f und Bd. 2, S. 264ff, ferner Diercks, Kulturbilder, S. 38 und im Hinblick auf Lebensstile und Verhaltensmuster auch Lettenbaur, Jenseits, S. 3Off u. 166 und Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 724 sowie Klien, Amerikafahrt, S. 47f. 31 Vgl. dazu Lettenbaur, Jenseits, S. 58f, 69f u. 123f sowie im Hinblick auf die Politik im Kontrast zu Europa Rambeau, Amerika, S. 283. Zm Humor der Amerikaner vgl. u. a. Bürgers, Kulturbilder, S. 12; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 251 f; Polenz, Land, S. 57f und in der Karikatur Richards, Karikatur, S. 5f. 32 Siehe dazu u. a. Fulda, Eindrücke, S. 272f; Lamprecht, Americana, S. 29; Pfister, Nach Amerika, S. 22f und Münsterberg, Eindrücke, S. 12f u. 35.

Pragmatismus, Fortschrittsglaube und Utilitarismus - Ein Land ohne Kunst und Kultur?

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Doch nicht nur die Rücksichtnahme und Geduld in der Öffentlichkeit, die sich nicht selten wohltuend vom deutschen „Kasernenton" abhob, beeindruckte die deutschen Beobachter; auch außergewöhnliche Hilfsbereitschaft, ein vielfach erstaunliches Fehlen jeglichen (Sozial-)Neides und zugleich Großzüzigkeit im Hinblick auf öffentliche Schenkungen lösten Anerkennung und nicht selten Bewunderung aus: „Sie (die Amerikaner, A. S.) feiern einander, gönnen sich einander; sie messen sich Verdienste bei, die noch größer gemacht werden, als sie wirklich sind, ja, selbst da zugebilligt werden, wo unsere Nüchternheit lange keinen Verdienst mehr sieht. ( . . . ) Die Bande, die die Menschen hier aneinander knüpfen, sind gewoben aus dem Bewußtsein, daß im Grunde alle zueinander gehören, daß das Leben zu kurz ist, um sich unnötig abzuquälen ( . . . ) , und daß es sich lohnt, einander beizustehen - alles sehr .praktisch' und dennoch menschlich im hohen Sinn." 3 3

Dieser Pragmatismus, dessen positive Bewertung aus deutscher Perspektive keineswegs selbstverständlich war, wie das „dennoch" im letzten Satz charakteristischerweise andeutet, wird im folgenden als ein wesentlicher Grundzug näher untersucht werden. Bis hierher gilt es zunächst festzuhalten, daß die Ambivalenz im Bild amerikanischer Mentalitäten durchaus sichtbar geworden ist, auch wenn erneut betont werden muß, daß die Reiseberichte in der Regel deutlich einseitiger urteilten als die differenzierenderen Studien. Dennoch: auch wenn die Autoren oft von dem Amerikaner sprachen, belegen ihre eigenen Aussagen, daß es sich dabei zum mindesten um eine höchst schillernde Persönlichkeit handeln mußte.

2. Pragmatismus, Fortschrittsglaube und Utilitarismus Ein Land ohne Kunst und Kultur? Der „Materialismus" der Amerikaner war sozusagen das direkt wahrnehmbare „Oberflächenphänomen" und veranlaßte durch die Stärke des Eindrucks die Wilhelminer nach den Gründen und Ursachen dieser Prägung zu fragen; man fand sie in einem Konglomerat von Einstellungen und Werten, das sich in der Trias „Pragmatismus", „Rationalismus" und „Utilitarismus", ergänzt durch „Fortschrittsoptimismus" und „Unternehmungsgeist" darstellen läßt. Den entsprechenden Gegenpol bildete in dieser Sicht ein auffallender Mangel an Kunstsinn und ein generell unterentwickeltes Gefühl für (Hoch-)Kultur. Diese „tiefere" Erklärungsebene wurde erwartungsgemäß stärker in den Studien diskutiert, doch der Grundtenor der Aussagen verlief in beiden Gattungen zumeist ähnlich. Wilhelm von Polenz umriß diese Sicht, als er 1903 prägnant formulierte: „Das Praktische ist unleugbar die starke Seite des Amerikaners; darüber hat er bis zu einem gewissen Grade das Ideelle vernachlässigt. Die Maschine, die er zu so hoher Vollendung gebracht hat, rächt sich nunmehr an

33 Lettenbaur, Jenseits, S. 168f. Vgl. auch Diercks, Kulturbilder, S. 38; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 2 5 4 f und Georg v. Skal: Das amerikanische Volk. Berlin 1908, S. 30f. Zum charakteristischen Fehlen jeglichen (Sozial-)Neides in der amerikanischen Gesellschaft vgl. Goldberger, Land, S. 89f; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 244f; Rambeau, Amerika, S. 126f; Pfister, Nach Amerika, S. 134 und Wolzogen, Dichter, S. 184 bzw. zur Großzüzgigkeit Polenz, Land, S:58 u. 63f; Diercks, Kulturbilder, S. 248 und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 378f.

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„Der Amerikaner" - Deutsche Reflexionen zur amerikanischen Mentalität

ihm, indem sie ihn mechanisiert. Er ist geneigt, in erster Linie nach Zweck und Nutzen einer Sache zu fragen. Größe und hoher Preis, den er auch jedermann gern erfahren läßt, imponieren ihm. Darüber übersieht er leicht das, was nicht gewogen oder gemessen werden kann, die innere Schönheit und Harmonie von Menschen und Dingen. Für das Transcendentale hat er noch keine Organe entwickelt, und der tiefste Sinn der Kunst ist ihm bisher unerschlossen geblieben." 34 Dieser Grundzug wurde anhand der unterschiedlichsten Beobachtungsfelder immer wieder konstatiert, so ζ. B . i m Alltag anhand eines außerordentlich rationellen U m g a n g s mit der Zeit 3 5 w i e auch beispielsweise in der Haushaltsführung, aber auch anhand pragmatischer und tendenziell utilitaristischer Schwerpunkte in der Ausbildung an Schulen und Hochschulen, verbunden mit e i n e m gering ausgeprägten historischen Bewußtsein und einem extrem individuell-pragmatischen Freiheitsverständnis. 3 6 D i e s e Sicht fand ihren prägnanten Ausdruck in der Metapher von der „mechanischen Weltanschauung", die k e i n e s w e g s von einem kulturkonservativen Wilhelminer, sondern v o n d e m deutsch-amerikanischen Journalisten Georg von Skal geprägt und in v i e l e n Berichten umschreibend oder sogar wörtlich übernommen wurde. Skal stellte diesen B e g r i f f in den Kontext der amerikanischen Geschichte und Kultur, so daß sich Mechanisierung und moderner Utilitarismus auf die Kolonialisierung der Wildnis und die dabei geforderten praktischen Fähigkeiten sinnvoll zurückführen ließen. In seiner breit a n g e l e g ten Studie „ D a s amerikanische Volk" von 1908 beschrieb er diese Entwicklung folgendermaßen: „Was konnte natürlicher sein, als daß die Fähigkeit, das Notwendige und Nützliche zu schaffen, sehr hoch bewertet wurde? (...) Wo die Notwendigkeit, sich das Wenige, das zur Erhaltung des Lebens Erforderliche zu verschaffen, so dringend und doch so schwer zu erfüllen war, mußte alles, das dabei half, sehr hoch angeschlagen werden. Und was dabei half, war in erster Reihe das Nützliche, das sofort praktisch verwertet werden konnte und unmittelbar sichtbaren Nutzen brachte. (...) Alles das konnte aber nur auf Kosten anderer Eigenschaften geschehen. Die Entwicklung wurde einseitig, und das Verständnis für alles, das nicht Vorteile bringt oder nützlich ist, dagegen ausschließlich oder hauptsächlich zur Verschönerung und Veredelung des Lebens dient, wurde geschädigt. (...) So bildete sich in ihm (dem Amerikaner, A. S.) ein Gedankengang heraus, den man als mechanische Weltanschauung bezeichnen könnte und der ihm allerdings die Lösung aller Probleme erleichterte, die der Berechnung zugänglich sind, der aber gleichzeitig der Entwicklung des Geschmacks, des Schönheitssinnes und ähnlicher Eigenschaften hindernd im Wege stand." 37

34 Polenz, Land, S. 77. Vgl. auch ebda., S. 115ff sowie Bürgers, Kulturbilder, S. 10-15; Bruncken, Volksseele, S. 136ff; Lamprecht, Americana, S. 40ff; Müller, Leben, S. 43ff; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 132f und Rambeau, Amerika, S. 46f sowie mit Bezug speziell auf die New Yorker Rosen, Lausbub, Bd. 1,S. 190-193. 35 Vgl. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 374f in deutlicher Kritik am deutschen Klischee von der „Hektik" amerikanischen Lebens. 36 Siehe dazu u. a. Oetken, Landwirtschaft, S. 696f und Wolzogen, Dichter, S. 46f sowie Rambeau, Amerika, S. 152-159 und Kleinschmidt, Bilder, S. 116f. 37 Georg von Skal: Das amerikanische Volk. Berlin 1908, S. 54ff. Vgl. auch ebda., S. 22ff sowie Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 699 u. 706ff, wo er bereits um 1890 vom Vorherrschen einer „instrumentellen Rationalität" in den USA sprach.

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Zur Erklärung dieser mentalen Disposition wurde auch in den Reiseberichten immer wieder auf die .Jugend" und den immer noch kolonialen Charakter des Landes besonders im Westen h i n g e w i e s e n , 3 8 worauf im abschließenden Kapitel zum Vergleich der Kontinente noch einmal zurückzukommen sein wird. Historisch wurden aus dieser kolonialen Struktur der U S A auch andere, ähnliche Eigenschaften abgeleitet, so vor allem ein ungebremstes Unternehmertum auf der Grundlage eines ausgeprägten Selbstbewußtseins, das sich auf einen voluntaristischen Glauben an die prinzipielle Lösbarkeit aller individuellen w i e kollektiven Probleme stützte. 3 9 Obwohl regionale Unterschiede innerhalb Amerikas durchaus registriert wurden, blieb eine d e m g e m ä ß e Typologisierung „des Amerikaners" dabei kaum aus. Gerade ein so guter Kenner der amerikanischen Verhältnisse wie H u g o Münsterberg entwarf - als Schüler des Völkerpsychologen Wilhelm Wundt keinesfalls erstaunlich - das Bild des „typischen" Amerikaners - erneut Indiz für die allgemein verbreitete Idee, daß der Schlüssel zur amerikanischen Gesellschaft wesentlich i m „Nationalcharakter", also in Mentalitäten (und Ideologien), zu suchen sei: „... - so bildet sich tatsächlich im moralischen Klima dieses Gemeinwesens ein seelischer Menschenschlag von besonderer Art aus, und überraschend bleibt es, wie wenig die andern großen Scheidungen des sozialen Lebens, wie arm und reich, Volksschüler und Akademiker, Neuankömmling oder aus altem Stock, Handarbeiter oder Kopfarbeiter, den amerikanischen Bürger, den Träger des öffentlichen Lebens abschattieren. (...) Die unmittelbarste Wirkung ist ein überall fühlbarer Geist der Initiative, und gleichzeitig ein Optimismus, ein Vertrauen in die eigene Kraft, ein Sicherheitsgefühl, das mehr als die Hälfte zum Erfolge beiträgt. Verzagtheit steht nicht im Wörterbuch des Amerikaners." 40 D i e s e Typologisierungen gingen nicht selten bis zur Feststellung eines vermeintlich allgem e i n e n äußeren Erscheinungsbildes; selbst ein sonst so nüchterner Autor w i e Polenz ließ sich durchaus begeistert zu Äußerungen w i e dieser hinreißen: „Wer in Amerika die Physiognomien studiert an Orten, wo viele Menschen zusammenkommen, auf der Straße, in der Lesehalle, bei Volksversammlungen, den wird bei den echten Yankees die Energie, die aus allen Zügen leuchtet, das rüstige Vorwärtsstreben in knappen Bewegungen, die glückliche Zuversicht des Gelingens als gemeinsames Rassezeichen überraschen. Unsere Leute, besonders die auf dem Lande oder in den Industriebezirken, tragen viel eher einen verdrossenen Zug geheimer Verbitterung zur Schau, als schritten sie unter einer unsichtbaren Last einher, verrichteten Sisyphusarbeit, von deren Vergeblichkeit sie innerlich überzeugt erscheinen. Die Amerikaner marschieren wie junge Soldaten kühn in die Zukunft hinein, die ihnen kraft ihres Siegenwollens gehören muß." 41

38 Siehe dazu z.B: Diercks, Kulturbilder, S. 37ff; Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 698ff und Bürgers, Kulturbilder, S. 13ff. 39 Vgl. Bürgers, Kulturbilder, S. 14f; Rambeau, Amerika, S. 67; Kleinschmidt, Bilder, S. 116f; Münsterberg, Amerikaner, Bd. l , S . 3 8 0 f und Polenz, Land, S. 112ff. 40 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 86f. Vgl. auch Diercks, Kulturbilder, S. 38 u. 65-70 sowie Goldberger, Land, S. 16f und Kleinschmidt, Bilder, S. 121 bzw. zur „Kampfnatur" des Amerikaners v.Skal, Volk, S. 19ff. 41 Polenz, Land, S. 66f. Vgl. auch zur Kehrseite - einer fehlenden Fähigkeit zu Selbstkritik - ebda., S. 72f. Vgl. allgemein auch Lettenbaur, Jenseits, S. 91ff und zum „Optimismus" als zentralem Merkmal der amerikanischen Mentalität auch ebda., S. 117f sowie Goldberger, Land, S. 16f; Polenz, Land, S. 56f u. 114f; Rambeau, Amerika, S. 127 und für die 90er Jahre Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 716f.

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Diese Passage macht gerade im Vergleich zur eigenen Gesellschaft unschwer deutlich, wie stark elitär-bürgerliche Argumentationsmuster diese Typologisierungen prägten, wobei spezifisch bürgerliche Tugenden wie Energie, Leistungswillen, Zielstrebigkeit usw. in den USA in allen Bevölkerungsschichten verbreitet zu sein schienen und damit den schon geschilderten hohen Grad an „Verbürgerlichung" dieser Gesellschaft dokumentierten, wogegen in Deutschland und Europa allgemein die Unterschichten durch ihre vermeintliche „Lethargie" sich dieser Form der Verbürgerlichung entzogen. Immer wieder äußerten sich die deutschen Autoren in diesem Zusammenhang zumeist unverhohlen begeistert über den allgemeinen Optimismus und den Glauben an die Lösbarkeit aller gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Probleme, den sie in der amerikanischen Gesellschaft überall anzutreffen meinten - Beobachtungen, die trotz der Schattenseite einer fehlenden Fähigkeit zu Selbstkritik und ausgeprägter nationaler Eitelkeit seitens der Amerikaner vor allem zu deutscher Selbstkritik Anlaß gaben. Auch hier wurden vielfach europäische Traditionen als Hemmnisse der Entfaltung individueller wie sozialer Energien und Innovationen gewertet. Im Vergleich notierte der Schriftsteller Ludwig Fulda 1914 dementsprechend über die USA: „Nirgends hat man mehr Lust und Mut zum Experimentieren. Wenn einer von zehn Wegen Erfolg verheißt, so scheut man sich nicht, erst neun vergebliche zu gehen. Man hat dabei vor Europa den wesentlichen Vorteil, daß keine geheiligte Tradition, keine bindende Pietät das Verharren auf ausgetretenen Pfaden zur Pflicht macht; man hat hingegen den Nachteil, daß man sich gründlich verlaufen kann." 42

Und selbst ein hoher Beamter sparte nicht an Kritik an deutschen Verhältnissen besonders im Hinblick auf die Oberschichten des Wilhelminischen Deutschland, als er 1904 im Vergleich bemerkte: „Der Stolz auf die Leistungen wird bei den sogenannten alten Völkern gar zu leicht zum ,haut goût' ihrer .ruhmreichen' Geschichte und Kultur. Der Amerikaner kennt nur den Stolz auf große Ziele der Zukunft, wofür jeder einzelne sein Alles einzusetzen hat, ohne Unterschied des Alters, der Lebenslage und der Bildung. Weiterstreben ist seine einzige Losung. Nach großen Erfolgen sieht er sich lächelnd nach neuen größeren Aufgaben um. Statt Dünkel auf überstandene Prüfungen, beseelt ihn nur das Streben, das Erlernte nutzbar zu machen. Das gerade fehlt unseren .höheren Ständen' am meisten."

Und im Hinblick auf Deutschland: „Das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit verschwindet fast vollständig hinter dem gedankenlosesten Rang- und Würdestreit zwischen Juristen und Kaufleuten, Technikern usw. (...). Vom Standpunkt des echten Patrioten, der die Kräfte der Nation nur einheitlich zusammengefaßt als wirksam erkennt, kann es kaum eine unzweckmäßigere Entwicklung als die unsrige, in den letzten 30-40 Jahren geben. Die Amerikaner haben daher in ihrem Drange nach rationeller Zweckmäßigkeit von Anfang an ganz andere Wege eingeschlagen." 43

Hier wird in anderem Zusammenhang erneut sichtbar, wie positiv das amerikanische Gleichheitsbewußtsein im Gegensatz zur Lähmung der deutschen Gesellschaft durch „Klassen-

42 Fulda, Eindrücke, S. 275. Vgl. auch Klien, Amerikafahrt, S. 47f; Lamprecht, Americana, S. 39; Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 6f; Pfister, Nach Amerika, S. 138f. 43 Unruh, Amerika, S. 35.

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kämpf' gerade im patriotisch-nationalistischen Kontext bewertet werden konnte, auch wenn die meisten Autoren diese recht scharfe Kritik an den Eliten der eigenen Gesellschaft nicht teilten. Vielmehr findet sich in diesem historisch orientierten Argumentationszusammenhang in der Mehrzahl der Fälle eine Kritik an der Geschichtslosigkeit der USA im Vergleich zu Deutschland und Europa allgemein. Immer wieder tauchte in den Berichten wie Studien der Topos von der kulturellen Monotonie der amerikanischen Gesellschaft auf, was sich nicht nur auf die Hochkultur - also Musik, Literatur oder Malerei - bezog, sondern sich auch ganz konkret an Lebensstilen und Umgangsformen festmachen ließ und damit die Kehrseite der Medaille amerikanischer Erfolgsgeschichten bildete. Typisch für das kulturelle Selbstbewußtsein der Wilhelminer im Vergleich zur amerikanischen Gesellschaft war eine Äußerung Wilhelm von Polenz', die zugleich deutlich macht, daß diese Bewußtseinsdimension durchaus auf ganz Europa bezogen wurde - wir werden darauf im Kontext des Vergleichs der Kontinente zurückkommen: „Das amerikanische Leben hat wohl Aufregungen, es ist intensiv und hochgespannt, aber es fehlt ihm der Feuchtigkeitsgehalt fruchtbarer Anregungen, es ist arm an allem, was zum Gemüt spricht. (...) Für ein Land, in dem immerfort so viel Sensationelles passiert, ist die Monotonie des eigentlichen Daseins erstaunlich. Diese Monotonie treibt die Yankees in Scharen nach Europa, nach dem kleinen, altmodischen, von ihnen wegen seiner Unfreiheit bemitleideten Europa. Dieses Europa hat etwas, was ihnen alles Geld drüben nicht schaffen kann: das undefinierbare Bukett ausgereifter Kultur, den romantischen Reiz des Altertümlichen und vor allem die Mannigfaltigkeit des Lebens. Welcher Überfluß von Originalität in einem Lande wie Norwegen, das halb soviel Einwohner zählt wie New York mit Nebenstädten! Welch Gegensätze in dem beengten Deutschland, das wesentlich kleiner ist als der Staat Texas." 44

Auch wenn Ansätze einer genuin amerikanischen Kultur vor allem im Bereich der Großstadtarchitektur (worauf im Kapitel zum Stadtvergleich näher eingegangen werden soll) durchaus registriert wurden,45 blieb doch das Muster europäischer kultureller Überlegenheit durch die Vielfalt der Erscheinungsformen und Traditionen für das deutsche Bild bestimmend. 46 Dieses kulturelle Überlegenheitsgefühl war nicht zuletzt ein (oft unbewußter) .Ausgleich" für die wahrgenommene technische Überlegenheit der amerikanischen Gesellschaft, die im vorhergehenden Kapitel schon dargelegt worden ist - im Kontext der Mentalitäten tauchte immer wieder der Topos von der technischen Innovationsfähigkeit als Inbegriff amerikanischen Geistes auf, der zugleich Amerika zu dem Land der modernen Zivilisation schlechthin machte, wobei zumal bei bildungsbürgerlichen Autoren immer wieder der Kontrast zu den alten, eher ästhetisch geprägten Kulturen der Antike bzw. Europas aufgeworfen wurde. 47

44 Polenz, Land, S. 79. Vgl. ebda., S. 76-81. Vgl. auch Sombart, Sozialismus, S. 17ff und im Hinblick auf Konsumgewohnheiten auch v. Skal, Volk, S. 58ff. 45 So ebenfalls als „Korrektur" bei Polenz, Land, S. 82ff und Lamprecht, Americana, S. 119. 46 So sprach Lettenbaur beispielsweise vom Verlust von „Romantik" im europäischen Sinne in den USA und betonte zugleich, daß die mentalen Trennlinien zwischen Amerikanern und Europäern hier ausgeprägter seien als zwischen Europäern. Vgl. Lettenbaur, Jenseits, S. 165 und 71. Vgl. auch Bürgers, Kulturbilder, S. 17ff. 47 Siehe dazu u. a. Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 134f und Hintrager, Wie lebt, S. 216.

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So faszinierend diese modernste Zivilisation in den USA auch sein mochte, so wenig konnten sich die meisten Deutschen mit den Umgangsformen und Lebensstilen der meisten Amerikaner wirklich anfreunden; auch hier schlug sich der Eindruck von Kulturlosigkeit immer wieder massiv nieder, zumal er anhand „mangelnder Umgangsformen" direkt erfahrbar war. So notierte der Schriftsteller Paul Lindau Anfang der 90er Jahre konsterniert: „Sie (die Amerikaner, A. S.) machen wenig Spirenzien. Sie stehen nicht vom Stuhle auf, wenn der ihnen empfohlene Fremde in das Bureau eintritt, und nehmen die Zigarre nicht aus dem Munde und den Hut nicht vom Kopfe, während sie mit einer knappen Handbewegung auffordern - nicht bitten - , sich niederzusetzen. Es fällt ihnen auch nicht ein, sich zu entschuldigen, wenn sie ihn an einem heißen Tage in Hemdärmeln empfangen. Alles das berührt den Mann mit Europens übertünchter Höflichkeit eigenthiimlich und zunächst nicht angenehm." 48

Auch wenn Lindau im Anschluß die skizzierten positiven Seiten der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft herausstrich, blieb doch dieses Manko aus deutscher Sicht auffallend, wobei festzuhalten bleibt, daß diese Beobachtungen wie fast alle Wahrnehmungen und Beurteilungen zum Bereich der Mentalitäten und entsprechender Verhaltensformen für den gesamten Untersuchungszeitraum gelten und keine spezifischen zeitlichen Konjunkturen aufweisen. Zudem war gerade die Sicht der Lebensstile und Umgangsformen in allen politischen Lagern ähnlich, und auch die Beurteilung, daß dieser Gegensatz vor allem als ein europäischamerikanischer Kontrast zu gelten habe, war allgemein verbreitet. Entsprechend notierte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs der linke Autor Arthur Holitscher spöttisch, aber doch im Grundtenor ähnlich wie der erzkonservative und „typische Wilhelminer" Lindau: „Immer erneutes Vergnügen bereitet einem die natürliche und direkte Art und Weise, auf welche sich der Verkehr der Menschen hier herüben abspielt. Ohne Pathos, aus primitivem und natürlichen Instinkt heraus, der den Europäer wohl grotesk anmuten kann. Den Europäer, der sich im ganzen doch lieber von einem Höherstehenden auf die Schulter klopfen als von einem Tieferstehenden beim Paletotknopf fassen läßt. Für Faxen und Förmlichkeiten, die im Grund doch nichts anderes bezwecken, als den Dünkel des Einen vom Dünkel des Andern sauber abzugrenzen, hat der Amerikaner nicht viel übrig, weder Lust noch Zeit, über Formen liebt er es, sich draufgängerisch hinwegzusetzen; es tut dem Europäer gut, zuzusehen, wie er das macht." 49

So verschieden die Bewertungen ausfallen mochten, die Beobachtungen waren einhellig und dokumentieren einmal mehr den Grundzug des amerikanischen Egalitätsbewußtseins im Kontrast zu Europa. Das betraf auch die Bewertung des fehlenden Sozialismus in den USA, wie er im vorigen Kapitel schon kurz angesprochen worden ist. Es ist zu Beginn anhand des Materialismus-Vorwurfs schon deutlich geworden, wie sehr das Fehlen eines europäischen Sozialismus in den USA im deutschen Amerika-Diskurs vor allem auf mentale Dispositionen zurückgeführt wurde. Die geschilderten Eigenschaften der Amerikaner wie Gleichheitsbewußtsein, Hilf-Dir-Selbst-Denken, Glaube an Aufstiegschancen für jedermann, Dominanz

48 Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 108f. Vgl. auch Gerstenberger, Steinberg, S. 160f; Hoffmann, Bilder, S. 44f; Oberländer, Ozean, S. 28f; Unruh, Amerika, S. 24f u. 44f; v.Wernsdorff, Per aspera, Bd. 1, S. 107f; Kleinschmidt, Bilder, S. 128f und am Beispiel der Feste Mancke, Im Fluge, S. 25 sowie allgemein A. Lurz: Weltreiseskizzen. Von San Francisco bis New York. Dresden 1903, S. 221. 49 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 394f. Zur Uniformität der Sitten und Lebensstile vgl. Fulda, Eindrücke, S. 297ff und besonders kritisch Grzybowski, Land und Leute, S. 204—207.

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materieller Orientierungen anstelle ideologischer „Weltanschauungen" etc. boten keinen Raum für den europäischen „Klassenkampf' - darin waren sich alle Autoren einig, auch wenn die Kontexte dieser Beurteilung unterschiedlich ausfielen. Während konservative und liberale Autoren vor allem auf die geschilderten mentalen Faktoren rekurrierten, betonten die wenigen linken Positionen erwartungsgemäß stärker die sozialen und wirtschaftlichen Klassenlagen. Typisch für die bürgerliche Perspektive war die Bemerkung des großbürgerlichen Schriftstellers Ernst von Wolzogen, der die fehlende Disposition zum Sozialismus in den USA im Kontext der schon erwähnten Neidlosigkeit und des entsprechenden allgemeinen Bewußtseins sozialer Gleichheit sah: „Der Arbeiter ist leicht mit dem Streik bei der Hand, wenn er die großen Geldsäcke allzu zugeknöpft findet. Aber es fallt ihm nicht ein, den Arbeitgeber zu hassen und grimmig zu beneiden um seinen Überfluß. Weiß er doch von so vielen dieser schwer reichen Herren, daß sie ganz klein angefangen haben; folglich nimmt er an, daß die Kerle eben einen guten Kopf, Reiß, Energie und Glück gehabt haben - ihm selber oder seinen Kindern mag es ja ebenfalls gelingen, es so weit zu bringen. Warum nicht? Die Bahn ist ja frei! Das ist auch der Grund, weshalb der Weizen des Sozialismus drüben nicht blühen will." 50

Wenn demgegenüber sozialistische Autoren vor allem die Lebensstandards, die Einwandererproblematik und damit die Schwierigkeit der Ausbildung einer spezifischen Arbeiterkultur als Gründe herausstrichen,51 so betonten doch auch Soziologen und Nationalökonomen in starkem Maße mentale Faktoren. So hob Werner Sombart in der wohl ausführlichsten Studie zum Thema mit dem programmatischen Titel „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?" 1906 besonders spezifische Einstellungen der amerikanischen Arbeiter wie Aufstiegsoptimismus, Fortschrittsdenken, ungebrochenen Patriotismus und eine regelrechte „Verinnerlichung" des kapitalistischen Wirtschaftsprinzips hervor, so daß auch die Gewerkschaften keinerlei Ziele im Hinblick auf eine grundsätzliche Systemänderung anstrebten und sozialistische Haltungen auf die aus Europa und besonders Deutschland eingewanderten Arbeiter beschränkt blieben, was auch die sozialistischen Agitationsreisenden feststellen mußten, deren Reden fast nur vor deutsch-amerikanischen Zirkeln zur Wirkung kamen. 52 Doch war bei diesen Autoren durchaus das Bewußtsein für „objektive Klassenlagen" jenseits von Mentalitäten ausgeprägt, was interessanterweise zu der Erwartung führte, daß der Sozialismus sich in Zukunft durch eine Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze auch in den USA mächtig entwickeln werde.53 Insofern erschienen hier

50 Wolzogen, Dichter, S. 184f. Vgl. auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 244f; Scherff, Nord-Amerika, S. 76 u. 266; Röder, Reisebilder, S. 126-130; Hoffmann, Bilder, S. 62f; Lettenbaur, Jenseits, S. 140f; Rambeau, Amerika, S. 114f und Pfister, Nach Amerika, S. 135 sowie Polenz, Land, S. 89ff und KnebelDoberitz, amerikanische Gefahr, S. 5 lf. Entsprechend stellten bezeichnenderweise gerade Unternehmer vor allem das soziale Selbstbewußtsein der amerikanischen Arbeiter in diesem Kontext heraus: Vgl. u. a. Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 20f und Harjes, Reise, S. 71. 51 So beispielsweise Kummer, Weltreise, S. 79ffund 206ff oder Legien, Amerikas Arbeiterbewegung, S. 1 lf u. 196ff. Vgl. zum Fehlen einer eigenständigen Arbeiterkultur auch die Schilderungen „vor Ort" von Kolb, Arbeiter, S. 129ff. 52 Sombart, Sozialismus, bes. S. 28-36. Vgl. auch Sartorius v. Waltershausen, Sozialismus, S. 17f sowie Oetken, Landwirtschaft, S. 607f. 53 Vgl. Sombart, Sozialismus, S. 140ff; Sartorius v. Waltershausen, S. 413f und Goldberger, Land, S. 192f.

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die Klassengegensätze vor dem Ersten Weltkrieg im Bewußtsein als so tiefgreifend, daß keine Erwartung einer diesbezüglichen „Amerikanisierung" Europas aufkam - im Gegenteil, Amerika schien sich hier weitaus eher zu „europäisieren". Doch es kam aus deutscher Sicht noch ein weiterer Faktor hinzu, der das Aufblühen des Sozialismus in den USA verhinderte: im Vergleich zu Europa erschien vielen Beobachtern die amerikanische Gesellschaft durch mehr Kirchlichkeit und Religiosität geprägt - ein Faktor, der erneut das schon vermeintlich klare Bild von der durch und durch materialistischen und technischen Zivilisation der Moderne ins Wanken brachte; dem soll im folgenden noch abschließend nachgegegangen werden.

3. Religiosität und Säkularisierung Den meisten Beobachtern fiel immer wieder auf, wie stark in den USA das religiöse Leben vor allem im Vergleich zu Deutschland und Europa allgemein entwickelt schien, und dies betraf nicht nur die Mittelschichten, sondern fast alle gesellschaftlichen Gruppen in Amerika. Bezeichnenderweise bezog sich auch Max Weber bei seinen bahnbrechenden Studien zum Verhältnis von (kapitalistischer) Wirtschaftsform und (kalvinistischer) Religiosität ursprünglich auf die Vielzahl der amerikanischen „Kirchen und Sekten"54 und stellte die im Vergleich zu Europa weitaus entwickeltere Kirchlichkeit der Amerikaner heraus. Aber auch in den Reiseberichten finden sich viele Beobachtungen dieser sozial breit gestreuten Religiosität, wobei es nicht verwundert, daß hier vor allem Pastoren und Geistliche das Wort ergriffen. So notierte gerade im Bezug auf die Arbeiter im Vergleich der Pfarrer Oskar Wittstock 1910: „Der reichsdeutsche Fabriksarbeiter ist als Sozialist ausgesprochener Gegner der Kirche. Dagegen hat der erbgesessene Deutsch-Amerikaner (...), dann der englische und amerikanische Arbeiter, Handwerker und Kleinbürger, eine ungewöhnlich hohe Wertschätzung für die kirchliche Organisation. Aus dem Gewoge des amerikanischen Geschäftslebens (...), aus dieser Jagd nach Besitz und Genuß hebt sich diese wohlanständige Kirchlichkeit ganz merkwürdig hervor." 55

54 So lautete der Aufsatztitel, der 1906 in der „Christlichen Welt" veröffentlicht wurde. Hier wird die erweiterte Fassung aus Max Weber: Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1920, S. 207-236, herangezogen. Vgl. zur Kirchlichkeit bes. S. 207ff. Vgl. insgesamt zu Webers Reise in den USA und zur Entwicklung seiner religionssoziologischen Thesen im Zusammenhang seiner dort gemachten Erfahrungen D. Käsler: Max Weber. In: Ders. (Hg.): Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 2: Von Weber bis Mannheim. München 1978, S. 47 bzw. 92ff. 55 Oskar Wittstock: Unsere Volksgenossen in Amerika. Hermannstadt 1910, S. 17f. Vgl. auch Hoffmann, Bilder, S. 58f; Wolzogen, Dichter, S. 188f und ähnlich aus katholischer Perspektive: Zardetti, Westlich!, S. 16f u. 103f. Für die Landbevölkerung beobachtete das auch Oetken, Landwirtschaft, S. 563ff, und der Sprachwissenschaftler Adolf Rambeau meinte 1912 allgemein über Europa im Vergleich: „In den kulturländern des kontinentalen Europa ist augenscheinlich mit der Verbreitung der aufklärung und bildung im allgemeinen und der toleranzidee im besonderen im ganzen volke eine zunehmende auffällige gleichgültigkeit und eine wachsende entfremdung der massen vom kirchlichen leben hand in hand gegangen. Dies ist bis jetzt im großen und ganzen in Nordamerika nicht der fall gewesen." Rambeau, Amerika, S. 303. Vgl. auch Polenz, Land, S. 354f und Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 637ff sowie Diercks, Kulturbilder, S. 41.

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D o c h nicht nur in den Schichten der „lower middle class", auch bei den „Gebildeten" fiel dieser Unterschied immer wieder auf. S o bemerkte im gleichen Jahr der Pfarrer H u g o Bluth nach einer längeren Rundreise durch verschiedene Gemeinden des mittleren Westens: „Während in den Kulturländern der alten Welt gerade die gebildeten Kreise vielfach vom Geist des Zweifels angefressen sind, oder in schweren Geisteskämpfen um ihren alten Glauben ringen müssen, ist es wunderbar, mit welcher Einfalt auch der gebildete Amerikaner ζ. B. den biblischen Schöpfungsbericht oder die Wundererzählungen oder die Lehren von den letzten Dingen aufs Wort hinnimmt. Es scheint, als ob der sonst so nüchterne und prosaische Amerikaner sich seine ganze Phantasie auf das religiöse Gebiet verspart hätte (,..)." 5 6 Indizien waren für die reisenden Deutschen neben den relativ hoch frequentierten Gottesdiensten vor allem die in Europa undenkbare extrem streng beachtete Sonntagsruhe, 5 7 die in vielen Staaten auch den Genuß von Alkohol verbot, s o w i e das hohe Sozialprestige (und E i n k o m m e n ) der Geistlichen. 5 8 Einige Autoren meinten dabei sogar eine höher entwickelte „Sittlichkeit" besonders bei den Männern im Vergleich zu den Europäern feststellen zu können, 5 9 auch wenn insgesamt die Religiosität bei den Frauen in Amerika ausgeprägter zu sein schien. 6 0 Besonders erstaunlich war es dabei für die deutschen Besucher, daß gerade die spezifisch amerikanische Trennung von Kirche(n) und Staat eine stärkere allgemeine Religiosität in der amerikanischen Gesellschaft bewirkte, indem sie eine Fülle miteinander konkurrierender Glaubensbekenntnisse bzw. „Denominations" zuließ. Beeindruckt vermerkte beispielsweise der Gutsbesitzer Friedrich Oetken im Vergleich zu Europa 1893: „In Nordamerika herrscht auf religiösem Gebiete die größte nur denkbare Freiheit; (...) das ganze kirchliche Leben vollzieht sich freier und unbeeinflußter als irgendwo in Europa. (...) Da sollte man nun sagen, wenigstens von dem Standpunkt aus, der in Europa noch immer so viele Anhänger hat, daß alles kirchliche Leben in Amerika längst zerfallen, aller religiöse Sinn längst ausgerottet wäre; aber gerade das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall, und Nichts hat hierzu mehr beigetragen, als gerade die Dinge, die man in Europa sich in vielen Kreisen noch garnicht anders denken kann, denn als Vorläufer von Unchristlichkeit und kirchlichem Verfall, genau die Dinge (...), die sich in dem Ausdruck zusammenfassen lassen: Vollste kirchliche und religiöse Freiheit." 61 D i e s e religiöse Freiheit und Toleranz in Form frei konkurrierender Bekenntnisse, die immer wieder auch historisch v o m Europa der blutigen Religionskriege abgehoben wurde, 6 2 fand in

56 Bluth, Wanderleben, S. 74. Vgl. auch Schneller, Sternenbanner, S. 5f, 19f u. 52 sowie Brinkmann, Eroberer, S. 121f; Gerstenberger, Steinberg, S. 133; Hintrager, Wie lebt, S. lOf u. 109ff und Lamprecht, Americana, S. 62ff. 57 Vgl. zum Gottesdienstbesuch: Neve, Charakterzüge, S. 83ff und zur Sonntagsheiligung u. a. Gerstenberger, Steinberg, S. 125ff und Bluth, Wanderleben, S. 64f. Zu Konflikten um diese Sonntagsruhe zwischen eingewanderten „säkularisierten" Europäern und religiösen Amerikanern vgl. auch Diercks, Kulturbilder, S. 164f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 23lf. 58 Siehe dazu z. B. Hintrager, Wie lebt, S. 116; Bluth, Wanderleben, S. 78f und Asmussen, Besuch, S. 89. 59 So bei Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 228ff und Neve, Charakterzüge, S. 79-82. 60 Vgl. Diercks, Kulturbilder, S. 174; Schneller, Sternenbanner, S. 52f und Schweitzer, Urlaub, S. 182ff. 61 Oetken, Landwirtschaft, S. 565f. Vgl. für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entsprechend Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 195-203 und Lettenbaur, Jenseits, S. 62ff. 62 Siehe z. B. Polenz, Land, S. 328ff bzw. 348ff und Wolzogen, Dichter, S. 186ff.

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den meisten Reiseberichten wie auch Studien durchgängig ein sehr positives Echo, ja wurde sogar von Pastoren als Vorbild gepriesen,63 zumal diese Trennung von Kirche und Staat keineswegs einen „atheistischen" Staat erzeugte, im Gegenteil: Gerade das öffentliche, soziale und politische Leben war augenscheinlich in einem Ausmaß von religiösen Ritualen geprägt, wie es in Europa kaum vorstellbar war - Atheismus war vor diesem Hintergrund besonders bei den Eliten nicht „gesellschaftsfähig".64 So positiv sich dieses Gesamtbild darstellte und geradezu als Alternative zur europäischen massiven Säkularisierungswelle, die nicht nur Pfarrer als tiefgreifende soziale Gefahr heraufbeschworen, anbot, so konnten doch andererseits Schattenseiten nicht völlig unbemerkt bleiben. Diese Schattenseiten im kirchlichen und religiösen Leben der Amerikaner meinten die wilhelminischen Besucher vor allem in einer „Verflachung" bzw. „Veräußerlichung" des religiösen Lebens erblicken zu können. In dieser Sichtweise, die immer wieder gleichermaßen in Berichten wie Studien auftauchte, waren die Kirchen und Konfessionen vor allem Orte der sozialen Begegnung und als solche auch stark an bestimmte Schichten gebunden gerade Max Weber betonte diesen Aspekt einer sozialen Hierarchie der amerikanischen Denominationen eindringlich;65 dementsprechend wurden hier von der Kanzel herab weniger spirituelle Gedanken und Gefühle als vielmehr handfest praktische Lebensregeln und Formen des Umgangs miteinander gepredigt. Hugo Münsterberg umriß die Unterschiede zwischen den USA und Europa in dieser Hinsicht folgendermaßen: „Spezifisch amerikanisch ist die Art, wie der Prediger auf der Kanzel seinen Hörern entgegenkommt. Selbstverständlich ist es undenkbar, die Predigermethode in den 212.000 Kirchen des Landes auf eine Formel zu bringen, aber eines fällt dem Europäer durch den Kontrast mit der Heimat überall auf: die anschauliche Beziehung der Predigt zu den weltlichen Interessen der Gemeinde. Schon die äußere Form verrät es; Gleichnisse aus dem Kleinlichen und selbst Niedrigen, oft geradezu triviale, aber durch ihre Anschaulichkeit packende Wendungen, selbst Anekdotisches, frisch im Dialogstil erzählt, wird eingeflochten. (...) Der Prediger will nicht die Seele aus dem Alltäglichen abziehen und zu einer Sonntagswelt der höheren Ideen hinleiten, sondern will das Höhere in dem Alltäglichen lebendig werden lassen, (...). Kein Zweifel, daß gerade dadurch die Kirche so populär und der Gottesdienst so gut besucht ist. Kein Zweifel freilich auch, daß so manches Mal es nicht der rechte Prediger, sondern ein sensationssüchtiger Kanzelkomödiant ist (.. .)." 6 6

63 So ζ. B. bei Jensen, Reise, S. 155ff und Wittstock, Volksgenossen, S. 30f. Vgl. allgemein auch Gerstenberger, Steinberg, S. 133ff; Wolzogen, Dichter, S. 186ff; Lamprecht, Americana, S. 58ff und Hintrager, Wie lebt, S. 112f. 64 So hieß es ζ. B. bei dem Kulturhistoriker Gustav Diercks: „Ungeachtet der Religionslosigkeit des Präsidenteneides zeigt doch das öffentliche Leben dieselbe nicht. Keine Kongreßsession wird begonnen ohne vorangehendes Gebet. Kein öffentlicher Staatsakt von irgendwelcher Bedeutung wird vollzogen, ohne daß ein Geistlicher denselben durch eine religiöse Handlung eingleitet und gesegnet hat." Vgl. Diercks, Kulturbilder, S. 163. Siehe ferner dazu Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 206f; Bruncken, Volksseele, S. 108 und Polenz, Land, S. 33lf. 65 Vgl. Weber, Aufsätze, S. 210ff; ferner Wolzogen, Dichter, S. 189f; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 200 und Rambeau, Amerika, S. 109. So fiel beispielsweise auch in den „reichen" Kirchen immer wieder der Komfort und die Modernität der Kirchenbauten auf, was kaum zum Religionsverständnis der meisten deutschen Besucher paßte. Vgl. dazu u. a. Gerstenberger, Steinberg, S. 130f. 66 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 204. Vgl. auch Lettenbaur, Jenseits, S. 62f; Rambeau, Amerika, S. 49; Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 388f und v.Skal, Volk, S. 116f.

Religiosität und Säkularisierung

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Zugleich lag diesem pragmatischen Religionsverständnis eine Konkurrenz der Denominationen zugrunde, die durchaus an die Konkurrenzkämpfe der Wirtschaft erinnerte und in vielen Fällen auch eindeutig ökonomisch motiviert war. So notierte der Jurist und Richter Oskar Hintrager 1904 nach mehreren Kirchenbesuchen über den Hintergrund der Trennung von Kirche und Staat und die Notwendigkeit, soziale Anziehungspunkte zu bilden: „Die heiteren, für deutschen Geschmack oft zu lustigen Melodien der amerikanischen Kirchenlieder sind allgemein bekannt. Aber weniger bekannt ist, daß fast alle Kirchen hier Nebenräume für gesellschaftliche Veranstaltungen, Vorträge, Konzerte, Lotterien, Basare, ja sogar Bälle haben. (...) In den Augen der Deutschen sind diese Dinge Anzeichen einer gewissen Äußerlichkeit und geringer Tiefe des religiösen Fühlens. Sie sind, abgesehen von der Jugendlichkeit des ganzen Volkes und seiner Kultur, aus der Trennung von Staat und Kirche zu erklären. Die Kirchen müssen sich selbst unterhalten, sie müssen danach trachten, daß sie möglichst viele Mitglieder gewinnen und sich erhalten." 67

Immer wieder löste diese fast ökonomische Ausrichtung der Kirchen Befremden bei den deutschen Besuchern aus und führte nicht selten sogar zum Vorwurf der Bigotterie und Heuchelei.68 Diese „Verweltlichung" schien damit zugleich vielen Beobachtern Indiz dafür zu sein, daß auch in den USA Unglaube und Materialismus auf dem Vormarsch seien, was gerade die deutsch-amerikanischen Autoren betonten.69 Insofern entsprach die beobachtete stärkere Religiosität der Amerikaner in deutschen Augen vor allem (sozialer) Kirchlichkeit und weniger individueller Frömmigkeit. Damit stand sie letztlich nicht im Widerspruch zu den eingangs getroffenen Feststellungen hinsichtlich der amerikanischen Mentalität; sie variierte sozusagen nur die Topoi des Materialismus, Pragmatismus und Konkurrenzdenkens und relativierte damit zugleich die Unterschiede zum vermeintlich stärker säkularisierten Europa. Zudem erschien einer Reihe von Autoren die Freiheitlichkeit dieser Konkurrenz insofern fraglich, als einige Bekenntnisse wie ζ. B. die „Christian Science" mit ihrem Glauben an die Heilbarkeit körperlicher Gebrechen durch entsprechende Glaubensintensität - in deutschen Augen geradezu „absurd" wirkten und den Aberglauben streiften, mithin kaum in einem Atemzug mit den etablierten traditionellen Konfessionen genannt zu werden verdienten. 70

67 Hintrager, Wie lebt, S. 117f. Vgl. auch Bluth, Wanderleben, S. 67f u. 75; Bürger, Bilder, S. 27ff und Kolb, Arbeiter, S. 96f sowie Röder, Reisebilder, S. 112ff und Gerstenberger, Steinberg, S. 126ff. Dieser Aspekt der „Verflachung" durch zu große „ökonomische" Konkurrenz zwischen den Konfessionen fand sich auch in den Studien immer wieder, so ζ. B. bei Diercks, Kulturbilder, S. 161 u. 174f und bei Bruncken, Volksseele, S. 106f. 68 So ζ. B. Mancke, Im Fluge, S. 56; Ravenschlag, Uncle Sam, S. 85; Zimmermann, Uncle Sam, S. 202f und Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 379f. 69 Vgl. ζ. B. v.Skal, Volk, S. 113-117 und Bruncken, Volksseele, S. 99-107. Vgl. allgemein und besonders im Hinblick auf die Städte und Unterschichten Below, Bilder, S. 130ff; Wolzogen, Dichter, S. 195ff; Zardetti, Westlich!, S. 134ff und Jensen, Reise, S. 162f sowie bei den Studien Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 642f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 207. 70 Vgl. u. a. Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 388-394; Wolzogen, Dichter, S. 196ff und Kleinschmidt, Bilder, S. 197ff sowie Polenz, Land, S. 33 lf.

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Auch auf diesem Feld ergab sich also ein ambivalentes Bild. Äußerlich war die Religiosität in den USA im Vergleich zu Europa deutlich stärker und sozial breiter verankert, stellte allerdings zugleich durch ihren „Öffentlichkeitscharakter" sozusagen eine „verdeckte" Säkularisierung dar. Offenbar stand hinter dieser Einschätzung ein spezifisch deutsches bzw. bürgerliches Verständnis von Religiosität, dem im folgenden zusammen mit den Hintergründen für die Einschätzung der amerikanischen Mentalitätsformen näher nachgegangen werden soll.

4. „Der Amerikaner" - Ein spezifisch deutscher Blick? Die Ambivalenz des Bildes von der amerikanischen „Volksseele" - der Begriff „Mentalität" war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch kaum gebräuchlich bzw. negativ besetzt 71 - ist offenkundig geworden. Ein Konglomerat aus verschiedensten Topoi, Stereotypen und (abweichenden) individuellen Wahrnehmungsmustern prägte die Amerikadebatte, die gerade in diesem Bereich besonders intensiv geführt wurde, meinte man doch hier den Schlüssel für das Verständnis der insgesamt doch recht fremden Gesellschaft jenseits des Atlantiks gefunden zu haben. Drei Aspekte verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit. Zum einen dominierten eindeutig „idealistische" Erklärungsansätze, d. h. mentale bzw. „ideelle" oder auch ideologische Prägungen schienen die Eigenarten der amerikanischen Gesellschaft stärker zu prägen als objektive Klassenlagen. Zugleich wurden diese nationalen Charaktereigenschaften in einem insgesamt stark historistisch geprägten Amerika-Bild vor allem aus der Geschichte abgeleitet und erklärt. Drittens fällt auf, daß gerade im Bereich der Mentalitäten erstaunlicherweise fast immer mit Europa insgesamt und nicht nur mit Deutschland verglichen wurde - mögliches Indiz für ein zumindest im Verhältnis zu den USA ausgeprägtes Europabewußtsein der Wilhelminer im Kontext mental-kultureller Prägungen. Dieses Bild amerikanischer Mentalitäten und daraus entspringender Verhaltensformen wirkte insgesamt sehr homogen, da im Unterschied zu Europa praktisch die gesamte Gesellschaft aufgrund des Fehlens von Klassenunterschieden von diesen Haltungen geprägt zu sein schien, wobei natürlich die Minderheiten der Schwarzen und Indianer wie auch der gerade erst eingewanderten Europäer davon ausgenommen waren - Indiz dafür, daß auch hier vor allem die weiße middle class im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Nimmt man die diachrone wie synchrone Vergleichsebene dieses deutschen Bildes vom „Amerikaner" um 1900 in den Blick, so ergibt sich erneut, daß die Sicht der Wilhelminer in ein recht kontinuierliches und europäisch dimensioniertes Amerikabild eingeordnet werden muß, vor dessen Hintergrund jedoch signifikante Unterschiede sichtbar werden. Der Grundzug des Materialismus-Vorwurfs prägte das deutsche Amerikabild bereits im gesamten 19. Jahrhundert und war vielleicht das Hauptklischee über den Amerikaner, wobei auffallend ist, daß damit vor allem der eigentliche „Yankee" der Neuenglandstaaten gemeint war, was zumeist auch für die wilhelminischen Berichte galt. Nur vor dem Hintergrund

71 Vgl. Sellin, Mentalität, S. 555ff.

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dieses sehr prägenden Stereotyps,72 das im übrigen auch bei den deutschen Auswanderern verbreitet war und zugleich dem Negativbild der südstaatlichen Propaganda im Bürgerkrieg entsprach, lassen sich die geschilderten Versuche einiger Autoren verstehen, gegen diesen Grundtenor relativierend anzuschreiben. Zugleich gilt es festzuhalten, daß dies nicht nur ein deutsches Stereotyp war, auch wenn es stark mit der deutschen kontrastierenden Selbststilisierung als „Volk der Dichter und Denker" zu tun hatte. Auch in England und Frankreich dominierte der Materialismus-Vorwurf viele Amerikaberichte und -Studien im 19. und auch 20. Jahrhundert. Der Topos von der „Dollarjagd" in Verbindung mit fehlender Neigung zu Kultur und Kunst und damit kultureller Monotonie findet sich demgemäß auch in englischen Reiseberichten von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit, ebenso die Vorstellung von der allgemeinen Prägung der amerikanischen Mentalität durch die Ökonomie, wobei allerdings auch die positiven Seiten der harten Arbeit, der allgemeinen Energie und konstruktiven Tatkraft, des Fortschrittsoptimismus, des Gleichheitsbewußtseins und damit des fehlenden Sozialneides im Hinblick auf erreichte individuelle Leistungen und Lebensstandards im Gegensatz zu Europa auffielen. 73 Ganz ähnlich wie bei den Wilhelminern stellten die Briten im Hinblick auf die amerikanische Religiosität auch eine auffallende Praxisorientierung als allgemeinen mentalen Grundzug der amerikanischen Gesellschaft fest, der für sie in diesem Kontext durch die vermeintlich fehlende Spiritualität und starke Betonung der patriotisch-sozialen Ebene ebenso gewöhnungsbedürftig war wie für die Deutschen und in ähnlicher Weise den scheinbaren Säkularisierungsvorsprung Europas auszugleichen schien. 74 Dieser Materialismus-Vorwurf, der zugleich das schon oben skizzierte Stereotyp von Amerika als „Eldorado" reflektierte und weiterentwickelte, fand sich fast noch massiver bei den französischen Autoren,75 so daß durchaus von einem spezifischen „Feindbild" europäischer Intellektueller gesprochen werden kann, für das die USA die Projektionsfläche abgaben,

72 Vgl. Brenner, Reisen, S. 298-307. 73 Vgl. Rapson, Britons, S. 65-75 und C. Mulvey: Transatlantic Manners. Social Patterns in NineteenthCentury Anglo-American Travel Literature. Cambridge u. a. 1990, S. 19-32 bzw. 103-120. Vgl. zur positiven Sicht amerikanischer Nationaleigenschaften auch den „Meinungsführer" Bryce, Amerika als Staat und Gesellschaft. Bd. 2, S. 201-209 u. 383f. 74 Siehe dazu Rapson, Britons, S. 144-160. 75 Vgl. für die Zwischenkriegszeit Grewe, Amerikabild, S. 161-201, bes. S. 186ff und für die Zeit nach 1870 Portes, fascination, S. 365-377, wo sich der Materialismus-Vorwurf besonders stark mit der Idee von der kulturellen Monotonie und Einförmigkeit Amerikas verband. So schrieb u. a. André Chevrillon: „ Die amerikanische Moral ist wie die ganze amerikanische Gesellschaft trotz puritanischer Restbestände stark kommerziell geprägt. In einem Land, in dem die Idee des Profits alle Seelen völlig gefangen nimmt und sich die Herrschaft nicht wie in Frankreich mit dem Traum von Ruhm und öffentlichen Ehrungen oder wie in England mit der Liebe zur Politik oder zu aristokratischen Vergnügungen teilen muß - in diesem Land, wo die Männer und bisweilen auch die Frauen nur vom Dollar reden, ist das absolut vorherrschende Ideal das des Kommerzes. ( . . . ) Und jede Sache wird in Begriffen des „Business" bewertet, jeder Dienst wird nach Dollars geschätzt." (André Chevrillon: Nouvelles études anglaises. Paris 1910, S. 165). Vgl. auch u. a. ebda., S. 164-168; Blondel, Deux mois, S. 14ff und Gros/Bournand, L'Oncle Sam, S. 14f u. 116f. Diese Tendenz gilt auch für die Zwischenkriegszeit. Vgl. dazu Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 267ff.

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wobei auffallend ist, wie lange sich dieses Bild bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt und teilweise noch fortbesteht. 76 Dies galt insbesondere auch für Deutschland, wo sich ähnliche Negativ-Stereotypen in den 20er und 30er Jahren fast unverändert finden, lediglich ergänzt um den Vorwurf der totalen „Vermassung" bzw. „Massenkultur", was um 1900 noch nicht im Zentrum der Debatte gestanden hatte.77 Diese Kontinuität galt allerdings auch für die positiven Eigenschaften der Amerikaner, so daß insgesamt der Erste Weltkrieg gerade in diesem Bereich kaum einen bedeutenden qualitativen Einschnitt ausmacht, sondern lediglich bestehende Tendenzen als Katalysator beschleunigte und verstärkte. 78 Überraschenderweise ergibt sich bei der Frage nach den Spezifika der wilhelminischen Sicht im Vergleich ein auffallend positiveres Bild als etwa bei den Franzosen, deren Ablehnung amerikanischer Lebenskultur und Mentalitäten offenkundig sehr viel ausgeprägter war, auch wenn ansonsten die beobachteten Grundzüge auffallende Ähnlichkeit mit den Beobachtungen der Wilhelminer aufwiesen und eher die Bewertungen insgesamt divergierten;79 damit verschob sich das französische Amerikabild vor dem Ersten Weltkrieg vor allem bei den konservativen Autoren von den bei den Wilhelminern teilweise so positiv herausgestrichenen Eigenschaften deutlich hin zu einer Dominanz negativer Urteilsmuster: Hektik, Lebenstempo, Mangel an „Kultur" und Geschichte, Materialismus und generell ein Denken in quantitativen Kategorien verbunden mit wachsendem Chauvinismus bestimmten als Negativbilder die französische Sicht sehr viel stärker und führten dazu, daß sich keiner der Reisenden einen längeren Aufenthalt in den USA als wünschenswert hätte vorstellen können. 80 Es sieht also ganz so aus, als sei das französische Amerikabild sehr viel kontinuierlicher tendenziell negativ gewesen, während sich die deutschen Meinungen stärker polarisierten, was dann durch die Niederlage des Weltkriegs und die dann ganz konkret werdende Frage nach dem Vorbild Amerika noch verschärft wurde und in heftige Auseinander-

76 Siehe dazu Chester, Europe, S. 122-126 und Woodward, Old World, S. 40ff sowie für die Zeit nach 1965: Paul Hollander: Anti-Americanism. Critiques At Home and Abroad 1965-1990. New York, Oxford 1992, S. 367-410, bzw. bes. 378-393, der allerdings auch deutlich macht, daß dieser Vorwurf auch von vielen amerikanischen Intellektuellen geteilt wurde. 77 Vgl. Buchwald, Kulturbild, S. 58-64 bzw. 46-51 sowie Deicke, Amerikabild, S. 20ff und Markham, Women, S. 66ff. Vgl. ferner zu den deutschen Emigranten nach 1933: Paul Dickson: Das Amerikabild in der deutschen Emigrantenliteratur seit 1933. Diss. München 1951, S. 87-90. 78 Vgl. zur Kontinuität positiver Einschätzungen wie Idealismus, Optimismus, Energie, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Ablehnung von Neid, Unternehmertum, individueller Freiheit etc. auch Buchwald, Kulturbild, S. 58ff u. 64ff sowie H. E. Huelsbergen: Ansichten über Amerika: Leitmotive in deutschen Reiseberichten aus den zwanziger Jahren. In: Yearbook of German-American Studies 17,1982, S. 32-44, bes. 42ff. 79 Vgl. als Beispiel für eine solche Zusammenfassung amerikanischer Mentalität aus französischer Sicht bei allerdings sehr ausgewogenem Urteil Dugard, La société américaine, S. 112-145 oder Gustave Lanson: Trois mois d'enseignement aux Etats-Unis. Notes et impressions d'un professeur français. Paris 1912, S. 5 8 - 8 2 bzw. Sauvin, Autour de Chicago, S. 167-188. 80 Vgl. ausführlich Portes, Une fascination, S. 138-145 u. 365-377. Zum allgemeinen Negativbild amerikanischer Umgangsformen in europäischen Augen im 19. Jahrhundert vgl. auch N. Harris: American Manners. In: Luedtke (Hg.), Making America, S. 14 Iff.

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Setzungen um den „Amerikanismus" als Modell führte. 81 Damit lag das Bild der Wilhelminer, zumindest was den Charakter des Amerikadiskurses als ganzen angeht, auch quer zum Trend des literarischen Amerikabildes in Deutschland, das - wie oben deutlich geworden ist - sich seit der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich verdüstert hatte und mit dem Modell von Kürnbergers „Amerikamüden" eher die aus deutscher bzw. europäischer Sicht negativen Eigenschaften thematisierte. Dabei muß allerdings immer wieder betont werden, daß das Negativbild des „Yankee" in vielen Reiseberichten analog zu diesem literarischen Trend durchaus stark dominierte; betrachtet man jedoch auch die Studien und die differenzierenden Berichte, so ergibt sich für die Debatte insgesamt ein im skizzierten Sinne ambivalentes Bild.

5. „Der Amerikaner" - Ein unbewußtes Selbstporträt der Wilhelminer? Es erstaunt zunächst durchaus, daß ein Vergleich mit der heutigen Forschung zum .American Character" interessante Übereinstimmungen ergibt und das Bild der Wilhelminer und Europäer bei aller Objektivitäts-Problematik solcher Urteilsmuster selbst aus heutiger Sicht überraschend realistische Züge trägt. In einem Forschungsüberblick weist L. S. Luedtke daraufhin, wie stark die Forschung die Einheitlichkeit und Konstanz amerikanischer Grundwerte und mentaler Dispositionen bis in die Gegenwart (soweit es die weiße Mittelklasse betrifft) trotz aller inneren Widersprüche zwischen „idealistischen" und „materialistischen" Orientierungen betont und damit das Bild der Mentalitäten als Phänomen der „langen Dauer" bestätigt.82 Verschiedenste Ansätze und Werteanalysen der bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzenden und sich dabei durchaus auch auf die Berichte und Wahrnehmungen der Europäer stützenden Erforschung amerikanischer Grundwerte und Mentalitäten haben dabei relativ konstante Dispositionen und Werthaltungen des „Durchschnittsamerikaners" ergeben, die sich teilweise erstaunlich mit den wilhelminischen Beobachtungen decken, so ζ. B.: Optimismus und Fortschrittsglaube, Wert aktiver Lebensgestaltung und persönlichen Erfolgs, Wert von Wissenschaft und Rationalität, Individualismus, Glaube an Chancengleichheit und Demokratie, Toleranz, Effizienz und Pragmatismus, Patriotismus und Konformität, Wert von Religiosität und öffentlich verbindlicher Moral bei deutlicher Ausrichtung auf lebenspraktische Fragen und weitgehende Ablehnung „reiner" Ideologien ohne Praxisbezug. 83

81 Allerdings gab es auch in Frankreich positivere, wenn auch vergleichsweise verhaltene Gegenstimmen zum amerikanischen Charakter. Vgl. dazu für die Zwischenkriegszeit Grewe, Amerikabild, S. 407-441 u. 516-538. Vgl. ansonsten zum französischen Antiamerikanismus auch Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 288-294 und Strauss, Menace, passim. 82 Vgl. L. S. Luedtke: The Search for American Character. In: Ders. (Hg.), Making America, S. 28ff. Vgl. dort auch die Fülle weiterführender Literatur, S. 30-34. 83 Vgl. ebda., S. 12-25 und den Überblick bei R. H. Gabriel: American Values. Continuity and Change. Westport, Conn., London 1974, S. 152-200 und A. Inkeles: Continuity and Change in the American National Character. In: S. M. Lipset (Hg.): The Third Century. America as a Post-Industrial Society. Chicago, London 1979, S. 389-416 sowie zur Konstanz des deutschen Amerikabildes in diesem Bereich Wuggenig, Amerikabild, S. 31-38.

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Dies sind natürlich vor allem positiv besetzte Werthaltungen, die aus europäischer Perspektive oftmals die schon teilweise genannten negativen Erscheinungen gebaren, aber es ist schon auffallend, wie in einer ganzen Reihe von deutschen Berichten, die durchaus vielfach Meinungsführer waren, ähnliche bzw. übereinstimmende Grundprinzipien und Werthaltungen auch in ihrem Nebeneinander von alten idealistischen „Pioniertugenden" und modernen materialistischen Werthaltungen des Industriezeitalters entdeckt wurden, auch wenn deren Bewertung in der Wirklichkeit oft anders als das amerikanische Selbstbild ausfiel. Dabei muß allerdings angemerkt werden, daß das Bild der amerikanischen Werte und ihrer gesellschaftlichen Realität bei vielen amerikanischen Intellektuellen ähnlich negativ und kritisch gezeichnet wurde und sich gerade die amerikanischen Intellektuellen vielfach als „Fremde" in der eigenen Gesellschaft empfanden. 84 Doch das positive amerikanische Selbstbild wurde, wie wir gesehen haben, ja auch vielfach durchaus von den deutschen Autoren übernommen, was sicher auch am Einfluß der Deutschamerikaner lag, die unter besonders starkem Assimilationsdruck standen und daher ihr tendenziell „verklärendes" Amerikabild auch an ihre deutschen Besucher weitervermittelten. Dazu kam, daß das Gilded Age eine Phase besonders extremer ökonomischer und technologischer Modernisierung war und eine Werteverschiebung hin zu „materialistischen" Grundhaltungen anstelle des Wertekanons einer noch überwiegend agrarischen Gesellschaft der Zeit nach 1776 trotz der Kontinuität vieler Prinzipien kaum verwundert. Es ließen sich daher die Abweichungen vom ursprünglichen idealistischen Credo stärker auch von außen wahrnehmen, was ja schon anhand der Beobachtung einer wachsenden gesellschaftlichen Hierarchisierung anstelle des postulierten Ideals der universalen Gleichheit sichtbar geworden ist. Doch es muß betont werden, daß die Mehrzahl der Autoren den historischen Kontext der amerikanischen Entwicklung nicht nur berücksichtigte, sondern in starkem Maße zur Erklärung von Kontinuität und Wandel nationaler „Charaktereigenschaften" heranzog, wobei zentrale Werte wie Pragmatismus, Utilitarismus, Fortschrittsglaube, aber auch Gemeinschaftssinn und breit verankerte Religiosität in erster Linie aus der kolonialen Vergangenheit abgeleitet wurden und weniger als Errungenschaften der Revolution figurierten. Dieser historistische Ansatz wurde ergänzt durch die spezifisch deutschen Ausprägungen der neu entstandenen „Völkerpsychologie", die Geschichte, Klima, Geographie und ethnische Entwicklung als Faktoren für die Herausbildung spezifisch nationaler kultureller Volkseigenschaften bestimmte, sichtbar anhand von Ausdrücken wie „Volksseele" oder „Nationalcharakter", die uns oben immer wieder begegnet sind.85 Gerade Autoren von Amerikabüchern wie der Geograph Friedrich Ratzel, der Kulturhistoriker Karl Lamprecht oder der Psychologe Hugo Münsterberg als Schüler des in der Völkerpsychologie damals besonders innovativen Wilhelm Wundt entwickelten zwar in sich unterschiedliche Theorien auf diesem

84 Vgl. dazu Trachtenberg, Incorporation, S. 154ff bzw. zur kritischen Reaktion auf die rapide Industrialisierung Amerikas in der Literatur S. 4 7 - 5 2 und zur Kontinuität dieser intellektuellen amerikanischen Selbstkritik nach dem 2.Weltkrieg auch Hollander, Anti-Americanism, S. 3-330. 85 Vgl. dazu E. Beuchelt: Ideengeschichte der Völkerpsychologie. Meisenheim a.G. 1974, S. 9 - 4 8 und W.D. Smith: Politics and the Sciences of Culture in Germany 1840-1920. New York, Oxford 1991, S. 115-128 u. 140-161. Zur Vorliebe für historische Erklärungsmuster vgl. auch Zmegac, Begriff, S. XVIf.

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Gebiet, doch verband alle Ansätze ein historistischer Kulturbegriff, der historische Entwicklungen und Ideen, kaum jedoch die gesellschaftliche und ökonomische Gegenwart, als wichtigste Prägefaktoren kollektiver Weltanschauung ins Zentrum rückte.86 Dies war zum Teil ein durchaus passender Schlüssel zu vielen Phänomenen amerikanischer mentaler Prägungen und ihrer lebensweltlichen Erscheinungsformen; so wird durchaus auch in der modernen Forschung die besondere Rolle der kolonialen Situation für mentale Prägungen wie Pragmatismus, Rationalismus, Glaube an die Lösbarkeit individueller wie kollektiver Problemlagen, eine geringe Neigung zu „unpraktischer" philosophischer Spekulation usw. betont; zugleich wird im Zusammenhang damit auch die puritanische Prägung der amerikanischen Kultur als Grundlage des Ideals eines religiös-moralisch und praktisch orientierten „common sense", der den Wilhelminern mit seinen Begleiterscheinungen wie Hilfsbereitschaft oder fehlendem Neid so vorbildhaft erschien, immer wieder hervorgehoben.87 Dennoch erscheint das Bild „des Amerikaners" insgesamt stärker durch spezifisch deutsche mentale Prägungen vorgeformt als durch die amerikanische Realität, was angesichts des hier im Zentrum stehenden Erkenntnisinteresses auch wichtiger erscheint. Dies läßt sich zunächst schon an Details festmachen, wie ζ. B. der oben gezeigten immer wieder beobachteten Naturzerstörung und Ressourcenverschwendung in den USA. Diese Naturverwüstung war in der Tat besonders während der Phase des Gilded Age extrem und mußte auch jedem Besucher auffallen. 88 Allerdings spricht einiges dafür, daß gerade die deutschen Beobachter für diese Wahrnehmung besonders empfänglich waren, denn in den französischen wie britischen Berichten scheint dieses Thema kaum näher angesprochen worden zu sein. Vor allem aber dürfte ein Gefühl für die Notwendigkeit des Naturschutzes, das um die Jahrhundertwende angesichts zunehmender industrieller Naturzerstörung besonders in Deutschland erwachte, für die breit wahrgenommene und eindeutig negativ beurteilte Naturzerstörung in den Staaten verantwortlich sein. Gerade im konservativen deutschen Bildungsbürgertum entwickelte sich daraus - neben sozialistischen oder aber philosophischen Ökologiekonzepten wie dem „Monismus" eines Ernst Haeckel - die sogenannte „Heimatschutzbewegung", die erstmals versuchte, konkret gegen Zersiedelung und industrielle Vernichtung der natürlichen Umwelt vorzugehen. Zugleich entstanden in diesem Umfeld viele Romane und Erzählungen - unter anderem auch von Wilhelm von Polenz - , die das traditionelle deutsche Bauerntum gegenüber großstätischer Dekadenz priesen und die Folgen eines „völkischen" Niederganges durch die moderne Industrialisierung vor Augen zu führen suchten. Daneben gewann im liberalen

86 Vgl. ausführlich zu Ratzel, Lamprecht, Wundt u. a. Smith, Politics, S. 115-128, 140-161, 187-192 und zum schillernden „Kultur"-Begriff und den verschiedenen sich um 1900 herausbildenden „Kulturwissenschaften" in Deutschland auch die Beiträge in dem Sammelband: vom Bruch u. a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900; darin besonders Ders. u. a.: Einleitung: Kultubegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, S. 9-25. 87 Vgl. dazu Münch, Kultur der Moderne, Bd. 1, S. 257-316. Vgl. zum prägenden amerikanischen Selbstbild als „Vorkämpfer" der Zivilisation und des Fortschritts in der Wildnis auch Trachtenberg, Incorporation, S. 26ff. 88 Vgl. u. a. Cashman, America, S. 255ff, der darauf hinweist, daß zwischen 1870 und 1900 ebensoviel Land erschlossen und bebaut wurde wie im gesamten Zeitraum der ersten Besiedlung von 1607 bis 1870. Vgl. zur „Erschließung" des Westens durch Technik und Industrie auch Sautter, Geschichte, S. 240-250.

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Bürgertum die „Lebensreformbewegung" ab den 1890er Jahren immer mehr an Boden, die gesunde Ernährung und Lebensweise und Befreiung des Individuums aus den „künstlichen" Fesseln der industrialisierten Welt mit dem Ziel einer Besinnung auf die natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz auf ihre Fahnen schrieb.89 Mochten diese Bewegungen insgesamt auch quantitativ recht gering gewesen sein, so machen sie doch ein gewandeltes Bewußtsein im Hinblick auf Umwelt und Natur deutlich, das sich gerade in den Reiseberichten der vorwiegend konservativen und liberalen Autoren niederschlägt, wobei Natur vor allem als historisch gewachsene „Kulturlandschaft" begriffen wurde - der Kontrast dieses Ideals zur amerikanischen Wildnis bzw. landschaftlichen Verödung durch Raubbau mußte also besonders hervorstechen. In diesem Bereich war insofern Amerika keinesfalls ein Vorbild, im Gegenteil: bei aller aus heutiger Sicht problematischen Verklärung deutscher bäuerlicher Traditionen, wie sie schon im Kapitel zur sozialen Mobilität sichtbar geworden ist, schien doch Deutschland den „natürlicheren" Weg in die industrielle Moderne zu gehen. Dies war zwar angesichts der massiven Naturzerstörungen durch die Industrialisierung im Kaiserreich sicherlich eine Illusion, doch gerade diese Illusion führt anschaulich vor Augen, wie stark Amerika eine Projektionsfläche für deutsche und besonders bürgerliche Ängste angesichts der dramatischen Modernisierungsschübe im eigenen Land bildete. Ein weiteres aufschlußreiches Feld für den Konnex durchaus realistischer Beobachtungen amerikanischer Realität und mentaler Prägung der Wilhelminer ist die kurz skizzierte Debatte über Religiosität und Säkularisierung in den Staaten. Viele Einzel- bzw. Gesamtbeobachtungen waren, wie wir gesehen haben, durchaus zutreffend, was insofern auch nicht verwundert, als sie gerade von Geistlichen nach längeren professionellen Aufenthalten festgehalten wurden. Die traditionelle kirchliche Vielfalt durch die Trennung von Kirche und Staat in den USA und die damit zusammenhängende sozial breitere Kirchlichkeit der weißen angelsächsischen Mehrheit im Vergleich zur Bevölkerung Europas ist auch in der Forschung immer wieder betont worden, ebenso die stark lebenspraktische Ausrichtung der Kirchen als Mittelpunkten sozialer Netzwerke bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bzw. Hierarchien. 90 Die Stärke amerikanischer Kirchlichkeit mußte zudem durch ihre intensive Expansion in Gestalt immer neuer „Sekten"gründungen am Ende des 19. Jahrhunderts besonders ins Auge springen, zumal auch die katholische Kirche durch die Einwandererströme aus Südund Osteuropa um 1900 erstmals stark an Boden gewann und sogar im genuin protestantisch geprägten Amerika zur quantitativ größten Einzelkonfession aufstieg.91 So sehr wichtige Züge amerikanischer Religiosität trotzt des selektiven Blickes, der beispielsweise die Religiosität der Schwarzen gar nicht beachtete oder aber rassistisch abwertete, richtig gesehen und auch im Vergleich zu Europa erstaunlich genau registriert wurden, muß doch die Basis

89 Siehe zu dem gesamten Komplex der Naturvorstellungen im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts J. Hermand: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins. Frankfurt/M. 1991, S. 39-99, hier bes. zum Heimatschutz-Bund und zur Lebensreformbewegung S. 82-99. 90 Vgl. zur Geschichte der Religion bzw. der Kirchen in den USA und ihrer sozialen wie regionalen Unterschiede: G. Apel-Birnbaum: Protestantismus oder Pluralismus? Religion in den USA. In: Unger (Hg.), Mythen, S. 159-214. Siehe dazu auch im Vergleich zu Europa Münch, Kultur der Moderne, Bd. 1, S. 257-279. 91 Vgl. Apel-Birnbaum, Protestantismus, S. 186ff und allg. Schlereth, Victorian America, S. 260-265.

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der Beurteilung in den Entwicklungen in Deutschland gesucht werden. So ist es kein Zufall, daß gerade das Problem der Säkularisierung immer wieder im Zentrum der Berichte und Studien stand, gilt doch die zweite Jahrhunderthälfte und besonders das späte 19. Jahrhundert in Deutschland und in anderen hochindustrialisierten Teilen Europas als Phase extremer Säkularisierungsschübe in fast allen sozialen Schichten, besonders aber in den städtischen Unterschichten und Arbeiterkreisen wie auch gerade bei den „Gebildeten", also in tonangebenden Kreisen des Bürgertums.92 Gerade im (vorwiegend protestantischen) Bildungsbürgertum, 93 zu dem die Mehrzahl der Autoren gehörte, brachte die wissenschaftliche „Entzauberung" der Welt einen deutlichen Schub an Entkirchlichung und Säkularisierung besonders bei den Männern mit sich, auch wenn selten ein „totaler" Religionsverlust bzw. Atheismus an die Stelle der alten spirituellen Bindungen trat. Der Grundstock traditioneller Überlieferung blieb durchaus erhalten, aber eine Fülle neuer Formen und Ansätze religiöser Weltdeutung vor allem im Umfeld des Protestantismus ließ die Anziehungskraft der traditionellen Kirchen verblassen und nach neuen Wegen transzendenter Weltdeutung suchen. Insofern wäre es irreführend, gerade im Vergleich zu den USA von dezidiert „areligiösen" Eliten in Deutschland oder Europa zu sprechen; vielmehr war dezidierter Atheismus auch in Deutschland durchaus untypisch, und die Situation zunehmender neuer religiöser Splittergruppen im Kaiserreich ähnelte den Tendenzen in den USA mehr, als viele Wilhelminer wahrhaben wollten.94 Dies galt auch für den Bereich der angeblichen mangelnden Spiritualität amerikanischer Religiosität; gerade dieser Bereich, der zumindest im Hinblick auf das Individuum kaum von außen zureichend beurteilbar war, vermittelt mehr über Entwicklungen bürgerlicher Religiosität in Deutschland als in den USA, denn auch für Deutschland - und Frankreich - sind im wachsendem Maße ritualisierte bzw. „zivilreligiöse" und „praktische" Formen von Religiosität festgestellt worden, die am Ende des Jahrhunderts zunehmend ideologische Konstrukte wie „Nation", „Bildung", „Kunst", „Familie" oder „Arbeit" in den Mittelpunkt rückten.95 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, das Panorama von Konfession und Religiosität in Deutschland und den USA zu entfalten; vielmehr gilt es festzuhalten, daß die Wahrnehmung amerikanischer Religiosität trotz auffallend realistischer Beurteilungen wie der der insgesamt stärkeren Säkularisierung in Deutschland bzw. Europa in erster Linie von mentalen Entwicklungen im deutschen Bürgertum geprägt wurde. So stellt sich hier die Frage, wie

92 Siehe dazu T.Nipperdey: Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900. In: HZ 246,1988, S. 602-605 sowie Ders.: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918. München 1988, S. 118-142. Vgl. besonders zum Bürgertum auch L. Hölscher: Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert. In: HZ 250, 1990, S. 596-607 bzw. Ders.: Säkularisierungsprozesse im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Ein Vergleich zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft. In: Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, S. 238-258. 93 Zur sozialen Struktur der beiden großen Konfessionen in Deutschland vgl. Nipperdey, Religion und Gesellschaft, S. 610ff. 94 Vgl. dazu Höltscher, Religion, S. 621-627 und Nipperdey, Religion und Gesellschaft, S. 606ff bzw. ausführlich ders., Religion im Umbruch, S. 124-153. 95 Vgl. Nipperdey, Religion und Gesellschaft, S. 609ff. Vgl. für den deutsch-französischen Vergleich auch G. Motzkin: Säkularisierung, Bürgertum und Intellektuelle in Frankreich und Deutschland während des 19. Jahrhunderts. In: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 141-171, hier bes. S. 161ff.

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die Mentalität der Wilhelminer generell in der Forschung beurteilt worden ist, um die skizzierten Beispielfälle in ein Gesamtbild der Beurteilung amerikanischer Mentalitäten einordnen zu können. Dabei ist aufgrund verschiedenster Quellen ein Bild vom wilhelminischen Bürgertum entstanden, das auf eine Extremform von „closed mind" im oben skizzierten Sinne schließen läßt. So sind beispielsweise auf der Basis von Autobiographien mentale Grundmuster wie „Assimilation" (als Wechselspiel von Anpassung und Ausgrenzung zur Herstellung sozialer Identität), „Aggressivität" (als Ausgrenzung von Minderheiten), „Autoritätsfixierung" (als mentale Ausrichtung auf den starken Staat und seine militärischen Repräsentanten) und „Harmonieorientierung" (als Verdrängung der sozialen Brüche innerhalb der Gesellschaft und als Illusion sozialer und nationaler Einheit) festgestellt worden, die eine prinzipielle mentale und ideologische Ablehnung der Moderne im Sinne der westeuropäischen Aufklärung erzeugt hätten.96 Manifest anhand des Niedergangs bzw. der „rechten Wende" des Liberalismus in Deutschland nach 188097, anhand von „Untertanenmentalität" (für die Heinrich Manns berühmter Roman „Der Untertan" das literarische Ebenbild abgab98), von Antisemitismus, von „integralem", d. h. bedingungslosem Nationalismus, von Militarismus und Kriegsmentalität, von Sozialdarwinismus etc. entsteht das düstere Bild einer antimodernen Gesellschaft und eines durch die ökonomische Modernisierung zutiefst verunsicherten Bürgertums, das die genuin bürgerlichen Werte gesellschaftlicher und politischer Emanzipation in einer Allianz mit den herrschenden adligen Eliten im Gegensatz zu England und Frankreich aufgegeben und folgerichtig den Ersten Weltkrieg als vermeintliche Lösung der unaufhebbaren Widersprüche zwischen der Dynamik ökonomischer und der Erstarrung politisch-gesellschaftlicher Entwicklung herbeigeführt bzw. begrüßt habe. 99 Diese mentalen und ideologischen Dispositionen wurden dabei besonders für das Bildungsbürgertum hervorgehoben, das damit seine durch den Verlust gesellschaftlichen Prestiges

96 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 155-176. 97 Siehe dazu vor allem Η. A. Winkler: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79. In: Geschichte und Gesellschaft 4, 1978, S. 5-28. 98 Siehe dazu R. Alter: Heinrich Manns Untertan - Prüfstein für die .Kaiserreich-Debatte'? In: Geschichte und Gesellschaft 17, 1991, S. 370-389. 99 Siehe dazu vor allem H.-U.Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 6 1988, bes. S. 105-140 und 192-211; ferner jüngst C. Berg/U.Herrmann: Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870-1918. In: Berg (hg.), Handbuch, S. 10-20 und zur Entwicklung vom Patriotismus zum aggressiven Nationalismus im deutschen Bürgertum: B. Giesen/K. Junge: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der „Deutschen Kulturnation". In: B. Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/M. 1991, S. 255-303. Vgl. zur bürgerlichen „Kriegsmentalität" auch die Beiträge in J. Dülffer/K. Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Göttingen 1986. Vgl. ferner zur Analyse der (bürgerlichen) nationalistischen Verbände und ihrer Politik: G. Eley: Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck. New Haven, London 1980, hier besonders S. 184ff und P. Hampe: Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung. In: Vondung (Hg.), Bildungsbürgertum, S. 67-79 sowie zum Konezpt des „integralen" Nationalismus im internationalen Vergleich auch P. Alter: Nationalismus. Frankfurt/M. 1985, S. 43-60.

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und der Überfüllung des akademischen Arbeitsmarktes bedingte tiefgehende Identitätskrise 100 habe „kompensieren" wollen und ganz bewußt den antidemokratischen Weg durch Ausgrenzung von „Reichsfeinden" wie der Arbeiterschaft bzw. Sozialdemokratie und Minderheiten wie den Juden und Katholiken (in Preußen) gewählt habe. Dazu kam eine Stilisierung einer spezifisch „deutschen Kultur", die in einer prinzipiell apolitischen Grundhaltung durch die Hypostasierung subjektiver Innerlichkeit „Gemeinschaft" jenseits der Klassenund Parteiengegensätze der modernen „Gesellschaft" stiften sollte und sich damit dezidiert gegen die Formen „westlicher Zivilisation" - inkarniert im „Erbfeind" Frankreich und im Rottenrivalen England - wandte.101 Die westliche Zivilisation der Aufklärung im Sinne der „Ideen von 1789" wurde dabei zumeist als unmittelbare Bedrohung der deutschen Kultur betrachtet und eine Übernahme der Prinzipien westlicher „Gesellschaften" im Sinne politischer und soziokultureller Modernisierung mit einem Verfall von Kultur generell gleichgesetzt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß sogar eindeutig kritische und keineswegs generell modernisierungsfeindliche Intellektuelle102 wie die zum Weber-Kreis in Heidelberg gehörenden Soziologen und Sozialphilosophen Max und Alfred Weber, Werner Sombart, Georg Simmel, Georg Lukacs, Karl Jaspers u. a. die moderne Gegenwart primär als Kulturverfall der bürgerlichen Lebensform interpretierten. Im Gegensatz gerade zu den amerikanischen Denkern der „New School for Social Research" im Rahmen des „Progressivism" wie John Dewey u. a., die am bürgerlichen Fortschrittsparadigma pragmatisch festhielten, wurde hier eine negative Dialektik der modernen Kultur entworfen, die die zunehmende Spaltung von Individuum und Welt als „Tragödie" der gesellschaftlichen Modernisierung zum zentralen Leitbild machte. Die Zukunft der modernen Bürgerlichkeit lag für die deutschen Intellektuellen daher allein in kulturellen Gegenwelten (wie Liebe, Kunst, Religion etc.), die den entfremdenden Modernisierungstendenzen und -folgen wie Bürokratisierung, Domestizierung, Rationalisierung usw. diametral zuwiderliefen und ihnen zugleich gegensteuern sollten, während die Amerikaner charakteristischerweise diese Bereiche nicht als Gegenwelten, sondern als Mittel zur Verbesserung der modernen Gesellschaft innerhalb der geltenden Modernisierungsleitbilder begriffen. 103

100 Vgl. u. a. Κ. H. Jarausch: Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Kocka(Hg.), Bildungsbürgertum, S. 180-205. 101 Vgl. dazu F. K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. Stuttgart 1983, passim, hier bes. S. 12-22 u. 82-86 bzw. zum „Erbfeind" Frankreich: M. Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918. Stuttgart 1992, S. 262-279. 102 Vgl. zur umstrittenen und vielfach angefeindeten Rolle der „Intellektuellen" im Kaiserreich allgemein den Band von Hübinger/Mommsen, Intellektuelle im Kaiserreich, passim; darin besonders G. Hübinger: Die Intellektuellen im wilhelminischen Deutschland. Zum Forschungsstand, S. 198-210. 103 Vgl. dazu ausführlich F. Jaeger: Bürgerlichkeit. Deutsche und amerikanische Philosophien einer Lebensform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: K. Tenfelde/H.-U.Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums. Göttingen 1994, S. 171-206 sowie zur charakteristischen, vielfach „apolitischen" Aufladung des Kulturbegriffs als eines universalen, vielfach inflationär gebrauchten Leitbilds im späten Kaiserreich Hübinger, Die Intellektuellen, S. 198-210.

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Richten wir den Blick wieder auf den „typischen Bürger" des Kaiserreichs, so zeigt sich allerdings in neueren Studien, daß das allgemeine Mentalitäts-Bild vom illiberalen, modernisierungsfeindlichen, autoritär veranlagten und zivilisationskritischen deutschen Bürger des Kaiserreichs zu einseitig gezeichnet worden ist. So sind jüngst verschiedene moderne Elemente der wilhelminischen Gesellschaft und der gesellschaftlichen Kultur des deutschen Bürgertums deutlicher hervorgehoben worden. Zu diesen modernen Elementen gehörten u. a. die Leistungen des Bürgertums im Bereich der Sozialreform 104 und der städtischen Kommunalpolitik bzw. Selbstverwaltung, die alternativen Emanzipations-Bewegungen im Bereich der Frauenbildung oder Lebensreform, ferner die Existenz und der wachsende Einfluß einer kritischen Literatur und Presse sowie eine wachsende Stärke der SPD; 105 ebenso wurde das vermeintlich liberale Vorbild England, von dem sich dieser illiberale „deutsche Sonderweg" abzuheben schien, massiv in Frage gestellt.106 Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch die rechte Wende des Liberalismus und der vermeintlichen Mangel an liberaler Bürgerlichkeit unter Hinweis auf die im Vergleich zu Westeuropa ungleich komplizierteren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Frage gestellt worden.107 Insofern hat sich inzwischen in der Forschung ein eher ambivalentes Bild vom wilhelminischen Bürgertum ergeben, in dem aus heutiger Sicht „modernistische" und „traditionalistische" bzw. progressive, auf Veränderung drängende und extrem konservative Strömungen nebeneinander stehen - ein Befund, der durch die hier skizzierten Wahrnehmungsmuster der amerikanischen Gesellschaft und der darin enthaltenen Selbstwahrnehmung variiert und im Kern bestätigt wird. Zu einer vornehmlich negativen (und damit zumeist primär politisch orientierten) Diagnose, die den Mangel an Liberalität, den Rückzug auf antimoderne und antiemanzipatiorische Ideologien, die Dominanz von innen- wie außenpolitischen Feindbildern und die Abkehr von den genuin bürgerlichen Werten der Zeit nach der Französischen Revolution im deutschen Bürgertum um 1900 in den Vordergrund stellt, liegt das gesellschaftliche AmerikaBild jedenfalls eindeutig quer. Es kann hierbei nicht darum gehen, dieses Bild völlig in Frage zu stellen, im Gegenteil: Auch im Amerika-Bild finden sich, wie wir oben gesehen haben, Züge, die eindeutig in diese Richtung gehen wie ζ. B. der Vorwurf des Materialismus und Utilitarismus oder auch ein typisch sozialdarwinistisches Denken, das Schwarze und India-

104 Vgl. dazu ausführlich R. vom Bruch: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich. In: Ders. (Hg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985, S. 61-179. 105 Siehe dazu vor allem Nipperdey, Nachdenken, S. 172-185 und R. vom Bruch: Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich - Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur. In: Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum, S. 151ff, 168ff u. 174ff. 106 Vgl. D. Blackbourn/G. Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Frankfurt/M. u. a. 1980 sowie allg. zur .Kaiserreich-Debatte" J. N. Retallack: Social History with a Vengeance? Some Reactions to H.-U. Wehler's ,Das Deutsche Kaiserreich'. In: German Studies Review 7, 1984, S. 4 2 3 ^ 5 0 . 107 Siehe dazu den Band von D. Langewiesche (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Göttingen 1988, darin besonders Ders.: Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich. Konzeptionen und Ergebnisse, S. 11-19 und J. J. Sheehan: Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?, S. 28^*4.

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ner, aber auch europäische Einwanderer aus Süd- und Osteuropa in rassistischer Argumentation als „minderwertiges Menschenmaterial" abwertete und die eigene Rasse bzw. Nation zur allgemein menschlichen Norm hochstilisierte - allerdings muß einschränkend dabei betont werden, daß dies im Zeitalter des Imperialismus nicht als spezifisch deutsche Eigenschaft angesehen werden kann, sondern auch in Frankreich und England und ganz besonders auch in den USA selbst verbreitet war, sichtbar anhand des Genozids an den Indianern im 19. Jahrhundert, der legalisierten Unterdrückung der Schwarzen und der fremdenfeindlichen Bewegungen (wie der „Know-Nothings" oder des „Nativism"), die die wachsende Einwanderung aus Europa und Asien zu stoppen versuchten.108 Andererseits fällt auf, wie erstaunlich positiv amerikanische Mentalitäten beurteilt worden sind, ein Umstand, der kaum in das Muster der „autoritären Persönlichkeit" oder der Aggressivität gegenüber dem Fremden im weitesten Sinne passen will, zumal auch die Ablehnung westlicher Zivilisation sich im Hinblick auf die USA abgesehen vom allgemeinen Vorwurf der Kulturlosigkeit offenbar in Grenzen hielt und sich vorwiegend auf die unmittelbaren westeuropäischen Konkurrenten bezog. Gerade die amerikanische Gesellschaft gab zu erstaunlicher gesellschaftlicher Selbstkritik Anlaß, wie das schon in den beiden ersten Abschnitten zur Gesellschaft und Wirtschaft immer wieder sichtbar geworden ist, im Bereich der Mentalitäten aber um so auffälliger in Erscheinung tritt und auch in deutlichem Kontrast zum insgesamt eher negativen französischen Amerikabild steht. So sehr einzelne Berichte massive Abwehrhaltungen einnahmen und damit das von der kritischen Forschung her zu erwartende Bild der „closed mind" bestätigen, so offen gestaltete sich die Amerikadebatte insgesamt und gerade die Meinungsführer des Diskurses zeichneten sich durch Ausgewogenheit und selbstkritische Einschätzungen aus. Dazu kam, daß das Meinungsbild keineswegs berufs- oder zeitspezifisch eingeschränkt werden muß; vielmehr verteilen sich die Argumente trotz leichter Dominanz bildungsbürgerlicher Stimmen relativ gleichmäßig über alle Berufe und im gesamten Zeitraum. Damit werden Ambivalenzen sichtbar, die durch die Erschließung von Quellen zur gesellschaftlichen Fremdwahrnehmung Kontur gewinnen, wo die Schwerpunktsetzung auf reine Selbstwahrnehmung wie im Fall der Autobiographien ein insgesamt eher einseitiges Bild zeichnet, so wichtig und richtig viele Züge dieser Analyse auch sind. Dabei wird auch deutlich, wie stark trotz aller illiberaler Tendenzen genuin bürgerliche Werte zumindest unterschwellig weiterwirkten, was sich nicht zuletzt in der positiven Einschätzung von Unternehmertum („Hilf-Dir-Selbst-Prinzip"), Fortschrittlichkeit, freier individueller Entfaltungsmöglichkeit, „Energie" und in der Ablehnung geburtsrechtlicher Privilegien dokumentiert. Ebenso wirkten im Materialismus- und Utilitarismus-Vorwurf allerdings auch deutsche Traditionen des Idealismus fort, der für die Weltanschauung des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert außerordentlich prägend gewesen ist.109

108 Siehe dazu Cashman, America, S. 102-109 und G. Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Bd. 2: Vom Bürgerkrieg zum New Deal 1860-1930. Weinheim, Berlin 1988, S. 271-275. Vgl. generell auch Hobsbawm, Age of Empire, S. 152-162. Vgl. zur ähnlich negativen Sicht der „neuen Einwanderer" bei den französischen Reisenden Portes, Une fascination, S. 304-308. 109 Vgl. u. a. Ringer, Die Gelehrten, S. 79-95.

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Daß diese Vorwürfe allerdings so stark geäußert wurden, hing gerade mit signifikanten Veränderungen der deutschen Mentalität im Kaiserreich zusammen, die die These stützen, daß das mentale Amerikabild vor allem ein indirektes Selbstporträt der Wilhelminer gewesen ist. Insofern kritisierten die deutschen Beobachter am amerikanischen Beispiel mehr oder weniger bewußt vor allem die Tendenzen eines wachsenden Materialismus in der deutschen Gesellschaft und besonders im Bürgertum, wie er ebenso wie die massive antimaterialistische „Gebildetenrevolte" von der sozialhistorischen und geistesgeschichtlichen Forschung immer wieder betont worden ist.110 Hintergrund war eine in mancher Hinsicht durchaus parallele ökonomische Entwicklung in den USA und in Deutschland, die oben schon angeklungen ist. In diesem Zusammenhang ist auch die eigentümliche Traditionslosigkeit des deutschen Kaiserreichs in Analogie zu den USA hervorgehoben worden; so schreibt Hellmuth Plessner aufschlußreich: „Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wandelt sich das amerikanische Kolonisatoren- und Pionierbewußtsein zum Staatsbewußtsein, erst Weltkrieg und Nachkriegszeit prägen die Vereinigten Staaten zu einem Großstaat (...) Auch Deutschland ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in gewissem Sinne Neuland. Sein Industrialismus braucht sich nicht gegen ein altes Staatsgefüge durchzusetzen. Der politische Apparat des Reiches ist nicht älter als er. Genauer gesagt: die politische Daseinsform und die Idee des neuen Reiches sind es nicht."111 Daraus ergab sich eine starke Suche nach historischer Bindung und Rechtfertigung,112 die nicht nur äußerlich im historistischen Bau- und Wohnungsstil des Wilhelminismus zum Ausdruck kam, sondern auch in der Wahrnehmung Amerikas immer wieder sichtbar geworden ist anhand der stark historisch-idealistisch angelegten Erklärungsansätze zur amerikanischen Mentalität, vor allem aber anhand der besonderen Betonung deutscher (bzw. europäischer) Kulturtradition und -geschichte im Gegensatz zum kulturell „monotonen" und „uniformen" Amerika. So wird man nicht fehlgehen, wenn man in der Kritik Amerikas vor allem das eigene „Unbehagen in der Kultur" des wilhelminischen Deutschland ausgedrückt findet, das in dem Maß um so deutlicher hervortritt, als es verdeckt in der Kritik am Fremden geäußert wird. Dieser Umstand zeigt sich an Details wie der Wahrnehmung des gesteigerten Lebenstempos, der Hektik und Nervosität des amerikanischen Lebensstils, die nur zu gern übersah, in welchem Ausmaß gerade das wilhelminische Deutschland und besonders seine bürgerlichen Führungsschichten vom gleichen Problem wachsender Nervenkrankheiten infolge von Überreizung, Streß und unverarbeitetem Modernisierungsdruck betroffen waren.113 Das „Unbehagen in der (eigenen) Kultur" wird aber auch daran deutlich, daß man als allgemeines Deutungsmuster gegen eine solche Modernisierungsbedrohung das Alter und die Tiefe der europäischen Kultur gegen die „Oberflächlichkeit" amerikanischer Lebensformen ins Feld führte. Dadurch wird auch die zunächst erstaunliche europäische Dimension des deutschen Kulturbewußtseins erklärlich, denn sie

110 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 24f und H. Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 2 1959, S. 80ff. 111 Plessner, verspätete Nation, S. 83. 112 Vgl. ebda., S. 84-91. 113 Vgl. dazu die Analyse zur Realität wie zum Diskurs des „nervösen Zeitalters" um 1900 J. Radkau: Die wilhelminische Ära als „nervöses Zeitalter", oder: Die Nerven als Netzwerk zwischen Tempo- und Körpergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, S. 211-241.

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vermittelte in potenzierter Form eine historische Dimension, die im neuen Reich verlorenzugehen drohte. Der Gedanke einer Zugehörigkeit zur in der Antike und im Christentum verwurzelten uralten Kultur Europas stiftete somit einen übergreifenden Sinn, der in der rapide sich wandelnden Welt abhanden zu kommen schien - wir werden darauf im Kapitel zum kontinentalen Vergleich noch zurückkommen.114 Das Amerikabild der Wilhelminer erweist sich so vor allem im Bereich der Beurteilung mentaler Haltungen und ideologischer Weltanschauungen als Spiegel bürgerlicher Verunsicherung während des Kaiserreichs, die allerdings nicht nur aggressive oder rückwärtsgewandte Züge aufwies, sondern die amerikanische Gesellschaft in vielerlei Hinsicht als Vorbild für gesellschaftliche Modernisierung begriff. Die „Pionier"-Tugenden wie „common sense", Hilfsbereitschaft, Offenheit usw. empfahlen sich als Utopie für eine in Klassen und sozialen Gegensätzen erstarrte Gesellschaft, deren Strukturen den deutschen Beobachtern gerade vor dem Hintergrund der persönlichen Erfahrung Amerikas besonders bewußt wurden. Viel mehr als bisher angenommen wirkte daher der utopische Charakter Amerikas auch im Denken der Wilhelminer weiter; man begegnet hier gewissermaßen der „offenen Seite" einer durch Industrialisierung und Säkularisierung, durch Bevölkerungs- und Großstadtwachstum, durch den Aufstieg der Arbeiterschichten und die Verschärfung der sozialen Frage zutiefst verunsicherten bürgerlichen Mentalität, die Halt suchte in „Ersatzreligionen", die zwar in wesentlicher Hinsicht rückwärtsgewandt und konservativ waren, die aber durchaus auch utopische Momente enthielten. Und diese utopischen Momente bestanden nicht nur in der aggressiven Vorstellung sozialdarwinistischer „Auslese" der Stärksten - so prägend dieses Muster im Konglomerat der Sinnstiftungen einer unüberschaubar gewordenen Welt auch gewesen sein mag 115 - , sondern auch in der Idee emanzipatorischer Überwindung der Klassengesellschaft, die zugleich durchaus auch die ökonomische Effektivität steigern sollte. Insofern wird deutlich, wie sich Beharrungskraft und Wandel genuin bürgerlicher Mentalitäten und Werthaltungen in einer Zeit beschleunigter sozioökonomischer Modernisierung mischten. Im Amerikabild spiegelten sich so die ursprünglich bürgerlich-emanzipatorischen Ansätze wie auch konservative und zugleich aggressive Deutungsmuster, die eine bedrohlich gewordene Welt mit ihrer Vielzahl innerer wie äußerer Feinde zu bannen suchten. Damit wird das bestehende Bild dominierender Aggressivität, Autoritätsfixierung, sozialer Ausgrenzung und anbiedernder Anpassung an den Adel zumindest im Hinblick auf die gesellschaftliche Fremdwahrnehmung durchaus relativiert, zugleich hinsichtlich der festgestellten Harmonieorientierung im wilhelminischen Bürgertum jedoch auch bestätigt. Die amerikanische Gesellschaft schien, wir haben das oben mehrfach festgestellt, trotz aller Brüche und Probleme insgesamt eine im bürgerlichen Sinne im Vergleich zu Deutschland oder Europa „harmonische" Gesellschaft zu sein, auch wenn dieser Blick natürlich nur das weiße Amerika sah. Aus dieser Wahrnehmung erklärt sich zu einem wichtigen Teil die zunächst unerwartete positive Bewertung amerikanischer gesellschaftlicher und mentaler

114 Vgl. zum kulturellen Europabewußtsein der Deutschen im Kaiserreich auch Jeismann, Vaterland, S. 280-295. 115 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 48ff und H.-U.Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. 2 1979, S. 281-289.

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Verhältnisse quer durch die politischen Lager, entsprach sie doch dem seit dem Jahrhundertbeginn tief im deutschen Denken eingewurzelten Bedürfnis nach „Gemeinschaft" in der Gesellschaft, wie es oben schon angeklungen ist." 6 Dies wirkte um so stärker, als trotz der Fülle fremder Einwanderer der amerikanische Grundkonsens im Hinblick auf die Vorbildhaftigkeit der eigenen Verfassung eine erstaunliche Homogenität erzeugte, wogegen in Deutschland der Nationalismus gerade deshalb so aggressiv und „total" wurde, weil die sozialen wie mentalen Gegensätze zwischen den Deutschen durch die Industrialisierung immer stärker aufbrachen und sich schließlich mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs in der Revolution entluden. Diese Bedrohung gesellschaftlicher Spaltung nach innen wie auch die Kriegsgefahr nach außen in einem politisch zerrissenen bzw. massiv konkurrierenden Europa ließen die erstaunlichen Integrationsleistungen des „Koloniallandes" Amerika als Vorbild bzw. als eine Art Ausweg erscheinen, wobei hinzuzufügen ist, daß dies sicherlich auch daran lag, daß viele Deutsche diesen Ausweg ganz konkret gewählt und gesellschaftlichen Erfolg in den USA gehabt hatten - die zahlreichen Kontakte der wilhelminischen Reisenden zu erfolgreichen Deutschen in den USA bzw. zu Deutschamerikanern dürften also nicht unerheblich zu diesem positiven Bild beigetragen haben. Amerika schien trotz aller Hierarchisierungstendenzen damit die Kontinuität einer genuin bürgerlichen Utopie sozialer Harmonie zu garantieren, die um so vorbildhafter erschien, als sie die sozialistische Bedrohung aufhob und die Klassenkonflikte Deutschlands bzw. Europas obsolet werden ließ, obwohl schärfere Beobachter eher den Umkehrschluß zogen. So erkennt man auch im Muster der gesellschaftlichen Harmonieorientierung die Ambivalenz einerseits konservativer, andererseits aber auch emanzipatorischer Werthaltungen, die potentiell verborgen lagen, in den innerdeutschen wie europäischen Konflikten zunehmend verschüttet wurden, in der Konfrontation mit der alten und stellenweise auch eingelösten „Utopie Amerika" aber deutlich zutage traten. Dieser Umstand verweist darauf, daß die Wilhelminer keineswegs nur Anti-Modemisten waren, im Gegenteil: Sie wollten sogar in vieler Weise besonders „modern" sein, wenn auch im Konflikt mit dem Wunsch nach Bewahrung traditioneller sozialer und politischer Steuerungsmechanismen.117 Die USA gaben für diesen Willen zur Modernität angesichts der enormen Expansion und wirtschaftlichen Erfolge durchaus ein Modell ab, hinter dem die oben vorgestellte Modernisierungsdebatte zum Vorschein kommt. Dies betraf implizit die Modernisierung der eigenen Werte, und vor allem Prozesse der Individualisierung und Domestizie-

116 Vgl. dazu Münch, Kultur der Moderne, Bd. 2, S. 804-815 und Berg/Herrmann, Industriegesellschaft, S. lOf. 117 Vgl. Alter, Heinrich Manns Untertan, S. 378f und Berg/Herrmann, Industriegesellschaft, S. 22, wo es aufschlußreich zu den Ambivalenzen des späten Kaiserreichs heißt: „In der wilhelminischen Ära stehen nebeneinander der Antimodernismus und die Hinwendung zur Moderne, kaiserliche Kunstpolitik und Secessionen, Militarismus und Friedensbewegung, Technikbegeisterung und Wissenschaftskritik, Weltläufigkeit und bornierter Nationalismus, volkstiimelige Sehnsucht in die Vergangenheit und Avantgarde, Frauenemanzipation und Minderheitendiskriminierung, Faszination der Großstadt und Sehnsucht nach .Natur', ästhetisches Raffinement und Sehnsucht nach dem .Echten', nihilistischer Relativismus und Sehnsucht nach dem .Wahren', Irreligiosität und Suche nach .letzten Wahrheiten', Spießbürgerlichkeit und Libertinage, Autoritätsfixierung und Anarchismus."

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rung wurden hier unbewußt ins Zentrum gerückt, wobei der Kontext der Individualisierung als Zerfall übergeordneter Sinndeutungsmuster und als dadurch bedingte „Krise des Selbstbewußtseins" hier besonders deutlich wird. So positiv die amerikanische Freiheit als Fehlen von Klassengesellschaft und Steigerung individueller Entfaltungsmöglichkeiten immer wieder hervorgehoben wurde, so gefährlich schien den Wilhelminern ein „Modernisierungsweg" ohne staatliche Steuerungsvorgaben und die Gültigkeit öffentlich allgemein verbindlicher Normen und Werte - gespiegelt im Vorwurf des Materialismus und Utilitarismus, die vor allem als individuelle Profitgier zum Schaden der Gesamtgesellschaft interpretiert wurden, so sehr man sich andererseits der Ausstrahlung des Erfolgs großer Unternehmer in den USA kaum entziehen konnte. Diese Angst vor dem Verblassen übergreifender gesellschaftlicher Normen fand sich auch in der Bewertung amerikanischer Religiosität, die scheinbar in Einzelsekten mit rein sozialer Ausrichtung ohne verbindenden spirituellen „Überbau" zerfiel und damit genau dem Vorgang der Individualisierung entsprach. Ähnliches galt für den Bereich der Domestizierung: So beeindruckend die Selbstdisziplin, Energie, Rationalität, der Pragmatismus und die unternehmerische Tatkraft waren, die hinter den ökonomischen und technischen Erfolgen standen, so negativ erschien die abermals „ungesteuerte" Modernisierung auf gesellschaftlicher Ebene in Form von schrankenloser Naturvernichtung und kultureller Verödung bzw. Monotonie ebenso wie auf der individuellen Ebene als Mangel an Umgangsformen im bürgerlich-europäischen Sinne. Auch hier vermißte man Institutionen gesellschaftlicher wie individuell verinnerlichter Steuerung, was aus dem Kontext der im ersten Abschnitt geschilderten staatsorientierten Sozialisation des (Bildungs-)Bürgertums in Deutschland erklärlich ist; deren Fehlen in den USA empfahl das Land insofern nicht als Vorbild auf dem Weg in die Moderne. So wenig also das mentale Grundmuster eines eher „autoritären" Weges in die Moderne auch aus den deutschen Amerikaberichten wegzudenken ist, so verkürzend wäre es allerdings andererseits, würde man das erstaunliche Vorbild- und Innovationspotential unterschlagen, als daß die amerikanische Gesellschaft den Wilhelminern im Hinblick auf die eigene Modernisierung erschien.

Kapitel 4

Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

Vieles von den in den drei vorhergehenden Kapiteln zu den „großen Themen" der amerikanischen Gesellschaft dargestellten Beobachtungen wird uns auch in den folgenden drei „konkreten" Themenfeldern „Familie", „Bildung" und „Stadt" wiederbegegnen, die nicht umsonst so stark im Zentrum bürgerlicher Gesellschaftswahrnehmung in den USA standen, bilden sie doch traditionell Kernpunkte bürgerlichen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert. Gerade der für die bürgerliche Mentalität so zentrale Bereich der Familie und der Geschlechterrollen war dabei wohl das am schärfsten diskutierte Thema, forderte doch die offenkundig für europäische Verhältnisse enorm weitgehende Emanzipation der Amerikanerinnen die deutschen Männer in ihrem Selbstverständnis massiv heraus. Das gleiche galt aber auch für die Formen der Kindererziehung und für die Geschlechterrollen innerhalb der Ehe und in der Öffentlichkeit. Dies waren die drei wichtigsten Themen zu den amerikanischen Familien- und Geschlechterstrukturen, die die Wilhelminer auch aufgrund der oben vermerkten Gastfreundschaft vieler Amerikaner durchaus vor Ort kennenlernen konnten - auf den ebenfalls diskutierten Bereich des Wohnens wird im Kapitel zur Stadtentwicklung näher eingegangen werden. Kernpunkt war dabei die Rolle und Mentalität „der Amerikanerin", die viele Züge der oben geschilderten allgemein amerikanischen Mentalität verkörperte. Wie wichtig dieses Thema nicht nur den Wilhelminern war, wird auch daran deutlich, daß kaum ein moderner europäischer Reisebericht oder eine europäische Amerikastudie dieses Thema ausklammerte, im Gegenteil: Fast alle europäischen Amerikabücher im späten 19. und 20. Jahrhundert diskutierten dieses Thema mehr oder weniger ausführlich und kamen zu auffallend übereinstimmenden oder ähnlichen Beobachtungsergebnissen, auch wenn die Beurteilungen durchaus kontrovers ausfielen.

1. „Die Amerikanerin" Kaum ein Thema beschäftigte die deutschen Reisenden, die ja praktisch ausschließlich aus Männern bestanden, so sehr wie die Rolle und soziale Stellung der Frauen in den USA im Vergleich zu Deutschland und Europa insgesamt. Das galt für alle Berufe und findet sich fast gleichermaßen dominant in den Reiseberichten wie auch in den Studien. Den Tenor der Beobachtungen brachte der Schriftsteller Ludwig Fulda auf den Punkt, als er zu Beginn seines Kapitels „Die Frauen" notierte:

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„In Europa gibt es wohl kaum eine Frau, die niemals gewünscht hätte, als Mann auf die Welt gekommen zu sein. In Amerika dagegen wird man vielleicht eines schönen Tages keinen Mann mehr finden, der nicht lieber als Frau geboren wäre. Wenigstens gilt für das weibliche Geschlecht unbedingt das bekannte Goethesche Wort: .Amerika, du hast es besser. ' ( . . . ) Die zielgewisse Energie, mit der die Amerikanerinnen in die Schanzen männlicher Privilegien Bresche gelegt und die Gesetzgebung des Landes zu ihren Gunsten beeinflußt haben, könnte für sich allein ihre bevorzugte Stellung nicht sichern, wenn diese ihnen nicht von den Männern selbst bereitwillig eingeräumt würde." 1

Damit war angedeutet, wie die Amerikanerinnen auf die Wilhelminer wirkten: rational und umfassend gebildet, selbstbewußt und emanzipiert, früh selbständig und allgemein stark respektiert, bisweilen extrem verwöhnt und kaum im deutschen Sinne „häuslich", körperbewußt und sportlich, im privaten wie im öffentlichen Leben erstaunlich dominant und erfolgreich. Damit wiesen sie Eigenschaften auf, wie sie dem europäischen Frauenbild um die Jahrhundertwende zumal im konservativ-liberalen Bürgertum fast diametral entgegenliefen und daher eine Irritation auslösten, die zu der schon angedeuteten Brisanz der Debatte zu diesem Thema führte. Die Amerikanerin wurde damit noch mehr als ihr männlicher Gegenpart zur Inkarnation von Modernität schlechthin, einer Modernität, die sich in unterschiedlichsten Aspekten offenbarte. Politisch zeigte sich diese Modernität ζ. B. darin, daß die in Europa analog zur sozialen Frage zunehmend virulent werdende „Frauenfrage" den meisten deutschen Besuchern in den USA bereits zugunsten der Frauen gelöst zu sein schien. Dies betonte ζ. B. der Sprachwissenschaftler Adolf Rambeau kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wobei er zugleich regionale Differenzierungen innerhalb der USA feststellte: „Man ist fast berechtigt, daran zu zweifeln, daß es überhaupt noch eine frauenfrage in den Vereinigten Staaten gibt, oder einfach zu konstatiren (sie), daß diese frage längst zugunsten der frau gelöst ist. (...) ist es (...) ganz offenbar, daß sie in der gesellschaft, in der ehe, im familienleben, in der erziehung und im unterrichte der kinder, in der kirche, in Wohltätigkeitseinrichtungen, im öffentlichen verkehr, sogar im auftreten als anklägerin und als angeklagte vor dem richter eine bevorzugte Stellung einnimmt. (...) Im westen geht man in diesen fragen der geschlechtlichen gleichberechtigung weiter, und es kommt hier der frau im öffentlichen leben eine noch viel größere bedeutung zu als im osten." 2

Diese Beobachtung galt jedoch nicht nur für die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg; bereits zu Anfang unseres Untersuchungszeitraums hieß es in dem voluminösen Bericht von Friedrich Oetken von 1893 lapidar und tendenziell im Vergleich zu Europa bewundernd: „Die amerikanische Frau gehört unzweifelhaft nach körperlicher wie geistiger Veranlagung zu den höchststehenden Frauen der Erde. Sie zeichnet sich ferner aus durch ein stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein und fordert vom Manne nicht allein einen im Vergleich mit europäischen Verhältnissen sehr hohen Grad von Achtung und Beachtung, im Hause sowohl wie in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben, sondern sie beansprucht auf manchen Gebieten in rechtlicher Beziehung sogar völlige Gleichstellung mit dem Manne. Jene

1 Fulda, Eindrücke, S. 200. Vgl. ebda., S. 200ff u. 209ff. 2 Rambeau, Amerika, S. 128f. Vgl. auch ebda., S. 52f u. 144f. Vgl. zur regionalen Differenz u. a. auch Hesse-Wartegg, Chicago, S. 175.

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ungewöhnlich große Achtung wird in den Vereinigten Staaten den Frauen Uberall entgegengebracht, einerlei, an welchem Orte und in welchem Stande. Jeder Mann (...) kommt den Frauen ohne Unterschied des Standes stets mit Respekt und großer Höflichkeit entgegen." 3

Dieser hohe Respekt vor den Frauen innerhalb der gesamten Gesellschaft und nicht nur der oberen Schichten gehörte in fast allen Berichten und Studien zum Bild der Geschlechterbeziehungen, das gerade in dieser Hinsicht fundamental von deutschen oder europäischen Verhältnissen abstach.4 Vor allem im Kontext einer sozialen und auch rechtlichen Gleichstellung der Frau mit dem Mann, die vielen Wilhelminern durchaus als „Vorzugsstellung" erschien, fand diese Wahrnehmung ihren Niederschlag. So resümierte der im übrigen sehr positiv über die Stellung der Frau in den USA urteilende Jurist Oskar Hintrager: „Und doch, trotzdem das Weib hier alle Rechte hat, trotzdem Gesetz, Gericht und öffentliche Meinung stets auf ihrer Seite sind, gibt es auch hier eine Frauenemanzipation. Man ist versucht zu fragen: Was ist noch zu emanzipieren in einem Lande, in dem nach dem Gesetze die Ehefrau ganz wie ein fremdes, selbständiges Rechtssubjekt ihrem Manne gegenübersteht, wo die Damen ihre eigenen Bahnhof-Wartesäle, Hoteleingänge (...) haben, wo ein Mädchen allein, selbst in der Großstadt, sicherer reist und geht als ein Mann, wo Gouverneure junge Studentinnen zu Ehrenmitgliedern von Ausstellungskommissionen ernennen?" 5

Die besonders hervorgehobene soziale Rolle der Frau wurde in diesem Zusammenhang fast immer ähnlich wie im gesamten Bereich der Mentalitäten auf die historische Entwicklung und die damit verbundene Seltenheit von Frauen im männerbestimmten Pionierund Kolonialland Amerika zurückgeführt.6 Daraus meinte man analog zur Typisierung des Amerikaners gerade in den Studien auch einen bestimmten äußerlich erkennbaren Frauentypus ableiten zu können, wobei sich die angedeuteten mentalen Dispositionen in einer spezifischen Physionomie wie auch in distinkten Verhaltensformen niederschlugen, die die Amerikanerinnen trotz aller regionalen Unterschiede deutlich von europäischen Frauen unterschieden. In der Sicht der wilhelminischen Männer trugen diese Frauen zwar feine und nicht selten ausgesprochen schöne, insgesamt aber doch eher männlich-herbe und fast „unweibliche" Züge, die die Beobachter dennoch in fast „exotischer" Weise faszinierten: „Aber schön sind sie doch, diese hohen, schlanken Figuren mit der ungebundenen und doch zurückhaltenden, freien Beweglichkeit und dem offenen Blick, durch den schon die jungen Damen bekunden, daß sie sich jeder Situation gewachsen fühlen. Es ist ihnen alles so selbstverständlich, sie zeigen so wenig Absicht dabei, daß man ihr Wesen achten muß, ihren Stolz, Amerikanerin zu sein! Ob schlicht, ob reich gekleidet, treten schon

3 Oetken, Landwirtschaft, S. 638. Vgl. ebda., S. 638ff. 4 Vgl. dazu Bürgers, Kulturbilder, S. 12; Lettenbaur, Jenseits, S. 96ff; Polenz, Land, S. 61f; v. Skal, Volk, S. 97; Norda, Augenblicksbilder, S. 33f; Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 218ff und Schweitzer, Urlaub, S. 182ff. 5 Hintrager, Wie lebt, S. 150. Vgl. auch Βarnekow, Amerika, S. 141; Fulda, Eindrücke, S. 200ff;Lurz, Weltreiseskizzen, S. 272f; Pfister, Nach Amerika, S. 13; v. Wernsdorff, Per apsera, Bd. 2, S. 214ff und für die Arbeiter auch Kolb, Arbeiter, S. 46ff u. 136ff. 6 So u. a. Diercks, Kulturbilder, S. 346ff; Polenz, Land, S. 230f; v. Skal, Volk, S. 65ff.

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die jungen Damen so auf, wie man es bei uns einer jungen Witwe wohlanstehend findet, selbstbewußt und frei, unnahbar und doch nicht auf andere von oben herabsehend." 7 D i e s e s Selbstbewußtsein der Amerikanerinnen führten deutsche Beobachter immer wieder auf den vergleichsweise hohen Bildungsstand zurück, der sich im Vergleich zu den Männern auf längere Ausbildungszeiten an den Schulen und Colleges gründete. W i e stark sich hier die Gesellschaft der U S A als fundamental unterschiedlich zu den europäischen Verhältnissen erwies, skizzierte der um Kulturaustausch bemühte Historiker Albert Pfister 1906 durchaus enthusiastisch: „Unter Amerikanerinnen wird man sich in vollem Maße bewußt, daß wir wirklich in einer neuen Welt sind, unter neuen Menschen uns befinden, deren Kultur, obwohl in ihren Elementen europäisch, durch und durch neue Formen, amerikanische Natur angenommen hat. (...) Der Ranke, die sich an stärkerem Anhalt emporschlingt, gleicht die Amerikanerin nicht. Aber darum bleiben ihr doch echt weibliche Züge. Eine Unterhaltung mit amerikanischen Frauen wird durch ihr Wissen, ihre Belesenheit, die Unbefangenheit ihres Urteils zum Genuß." 8 Immer wieder wurde der hohe Bildungsgrad der Amerikanerin, der im folgenden Abschnitt zur Bildung noch eingehender thematisiert werden wird, als entscheidendes M o m e n t weiblicher Emanzipation hervorgehoben: „Ich will nicht die Umstände aufzählen, aus denen die bevorzugte Stellung der Amerikanerin erklärt zu werden pflegt. Nur auf ein Moment, das in dieser Richtung besonders beachtet zu werden verdient, möchte ich die Aufmerksamkeit noch lenken: Die Bildung der amerikanischen Frau. Aus ihr erklärt sich das meiste. Wie bekannt, stehen dem Mädchen hier dieselben Bildungsgelegenheiten offen wie dem Knaben. Je höher die Altersstufen steigen, desto mehr Mädchen sitzen auf der Schulbank. Selbst auf den Universitäten gibt es Kurse, in denen die weiblichen Zuhörer zahlreicher sind als die männlichen. Das Weib teilt die allgemein amerikanische Lern- und Wißbegierde in solchem Maße, daß sie in gewissen Gegenständen und Altersstufen den Mann an Eifer übertrifft. (...) Viel zu wissen ist ihr Stolz, ihr Ruhm. Sie liest sehr viel. (...) Kurz, die Frau ist im allgemeinen dem Mann an Geistesbildung überlegen, - eine bedeutsame Tatsache, die nicht zum wenigsten von den gebildeten Männern des Landes beklagt wird." 9

7 Unruh, Amerika, S. 76. Vgl. ebda., S. 74ff und zur Typisierung auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 271ff und Polenz, Land, S. 242ff sowie zur „Schönheit" der Amerikanerin: Wolzogen, Dichter, S. 25ff; Lurz, Weltreisesikzzen, S. 271f; v. Skal, Volk, S. 64ff und Laverrenz, Amerikafahrt, S. 146. Über den allgemein europäisch-amerikanischen Unterschied in dieser Hinsicht schrieb nach einer Fülle von Reisen und Aufenthalten in den USA und Frankreich bzw. Westeuropa der Sprachwissenschaftler Adolf Rambeau aufschlußreich: „Des großen Unterschieds zwischen den mannigfaltigen typen der frau in den kulturländern Europas von nord nach süd, von ost nach west einerseits und der nordamerikanischen frau andererseits wird man sich am besten bewußt, wenn man als europäer von geburt und erziehung lange zeit in Nordamerika gewohnt hat (...). Sie (die Amerikanerinnen, A. S.) haben alle etwas typisch-gemeinsames, das sie von den frauen Europas unterscheidet. (...) Man wundert sich über das selbstbewußte und unabhängige auftreten der frau. Da ist keine spur von weiblicher Schüchternheit oder Verschämtheit. Da ist kein niederschlagen der äugen, kein schamhaftes und keusches erröten der wangen bei der weiblichen jugend." (Vgl. Rambeau, Amerika, S. 143f). 8 Pfister, Nach Amerika, S. 25f. 9 Hintrager, Wie lebt, S. 154f. Vgl. auch Bahr, Reise-Berichte, S. 73; Kolb, Arbeiter, S. 140; Lurz, Weltreiseskizzen, S. 273f; Oberländer, Ozean, S. 27f und Schweitzer, Urlaub, S. 182ff.

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Diese einhellige Beobachtung knüpfte an das schon bekannte Bild des geringen Sozialprestiges von Künstlern und Gelehrten und des starken und fast ausschließlichen Dranges der männlichen Eliten in die Wirtschaft an und machte die Frauen in den USA zu den fast einzigen „Hüterinnen" von Kunst und Kultur, was freilich selbst bei den insgesamt positiv urteilenden Autoren doch die Gefahr einer völligen „Verweiblichung" der Kultur in den Staaten entstehen ließ. 10 So gab es naturgemäß eine ganze Reihe von Stimmen, die diesen Grad an Emanzipation aus deutscher Sicht scharf ablehnten,11 doch fällt erneut auf, wie ambivalent die Debatte insgesamt verlief und wie zahlreich die positiven Gegenstimmen 12 waren, wobei sich der Schwerpunkt von den negativen zu den eher positiven Sichtweisen tendenziell mit der Jahrhundertwende leicht verschob. Dies wurde auch anhand der weiblichen Berufe deutlich: Als natürliche Folge dieses hohen Bildungsstandards der Frauen in den USA waren die Wilhelminer immer wieder verblüfft, eine verhältnismäßig große Zahl von Frauen in nach europäischen Maßstäben reinen Männerberufen anzutreffen. Gerade darin zeigte sich die ungeheure Modernität Amerikas, die von vielen als Gefahr für Europa beschworen, von vielen aber auch als Chance (durchaus auch im volkswirtschaftlichen Sinne) begriffen wurde: „Die amerikanische Frau will um keinen Preis Drohne sein; sie will sich betätigen, will mitschaffen am vielgestaltigen Werke der Nation und der Menschheit, und dieser elementare Drang hat mindestens ebensosehr wie die wirtschaftliche Notwendigkeit sie ins Berufsleben hinausgetrieben. Sie hat damit einen kulturgeschichtlichen Umschwung eingeleitet, dessen Tragweite wir heute noch gar nicht ermessen können und den zu bespötteln das nachhinkende Europa inzwischen verlernt hat. (...) Es gibt dort überhaupt keinen Beruf mehr, den militärischen ausgenommen, der nicht von den Frauen ausgeübt würde - von der Predigerin bis zur Lokomotivführerin und professionellen Jägerin. Der Unterricht, und zwar nicht nur in den Volksschulen, 13 neigt sogar merklich dazu hin, ein weibliches Monopol zu werden."

Dies war durchaus überspitzt formuliert - deutsche Stimmen wurden keineswegs müde, diese Entwicklung bisweilen zu verspotten und heftig zu kritisieren, und auch die Anzahl weiblicher Berufe wurde überschätzt - , doch der Tenor der Debatte besonders nach der Jahrhundertwende war damit genau getroffen. Diese Vorreiterrolle der USA war dagegen in den 90er Jahren noch weitgehend abgelehnt worden, was gerade der Bericht der unter dem Pseudonym L. Bürger veröffentlichenden „Gartenlaube"-Autorin Charlotte Niese als einer

10 Vgl. u. a. Hintrager, Wie lebt, S. 155f; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 302-309; Polenz, Land, S. 238f; Rambeau, Amerika, S. 5lf u. 144f; Oetken, Landwirtschaft, S. 638f; Neve, Charakterzüge, S. 72f; Bürgers, Kulturbilder, S. 21; Lettenbaur, Jenseits, S. lOOf und Diercks, Kulturbilder, S. 227. 11 Vgl. u. a. Hoffmann, Bilder, S. 33-42 u. 73-81; Mancke, Im Fluge, S. 26; Salomonsohn, Reise-Eindriicke, S. 47f; Zimmermann, Onkel Sam, S. 199f; Brinkmann, Eroberer, S. 167 u. 176-185; Grzybowski, Land und Leute, S. 178; Röder, Reisebilder, S. 42ff und Krekeler, Reise, S. 28f. 12 Vgl. u. a. Unruh, Amerika, S. 68f; Wolzogen, Dichter, S. 92f; Hintrager, Wie lebt, S. 137ff; Harjes, Reise, S. 179f; Scherff, Nord-Amerika, S. 82f und Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 106f. 13 Fulda, Eindrücke, S. 214f. Vgl. auch ebda. S. 206f sowie Gerstenberger, Steinberg, S. 262f; Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 386f und zur genauen statistischen Analyse weiblicher Berufstätigkeit in den USA vor allem Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 282ff; für die 90er Jahre vgl. Diercks, Kulturbilder, S. 48f bzw. zum Vorzug in volkswirtschaftlicher Hinsicht im Gegensatz zu Europa Oetken, Landwirtschaft, S. 640ff und Hesse-Wartegg, Chicago, S. 178f.

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der wenigen Frauen, die über die USA schrieben, offenbart und damit zugleich das typisch wilhelminische Selbstbild als Kontrast zum amerikanischen Selbstverständnis entwirft: „In einigen Jahren wird es drüben noch mehr weibliche Aerzte, Beamte aller Art, ja vielleicht Congreßmitglieder geben, vielleicht werden die Amerikanerinnen den Nordpol erforschen (...) und sie werden auf uns Deutsche immer mit einer gewissen Verachtung herabblicken. Denn nach ihrer Ansicht sind wir zu fleißig, zu gewissenhaft in kleinen Dingen, zu häuslich und zu sparsam. Nun, wir wollen den Töchtern Amerikas neidlos ihre Vorzüge lassen, um an dem, was sie uns als Fehler anrechnen, falls wir es besitzen, standhaft festzuhalten." 14

In einer solchen Passage wird die Herausforderung und Verunsicherung der klassischen bürgerlichen Frauenrolle in Deutschland durch das „amerikanische Modell" manifest, auf das zunächst mit Abwehr und dem stark positiv besetzten Selbstbild „häuslicher Tugenden" reagiert wurde, was um so aufschlußreicher ist, als die „Gartenlaube" nach 1870 zum wohl meistgelesenen Informations- und Unterhaltungsmedium vor allem von Frauen aus dem (Klein-)Bürgertum avancierte und daher als ein Spiegel deutscher Selbstwahrnehmung und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen gelten kann. Zugleich wird deutlich, wie stark insgesamt allein die weiße middle class im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und die Unterschichten erneut weitgehend ausgeklammert blieben. Nur ein genauer vergleichender Autor wie Hugo Münsterberg rückte die Dimensionen etwas zurecht, als er relativierend auch im Vergleich zu Europa festhielt: „Wenn der Deutsche von der Berufstätigkeit der amerikanischen Frau hört, so hält sich seine Phantasie leicht an das Ungewohnte; die Frau im Anwaltstalar und in der Predigerrobe, die Ärztin und die Universitätsprofessorin erscheinen dann als die Vertreterinnen der auf eigenen Füßen stehenden Frauen, und es wird zu leicht vergessen, wie ihre Zahl doch schließlich winzig ist neben der Masse derer, die erwerbenden Beruf mit geringerer Vorbildung suchen. Das Berufsleben der Amerikanerin (...) darf aber Uberhaupt nicht nur aus Ziffern abgelesen werden, denn die Statistik würde einen viel größeren Prozentsatz arbeitender Frauen in Ländern zeigen, in denen der Drang nach Selbständigkeit bei der Frau unendlich viel geringer ist. Das Wesentlichste liegt im Motiv. Fast könnte man sagen: die europäische Frau arbeitet mit, weil das Land zu arm ist, die Familie von der Männerarbeit allein zu ernähren, die amerikanische Frau arbeitet mit, weil sie einen eigenen Lebensinhalt sucht." 15

Auch wenn hier erneut vor allem ideelle und weniger „harte" ökonomische Faktoren der oftmals rein materiellen Notwendigkeit von Frauenarbeit besonders in den Unterschichten ins Feld geführt wurden, war doch die Korrektur der Maßstäbe und der Hinweis auf die überwältigende Mehrheit der nicht arbeitenden Frauen der middle class 16 wichtig und notwendig, drohte doch das Bild der deutschen Amerikafahrer und -autoren hier oftmals zur Karikatur zu werden.17

14 Niese, Bilder, S. 55. Vgl. insgesamt ebda., S. 41-55 bzw. zum Gegensatz zu Deutschland auch Oberländer, Ozean, S. 54f; Kummer, Weltreise, S. 84f und Zimmermann, Onkel Sam, S. 190f. 15 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 281. Vgl. 16 Vgl. ebda., S. 284ff. In ähnlich relativierender Weise betonten genauere Autoren auch die Tatsache, daß Wirtschaft und Politik auch in den USA noch reine Männerdomänen geblieben seien. Vgl. dazu ζ. B. Lettenbaur, Jenseits, S. 104f. 17 Vgl. ζ. B. auch Kleinschmidt, Bilder, S. 108-114. Zur Karikatur der beruflich engagierten und „dominanten" Amerikanerin als allgemeinem Typus vgl. auch Richards, Karikatur, S. 74ff.

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Doch es gab noch ein weiteres Phänomen, das die allgemein stark favorisierte These von der hochgradigen Emanzipation der amerikanischen Frau, die nur wenige Autoren mit „Auswanderererfahrung" zu relativieren suchten,18 stärkte und dabei den Blick auf die Unterschichten freigab - das war die vielfach diskutierte Schwierigkeit, in den USA (weibliche) Dienstboten zu finden, was oben im Kontext der Gleichheitsdebatte schon kurz angeklungen ist. Vor allem die Reisenden waren immer wieder erstaunt und bisweilen schockiert über die ablehnende Haltung von Amerikanerinnen der Unterschichten gegenüber persönlichen Dienstberufen des privaten Bereichs. Die im Vergleich zu Europa wenigen Dienstmädchen rekrutierten sich daher vor allem aus den europäischen Einwanderergruppen und verfügten dabei zugleich über Freiheiten, die in starkem Kontrast zu den Verhältnissen in Europa standen. Besonders fatal wirkte sich diese Situation in wilhelminischer Sicht für die Ehemänner aus, die sich trotz eines höheren Technisierungsgrades von Haushalt und Küche oftmals zu „entwürdigender" Haushaltsarbeit „erniedrigen" mußten. So berichtete der Pfarrer J. L. Neve nach einigen Familienbesuchen in der upper middle class stellvertretend für die meisten Beobachter erstaunt und empört: „Führt die Familie nun ein eigen Haus, was eben doch Regel ist und bleiben wird, und fehlen die Mittel Dienstboten zu mieten, so ist der Mann oft in keiner beneidenswerten Lage. Daß er seiner Lady, von der er ja noch gut genug weiß, daß sie nicht, um nur versorgt zu sein, sondern aus Liebe sich zum Eintritt ins Ehejoch entschloß, nun zur Hand geht, z. B. morgens das Feuer macht und den Kaffee kocht, ist selbstverständlich. ( . . . ) Das thut er sogar für das Dienstmädchen, wenn er so glücklich ist, eins halten zu können." 19

Damit war bereits der vom Typus der Amerikanerin untrennbare Aspekt der Geschlechterrollen angesprochen. So positiv das Erscheinungsbild der Amerikanerin insgesamt wirken mochte, so problematisch gestalteten sich aus deutscher Sicht die Geschlechterrollen vor und in der Ehe, von denen jetzt die Rede sein soll.

2. Ehen und Scheidungen in den USA Entsprechend dem Bild der emanzipierten Amerikanerin stellten die Wilhelminer einen sie immer wieder verblüffenden freien Umgang der Geschlechter miteinander schon vor der Ehe fest, der zugleich die Dominanz von Liebes- anstelle von reinen Geld- oder Standesheiraten in den USA suggerierte. Wilhelm von Polenz notierte dazu im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa durchaus selbstkritisch und ironisch mit Bezug auf die deutschen „Amerikafahrer": „Freiheit und Selbständigkeit aber finden ihren schönsten Ausdruck in der Unbefangenheit, mit der die Geschlechter drüben unter einander verkehren. Unsere Amerikafahrer haben in ihren Reiseberichten meistens allerhand Staunenswertes zu erzählen über gemeinsam mit jungen Damen unternommene Ausfahrten, Theaterbesuche, Dinnerparties und Picknicks, bei denen jede Art von Sauvegarde (sic) fehlt. Die .Flirtation' der

18 Siehe dazu z. B. Barnekow, Amerika, S. 134ff; v. Wernsdorff, Per aspera, Bd. 2, S. 213; Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 212ff und auch Fulda, Eindrücke, S. 209ff. 19 Neve, Charakterzüge, S. 76. Vgl. auch Richards, Karikatur, S. 26f; v. Skal, Volk, S. 68; Fulda, Eindrücke, S. 293ff; Harjes, Reise, S. 178f; Gerstenberger, Steinberg, S. 80f; Unruh, Amerika, S. 50ff; Wolzogen, Dichter, S. 98-109 und Below, Bilder, S. 52f sowie Oberländer, Ozean, S. 52f.

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Amerikaner ist für den Europäer das rätselvollste Ding der Welt; man begreift nicht, daß der Mann nicht zugreift, wenn ihm soviel Liebenswürdigkeit, Charm und Temperament in scheinbar unbegrenzter Ungeniertheit entgegengebracht wird. Ist nicht solches Staunen im Grunde ein schlechtes Zeichen für unsre Sitten?" 20 W i e ambivalent diese Erfahrung des „Flirts" und des freien U m g a n g s von vielen Wilhelminern beurteilt wurde, zeigt die Beurteilung des k e i n e s w e g s grundsätzlich ablehnenden Unternehmers Philip Harjes: „Was nun den Verkehr mit dem männlichen Geschlecht betrifft, so gelten in den United States allerdings Grundsätze über diesen Punkt, bei denen nicht nur eine prüde Gouvernante der alten Schule den Kopf schütteln möchte. (...) Ich bin weit davon entfernt, der lächerlichen Trennung der Geschlechter im rein gesellschaftlichen wie auch häufig im Familienleben der Alten Welt das Wort zu reden, und vertrete ganz entschieden die Ansicht, daß ein unbefangenes, häufiges Zusammensein der unverdorbenen Jugend beiderlei Geschlechter für die einen wie die anderen nur vorteilhaft sein kann, viel vorteilhafter als die fast beleidigende Überwachung durch weibliche und männliche Gouvernanten und Pedanten. ( . . . ) - aber wenn ich versuche, mir zu vergegenwärtigen, was aus der deutschen Durchschnittsweiblichkeit werden müßte, wenn der jahrhundertelang geübte Zwang mit einem Male weggenommen wäre, dann muß ich sehr energisch den Kopf schütteln." 21 D i e s e Beurteilung war typisch für eine ganze Reihe von Autoren der Reiseberichte w i e auch der Studien; eine g e w i s s e Bewunderung für diese Freiheitlichkeit der amerikanischen Jugend, die überdies durch die „natürliche Kühle" der Amerikanerinnen g e g e n „unmoralische" Gefährdungen gefeit zu sein schien, war in den meisten Berichten unverkennbar und führte oftmals zu erstaunlicher gesellschaftlicher Selbstkritik. 2 2 Allerdings wurde vielfach die Übertragbarkeit auf Deutschland bzw. Europa für kaum möglich und in dieser Form auch kaum wünschenswert erachtet, wobei erneut - wie in der zitierten Passage deutlich - immer wieder historische Entwicklungslinien als Begründung ins Feld geführt wurden, 2 3 die eine zu radikale Veränderung der traditionellen Sitten des „alten Kontinents" Europa problematisch oder gar gefährlich erscheinen ließen. Das galt tendenziell auch für die beobachtete stärkere Durchsetzung der Liebesheirat in den U S A , bei der der in Europa so wichtige Aspekt der Mitgift keine Rolle spielte und der Mann selbständig in der Lage sein mußte, ein ausreichendes E i n k o m m e n für den Aufbau eines Vermögens zur Verfügung zu stellen -

ein

Umstand, der häufig genug durchaus positive Reaktionen hervorrief. 2 4

20 Polenz, Land, S. 231. 21 Harjes, Reise, S. 174f. 22 Vgl. ζ. B. Unruh, Amerika, S. 56f u. 76f; Hesse-Wartegg, Occident, Bd. 1, S. 79-83; Hintrager, Wie lebt, S. 139-148 und Below, Bilder, S. 260 sowie Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 398f. 23 Vgl. u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 294ff 24 Vgl. u. a. Wolzogen, Dichter, S. 81ff; v. Wernsdorff, Per aspera, Bd. 2, S. 214ff; Rambeau, Amerika, S. 242 u. 255ff; v. Skal, Volk, S. 74ff; Polenz, Land, S. 228ff; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 359f und Lurz, Weltreiseskizzen, S. 272f sowie Kolb, Arbeiter, S. 140f. Das Gegenbild einer auch in den USA dominierenden Tendenz zur reinen Geldehe wurde dagegen nur von wenigen Autoren gemalt, so z. B. Grzybowski, Land und Leute, S. 99ff und Müller, Leben, S. 105f. Diese Kritik galt jedoch allgemein eher der „modernen Welt" schlechthin, deren Signum diese rein „ökonomischen" Ehen zu entsprechen schienen.

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Insgesamt dominierten jedoch die aus wilhelminischer Sicht negativen Folgen dieser Form der Geschlechterbeziehungen. Sie bestanden vor allem aus einem Verlust an „Romantik" zugunsten einer Form von „Kamaraderie", in einer „Entheiligung" der Ehe durch die leichte und zahlreich genutzte Möglichkeit der Ehescheidung und im Verlust der Attraktivität der Ehe vor allem für die emanzipierten Frauen; damit verband sich eine Tendenz zu immer weniger Eheschließungen und zu einem entsprechenden Rückgang der Kinderzahlen sowie zu einer Eheform, in der sich die Abhängigkeitsverhältnisse umgekehrt zu haben schienen und der Mann vielfach zum „Ausgebeuteten" und fast zum „Sklaven" seiner an Haushalt und Kindererziehung uninteressierten Frau degradiert wurde, wie es oben schon anhand der Dienstbotenproblematik angeklungen ist. Selbst ein relativ kritischer Schriftsteller wie Ernst von Wolzogen konnte nicht umhin, den Verlust an Romantik und eine wachsende Nüchternheit als Schattenseiten der Liebesheirat zu betonen, ja es schien allgemein aus deutscher Sicht vielfach so, daß in dieser Freiheit der geschlechtlichen Umgangsformen und Beziehungen in den U S A zugleich das Janusgesicht des Verblassens intensiver Gefühle zugunsten einer bloßen „Kamaraderie" zwischen den Geschlechtern zum Vorschein komme: „Von der Poesie der Liebe, w i e wir sie aufzufassen gewohnt sind, fällt durch solche Anschauungen allerdings sehr viel weg. Die Lieblingsgestalt der deutschen Dichtung, das unbededenklich dem Zuge seines Herzens folgende, bedingungslos sich hingebende und schwärmerisch sich aufopfernde junge Mädchen würde nach amerikanischer Auffassung nur eine leichtsinnige Person oder eine dumme Gans sein. Und dem männischen Mann, dem rücksichtslosen Eroberer, dem Schrecken und der süßen Sehnsucht deutscher Frauenherzen, würde einfach der Charakter als Gentleman abgesprochen werden. Bezeichnenderweise kommen diese Typen in der amerikanischen Literatur auch gar nicht vor."

•y?

Dieser tendenziellen Nüchternheit im Umgang der Geschlechter in den U S A entsprach so auch die schnelle Bereitschaft zur Ehescheidung im Falle von Konflikten, was die im Vergleich zu Europa relativ hohen Scheidungsraten aufgrund „laxer" Gesetzgebung (in einigen Staaten) zu belegen schienen. Diese Tendenz machte aus wilhelminischer Sicht die .Auflösung" der Familie als Institution augenfällig, und man ließ zumeist keinen Zweifel daran , wie gefährlich diese Entwicklung einzuschätzen sei, zumal der Mann in den meisten Fällen nicht nur im privaten Bereich, sondern auch vor dem Gesetz deutlich benachteiligt zu sein schien. Wie stark die Erwartungshaltungen gegenüber der Ehe nicht nur im Bürgertum, sondern auch in der Arbeiterschaft in Deutschland und den U S A auseinandergingen, zeigt der Bericht des Arbeiters Fritz Kummer ironisch, aber anschaulich auf: „Recht unterhaltend ist es, die deutschen Arbeiter über ihre Erfahrungen in Amerika erzählen zu hören. Die mit Amerikanerinnen verheirateten können den Junggesellen nicht genug vor der Änderung seines Zivilstandes warnen. Bei ihnen ist das erhoffte Eheglück in einen Ehekrieg mit seltenem Waffenstillstand ausgeartet. Über die Ehe mit den schönen Töchtern des Onkel Sam hatten mir schon Landsleute in Neujork steinerweichende Geschichten erzählt, deren Regelung von den lieben, sehr gesetzeskundigen Weibchen kurzerhand dem Richter übergeben worden war. Hierbei setzte es Einsperrung oder Geldstrafe ab für den noch mit, ver-

25 Wolzogen, Dichter, S. 86. Vgl. ebda., S. 84-89. Vgl. auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 274ff; v. Skal, Volk, S. 68ff u. 96f; Mancke, Im Fluge, S. 40; v. John, Plaudereien, S. 17f und Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 21 Of.

Erziehungsmuster und die Beziehungen zwischen den Generationen

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alteten' deutschen Ansichten über die Pflichten der Hausfrau und dergleichen ausgestatteten Landsmann. ( . . . ) Die Ehescheidungen haben in Amerika eine solche Höhe erreicht, daß Spaßvögel sagen, es gäbe bald mehr Ehescheidungen als Eheschließungen." 26

Korrespondierend zum Bild der selbstbewußten Amerikanerin stellten die deutschen Besucher immer wieder fest, daß die Ehe im Gegensatz zu Deutschland für die Frauen keineswegs die „Erfüllung" ihres Lebens darstellte, zumal die Haushaltstätigkeit aus vermeintlich amerikanischer Perspektive eher als Last denn als Lust beschrieben wurde.27 Und die vermeintliche „Untertänigkeit" des Mannes im privaten Bereich von Familie und Haushalt löste massive Abwehrreaktionen in Form nicht selten ausgesprochen karikierender Darstellungen aus, die zeigen, wie stark das männliche Selbstbild der Wilhelminer durch die amerikanischen Verhältnisse in Frage gestellt wurde.28 Diese aus deutscher Sicht letztlich „skandalösen" Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in den USA und vor allem hinsichtlich der Männerrolle ließen nach den Gründen einer Entwicklung fragen, die die vermeintlichen Gefahren der Modernität für die familiäre Basis der gesamten Gesellschaft so drastisch vor Augen führte. Man suchte und fand sie im Umgang der Generationen miteinander und insbesondere in der Kindererziehung, die abschließend noch kurz skizziert werden soll.

3. Erziehungsmuster und die Beziehungen zwischen den Generationen Einig waren sich alle Autoren in der Beobachtung erstaunlicher Freiheiten der Kinder und Jugendlichen in den USA, die aus „antiautoritären" Erziehungsmustern resultierten. Die amerikanische Erziehung schien im Gegensatz zu den Ländern Europas weitaus weniger Gewicht auf Disziplin und Unterordnung zugunsten von früher Selbständigkeit und Freiheitlichkeit zu legen, wobei die Bewertungen dieses Erziehungsstils ambivalent ausfielen. Sie reichten von massiver Kritik an der daraus resultierenden „Unerzogenheit" der Kinder und Jugendlichen über die Anerkennung dieses Erziehungsstils im Hinblick auf amerikanische Verhältnisse, die jedoch nicht auf Europa übertragbar sein würden, bis hin zur Empfehlung als Vorbild auch für die deutsche Gesellschaft als Abbau von „Untertanendenken" in den sozial selbstkritischeren Berichten, wobei jedoch insgesamt die Kritik am amerikanischen

26 Kummer, Weltreise, S. 106f. Vgl. auch Kolb, Arbeiter, S. 138ff; Hoffmann, Bilder, S. 3 5 ^ 3 ; Barnekow, Amerika, S. 139; Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. 47f; Müller, Leben, S. 104ff; Lurz, Weltreiseskizzen, S. 273f und Zimmermann, Onkel Sam, S. 191. 27 Vgl. u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 296-302; Polenz, Land, S. 228f u. 240f; Neve, Charakterzüge, S. 74f; Diercks, Kulturbilder, S. 350ff und Kleinschmidt, Bilder, S. 111-114 sowie Niese, Bilder, S. 53ff. 28 Vgl. u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 287f; Hoffmann, Bilder, S. 34f; Grzybowski, Land und Leute, S. 178; Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 285-290; Richards, Karikatur, S. 20; Diercks, Kulturbilder, S. 343 und Kleinschmidt, Bilder, S. 113, wo es lapidar hieß: „Von der Knechtschaft, in der die Männer jenes freiesten Landes der Welt ihren Frauen gegenüber leben, können wir uns kaum eine Vorstellung machen. Daheim, in Gesellschaft, im Theater, im Konzert, auf der Spazierfahrt, im Bad - überall erlaubt und verbietet die Frau."

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

, b a i s s e r f a i r e " in E r z i e h u n g s f r a g e n d o m i n i e r t e . D a b e i w u r d e erneut i m m e r w i e d e r betont, d a ß d i e U n t e r s c h i e d e nicht nur z w i s c h e n D e u t s c h l a n d u n d d e n U S A , s o n d e r n z w i s c h e n d e n K o n t i n e n t e n i n s g e s a m t b e s t a n d e n u n d s i c h a u s der e n t s p r e c h e n d

unterschiedlichen

G e s c h i c h t e herleiten ließen. S o stellte ein B e o b a c h t e r n a c h v e r s c h i e d e n e n A u f e n t h a l t e n in mehreren Familien 1904 fest: „ S o absonderlich diese Dinge in dem kleinen Europa draußen erscheinen mögen, sie sind es kaum in der freien Luft der großen Räume hier und angesichts der tausend Möglichkeiten des Lebens dieser Neuen Welt. E s ist ein freier Geist in diesem Lande. Auch das Familienleben zeigt dies, wie ich es dank der großen Gastfreundschaft hier kennen lernte. Da wird kein Kind scharf angefaßt, kaum ihm etwas verboten. Die Achtung der Rechte und Freiheit des einzelnen, das Gewährenlassen ist eines der ungeschriebenen Gesetze auch im Familienleben." 2 9 A u f d i e s e i m m e r w i e d e r b e o b a c h t e t e Freiheitlichkeit r e a g i e r t e n d i e m e i s t e n B e o b a c h t e r e h e r skeptisch und ablehnend: „Deutschen Beobachtern erscheint das Yankeekind sehr oft als vorlaut, unziemlich respektlos und unerträglich unerzogen, wogegen die Yankee-Eltern das starke Hervorkehren des Eigenwillens in ihren Kindern als einen Vorzug ansehen und sich hüten, deren Selbständigkeit zu unterdrücken. Sie geben sich die erdenklichste Mühe, ihren Verkehr mit den Kindern auf den Ton der Kameradschaft zu stimmen und behandeln die unverschämten Gernegroße, sobald sie aus dem Alter der süßen Kindlichkeit heraus sind ( . . . ) wie Erwachsene. Infolgedessen emanzipieren sich die Kinder auch sehr frühe vom Elternhause, und zwar nicht nur in den untersten Ständen, wo die Notwendigkeit mit zu verdienen die lächerlichsten Knirpse oft schon zu selbstän30 digen Unternehmern, zu fixen kleinen Handelsleuten macht." D a m i t s i n d d i e S c h a t t e n s e i t e n a n g e d e u t e t , d i e d i e m e i s t e n B e o b a c h t e r d i e s e r antiautoritären E r z i e h u n g s w e i s e anlasteten, s o v o r a l l e m eine F r ü h r e i f e , d i e d e n K i n d e r n nur w e n i g g e n u i n e „ K i n d l i c h k e i t " ließ u n d s i e a u s d e u t s c h e r S i c h t zu f r ü h d e n E r w a c h s e n e n g l e i c h s t e l l t e , s o w i e e i n e zu g e r i n g e A c h t u n g v o r A u t o r i t ä t e n w i e Eltern, S c h u l e , S t a a t und Ö f f e n t l i c h k e i t . S o m e i n t e ein J o u r n a l i s t M i t t e der 9 0 e r J a h r e stellvertretend f ü r v i e l e A u t o r e n : „Die amerikanische Jugend ist nämlich sehr frühreif, und leider gilt dies Wort vielfach im bösesten Sinne. ( . . . ) Nirgendwo findet man so viel Selbständigkeit, aber auch so viel Verdorbenheit, Rohheit und Frechheit bei den Kindern als in Amerika, nirgendwo auch so viel Mißachtung der Eltern und jeglicher Autorität." D i e s war zwar einseitig und überscharf formuliert, aber auch die ambivalenteren Urteile k o n n t e n k a u m ü b e r d i e s e n f a t a l e n Verlust an A u t o r i t ä t s a c h t u n g in d e r a m e r i k a n i s c h e n E r z i e h u n g h i n w e g s e h e n , z u m a l d i e s e s P h ä n o m e n erneut f ü r d i e g e s a m t e G e s e l l s c h a f t d e r U S A z u g e l t e n s c h i e n . 3 2 U n d s e l b s t w e n n d i e p o s i t i v e n S e i t e n der f r ü h e n S e l b s t ä n d i g k e i t u n d freiheitlichen A u t o n o m i e h e r a u s g e s t r i c h e n und in e i n i g e n s e l b s t k r i t i s c h e r e n B e r i c h t e n a u c h a l s Vorbild für Deutschland im Hinblick auf den A b b a u der „Untertanenmentalität" e m p f o h l e n

29 Hintrager, Wie lebt, S. 144f. Vgl. auch Unruh, Amerika, S. 36f. 30 Wolzogen, Dichter, S. 35. Vgl. ebda., S. 33ff u. 82f. 31 Hoffmann, Bilder, S. 72. Vgl. auch ebda., S. 72ff. Vgl. auch u. a. Mancke, Im Fluge, S. 41; v. John, Plaudereien, S. 74ff; Kleinschmidt, Bilder, S. 121ff; Richards, Karikatur, S. 14; Bürgers, Kulturbilder, S. 20f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 90 u. Bd. 2, S. 268f. 32 Vgl. Müller, Leben, S. 110; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 133; Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 709f und speziell zur Arbeiterschaft Kolb, Arbeiter, S. 125f und Kummer, Weltreise, S. 84.

Erziehungsmuster und die Beziehungen zwischen den Generationen

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wurden, 3 3 s o blieb doch letztlich die Übertragbarkeit auf deutsche oder europäische Verhältnisse fragwürdig: „Unsere deutschen Kleinen werden glauben, das müsse ein wahres Eldorado für sie sein. Ich kann ihnen aber die Versicherung geben, daß die Kinder in Europa es im ganzen eben so gut haben. Trotz der elterlichen Tyrannei, worunter sie ja allerdings schmachten, habe ich oft den Eindruck gehabt, als seien sie glücklicher daran, als ihre kleinen Vettern drüben. Fühlt sich das Kind gleich wichtig wie ein Erwachsener, vom Augenblick an, wo es sprechen kann, so geht ein großer Teil der kindlichen Lust von vornherein verloren. Wohlverstanden, ich will gewiß nicht behaupten, daß die Amerikaner nicht für ihre Verhältnisse vollkommen recht hätten; ich meine nur, daß wir mit unserem System, wobei die Kinder recht lange kindlich bleiben, trotzdem aber ganz tüchtige Menschen werden können, vollkommen zufrieden sein sollten." 34 Bezeichnenderweise stufte diese Einschätzung eine autoritäre und hierarchisch orientierte Erziehung eher als „kindgerecht" ein, w o g e g e n die amerikanische Perspektive genau umgekehrt verlief, w i e ein lange in den U S A lebender Journalist, der seine anfänglichen Z w e i f e l am amerikanischen System durchaus zugab, kritisch im Hinblick auf die deutschen Verhältnisse vermerkte: „Die Art und Weise, in der die amerikanische Jugend behandelt und erzogen wird, ist grundverschieden von den Methoden, die in anderen Ländern angewendet werden. Wenn es überhaupt ein Gebiet gibt, auf dem das amerikanische Volk ganz anders handelt als andere Völker, so ist es dieses. Selbstverständlich hat die amerikanische Methode nicht nur Licht-, sondern auch Schattenseiten. Der europäische Beobachter bemerkt meist nur die letzteren, und die Bemerkung ist wohl gestattet, daß gerade der Deutsche die Lichtseiten am wenigsten zu würdigen vermag. Es scheint beinahe, als sei der Deutsche ganz besonders geneigt, seine eigene Kindheit und die Art und Weise, in der er als Kind gedacht und gehandelt hat, vollständig zu vergessen. Es fehlt ihm anscheinend eine Gabe, die der erwachsene Amerikaner, weil er sich in gewisser Beziehung bis zu seinem Lebensabend kindliche Eigenschaften bewahrt, in hohem Grade besitzt, nämlich die Fähigkeit, sich in den Gedankengang und die Anschauungsweise des Kindes zu versetzen und dessen Handlungen nach den natürlichen, kindlichen Motiven, die sie hervorrufen, zu beurteilen. Der Grund dafür mag in dem Umstände zu finden sein, daß der Deutsche, sobald er aus dem Kindesalter tritt, einen dicken Strich macht, der ihn von der Kindheit trennt, und daß er sich dann förmlich davor fürchtet, für kindlich oder auch nur jugendlich gehalten zu werden." 35 A l s F o l g e dieser Fähigkeit zur Empathie im Hinblick auf die kindliche Psyche stellten sich in dieser Perspektive positive Eigenschaften w i e Unabhängigkeit, Aufrichtigkeit und eine enge Eltern-Kind-Bindung ein s o w i e ein kameradschaftlicher U m g a n g der Geschlechter, der nicht auf Verbote und Restriktionen w i e in Europa angewiesen war. 36 Mit dieser egalitären Erziehung beider Geschlechter war zugleich der Grundstein für die verhältnismäßig stark entwickelte weibliche A u t o n o m i e und das oben skizzierte „kameradschaftliche" Verhältnis der Geschlechter gelegt, das nicht nur Ablehnung hervorrief: „Lernen aber können und sollen wir das von der amerikanischen Erziehung des Weibes: Heranbildung zur Erstrebung weiter gesteckter Ziele als die vier Wände der Küche oder des Salons oder des Ballsaals, Einge-

33 Vgl. ζ. B. Unruh, Amerika, S. 36ff u. 74ff; Harjes, Reise, S. 173ff u. 204-207; Pfister, Nach Amerika, S. 27f; Lettenbaur, Jenseits, S. 22ff u. 103 und v. Skal, Volk, S. 91ff. 34 Rabe, Erholungsfahrt, S. 134. 35 v. Skal, Volk, S. 86f. Vgl. auch Diercks, Kulturbilder, S. 186ff und Lettenbaur, Jenseits, S. 26f. 36 Vgl. v. Skal, Volk, S. 87-97.

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

wöhnung in die Interessen des Mannes, so daß die Frau befähigt ist, ihm als Gehilfin, als moralisch Stütze zur Seite zu stehen und, wenn's not tut, selbst die Initiative zu ergreifen, ihre Kraft, ihr Wissen und ihr Können in die Waagschale zu werfen, ja, wenn's sein muß, ganz allein den Kampf ums Dasein durchzufechten!" 37

Basis dieses modernen egalitären Verhältnisses, das die deutschen und insbesondere bürgerlichen Geschlechterrollen so in Frage stellte, war ein bereits an den Schulen durchgeführtes Prinzip der sogenannten „Koedukation" von Mädchen und Jungen, das bei den deutschen Besuchern zwar einhellig als wichtiger Emanzipationsfaktor der Frau angesehen, insgesamt aber erneut sehr ambivalent beurteilt wurde. „Fortschrittliche" Autoren priesen im Sinne der oben zitierten Passage dieses Prinzip als Weg zu natürlicheren, „normaleren" und damit weniger hierarchisierten Geschlechterbeziehungen, 38 während „kulturkonservative" Autoren eine sittlich-moralische Gefahr in der zu frühen gemeinsamen Erziehung erblickten und gerade die vermeintlich natürliche Geschlechtertrennung dadurch gefährdet sahen. 39 Auf den Bereich der schulischen Erziehung soll im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden; zuvor gilt es jedoch, die in ihren Beobachtungen so einhelligen und in den Beurteilungen zugleich so kontroversen Stimmen der Wilhelminer zur Familie und zu den Geschlechterbeziehungen einzuordnen.

4. Die Umkehr der familiären Hierarchien in den USA Ein europäisches Problem? War das Bild, das die Wilhelminer von den Familienstrukturen und Geschlechterrollen zeichneten, so spezifisch „wilhelminisch" bzw. deutsch, wie es vor dem Hintergrund der skizzierten Mentalitätsstrukturen den Anschein haben könnte? Überblickt man in synchroner wie diachroner Vergleichsperspektive die bestehende Forschung, so ergibt sich eine erstaunliche Ähnlichkeit des Bildes mit dem anderer Europäer; zugleich läßt sich eine auffallende Kontinuität dieser Wahrnehmung bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg feststellen, was um so bemerkenswerter ist, als daß dieses Thema in fast jedem europäischen Reise- und Aufenthaltsbericht im 20. Jahrhundert zumindest Erwähnung fand, wenn nicht gar zentral diskutiert wurde. Auffallend ist allerdings, daß die Rolle der Frau und die Fragen der Geschlechterbeziehungen und Erziehungsmuster verstärkt offensichtlich erst am Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert wurden. 40 Vergleicht man diese Debatte im europäischen Kontext, so ergeben sich fast in jeder Hinsicht verblüffende Ähnlichkeiten, so daß eindeutig von einem europäischen

37 Harjes, Reise, S. I75f. Vgl. auch Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 297f und Unruh, Amerika, S. 74ff. 38 So ζ. B. Fulda, Eindrücke, S. 158-163 u. 204f; Unruh, Amerika, S. 74ff; Lettenbaur, Jenseits, S. 82f; Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 334f; Oberländer, Ozean, S. 123f; Wolzogen, Dichter, S. 55-60; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 272ff und Polenz, Land, S. 233ff. 39 So u. a. Rambeau, Amerika, S. 135-141; Diercks, Kulturbilder, S. 186f u. 348f; Klein, Nordamerika, S. 112ff sowie Kleinschmidt, Bilder, S. 11 Iff und Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 287f. 40 So findet sich in der umfassendsten Studie zum deutschen Amerikabild im 19. Jahrhundert erstaunlicherweise keinerlei Hinweis auf Beobachtungen zu Familie und zur Rolle der Frau in den USA. Vgl. Brenner, Reisen, passim. Vgl. für Großbritannien auch Rapson, Britons, S. 106ff.

Die Umkehr der familiären Hierarchien in den USA - Ein europäisches Problem?

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Amerikabild zu diesem Themenkomplex gesprochen werden kann, denn es zeigen sich beispielsweise im britischen Amerikabild zwischen dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und der Mitte der 30er Jahre deutliche Übereinstimmungen mit den deutschen Beobachtungen. Wie die Wilhelminer stellten auch die Briten in dieser Phase eine außergewöhnliche soziale Rolle der Frau in den USA fest, die einherging mit früher Selbständigkeit, einem außergewöhnlichem Bildungsgrad als Basis eines dominierenden Einflusses im kulturellen und religiösen Leben der amerikanischen Gesellschaft sowie einem außergewöhnlichen Respekt der Amerikaner vor Frauen aller gesellschaftlichen Schichtungen. Entsprechend wurde auch der im Vergleich zu Europa hohe Anteil weiblicher Berufstätigkeit herausgestrichen. Dies führte analog zur deutschen Sicht ebenfalls zu einer Typisierung amerikanischer Frauen, deren Intelligenz, Natürlichkeit, herbe Schönheit und Offenheit bewundert wurden, wobei die zugleich festgestellten Schattenseiten wie „Kälte" und „Egoismus" ebenfalls dem deutschen Bild entsprachen. Ähnlich war auch die Beobachtung eines freien Umgangs der Geschlechter bereits in frühester Jugend, der in eine „Entmystifizierung" der Geschlechterrollen zugunsten kameradschaftlich-egalitärer Beziehungen mündete und damit die Durchsetzung der Liebesheirat förderte, seine Schattenseite allerdings in den hohen Scheidungsraten hatte.41 Diese Durchsetzung des amerikanischen Gleichheitsprinzips auch im familiären Binnenraum ließ sich aus britischer Sicht besonders an den Beziehungen zwischen den Generationen und den Erziehungsmustern feststellen. Die Frühreife der Kinder, ihre „antiautoritäre" Erziehung und geringe Disziplinierung, der Kinder- und Jugend"kult" gehörten zu den wichtigsten Beobachtungen auch der britischen Besucher und führten wie bei den Wilhelminern zu ähnlich negativen Beurteilungen im Hinblick auf die „Unerzogenheit" des Nachwuchses und die tendenzielle Auflösung des Familienlebens.42 Wie stark dieses Bild ein offenkundig spezifisch europäisches Wahrnehmungsmuster war, wird deutlich, wenn man die Beobachtungen der Franzosen und Italiener hinzunimmt. Ähnlich wie bei den deutschen und britischen Beobachtern waren auch hier die Feststellungen auffallend einhellig und im Tenor der Beurteilung ähnlich. So streichen die Studien zum französischen und italienischen Amerikabild immer wieder das schon skizzierte Bild der Amerikanerin als der modernen Frau schlechthin heraus, sichtbar anhand der frühen Selbständigkeit und Emanzipiertheit, des hohen Bildungsgrades, des erstaunlichen Selbstbewußtseins, der außergewöhnlichen Rolle öffentlichen und beruflichen Engagements, der Dominanz im Familienleben im Vergleich zur relativ untergeordneten Stellung des Mannes und der Leichtigkeit und Gefühlsbestimmtheit der Eheschließung in Verbindung mit dem Makel der hohen Scheidungsraten.43 So schrieb ζ. B. die Lehrerin Marie Dugard nach eingehenden Recherchen in den USA über die außergewöhnlich emanzipierte Stellung der Frau vor und nach der Heirat: „In den Vereinigten Staaten wird die Frau dem Manne als im wahrsten Sinne des Wortes gleichberechtigt betrachtet. ( . . . ) Die junge Frau genießt aufgrund dieser egalitären Ideen die gleiche Freiheit innerhalb der

41 Vgl. allg. Rapson, Britons, S. 106-125. 42 Vgl. ebda., S. 93-105. 43 Vgl. Portes, Une fascination, S. 227-250; Reiske, Die USA, S. 98-102 und Torielli, Italian Opinion, S. 169-207.

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

Grenzen der allgemeinen Schicklichkeit - Grenzen, die jedoch in einem Land, wo die Frauen durch Gesetz, Sitten und allgemeinen Respekt geschützt sind, sehr weit gesteckt sind und in vielen Kreisen unter dem Eindruck männlicher Erziehung sogar noch weiter ausgedehnt werden. Sie (die junge Frau, A. S.) ist also fast so unabhängig wie ein junger Mann. So lassen ihr die Eltern nicht nur völlige Freiheit (...) bei der Wahl eines Ehemanns, sondern auch im täglichen Leben im Hinblick auf Lebensstil und Vergnügungen. Sie hat ihre eigenen Beschäftigungen jeglicher Art, ihre Gesellschaften, Clubs und Freunde. Ist sie dann Ehefrau, verliert sie nichts von ihrer Unabhängigkeit, denn der Amerikaner ist davon überzeugt, daß eine der sichersten Grundlagen des häuslichen Glücks und eines liebevollen Miteinanders im gegenseitigen Respekt der Persönlichkeit begründet liegt." 44 A u c h bei den Franzosen finden sich physiognomische Typisierungen, 4 5 die in eine d e m deutschen und englischen Bild vergleichbare Richtung gehen; ebenso fiel ihnen zudem die besondere antiautoritäre Erziehung der Kinder und Jugendlichen auf, die e b e n s o w i e bei den Deutschen und Briten mehrheitlich auf starke Kritik im Hinblick auf die Mißachtung von Autoritäten und eine vermeintliche Auflösung der Familie stieß, wobei allerdings durchaus auch die positive Seite der frühen Selbständigkeit ähnlich w i e bei den Wilhelminern betont wurde. 4 6 S o beschrieb ein französischer Beobachter den Unterschied z w i s c h e n Frankreich und Amerika in Hinsicht der Kindererziehung und -Stellung innerhalb der Familie ganz ähnlich w i e die meisten Briten und Deutschen: „Die Geburt eines Kindes ist in den Vereinigten Staaten nicht von dieser Poesie und Gefühlsseligkeit umgeben, die bei uns so häufig aus einer Geburt erst den ersten Liebesbeweis zwischen den Eltern macht. (...) Das Kind wird nach seiner Geburt nicht wie eine Puppe betrachtet, mit der die Eltern dann spielen können. Die väterliche Liebe zeigt sich eher in einer Verdoppelung der Arbeitsenergie (...). Es (das Kind, A. S.) genießt bis zu einer allerdings sehr weit gesteckten Grenze eine völlige Freiheit und wird dabei niemals den tausenderlei kleinen Tyranneien unterworfen, unter denen unsere Kinder zu leiden haben. Man zählt darauf, dem Kind eine Unabhängigkeit zu gewähren, die ihm eigene Erfahrungen ermöglichen soll, so daß es selbständig erwachsen werden kann. Die einzige füh beigebrachte Maxime ist die der ,self control'." 47

44 Dugard, La société américaine, S. 168ff. Vgl. auch ebda., S. 138f u. 166-204. Vgl. auch u. a. Anadoli (eigentl. Gyula B. Szillassy): L'empire du travail. La vie aux Etats-Unis. Paris 1905, S. 64-74; Th. Bentzon (eigentl. Marie-Thérèse Blanc): Choses et gens d'Amérique. Paris 1898, S. 297ff u. 321-331; Philippe Deschamps: A travers les Etats-Unis et le Canada. Paris 1896, S. 22-28 u. 31-36; Huret, En Amérique, Bd. 1, S. 244ff u. 324ff bzw. Bd. 2, S. 380-393; Gohier, Le peuple, S. 33ff; Lazare Weiller: Les grandes idées d'un grand peuple. Paris 1904, S. 163-170 u. 188ff und Sauvin, Autour de Chicago, S. 102-119, wo es zur Durchsetzung der Liebesheirat im Kontrast zu Europa lapidar hieß: „In Amerika hat es dabei (der Heirat, A. S.) niemals all die Einschränkungen der Familie, der Religion, des Alters, der Erziehung, der sozialen Stellung und der politischen Meinung gegeben; die Grundlage der Ehe ist hier allein die Liebe." (S. 116) bzw. S. 117 zur leichten Scheidung in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zum „Skandal" in Frankreich. 45 So z. B. Saint-André de Lignereux: L'Amérique au XXe siècle. Paris 1909, S. 18ff u. generell zur Amerikanerin 193-227. 46 Vgl. Portes, Une fascination, S. 227-250. 47 Sauvin, Autour de Chicago, S. 23f. Vgl. auch de Nevers, L'âme américaine, Bd. 2, S. 172f; Weiller, Les grandes idées, S. 180-188; Lucien L. Lacroix: Yankees et Canadiens. Impressions de voyage en Amérique. Paris 1895, S. 223-242; Bentzon, Choses et gens, S. 297ff u. 320-330 und Gohier, Le peuple, S. 55ff. Zur Selbstdarstellung französischen Familienlebens im Sinne positiver Traditionalität vgl. u. a. Lanson, Trois mois d'enseignement, S. 254-260.

Die Umkehr der familiären Hierarchien in den USA - Ein europäisches Problem?

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Ähnlich wie im deutschen Falle schwankten auch die französischen Beobachter im Hinblick auf die Modernität der Geschlechterbeziehungen und Erziehungsmuster in den USA zwischen Bewunderung und Ablehnung, wobei insgesamt zumindest bei den Männern die Umkehrung der traditionellen Rollenmuster mehrheitlich abgelehnt oder aber in ihrer Übertragbarkeit auf europäische Verhältnisse skeptisch beurteilt wurde, während die wenigen reisenden Französinnen vor 1914 eher die Vorbildhaftigkeit der gesellschaftlichen Rolle amerikanischer Frauen betonten.48 So resümierte die unter Pseudonym viele Amerika-Bücher veröffentlichende Schriftstellerin und Kritikerin Marie-Thérèse Blanc 1898 vermeintlich aus männlicher Sicht die Modernität der Frauenemanzipation in den USA und empfahl sie als Zukunftsmodell für Frankreich bzw. Europa, auch wenn sie einige traditionelle Elemente enger europäischer Familienbindungen auch in Zukunft gewahrt wissen wollte: „Sehr wahrscheinlich wird sich letztlich der amerikanische Familientyp durchsetzen: das Gesetz des Fortschritts, die stärker anerkannten Rechte der Frau, der Zwang vieler, die im ausgelaugten Europa keine Beschäftigung mehr finden können, in alle Welt auszuwandern, der zunehmende Einfluß fremder Sitten - all das kündigt diese Entwicklung an. ( . . . ) Es vollzieht sich eine langsame, aber sichere Revolution. ( . . . ) Dennoch hoffe ich, daß wir einige über lange Jahrhunderte erworbene Erbteile der Vergangenheit wie die Achtung des Alters, den Respekt vor elterlichen Ratschlägen und jene tiefe Bindung zur Mutter, die schon fast religiöse Züge trägt, bewahren werden. (...) Mit diesen Einschränkungen wäre ich für meinen Teil allerdings sehr froh, wenn sich die französische Familie heutzutage etwas stärker amerikanisieren würde." 49

Wie einheitlich und massiv wirksam dieses europäische Wahrnehmungsmuster war, wird überdies daran deutlich, daß der Erste Weltkrieg hier kaum einen wesentlichen Einschnitt in der Debatte bedeutete; denn in den 20er und 30er Jahren ist die Kontinuität der Beobachtungen und Argumente unverkennbar. Allerdings gewann durch die Erschütterung der europäischen Gesellschaften und durch den wachsenden Einfluß Amerikas auf Europa die Debatte an Schärfe, was sich insgesamt in einer noch deutlicheren Ablehnung der Amerikanisierung von Geschlechterrollen und Erziehungsmustern seitens der (männlichen) europäischen Intellektuellen niederschlug, wobei auffallend ist, daß dies zunehmend für alle beruflichen und politischen Spektren galt.50 Auch in Deutschland läßt sich diese verschärfte Kontinuität besonders deutlich registrieren, wo die meisten männlichen Autoren eine vermeintliche Bedrohung durch „Kulturfeminismus" als Form des Kulturverfalls und der Infragestellung „männlichen Geistes" glaubten abwehren zu müssen, während weibliche Stimmen im Sinne eigener Emanzipationsforderungen zunehmend die neue Frauenrolle, die die Amerikanerin wie keine andere Frau zu verkörpern schien, als Vorbild diskutierten und zum Anlaß gesellschaftlicher Selbstkritik nahmen.51

48 Vgl. Portes, Une fascination, S. 246ff. 49 Bentzon, Choses et gens, S. 332ff. Vgl. auch Dugard, La société américaine, S. 198-204. 50 Vgl. für Frankreich: Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 251-257; Strauss, Menace, S. 5 0 - 5 4 und Grewe, Amerikabild, S. 206-263 u. 442-472 sowie für das faschistische Italien: Beynet, L'image, S. 476-556 und generell Woodward, Old World, S. 122-128. 51 Vgl. Buchwald, Kulturbild, S. 71-81 sowie Huelsbergen, Ansichten, S. 37ff; Dickson, Amerikabild, S. 26ff; Mayer-Hammond, American Paradise, S. 97-107 und Markham, Workers, S. 213-224 u. 300ff.

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

5. Kontinuität und Wandel des bürgerlichen Familienmodells in den USA und Europa - Dispositionen des „bürgerlichen Blicks" Wie realistisch war nun dieses deutsche bzw. europäische Amerikabild und welche spezifisch deutschen oder europäischen Prägungen und Dispositionen bestimmten die Wahrnehmung amerikanischer Familienstrukturen und Geschlechterrollen? Auffallend ist, daß generell weniger Beobachtungen zu den „abstrakteren" Familienstrukturen wie Familiengröße, Heiratsalter und Haushaltsstruktur gemacht wurden, was freilich vielfach erst aus der soziologischen Analyse und historischen Rückschau möglich ist. Der Schwerpunkt lag daher deutlich auf den Aspekten des konkreten Familienlebens, auch wenn spezifisch europäische Strukturmerkmale diese Wahrnehmung beeinflußten. Trotzdem lagen die vergleichsweise wenigen Beobachtungen zu demographischen Faktoren wie abnehmenden Geburten- und wachsenden Scheidungsraten durchaus richtig. Das Bevölkerungswachstum der amerikanischen Gesellschaft basierte aufgrund der langfristig besonders in der weißen middle class sinkenden Geburtenraten vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts primär auf der Einwanderung aus Europa.52 Da vor allem die weiße middle class Gegenstand der europäischen Beobachtungen war, verwundert die getroffene Einschätzung kaum; daran schloß sich vor dem Hintergrund der nicht nur in Europa, sondern auch in den USA vielfach prägenden Denkmuster des Sozialdarwinismus die Befürchtung einer gesamtgesellschaftlichen „Dekadenz" an, die in sinkenden Geburtenzahlen den Beginn des biologischen Abstiegs eines Volkes erkennen zu können glaubte. Diesem vermeintlichen Abstieg und Werteverfall korrespondierten die steigenden Scheidungsraten, die allerdings in den USA im Vergleich zu Europa tatsächlich hoch lagen und damit das europäische Negativbild durchaus bestätigten,53 denn sie stiegen in den USA seit dem Ende des Bürgerkriegs kontinuierlich an und führten um 1900 auch in der amerikanischen Gesellschaft zu einem Krisenbewußtsein, das sich in einem starken Anti-Scheidungs-Engagement von Kirchen, speziellen Ligen und Verbänden äußerte und auf Einschränkungen des Scheidungsrechts hinzuwirken versuchte, mit dem

52 Vgl. Schlereth, America, S. 271-274. So sank die Zahl der Lebendgeborenen auf 1000 weiße Frauen zwischen 15 und 44 Jahren von 278 1800 um über die Hälfte auf 124 um 1900. Hatte es um 1800 noch im Schnitt 5 Kinder pro Familie gegeben, so war um 1900 die Zahl auf 3,4 gesunken, wobei allerdings Einwanderer, Schwarze und die Landbevölkerung höhere Kinderzahlen (5-7) aufwiesen. Die sinkenden Geburtenraten bezogen sich also vor allem auf die genuin amerikanische, weiße und städtische Bevölkerung. 53 Vgl. W. L. O'Neill: Divorce in the Progressive Era. In: C. Carlson (Hg.): Perspectives on the Family. History, Class and Feminism. Belmont, Calif. 1990, S. 448-459. Danach kam 1880 im Schnitt eine Scheidung auf 21 Ehen, 1900 auf 12 Ehen und 1916 bereits auf 9 Ehen. In Deutschland dagegen kamen auf 1000 Ehen 1881/85 nur 15,1901/05 nur 21 und 1911/15 nur 35 Scheidungen. Vgl. dazu W. H. Hubbard: Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. München 1983, S. 87. Siehe zum internationalen Vergleich auch D. Blasius: Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter. Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich. In: U. Frevert (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 67-84, hier bes. 72f und Schlereth, America, S. 280f, der für 1915 einen „Weltrekord" an Scheidungen in den USA konstatiert.

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Beginn des Ersten Weltkriegs und besonders dann in den 20er Jahren jedoch merklich an Einfluß verlor. Insofern war das Krisenbewußtsein im Hinblick auf Scheidungsraten und abnehmende Geburtenzahlen keineswegs nur europäisch, denn auch vielen Amerikanern der traditionellen protestantischen Eliten erschienen diese Phänomene als Werteverfall und Dekadenzproblem. 54 Freilich dürften es zugleich spezifisch europäische Dispositionen gewesen sein, die diese Entwicklung besonders scharf wahrnehmbar machten. So hat die inzwischen umfangreiche historische Familienforschung ein spezifisch (nord- bzw. westeuropäisches „marriage pattern" herausgearbeitet, das sich im Kernland West- und Mitteleuropas bereits seit dem Mittelalter entwickelt hatte. Zu diesem Muster gehörten die frühe Entwicklung der Kernfamilie bzw. der nur aus zwei Generationen bestehenden Kleinfamilie, ein relativ gesehen hohes Heiratsalter und eine erstaunlich hohe Anzahl Unverheirateter pro Generation.55 Dieses Familienmuster unterschied sich deutlich von außer-(aber auch süd- und osteuropäischen Gesellschaften und hatte vor allem bei der ländlichen Bevölkerung und im städtischen Handwerk bis ins 20. Jahrhundert Bestand.56 So war auch im Vergleich zu den USA die Zahl der Unverheirateten ebenso wie das Heiratsalter in (West-)Europa höher.57 Hintergrund dieser Entwicklung war vor allem die Schwierigkeit, die ökonomische Basis für eine Ehe bereitstellen zu können, was nicht nur für Bauern und Arbeiter, sondern auch für das Bürgertum galt, wobei gerade in dieser Schicht das Heiratsalter durch lange Ausbildungszeiten am höchsten war.58 Insofern verwundert es nicht, wenn gerade europäische und besonders bürgerliche Beobachter die „Leichtfertigkeit" der Eheschließung mit der häufigen Folge von schneller Scheidung in den USA betonten und entsprechend kritisierten, war die Ehe in Europa doch ein keinesfalls für jedermann erreichbares und in jedem Fall hart erarbeitetes Gut, das trotz des besonders im Bildungsbürgertum langsamen Vordringens des Prinzips der Liebesheirat immer noch in gewichtigem Maße ökonomischen Anforderungen gehorchte;59 die

54 Vgl. ebda., S. 280f. 55 Vgl. u. a. M. Anderson: Approaches to the History of the Western Family 1500-1914. London 1980, passim, bes. S. 18-27 und J. Hajnal: European Marriage Patterns in Perspective. In: D. V. Glass/ D. E. C. Eversley (Hg): Population in History. Essays in Historical Demography. London 1965, S. 101-143 sowie besonders zu den Hintergründen dieser Entwicklung M. Mitterauer: Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Wien, Köln 1990, S. 25-40. 56 Vgl. u. a. K. Tenfelde: Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich. In: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, S. 182-198. Bei den Industriearbeitern sank dagegen das Heiratsalter langfristig, und auch die Verheiratetenquoten stiegen deutlich an, wobei starke Binnendifferenzierungen beachtet werden müssen. Vgl. dazu ebda., S. 199ff. 57 Vgl. Kaelble, Weg, S. 18-22. Das Heiratsalter lag danach um 1900 bei den Frauen in Westeuropa im Schnitt bei 25 Jahren, in den USA bei 22. Bei den Männern lag es in Europa im Schnitt bei 28-30, in den USA dagegen bei nur 26 Jahren. Vgl. ebda., S. 20f. 58 Vgl. u. a. Rosenbaum, Formen, S. 330-339. 59 Vgl. dazu P. Borscheid: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert. In: Ders./H. J. Teuteberg (Hg.): Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit. Münster 1983, S. 112-134 sowie H. Schenk: Freie Liebe - Wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München 1987, S. 84-89.

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massive Ächtung der Scheidung besonders im Bürgertum des 19. Jahrhunderts60 hatte daher ihre Gründe nicht nur in ideellen Auffassungen, sondern auch in konkreten sozioökonomischen Lebensbedingungen. Entsprechend fiel auch das Fehlen der in Europa traditionell so wichtigen Mitgift für die Braut ins Auge, so daß die Europäer hier insofern vor dem Paradox standen, daß gerade in einem der reichsten Länder der Erde, in dem das Ökonomische wie kaum anderswo das gesellschaftliche Leben zu bestimmen schien, der ökonomische Faktor bei der Eheschließung (bis auf die Spitzen der Gesellschaft) eine eher untergeordnete Rolle spielte und das Prinzip der Liebesheirat sich daher in der Realität hier schon stärker durchgesetzt hatte, auch wenn nicht vergessen werden darf, daß - wie bemerkt - auch in den USA ein ausreichendes Einkommen des Mannes zumindest in der middle und upper class Bedingung für eine Heirat war. Neben den ökonomischen und demographischen Faktoren muß jedoch noch ein weiterer wichtiger Aspekt erwähnt werden, der die europäische Familienstruktur und damit auch die Wahrnehmung der amerikanischen Verhältnisse stark prägte, nämlich die Form eines idealiter nach außen abgeschlossenen Familienlebens, wie es sich insbesondere im Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet und von dort auch Einfluß auf die übrigen Schichten der Gesellschaft gewonnen hatte. Zu dieser Form des besonders von der Außenwelt abgeschirmten und wesentlich als Refugium mit festen Geschlechterrollen konzipierten Familienlebens standen einige Beobachtungen in den USA in deutlichem Kontrast und lösten daher die oben festgestellten Irritationen aus.61 Dies betraf vor allem die soziale Stellung der Frau, aber auch zentrale Muster der Kindererziehung, auch wenn keineswegs übersehen werden darf, daß durch die europäische Basis der amerikanischen Kultur auch eine Fülle von Ähnlichkeiten beider Familientypen bestanden. Grundlage des bürgerlichen Familientypus in Europa wie Amerika war das sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit der Aufklärung entwickelnde bürgerliche Familienideal, das in deutlicher Absetzung vom Adel und parallel zur politisch-zivilrechtlichen Revolution in Reden, Romanen, Zeitschriften, Traktaten, Liedern, in der Malerei und im kirchlichen Rahmen in wachsendem Maße offensiv artikuliert wurde. Zentral war dabei die Idee einer Heirat und Ehe, die nicht mehr allein auf politischem Kalkül wie beim Adel oder auf rein ökonomischen Kriterien, sondern auch und wesentlich auf Zuneigung beruhen sollte, auch wenn man rein emotionalen Motiven noch vielfach mißtraute und diese nur in bürgerlich-künstlerischen Randgruppen dominierten. Zwar wurden die Rollen von Frau und Mann deutlich nach „natürlich gegebenen" Geschlechtercharakteren unterschieden, aber diese wurden nicht als Gegensatz, sondern als natürliche Ergänzung beider Geschlechter zum „ganzen Menschen" verstanden. Dem entsprachen Erziehungsmuster, die das Kind nicht mehr wie im Adel als „kleinen Erwachsenen" behandelten, sondern in seiner spezifischen Kindlichkeit zu begreifen versuchten. Eine Fülle von Erziehungsschriften in der Folge von Jean Jacques Rousseaus „Emile" als zentraler pädagogischer Zivilisationskritik konzipierten im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Kindererziehung als Projekt umfassender emotionaler wie intellektueller Bildung zum „ganzen Men-

60 Vgl. u. a. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 46f. 61 Vgl. dazu Kaelble, Weg, S. 22ff.

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sehen" durch die besondere Zuwendung beider Elternteile, die durch das Ideal und die zunehmend sich durchsetzende Realität einer Familie mit nur zwei bis drei Kindern gewährleistet werden sollte. Zu diesem Familienideal als „idealer Gemeinschaft" im von der Gesellschaft abgeschirmten Raum der Familie gehörte dementsprechend auch ein besonderer Wohnstil, der die Distinktion des „Heimes" oder „Home" deutlich vor Augen führte und zugleich durch einen an antiken Vorbildern orientierten Einrichtungsstil sowie durch Bücher, Bilder, Musikinstrumente etc. besonders im Bildungsbürgertum die Idee individueller, humanistisch geprägter Universalbildung verkörperte.62 Dieses Konzept war natürlich ein Ideal und in der Realität so (vollständig) kaum oder nur in Randgruppen anzutreffen, doch es machte als Norm und Idealtyp wichtige neue Orientierungen deutlich und bildete zumindest die ideelle Zielsetzung bürgerlicher Kultur im 19. Jahrhundert. Dies galt für das europäische Bürgertum wie für die amerikanische middle und upper class, wobei die Ausstrahlungskraft auf die Unterschichten in den USA aufgrund der weitaus schwächer entwickelten Klassenstrukturen innerhalb der weißen Bevölkerung sehr viel stärker und erfolgreicher war.63 Entscheidend ist jedoch, daß sich die konkrete Entwicklung der Familienrealität im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung und die damit einhergehende wachsende Trennung der Lebenssphären von Arbeit und Haus immer mehr von diesem Ideal entfernte. Diese industriell bedingte Trennung von Beruf und Privatleben besonders bei den Männern brachte zugleich eine wachsende Entfremdung der Geschlechterrollen und Lebensbereiche von Mann und Frau mit sich, die um so stärker als „natürlich" und „ewig" gegeben interpretiert wurden, als sich die Kluft zwischen der weiblichen und männlichen Lebenswelt zunehmend vertiefte und dementsprechend in der Kindererziehung befestigt wurde: Die Lebenssphäre der Frau beschränkte sich im Bürgertum zunehmend fast völlig auf Haushaltsführung 64 und Delegation der Dienstboten, auf die Repräsentation nach außen und die Kindererziehung,

62 Vgl. für die USA K. Jeffrey: The Family as Utopian Retreat from the City: The Nineteenth-Century Contribution. In: Carlson (Hg.), Perspectives, S. 25-30 bzw. für Deutschland/Europa: Rosenbaum, Formen, S. 257-309; R. Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt/M. 1987, S. 129-139; K.Hausen: , . . . eine Ulme für das schwankende Efeu'. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Frevert (Hg.), Bürgerinnen, S. 85-117 sowie Y. Schütze: Mutterliebe - Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Ebda., S. 118-123 und für Frankreich: P. Ariès/G. Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: M. Perrot (Hg.): Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt/M. 1992, S. 127-176 u. 331-344. 63 Vgl. T. K. Hareven: Continuity and Change in the American Family. In: Luedtke (Hg.), Making America, S. 247ff. Für Deutschland ist dagegen sichtbar geworden, daß Norm und Realität der Familie etwa in der deutschen Arbeiterschaft strukturell aufgrund unterschiedlichster materieller Bedingungen, konfessioneller Bindungen und Unterschiede in der regionalen Herkunft weitaus vielgestaltiger war als im Bürgertum. Vgl. dazu Tenfelde, Arbeiterfamilie, S. 200-203. 64 Vgl. dazu auch B. Kuhn: und herrschet weise im häuslichen Kreise". Hausfrauenarbeit zwischen Disziplin und Eigensinn. In: van Dülmen, Richard (Hg.): Verbrechen, Strafe und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung Bd. 3. Frankfurt/M. 1990, S. 238-277, wobei die beschränkten Spielräume weiblicher Existenz und entsprechender Identität um die Jahrhundertwende deutlich werden.

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wogegen der Beruf fern von Haus und Familie in wachsendem Maße zum Lebenszentrum des Mannes wurde. 65 Diese Entwicklung galt tendenziell für Europa und die USA, 66 doch blieben die emanzipatorischen Potentiale in den Vereinigten Staaten aufgrund des verhältnismäßig geringer ausgeprägten gesellschaftlichen Klassendenkens und auch der von den Europäern durchaus zurecht betonten historischen Rolle der Frau im Kolonial- und Pionierland Amerika stärker erhalten. Dies wird gerade anhand der für die Ausprägung von Geschlechterrollen zentralen Bildungs- und Berufschancen für Frauen deutlich. Während im deutschen Reich auch für europäische Verhältnisse durchaus rigide Schranken die höhere bzw. Universitätsausbildung von Frauen lange verhinderten - Baden ließ um 1900 erstmals die Immatrikulation von Frauen an Hochschulen zu, Preußen erst 1908 ! 67 - gab es in den USA keine vergleichbaren Bildungshemmnisse, so daß der Zugang zu einer Fülle solchermaßen in Europa abgeschirmter Männerberufe in Amerika möglich bzw. erleichtert wurde. 68 Dies darf allerdings nicht überinterpretiert werden: Aus heutiger Sicht studierten auch in den USA noch relativ wenig Frauen, und auch die von den Wilhelminern so extrem stark vermerkte weibliche Berufstätigkeit lag zwar deutlich über dem europäischen Schnitt, doch blieb sie insgesamt und vor allem gemessen an der erst nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. in den 1960er Jahren massiv einsetzenden Boomphase weiblicher Bildung und Berufstätigkeit gering, zumal den amerikanischen Frauen etwa auch das politische Wahlrecht trotz massiver Forderungen (mit Ausnahme einiger weniger westlicher Staaten) vor dem Ersten Weltkrieg wie in Europa vorenthalten blieb. 69 Auch in den USA dominierten daher Ideal und Realität der nicht arbeitenden Frau zumindest in der upper und middle class, und auch in den Unterschichten galt die meist von sehr jungen Frauen verrichtete Fabrikarbeit idealiter nur als Emanzipations- und Durchgangsstation im Hinblick auf Heirat und Familiengründung, die dann den Ausstieg aus dem

65 Siehe dazu u. a. K. Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere" - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: H. Rosenbaum (Hg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Frankfurt/M. 1978, S. 161-194 bzw. Rosenbaum, Formen, S. 340-347 sowie Schenk, S. 94-100. Vgl. ferner die Quellen bei Hubbard, Familiengeschichte, S. 249-253 und ausführlich bei G. Häntzschel (Hg.): Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850-1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986. 66 Vgl. ζ. B. Hobsbawm, Age of Empire, S. 196-202 und besonders für die USA Hareven, Continuity, S. 244—250; Jeffrey, The Family, S. 30ff bzw. den Forschungsüberblick von H. Schissler: Männerstudien in den USA. In: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, S. 207ff. 67 Vgl. dazu insgesamt H. -G. Haupt: Männliche und weibliche Berufskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht. In: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, S. 143-160, hierbes. 150ff. 68 Vgl. Kaelble, Weg, S. 40f, wobei wichtige innereuropäische Unterschiede nicht übersehen werden dürfen. So boten die Schweiz und in der Zwischenkriegszeit auch Frankreich sehr viel mehr Bildungschancen für Frauen als etwa Deutschland; dennoch bleibt der Kontrast zu den USA erheblich, wenn man den Vergleich mit Westeuropa insgesamt vornimmt. 69 Vgl. dazu u. a. W. H. Chafe: Women and American Society. In: Luedtke (Hg.), Making America, S. 258-269.

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Berufsleben ermöglichen sollte. 70 In diese Richtung ging auch die von den Europäern immer wieder zurecht gemachte Beobachtung einer geringen Neigung der Amerikanerinnen zur Arbeit als Dienstpersonal, die den bürgerlichen Reisenden um so mehr auffallen mußte, als die Beschäftigung von Dienstboten geradezu zum Ausweis und zur Identität von Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert geworden war.71 Dieser Umstand führte in der Tat aus bürgerlicheuropäischer Sicht zu einer Art „Dienstbotennotstand" in den begüterten Familien der USA besonders dann nach 1900, als die Fabrik und zunehmend auch das Büro finanziell wie im Hinblick auf das damit verbundene Sozialprestige attraktiver wurden.72 Umgekehrt traf die besondere Rolle der Frau aus der weißen middle und upper class in der öffentlichen Sozialarbeit und im Kulturleben und Bildungswesen durchaus auch auf Europa zu, auch wenn dies in den USA insgesamt stärker ausgeprägt gewesen sein dürfte.73 Die europäischen Besucher nahmen insofern numerisch gesehen Randphänomene als typische Charakteristika der gesamten Gesellschaft, was allerdings aus dem immer noch beträchtlichen Kontrast zu europäischen Verhältnissen verständlich wird. Diese Überstilisierung weiblicher beruflicher Emanzipation in den USA seitens der Europäer, die nur wenige Autoren wie Hugo Münsterberg relativierten, hatte vor allem aber mit der Verunsicherung und Bedrohungsangst vieler Männer des europäischen Bürgertums angesichts weiblicher Emanzipationsforderungen und besonders nach 1890 deutlich anwachsender institutionalisierter und zunehmend politisierter Frauenbewegungen auf dem eigenen Kontinent74 zu tun, und man wird sicher nicht fehlgehen, gerade in der Intensität der Debatte über die Stellung der Frau in den USA ein Indiz für

70 Vgl. dazu G. Calvi: Women in the Factory: Women's Networks and Social Life in America (1900-1915). In: E. Muir/G. Ruggiero (Hg.): Sex and Gender in Historical Perspective. Baltimore, London 1990, S. 200-234. 71 Vgl. Rosenbaum, Formen, S. 367ff bzw. zu den (abnehmenden!) Zahlen weiblicher Dienstboten im Kaiserreich Hubbard, Familiengeschichte, S. 152f. 72 Vgl. Schlereth, America, S. 71-76. Danach arbeitete 1870 noch die Hälfte aller berufstätigen Frauen in den USA im Bereich häuslicher Diensleistungen, um 1920 nur noch ein Sechstel; dabei rekrutierten sich schon 1870 die meisten Dienstmädchen aus Einwandererfamilien besonders aus Deutschland und Irland und nach 1900 auch im Norden dann vorwiegend aus der zuziehenden schwarzen Bevölkerung. 73 Vgl. für Deutschland u. a. C. Berg: Familie, Kindheit, Jugend. In: Dies. (Hg.), Handbuch, S. 96f und für die USA Chafe, Women, S. 259ff. 74 Siehe dazu u. a. R. J. Evans: The Feminist Movement in Germany 1894-1933. London, Beverly Hills 1976, passim und B. Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933. Göttingen 1981, passim, bes. S. 38-62 u. 190-195, wobei anhand der Forderungen - Rechtsgleichheit, berufliche Emanzipation durch Bildungschancen und „sittliche Erneuerung" der Gesellschaft als „weiblicher Kulturaufgabe" - sichtbar wird, daß das Denken in „Geschlechtercharakteren" nicht nur spezifisch männlich war. Siehe dazu auch U. Engelhardt: geistig in Fesseln"? Zur normativen Plazierung der Frau als „Kulturträgerin" in der Bürgerlichen Gesellschaft während der Frühzeit der deutschen Frauenbewegung. In: Lepsius (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 113-175. Vgl. ferner zum konservativen Wandel der Frauenbewegung nach 1871 in Deutschland H. U. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860-1880. In: Frevert (Hg.), Bürgerinnen, S. 190-205; T. Wobbe: Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende. Frankfurt/M., New York 1989, passim und für Frankreich J. Rabaut: Histoire des féminismes français. Paris 1978, S. 207-243 bzw. S. 215-224 zu den auffallend ähnlichen Idealen zumindest in der bürgerlichen Frauenbewegung Frankreichs.

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die Suche nach festen Orientierungspunkten im Strudel beschleunigten Gesellschaftswandels zu sehen.75 Diese Orientierungspunkte wurden gerade für Männer des Bürgertums immer wichtiger, brachte dieser rapide Gesellschaftswandel doch nicht zuletzt auch traditionelle männliche Rollenbilder gerade des Bürgertums ins Wanken,76 worauf in den meisten Fällen besonders in Deutschland mit verstärkter Autorität und Rigidität des Herrschaftsanspruches im familiären Binnenraum reagiert wurde. Nur aus dieser verschärften Polarisierung von Machtverhältnissen, die dem ursprünglichen Ideal von Ergänzung und Neigung zuwiderliefen, läßt sich daher auch die stark ablehnende bis karikierende Sichtweise der Rolle des amerikanischen Mannes als „Sklaven", als durch Ehefrau und Familie „Ausgebeuteten" verstehen. Mochte die Rolle der amerikanischen Frau im Vergleich zu Europa auch innerhalb wie außerhalb der Ehe emanzipierter gewesen sein, was nicht zuletzt an einem liberaleren Rechtsstatus im Vergleich zu deutschen oder auch französischen Rechtsnormen lag,77 so waren es vor allem Ängste vor wachsender weiblicher Konkurrenz im Beruf 78 wie im Familienleben auch in der eigenen Gesellschaft, die die Europäer und besonders die Wilhelminer bei aller Bewunderung für die Leistungen und Freiheiten amerikanischer Frauen dieses Modell einer vermeintlich neuen Geschlechterhierarchie ablehnen ließ und selbst bei den gewogenen Stimmen die oben skizzierte Skepsis gegenüber einer Übertragbarkeit auf deutsche oder gesamteuropäische Verhältnisse auslöste. Bestätigt wird dieser Sachverhalt einer zugrundeliegenden Orientierungskrise auch durch die angedeutete Verschärfung dieser Ablehnung in den 20er und 30er Jahren nicht nur bei kulturkonservativen Autoren, die nach dem Zusammenbruch der alten Gesellschaftsordnung in Europa im Gefolge des Ersten Weltkriegs wenigstens im Basisbereich der Familie als traditionell bürgerlicher Gegenwelt zur „feindlichen" Gesellschaft 79 nach der Beständigkeit alter Rollen- und Sinngewißheiten suchten.

75 Vgl. auch Schissler, Männerstudien, S. 209f. 76 Vgl. dazu Stearns, Be a man, S. 108-153, bes. S. 151ff. 77 Vgl. dazu vor allem U. Gerhard: Die Rechtsstellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankreich und Deutschland im Vergleich. In: Kocka (Hg.), Bürgertum, Bd. 1, S. 439-468. Für die USA vgl. u. a. O'Neill, Divorce, S. 450ff, der zeigt, daß um 1900 zwei Drittel aller Scheidungsgesuche von Frauen kamen, bzw. allg. zum progressiven Bild der „new woman" in den USA Raeithel, Geschichte, Bd. 2, S. 275-278. 78 So wuchs auch im Kaiserreich die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen rapide an und verdoppelte sich zwischen 1882 (5,54 Mio) und 1907 (9,49 Mio) nahezu. Dies betraf allerdings vor allem die unverheirateten Frauen aus den ländlichen und städtischen Unterschichten. Der Anteil berufstätiger Frauen aus dem Bürgertum blieb dagegen äußerst gering. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 76-82. 79 Siehe dazu Rosenbaum, Formen, S. 373-378 und Lepsius, Demokratie, S. 312f, der diesen Umstand treffend charakterisiert: „Das .Wesen' der Frau wird gerade in bildungsbürgerlicher Perspektive einer Kulturfunktion zugeschrieben, eine die Differenzierung der Berufswelt überwindende .Ganzheitlichkeit', eine sozialmoralische .Geschlossenheit'. Der Zusammenbruch dieses Frauenbildes ist der deutlichste Ausdruck für den Zusammenbruch des bildungsbürgerlichen Lebensstils, dem sich die Männer zumeist nur noch konventionell und mit Mühe fügen konnten und der auch für die Frauen des Bildungsbürgertums wirtschaftlich nach dem Ersten Weltkrieg und der Inflation nicht mehr möglich wurde."

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In ähnlicher Weise muß daher auch die Einschätzung der Erziehungsmuster und des Verhältnisses der Generationen beurteilt werden. Auch in diesem Bereich lagen die Beobachtungen der Europäer keineswegs völlig falsch. So hatte sich um 1900 in der amerikanischen middle class dominierend das Modell der stark auf das einzelne Individuum konzentrierten „companionate family" durchgesetzt, das autoritäre Herrschaftsverhältnisse in der Ehe wie auch gegenüber den Kindern zugunsten eines „Kameraden-Ideals" abzubauen und dem Nachwuchs weitgehende Freiheit im Hinblick auf eine eigenständige Adoleszenz-Phase und die Entwicklung früher Selbständigkeit zu gewähren suchte, auch wenn dies aus heutiger Perspektive allenfalls in Ansätzen realisiert wurde und kaum mit den Idealen und der Wirklichkeit antiautoritärer Erziehung etwa seit den 1960er Jahren verwechselt werden darf. 80 Ebenso muß angesichts der geschilderten hohen Scheidungsraten auch die breite Durchsetzung dieses Ehe-Ideals relativiert werden, doch bleibt der Unterschied zu Europa im Hinblick auf Ideal wie Wirklichkeit markant. Das wird auch anhand der frühen Integration der Jugend in Zirkel mit Gleichaltrigen außerhalb der Familie deutlich, die den viel beschworenen freieren Umgang der Geschlechter miteinander schon vor der Ehe erzeugte, erleichtert durch das im Gegensatz zu Europa bereits früh verwirklichte Koedukationsprinzip in den Schulen, aber auch durch den rapiden Anstieg von Freizeitangeboten wie ersten Kinos, Vaudevilles, Tanzpalästen, organisierten Ausflügen, Reisen und Freizeitparks in den später entsprechend benannten „Gay Nineties".81 Dieser freiere Umgang war damit tatsächlich weitaus häufiger möglich als in Europa und fiel daher nicht nur den Wilhelminern, sondern allen Europäern so sehr auf, daß er die angedeuteten Kontroversen zwischen Bewunderung und mehrheitlicher Skepsis auslöste.82 Vor dem Hintergrund der in Europa und besonders in Deutschland stark autoritär strukturierten Erziehungsmuster, die sich analog zur Trennung der Wohn- und Arbeitswelt vor allem im Hinblick auf die Vaterrolle immer mehr vom skizzierten Ideal des ursprünglichen ,.revolutionären" Modells der Zeit um 1800 entfernt hatten,83 mußte dies als „Unerzogenheit" wirken und überdies die Befürchtung einer „Auflösung der Familie" in der modernen Welt bestärken, auch wenn die Erziehung zu früher Selbständigkeit durchaus bürgerlichen Erziehungsidealen entsprach und daher auch positive Beurteilungen fand. Insgesamt dominierten jedoch eindeutig verhältnismäßig autoritäre Strukturen die Erziehung und vor allem auch die Berufs- und Heiratswahl des Nachwuchses in Deutschland oder Westeuropa. „Kindgerechte"

80 Siehe dazu z. B. J. F. Kett: Adolescence and Youth in Nineteenth-Century America. In: T. K. Rabb/ R. I. Rotberg (Hg.): The Family in History. Interdisciplinary Essays. New York u. a. 1973, S. 95-110 und Raeithel, Geschichte, Bd. 2, S. 81-85 bzw. allgemein zur historischen Kindheitsforschung im Vergleich den Forschungsüberblick: J. M. Hawes/N. R. Hiner (Hg.): Children in Historical and Comparative Perspective. An International Handbook and Research Guide. New York u. a. 1991, bes. S. 305-332 und 491-522. 81 Vgl. Schlereth, America, S. 200-217. 82 Vgl. ebda., S. 276-281 und Stearns, Be a man, S. 146ff. 83 Vgl. zur Entwicklung vom „Freundschaftsideal" um 1800 hin zu immer autoritäreren Strukturen in der bürgerlichen Familie vor allem im Hinblick auf die Vaterrolle: Schütze, Mutterliebe, bes. S. 127ff sowie Rosenbaum, Formen, S. 356ff sowie generell I. Peikert: Zur Geschichte der Kindheit im 18. und 19. Jahrhundert. In: H. Reif (Hg.): Die Familie in der Geschichte. Göttingen 1982, S. 114-136.

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

Erziehung bedeutete daher - wie am Beispiel gezeigt - aus wilhelminischer Sicht gerade nicht „Laisser faire", sondern relativ straffe autoritäre Führung, 84 so daß die oben angeführte Einschätzung des deutschamerikanischen Journalisten Georg von Skal im Hinblick auf die Besonderheit der liberalen amerikanischen Einstellung im Kontrast zur „Verleugnung" der (eigenen) Kindheit im deutschen (und europäischen) Bürgertum durchaus den Kern der Sache trifft. Auch wenn innereuropäische Unterschiede wie etwa die spezifisch deutsche Mischung aus Erziehung zu früher Selbständigkeit im Hinblick auf Beruf und Heirat bei gleichzeitig autoritären Erziehungsidealen und -formen 85 in diesem Zusammenhang nicht geleugnet werden dürfen, so bleibt doch ein grundsätzlich amerikanisch-europäischer Unterschied offenkundig. 86 In ihm spiegelt sich erneut die oben schon kurz angedeutete stärker auf Intimität und Abschließung ausgerichtete Form des europäischen Familienlebens, vor deren Hintergrund die Wahrnehmung amerikanischer Liberalität in Erziehungsfragen und die Einhelligkeit ihrer weitgehenden Ablehnung erst verständlich wird. Die Wahrnehmung und Beurteilung der Wilhelminer war daher auch hier erneut Teil eines erstaunlich konstanten und einhelligen europäischen Deutungsmusters, das lediglich durch den besonders scharfen Kontrast von Autorität in Deutschland und Liberalität in den USA markanter hervortrat und zugleich ermöglichte, daß - wie gesehen - die Minderheit progressiver Autoren durchaus anhand des amerikanischen Modells Kritik am deutschen „Untertanendenken" übte, analog zur besonders scharfen Wahrnehmung des Auseinanderdriftens bürgerlicher Geschlechterbeziehungen in Deutschland im Kontrast zum Gleichheitsideal amerikanischer Provinienz. Die Mehrzahl nahm freilich die amerikanische Herausforderung nicht an, sondern wich der Modernität durch Kritik am vermeintlichen Verlust von „Romantik", „Harmonie" und „Respekt" in den amerikanischen Familienbeziehungen aus, verkennend bzw. verdrängend, daß gerade die eigene bürgerliche Wirklichkeit in Europa den ursprünglichen Idealen weitaus stärker zuwiderlief als die „Modernität" der amerikanischen Gesellschaft. Gerade die Debatte über die Familienstrukturen und Geschlechterrollen erweist sich damit als Kerndebatte über Modernisierung schlechthin, wobei die oben skizzierten Aspekte der Individualisierung und Domestizierung hier besonders im Vordergrund stehen und sich in paradoxer Weise verknüpfen. Die als „Individualisierung" mit der gesellschaftlichen Modernisierung einhergehende Freisetzung der einzelnen Familienmitglieder mit ihren geschilderten ambivalenten Auswirkungen, wie sie sich in den USA manifestierte, löste insgesamt vehemente Ablehnung aus, gerade weil die paradoxe Gegenentwicklung einer besonders im Bürgertum im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter forcierten verinnerlichten Triebkon-

84 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 55ff. 85 Dies nahmen vor allem die französischen Zeitgenossen verschärft war, zumal in Frankreich der Einfluß der Familie auf Heirat und Berufswahl und das Ideal der langen fürsorglichen „Behütung" des Nachwuchses vor allem im Besitzbürgertum besonders groß war. Vgl. dazu Schmidt, Deutschland als Modell?, S. 226-229 bzw. allgemein zu den französisch-deutschen Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Bereich der Familie Kaelble, Nachbarn, S. 41-58. 86 Vgl. zur Dominanz der Ähnlichkeiten in diesem Bereich auch im englisch-deutschen Vergleich Budde, Auf dem Weg, S. 497-501. Zum starken Ideal von Selbständigkeit auch in englischen Bürgerfamilien vgl. ebda., S. 503ff.

Kontinuität und Wandel des bürgerlichen Familienmodells in den USA und Europa

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trolle im Rahmen von Domestizierung das Bestehen fester Geschlechterrollen und hierarchischer Erziehungsmuster voraussetzte. Was daher gesamtgesellschaftlich und relativ abstrakt noch als Projekt von Gleichheit und Liberalität faszinieren konnte und durchaus zu Selbstkritik Anlaß gab, führte so in der konkreten Erlebniswelt zur Umkehrung der Argumentation. Wie sehr die Binnenwelt der Familie gerade für den darin noch weitgehend unumschränkt herrschenden bürgerlichen Ehemann und Vater ein entscheidendes Element eigener persönlicher Identität und Sinnstiftung in einer durch Bürokratisierung, Technisierung und Klassenkonflikt immer unüberschaubarer gewordenen und zugleich „feindlicheren" Arbeits- und Berufswelt bildete, wird nicht zuletzt an diesen bisweilen heftigen Reaktionen offenkundig, zumal auch die positiver urteilenden Autoren an einer direkten Übertragbarkeit dieses „amerikanischen Modells" auf Deutschland bzw. Europa zweifelten. Zu bedrohlich und revolutionär wirkte das Bild amerikanischer Verhältnisse, die gerade deshalb bisweilen so stark überzeichnet wurden, weil bereits die tendenzielle Abweichung von der traditionellen Norm eine tiefgreifende Verunsicherung darstellte. „Die Amerikanerin" stellte aus dieser Perspektive alle männlichen Privilegien in Frage: Der traditionelle Bildungsvorsprung des Mannes im europäischen Bürgertum, auf den im folgenden Kapitel noch näher eingegangen werden soll, schien sich in den USA zugunsten eines von Frauen beherrschten Kulturlebens umgekehrt zu haben, die unumschränkte Herrschaft innerhalb der Familie schien in den USA auf die Frau übergegangen zu sein, und der frühe freie Umgang der Geschlechter bzw. das Prinzip der Koedukation ließ eine gefahrvolle Freisetzung weiblicher Sexualität befürchten, deren Kontrolle in so starkem Maße das Produkt bürgerlicher (Doppel-)Moral im 19. Jahrhundert geworden war, die dem Mann Freiheiten einräumte, die für die Frau der gleichen Schicht undenkbar blieben.87 Gerade dieser letzte Aspekt zeigt einmal mehr, in wie starkem Maße nicht nur die Wilhelminer, sondern die meisten europäischen Bürger aufgrund europäischer Krisenphänomene die amerikanische Realität in ihrer Unterschiedlichkeit durchaus geschärft registrierten und doch zugleich die Unterschiede und Modernitätsvorsprünge im positiven wie negativen Sinne deutlich übertrieben, blieb doch auch in der amerikanischen middle class beispielsweise das Thema der Sexualität gerade in der Frauenerziehung nicht zuletzt aufgrund des spezifisch puritanischen Traditionszusammenhangs extrem tabuisiert,88 auch wenn das lange Zeit dominierende Bild der durch gesteigerte Prüderie und verinnerlichte Selbstkontrolle vollkommen „entsexualisierten" Bürgerin in wichtigen Punkten relativiert und zurechtgerückt worden ist.89

87 Vgl. dazu I. V. Hull: „Sexualität" und bürgerliche Gesellschaft. In: Frevert (Hg.), Bürgerinnen, S. 4 9 - 6 6 sowie Schenk, Freie Liebe, S. 90ff und Gay, Erziehung der Sinne, bes. S. 187-241. 88 Vgl. für Deutschland dazu J. Jacobi-Dittrich: Growing Up Female in the Nineteenth-Century. In: J. C. Fout (Hg.): German Women in the Nineteenth-Century. A Social History. London 1984, S. 197-209; Rosenbaum, Formen, S. 347ff; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 52f bzw. Hausen, eine Ulme, S. 98f und für die USA Raeithel, Geschichte, Bd. 2, S. 91ff. 89 Vgl. dazu besonders die Arbeiten von P. Gay, so z. B.: Die zarte Leidenschaft, passim und Ders., Erziehung der Sinne, passim sowie für Frankreich Ariès/Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4, S. 531-577.

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Die „Herrschaft der Frau" - Familie und Geschlechterrollen

Ähnlich überinterpretiert erschien, wie wir gesehen haben, auch der zentrale Bereich der Berufstätigkeit von Frauen und der Kindererziehung. Auch hier wurden die Wilhelminer mit unverkennbaren Individualisierungstendenzen konfrontiert, die das bürgerliche Familienmodell in Frage zu stellen schienen, ihm dabei aber in seiner ursprünglich emanzipatorischen Ausrichtung weitaus eher entsprachen als die autoritären Strukturen im Kaiserreich.90 Die Debatte über die Modernität der amerikanischen Familie erhellt damit bei der Mehrzahl der Autoren eine mentale Abwehrhaltung gegenüber dem ursprünglichen emanzipatorischen Projekt im Moment einer tiefgreifenden Orientierungskrise und Infragestellung eigener Herrschaftsansprüche und dominierender Rollenmuster. Gerade im so überaus persönlichen und daher empfindlichen Feld der Geschlechterrollen und Familienbeziehungen finden sich daher weit konkreter als im Bereich der Mentalitäten die in der Forschung ermittelten Dispositionen der Autoritätsfixierung, Harmonieorientierung und auch gelegentlich der Aggressivität. Dennoch wäre es verfehlt, diese Sicht nur aus einer spezifisch deutschen Perspektive zu erklären, zumal die gegen diesen Mainstream anschreibenden Gegenstimmen, die sich oft gerade in den bekannten Amerikabüchern finden lassen, nicht vernachlässigt werden dürfen. Vor allem aber verweist die Kontinuität und Internationalität der gemachten Beobachtungen und der daran anschließenden kontroversen Diskursmuster auf eine mentale Disposition, die offenkundig in starkem Maße die (männliche) bürgerliche Kultur in ganz (West-) Europa bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Mochte Amerika zwar das Modell der Zukunft Europas abgeben, so ließen nicht nur die Wilhelminer in ihrer Mehrheit keinen Zweifel daran, daß diese Zukunft nicht die ihre sein konnte und durfte.

90 Zur höheren Wertschätzung der Familie im Vergleich zum Individuum im Kaiserreich vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 43ff.

Kapitel 5

Pragmatismus, Selbständigkeit und Effizienz Amerikanische Bildungsinstitutionen aus deutscher Sicht

Im vorigen Kapitel zu den Familienstrukturen und Geschlechterrollen sind Fragen der schulischen und universitären Ausbildung schon angeklungen. Obwohl dieses Thema keine so zentrale Rolle spielte wie die vorhergehenden und insbesondere das Thema Familie, wurde es doch immer wieder beachtet und diskutiert, was angesichts der Dominanz bildungsbürgerlicher Autoren auch keineswegs verwundert. Und es bildete zugleich einen so wichtigen Bestandteil der Modernitätsdebatte im Hinblick auf das,.Modell" USA, daß es hier gesonderte Beachtung verdient. Erstaunlich ist dabei, daß die Beobachtungen und Beurteilungen hier in den unmittelbaren Reiseberichten wie in den landeskundlich angelegten Studien fast einhellig sind und kaum Abweichungen das homogene Bild variieren oder konterkarieren, auch wenn die Schwerpunkte in den einzelnen Berichten durchaus unterschiedlich gesetzt wurden. Auch hier wird sich zeigen, daß vor allem massive Umbrüche von Bildungsidealen wie -realitäten in Deutschland bzw. Europa gegen Ende des Jahrhunderts das Interesse an amerikanischen Bildungsinstitutionen bestimmten. Dabei standen in erster Linie der gewaltige Ausbau von Bildungsinstitutionen aller Art in den USA sowie die zugrundeliegenden Bildungsideale und entsprechenden -methoden im Vordergrund des Interesses, die durch die Offenheit der amerikanischen Verantwortlichen von allen interessierten Reisenden vor Ort intensiv erkundet werden konnten, wobei natürlich vor allem die berühmten Colleges und Universitäten der Ostküste wie Harvard, Yale oder Princeton im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.

1. Bildung für alle - Der „Bildungsboom" in den USA Einig waren sich alle Autoren in dem ungeheuren „Bildungseifer", der die amerikanische Gesellschaft erfaßt zu haben schien, sichtbar anhand einer Fülle von Bildungsinstitutionen privater wie staatlicher Natur, die zudem stetig ausgebaut und erweitert wurden. Diesem Bildungsboom in den USA lag aus deutscher Sicht eine spezifisch mentale Disposition zugrunde, ein fast religiös zu nennender Glaube an die Wichtigkeit und den Wert von persönlicher wie gesellschaftlicher (Aus-)Bildung. So konstatierte der Schriftsteller Ludwig Fulda in seinen nach 1900 mehrfach aufgelegten „Amerikanische(n) Eindrücke(n)" eindringlich: „Wenn ich sagen soll, was in Amerika mich in das größte Erstaunen versetzt und meine Erwartungen am weitesten übertroffen hat, so antworte ich: es sind nicht die Wolkenkratzer, nicht die Dimensionen des Landes, nicht die Riesenhaftigkeit aller Lebensverhältnisse; es ist vielmehr das Bildungs- und Unterrichtswesen. Mit

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Amerikanische Bildungssituationen aus deutscher Sicht

demselben Recht, wie man vorgibt, dieses Volk sei von einer unersättlichen Erwerbsgier besessen, kann man auch behaupten, es sei von einem untstillbaren Wissensdurst beherrscht. Der Respekt, den man drüben vor der Bildung hat, grenzt an mystische Verehrung; nirgends in der Welt werden dem Studium so gewaltige Summen geopfert. (...) Millionen und aber Millionen werden jährlich von Privaten der Volkserziehung zur Verfügung gestellt. Es ist der heißeste Wunsch des Selfmademan, daß seine Kinder mehr lernen als er selbst. Dieser Trieb kennt weder einen Unterschied der Geschlechter noch der Klassen noch der Vermögenslage; er erstreckt sich bis in die untersten Schichten, und ein ebenso großartiges wie verwickeltes System von Bildungsanstalten sucht ihm Genüge zu tun." 1 Wir begegnen hier erneut d e m inzwischen bekannten Grundmuster fehlender sozialer Trennlinien i m „starren" europäischen Sinn w i e auch dem starken privaten Element amerikanischen Engagements in der Öffentlichkeit, das sich w i e ein roter Faden durch alle gesellschaftlichen Beobachtungen zieht. D o c h es fiel nicht nur das private Engagement auf. Wie wichtig Bildungsfragen generell im öffentlichen Leben der U S A g e n o m m e n und diskutiert wurden, beobachtete der Publizist und liberale Politiker Theodor Barth 1907: „In diesem Lande, welches so sehr in der Zukunft lebt, (...) spielt begreiflicherweise die Jugend eine bevorzugte Rolle. Für nichts ist das allgemeine Interesse leichter zu erregen, als für Erziehungsfragen. Für nichts ist die Steuerkraft der Bevölkerung und die Liberalität privaten Reichtums leichter zu interessieren, als für die Vervollkommnung von Erziehungseinrichtungen. (...) Man mag über das bisher Geleistete verschiedener Meinung sein, das lebendige Interesse, das die ganze Bevölkerung den Erziehungsfragen entgegenbringt, ist unbestreitbar und sicherlich größer, als in irgendeinem Lande Europas." 2 D i e s e s Engagement hing wesentlich mit dem prinzipiell egalitären Charakter des amerikanischen Bildungssystems im Gegensatz zu den deutschen bzw. allgemein europäischen Verhältnissen zusammen, w i e es bei Fulda und Barth schon angeklungen ist. Obwohl e i n i g e genauere Beobachter auch hier Hierarchisierungs- bzw. „Europäisierungstendenzen" feststellten, war diese soziale Offenheit besonders im Bereich der Schulbildung unbestreitbar und fügte sich ein in das Bild v o m Gleichheitsbewußtsein der amerikanischen Gesellschaft, das j a - w i e oben geschildert - wesentlich auf Chancengleichheit zielte, w o b e i der Chance auf Bildung zentrale Bedeutung zukam. Hugo Münsterberg brachte dies folgendermaßen auf den Punkt: „Das innere Motiv ist klar: jeder, auch der geringste, soll die Bahn offen finden, jeder soll so weit vordringen können, wie ihn die eigene Kraft trägt. Mit anderen Worten - Worten, die der amerikanische Pädagoge gern im Munde führt - : die Schule soll den Kastengeist unmöglich machen: sie soll die Grenzen zwischen den Ständen verwischen (.. ,)." 3 D e n Kontrast zu Europa und besonders Deutschland hob in diesem Kontext ein anderer Bericht bereits 1893 hervor:

1 Fulda, Eindrücke, S. 140f. Vgl. auch Polenz, Land, S. 266; Bürgers, Kulturbilder, S. 22f; Darmstaedter, Vereinigte Staaten, S. 230ff und für die 90er Jahre: Oetken, Landwirtschaft, S. 696ff; Diercks, Kulturbilder, S. 182ff; Hesse-Wartegg, Chicago, S. 119-127 und Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 655ff. 2 Barth, Eindrücke, S. 47. Vgl. auch Hintrager, Wie lebt, S. 18ff; Oberländer, Ozean, S. 25f; Wolzogen, Dichter, S. 52 u. 62; Bruncken, Volksseele, S. 140f und Salomonsohn, Reise-Eindrücke, S. lOf. 3 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 25. Vgl. ebda., S. 24ff sowie Oetken, Landwirtschaft, S. 696f; Polenz, Land, S. 249 u. 262 und Rambeau, Amerika, S. 125ff u. 315f.

Bildung für alle - Der „Bildungsboom" in den USA

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„In Deutschland und in noch einigen anderen europäischen Ländern befestigt man die Monopole der sog. berechtigten höheren Schulen fast immer noch mehr; man macht den Zutritt zu den höheren Beamtenstellungen immer schwieriger und kostspieliger; man sucht in mancher Hinsicht geradezu vom sogenannten .Studium' abzuschrecken, indem man dabei von der Befürchtung geleitet ist, bei irgendwelcher Erleichterung des Zutritts zu den höheren Unterrichtsanstalten zuviel Leute im Staate zu bekommen (.. ,)." 4 Der Autor dieser Passage - der Gutsbesitzer und Schriftsteller Friedrich Oetken - beschwor damit die A n g s t vor d e m sogenannten „Akademikerproletariat" in Deutschland und stellte das Modell Amerika positiv dagegen, w o durch mehr Pragmatismus, Achtung der Arbeit als solcher und mehr soziale Offenheit und Mobilität solche Gefahren gebannt erschienen. 5 Vor allem aber ergab sich daraus der Vorteil, daß zumindest Elementarbildung in den U S A sozial breiter gestreut und - gefördert durch kostenlosen Schulbesuch, Schulpflicht, freie Lernmittel und allgemeine Zugänglichkeit hervorragend ausgestatter Bibliotheken in fast allen (Klein-)Städten 6 - leichter zugänglich erschien, was alle Autoren einhellig als Vorbild priesen. Gerade Unternehmer hoben diesen Vorzug immer wieder hervor, auch wenn im Gegensatz dazu die schulische Ausbildung in Deutschland gründlicher und umfassender wirkte: „Ein deutscher Knabe, welcher eine gute Volksschule mit gutem Erfolge durchgemacht hat, wird dem Amerikaner, welcher die Grammar-Schule verläßt, wahrscheinlich überlegen sein, noch größer wird die Überlegenheit eines guten Gymnasial-Abiturienten sein gegenüber dem Amerikaner, der die Hochschule durchgemacht hat. Nehmen wir aber die Massen, und fragen wir uns nach dem Bildungsstande des Durchschnitt-Schülers, der Millionen, welche die Volksschulen besuchen, dann dürfte das Bild ein ganz anderes werden. Sowohl in Kenntnissen, als auch in Gewandtheit bei der Anwendung, noch mehr aber in Willenskraft, Selbständigkeit im Denken und Handeln, klarem Blick und Verständnis für die Anforderungen und Lagen des praktischen Lebens wird der amerikanische Knabe und wahrscheinlich noch viel mehr das amerikanische Mädchen unsern deutschen Kindern bei weitem überlegen sein, und ich bin der Meinung, daß trotz unserer längeren Erfahrung und der besseren Durchbildung unserer Methoden wir doch aus dem amerikanischen Erziehungssystem manche Anregung und Belehrung entnehmen könnten und sollten." 7 Damit sind bereits Inhalte und Methoden angesprochen, die im folgenden Abschnitt noch näher analysiert werden sollen. Hier genügt es vorerst festzuhalten, w i e durchaus fortschrittlich und stellenweise vorbildhaft die soziale Bandbreite amerikanischer Schulbildung eingeschätzt wurde, w o z u nicht zuletzt die hervorragende materielle Ausstattung der verschiedenen Institutionen von der Eliteuniversität bis zur Volksschule und Bibliothek in der Kleinstadt beitrug, die den Wilhelminern immer wieder auffiel und einhellig Bewunderung auslöste. 8

4 Oetken, Landwirtschaft, S. 705. 5 Vgl. ebda., S. 705f. 6 Vgl. u. a. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 97-101 u. 131ff; Bürgers, Kulturbilder, S. 20f; Diercks, Kulturbilder, S. 222; Pfister, Amerika, S. 16f; Münsterberg, Eindrücke, S. 26ff und Norda, Augenblicksbilder, S. 41. 7 Bahr, Reise-Berichte, S. 237. Vgl. auch Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 23ff, 37-41 u. 53 sowie Lurz, Weltreiseskizzen, S. 219. 8 Vgl. dazu ζ. B. Bahr, Reise-Berichte, S. 230ff; Fulda, Eindrücke, S. 149f; Mareks, Eindrücke, S. 43ff; Oberländer, Ozean, S. 26f; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 94-100 und die statistischen Angaben bei Scherff, Nord-Amerika, S. 123-160. Selbst ein so kritischer Autor wie der sozialistische Schriftsteller Arthur Holitscher beschrieb denn auch begeistert über amerikanische Bildungseinrichtungen, so z. B. die berühmte Sommeruniversität Chautauqua. Vgl. Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 91-101.

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Amerikanische Bildungssituationen aus deutscher Sicht

Aber nicht nur im rein materiellen Bereich war der egalitäre Grundcharakter des amerikanischen Bildungswesens für die Wilhelminer unübersehbar. Dazu kam ferner die größere Offenheit des amerikanischen Bildungswesens für Mädchen und Frauen auf der Basis der Koedukation, die schon im vorigen Kapitel kurz beschrieben worden ist. Darüber hinaus waren gerade in den amerikanischen Universitäten deutsche Bildungsbürger immer wieder mit dem auffallenden Fehlen von Hierarchien innerhalb der Studenten- wie Professorenschaft konfrontiert, wie überhaupt Stellung und Beruf des Professors nicht diesen besonderen gesellschaftlichen Rang wie in Deutschland innezuhaben schien. So vermerkte der Historiker Karl Lamprecht etwas entrüstet 1906: „Die soziale Stellung der Professoren ist nicht gleich hoch wie bei uns. Wiederholt habe ich Leuten aus guter Gesellschaft bald leise, bald in unmißverständlicher Entschiedenheit klarmachen müssen, welche Behandlung ich als deutscher Professor gewöhnt bin. Das Entscheidende auf diesem Gebiete, das für die Wissenschaft wichtiger ist, als der erste Blick ergibt, ist in Amerika die Gehaltsfrage. Denn in einem Lande, wo die soziale Gliederung noch ganz wesentlich, wenn nicht fast ausschließlich durch das Wirtschaftsleben bestimmt wird, entscheidet der Dollar. Die amerikanischen Professorengehälter sind, soweit ich darüber glaubhaft berichtet bin, viel zu gering." 9

Mochten die Gehälter der Professoren im Vergleich zu Spitzengehältern in der Wirtschaft in den USA auch tatsächlich niedriger liegen, so fällt doch anhand einer solchen Begründung auf, wie schwer sich manche Beobachter mit der in Amerika feststellbaren Relativierung des in Deutschland lange Zeit besonders hervorgehobenen Status des Bildungsbürgers taten und wie sie nicht selten den schon bekannten Topos vom allbeherrschenden Materialismus zur Erklärung ins Feld führten, wo der Abbau von Sonderstellungen und Hierarchien eher auf ein unterschiedliches gesellschaftliches Bewußtsein zurückzuführen war. Andererseits wurde dieses egalitäre und korporative Bewußtsein besonders unter Studenten durchaus positiv gewürdigt, ebenso wie die schon im zweiten Kapitel erwähnte entsprechende Bereitschaft zu außeruniversitärer bzw. körperlicher Arbeit im Hinblick auf die Studienfinanzierung, die in Deutschland oder Europa undenkbar erschien oder mit sozialem Statusverlust einherging. 10 Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß die Wilhelminer in den USA einen gewaltigen Ausbau der Bildungsinstitutionen von der Kleinstadtbiliothek über die Volksschulen bis hin zu den Eliteuniversitäten und zugleich eine erstaunliche soziale Ausstrahlungskraft dieser Bildungsexpansion in fast allen Schichten der (weißen!) amerikanischen Bevölkerung registrierten, in der sich das Bewußtsein der Chancengleichheit spiegelte. Dies war für den

9 Lamprecht, Americana, S. 89. Vgl. auch Wolzogen, Dichter, S. 53f; Diercks, Kulturbilder, S. 220f und v. Skal, Volk, S. 56, der charakteristischerweise hervorhebt, daß das Sozialpresitge der Erfinder in den USA höher liege als das der Universitätsgelehrten. 10 Vgl. z. B. Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 334f und Wolzogen, Dichter, S. 43, wo es heißt: „Man wird schwerlich jemals beobachten können, daß arme Studenten und Studentinnen, die sich durch Stundengeben, Schreiber- oder gar Handlangerdienste mühsam durchschlagen müssen, vor den Mitgliedern der reichen Verbindungen unterwürfig kriechen, oder daß jene sich diesen gegenüber einen überheblichen, unkameradschaftlichen Ton herausnähmen. In allen gemeinsamen Angelegenheiten halten die Studenten fest zusammen."

Neue Ideale und Realitäten - Pragmatismus, Patriotismus und Modernität

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Sonderstatus des deutschen Bildungsbürgers eine Herausforderung, löste aber auch Bewunderung aus und ließ im Hinblick auf die Prägekraft von Volksbildung die USA nicht selten als Modell auch für Deutschland erscheinen.

2. Neue Ideale und Realitäten Pragmatismus, Patriotismus und Modernität Inhaltlich wie methodisch dominierten aus wilhelminischer Perspektive Pragmatismus, Patriotismus und Modernität die amerikanischen Bildungsinstitutionen, wobei kein bedeutender Unterschied zwischen den einzelnen Institutionen gemacht wurde. Erneut prägten idealistische Deutungsmuster die Wahrnehmung der Schulen wie Universitäten; es war aus deutscher Sicht also ein spezifisch amerikanischer „Geist", der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Immer wieder trat dabei eine Beobachtung hervor, die schon die allgemeine Sicht der amerikanischen Mentalität geprägt hatte, nämlich ein unverkennbarer Zug zu Pragmatismus in inhaltlicher wie formaler Hinsicht. Die Beurteilung dieses Pragmatismus fiel ambivalent aus und reichte vom Vorwurf der Oberflächlichkeit und des bloßen Utilitarismus bis hin zur Bewunderung für die effiziente Anpassung an die Erfordernisse der modernen industrialisierten Welt. Wie gestaltete sich aus deutscher Sicht dieser Pragmatismus konkret? Ludwig Fulda beobachtete ζ. B. den Alltag einer High School in Indianapolis und vermerkte mit Bewunderung: ,.Die von mir eingehend besichtigte Anstalt in Indianapolis bietet ihren Schülern und Schülerinnen neben den üblichen Fächern, als da sind moderne und klassische Sprachen, Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik, Chemie usw., die praktische Unterweisung in Tischlerei, Schmiedekunst, Gießerei, Maschinenbau, Zeichnen und Malen, Kochen, Handarbeit, Haushaltungslehre, Stenographie, Schreibmaschine und Buchhaltung. Es ist klar, daß die Ausbildung in einigen dieser Fertigkeiten, einerlei, ob sie für den künftigen Beruf nutzbar gemacht wird oder nicht, ein außerordentlich heilsames Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des Buchwissens und des Gedächtniskrams darstellt; daß sie die Hand übt, die Sinne schärft, die Anschauung stärkt und den ganzen Menschen für das reale Leben, für die unmittelbare Anwendung seiner natürlichen Gaben und erworbenen Kenntnisse tauglicher macht." 11

Charakteristisch war in diesem Zusammenhang auch die konkrete Erfahrung des Arbeiters Fritz Kummer im Hinblick auf das Erlernen der englischen Sprache, der enthusiastisch einerseits die schon skizzierte soziale Offenheit amerikanischer Schulen und andererseits die methodische Modernität des Unterrichts beschrieb: „So einfach und wortlos hatte ich mir den Eintritt in Onkel Sams Schule nun nicht vorgestellt. Der deutsche Untertanenverstand hatte alle Ursache zu staunen. Der Fremdling wurde nicht gefragt, woher er komme, wes Kindes er sei, ob er sich ausweisen könne. Statt dessen wurde begonnen, ihn zu unterrichten. (...) Die

11 Fulda, Eindrücke, S. 158f. Vgl. auch Below, Bilder, S. 195ff und Hintrager, Wie lebt, S. 23, wo es über die allgemeinen öffentlichen Volksschulen entsprechend hieß: „Gelehrt wird in diesen allgemeinen öffentlichen Schulen bis zum 14.Jahre all das, was ein Mensch zum Leben in diesem Landesteile braucht, in welchem die Schule sich befindet. Außer den auch bei uns in den Volksschulen gelehrten Fächern wird in allem, was zur kaufmännischen Tätigkeit gehört, unterrichtet."

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Amerikanische Bildungssituationen aus deutscher Sicht

Unterrichts weise hätte nicht fördernder sein können. Sie ward der Vorbildung als auch den Lebensnotwendigkeiten der Arbeiter-Schüler vorzüglich angepaßt. Keine langatmigen Regeln, keine graue Theorie. Durch den Unterricht rauschte der dicke Strom frischen Lebens. Den Übungsstoff hatte der Alltag zu liefern. Was der Arbeiter täglich, stündlich braucht, wie er Arbeit zu suchen, Lohn zu fordern, Speise und Trank zu bestellen, auf der Straße um Auskunft zu fragen hat, wurde vorerst gelehrt. Der Lehrer sprach nur englisch, und der internationalen Schulkameradschaft blieb für sich selbst kein anderes Verständigungsmittel als das Englische. 11 Dieser Zwang förderte den Unterricht nicht wenig." Solche konkreten Erfahrungen machte die Mehrzahl der bürgerlichen Reisenden natürlich nicht; ihr Schwerpunkt lag aufgrund ihrer vorwiegend bildungsbürgerlichen Herkunft auch stärker i m Bereich der höheren Schulen, also der Colleges und Universitäten. Hier zeigte sich der amerikanische Pragmatismus vor allem einerseits im Gewand einer lebenspraktisch orientierten und weniger wissenschaftlich ausgerichteten Ausbildung zum „Gentleman", andererseits in einer starken Schwerpunktsetzung auf „praktischen" Fächern w i e Wirtschaftswissenschaften, Technik und Naturwissenschaften. Beide Ausrichtungen standen im augenfälligen Kontrast zum klassisch-humanistisch geprägten deutschen Gelehrtenideal. H u g o Münsterberg beschrieb diesen (historisch bedingten) Unterschied folgendermaßen: „Die höhere Schule gehört in Deutschland so eng mit den gelehrten Berufen zusammen und diese selbst wuchsen historisch so völlig aus gelehrten Studien hervor, daß Fachgelehrsamkeit und höhere Bildung nahezu identisch wurden und das soziale Prämiensystem den gelehrten Beruf in jeder Weise begünstigte. (...) Die Nation (die USA, A. S.) war Schritt für Schritt gewachsen mit der Betätigung des kaufmännischen Unternehmungsgeistes; solange es galt, das Land zu erschließen und zu bemeistern, trat das stärkste Talent, die sicherste Kraft, die stolzeste Persönlichkeit überall in den Dienst dieser kulturschaffenden Arbeit. Daß diesen Patriziern des Handels und der Industrie keine zweite Rolle zugemutet werden konnte, war selbstverständlich; die höchste ihnen zugängliche Kultur mußte notwendig den Maßstab für das Bildungsideal der sozialen Gemeinschaft bieten, und so mußte der traditionelle Begriff des Gentleman als Inbegriff der wertvollsten individuellen Allgemeinkultur jene überwiegend soziale Bedeutung gewinnen, die in Deutschland der gelehrten Fachbildung vorbehalten blieb. Die äußere Form dieser Gentlemanausbildung lehnte sich an England an. (...) Wer das College durchgemacht, gehörte zu den Gebildeten, gleichviel, welchem Beruf er sich später zuwandte, und keine Studien in der Fachschule konnten die Collegekultur ersetzen." 13 Entsprechend erlebte auch der Schriftsteller Ernst von Wolzogen in den U S A Verständigungsprobleme mit dem genuin aus der deutschen Philosophie des Idealismus stammenden Begriff der „Weltanschauung": „Weit weniger sichere und selbstbewußte Antworten dagegen erhielt ich, wenn ich amerikanische Studenten nach ihren wissenschaftlichen Zielen oder gar nach ihrer Weltanschauung auszuforschen versuchte. Da hieß es meist: ,Ach, darüber zerbrechen wir uns vorläufig den Kopf nicht.' (...) Da die englische Sprache keinen präzisen Ausdruck für Weltanschauung kennt, so ist es überhaupt sehr schwer, einem jungen Amerikaner begreiflich zu machen, was man damit meint. Der Optimismus des jungen erfolgreichen Volkes sitzt ihm so

12 Kummer, Weltreise, S. 58f. 13 Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 65ff. Vgl. auch Mareks, Eindrücke, S. 26f; Oberländer, Ozean, S. 121f; Krekeler, Reise, S. 34f; Oetken, Landwirtschaft, S. 696f und Polenz, Land, S. 274ff, wo er als „Idealtypen" deutscher und amerikanischer Gelehrsamkeit den lebenspraktisch orientierten Benjamin Franklin dem idealistischen „Metaphysiker" Immanuel Kant gegenüberstellte und zugleich die Regentschaft „großer Männer" in Deutschland in Opposition zur „Massenherrschaft" in den USA auf das Ideal umfassender Persönlichkeitsbildung zurückführte.

Neue Ideale und Realitäten - Pragmatismus, Patriotismus und Modernität

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tief im Geblüt, daß er kaum begreift, wie man sich von Zweck und Wert des Lebens, von der Vortrefflichkeit der bestehenden Weltordnung verschiedenartige Vorstellungen machen könne. (...) Eine solche Anschauung ist unzweifelhaft gesund für Leib und Seele - aber für die wissenschaftliche Erkenntnis ist sie nichts weniger als förderlich. (...) Den amerikanischen Studenten im allgemeinen interessiert nur jenes positive Wissen, dessen unmittelbare praktische Verwertbarkeit ihm einleuchtet. (...), so sind auch die Universitäten keineswegs darauf aus, Gelehrte zu züchten, sondern ihre Absicht ist vielmehr nur, dem Schulwissen den letzten Schliff, das refinement der höheren Kultur und den Fachstudien jene Vertiefung zu geben, die sie im praktischen Leben erst nutzbar macht. Der amerikanische Student glaubt an sein Lehrbuch und schwört auf die Worte seines Lehrers. Er lernt fleißig, ohne sich von Zweifeln beirren zu lassen (.. .)." 14 W o l z o g e n ließ w i e viele andere Beobachter keinen Z w e i f e l an der Kritikwürdigkeit einer solchermaßen unkritischen bzw. aus deutscher Sicht oberflächlichen, da lediglich auf die Lebenspraxis konzentrierten Ausbildung. Immer wieder wurde in den Berichten die „Oberflächlichkeit"

und einseitige Spezialisierung, die geringe Professionalisierung der Lehrer, 1 5

die damit verbundene Gefahr der „Halbbildung" und die Reduktion von Bildung im umfassenden Sinn auf bloße Ausbildung für einen speziellen Beruf in den U S A hervorgehoben, 1 6 g e g e n die sich das Vorbild der eigenen Gesellschaft und ihrer alten umfassenden und für Europa und die Welt im 19. Jahrhundert lange vorbildhaften Bildungs- und Wissenschaftskultur um so deutlicher abhob und damit die deutschen Gymnasien und Universitäten überl e g e n erscheinen ließ. 1 7 Dazu kam die deutlich stärkere Konzentration auf moderne Fächer aus den Bereichen der Technik und den Naturwissenschaften, anhand derer die deutschen Beobachter allerdings in einigen Fällen die größere Modernität der amerikanischen Bildungsinstitutionen konzedieren mußten. 1 8 Zu diesem modernen Pragmatismus gehörte ferner auch das Erstaunen der Reisenden über die zentrale Rolle des Sports, der nicht nur im gesellschaftlichen Leben, w i e es oben anhand der Mentalitäten sichtbar geworden ist, sondern auch und gerade in den Universitäten und Schulen einen so wichtigen Platz einnahm und damit in deutlichem Kontrast zu den deutschen bzw. europäischen Verhältnissen stand. 1 9 D i e s e zentrale Rolle des Sports wurde dabei vielfach durchaus positiv bewertet, knüpfte sie

14 Wolzogen, Dichter, S. 46f. Vgl. auch ebda., S. 60 sowie zum geringeren Wissen amerikanischer Studenten im Vergleich zu ihren deutschen Kommilitonen auch Rambeau, Amerika, S. 326f; v. Skal, Volk, S. 99 und Neve, Charakterzüge, S. 63ff, der jedoch die größere Gewandtheit im Umgang mit dem Wissen bei den Amerikanern positiv hervorhob ebenso wie Bruncken, Volksseele, S. 157ff, der zwar das schlechte Niveau der High Schools beklagte, zugleich aber auf die gewaltigen und rapiden Fortschritte und Verbesserungen hinwies. 15 So im Verlgeich zu Deutschland bzw. Frankreich bei Rambeau, Amerika, S. 320f bzw. generell bei Oetken, Landwirtschaft, S. 698f. 16 Vgl. u. a. Bahr, Reise-Berichte, S. 236f; Below, Bilder, S. 186ff; Lurz, Weltreiseskizzen, S. 219; Mareks, Eindrücke, S. 35f; Hesse-Wartegg, Chicago, S. 122; Klein, Nord-Amerika, S. 112ff; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 108ff und Niese, Bilder, S. lOlff u. 1 lOff sowie Zimmermann, Onkel Sam, S. 205ff. 17 Siehe dazu u. a. Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 25; Neve, Charakterzüge, S. 65ff; Polenz, Land, S. 257fï, 272 und 278f; Diercks, Kulturbilder, S. 216f; Oetken, Landwirtschaft, S. 707f und KnebelDoberitz, amerikanische Gefahr, S. 86. 18 So bei Polenz, Land, S. 264f bzw. 271f; Diercks, Kulturbilder, S. 221f; Below, Bilder, S. 186ff und vor allem Plenge, Zukunft, S. 73. 19 Siehe dazu u. a. Bahr, Reise-Bilder, S. 233f; Fulda, Eindrücke, S. 146f; Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 336ff; Wolzogen, Dichter, S. 44f und Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 298f.

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Amerikanische Bildungssituationen aus deutscher Sicht

doch vermeintlich an antike Ideale der einheitlichen Ausbildung von Körper und Geist an. Das schon äußerlich andere Erscheinungsbild der Studenten in Deutschland im Vergleich zu den USA gab denn auch gelegentlich zu Selbstkritik Anlaß. So machte sich der Schriftsteller Ernst von Wolzogen über die deutsche akademische Kultur entsprechend lustig: „Wer in Deutschland akademischer Bürger gewesen ist, dem muß zunächst unfehlbar der große Unterschied zwischen hüben und drüben in der äußeren Erscheinung der Studenten und Studentinnen auffallen. Abgesehen davon, daß selbstverständlich der groteske Typus des Studiosus Süffel, des bemoosten Hauptes mit dem Bierbauch und den aufgeschwemmten, kreuz und quer zerhackten Backen, sowie auch die des hochmütig blasierten ultrapatenten Korpsstudenten fehlt, sieht man sich auch vergeblich nach dem Typus unseres heißbeflissenen Jüngers der Wissenschaft um, nach den stubenbleichen Brillenträgern, den verträumten oder frühzeitig zergrübelten Denkerköpfen (...). Drüben sieht man nur frische, derbe Jungens und Mädels." 20

Dies war sozusagen die Kehrseite des deutschen Gelehrtenideals, deren Schilderung zeigt, daß sich die deutschen Autoren keineswegs nur in selbstgerechter Kritik an amerikanischen Verhältnissen ergingen, auch wenn solch spöttische Form naturgemäß die Ausnahme blieb und zugleich gesehen werden muß, daß derselbe Autor andererseits mit der pragmatischen „Oberflächlichkeit" amerikanischer Bildungsformen hart ins Gericht ging. Aber noch ein anderer Aspekt der Modernität und Pragmatik amerikanischer Bildungsinstitutionen fiel den Amerika-Autoren immer wieder auf: die frühe und intensive staatsbürgerliche Erziehung und patriotische Prägung des Schulunterrichts. Immer wieder wurde die Schule als Motor der Assimilation und Integration der unterschiedlichen Einwanderergruppen wahrgenommen und durchaus bewundernd beschrieben, auch wenn sich nicht selten das Bedauern über die relativ schnelle sprachliche wie kulturelle Assimilation der eingewanderten Deutschen in diese Bewunderung mischte: „Der Amerikaner erblickt in der öffentlichen Schule das wirksamste und wichtigste Mittel, die Eingewanderten schnell zu amerikanisieren, die verschiedenen Bestandteile des Volkes zu verschmelzen, Bildung und Wissen zu verbreiten, die geistige Entwicklung des ganzen Landes zu fördern und in der Jugend die Liebe zum Vaterlande, den Glauben und die Vortrefflichkeit seiner Einrichtungen und den Stolz auf die Zugehörigkeit zum amerikanischen Volke zu erwecken. Und darin hat er recht. In den Schulen treffen alle Schichten und Bestandteile des Volkes, die an seinem Gedeihen mitzuwirken haben, zusammen, und hier wird der Jugend 91 die echt amerikanische Denkart eingeimpft."

Vor allem die frühe staatsbürgerliche Erziehung beeindruckte nicht wenige Autoren und selbst der gegenüber Amerika so kritisch eingestellte Arthur Holitscher gab nach eingehendem Anschauungsunterricht vor Ort seiner Bewunderung über die amerikanischen Erziehungsmethoden in dieser Hinsicht Ausdruck:

20 Wolzogen, Dichter, S. 41. 21 v. Skal, Volk, S. lOOf. Vgl. auch Polenz, Land, S. 256; Scherff, Nord-Amerika, S. 80ff u. 161f; Kummer, Weltreise, S. 60f; Legien, Arbeiterbewegung, S. 49; Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 25f und Hintrager, Wie lebt, S. 20, wo es hieß: „Als Kinder deutscher, italienischer, norwegischer, russischer Eltern gehen jene in die Schule, als junge Amerikaner verlassen sie dieselbe und kommen heim mit anderen Anschauungen und anderer Sprache. Mit einem stolzen:, Wir sind das Volk!' treten sie brüsk vor die europäischen Eltern, das junge Amerika vor das alte Europa!". Zur Kritik an der schnellen Assimilation deutscher Einwanderer siehe u. a. Röder, Reisebilder, S. 24ff; Schneller, Sternenbanner, S. 22f; Nölting, Sternenbanner, S. 23 und Wolzogen, Dichter, S. 29ff u. 265ff.

Neue Ideale und Realitäten - Pragmatismus, Patriotismus und Modernität

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.Allmählich leuchtet mir der Zusammenhang zwischen Politik und Volksschule ein. Ich lerne verstehen, auf welche Art das amerikanische Kind für das öffentliche Leben vorbereitet wird, daran es teilnehmen wird, wenn es erst erwachsen ist. Ich sehe: dies ist nicht nur eine Fortsetzung des Geschichtsunterrichts bis in die Gegenwart, sondern dies ist der wahre Geschichtsunterricht. Ich sehe, was in Amerika Nationalgefühl heißt 11 und wie dieses geweckt wird." D o c h auch andere Beobachter stellten immer wieder die frühe Erziehung zum republikanischen Ideal, zu „ c o m m o n sense" und demokratischen Prinzipien fest, die nicht nur inhaltlich, sondern auch in einem entsprechenden Unterrichtsstil vermittelt wurden. 2 3 D a z u gehörte auch und wesentlich ein Erziehungsstil, der aus deutscher Perspektive antiautoritär wirkte und die frühe geistige w i e materielle Selbständigkeit der Schüler und Studenten i m A u g e hatte - Züge, die schon anhand der Erziehung in der Familie offenbar geworden waren, w i e wir im vorigen Kapitel gesehen haben. Dementsprechend mußte der Sprachwissenschaftler A d o l f Rambeau 1912 feststellen: „Das freiheits- und unabhängigkeitsgefühl der nordamerikanischen jugend (...) erscheint zusammen mit ihrem selbstverantwortungsgefühl und ihrer selbstbestimmungsfähigkeit sehr früh und zeigt sich in der schule bei knaben und mädchen schon von der untersten stufe an. Schüler und Student stehen dem lehrer als vollkommen gleich, gleichberechtigt und ,eigenpersönlich' gegenüber. Unbedingter, blinder gehorsam wird weder verlangt noch gewährt. Disziplin im deutschen oder gar im preußischen sinne existirt (sie) nicht. (...) Daß die erwachsenen college students und die dem unverantwortlichen kindesalter allmählich entwachsenden und heranreifenden schüler ihre eigenen und ihre klassenangelegenheiten selbst verwalten und besorgen, Versammlungen abhalten, über gemeinschaftliche fragen und interessen miteinander öffentlich diskutiren (sie), beschlüsse fassen, Zeitungen herausgeben usw., ist allgemeiner brauch." 24 Allerdings betonte der Autor zugleich seine Skepsis gegenüber einer Übertragbarkeit solcher Methoden auf deutsche Verhältnisse - ein Argumentationsmuster, das uns ebenfalls gerade i m Familienkapitel immer wieder begegnet ist: „Solche versuche sind kürzlich selbst von manchen deutschen schulmännem mit wohlwollen und sogar mit freuden begrüßt worden. Jedoch sollten diese pädagogen bedenken, daß jene versuche der extremen Selbstverwaltung zu der ganzen art des deutschen unterrichtswesens, zur strengen disziplin, zur allgemeinen auffassung von amt und lehramt, zur traditionellen Stellung des lehrers und des schülers in deutschen lehranstalten ganz und gar nicht passen. Auch schießt man damit in Amerika selbst über das ziel hinaus." 25 Aber e s gab auch deutliche Gegenstimmen, die die positiven Seiten und Chancen dieses Ansatzes herausstrichen und durchaus Kritik an den deutschen „konservativen" und vor allem an der Universität praxisfernen Verhältnissen übten: „Dieses System (das deutsche Universitätssystem, A. S.) züchtet Nörgler und Hasser, es ist auch schuld daran, daß jener garstige Hochmut sich in den Köpfen der Auserwählten einnistet, der die herrschenden

22 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 33lf. Vgl. auch ebda., S. 332ff. 23 Vgl. ζ. B. Bürgers, Kulturbilder, S. 22; Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 90f; v. Skal, Volk, S. 102f und Rambeau, Amerika, S. 101, der dadurch auch eine stärkere Staatsloyalität der amerikanischen Studenten im Vergleich zu ihren europäischen Kommilitonen festzustellen meinte. 24 Rambeau, Amerika, S. 315f. 25 Ebda., S. 317. Vgl. auch Polenz, Land, S. 247f u. 250f; Below, Bilder, S. 202 und Neve, Charakterzüge, S. 46-53.

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Amerikanische Bildungssituationen aus deutscher Sicht

Klassen in eine dumme Volksfeindschaft hineintreibt und gänzlich schiefe Lebensanschauungen in ihnen groß zieht; es ist aber auch schuld daran, daß so viel hoffnungsvolle Jugend auf den Universitäten verbummelt. Sollte nicht schließlich ein junges Geschlecht von frohen, für die höchsten Berufe der Gegenwart ausgerüsteten Akademikern auch unserer Nation von größerem Werte sein, als die jetzige Überfülle an wirklichen und verunglückten Gelehrten? Ich bin überzeugt, daß wir durch eine teilweise Amerikanisierung unseres System von unseren alten Vorzügen nichts einbüßen würden."

So einhellig die Beobachtungen also waren, so unterschiedlich konnten erneut die Beurteilungen ausfallen, wobei die positiven Stimmen im Gegensatz zur Beurteilung der Familienstrukturen hier durchaus gewichtiger waren. Nicht umsonst hoben Kritiker trotz aller Einwände gegenüber den relativen „Rückständigkeiten" des immer noch sehr heterogenen und aus deutscher Sicht vielfach „provisorischen"27 amerikanischen Bildungssystems im Hinblick auf Gründlichkeit und Tiefenschärfe die starke und in Zukunft noch wachsende Konkurrenz vor allem der amerikanischen Universitäten für die von den deutschen Autoren unbestrittene Führungsrolle der eigenen deutschen Hochschulen hervor. So rief ein „Insider" wie Hugo Münsterberg dazu auf, sich nicht von den vielen amerikanischen Studenten in Berlin oder an anderen deutschen Universitäten über den Vorrang deutscher Wissenschaft täuschen zu lassen, und wies erneut auf die gewaltigen Bildungsanstrengungen und die enorme Expansion der höheren Schulen und Universitäten in den Vereinigten Staaten hin. 28 Auch wenn die Ausbildung an deutschen Universitäten weiterhin als profunder und vor allem auch autonomer und freier von Einflüssen aus der Wirtschaft im Gegensatz zu den USA gesehen wurde, wo die akademische Autonomie aufgrund des starken Einflusses von Großunternehmern auf das amerikanische Bildungssystem über den Weg der privaten Universitätsgründung gefährdet schien, 29 beeindruckten doch Tempo und Intensität der amerikanischen Bildungsanstrengungen, die Amerika einmal mehr als das „Land der Zukunft" und mächtigen Rivalen im konkurrierenden Modernisierungsprozeß auswiesen. 30 Vorerst wurden dabei vielfach noch Bilder der Harmonisierung und Annäherung gefunden, so etwa bei dem Historiker Erich Mareks, der 1913 nach einer längeren Reise mit Aufenthalten an verschiedenen amerikanischen Universitäten resümierte: „Für Amerika entspringt, was ich eben geschildert habe, einer neuen Notwendigkeit vergeistigender Entwicklung. Deutschland hat im 19. Jahrhundert die umgekehrte Entwicklung durchgemacht. Es ist aus weltfremder Geistigkeit in die Wirklichkeit eingetreten, und wir alle wollen diese Wirklichkeit festhalten. Aber seit zwei Jahrzehnten spüren wir doch die steigende Sehnsucht, mit dieser Wirklichkeit die Pflege des Geistigen wieder stärker zu verbinden und neben den Namen, der uns die Welt bedeutet, neben Bismarck, dessen wir wahrlich jeden Tag bedürfen, in vollerem Maße auch wieder Goethe zu stellen. Wir sind amerikanischer

26 Wolzogen, Dichter, S. 61. Vgl. auch ebda., S. 59-63 sowie Barth, Eindrücke, S. 49f; Hintrager, Wie lebt, S. 24; Kummer, Weltreise, S. 58f und Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. lOOf. 27 28 29 30

Vgl. z. B. Polenz, Land, S. 263f. Vgl. Münsterberg, Amerikaner, Bd. 2, S. 129f. Vgl. auch Oetken, Landwirtschaft, S. 713. Vgl. u. a. Polenz, Land, S. 260f und Rambeau, Amerika, S. 122ff. So notierte z. B. der Schriftsteller Ludwig Fulda, Eindrücke, S. 150f: „Als Stätten akademischer Jugenderziehung aber sind uns die dortigen Hochschulen jedenfalls scharf auf den Fersen, und die ernsten Stimmen mehren sich, die da verkündigen, es werde uns Mühe kosten, dauernd Schritt mit ihnen zu halten. Zumal wir einen jährlichen Etat, wie er ihnen für ihre Einrichtungen und Lehrmittel zur Verfügung steht, nur für Kanonen aufzubringen pflegen." Vgl. dazu auch Wolzogen, Dichter, S. 62.

Bildung als nationale Identität

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geworden, Amerika ist europäischer, deutscher geworden, wir selber streben wieder zum Geistigen hin: wir Deutschen dürfen diesen Annäherungsprozeß der beiden Nationen und diesen Lebensprozeß des amerikanischen Volkes mit freudigem Anteil begrüßen."31

Inwieweit dies - auch angesichts der Tatsache, daß beide Länder vier Jahre später im Krieg miteinander standen - Wunschdenken war oder aber der Realität zumindest teilweise entsprach, soll am Schluß näher beleuchtet werden.

3. Bildung als nationale Identität - Die Gemeinsamkeiten europäischer Urteilsmuster und die Dominanz der nationalen Vergleichseben Wie wir gesehen haben, wurde der Bereich der Bildung nicht so eingehend beobachtet und thematisiert wie die bisher behandelten gesellschaftlichen Felder, was sicherlich auch daran lag, daß Bildungsinstitutionen für den Durchschnittsreisenden nicht so ohne weiteres zugänglich waren. Dennoch fällt auf, daß durch die geschilderte Dominanz bildungsbürgerlicher Berufe unter den Amerika-Autoren doch ein für ein solches „Nebengebiet" erstaunliches Interesse bestand, was nicht zuletzt auch auf die Fülle von beruflichen Reisen zurückzuführen ist. Auch wenn das Bild zumindest in den hier interessierenden allgemeineren Amerikastudien und -berichten letztlich eher diffus blieb und kaum in die Details einer zweifelsohne auch durch ihre regionalen und institutionellen Disparitäten nur schwer überschaubaren amerikanischen Bildungslandschaft eindrang, fällt doch die Einhelligkeit der Beobachtungen auf, auch wenn erneut Bewertungen und Gesamturteile durchaus etwas differierten. Festgehalten werden muß, daß die Vergleiche hier in erster Linie nur mit Deutschland gezogen wurden, während die europäische Dimension anders als bisher nur am Rande auftauchte. Dies hatte offenkundig mit einem besonderen deutschen Selbstbewußtsein gerade im Bildungsbereich zu tun, von dem sogleich die Rede sein wird. Zunächst läßt sich jedoch generell eine deutlich gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber amerikanischen Bildungsinstitutionen registrieren, sieht es doch nach den vorliegenden Forschungen ganz so aus, als sei der Bildungsbereich in der ersten Jahrhunderthälfte von deutschen bzw. europäischen Besuchern kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen und diskutiert worden, so daß die europäische Aufmerksamkeit offensichtlich erst mit dem entscheidenden Expansionsschub des Bildungssektors nach dem amerikanischen Bürgerkrieg einsetzte. Auffallend ist dabei, daß die Beobachtungen dann nach dem Ersten Weltkrieg auffällig konstant bleiben, was in erster Linie darauf zurückzuführen sein dürfte, daß im Grunde auch nach 1918 die gleiche Schicht mit durchaus ähnlichen Sozialisations- und Bildungserfahrungen darüber berichtete und der Krieg hier keinen entscheidenden Einschnitt bildete. So blieben die Topoi vom amerikanischen „Bildungseifer", von der Ausrichtung auf primär praktische (und daher oft „oberflächliche" bzw. „utilitaristische") Ausbildung im Gegensatz zum deutschen Fachgelehrtenideal, vom demokratischen und sozial offenen Grundcharakter des Bildungssystems, von der frühen Erziehung zu Selbständigkeit und Autonomie sowie von der Schule als Integrationsmotor der Einwanderer auch in den 20er und 30er Jahren

31 Mareks, Eindrücke, S. 46f.

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konstant. Allerdings wurde die Kritik am Einfluß der Wirtschaft aufgrund der Fülle privatunternehmerischer Universitätsstiftungen und -gründungen und der damit verbundenen Ausrichtung auf reine Effizienz-Kriterien im ökonomischen Sinne lauter, die vor 1914 nur in Ansätzen deutlich geworden war. Neu war zudem der Vorwurf der „Vermassung" bzw. „Nivellierung" durch „Massenerziehung" analog zur vermeintlichen Herausbildung einer Massengesellschaft und -mentalität 32 - offenkundig eine Reaktion der (zumeist konservativen) Bildungseliten auf die nicht nur in den USA zunehmende Demokratisierung des Bildungssektors vor dem Hintergrund der Erschütterung der alten Sozialordnung durch den Weltkrieg. Die Wahrnehmungsmuster verschoben sich also nach 1918 nur leicht, wobei der zentrale Aspekt der Bildungsexpansion zurücktrat bzw. eine negative Wendung im Hinblick auf die nun scheinbar zur Realität gewordene Vermassung nahm. Im internationalen Kontext ergeben sich zudem Beobachtungs- und Argumentationsmuster, die auffallend analog zu den deutschen Sichtweisen verlaufen und damit die Vorstellung eines exzeptionellen deutschen Bildes in Frage stellen. Zwischen 1865 und 1935 beobachteten britische Besucher und Autoren vor allem das starke Engagement privater Förderer wie staatlicher Institutionen im gesamten Bildungsbereich vor dem Hintergrund eines allgemein ausgeprägten Wissens- und Fortschrittsoptimismus und eines „Glaubens" an Bildung in breiten Kreisen besonders der middle class. Ebenso beeindruckte die Briten die patriotische und integrierende Tendenz an den öffentlichen Schulen wie auch die soziale Offenheit und das demokratische Grundprinzip des Rechtes auf Bildung, das in keinem anderen Land der Welt in solchem Maße verwirklicht erschien. 33 Allerdings wurden besonders nach den 1880er Jahren auch kritische Stimmen zunehmend laut, deren Vorwürfe einer zu pragmatischen und zu wenig moralisch-ästhetischen Ausbildung an High Schools und Colleges in eine ähnliche Richtung wie bei den deutschen Beobachtern gingen. Auch den zumeist konservativen britischen Besuchern erschien der Rückstand amerikanischer Universitäten im Vergleich zu europäischen offenkundig, und ebenso warnten sie vor den Gefahren einer Nivellierung trotz des Vorzugs einer sozial breiteren Allgemeinbildung, so daß wachsende Hierarchisierung etwa in der Elitenbildung an besonderen Universitäten wie Harvard oder Yale entsprechend begrüßt wurde. 34 Auch aus britischer Sicht gewann damit das amerikanische Bildungssystem keinen Vorbildcharakter, wobei ebenso wie bei den Deutschen jedoch festgehalten werden muß, daß jenseits der reinen Fachdebatte eher ein auf nur oberflächlicher Kenntnis beruhendes und daher diffuses Bild die Debatte prägte. Zu einem im Kern europäischen Muster verdichtet sich allerdings das Bild, wenn man noch die französischen und italienischen Sichtweisen hinzunimmt. Generell dominierte auch hier eine dezidiert positive Sicht des allgemeinen Bildungsbooms, wobei zugleich wie bei den Deutschen und Briten der Pragmatismus und republikanische Patriotismus in allen Bildungsinstitutionen und besonders in den Volksschulen auch im Hinblick auf die vermeintlich erfolgreiche Amerikanisierung der Einwanderer verstärkte Aufmerksamkeit

32 Vgl. dazu insgesamt Buchwald, Kulturbild, S. 86-95 sowie Huelsbergen, Ansichten, S. 34fF; Dickson, Amerikabild, S. 29ffu. 112-117 und für die Zeit vor 1914 auch Deicke, Amerikabild, S. 38-47. 33 Vgl. dazu Rapson, Britons, S. 76-84. 34 Vgl. ebda., S. 84-92.

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fand. 3 5 S o resümierte ζ. B. die Gymnasiallehrerin Marie Dugard nach einem langen Aufenthalt in den U S A , bei d e m besonders die Bildungsinstitutionen im Vordergrund des Interesses gestanden hatten, das Prinzip amerikanischer Erziehung 1893: J n einer solchen Welt wie der amerikanischen, die allen Mühen einer sich erst noch entwickelnden Zivilisation ausgesetzt ist und zudem noch von einer Flut von Immigranten erfaßt wird, die ihren ursprünglichen Charakter bedroht, sind es vor allem zwei Erfordernisse, die die Macht von Lebensnotwendigkeiten erlangen: Zum einen ist es unbedingt notwendig, daß die Söhne der Einwanderer, die bisher noch keine Bindung an ihre neue Heimat besitzen, zu Amerikanern umgeformt werden, die mit ihrem ganzen Herzen den Vereinigten Staaten verbunden sind; zum anderen müssen sie dazu befähigt werden, auf allen Tätigkeitsfeldern intensiv an der beginnenden Zivilisation mitzuarbeiten: Erziehung zum Staatsbürger wie zum praktisch Handelnden, das ist das Hauptprinzip der amerikanischen Bildung." 36 Dabei zeigt sich eine französische Besonderheit: Aufgrund der tiefreichenden liberal-laizistischen und antiklerikalen Reformansätze im Hinblick besonders auf die Volksschulen während der Dritten Republik gewann das amerikanische Bildungssystem in diesem Bereich s o w i e hinsichtlich seiner sozialen Offenheit und methodischen wie inhaltlichen Modernität für viele liberale Amerikabesucher unmittelbaren Vorbildcharakter, w o b e i allerdings die Prinzipien der Koedukation 3 7 und Dezentralisierung eher skeptisch beurteilt wurden. 3 8 D i e ser Vorbildcharakter b e z o g sich dabei nicht nur auf den erfolgreich vermittelten Patriotismus und die frühe Ausrichtung auf „lebensnahe" moderne Inhalte, sondern auch auf den Abbau eines w i e in Frankreich bzw. generell Europa vor allem autoritär angelegten Bildungssystems mit d e m Ziel einer spezifisch kindgerechten Erziehung und schulischen Ausbildung. S o schrieb der kritische Industrielle Lazare Weiller ausdrücklich im europäisch-amerikanischen Vergleich: „Es ist eine Tatsache, die jeder bei uns für sich und in seiner Umgebung feststellen kann, nämlich die, daß die Schule in der Seele des Europäers Erinnerungen der Bitterkeit und des Grolls zurückläßt. Auch wenn der Bürger später deren Notwendigkeit beteuert genauso wie er den Gewinn hervorhebt, den ihm der Militärdienst angeblich bereitet haben soll, so ändert das doch nichts an der Tatsache, daß er an die Schule keine guten Erinnerungen hat. (...) Würde der Amerikaner dagegen wie der Europäer solch peinigende Erinnerungen an seine Schulzeit zurückbehalten, wäre das ein Beweis seiner Ungerechtigkeit und seines schlechten Geschmacks, denn dort (in den USA, A. S.) ist alles so eingerichtet, daß das gegenwärtige wie das zukünftige Glück des Kindes durch eine normale Entwicklung gewährleistet wird, während bei uns alles so eingerichtet und festgelegt zu sein scheint, daß die Menschlichkeit im Kind frühzeitig zerbrochen wird und damit die Heerscharen von Beamten erzeugt werden, die aus der Masse solchermaßen erzogener kleiner Sklaven hervorgehen." 39 D i e s war in dieser selbstkritischen Schärfe an französischen bzw. europäischen Erziehungsmethoden sicherlich auch innerhalb der französischen Amerikaberichte eher die Ausnahme,

35 Vgl. Portes, Une fascination, S. 205-224 und Torielli, Italian Opinion, S. 109-133. 36 Dugard, La société américaine, S. 209. Vgl. auch ebda., S. 208-242 sowie u. a. Gohier, Le peuple, S. 210-234; Roz, L'énérgie américaine, S. 120-128 und Saint-André de Lignereux, L'Amérique, S. 154-175. 37 Vgl. Portes, Une fascination, S. 219-224. 38 Vgl. ebda., S. 205-210. 39 Weiller, Les grandes idées, S. 280.

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aber es bezeichnete eine grundsätzlich positive und bewundernde Tendenz der Bewertung amerikanischer Schulen, die bei den Franzosen auch deshalb häufiger anzutreffen war, als durch die geringe französische Einwanderung mehr Distanz zum Problem des „Heimatverlustes" durch rapide Assimilation bestand als bei den Deutschen, wo die Erfahrung regelrechter Massenauswanderung und schneller Integration in der Neuen Welt bei den Autoren des Bürgertums häufig eine Art „vaterländische Kränkung" und entsprechende Kritik erzeugte. Ähnlich wie Briten und Deutsche waren die Franzosen dabei auch von den Universitäten beeindruckt: Ihre relative soziale wie geschlechtsspezifische Offenheit, ihre Vielfalt und materiellen Ressourcen, ihre Expansion und Vitalität - manifest etwa anhand der zentralen Rolle des Sports - stachen besonders positiv hervor, auch wenn das verhältnismäßig geringe Sozialprestige der Lehrenden und ihre entsprechend niedrigen Gehälter zu vergleichbarer Kritik Anlaß gaben. Dagegen war der Vorwurf der „Oberflächlichkeit" offensichtlich weniger stark ausgeprägt, und auch der Einfluß wirtschaftlicher Kräfte wurde keineswegs so negativ bewertet,40 im Gegenteil: Vielen französischen Besuchern erschien der dezidierte Praxisbezug der universitären Ausbildung als Vorteil; so rief der Journalist Jules Huret nach dem Besuch einer technischen Hochschule in Boston begeistert aus: „Es ist vor allem ein Aspekt des an diesem technologischen Institut abgehaltenen Unterrichts, den ich feststellen konnte und der mich besonders beeindruckt hat - das ist die praktische Seite der Forschungen und Studien. In Amerika ist ein Ingenieur nicht nur ein Club-Mitglied mit weißen Händen, jemand, der nur mit Papier arbeitet, sondern er ist zugleich ein Mann, den man durchaus für einen Vorarbeiter oder Werkführer halten könnte. ( . . . ) Ich mag diese realistische Ausbildung. Ich halte sie für fruchtbarer als die rein theoretische. Sie führt sicherlich nicht automatisch zu großen wissenschaftlichen Entdeckungen, aber in der Anwendung erscheint sie mir deutlich überlegen. ( . . . ) Wie dem auch sei, hier ist jedenfalls eine wissenschaftliche Schule, wie ich sie mir für mich selbst gewünscht hätte (.. ,)." 41

Offenkundig war das Gefühl der wachsenden Konkurrenz hier geringer und der Vorbildcharakter tendenziell stärker ausgeprägt im Vergleich zu den deutschen Beurteilungen, wobei in Rechnung gestellt werden muß, daß die deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert fast unbestritten ein weltweites Vorbild waren, wogegen Frankreich erst in der Dritten Republik langsam mit dem Aufbau von Universitäten begann, die sich zudem nie wirklich gegen die elitären Grandes Ecoles durchzusetzen vermochten. Insgesamt entsteht also ein im Kern europäisches Muster mit länderspezifischen Abweichungen, aber insgesamt auffallend einheitlichen Grundfarben. Dabei muß allerdings betont werden, daß explizite Vergleiche mit Europa insgesamt auch bei Briten und Franzosen eher die Ausnahme bildeten und die Berichte hier viel weniger „Europabewußtsein" verrieten als in den Bereichen zu Familie, Mentalitäten und Wirtschaft oder Gesellschaft insgesamt. Offensichtlich war der Bildungsbereich doch zu stark national geprägt, um über den allgemeinen Vergleichsrahmen des „alten Europa" im Gegensatz zum .jungen Amerika", der uns abschließend noch beschäftigen wird, hinauszugelangen.

4 0 Siehe dazu ebda., S. 214-219. Vgl. für Italien mit einem ähnlichen Tenor auch Reiske, USA, S. 85-89. 41 Huret, En Amérique, Bd. 1, S. 68ff. Vgl. dazu ζ. B. auch Sauvin, Autour de Chicago, S. 60ff und Gohier, Le peuple, S. 210ff.

Zwischen Wirklichkeitsnähe und Illusion

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4. Zwischen Wirklichkeitsnähe und Illusion - Das Bild amerikanischer Bildung als Spiegel sozialer, demographischer und institutioneller Umbrüche in Deutschland und den USA Wie realistisch war nun dieses trotz aller Simplifizierungen doch erstaunlich komplexe, wenn auch nicht detaillierte Bild amerikanischer Bildungsinstitutionen und -konzepte, und welche Dispositionen von europäischer Seite standen dahinter? Zunächst einmal muß hervorgehoben werden, daß alle europäischen Besucher dazu tendierten, das amerikanische Bildungssystem viel zu einheitlich zu sehen. Gravierende regionale und institutionelle Unterschiede zwischen dem alten und hochentwickelten Nordosten oder mittleren Westen und dem sich erst langsam im Bildungsbereich entwickelnden Westen bzw. dem noch völlig unterentwickelten Süden wurden selten wirklich registriert, was mit Sicherheit auch an der oben skizzierten Konzentration der Reisenden und Besucher auf den „europanahen" Nordosten und mittleren Westen lag. Doch der Bildungsboom bzw. „Bildungseifer", den die Europäer immer wieder registrierten, entsprach tatsächlich grosso modo der amerikanischen Wirklichkeit, denn nach dem Bürgerkrieg 1865 und besonders dann ab den 1880er Jahren läßt sich eine Phase beschleunigter Expansion sämtlicher Bildungsinstitutionen in den Vereinigten Staaten registrieren. Diese Expansion ging mit nationalen Bildungskampagnen und pädagogischen Neuansätzen, mit Professionalisierungs- und Spezialisierungstendenzen und allgemeinen Reformansätzen in fast allen Bildungsbereichen einher, die vor allem dann ab den 1890er Jahren im Rahmen des „progressive movement" stark vorangetrieben wurden. In dieser fundamentalen Umstrukturierungs- und Prägephase des amerikanischen Bildungssystems42 bis zum Ersten Weltkrieg wuchsen die Schüler- und Studentenzahlen beträchtlich; so hatten beispielsweise, nachdem 1860 die Schulpflicht eingeführt worden war, um 1870 nur 57 % der schulpflichtigen Kinder regelmäßigen Schulunterricht genossen, 1880 waren es dagegen schon 72 %. 43 Und auch im Bereich der Universitäten läßt sich ein dramatischer Anstieg verzeichnen. Vor 1860 waren die wenigen Universitäten noch verhältnismäßig unterentwickelt gewesen, was auch ein wichtiger Grund dafür gewesen sein dürfte, daß das amerikanische Bildungssystem eine so geringe Resonanz bei den europäischen Besuchern der ersten Jahrhunderthälfte gefunden hatte. Nach 1870 wurden dann immer mehr Universitäten gegründet, an denen immer mehr Studenten studierten. So kletterten die Immatrikulationen kontinuierlich von 62.000 1870 auf 157.000 1890 und 355.000 1910 bis hin auf 598.000 1920.44 Gründe für dieses Wachstum waren dabei vor allem das generelle Bevölkerungswachstum, die durch die

42 Siehe dazu u. a. Ringer, Education and Society, S. 247ff bzw. R. L. Church/M. W. Sedlak: Education in the United States. An Interpretive History. New York, London 1976, S. 186-192 u. 227ff sowie C. L. McGehee: Demokratisches Bildungssystem gleich demokratische Bildung? Zu einigen Widersprüchen des amerikanischen Erziehungswesens. In: Unger (Hg.), Mythen, S. 140ff. 43 Vgl. J. B. Orr: The American System of Education. In: Luedtke (Hg.), Making America, S. 284f. 44 Siehe dazu detailliert C. B. Burke: The Expansion of American Higher Education. In: K. Jarausch (Hg.): The Transformation of Higher Learning, 1860-1930. Expansion, Diversification, Social Opening and Professionalization in England, Germany, Russia and the United States. Stuttgart 1982, S. 108-117, hier bes. 11 Iff.

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Industrialisierung und Bürokratisierung gesteigerte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften sowie die insgesamt steigenden Einkommen, die immer mehr Menschen ein Studium ermöglichten, wobei allerdings erneut die starken regionalen Unterschiede betont werden müssen; zugleich hatte diese Expansion trotz der gesteigerten sozialen Zugangschancen eine wachsende Hierarchisierung und Elitenbildung im Gefolge, die die europäischen Beobachter ja auch durchaus vermerkten. 45 Durch den wachsenden, teils direkten, teils indirekten Einfluß von Staat und Wirtschaft diversifizierten sich die Bildungsangebote zudem in immer stärkerem Maße, d. h. immer mehr Fächer und spezielle Institutionen pluralisierten die Bildungslandschaft und schufen immer größere Studienangebote. Dieser Trend galt im übrigen auch für Europa, doch der Unterschied zu den Vereinigten Staaten bestand neben einer unterschiedlichen Strukturierung des Lehrpersonals und einer stärkeren inhaltlichen Diversifizierung vor allem in insgesamt weitaus mehr staatlicher Intervention, während in den USA private unternehmerische Initiativen wie auch die besondere Betonung der Lehre eine gewichtigere Rolle spielten. 46 Vor allem aber war die Beobachtung der größeren sozialen Offenheit des amerikanischen Bildungssystems 47 durchaus realistisch und fügte sich ein in das schon skizzierte Bild von der größeren sozialen Chancengleichheit innerhalb der amerikanischen Gesellschaft im Vergleich zu den europäischen Ländern. Wie in den Kapiteln zur sozialen Mobilität und zu den Geschlechterrollen schon angedeutet, waren die Bildungs- und Aufstiegschancen in den USA nicht nur für Frauen, sondern allgemein für Akademiker besser als in den meisten europäischen Ländern, was bis in die 1960er Jahre anhielt. Der europäische Hochschulbereich blieb bis zu diesem Zeitpunkt deutlich geschlossener und elitärer im Vergleich zu den USA, auch wenn innereuropäische Unterschiede nicht übersehen werden dürfen. 48 Und auch in den USA waren die Studentenraten im Vergleich zur Entwicklung nach 1945 immer noch sehr niedrig. Doch gemessen an damaligen (europäischen) Erwartungshaltungen fielen sie doch enorm ins Gewicht und bildeten daher auch, wie gesehen, einen so zentralen Aspekt der europäischen Wahrnehmung. Auch wenn, wie gesagt, Hierarchisierungstendenzen und Elitenbildung in den USA nicht übersehen werden dürfen und daher kaum von einer linearen Entwicklung sozialer Öffnung auch in den USA gesprochen werden kann, 49 bleibt dieser europäisch-amerikanische und besonders auch deutsch-amerikanische Gegensatz offenkundig - wir werden darauf im folgenden noch zurückkommen. Wie stark diese Öffnung insgesamt war, wird zudem am Wandel der High School deutlich, die sich besonders ab den 1890er Jahren von einer fast ausschließlich auf die universitäre Ausbildung vorbereitenden elitären Institution zu einer sozial immer breiter frequentierten Form der „secondary educa-

45 Vgl. ebda., S. 117-130. 46 Vgl. zu diesem Komplex insgesamt J. Herbst: Diversification in American Higher Education. In: Jarausch (Hg.), Transformation, S. 196-206. 47 Siehe zum Ideal sozialer Chancengleichheit besonders im Bildungsbereich in den USA auch J. Spring: The American School 1642-1985. Varieties of Historical Interpretation of the Foundations and Development of American Education. New York, London 1986, S. 217f. 48 Vgl. dazu mit Zahlenangaben Kaelble, Weg, S. 40f und Ringer, Education and Society, S. 250-255. 49 Siehe dazu ausführlich R. Angelo: The Social Transformation of American Higher Education. In: Jarausch (Hg.), Transformation, S. 261-282.

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tion" und schließlich zu der Institution fortschrittlicher „Massenbildung" schlechthin entwickelte und damit zugleich einen ungeheure Expansion des Lehrerberufs forcierte.50 Doch nicht nur diese soziale Öffnung der High Schools bewirkte die durchaus wahrgenommene zunehmende Demokratisierung des amerikanischen (höheren) Βildungswesens; es waren auch die angewandten Methoden, die von den Europäern als „Pragmatismus" beobachtet wurden. So baute man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den USA vor allem in den Städten die Bereiche des „manual" bzw. „vocational training" in wachsendem Maße aus, indem man entweder eigene Institute dafür gründete oder aber entsprechende Lehrpläne in den High Schools integrierte, wobei die wesentliche Zielsetzung darin bestand, ein Gleichgewicht zwischen theoretischer und berufspraktischer bzw. handwerklicher Ausbildung herzustellen und zugleich die Integration von Einwanderern wie Minderheiten (und hier besonders der Schwarzen) zu fördern.51 Doch blieb dieses Ideal „integraler Persönlichkeitsbildung", das sich in seiner Schwerpunktverlagerung auf die Praxis so deutlich vom Konzept Humboldtscher Prägung unterschied, nicht nur auf Fachschulen und High Schools beschränkt; auch die College- und Universitätsausbildung wandte sich zunehmend praktischen Fächern bzw. pragmatisch-modernen Lehrmethoden zu, wobei allerdings wachsende Professionalisierung und Spezialisierung nicht nur auf Natur- und Wirtschaftswissenschaften bzw. technische Fächer beschränkt blieben, sondern auch die Geistes- und Sozialwissenschaften eine deutliche Anhebung der Leistungs- und Lehrstandards erlebten.52 Diese Erfolge speziell in den Geistes- und Sozialwissenschaften traten jedoch in der Aufmerksamkeit der deutschen Besucher deutlich zurück oder wurden lediglich als langsames Aufholen auf deutsche Standards gewertet, was auch wesentlich daran lag, daß gerade das deutsche Universitätsmodell hier für die USA vorbildgebend war und ein Großteil des Lehrpersonals in Deutschland studiert hatte.53 Insofern galt die von den deutschen Beobachtern gelegentlich aufgestellte Dichotomie von amerikanischer „oberflächlich-praktischer" „GentlemanAusbildung" im Gegensatz zum deutschen Fachgelehrtenideal, die für die erste Jahrhunderthälfte noch einige Berechtigung gehabt haben mochte, in dieser Zeit kaum noch, aber die historischen Prägemuster wirkten hier deutlich nach. Trotzdem ist aufschlußreich, wie realistisch letztlich die Beobachtungen in ihren Grundzügen ausfielen. Das galt neben den geschilderten Aspekten nicht nur für die Beobachtung einer besonderen Rolle des Sportes im amerikanischen Universitätsleben,54 die die

50 Vgl. Church/Sedlak, Education, S. 288-307. Danach gab es 1890 nur insgesamt 200.000 Immatrikulierte, die bis 1912 auf über 1 Million und 1920 auf fast 2 Millionen gestiegen waren. (Vgl. ebda, S. 288f)· 51 Siehe dazu ausführlich Church/Sedlak, Education, S. 192-225 bzw. speziell für die zunehmende berufspraktische bzw. haushälterische Ausbildung von Mädchen und Frauen in den High Schools bzw. eigenen Berufsbildungsinstitutionen J. L. Rury: Vocationalism for Home and Work: Women's Education in the United States, 1880-1930. In: E. McClellan/W. J. Reese (Hg.): The Social History of American Education. Urbana, Chicago 1988, S. 233-256, wobei deutlich wird, daß trotz aller emanzipatorischen Tendenzen die Befestigung distinkter Geschlechterrollen und die weibliche Rollenzuweisung auf Haushalt und Kindererziehung durch Bildungsinstitutionen auch in den USA um und nach 1900 dominant blieb. 52 Vgl. ebda., S. 227-240. 53 Siehe ebda., S. 245f und Nipperdey, Geschichte, S. 586. 54 Siehe dazu z. B. McGehee, Bildungssystem, S. 137ff.

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pragmatische und lebenspraktische Ausrichtung anschaulich bestätigte; das galt auch besonders für die Beobachtung der Erziehung zu früher Selbständigkeit in Denken und Handeln an Schulen wie Colleges. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß es sich hierbei in erster Linie um fortschrittliche pädagogische Reformkonzepte handelte, die vor dem Ersten Weltkrieg vorwiegend nur partiell im städtischen Bereich und noch keineswegs in der beabsichtigten sozialen und regionalen Breitenwirkung realisiert werden konnten. Aber gerade die Europäer besuchten zumeist berühmte oder besonders fortschrittliche Institutionen, die ihnen oft zu Studienzwecken im Hinblick auf den möglichen Vorbildcharakter des amerikanischen Βildungswesens entsprechend empfohlen worden waren, und kamen somit in Kontakt mit dieser Reformpädagogik, deren Hauptziel u. a. gerade eine Erziehung zu früher Selbständigkeit war. Sprachrohr dieser Reformbemühungen und -theorien um 1900 war u. a. der Philosoph John Dewey, der durchaus in Anlehnung an deutsche bzw. europäische Vorbilder wie Fröbel oder Pestalozzi das Modell einer auf Schüleraktivität ausgerichteten Methodik in Erziehung und Ausbildung setzte, bei der Hierarchien abgebaut, der Verschwendung von Bildungsressourcen entgegengesteuert und ein stärkerer Gemeinschaftsgeist gefördert werden sollten. Dieses Programm war Teil eines umfassenderen Reformtrends, der für soziale Reformen unter Abkehr von sozialdarwinistischen Modellen und für mehr staatliche Eingriffe und Kontrollen plädierte, wobei dem Bildungsbereich eine Schlüsselstellung für die Reform der gesamten Gesellschaft zugesprochen wurde. 55 Zu diesen Reformkonzepten gehörte durch die starke Betonung des Ideals von Gemeinschaft bzw. „Community" auch eine patriotische Erziehung und frühe Staatsbürgerkunde, die die Europäer so beeindruckte und mit der zentralen Vermittlung der amerikanischen Verfassung den demokratischen Grundcharakter zu manifestieren schien, zumal dieses Ideal nicht nur in reformpädagogischen Schulen, sondern allgemein in den öffentlichen wie auch privaten Anstalten einen zentralen Platz im Lehrplan einnahm. Die in diesem Zusammenhang beobachtete Rolle der Schulen als Motoren der Assimilation und Integration der Einwanderer wird in der Forschung immer wieder hervorgehoben, wobei konkrete Studien aufschlußreich gezeigt haben, daß Emigranten-Kinder im Hinblick auf den erfolgreichen Abschluß von Volksschule und High School nach 1900 nur unwesentlich hinter Kindern von weißen Amerikanern zurückblieben, was allerdings vor allem für die englischsprachigen Einwanderer und Deutschen oder Skandinavier galt und deutlich weniger für die „new immigrants" aus Süditalien und aus Rußland, deren (schulische) Integration weitaus schwieriger gelang. 56 Der Blick der deutschen Besucher richtete sich allerdings auch weniger auf diese Gruppen, die in der schon oben geschilderten vielfach sozialdarwinistisch geprägten Sichtweise zumeist abgewertet wurden, sondern betraf in erster Linie die deutschen Auswanderer, für die sich so der (kritische) Befund einer relativ schnellen Assimilation der zweiten Generation über den „Schmelztiegel" Schule bestätigt.

55 Vgl. Church/Sedlak, Education, S. 251-274 und H. W. Button/E. F. Provenzo,Jr.: History of Education and Culture in America. Englewood Cliffs, N. J. 1983, S. 191-214. 56 Vgl. dazu M. R. Olneck/M. Lazerson: The School Achievement of Immigrant Children: 1900-1930. In: McClellan/Reese (Hg.), Social History, S. 257-286 bzw. generell zur Einwanderung und den Problemen der Assimilation der unterschiedlichen Gruppen R. A. Burchell: Die Einwanderung nach Amerika im 19. und 20. Jahrhundert. In: Adams u. a. (Hg.), Die Vereinigten Staaten, S. 184-230, bes. S. 211-230.

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Doch wie stand es neben diesen vorwiegend auf die gesellschaftliche Entwicklung ausgerichteten Ansätzen mit der beobachteten Effizienz und Modernität der Methoden? Diese Beobachtungen erweisen sich ähnlich wie im Fall der Reformpädagogik als (indirektes) Echo auf amerikanische Bestrebungen, Methoden des im zweiten Kapitel vorgestellten „scientific management" auf den Bildungsbereich zu übertragen, wobei die Reorganisation der Verwaltung nach ökonomischen Effizienzkriterien wie auch vor allem die Rationalisierung von Lehrmethoden und -materialien im Hinblick auf den größten Lernerfolg bei möglichst wenig Zeitaufwand im Vordergrund standen. Dieser Ansatz ging vor allem von privaten unternehmerischen Stiftungen aus und gewann Einfluß über die entsprechend ökonomisch geprägten Schulvorstände, wobei deutlich hervorgehoben werden muß, daß diese Absichten den Reformbemühungen der Intellektuellen, die einen solchen Einfluß der Wirtschaft und ihres „mechanistischen" Denkens massiv ablehnten und bekämpften, diametral zuwiderliefen.57 Zwar blieben diese Ansätze vor dem Ersten Weltkrieg zumeist noch in der Planung stecken, doch entfalteten sie in den zwanziger und dreißiger Jahren einige Wirksamkeit. Im Zusammenhang mit der europäischen Wahrnehmung kommt es hierbei vor allem darauf an zu zeigen, daß die Bildungslandschaft in den USA in ihren Idealen wie Realitäten keineswegs einheitlich war, von den Europäern aber relativ einheitlich wahrgenommen wurde, was natürlich wesentlich daran lag, daß dieses Feld besonders unüberschaubar und im Detail letztlich schwer zugänglich blieb. Gerade die Deutschen destillierten ein in seinen Grundzügen relativ einheitliches Bild aus ihren Beobachtungen heraus, das die Realität vereinfachte, wenn es auch wesentliche Züge durchaus realistisch hervorhob. Entscheidend für diese Schwerpunktsetzungen waren dabei aber vor allem die Bildungsentwicklungen in Deutschland, auf die abschließend im Vergleich noch in der gebotenen Kürze eingegangen werden soll. Zuerst zu den Gemeinsamkeiten der Entwicklung: Im Kontext von Industrialisierung und Urbanisierung expandierten auch die Schüler- und Studentenzahlen an deutschen (bzw. westeuropäischen) Schulen und Hochschulen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rapide;58 die Ursachen hierfür waren ähnlich wie in den USA: ein steigendes Bevölkerungswachstum, besonders aber die ökonomische Expansion mit ihrer gesteigerten Nachfrage nach qualifizierten Absolventen im Kontext wachsender Professionalisierung sowie insgesamt steigende Einkommen und nicht zuletzt eine staatliche Schulpolitik, die den Ausbau des Sekundarschulwesens förderte, auch wenn sie später kurzfristig der in den 1890er Jahren entstehenden akademischen Überfullungkrise durch Gegenmaßnahmen (erfolglos) Herr zu werden suchte. Diese Expansion wurde ermöglicht durch eine zumindest partielle soziale Öffnung vor allem der Gymnasialund Hochschulausbildung, auch wenn eingeräumt werden muß, daß vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland (wie auch in Frankreich oder Großbritannien) nur rund ein bis drei Prozent eines jeden Jahrgangs Abitur machten und dann auch studierten.59 Trotzdem fällt auf, daß in

57 Vgl. zu diesem Komplex vor allem Button/Provenzo, History, S. 215-232. 58 Vgl. Κ. H. Jarausch: Universität und Hochschule. In: Berg (Hg.), Handbuch, S. 314ff. Danach wuchsen die Studentenzahlen von 1859/60 mit rund 12.000 auf knapp 30.000 1889 und mit Schwankungen auf rund 60.000 1914. 59 Vgl. ζ. B. Ringer, Education and Society, S. 52-65, bes. 62f und für Frankreich S. 131-140 sowie Kaelble, Soziale Mobilität, S. 176ff.

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Deutschland zunehmend Söhne aus dem Besitzbürgertum und auch teilweise Kleinbürgertum nicht aus der Arbeiterschaft oder den Unterschichten - trotz weiterhin hoher Selbstrekrutierungsraten des Bildungsbürgertums Zugang zur akademischen Laufbahn suchten und fanden, wobei allerdings die Chancen sehr differierten und von sehr konservativen und „verschlossenen" Fakultäten wie beispielsweise den Juristen oder Ärzten bis hin zu wesentlich offeneren und stärker expandierenden Fachbereichen wie den Geisteswissenschaften, der Theologie bzw. den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern reichten.60 Ging diese soziale Öffnung 61 auch nicht ganz so weit wie in den USA, so fallt die Parallelität der Entwicklung doch ins Auge. Ebenso läßt sich eine gesteigerte fachliche und mit der Gründung von Technischen Hochschulen und Handelshochschulen auch institutionelle Differenzierung sowie die Herausbildung eines „akademischen Marktes" in Deutschland feststellen. 62 In diesem Kontext gewannen auch in Deutschland (wie in Frankreich oder Großbritannien) die „Realien" gegen zunächst massiven Widerstand der alten Bildungseliten immer mehr an Einfluß und Anerkennung: Dies begann neben dem angedeuteten Ausbau von Technischen Hochschulen und Handelshochschulen bereits im Bereich der Sekundarausbildung, wo nach 1900 die Schultypen des Realgymnasiums bzw. der Oberrealschule mit ihren Schwerpunkten auf Naturwissenschaften und modernen Sprachen gegen den zunächst heftigen Widerstand der einflußreichen Vertreter des bis dahin allein zum Hochschulstudium berechtigenden altsprachlichen Gymnasiums die Zulassung zur Abnahme der allgemeinen Hochschulreife erlangten. 63 Zugleich wurden praktische Berufsausbildung wie auch Ansätze der Reformpädagogik im Hinblick auf modernere Unterrichtsmethoden in Deutschland forciert und gewannen damit sogar teilweise Vorbildcharakter für andere europäische Länder wie auch für die USA. 64 Ebenso erlebten die Volksschulen mit verbesserten Schüler-Lehrer-Relationen, niedrigeren Klassenfrequenzen und verbesserten Ausbildungsmitteln einen deutlichen Modernisierungsschub im Kaiserreich, auch wenn ähnlich wie in den USA regionale Unterschiede lange Zeit erheblich blieben und die Städte gegenüber den rein ländlichen Gebieten eindeutig im Vorteil waren. Dennoch: die Alphabetisierung der Bevölkerung nahm erheblich zu und machte Deutschland in dieser Hinsicht zu einem Vorreiterland in Europa, das auch in diesem Bereich die Aufmerksamkeit ausländischer Besucher verstärkt auf sich zog. 65

60 Vgl. ebda., S. 316ff und detailliert H. Titze: Enrollment Expansion and Academic Overcrowding in Germany. In: Jarausch (Hg.), Transformation, S. 57-88. 61 Vgl. J. E. Craig: Higher Education and Social Mobility in Germany. In: Jarausch (Hg.), Transformation, S. 219-244 u. Jarausch, Universität, S. 324ff sowie allgemein für Westeuropa Kaelble, Soziale Mobilität, S. 179-189. 62 Siehe dazu Jarausch, Universität, S. 319-324 und detailliert P. Lundgreen: Differentiation in German Higher Education. In: Jarausch (Hg.), Transformation, S. 149-179. 63 Vgl. dazu detailliert M. Kraul: Das deutsche Gymnasium 1780-1980. Frankfurt/M. 1984, S. 100-119 u. U. Herrmann: Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik. In: Berg (Hg.), Handbuch, S. 148-152 sowie Nipperdey, Geschichte, S. 547-561. 64 Siehe dazu Herrmann, Denken, S. 163-170 und für das Vorbild Deutschland: Church/Sedlak, Education, S. 304ff sowie Jarausch, Universität, S. 338 bzw. für Frankreich Schmidt, Deutschland als Modell?, S. 229-236. 65 Siehe dazu F.-M. Kuhlemann: Niedere Schulen. In: Berg (Hg.), Handbuch, S. 192-227, bes. 192-197 und Nipperdey, Geschichte, S. 531-542.

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Andererseits entwickelte sich gerade in Deutschland (aber tendenziell auch in Frankreich oder Großbritannien) ein bis zum Nationalismus bzw. Chauvinismus gesteigerter Patriotismus als Integrationsklammer der sozial gespaltenen Gesellschaft(en), wobei Schulen und Hochschulen hier eine Schlüsselfunktion im Hinblick auf die Vermittlung dieser Ideologien zukam - auch dieser Trend begann bereits an den Volksschulen und setzte sich über neue Schwerpunktsetzungen der Fächer Deutsch und Geschichte an den Mittelschulen und Gymnasien bis hin zu den Universitäten fort, wo die entsprechende Sozialisation im Zusammenhang mit der Überfüllungskrise seit den 1880er Jahren verstärkt zur Abkehr von liberalen Vorbildern, zu chauvinistischem Nationalismus und zu Antisemitismus bei der Mehrheit der Studenten führte. 66 In den USA war der häufig beobachtete Patriotismus im Bildungsbereich ähnlich stark verwurzelt; allerdings war er offenkundig weniger aggressiv und ausschließend, sondern eher integrativ ausgerichtet, und antisemitische oder nativistische Strömungen fanden weniger Eingang in höhere Schulen und Universitäten als in Deutschland.67 Dennoch gab es also generell eine Fülle von parallelen Entwicklungen, die erklären, warum die deutschen (und europäischen) Beobachter gerade in diesen Bereichen besonders sensibel waren. Dem stehen wichtige Unterschiede entgegen: Neben organisatorischen und traditionellen Unterschieden fielen vor allem das Alter und die damit verbundene Vorbildhaftigkeit der deutschen Universitäten gegenüber den „Aufholern" in den USA ins Gewicht; u. a. dadurch bedingt blieben die Institutionen der höheren Bildung in Deutschland lange weitaus sozial exklusiver geprägt, auch wenn die Bastionen des sich lange fast ausschließlich aus sich selbst rekrutierenden Bildungsbürgertums durch die angedeutete enorme Studentenexpansion zunehmend „bedroht" wurden - eine Expansion, die als „Überfüllungskrise" und als Entstehen eines „Akademikerproletariats" interpretiert wurde und entsprechende Abwehrideologien in Gestalt von Antisemitismus, Illiberalismus, Sozialdarwinismus usw. erzeugte. So ist im Vergleich für die Zeit um 1900 herausgearbeitet worden, daß amerikanische Studenten im Vergleich zu ihren deutschen Kommilitonen nicht nur leichter Zugang zur Universität fanden, sondern auch durch vergleichsweise geringere Professionalisierungsstandards einen weitaus expandierenderen und offeneren Stellenmarkt vorfanden, entsprechend früher und leichter den Einstieg in die Berufswelt bewältigten und damit auch früher heiraten konnten als deutsche Studenten, die besonders in der Überfüllungsphase der 1890er Jahre durch längere Ausbildungszeiten, weniger Stellenaussichten und ein steigendes Heiratsalter beruflich wie privat zunehmend blockiert wurden und u. a. auch aus diesem Grund mit entsprechender ideologischer Radikalisierung, aber auch mit steigenden Selbstmordraten und generationellen Konflikten reagierten; aus diesen unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Abiturienten- und Studentenexpansion in Deutschland und den USA läßt sich auch die oben

66 Vgl. zu den Schulen Kuhlemann, Schulen, S. 205ff und Kraul, Gymnasium, S. 104-108 u. 120-126 bzw. Dies.: Bildung und Bürgerlichkeit. In: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 65-73, wo anhand von Aufsatzthemen der Wandel zu immer stärker nationalistischen Lehrinhalten sichtbar wird. Vgl. ferner Herrmann, Denken, S. 153ff und für die Universitäten Κ. H. Jarausch: Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism. Princeton 1982, passim, bes. S. 160-233 und zum Antisemitismus Ν. Kampe: Studenten und , Judenfrage" im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung der akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Göttingen 1988, passim. 67 Vgl. Jarausch, Universität, S. 338f.

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dokumentierte zeitgenössische Beobachtung einer insgesamt weitaus optimistischeren Zukunftsperspektive und -erwartung bzw. geringeren „Ideologisierung" bei amerikanischen Studenten im Vergleich feststellen und bestätigen. 68 Zu dieser Bildungskrise kam in Deutschland die oben schon kurz angedeutete verstärkte Einflußnahme des Staates auf den Bereich höherer Bildung, wodurch das Ideal universitärer Autonomie, das zwar staatlichen Schutz, aber keine staatliche Einwirkung oder gar Kontrolle vorsah, zunehmend in Frage gestellt wurde; auch wenn die Humboldtschen Ideale von akademischer Freiheit, allgemeiner Persönlichkeitsbildung und universitärer Autonomie, die die Konzeption und Realität der deutschen Universität in der ersten Jahrhunderthälfte im wesentlichen geprägt hatten, 69 gerade in der Zeit der Krise besonders heftig von den führenden Exponenten des deutschen Universitätslebens beschworen wurden, konnte dies doch nicht darüber hinweg täuschen (und war dabei zugleich ein sichtbares Indiz dafür), daß sich auch das Bildungssystem unter dem Eindruck der zunehmend industrialisierten Wirtschaft und Gesellschaft im letzten Drittel des Jahrhunderts entscheidend gewandelt hatte und daß die wachsende soziale Öffnung und die damit verbundene Überfüllungskrise sowie die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung der einzelnen Forschungsbereiche und Fakultäten das neuhumanistische Universitätsideal mit seiner Konzeption universaler Persönlichkeitsbildung anstelle rein pragmatisch-materialistischer Fachausbildung in wachsendem Maße fragwürdig werden ließen. 70 Diese Infragestellung des ursprünglich autonom und universal gedachten Bildungsideals, die bemerkenswerterweise ja auch mit dem schon geschilderten Verblassen des bürgerlichen Familienideals einherging, war wesentlich für die angedeutete Identitätskrise an den Universitäten verantwortlich und traf besonders die traditionell führenden Geisteswissenschaftler, deren antimoderne Abwehrhaltungen in wachsenden Nationalismus und Antisemitismus gipfelten und damit den schon oben kurz skizzierten „Niedergang der deutschen Mandarine" ab den 1890er Jahren beschleunigten. 71 So ist von der Forschung hervorgehoben worden, wie sehr gerade deutsche Professoren sich in nationalistischen (und antisemitischen) Verbänden wie den „Alldeutschen" oder dem „Flottenverein" engagierten oder zumindest Mitglieder waren und damit ein entsprechendes Vorbild für die Studentenschaft abgaben. 72 Ihre Zuspitzung fand diese Disposition in den in der

68 Vgl. zu diesem Vergleich insgesamt T. Taylor: The Transition to Adulthood in Comparative Perspective: Professional Males in Germany and the United States at the Turn of the Century. In: Journal of Social History 21, No.4, 1988, S. 635-658. 69 Vgl. zur historischen Entwicklung eines spezifisch deutschen bildungsbürgerlichen Ideals individueller bzw. „innerlicher" Gelehrsamkeit im Rahmen autonomer Wissenschaft bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber öffentlichen Institutionen und ihrem Einflußbereich vor allem Münch, Kultur der Moderne, Bd. 2, S. 686-770. 70 Vgl. Jarausch, Students, S. 49-77 bzw. 82-89 u. 165-173 sowie Kraul, Bildung und BUrgerlichkeit, S. 4 6 - 4 9 und Nipperdey, Geschichte, S. 590ff. Vgl. zu den wachsenden Konvergenzen der Systeme der höheren Bildung unter dem Eindruck der Industrialisierung auch H. Liebersohn: The American Academic Community before the First World War. A Comparison with the German „Bildungsbürgertum". In: Conze/Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 163-185. 71 Vgl. Ringer, Die Gelehrten, bes. S. 12-17. 72 Siehe dazu z. B. R. Chickering: Die Alldeutschen erwarten den Krieg. In: Dülffer/Holl (Hg.), Bereit zum Krieg, S. 20-32.

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deutschen Öffentlichkeit außerordentlich einflußreichen „Ideen von 1914", die Deutschlands Kampf im Weltkrieg als Verteidigung genuin „deutscher Kultur" gegen den universalen Kulturverfall, der von vielen deutschen Intellektuellen mit der scheinbar allein auf materielle Errungenschaften ausgerichteten „Zivilisation" und Massendemokratie in den Ländern Westeuropas assoziiert wurde, darstellten. 73 Auch wenn diese Haltung, wie bereits im Kapitel zu den Mentalitäten gezeigt, nicht zu homogen gesehen werden darf, eine Fülle von Gegenstimmen Beachtung verdient und es vor allem auch parallele Entwicklungen in den anderen europäischen Staaten gab, so fällt doch letztlich die schon oben geschilderte starke Staatsfixierung und Erwartungshaltung des deutschen Bürgertums gegenüber staatlichen Lösungen angesichts von Modernisierungskrisen erneut als deutsche Besonderheit ins Gewicht. 74 Allerdings muß im Vergleich mit den USA gesehen werden, daß sich die antiwestliche Stoßrichtung der deutschen Ideologie vor allem gegen die europäischen Konkurrenten Frankreich und Großbritannien und weniger gegen die USA richtete, die man unter Überschätzung des deutschen Einflusses in den Staaten bis zum Kriegseintritt 1917 noch für zum Bündnis mit Deutschland bereit hielt. In diesem Kontext wird auch verständlich, warum die Mehrzahl der (bildungsbürgerlichen) Amerika-Autoren keineswegs ein ausschließlich negatives Bild vom amerikanischen Bildungssystem zeichnete, auch wenn die geschilderten Vorwürfe des Utilitarismus, des Materialismus und des ökonomisch ausgerichteten reinen Pragmatismus sich neben einer tatsächlichen stärkeren Gewichtung von praktisch ausgerichteter Allgemeinbildung in den USA 7 5 u. a. aus ihrer Prägung durch Humboldtsche Bildungsideale erklären lassen. Doch offensichtlich war die Distanz wie auch die lange Zeit unbestrittene Vorbildfunktion deutscher Institutionen (neben dem englischen College-Vorbild) in den USA stärker wirksam, so daß hier kaum Konkurrenzdenken, sondern eher Bewunderung für den ,Aufholer" USA bestimmend wurde; dadurch traten sogar reale und von vielen amerikanischen Intellektuellen gerade unter Hinweis auf das deutsche Autonomievorbild bekämpfte Schattenseiten wie die zunehmende materielle wie ideelle Beeinflussung des Bildungsbereichs durch Unternehmen und ökonomisch ausgerichtete Stiftungen 76 in den Hintergrund.

73 Vgl. zur Begrifflichkeit von „Zivilisation" bzw. „Kultur", die vor 1914 auch im deutschen Sprachgebrauch noch keineswegs so national antithetisch benutzt worden war, J. Fisch: Zivilisation, Kultur. In: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 746-752 bzw. zur Zeit des Ersten Weltkriegs und danach S. 760-766. 74 Vgl. zum Verhältnis der deutschen Professoren zur Politik auch Nipperdey, Geschichte, S. 590-601. 75 Siehe dazu Jarausch, Universität, S. 338f. 76 Vgl. dazu detailliert C. W. Barrow: Universities and the Capitalist State. Corporate Liberalism and the Reconstruction of American Higher Education, 1894-1928. University of Wisconsin 1990, bes. S. 32-85, wo die wachsenden personellen Verflechtungen der „Trustees" und Vorstände der privaten Bildungs"Foundations" mit der Wirtschaft sowie die „managerial revolution" in der Bildungsverwaltung und deren inhaltliche wie formale Ausrichtung an unternehmerischen Strategien herausgearbeitet werden bzw. zum intellektuellen Protest ebda., S. 166ff u. 194-213. Allerdings sei angemerkt, daß auch in Deutschland u. a. durch die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 eine wachsende Verflechtung von Industrie und (naturwissenschaftlicher) Forschung eintrat. Vgl. dazu ζ. B. Nipperdey, Geschichte, S. 586ff.

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Diese im Kern positive Sicht, die überdies durch die Integrationsleistungen des amerikanischen Bildungssystems bestärkt wurde und damit der oben geschilderten Disposition zu sozialer Harmonieorientierung im wilhelminischen Bürgertum entsprach, war naturgemäß auch und wesentlich durch das entsprechend positive amerikanische Selbstbild geprägt. Aber es sieht doch insgesamt ganz so aus, als sei diese Perspektive eher spezifisch europäisch gewesen, auch wenn explizite Vergleiche mit Europa wie gesehen selten blieben und kaum von einem diesbezüglichen „Europabewußtsein" die Rede sein kann. Dennoch: Die positiven wie negativen Konturen ähnelten sich mit leichten Abweichungen bei Franzosen, Deutschen, Briten und Italienern signifikant; zugleich fällt auf, wie erstaunlich realistisch bei aller Vereinfachung das Bild ausfällt, nicht zuletzt aufgrund tendenziell ganz ähnlicher Entwicklungen in West- bzw. Mitteleuropa. So ähnlich die Beobachtungen ausfielen, so einig waren sich auch die Europäer in ihrem Überlegenheitsbewußtsein über die noch junge amerikanische Bildungslandschaft, die zweifelsohne europäischen Vorbildern folgte, dabei aber durchaus eigenständige und spezifisch amerikanische Wege ging, die den immer wieder vergleichenden Europäern teilweise verborgen blieben, was sicher auch daran lag, daß diese Eigenarten erst nach dem Ersten Weltkrieg deutlicher an Kontur gewannen. So wird der abschließende Eindruck des Historikers Erich Mareks von der wachsenden „Amerikanisierung" Europas und gleichzeitigen „Europäisierung" Amerikas im Bildungsbereich einerseits bestätigt, andererseits aber auch in anderen Aspekten als Wunschdenken entlarvt. Die Rückkehr zum „Geist Goethes" und der Glaube an dessen Verbindbarkeit mit den Idealen des modernen, industrialisierten Nationalstaates, die er speziell in Deutschland festzustellen meinte, erwies sich angesichts der tiefgreifenden Bildungs- und Identitätskrise des deutschen (Bildungs-)Bürgertums als illusorisch. Wie sehr Deutschland seine Vorrangstellung im Bereich der Bildung im internationalen Vergleich einzubüßen drohte, nahm er ebenso wie die meisten anderen Beobachter kaum wahr, und nur wenige Autoren wie der „Insider" Hugo Münsterberg erkannten ohne Dämonisierung die „amerikanische Gefahr" der Bildungs- und Forschungskonkurrenz für Europa, das die erreichten Leistungen und Vorbildfunktionen schon bald im selbstzerstörerischen Weltkrieg aufs Spiel setzte. Der paradoxale Charakter der Bildungsmodernisierung, der darin bestand, daß die theoretisch im Bürgertum immer angestrebte und nun tendenziell realisierte gesellschaftliche Ausweitung von Wissen und Bildung zugleich die Krise der traditionellen Bildungskonzeption und ihrer Trägerschicht heraufbeschwor, drang so nur indirekt ins Bewußtsein und blieb letztlich diffus, was daran deutlich wird, wie wenig oder nur am Rande die massive Modernisierung und die damit verbundenen Krisensymptome in Deutschland im zeitgenössischen Vergleich zu Amerika ins Bewußtsein drangen. Dadurch, daß die USA in diesem Bereich letztlich als Nachzügler erschienen, ließen sich die zunehmenden Probleme der Modernisierung im eigenen Land relativ leicht „verdrängen", auch wenn die bereits vertraute Kritik an der sozialen Spaltung der deutschen Gesellschaft angesichts amerikanischer Integrationsleistungen auch hier wirksam wurde. Dennoch erlaubte das Festhalten am gerade für die bürgerliche Mentalität so prägenden emphatischen Bildungsbegriff, der kaum als Gegensatz zum (ökonomischen) Fortschrittsdenken erschien und damit die wachsende Domestizierung von Individuum wie Natur sanktionierte, daß Bildung noch als Klammer gegen wachsende gesellschaftliche Spaltung gedacht werden konnte - Indiz für die Kontinuität mentaler Dispositionen, was angesichts der unmittelbaren mentalen Prägekraft gerade des Bildungs-

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bereichs kaum verwundert und auch erklärt, warum diese Wahrnehmung zeitlich wie professionell so einheitlich ausfiel. Gerade die USA erlaubten daher eine so positive Beurteilung, weil Bildungsboom, Patriotismus und die Erziehung zu früher individueller Autonomie dieses Muster zu bestätigen schienen. Charakteristisch war daher auch, daß die Abweichungen vom deutschen Bildungsmodell wie die zu große Gewichtung des materialistisch-pragmatischen Sektors bei der Mehrzahl der Beobachter gerade nicht als Modernisierung, sondern als transitorisches Stadium auf dem Weg zu einer vermeintlichen „Europäisierung" begriffen wurden.

Kapitel 6

Metropolis - Die Erfahrung der Großstadt

An den Großstädten Amerikas kam kein Besucher vorbei, im Gegenteil: Sie waren in vielerlei Hinsicht der zentrale Rahmen der Amerikabeobachtungen überhaupt. Dies begann schon mit der Landung in New York, das für die überwältigende Mehrzahl der europäischen Reisenden (wie Auswanderer) der Anlaufhafen schlechthin war. Wie wir oben gesehen haben, konzentrierten sich die meisten Reiserouten auch nach dem Verlassen New Yorks vor allem auf die Städte der Ostküste und des mittleren Westens, allen voran Chicago. Aber auch die Reisenden, die bis an den Pazifik vordrangen, besuchten dort neben Naturparks in erster Linie die neu entstehenden und schnell wachsenden Urbanen Zentren wie Seattle und vor allem San Francisco, das durch das Erdbeben von 1906 noch zusätzlich an Aufmerksamkeit gewann. Insofern ist es kaum übertrieben, die Erfahrung Amerikas vor allem als Großstadterfahrung zu verstehen; zugleich bildete die Großstadt damit auch den Hintergrund für viele der oben dargestellten Gesellschaftsbeobachtungen, und wir werden einigen Grundzügen des Amerikabildes vor allem im Bereich der Mentalitäten anhand der Beurteilung amerikanischer Stadtentwicklung und Architektur wiederbegegnen. Es verwundert daher nicht, daß das Thema der Großstadt vor allem in den Reiseberichten einen mehr oder weniger breiten Raum einnahm und keineswegs nur von einer bestimmten Berufsgruppe behandelt wurde. Ebenso lassen sich keine besonderen zeitlichen Schwerpunkte in der Großstadtdebatte feststellen; das Thema Großstadt interessierte die Wilhelminer also im gesamten Zeitraum fast gleichmäßig stark, wobei vor allem die Architektur der „Wolkenkratzer" in New York und Chicago und die Entwicklung der Stadtstrukturen allgemein im Vordergrund eines Interesses standen, das in besonderer Weise ästhetisch ausgerichtet war und wie in kaum einem anderen Gesellschaftsbereich der Tendenz zur „Impression" entsprach. Die Grenzen dieses „Impressionismus" wurden dabei allerdings daran deutlich, daß viele Autoren zur Beschreibung der amerikanischen Stadtdimensionen in Statistiken und Baedeker-Angaben flüchteten und damit das Problem der individuellen Erfaßbarkeit der Großstadtwirklichkeit mehr oder weniger bewußt dokumentierten. Es fällt andererseits auf, daß in den eher „unpersönlichen" landeskundlichen Studien die Stadtthematik sehr viel seltener oder weniger ausführlich behandelt wurde, so daß offenbar doch das persönliche Erlebnis der Großstadt im wesentlichen ausschlaggebend für die Behandlung dieses Themas war, zumal gerade in den Städten das „Wesen" Amerikas so verdichtet und damit anschaulich greifbar erschien wie in kaum einem anderen Gesellschaftsbereich.

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Generell bündelt sich in der unmittelbaren Stadterfahrung der Wilhelminer in den U S A eine A m b i v a l e n z von Faszination und Schrecken, von Bewunderung und Abwehr, von Enthusiasmus und Verstörung, die mehr oder weniger explizit schon in den anderen B e obachtungsbereichen sichtbar geworden ist - für viele wurde so die Großstadt zum Inbegriff Amerikas und zugleich zum sichtbar gewordenen Prinzip der modernen Welt.

1. Die Großstadt als Inbegriff Amerikas Ambivalenz von Faszination und Schrecken „Wie ich lange vor diesem Bilde stand, dämmerten alle meine ersten Eindrücke wieder auf, mit denen mich die Neue Welt von Anfang an gefangengenommen hatte. - Da sah ich wieder das mächtige Manhattan wie eine Zwingburg, ein einheitliches, ungeheures Schloß aus dem Meere ragen, so hoch, so kühn, daß man sich staunend fragt, wie das winzige Menschengeschlecht das alles planen, alles vollenden konnte! (...) Da schritt ich wieder durch die Straßen und Gassen, die mir so eng erschienen bei der Höhe ihrer Wände und im Gedränge des Menschengewoges; da packte mich wieder das rücksichtslos aufwärts gerichtete Streben so mächtig, daß ich nicht wagte, emporzuschauen, weil meine Sinne betäubt wurden und mir schwindelte. Und ich wunderte mich tief in meinem Innern über das epigonenhafte Schelten auf solches Schaffen diesseits und jenseits des Ozeans, und ich schämte mich, einer Zeit anzugehören, die den Anblick der Größe nicht recht ertragen kann. Schönheit ist die liebliche Tochter der Kraft (...) und ihr Attribut ist höchst gesteigerte Individualität. Darum bist du so schön, Manhattan! (...) Aus all der Zerrissenheit deiner Formen wird die edelste Harmonie, ein hohes Lied vom Schaffensdrange, der nimmer rastet, sondern stets weiter treibt." 1 S o enthusiastisch und fast lyrisch beschrieb der Ingenieur Ludwig Brinkmann 1 9 1 0 den Eindruck Manhattans, in dem sich die Kraft und Modernität Amerikas verdichtete. Er schrieb dabei zugleich gegen die insgesamt dominierende deutsche Großstadtkritik an, „die den Anblick der Größe nicht recht ertragen kann": „Broadway ist das Absurdeste, was ich je gesehen habe. Eine Stadt, arme Viertel, reiche Viertel, große Häuser, kleine Häuser, ist durcheinander geraten; sagen wir, ein barbarischer, Amok laufender Riese hat ihr von der Seite her einen Tritt gegeben, und als alles kunterbunt dalag und durcheinander, da hat das drei Monat (sic) alte Riesenkind in dem Haufen herumgewühlt und die Häuser wieder aufgestellt, neben- und übereinander. Ärmliches Haus, Palast, vier Häuser übereinander, kein Haus, kein Haus, zwölf Häuser übereinander, winziges Haus, tiefes Loch, kleines Vorstadthäuschen, Palast, siebenunddreißig Häuser übereinander - das ist Broadway. Es wird einem schlecht, wenn man da durchfahrt. Ich stecke den Kopf aus meinem Fenster - es ist nicht zu beschreiben, wie diese Stadt aussieht." 2 D i e s schrieb 1913 im Kontrast zu Brinkmanns lyrischem Enthusiasmus k e i n e s w e g s ein „typischer" konservativer Wilhelminer, sondern der sozialistische Autor Arthur Holitscher. In beiden Passagen werden die Pole bezeichnet, zwischen denen die Großstadt-Wahrneh-

1 Brinkmann, Eroberer, S. 48f. Vgl. auch Pfister, Amerika, S. 7; Oberländer, Ozean, S. 18f; Aram, Mit 100 Mark, S. 58f und Lurz, Weltreiseskizzen, S. 296ff u. 308, wo es ungewöhnlich begeistert heißt: „New York ist, gleich San Francisco, großartig und schön. Ja, es verdient diese beiden Attribute mehr wie irgend eine andere Stadt der Welt. Mögen andere anderer Ansicht sein; ich halte New York in Anbetracht seiner Anlage, Bauten und Umgebung - und ohne Rücksicht auf seine sozialen Verhältnisse - für die schönste Stadt auf dem Erdglobus." 2 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 44f. Vgl. auch ebda. S. 46f u. 59ff.

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mung der deutschen Reisenden in den USA vor dem Ersten Weltkrieg oszillierte, auch wenn New York in seiner Besonderheit und seinem spezifischen Charakter innerhalb Amerikas durchaus wahrgenommen wurde.3 Bemerkenswert ist dabei, daß diese ambivalente Debatte quer durch alle politischen und professionellen Lager verlief, sich hier also kaum eindeutig konservative bzw. liberale oder sozialistische Positionen ausmachen lassen; ebensowenig kann von einer klaren zeitlichen Verteilung, etwa einer wachsenden Akzeptanz oder Ablehnung amerikanischer Stadtentwicklung und Architektur nach 1900 die Rede sein. Auffallend bleibt allerdings, daß eine Fülle von Autoren die Großstadterfahrung in den USA mit deutschen Verhältnissen verglich, wobei der Vergleich sogar mehrheitlich auf Europa insgesamt ausgedehnt wurde. Dabei verliefen die Beurteilungen nicht selten sogar quer zum Gesamtbild der amerikanischen Gesellschaft; so urteilte beispielsweise der Verwaltungsbeamte Conrad v. Unruh, dessen Amerikabericht ansonsten sehr positiv ausfiel und viele amerikanische Charakteristika der deutschen Gesellschaft als Vorbild empfahl, über die amerikanische Bauweise der Wolkenkratzer erneut am Beispiel New Yorks: „Aber weder die wohlfeile Entschuldigung, die Schönheit könne auch schon in der Zweckmäßigkeit solcher Kolosse gefunden werden, noch die immer weiter gediehene, architektonische Ausbildung und Gliederung der Fassaden dürfen darüber hinwegtäuschen, daß diese - ,Unbauten' möchte man sie nennen - ein Ausfluß rücksichtsloser Gewalttätigkeit sind. Die Besitzer von alten, kleineren Häusern, um die herum sich mehrere solche verdunkelnden Unbauten erheben, haben gar kein anderes Mittel gegen die Entwertung ihres von Licht und Luft abgeschnittenen Eigentums, als nun ebenfalls in die Höhe und womöglich noch höher zu bauen. Dann wird, was man schon jetzt beängstigend empfindet, aus der ehemals sonnigen, luftigen Straße eine dumpfe Schlucht - , K l a m m ' nennt es der deutsche Gebirgsländer so treffend - und trotz der Höhe haben auch in diesen Häusern nur die wenigen obersten Stockwerke noch Tageslicht. ( . . . ) Warum sollten wir Europäer, besonders wir Deutsche, solche Häuser, die gar keine Gebäude, sondern stählerne Vogelbauer sind, nur mit Stein tapeziert, nicht auch bauen können, aber wir wollen solche Torheiten nicht machen, selbst wenn wir keine Bauordnungen hätten, die das verbieten." 4

Diese Ablehnung amerikanischer Großstadtarchitektur, die sich vor allem auf die Innenstädte mit ihren ab den 1890er Jahren durch die Innovation der Stahlskelettbauweise rapide in die Höhe wachsenden Geschäfts- und Bürobauten bezog, fand sich immer wieder in deutschen Reise- und Aufenthaltsberichten. Dabei suchten die Wilhelminer - wie bei Unruh deutlich - bezeichnenderweise immer wieder nach Analogien zu vergleichbaren und vertrauten Dimensionen in Europa, um die ungewohnte Erfahrung vergleichend einordnen zu

3 Vgl. ζ. B. Fulda, Eindrücke, S. 52f. 4 Unruh, Amerika, S. 138f. Im Kontrast dazu äußerte sich über die ideale Verbindung von Schönheit und Technik gerade ein konservativer ehemaliger Offizier, dessen Bericht ansonsten eher negativ ausfiel, enthusiastisch: „Hier in Amerika findet man aber augenscheinlich die genialsten Resultate. In Architektur und Plastik sieht man die Hand in der Technik durch das Gesetz der Schönheit geleitet, im Entwurf aber giebt (sie) es keine selbstgesteckten Grenzen. (...) Jeder Gedanke wirkt raketenartig: er ist schon verwirklicht, ehe noch ausgerechnet worden ist, ob die Sache auch bestehen kann. Manches, was ganz unmöglich erscheint, steht hier aber wirklich da." (Korff, Wieder nach Amerika, S. 34f.). Vgl. ähnlich auch Vay v. Vaya, Nach Amerika, S. 72f; Münsterberg, Eindrücke, S. 7 und Eugen Zabel: Bunte Briefe aus Amerika. Berlin 1905, S. 3 2 f f u . 4 6 .

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können, und man fand sie bezeichnenderweise (wenn überhaupt) nur in der Natur oder aber im Kirchenbau.5 Die Kritik an den amerikanischen Großstädten richtete sich, sofern sie sich nicht auf den durch die Höhe der Hochhausbauten erzeugten Mangel an Luft und Licht6 bezog, eigentümlich widersprüchlich sowohl auf das ungeordnete „Chaos" des amerikanischen Stadtwachstums als auch andererseits auf die „unorganische" rationalistische Struktur der rechtwinkligrasterartig angelegten Straßenzüge in den amerikanischen Städten. Beide Prinzipien bzw. Entwicklungen standen den europäischen Formen so konträr gegenüber, daß bei den Wilhelminern ein Gefühl von „Schönheit" im bekannten europäischen Sinn kaum aufkam - gerade in den Städten wurden die Wilhelminer mit Distanz und Fremdheit des anderen Kontinents konfrontiert, so daß sich mental kaum vertraute Orientierungen finden ließen: „Alles unfertig, unausgeglichen, auch für den Blick eines Besuchers, der es nicht für europäische Anstandspflicht hält, diesem Wesen gegenüber in Hysterien des Entsetzens und der Mißbilligung zu verfallen, erschreckend und doch hinreißend zugleich, ordnungslos und vorwärtsdrängend, großartig und fremd. Gewiß sind dies die stärksten Eindrücke vom Amerikanertum und schließlich die echtesten, weil sie die bezeichnendsten sind für die Neuheit und wilde Kraft dieser Welt." 7

Hier scheint auf, wie stark die Städte als Inbegriff und sinnlich faßbares Modell von Amerika schlechthin erfahren wurden, was nicht nur für das Tempo der Entwicklung und die damit verbundene „chaotische" Fremdheit8 galt, sondern sich auch auf zugrundeliegende Ordnungsprinzipien der „künstlichen" Straßenraster im Kontrast zur „Organik" europäischer Städte bezog, die nicht nur Werner Sombart als Ausdruck amerikanischen Wirtschaftsgeistes und pragmatischen Rationalismus deutete: „Aber wenn ich sage: die Vereinigten Staaten seien ein Städteland, so meinte ich das in einem tieferen, innerlichen Sinne, der es auch erst verständlich macht, warum ich Städtetum und Kapitalismus in Beziehung setze. Ich meine es in dem Sinne einer Siedlungsweise, die allem organischen Wachstum fremd geworden, auf rein rationaler Basis ruht und nach rein quantitativen Gesichtspunkten orientiert ist, die gleichsam der Idee nach eine .städtische' ist. Die europäische .Stadt' verkörpert nur in den seltensten Fällen diese Idee ganz. Sie ist meist organisch gewachsen, ist im Grunde doch nur ein vergrößertes Dorf, dessen Wesen ihr Bild widerspiegelt. Was hat Nürnberg mit Chicago gemeinsam?" 9

5 Vgl. ζ. B. Klien, Amerikafahrt, S. 20f: „Je weiter wir südwärts zur Spitze der Halbinsel dringen, um so höher recken sie sich hinauf zum Himmel und um so schmaler wird die Licht- und Luftsäule zwischen ihnen. In den engen, alten Straßen verdunkeln sie so stark den Weg, daß es einem in der Tat oft vorkommt, als ob man, wie ein Delegierter treffend bemerkte, in einem Engpaß zwischen hohen Bergriesen gehe." Vgl. zur Analogie mit Kirchenbauten auch Fulda, Eindrücke, S. 42 und Hesse-Wartegg, Amerika, S. 56f. 6 Vgl. u. a. Lindau, Altes und Neues, Bd. 2, S. 372f sowie Ravenschlag, Uncle Sam, S. 58; Nölting, Sternenbanner, S. 18f; Norda, Augenblicksbilder, S. 26f, 35 u. 144f. 7 Mareks, Eindrücke, S. 11. Vgl. ebda., S. 9f bzw. zur Ambivalenz zwischen Chaos und Rationalität auch Scherff, Nord-Amerika, S. 93; Bahr, Reise-Berichte, S. 32 u. 35ff; Fulda, Eindrücke, S. 58ff; Heckmann, Nord-Amerika, S. 42ff und Adelmann, 62 Tage, S. 3 If u. 39. 8 Siehe dazu ζ. B. Rabe, Erholungsfahrt, S. 53; Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 188ff; Schmidt, Reiseskizzen, S. 34; Harjes, Reise, S. 63; Wolzogen, Dichter, S. 122f 9 Sombart, Sozialismus, S. 14. Vgl. auch Kleinschmidt, Bilder, S. 105 sowie im Hinblick auf die Architektur der „Wolkenkratzer" Rambeau, Amerika, S. 88f.

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Zu diesem Eindruck der pragmatischen Rationalität der Stadtanlage mit ihrem einheitlichen Straßenraster gesellte sich daher auch das Gefühl der Monotonie amerikanischer Städte im Gegensatz zur Individualität deutscher oder allgemein europäischer Städte, wobei nicht nur die Bauweise, sondern - wie schon im Kapitel zu den Mentalitäten deutlich geworden ist erneut ein spezifisch einheitlicher amerikanischer Lebensstil dafür verantwortlich gemacht und der Vielfalt europäischer Formen gegenübergestellt wurde; so vermerkte der Reiseschriftsteller und Journalist Paul Grzybowski bereits 1894 trotz einer Relativierung des Monotonie-Vorwurfs unter Hinweis auf regionale Unterschiede innerhalb der USA: „ . . . daß die Lebensweise in den Vereinigten Staaten fast durchgängig die nämliche ist, und daß sie es ist, welche den Städten den einförmigen Charakter verleiht. Eine Fahrt von Gibraltar bis nach St.Petersburg bringt den Reisenden mit verschiedenen Nationen zusammen, und selbst eine kurze Strecke innerhalb des deutschen Reiches macht ihn mit einer Reihe Volksstämmen bekannt, die sich von ihren oft nächsten Nachbarn durch Dialekt, Lebensweise und Tracht unterscheiden; hier aber giebt (sie) es durch das ganze große Gebiet, welches sich von einem Meere bis zum andern erstreckt (...) nur eine Nation (...), nur eine Sprache (...), nur eine Tracht und nur eine Lebensweise." 1 0

Diese Monotonie erstreckte sich bei aller Faszination nicht selten auf die Architektur der Innenstädte, deren vor allem in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmende schmucklose Nüchternheit die gewohnte Optik der europäischen Belle-Epoque-Ästhetik aufbrach, was interessanterweise nicht nur für kulturkonservative Autoren galt, sondern quer durch das politisch-kulturelle Spektrum verlief." Und selbst Autoren, die in ästhetischer Hinsicht weniger kritisch urteilten, waren sich doch darin einig, daß die amerikanische Bauweise im Hinblick auf die Innenstädte kein Vorbild für Deutschland sein konnte; so urteilte der Schriftsteller Ernst v. Hesse-Wartegg in seinem ausschließlich auf Chicago bezogenen Reisebericht von 1893: „Man darf sich die kolossalen zehn- bis zwanzigstöckigen Geschäftshäuser rings um den Fluß nicht etwa als kahle, schmucklose Bauten vorstellen, welche nur durch ihre ungeheure, alle Begriffe übersteigende Größe imponieren. Mit wahrem Raffinement sind die Architekten zu Werke gegangen, um die ein bis zwei Dutzend langen parallelen Fensterreihen übereinander zu brechen, zu verbergen und in ein harmonisches Ganzes zu

10 Grzybowski, Land und Leute, S. 132. Vgl. ebda., S. 13 Iff sowie Fulda, Eindrücke, S. 53ff; Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 44f bzw. Bd. 2, S. 88f u. 370f; Röder, Reisebilder, S. 16ff; Schneller, Sternenbanner, S. 17f und Kummer, Weltreise, S. 37-41, wo es zwanzig Jahre später entsprechend hieß: „Das Wandern zwischen den langen, stracken Häuserreihen fängt bald an, recht langweilig zu werden. Hier findet man heraus, daß die Bauart der alten deutschen Städte eigentlich gar nicht so verdammenswert ist. Das in der amerikanischen Eintönigkeit ermüdete Auge sehnt sich nach europäischen Gassen mit ihren Krummlinien und Giebelhäusern. Überhaupt entdeckt man in der neuen Welt Vorzüge an seiner alten Heimat, die man früher nicht sehen wollte oder konnte. Man lernt eben sein eigenes Land erst kennen und schätzen, wenn man fremde Länder betrachtet." (S. 41). 11 So notierte ζ. B. Arthur Holitscher: „ . . . die Häuser sind jetzt gut zu sehen, große viereckige Ziegelsteine mit Poren, nein, besser gesagt, große aufrecht hingestellte holländische Waffeln, nein, riesige Siebe mit Löchern drin (...). Man kann sich nicht denken, daß da drinnen Menschen leben sollen." Trotzdem konzedierte er zugleich: „Wirklich, diese Stadt der Schiffe, die Manhattan einsäumt, ist einzig, überwältigend". (Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 40f.). Vgl. auch Polenz, Land, S. 292ff; v.Skal, Volk, S. 59f sowie für die 90er Jahre Diercks, Kulturbilder, S. 330f.

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gestalten. (...) Die Vorsehung bewahre uns vor solch gewaltigen Gebäuden wie die himmelstürmenden Bienenstöcke Chicagos! Man wird auch dort davon abkommen, denn sie rauben den Straßen Luft und Licht C..)." 1 2 D i e Ablehnung des amerikanischen „Stadtmodells" hatte ihre Ursache dabei auch in der Hektik und Schnellebigkeit der Großstädte, die den chaotischen Eindruck noch verstärkten und in der deutschen bzw. europäischen Erfahrung keine Parallele zu kennen schienen Indiz auch für den Umstand, daß der Großstädter prägend für den Typus des Amerikaners wurde, bildete doch die Beobachtung von „Hektik" und „Schnellebigkeit" einen fundamentalen Grundzug amerikanischer Mentalität, wie er oben bereits sichtbar geworden ist. Dabei drängten sich den Wilhelminern nicht selten Metaphern des Krieges auf, die die Stadt zum „industriellen Schlachtfeld" werden ließen: „Alle diese Tausende jagen und stürmen einher, daß die Kutscher acht haben müssen, daß ihre Pferde nicht umgerannt werden. Der Straßenverkehr gleicht wahren Infanterieattacken. (...) Man kann dem Verkehr nirgends entgehen, man ist eingeschlossen, gefangen wie auf einem großen industriellen Schlachtfeld inmitten einer Schlacht, die nur nachts teilweise unterbrochen wird, um bei Tagesanbruch wieder fortgesetzt zu werden." 13 Hintergrund dieser ungeheuren Beschleunigung des Lebenstempos war in wilhelminischen A u g e n vor allem ein rasantes Stadtwachstum nicht nur von Städten w i e N e w York oder Chicago, sondern auch von Städten der Westküste w i e Seattle und San Francisco oder des (Mittleren) Westens w i e Detroit oder Denver - ein Wachstum, das das der europäischen oder speziell der deutschen Städte deutlich übertraf 14 und damit Strukturen und Dimensionen erzeugte, die kaum mit Europa vergleichbar erschienen. 1 5 D i e s e s beschleunigte Wachstum, das die amerikanischen Städte zu „Schmelztiegeln" der europäischen Völker und zumal eine Stadt w i e Chicago zum S y n o n y m für ein neues „Babylon" werden ließ, 1 6 erregte bei einer Vielzahl von Autoren Bedrohungsgefühle, die in eine generelle Großstadtkritik mündeten; so vermerkte der Schriftsteller Wilhelm von Polenz im Vergleich: „In keinem anderen Lande der Welt hat das Wachstum der Städte, insbesondere der großen, solchen Umfang angenommen, wie in den Vereinigten Staaten. Es wird gar nicht mehr lange dauern, dann wohnt die Hälfte aller Amerikaner in .incorporated Cities'. (...) Der Zug zur Stadt ist diesseits wie jenseits des Ozeans keine erfreuliche Folge der Wirtschaftsentwicklung in der neuen Zeit. Schwindelhafte Bodenpreise, hohe Mieten, Wohnungselend, Arbeitslosigkeit, schlechte Luft, moralische und physische Epidemien, politischer Radikalismus, das sind so einige von den ärgsten Symptomen der Großstadtunnatur. Es kommen für amerikanisches Städtewesen erschwerend hinzu die mangelhafte Verwaltung und die politische Korruption (...). Wenn man

12 Hesse-Wartegg, Chicago, S. 17ff. Vgl. auch ebda., S. 76ff. 13 Hesse-Wartegg, Chicago, S. 24 u. 26f. Vgl. auch über New York Ders., Amerika, S. 49-53 sowie Kleinschmidt, Bilder, S. 102ff; Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 22f; Lurz, Weltreiseskizzen, S. 297f; Bluth, Wanderleben, S. 61ff; Gerstenberger, Steinberg, S. 107f u. Norda, Augenblicksbilder, S. 144f. 14 Vgl. u. a. Fulda, Eindrücke, S. 65ff; Knauer, Deutschland, S. 8ff; Zardetti, Westlich!, S. 208; Laverrenz, Amerikafahrt, S. 178ff; Schweitzer, Urlaub, S. 48ff u„ Lindau, Altes und Neues, Bd. 2, S. 8ff, 14f u. 82ff. 15 Siehe dazu u. a. Gerstenberger, Steinberg, S. 100-105; Münsterberg, Eindrücke, S. 35f; Zabel, Briefe, S. 68f sowie Heymann, USA, S. 31ff u. Unruh, Amerika, S. 128f. 16 Vgl. u. a. Hesse-Wartegg, Chicago, S. 152-159; Moltke, Nord-Amerika, S. 9f; Unruh, Amerika, S. 28f u. Kummer, Weltreise, S. lOOff.

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durch die Geschäftsviertel von New York oder Chicago geht und beobachtet die Menge, blickt in diese abgehetzten, nervösen, dabei harten, von Gier verzehrten Menschenlarven, sieht, wie sich Eitelkeit, Hysterie, Frivolität in tollen Zuckungen überschlagen (...), dann sollte man glauben, die moderne Großstadt sei ein Tollhaus (...)•" 1 7

Verdichtet tauchen hier fast alle „urbürgerlichen" Ängste vor der Großstadt auf, die besonders in Deutschland durch die rapide Verstädterung im Kaiserreich und die damit einhergehenden sozialen Folgeprobleme an Wirkungsmacht gewannen - wir werden davon im folgenden noch ausführlicher zu sprechen haben. Hier genügt es vorläufig festzuhalten, daß vor allem die Rasanz der Entwicklung in den USA die Wilhelminer beeindruckte und zugleich in ihren Folgen erschreckte, wobei in einigen Studien über die USA nach 1900 auch schon die damit einhergehende zunehmende funktionelle Differenzierung der Stadtteile als reiner Industrie-, Geschäfts- und Wohngebiete reflektiert wurde, die man in heutiger Terminologie als „Suburbanisierung" bzw. „Segregation" bezeichnen würde. 18 Verstärkt wurde dieser Eindruck vor allem auch dadurch, daß städtische Planung durch den Staat oder die Kommunen im Gegensatz zu Deutschland in den USA kaum stattzufinden schien - erneut ein Indiz für die schon oben konstatierte Schwäche des Staates in Amerika. Der Eindruck der „Monstrosität" rührte damit für viele Besucher nicht zuletzt daher, daß es keinerlei Ordnungskräfte und Regulierungen zu geben schien, sondern daß die Dynamik des freien Marktes allein richtungsweisend und stilbildend ohne Rücksicht auf Traditionen verfahren konnte: „Wenn dagegen in fast sämmtlichen (sie) grossen Städten, namentlich in den Geschäftsvierteln, immer mehr Häuser mit 17 und 18 und mehr Stockwerken entstehen, jene Häuserblocks, die von vier Straßen umgrenzt sind, diesen ein ungemüthliches Aussehen geben und ihnen Licht und Luft rauben, so zeigt das, daß der spekulative Sinn der Amerikaner das Schönheitsgefühl weit überragt. Vergebens hat man in den Stadtverwaltungen gegen die mächtigen Grundbesitzer gekämpft, und bis heute ist es noch keiner amerikanischen Stadt gelungen, eine gesunde Bauordnung durchzuführen, wie sie die meisten Städte in Europa aufweisen." 1 9

So konstatierten die deutschen Besucher auch einen insgesamt geringeren Standard an städtischer Daseinsvorsorge wie Kanalisation oder Elektrifizierung im Vergleich zu Deutschland, was weniger den in den USA teilweise weiter entwickelten technischen Standard als vielmehr die breite und gleichmäßige Versorgung aller Stadtteile mit diesen kommunalen Dienstleistungen betraf, wobei erneut vor allem die Korruption der Verwaltungen zur Erklärung ins Feld geführt wurde. 20 Allerdings wurden die enormen Fortschritte auf diesen Gebieten in den USA durchaus auch gesehen und gewürdigt, wobei etwa im Hinblick auf zunehmende Planungsinitiativen vor allem der Anlage von Parks große Aufmerksamkeit und

17 Polenz, Land, S. 198f. Vgl. auch die Angaben unter Anm.13. 18 So ζ. B. bei Polenz, Land, S. 199ff oder Hesse-Wartegg, Amerika, S. 58f bzw. Lettenbaur, Jenseits, S. 142. 19 Goldschmidt, Zum dritten und vierten Male, S. 35. Vgl. auch Harjes, Reise, S. 63f u. 84ff; Klien, Amerikafahrt, S. 22f u. Kummer, Weltreise, S. lOOff. 20 Vgl. u. a. Kolb, Arbeiter, S. 73f; Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. lOOff; Mancke, Im Fluge, 42ff; Niese, Bilder, S. 13ff; Hoffmann, Bilder, S. 39; Rabe, Erholungsfahrt, S. 38 und Rambeau, Amerika, S. 89f. Zum technischen Stand auch Schneller, Sternenbanner, S. 18; Diercks, Kulturbilder, S. 314f, 322 u. 372f und am Beispiel Chicagos vor allem Hesse-Wartegg, Chicago, S. 147-151.

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ein oft enthusiastisches Echo zuteil wurde.21 Ähnlich begeistert äußerten sich zugleich viele Wilhelminer über das moderne Verkehrsnetz in den amerikanischen Großstädten, das unbestritten deutsche (und europäische) Standards bei weitem übertraf.22 Diese Ungleichheiten bzw. Ungleichzeitigkeiten der amerikanischen Stadtentwicklung zwischen hochgradiger technischer Entwicklung einerseits und Slumbildung durch mangelnde städtische Daseinsvorsorge andererseits, zwischen der Anlage rationalistischer Straßengrundrisse und gigantischer Prachtbauten in Gestalt von riesigen Hotels, Bürokomplexen und Verwaltungsgebäuden im Zentrum auf der einen Seite und dem ungeregelten Chaos der Stadtentwicklung aufgrund fehlender städtischer bzw. staatlicher Planung auf der anderen Seite ließen die amerikanischen Städte in den Augen der Wilhelminer immer wieder als gigantische, zu Stein gewordene Kontraste zwischen „Unkultur" und „Überkultur", zwischen „Zivilisation" und „Wildnis", zwischen „Pracht" und „Elend" auf engstem Raum erscheinen, dem der Eindruck des Provisorischen und Unfertigen korrespondierte. Dies beschrieb der Schriftsteller Paul Lindau 1893 auf seinem Weg von New York nach Washington, immerhin einer der schon Anfang der 90er Jahre entwickeltsten und am stärksten verstädterten Regionen der USA: , A b e r auch auf diesem kurzen und eigentlich nicht vielsagenden Wege von New York nach Washington zeigt sich uns der amerikanische Norden, dieser kolossale Neubau, an dem unablässig gearbeitet wird, in der Gestalt, die uns Europäern zunächst am meisten auffällt: als das Land der schroffsten und unvermittelsten Gegensätze. Mächtige Städte mit stolzen Prachtbauten werden von elenden Weilern mit schmutzigen Bretterbaracken abgelöst, wohlbestellter, mit allen erdenklichen Vervollkommnungen der L a n d w i r t s c h a f t ausgenutzter Boden mit lieblos vernachlässigter Wüstenei. Und diese Gegensätze gewahren wir überall, in der Natur und in der Kultur, in allen Einrichtungen und Verhältnissen, im Großen und im Kleinen." 2 3

Sichtbar wird hier, wie stark erneut die Stadterfahrung zum Signum der Epoche und der Wahrnehmung Amerikas insgesamt wurde und die USA vor allem als Land der Kontraste und Gegensätze wahrnehmen ließ - wir werden darauf im folgenden Kapitel zum allgemeinen Vergleich der Kontinente noch näher eingehen. Als Teilaspekt dieses schroffen Nebeneinanders von Zivilisation und Wildnis in den Städten selbst und nicht als Gegensatz zwischen

21 So vermerkte der Sprachwissenschaftler Arthur Rambeau 1912: „Dieser glückliche Wechsel in der städtischen Verwaltung zeigt sich auch in den neuen großartigen parkanlagen und in der Verschönerung der nächsten umgebung der großstädte, die früher überall durch schmutz und angehäuften unrat entstellt war, und um die sich einst niemand zu kümmern schien. Seit kurzem haben einige großstädte vollständige parksysteme in ihrem umkreise, in naher und ferner umgebung, mit bequemen elektrischen Straßenbahnlinien ( . . . ) . Ein solches verständig, geschmackvoll und konsequent durchgeführtes system habe ich noch in keiner europäischen großstadt wahrgenommen." (Rambeau, Amerika, S. 90). Vgl. auch Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 191; Münsterberg, Eindrücke, S. 38; Bahr, Reise-Berichte, S. 37 und Fulda, Eindrücke, S. 61ff. 22 Vgl. u. a. Fulda, Eindrücke, S. 45f u. 48; Hoffmann, Bilder, S. 39; Münsterberg, Eindrücke, S. 32ff; Knauer, Deutschland, S. 8ff; Mancke, Im Fluge, S. 38f u. Müller, Leben, S. lOOff. 23 Lindau, Altes und Neues, Bd. 1, S. 45. Vgl. auch ebda., S. 44 u. Bd. 2, S. 8 2 - 8 7 sowie Diercks, Kulturbilder, S. 322f; Hesse-Wartegg, Chicago, S. 4f u. Ders., Occident, Bd. 1, S. 207ff; Rosen, Lausbub, Bd. 3, S. 190; Unruh, Amerika, S. 136f und Oberländer, Ozean, S. 43 sowie zum provisorischen Charakter u. a. Kummer, Weltreise, S. 190ff u. Harjes, Reise, S. 106f.

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Stadt und Land wie in Europa erschien allerdings vielen Wilhelminern die Schattenseite einer vor allem im Vergleich zu Deutschland deutlich höheren Kriminalitätsrate nicht nur, aber naturgemäß besonders in Chicago und in den Städten des „Wilden Westens"; 24 zugleich wurde die positive Seite der Medaille - eine weitaus geringere Präsenz von Militär und Polizei in den Straßen im Vergleich zu Europa - nur von wenigen linken bzw. liberalen Autoren vermerkt. 25 Andererseits wurde jedoch immer wieder bewundernd auf die gewaltige Zivilisationsleistung des kurzfristigen Aufbaus ganzer Städte und ihres Wohlstandes „aus dem Nichts" hingewiesen, wobei man zugleich die Erschließung Amerikas als Ende der „frontier" durchaus mehr oder weniger bewußt registrierte. 26 So sehr also in deutschen Augen im Kontext des rapiden und weitgehend ungeregelten Städtewachstums ein spezifisch amerikanischer Stil der Wolkenkratzer erst in der Entwicklung begriffen war und die Mehrzahl zumindest der Repräsentationsbauten noch eindeutig europäischen Stilvorbildern folgte, so ausgemacht war es doch für eine Reihe von Beobachtern, daß die amerikanischen Bauten in vielerlei Hinsicht ein Stil der Zukunft sein würden - einer Zukunft allerdings, die im skizzierten Sinne sehr ambivalent zwischen Faszination und Schrecken beurteilt wurde. 27

2. Wohnen in Amerika: Jedem das eigene Heim? Im Kontrast zur intensiven Diskussion über Architektur, Städtebau und Stadtentwicklung in den USA standen die relativ marginalen Beobachtungen zum Wohnen. Beobachtungen und Bemerkungen dazu fanden sich eher im Kontext der Lebensstandards oder des Familienlebens, wie sie im zweiten und vierten Kapitel ja schon angeklungen sind. Daher liefen die Argumente im Zusammenhang mit der Debatte über Stadt und Urbanisierung in eine ähnliche Richtung: man bewunderte in erster Linie die hohen Standards an Komfort und vor allem die vergleichsweise enorme Verbreitung des Eigenheims oder des Miethauses im

24 So notierte beispielsweise Arthur Holitscher in Chicago im November 1911 schockiert: „Am ersten Frosttag zählen die Zeitungen 7 mörderische Überfälle, 3 Notzuchtsversuche im Weichbild der Stadt. Die Zeitungen sind voll von Giftmorden, unaufgeklärten plötzlichen Todesfällen einflußreicher Leute, Schießereien in den belebtesten Straßen um die Mittagsstunde." (Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 295). Vgl. auch Kleinschmidt, Bilder, S. 127ff bzw. 152-160; Aram, Mit 100 Mark, S. 73-76; Bahr, Reise-Bilder, S. 81, 200 u. 250f; Barnekow, Amerika, S. 8ff; Hoffmann, Bilder, S. 40ff; Scherff, NordAmerika, S. 77f; Hesse-Wartegg, Occident, Bd. 1, S. 139-156 und Kummer, Weltreise, S. 187f. 25 So z. B. bei Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 52f und Fulda, Eindrücke, S. 68. 26 Vgl. z. B. Lindau, Altes und Neues, Bd. 2, S. 94ff u.404f sowie Schmidt, Reiseskizzen, S. 30f u. die Angaben unter Anm.23. (vorherig) 27 Vgl. z. B. Fulda, Eindrücke, S. 38ff, 47 u. 73; Lamprecht, Americana, S. 35f; Vay ν. Vaya, Nach Amerika, S. 306f; Hesse-Wartegg, Chicago, S. 18 u. 58f sowie v. John, Plaudereien, S. 36f und Lindau, Altes und Neues, Bd. 2, S. 374(ff), der 1893 skeptisch schrieb: „An Chicago kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon machen, wie die Zukunftsweltstädte bei der wachsenden Zunahme der städtischen Bevölkerung und der stetigen Abnahme der ländlichen etwa aussehen werden. Eisen und Stein, ein Riesenkasten neben dem andern! Nur noch Größe und Massenhaftigkeit, zweckmäßigste Raumeinteilung und Einschachtelung des lebendigen Inhalts, und zugleich Verschwinden aller Lieblichkeit und allen Frohsinns!"

Wohnen in Amerika: Jedem das eigene Heim?

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G e g e n s a t z zur D o m i n a n z v o n M i e t w o h n u n g e n in E u r o p a . S o umriß d e r S c h r i f t s t e l l e r L u d w i g F u l d a k u r z n a c h d e r J a h r h u n d e r t w e n d e e t w a s übertrieben, a b e r d e n n o c h a u f s c h l u ß r e i c h d i e S i t u a t i o n in d e n U S A f o l g e n d e r m a ß e n : .Jedermann, vom Millionär bis zum Arbeiter, hat sein Haus für sich; denn Kaufpreis oder Miete sind viel billiger als bei uns. Natürlich variieren sie beträchtlich nach der Lage: Aber für eine Summe, für die man bei uns kaum eine bescheidene Mietwohnung im dritten Stock bekommt, kann man dort bereits unter seinem eigenen Dache leben. Diese zahllosen Einzelhäuser sind überdies nicht, wie in Newyork (sie) aneinandergeklebt, sondern sie stehen nach allen Seiten frei und werden in der Regel noch durch einen geräumigen Rasenplatz, seltener durch einen eingezäunten Garten, von der Straße getrennt. Zäune zur Abgrenzung von Grundstücken, die anspruchvollsten Besitzungen inbegriffen, bilden überall eine Ausnahme. So wohnt hier durchschnittlich eine einzige Familie auf einem Raum, auf dem in unseren Mietskasernenstraßen mindestens zehn Familien wohnen." D o c h nicht nur d a s e i g e n e H a u s , a u c h d e r e r s t a u n l i c h h o h e W o h n k o m f o r t s e l b s t in ( F a c h - ) A r b e i t e r - o d e r H a n d w e r k e r h a u s h a l t e n fiel d e n d e u t s c h e n B e s u c h e r n i m m e r w i e d e r a u f : „Das Einfamilienhaus ferner, das man nicht als Luxus der Reichen allein, nein auch schon hin und wieder im Besitz des kleinen Mannes findet, ist vielleicht berufen, die großstädtische Mietskaserne zu reformieren. Die höheren Anforderungen, die hier selbst von den niederen Klassen an Lebensgenuß und Komfort gestellt werden, haben das Wohnhaus von innen nach außen günstig umgestaltet und vervollkommnet. Die Stuben sind geräumig und gut mit Luft und Licht versorgt, Küche, Keller, Klosett mit allen Hilfsmitteln einer hochentwickelten Technik versehen. Die praktische Inneneinteilung kommt in der sinnvollen Gliederung dieser Bauten auch äußerlich zum Ausdruck."

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Z u d e m s c h i e n d i e s e r relativ g e s e h e n e r s t a u n l i c h e L u x u s d e s W o h n e n s in d e n U S A m i t d e r a l l g e m e i n w a c h s e n d e n P r o s p e r i t ä t i m m e r stärker z u z u n e h m e n , z u m a l s i c h d i e H a n d e l s b e z i e h u n g e n z w i s c h e n E u r o p a und den U S A a u c h i m H i n b l i c k a u f L u x u s g ü t e r m e h r u n d m e h r i n t e n s i v i e r t e n , w a s s i c h b a l d in den I n n e n e i n r i c h t u n g e n v o r a l l e m d e r u p p e r u n d m i d d l e c l a s s e s n i e d e r s c h l u g . D a b e i d o m i n i e r t e n a u c h in d e r a m e r i k a n i s c h e n D e k o r a t i o n s p r o d u k t i o n f ü r d i e A u ß e n f a s s a d e n w i e f ü r d i e Inneneinrichtungen v o r a l l e m in d e n G r o ß s t ä d t e n n o c h vielf a c h e u r o p ä i s c h e Stilvorbilder, d o c h w a r e n s c h o n deutlich g e n u i n a m e r i k a n i s c h e E n t w i c k l u n gen wahrnehmbar, etwa die spezifische A u s p r ä g u n g des „ C o t t a g e " mit Veranda oder der „ P a r l o r " , d i e e s in d i e s e r F o r m in E u r o p a nicht g a b . S o b e m e r k t e ein J o u r n a l i s t bereits 1 8 9 4 : „Der Einfluß, den aber der europäische Kunstgeschmack immer geltender zu machen wußte, blieb nicht ohne praktische Folgen. Der in jedem Jahre reger werdende Verkehr zwischen der alten und der neuen Welt trat

28 Fulda, Eindrücke, S. 56. Vgl. auch Bahr, Reise-Bilder, S. 82 und im Hinblick auf die Arbeiter an der Westküste Kummer, Weltreise, S. 192f sowie für die 90er Jahre Diercks, Kulturbilder, S. 326, wo es dementsprechend hieß: „Das Streben jedes verheirateten Mannes ist es, sein eigenes Heim zu haben, und zahllose verschiedenartige Gesellschaften kommen in allen Teilen der Union diesem Wunsche entgegen, so daß es in der That jedem, der nur seine regelmäßigen Einnahmen hat, leicht gemacht ist, sich ein eigenes Haus unter den bequemsten Bedingungen zu bauen, zu kaufen oder zu mieten. Die einigermaßen gut bezahlten Arbeiter und vollends die selbständigen Handwerker wohnen durchweg in ihren eigenen Einfamilienhäusern ( . . . ) . " 29 Polenz, Land, S. 291f. Vgl. auch Rambeau, Amerika, S. 83f und Diercks, Kulturbilder, S. 326f u. 332f sowie Kolb, Arbeiter, S. 57ff und im Hinblick auf die besondere technische Ausstattung der Haushalte auch Below, Bilder, S. 75f.

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hinzu und Alle, welche Europa besucht und in seinen Kunstgalerien und seinen kunstgewerblichen Ausstellungen einen, wenn auch nur flüchtigen, Eindruck empfangen hatten, brachten reformatorische Ideen heim. Und wenn man heute in den ,Parlor' eines guten Bürgerhauses tritt, so wird man angenehm überrascht werden durch die großartige, vorteilhafte Veränderung, die im Laufe der Zeit damit vorgegangen ist. Er ist weit gefüllter, prunkhafter geworden, eine größere Anzahl Möbel stehen herum, die Wände sind mit mehr Bildern in schweren Goldrahmen bedeckt, ein Ciavier fehlt nie, und Vorhänge, meistens Doppelvorhänge, dämpfen das Licht, das aus den großen Fenstern in das farbenhelle Zimmer fällt."

So sehr also Komfort, Luxus und Geschmack des Wohnens in den USA auffielen und dieser Eindruck nur gelegentlich durch den schon mehrfach benannten Vorwurf einer gewissen Uniformität und Monotonie getrübt wurde,31 so massiv fällt andererseits ins Gewicht, wie wenig das Wohnungselend der Unterschichten in den amerikanischen Großstädten von den deutschen Reisenden registriert wurde; ja man kann sagen, daß dieser Bereich charakteristischerweise fast vollständig ausgeklammert blieb, auch wenn auf die scharfen Kontraste zwischen „Un-" bzw. „Überkultur" hingewiesen wurde, man sich dabei aber weniger auf soziale als auf urbane Verhältnisse bezog. Die Beobachtungen des deutschen Bürgertums zur Stadt richteten insofern einmal mehr ihr Augenmerk fast nur auf die vergleichbaren Schichten der upper und middle class bis hin zur dem deutschen Kleinbürgertum in etwa vergleichbaren lower middle class. Typisch für diesen offenkundig genuin bürgerlichen Blick einer Verdrängung des Unterschichten-Wohnelends war ζ. B. eine Äußerung des Arztes Ernst Below 1894: „Niemand wird in menschenunwürdiger Weise beiseite gestoßen, wie es in unseren Großstädten im vierten Stock des zweiten Hinterhofs noch der Fall ist. Selbst der weniger bemittelte, der in den größeren Mietshäusern, mit Hof und Gartenanlage in der Mitte, einen oder einen halben Flur für den Preis von vierzehn bis sechzehn Dollars monatlich bewohnt, fühlt an nichts, daß er ein Mensch zweiter oder dritter Klasse ist. Das wird sorgsam vermieden. Das Wohnungselend der deutschen Großstädte giebt (sie) es hier nicht."

Das klang human und spiegelte zugleich den schon mehrfach festgestellten Gleichheitsmythos Amerikas, war jedoch lediglich ein Reflex der geringen Wahrnehmung sozialen Elends durch das reisende Bürgertum. Den Wurzeln dieser „Verdrängung", die trotz aller Kritik am Mangel von„Licht und Luft" in den amerikanischen Großstädten nicht nur das Wohnen, sondern

30 Grzybowski, Land und Leute, S. 152f. Vgl. zu den Unterschieden zwischen deutschem und amerikanischem Wohnen auch ebda., S. 137ff und Scherff, Nord-Amerika, S. 7 l f sowie zu europäischen Stilvorbildern bzw. -importen auch Rambeau, Amerika, S. 85 und Polenz, Land, S. 291 u. 294f und zu einer genuin amerikanischen Bauweise Lamprecht, Americana, S. 35f. 31 Vgl. ζ. B. Wolzogen, Dichter, S. 124f: „Es ist merkwürdig, daß derselbe Amerikaner, den das wüste Durcheinander in der Außenseite seiner Städte so wenig zu genieren scheint, doch fast durchweg einen so guten Geschmack in seiner Kleidung und Wohnungseinrichtung zeigt. ( . . . ) So nett und gemütlich nun auch eine solche amerikanische Durchschnittswohnung anmutet, so wird sie doch uns deutschen Erzindividualisten recht bald langweilig, weil sie eben überall dieselbe ist." 32 Below, Bilder, S. 77. Wie stark das Wohnungselend ausgeblendet wurde, zeigt auch der Bericht von Alfred Kolb, der um die Jahrhundertwende sogar ein Jahr als Arbeiter die Unterschichten Chicagos genau kennengelernt hatte und trotzdem vermerkte: „Es steht außer Frage, der Arbeiter wohnt in Chicago erheblich gesunder und billiger als beispielsweise in Berlin. Ein großer Vorteil liegt schon darin, daß die Mietskaserne fehlt. ( . . . ) Wohnhäuser dagegen, auch die der Arbeiter, sind durchgehende nur auf eine oder zwei Familien berechnet." (Kolb, Arbeiter, S. 57).

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generell die Existenz von Slumsiedlungen innerhalb der Städte betraf wie auch die Existenz sozialreformerischer Gegenmaßnahmen bzw. -projekte, wird zusammen mit der Frage nach dem Realitätsgehalt der gemachten Beobachtungen im folgenden näher nachzugehen sein.

3. Zwischen Stadtkritik und Fortschrittseuphorie Die amerikanische Großstadt als europäische Kontrasterfahrung Die Sicht der Wilhelminer verweist auf eine erstaunliche Kontinuität im 19. Jahrhundert, denn schon in der ersten Jahrhunderthälfte löste die Großstadt New York bei der Mehrzahl der deutschen Reisenden diesen Zwiespalt der Gefühle zwischen Faszination angesichts der ungeheuren Dimensionen und des steingewordenen Fortschritts einerseits und einer Großstadtkritik andererseits aus, die sich vor allem auf den Untergang des einzelnen in der „Masse" und auf das Ende traditioneller Lebensformen bezog. 33 Ebenso propagierte nur eine Minderheit das „aufklärerische" Modell rationalistisch angelegter Stadtgrundrisse, wie es in Amerika verwirklicht erschien; die Mehrzahl vermißte dagegen wie auch um 1900 die organisch gewachsene bzw. „romantische" Struktur europäischer Städte und kritisierte zugleich die Hektik und Schnellebigkeit in den amerikanischen Großstädten, was sich in den Rahmen einer allgemein besonders in Deutschland beobachtbaren Großstadtkritik als Kritik an der Moderne einschrieb. 34 Die Kontinuität dieser Urteilsmuster ist auffallend; es vermag daher auch nicht zu überzeugen, wenn man als Grund für diese Wahrnehmungsmuster die fehlende Urbanisierung in Deutschland und daher einen „Schock" deutscher Reisender angesichts amerikanischer Dimensionen annimmt, der um 1900 durch Gewöhnung und Akzeptanz ersetzt worden sei und zu „adäquaten" Darstellungsformen geführt habe. 35 Wie wir gesehen haben, blieb die Ambivalenz zwischen Schrecken und Faszination trotz der auch in Deutschland besonders nach 1890 rapide sich beschleunigenden Urbanisierung bestehen, und auch die für die ersten zwei Drittel des Jahrhunderts konstatierten,.Fluchtbewegungen" in Statistiken, Reiseführer, vertraute Analogien und „Vogelperspektiven" auf der Suche nach Orientierung bei gleichzeitigem Anspruch objektiver Wirklichkeitswiedergabe bildeten typische Verhaltens- und Perspektivemuster bis zum Ersten Weltkrieg. Es spricht außerdem einiges dafür, daß auch nach dem Ersten Weltkrieg amerikanische Großstädte für deutsche Besucher keineswegs vertrauter, sondern weiterhin vor allem in scharfer Distanz zu deutschen Verhältnissen erlebt und beurteilt wurden. Bis auf die Avantgarde deutscher Architekten, die den an amerikanischen Vorbildern orientierten „International Style" auch in Deutschland zu realisieren versuchte, dominierte bei den meisten Nachkriegsbesuchern weiterhin das Gefühl fehlender organischer Stadtstrukturen im europäischen Sinn, die Individualität zu gewähren vermochten; daher erschienen die amerikanischen Städte zumeist als Brennpunkte der oben schon skizzierten „Massenkultur", die von vielen (kulturkonservativen) Autoren der 20er und 30er Jahre so heftig abgelehnt

33 Vgl. Brenner, Reisen, S. 272-279. 34 Vgl. ebda., S. 280-297. 35 Vgl. ebda., S. 285-292.

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wurde.36 Allerdings findet sich diese Ablehnung keinesfalls nur in Deutschland, sie bildet vielmehr ein allgemein europäisches Muster, das sich beispielsweise bei konservativen britischen wie französischen Autoren gleichermaßen spiegelt und eine ähnliche Kontinuität zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aufweist. 37 Erneut wird deutlich, daß der Erste Weltkrieg auch in diesem Bereich der Debatte kaum neue Positionen brachte, sondern lediglich die bestehenden Muster verschärfte und stärker (politisch) polarisierte.38 So finden sich vor dem Erste Weltkrieg in französischen Berichten im Vergleich zu den deutschen Erfahrungen erstaunlich ähnliche Beobachtungen: Auch die französischen Beobachter waren zwischen Faszination und Schrecken hin- und hergerissen, angezogen von der Neuartigkeit amerikanischer Großstadtarchitektur und der technischen Standards im Hinblick auf Verkehr, Elektrifizierung und Wohnen auf der einen Seite und abgestoßen andererseits von der „utilitaristischen" Monotonie der Straßenraster im Kontrast zur großstädtischen Hektik und zur ungeregelten „chaotischen" Stadtentwicklung besonders in den Städten des (mittleren) Westens, die allein Marktgesetzen folgte und damit ästhetische Gesichtspunkte beim Einzelbau wie in der Gesamtanlage vernachlässigte.39 Auch für die Franzosen war daher die amerikanische Großstadt in erster Linie eine Erfahrung der Distanz, der Fremde und des Kontrasts zu Europa. So notierte beispielsweise der Anglist André Chevrillon 1910 über seine Erfahrungen in New York: „Überall das Tempo, die Hektik, die Konfusion in einem Tumult von Gebrüll und Pfiffen unter gigantischen, formlosen Silhouetten auf einem vor Dreck starrenden Quai, eingekeilt zwischen Lastwagen.(...) Oh, wie bricht dann die Erinnerung und Sehnsucht nach den Großstädten Europas hervor, nach ihren klassisch geordneten Perspektiven, ihren angemessenen Proportionen, ihren ernsten Silhouetten." 4 0

36 Vgl. allg. Buchwald, Kulturbild, S. 123-127 und Czaplicka, Amerikabilder, S. 49-57 sowie Haupenthal, Amerika, S. 144f. 37 Vgl. Grewe, Amerikabild, S. 113-138, Fournier-Galloux, Voyaguers, S. 220ff u. 236ff sowie Rapson, Britons, S. 34—40. 38 Vgl. ζ. Β. für die eher positive Sicht der amerikanischen Großstadt bei „progressiven" französischen Autoren der Zwischenkriegszeit Grewe, Amerikabild, S. 361-386. 39 Vgl. Portes, Une fascination, S. 60-77. 4 0 André Chevrillon: Nouvelles études anglaises. Paris 1910, S. 136. Vgl. auch ebda., S. 137-141 und Vicomte d'Avenel, Aux Etats-Unis, S. 220ff. Vgl. ferner u. a. den Aufsatz von Paul Vidal de la Blache: A travers l'Amérique du Nord. In: La Revue de Paris 2, 1905, S. 513-531, der die Grundzüge der französischen Stadtwahrnehmung in den USA vor dem Ersten Weltkrieg exemplarisch wiedergibt und dessen Resümee zwischen Konfrontation und Bewunderung für die auf die Zukunft ausgerichtete Vitalität der amerikanischen Entwicklung typisch war: „Der klassisch Gebildete, der in jedem von uns steckt, sieht zu oft nur die Qualitäten der Harmonie, des Masses, des Abgeschlossenen und Erreichten, an die er durch seine optische Bildung gewöhnt ist und die hier auf eine fast unbewußte Art mit Füßen getreten werden. Der Europäer fühlt sich in der Konfrontation mit dem amerikanischen Wesen, das sich in der Mehrzahl der Urteile und Meinungen über seine Umgebung kühn und in einem völligen Mangel an Objektivität manifestiert, keineswegs wohl. (...). Andererseits werden Historiker und Soziologen hier (in den USA, A. S.) die Gelegenheit zu einem weitaus selteneren Vergnügen finden, nämlich am Aufbau der Zukunft teilnehmen zu können. Eine Lebenskraft, die die alten Rahmen hinwegfegt, die allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Phänomenen unerwartete und beispiellose Formen aufprägt, ein ungeheures Aufblühen von allerlei Keimen: das ist der unauslöschliche Gesamteindruck." (S. 531).

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D i e s war ein Eindruck, der auch Anfang der 90er Jahre schon die französische Wahrnehmung bestimmt hatte, deutlich etwa an der Bemerkung des Diplomaten Georges Sauvin: „Am Tag wie am Abend bin ich allein durch diese endlosen Avenuen und zahllosen Straßen New Yorks geirrt auf der Suche danach, mir die Gestalt der Zukunftsbauten ganz zu vergegenwärtigen. Hier darf man wie in ganz Amerika nicht nach der alten Stadt mit ihrer besonderen Gestalt, Seele und Erscheinung suchen, nach jener Stadt unseres Südens zum Beispiel, wo jedes Haus und jeder Stein durch die Geschichte geformt, unter der Sonne gealtert oder durch die Zeit ganz zerstört worden ist. Hier ist alles gerade, uniform, riesig, quadratisch, hochgezogen und vollkommen simpel." 41 U n d ganz ähnlich klingen Äußerungen ζ. B. des englischen (sozialistischen) Schriftstellers H. G. Wells über N e w York im Vergleich zu europäischen Städten: „Was ich bisher in New York gesehen habe, hat den Eindruck aufs höchste gesteigert, daß der Fortschritt in diesem Lande, ich meine den materiellen, etwas Unvermeidliches, Unmenschliches, eine wilde, blindwaltende Energie des unaufhaltsamem Wachstums darstellt. (...) Sie (die Wolkenkratzer, A. S.) machen den Eindruck von etwas riesenhaft Unvollendetem; jeder dieser Kolosse scheint auf irgendeinen nötigen Abschluß zu warten und, wenn man die wolligen Rauchschwaden betrachtet, die er ausstößt, gewissermaßen noch im Stadium der Eruption zu stehen. Man denkt unwillkürlich an die mächtige blauende Peterskuppel in ihrer vollendeten Herrlichkeit (...); an die dunkle Anmut der Paulskathedrale (...): Hier haben wir Kraftleistungen vor uns, die ihren Zweck erfüllt haben; selbst das lichtstrahlende Paris zu Füßen des jäh aufschießenden Schafts des Eiffelturms macht noch den Eindruck von Abgeschlossenheit und klarer Abgrenzung. Was aber New York geleistet hat, sieht aus wie ein drohendes Versprechen, wie ein Wachstum, das unter stetig zunehmendem Druck und in der Gier eines tumultuarischen Gestaltungsdrangs seinen Fortgang nimmt." 42 A u c h hier finden sich also die charakteristischen Merkmale der deutschen Wahrnehmung wieder, so die ungeheure und chaotische Dynamik des Wachstums, die nur mit Kirchen oder Türmen in Europa vergleichbaren Dimensionen, die Hektik und Beschleunigung des Lebenstempos, die traditionsvernichtende Kraft der Großstadt, wobei dies k e i n e s w e g s eine Einzelmeinung war - Indiz dafür, daß selbst die Briten trotz ihrer in Europa noch am ehesten mit amerikanischen Dimensionen vergleichbaren Hauptstadt London und ihrer in Europa am frühesten einsetzenden Urbanisierung die amerikanischen Großstädte als scharfen Kontrast zu Europa wahrnahmen, gerade weil diese auch aus britischer Sicht „Amerika" verkörperten. 4 3 Vergleicht man nun die Sichtweisen der Deutschen, Franzosen und Briten, so ergeben sich zentrale Übereinstimmungen, so daß erneut von einer Art europäischem Wahrnehmungsmuster gesprochen werden kann, wobei die Unterschiede nach dem Stand der Forschung

41 Sauvin, Autour de Chicago, S. 2f. Vgl. dazu auch André Siegfried: Deux mois en Amérique du Nord à la veille de la guerre (juin-juillet 1914). Paris 1916, S. 3, wo es bezeichnenderweise über New York in der Metahporik ganz ähnlich wie bei Holitscher u. a. hieß: „So vermittelt zum Beispiel nur das Ensemble den Eindruck von Schöhnheit, während die Detalils geradezu scheußlich sind. All diese quadratischen Gebäude ohne Dächer erinnern an einen Haufen riesiger Gemüsekisten, die man nebeneinander aufgeschichtet hat." 42 Wells, Zukunft, S. 33. Vgl. auch ebda., S. 34-57. 43 Vgl. auch Rapson, Britons, S. 28-40. Wie stark dazu auch die Erfahrung der inneramerikanischen bzw. innerstädtischen Kontraste hinzutrat, macht der Reisebericht von J. F. Muirhead - immerhin dem Verfasser des „Baedeker" - mit dem bezeichnenden Titel „The Land of Contrasts" (1900) deutlich.

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offensichtlich vor allem darin lagen, daß die Debatte in den deutschen Berichten noch etwas intensiver geführt und vor allem Fragen der Stadtplanung und der städtischen Daseinsvorsorge stärker diskutiert wurden als bei den französischen und britischen Autoren.

4. Stadtdiskurs und Stadtentwicklung Die Hintergründe der deutschen bzw. europäischen Wahrnehmungen Sucht man nach Gründen und Kontexten dieses im Kern europäischen Musters der Wahrnehmung amerikanischer Städte, so bieten sich in erster Linie zwei Faktoren zur Erklärung an, nämlich erstens die generelle Debatte über die Entwicklung der Großstädte unter Intellektuellen im 19. Jahrhundert und zweitens die realen Entwicklungen der Großstädte in den USA und Deutschland bzw. Europa und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Amerikanische Selbstbilder und Mythen, die sich in den anderen Gesellschaftsbereichen als immer wieder einflußreich auch für die deutsche oder insgesamt europäische Wahrnehmung erwiesen haben, spielten in diesem Bereich allerdings nur eine untergeordnete Rolle, vor allem weil hier der Eindruck weitaus unvermittelter und direkter möglich war als etwa bei den Familien- oder Bildungsstrukturen. Beginnen wir mit der Debatte über die Großstadt im 19. Jahrhundert, wie sie von Architekten, Stadtplanern, Politikern, Ärzten, Technikern, Verwaltungsbeamten, Historikern, Schriftstellern und anderen Bürgern bzw. Intellektuellen in den USA und Europa bereits seit den 1820er Jahren im Kontext der Industrialisierung zunächst vor allem in Großbritannien geführt wurde. Andrew Lees hat diese Debatte eingehend untersucht und festgestellt, daß sich die Meinungen hier schon frühzeitig stark zwischen heftiger Stadtkritik im Hinblick auf kollektive Dekadenz einerseits und emphatischer Feier der Stadt als Raum von Fortschritt und Modernität andererseits polarisierten. 44 Insgesamt zeigt sich dabei interessanterweise, daß die Argumentationslinien in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und den USA grundsätzlich ähnlich verliefen und vor allem professionellen bzw. politischen und weniger rein nationalen Prägungen folgten, sieht man von einigen Akzentverschiebungen ab. Dabei hatte sich die Stadtkritik zunächst in und an Großbritannien als dem am frühesten industrialisierten und urbanisierten Land Europas entzündet; sie nahm vor allem die Slumbildung und Pauperisierung in den englischen Industriestädten aufs Korn, wobei Mediziner, Geistliche, Schriftsteller und Journalisten die desolaten hygienischen und „moralischen" Zustände in den Armenvierteln massiv und anschaulich kritisierten, konterkariert von liberalen Politikern und Unternehmern, die im Rahmen eines ökonomisch-technischen Fortschrittsdenkens die Städte als Zentren des Fortschritts sahen und an die Lösbarkeit der Probleme durch wachsenden Wohlstand glaubten. 45 Ähnlich verliefen die Argumentationsmuster und deren Träger in der ersten Jahrhunderthälfte auch in den zu diesem Zeitpunkt noch weitaus weniger urbanisierten Ländern Deutschland und USA, wobei gerade in Deutschland bei den

44 Vgl. A. Lees: Cities Perceived: Urban Society in European and American Thought, 1820-1940. Manchester 1985 sowie J.-L. Pinol: Le monde des villes au XIXe siècle. Paris 1991, S. 45-72. 45 Vgl. Lees, Cities Percieved, S. 16-68.

Stadtdiskurs und Stadtentwicklung

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Liberalen ein historisierender Stolz auf die große spätmittelalterliche Vergangenheit der deutschen Städte und des städtischen Bürgertums sich mit (kultur-)konservativer Kritik (etwa eines Wilhelm Heinrich Riehl) am „Sittenverfall" und einem gefährlichen Revolutionsgeist in den modernen Städten im Gegensatz zur vermeintlich „gesunden" und harmonischen Welt der ländlichen Dorfgemeinschaft mischte. 46 Für die zweite Jahrhunderthälfte und für die Zeit um 1900 ist mit den sich nun zunehmend verschärfenden Urbanisierungsprozessen auch eine Intensivierung der Debatte im Rahmen der vorgegebenen Positionen feststellbar, wobei besonders in Deutschland die Kritik an der Großstadt zumeist in Verbindung mit allgemeineren kulturpessimistischen und biologistischen Gesellschafts- und Modernekonzepten stand. Geschichtsphilosophen wie Julius Langbehn oder Oswald Spengler ζ. B. brachten die Herausbildung der modernen Großstadt in direkten Zusammenhang mit kollektiver „biologischer" Dekadenz - sichtbar etwa anhand von steigender Kriminalität, zunehmender Verwahrlosung der Jugend und damit geringerer Wehrtauglichkeit sowie allgemeinem Sittenverfall, 47 wogegen diese Elemente in der amerikanischen (oder auch französischen) Debatte eine eher untergeordnete Rolle spielten und hier eher die (bürgerliche) Angst vor den Städten als Zentren zukünftiger sozialer und politischer Revolutionen dominierte. Zugleich muß betont werden, daß nun auch die sozialwissenschaftliche Erforschung der sozialen Frage in den Städten besonders in den USA und Deutschland als den sich nun besonders rapide industrialisierenden Ländern stark vorangetrieben und ausgebaut wurde. 48 Daher wäre es verkürzend, nur die negativen Stadtperspektiven bei deutschen Intellektuellen hervorzuheben, so wichtig und prägend diese auch waren; denn gerade Sozialwissenschaftler etwa im Bereich des „Vereins für Socialpolitik" oder Stadtplaner und Verwaltungsbeamte entwickelten eine Reihe von theoretischen wie praktischen Ansätzen zur Lösung der mit der rapiden Urbanisierung einhergehenden sozialen Probleme wie auch zur technischen und kulturell-ästhetischen Weiterentwicklung der modernen Städte; in diesem Umfeld wurde die Stadt (nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in den USA) keineswegs als Zerstörerin von Volk und Nation, sondern gerade als Brennpunkt der Entfaltung progressiver Kräfte gegen traditionalistische Erstarrung gewertet. 49 Diese generelle Ambivalenz der Haltungen und Bewertungen gegenüber dem Phänomen der Großstadt(-bildung) und der rapiden Verstädterung verweist damit auch auf die oben skizzierten Sichtweisen speziell der amerikanischen Städte und fügt diese so in ein im Kern europäisches intellektuelles Wahrnehmungsmuster ein, wobei die deutsche Besonderheit darin lag, daß zumindest im konservativen Spektrum eher „biologistische" als poli-

46 Vgl. ebda., S. 82-104. 47 Vgl. zum breiten Spektrum bürgerlicher Stadtkritik in Deutschland, das von einem agrarisch geprägten Anti-Urbanismus über Lebensreformbewegungen bis zur Heimatkunstbewegung reichte: Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 139-143 und zu Langbehns „völkischem Irrationalismus" F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. München 1986, S. 129-220 und besonders zur Debatte um den „Amerikanismus" S. 163f. 48 Vgl. Lees, Cities Perceived, S. 117-189 bzw. Ders.: Debates About the Big City in Germany, 1890-1914. In: Societas 5, 1975, S. 31-47. 49 Vgl. Lees, Debates, S. 39-47 und Ders., Cities Perceived, S. 190-257 sowie Pinol, Le monde des villes, S. 6 3 - 6 6 und Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 143-146.

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tisch-gesellschaftliche Interpretationsmuster (wie in Westeuropa bzw. den USA) dominierten, was u. a. das auffällige Fehlen von Beobachtungen und Bemerkungen zum sozialen Elend in amerikanischen Städten erklärt. Allerdings darf dies nicht überbewertet werden: auch bei westeuropäischen (und amerikanischen) Autoren fanden sich Vorwürfe der kollektiven „Degeneration" durch die Herausbildung des dominierenden Typus des Städters in der modernen Welt, und ebenso wurden Beobachtungen zum sozialen Elend auch in britischen oder französischen Berichten über die USA nur am Rande gemacht. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Sichtweisen durch die städtebaulichen Entwicklungen in den USA und Deutschland bzw. Westeuropa direkt beeinflußt und geprägt wurden. War der Blick auf die amerikanischen Städte, die die Entwicklung der modernen Welt exemplarisch vor Augen führten, realistisch oder nur eine Karikatur? Wurden Entwicklungen dämonisiert oder trafen sie die Problematik der Zeit? Und wie stand es um den Vergleich? Wurden auch die Entwicklungen in Deutschland bzw. Europa wirklich registriert und reflektiert? Hält man sich die amerikanische Stadtentwicklung und Urbanisierung als Übergang von der ländlichen zur städtischen Bevölkerungskonzentration und als Ausbreitung städtischer Lebensformen vor Augen, so ist erstaunlich, wie relativ realistisch das Bild der Wilhelminer und allgemein der Europäer trotz aller Voreingenommenheiten ausfiel. Dabei fällt zunächst die Rasanz des Stadtwachstums in den USA auf. Hatte es dort im Jahre 1880 nur zwanzig Städte mit über 100 000 Einwohnern gegeben, so wuchs diese Zahl vor allem durch Einwanderung auf fünfzig Städte im Jahre 1910 an; deren Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung stieg dabei von rund 12 % auf rund 22 % bzw. von ca. 40 auf fast 50 Prozent des Anteils an der städtischen Bevölkerung. Besonders rasant war das Wachstum in den vor allem von den Reisenden besuchten Metropolen wie New York oder Chicago. So wuchs New York von ca. 800 000 Einwohnern 1860 auf fast 5 Millionen 1910 und Chicago noch schneller von rund 100 000 auf rund 2 Millionen, wobei ähnliche Zuwachsraten (zwischen drei und sechs Prozent pro Jahr!) auch für viele kleinere amerikanische Städte galten. 50 Parallel dazu nahm die Suburbanisierung und funktionelle bzw. soziale Segregation in den amerikanischen Großstädten rapide zu und setzte insgesamt früher ein als in den vergleichbaren deutschen oder europäischen Städten, was - wie gezeigt - allerdings nur einigen wenigen Spezialisten unter den Amerika-Autoren bewußt wurde. 51 Eine ähnlich rapide Urbanisierung aufgrund von Bevölkerungsexplosion, Eingemeindungen und besonders der oben schon erwähnten Massenwanderungen vom Land in die Stadt machte allerdings auch Deutschland nach 1870 durch, so daß am Ende des Kaiserreichs fast die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebte. 52 Auch wenn die Entwicklung im Hinblick auf

50 Vgl. zu den Angaben Pinol, Le monde des villes, S. 42f bzw. 31-34 bzw. generell H. P. Chudacoff: The Evolution of American Urban Society. Englewood Cliffs 1975, S. 90-124. 51 Zum Komplex der Suburbanisierung und ihrer Entwicklung in den USA vgl. Cashman, America, S. 112-119 bzw. die umfassende Analyse von K. T. Jackson: Crabgrass Frontier. The Suburbanization of the United States. New York, Oxford 1985, passim, bes. S. 87-156. 52 Vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 68-86, wobei in Deutschland statistisch alle Gemeinden mit über 2000 Einwohnern als „Stadt" klassifiziert wurden; dies galt nicht in allen Fällen auch für andere Länder, so daß ein präziser internationaler Vergleich der Verstädterungsraten vielfach problematisch bleibt.

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die Entstehung von Millionenstädten nicht die amerikanischen Ausmaße annahm, so beeindrucken doch die Dimensionen: So nahmen in Deutschland vor allem die Städte mit über 100 000 Einwohnern zu, indem die Zahl von acht im Jahre 1871 auf achtundvierzig 1910 anstieg, mithin pro Jahr eine neue Großstadt hinzukam und jeder fünfte Deutsche bereits dort lebte.53 Dies war vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie dem sich weitaus langsamer urbanisierenden Frankreich oder mit Großbritannien, das den Hauptschub der Urbanisierung am Ende des Jahrhunderts schon hinter sich hatte, enorm hoch und ließ mit der rapiden Entwicklung etwa Berlins zur Millionenstadt oder des Ruhrgebiets zu einem hochgradig verdichteten städtischen Großraum eher an „amerikanische Verhältnisse" denken, wobei die Parallelen in der Entwicklung der Großstädte und deren Bevölkerungsanteile besonders signifikant sind.54 Insofern folgte Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg dem spezifisch westeuropäischen Muster eines im Vergleich zu den USA deutlich gebremsteren Stadtwachstums mit einer insgesamt auch stärkeren Bedeutung der kleineren bzw. mittelgroßen Städte zwischen 20 000 und 100 000 Einwohnern - einem Muster, das sich in erster Linie darauf zurückführen läßt, daß Europa eben kein Einwanderungskontinent war, sondern im Gegenteil gewaltige Bevölkerungsmassen gerade nach Amerika „exportierte"; zudem befand sich die Verstädterung im industrialisierten Teil Europas am Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt bereits in einem weiter fortgeschrittenen Stadium, und nur die nachholenden Peripherieländer wiesen dann im 20. Jahrhundert ähnliche Wachstumsraten wie die USA auf. 55 Die Wilhelminer kamen, was den Urbanisierungsprozeß insgesamt angeht, insofern in Amerika sozusagen vom Regen in die Traufe, und es erstaunt zunächst, wie wenig ihnen die Gemeinsamkeiten der Entwicklung in beiden Ländern bzw. Kontinenten auffielen. Doch die Erfahrung der Distanz und Fremdheit der amerikanischen Stadtentwicklung läßt sich auf eine Reihe von Faktoren zurückführen, die stärker und anschaulicher wirkten als die relativ abstrakte Entwicklung der Makrostrukturen. Dazu gehörten besonders die architektonischen und technischen Innovationen in den USA, die mit der Erfindung des Aufzugs und der Stahlskelettbauweise ab Mitte der 80er Jahre zum vermeintlich grenzenlosen Höhenwachstum der entsprechend bezeichneten „Wolkenkratzer" in Chicago und New York führten; so war beispielsweise in Chicago bis 1893 bereits eine Vielzahl von Geschäfts- und Bürobauten in der Innenstadt mit zwölf bis sechzehn Stockwerken entstanden, die sich nach der Aufhebung einer ersten Begrenzungsverordnung nach 1902 bis zu 80 Metern in die Höhe reckten, so daß vor dem Ersten Weltkrieg das Woolworth-Building in New York 1913 schließlich einen Rekord von 60 Stockwerken erreichte.56 In Europa blieben dagegen durch entspre-

53 Vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 68ff. 54 Vgl. Pinol, Le monde des villes, S. 42f bzw. zur entsprechenden zeitgenössischen Wahrnehmung beispielsweise von Berlin als „amerikanischer Stadt" A. Schmidt: Berlin um 1900: Gesellschaft und Mentalitäten im Spiegel französischer Reiseberichte (1871-1914). Erscheint voraussichtlich 1997 in einem Tagungs-Band zum Städtevergleich Berlin-Paris, herausgegeben von I. Mieck, S. 5ff. 55 Vgl. Kaelble, Weg, S. 60ff. 56 Der Begriff „Skyscraper" bzw. „Wolkenkratzer" kam 1889 auf. Vgl. M. Girouard: Die Stadt. Menschen, Häuser, Plätze. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt/M., New York 1987, S. 320-324 sowie Raeithel, Kulturgeschichte, Bd. 2, S. 191-200.

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chende kommunale Bauordnungen selbst in den Hauptstädten die Obergrenzen für Wohnund Geschäftsbauten bei zwanzig bis dreißig Metern verbindlich, was bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galt 57 und vor allem darauf abzielte, eine optische Konkurrenz für die staatlichen und kirchlichen Repräsentationsbauten zu verhindern - ein wichtiger Grund dafür, daß den Europäern nur Analogien aus dem Kirchenbau angesichts der amerikanischen Dimensionen einfielen. Insofern verwundert es nicht, daß gerade diese aus heutiger Sicht allerdings verhältnismäßig bescheidenen Dimensionen der amerikanischen Großbauten solche Aufmerksamkeit bei den europäischen Besuchern erregten, wobei die generelle Fixierung der Beobachter auf New York und Chicago erklärt, warum diese „Sonderform", die bis zum Zweiten Weltkrieg auf diese beiden Städte weitgehend beschränkt blieb, als genereller Typus der amerikanischen Stadtbauweise empfunden und bewertet wurde. Dies lag aber sicher auch daran, daß diese aus ökonomischen Gründen im Vergleich zu anderen historisierenden und nicht selten überladenen Großstadtgebäuden bewußt nüchtern gehaltenen und als solche wahrgenommenen Bauten vor allem als Prestigeobjekte und Reklameträger entwickelt worden waren und insofern besonders viel Aufmerksamkeit auf sich lenkten; der Höhenausbau hatte also weniger mit Platzmangel zu tun, wie die meisten Europäer vermuteten, sondern mit ökonomischen Kalkül, was in den Berichten nur gelegentlich als Grund auftauchte. Die Chance zum Bau von „Wolkenkratzern" war Teil eines umfassenderen Unterschieds der Urbanisierung und Stadtentwicklung in Europa und den USA, der vor allem darauf beruhte, daß in den USA kommunale Stadtplanung bis in die 30er Jahre hinein im Gegensatz zu Europa praktisch nicht stattfand, was besonders auf die überwältigende Dominanz des Privatbesitzes und die schon oben diskutierte Schwäche bzw. Korruption der kommunalen Behörden zurückzuführen war. 58 Insofern gab es bis auf die Straßenanlage des rasterartigen „Gitterrost"-Modells, das die Europäer als so nüchtern und pragmatisch empfanden, kaum Vorgaben der Stadtentwicklung, die solchermaßen fast ausschließlich rein wirtschaftlichen Dynamiken folgte, sieht man einmal von der so positiv bewerteten Anlage großer Parksysteme ab, für die der bereits Mitte des Jahrhunderts von F. L. Olmsted angelegte New Yorker Central Park das Modell abgab. 59 Die Empfindung eines prinzipiell chaotischen Wachstums amerikanischer Städte seitens der Europäer und besonders der Wilhelminer hatte insofern seine realen Gründe, zumal gerade in Deutschland Ansätze der Stadtplanung am Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb Europas am weitesten fortgeschritten waren, was zum einen mit der oben schon skizzierten frühen Entwicklung des Interventionsstaates in Deutschland zu tun hatte, zum anderen sicher aber auch wesentlich an der langen Tradition der mit den Preußischen Reformen am Anfang des Jahrhunderts etablierten kommunalen Selbstverwaltung lag, deren Trägerschicht vor

57 Vgl. Girouard, Stadt, S. 329f. Allerdings galten bereits in der Zwischenkriegszeit bei europäischen Avantgarde-Architekten und -Planern Wolkenkratzer als die moderne Stadtutopie schlechthin, so daß es ζ. B. eine Reihe von Entwürfen für ein solchermaßen „amerikanisiertes" Berlin gab. Vgl. dazu L. O. Larson: Metropolis Architecture. In: A. Sutcliffe (Hg.): Metropolis 1890-1940. London 1984, S. 200-210. 58 Vgl. A. Sutcliffe: Towards the Planned City. Germany, Britain, the United States and France, 1780-1914. Oxford 1981, S. 88ffbzw. zur Korruption und der Herrschaft der „Bosse" Chudacoff, Evolution, S. 125-147. 59 Vgl. Sutcliffe, Planned City, S. 88ff u. 197ff.

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allem das städtische Bürgertum war und trotz wachsender Bürokratisierung und trotz des Verblassens bürgerlicher Selbstbestimmung im Kaiserreich auch blieb. 60 So wurden bereits Mitte des Jahrhunderts zunächst in Preußen durch Enteignungs- bzw. Fluchtliniengesetze und Bebauungspläne wie ζ. B. den Hobrecht-Plan für Berlin (1862) erste Maßnahmen zur kommunalen Planung von Straßen(breiten), Plätzen, öffentlichen Gebäuden, Gebäudehöhen, Verkehrswegen etc. ergriffen, die nach 1890 in der „heißen Phase" der Urbanisierung durch umfassende Planungswettbewerbe und Generalbebauungspläne bzw. Stadtausstellungen (ζ. B. in Dresden 1903) und eigene Zeitschriften wie „Der Städtebau" (ab 1904) intensiviert wurden. 61 Diese Fülle theoretischer Ansätze zielte vor allem auf eine Regelung und Kanalisierung der entstehenden sozialen Folgelasten in Form von Slumbildung und Wohnungselend in den industrialisierten Großstädten, aber auch auf die rationelle Entwicklung städtischer technischer Daseinsvorsorge und nicht zuletzt auf ästhetische Richtlinien zur Steuerung des Urbanen „Wildwuchses". Die meisten Ziele, das muß allerdings gerade im Vergleich zu den USA betont werden, blieben indes vor 1914 Utopie oder konnten nur in Ansätzen realisiert werden; es muß also einschränkend hervorgehoben werden, daß selbst in Deutschland als dem Vorreiterland und Modell kommunaler Stadtplanung, an dem sich sogar britische und amerikanische Planer orientierten, die Stadtentwicklung vor dem Ersten Weltkrieg noch weitgehend ungeregelt bzw. ungeplant verlief, 62 auch wenn Erfolge in der Städtetechnik bei der Gas- und Wasserversorgung bzw. Entwässerung 63 und vor allem die Bereitstellung eines umfassenden theoretischen Instrumentariums für die verstärkten Planungsbemühungen nach 1918 dabei nicht übersehen werden dürfen. Umgekehrt wäre es auch verkürzend, wenn man ähnliche Planungsansätze und -modelle in den USA vernachlässigen würde, so z. B. die „settlement"-Bewegung zur Bekämpfung der Großstadtslums in Chicago und New York als Teil der schon mehrfach erwähnten Reformen des „progressive movement" oder die City-Beautiful-Bewegung um Robert Park in Chicago, die sich wie etwa im Chicago-Plan von Daniel Burnham (1909) mit den Zielen einer Entzerrung und ästhetischen Harmonisierung des Zentrums durch die Anlage von Parks, breiten Boulevards und offenen Plätzen konzeptionell an britischen oder deutschen Gartenstadtkonzepten und ästhetisch an Paris orientierte und diese zumindest im Hinblick auf die schon erwähnten Parkanlagen auch teilweise in die Tat umsetzen konnte. 64 Dazu kamen rapide Fortschritte in der Entwicklung

60 Vgl. dazu W. R. Krabbe: Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1989, S. 8-67, zur bürgerlichen Trägerschicht bes. 59-67 sowie für das Kaiserreich W. Hardtwig: Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs. In: L. Gall (Hg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München 1990 (HZ Beihefte Bd. 12), S. 19-64. 61 Vgl. Sutcliffe, Planned City, S. 9 - 3 6 bzw. Krabbe, Stadt, S. 78-99 und Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 49-61. 62 Siehe dazu am Beispiel Berlins H. Matzerath/I. Thienel: Stadtentwicklung, Stadtplanung, Stadtentwicklungsplanung. Probleme im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Berlin. In: Die Verwaltung 10, 1977, S. 173-196, bes. 173-181 und für das Ruhrgebiet Reulecke: The Ruhr: Centralization versus Decentralization in a Region of Cities. In: Sutcliffe (Hg.), Metropolis, S. 38Iff bzw. generell Sutcliffe, Planned City, S. 3 6 ^ 7 . 63 Siehe dazu u. a. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 56-67. 64 Vgl. dazu Chudacoff, Evolution, S. 148-178. Zur Großstadtsoziologie Parks und seiner Schule mit dem Konezpt der Stadt als ökologischer Gemeinschaft vgl. auch P. Saunders: Soziologie der Stadt. Frank-

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der Städtetechnik, vor allem beim Ausbau der Kanalisierung und Wasserversorgung, bei der Elektrifizierung und Gasversorgung und besonders in der Entwicklung moderner Nahverkehrsysteme wie Stadtbahnen und Bussen, die hier auf privater Basis unbestritten früher und weiter gediehen waren als in den europäischen Großstädten, wobei sich allerdings die ungleiche Verteilung und die Kontraste zwischen unversorgten und angeschlossenen Stadtteilen schärfer als in deutschen Städten bemerkbar machten, was den Wilhelminern ja auch immer wieder auffiel. 65 Trotz dieser Parallelen bleibt insofern der wichtige europäisch-amerikanische Unterschied bestehen, daß Stadtplanung im Zusammenhang mit der Entwicklung des Sozial- bzw. Interventionsstaates vor allem in Deutschland und Großbritannien, aber auch (gebremster) in Frankreich, früher und stärker staatlich bzw. kommunal entwickelt wurde, während in den USA die private Initiative weitaus dominanter war und blieb und selbst bei den Regionalplänen der 20er und 30er Jahre wie beispielsweise dem großen Regionalplan für New York 1928-31 eher Rahmenbedingungen für private Unternehmen geschaffen wurden, als daß die städtische Verwaltung selbst massiv Stadt- und wohnungsbauplanerisch tätig geworden wäre. 66 Wie wir gesehen haben, zeigte sich dieser Unterschied auch indirekt und weitgehend unbewußt in den Sichtweisen der europäischen und besonders der deutschen Beobachter, denen die amerikanische Entwicklung gerade deshalb so chaotisch vorkam, weil sie in Europa eine staatliche oder kommunale Regelung zumindest der grundsätzlichen Entwicklungskriterien nicht nur gewohnt waren, sondern diese auch implizit wie explizit favorisierten, so daß die USA hier eindeutig kein Entwicklungsmodell bildeten. Dem entsprach auch die mehrheitliche ästhetische Ablehnung des amerikanischen Stadtmodells trotz einiger faszinierter Stimmen, die aber letztlich in der Minderheit blieben; gerade weil die amerikanischen Städte chaotisch und ungeregelt wuchsen, mußten sie nach bürgerlich-wilhelminischem Kunstverständnis, das überwiegend kulturkonservativ und kaum modernitätsorientiert geprägt war und blieb, 67 abstoßend oder im besten Fall monoton wirken, wobei diese Einschätzung allerdings nicht nur auf „Bürger" im eigentlichen Sinne zutraf, sondern auch, wie wir gesehen haben, von linken Autoren geteilt wurde und überdies keine deutsche Besonderheit bildete, sondern von Briten und Franzosen gleichermaßen hervorgehoben wurde.

furt/M., New York 1987, S. 55-69. Vgl. ferner zur Entwicklung der Stadtplanung in den USA im 19. Jahrhundert S. K. Schultz: Constructing Urban Culture. American Cities and City Planning, 1800-1920. Philadelphia 1989, passim, bes. S. 200-217 und u. a. zur britischen bzw. deutschen Gartenstadtbewegung auch P. Hall: Metropolis 1890-1940: Challenges and Responses. In: Sutcliffe (Hg.), Metropolis, S. 35-40. 65 Vgl. zur amerikanischen Entwicklung Schultz, Constructing, S. 109-182 bzw. im Vergleich Pinol, Le monde des villes, S. 101-112, bes. 104. 66 Vgl. dazu ζ. Β. Hall, Metropolis, S. 4 2 - 4 9 bzw. generell auch für das 20. Jahrhundert im europäischamerikanischen Vergleich Kaelble, Weg, S. 69ff. 67 Vgl. dazu W. J. Mommsen: Stadt und Kultur im deutschen Kaiserreich. In: T. Schabert (Hg.): Die Welt der Stadt. München, Zürich 1990, S. 69-116, bes. 88ff. Dies muß allerdings im richtigen Verhältnis gesehen werden, denn es gab gerade auch im Bürgertum durchaus Strömungen, die die künstlerische Moderne mittrugen oder sogar förderten. Vgl. dazu T. Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Berlin 1988, passim.

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Ähnliches galt für den Bereich des Wohnens, wo die Beobachtungen ebenfalls professionell wie politisch übergreifend waren und sich zu einem im Kern europäischen Wahrnehmungsmuster verdichteten, das in der Tat die unterschiedliche Wirklichkeit der Gesellschaften in wichtigen Grundzügen spiegelte. So war es kein Wunder, daß gerade den europäischen Reisenden aus dem Bürgertum die hohe Anzahl an Einfamilienhäusern anstelle von Mietwohnungen selbst bei Arbeitern in den USA auffiel, lag doch deren Anzahl weit über dem europäischen Niveau; ja selbst im Bürgertum blieb es auf dem europäischen Kontinent bis in die Zeit nach 1945 für das Gros der Bevölkerung üblich, in Mietwohnungen zu wohnen, während eigene Villen in der Regel nur für das Großbürgertum erschwinglich waren. Die amerikanische Gesellschaft folgte dagegen trotz der Entwicklung von hotelartigen größeren Apartmentkomplexen oder Boarding-Houses in den Innenstädten, die vor allem von Angestellten genutzt wurden, eher dem britischen Muster, wo das Einfamilienhaus im Bürgertum dominierte. Dieses Muster hatte in den USA bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine vergleichsweise enorme soziale Ausdehnung erfahren, so daß in manchen (Industrie-)Städten wie ζ. B. Detroit fast die Hälfte aller Facharbeiter um 1900 über ein eigenes Haus verfügte. 68 Dies wurde möglich durch geringe kommunale Auflagen und Beschränkungen, vor allem aber durch die auch in diesem Bereich wirksame Standardisierung nach Fertighaus-Prinzip, die damit verbundene Verbilligung von Baumaterial und die rein räumliche Ausdehnung und Dimension amerikanischer Städte bzw. Vororte mit ihrem anfangs noch vielfach billigen und steuerbegünstigten Bauland, so daß der Anteil an Haus- und Wohnungsbesitzern nach 1870 ständig stieg.69 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß diese Häuser zumeist im Eigenbau errichtet werden mußten und zudem nur in einer kleinen Schicht der .Arbeiteraristokratie" Wohnstandards an Komfort und sanitären Verhältnissen erreicht werden konnten, die denen des europäischen Bürgertums entsprachen. Dennoch: Zu diesen Entwicklungen gab es keine Parallele in Europa, wo sich die soziale Frage vor allem als Wohnungselend in den Großstädten wie London, Paris, Berlin oder im Ruhrgebiet dramatisch verschärfte. 70 Dieses Wohnungselend gab es zwar auch in den USA, besonders in den Großstadtslums New Yorks und Chicagos, die ähnlich wie in Europa vor allem aus riesigen Mietshauskasernen, sogenannten „tenements", bestanden - wie wir oben gesehen haben, wurden diese allerdings von den Reisenden kaum registriert. Diese Verdrängung des sozialen Elends in amerikanischen Großstädten hatte sicher mit einer spezifisch bürgerlichen Verdrängung des sozialen Elends generell zu tun, lag aber auch wesentlich daran, daß diese „tenements" im Grunde nicht typisch amerikanisch waren, sondern vor allem von zumeist gerade erst eingewander-

68 Vgl. Pinol, Le monde des villes, S. 120ffbzw. für die USA Schlereth, Victorian America, S. 103-111 und im Vergleich zwischen Europa und den USA Kaelble, Weg, S. 117f. 69 Vgl. Schlereth, Victorian America, S. 87-103. Danach galt in den Urbanen Gebieten der USA 1870 rund ein Fünftel aller Familien als Hausbesitzer, 1920 war es bereits ein Viertel (Vgl. ebda. S. lOOf). Der Grad der Standardisierung im Häuserbau läßt sich auch daran ablesen, daß beispielsweise das Versandhaus Sears Roebuck nach 1900 bereits rund 100 000 Fertighäuser per Versandkatalog verkauft hatte (vgl. ebda., S. 92f). Vgl. ferner Jackson, Crabgrass Frontier, S. 116-137. 70 Vgl. dazu u. a. C. G. Pooley: Working-Class Housing in European Cities Since 1850. In: R. Lawton (Hg.): The Rise and Fall of Great Cities. Aspects of Urbanization in the Western World. London, New York 1989, S. 125-143.

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ten Europäern bewohnt wurden. Sie waren schon deshalb oft nur schwer zugänglich und bildeten in gewisser Weise Ghettos nationaler Einwanderungsgruppen, die auch für Amerikaner vielfach „terra incognita" blieben und kaum als repräsentativ für die Wohnverhältnisse der meisten Amerikaner gelten konnten oder so angesehen wurden. 71 Zudem wird hier ein Wahrnehmungsmuster dominant, das oben schon anhand der sozialen Mobilität sichtbar geworden ist und auch insofern in diesen Kontext gehört, als gerade die Großstädte als Brennpunkte und Katalysatoren der vermeintlich stärkeren Aufstiegsmobilität in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Europa galten. Gerade dieser europäische Mythos von mehr Chancengleichheit, Mobilität und Prosperität in Amerika war es auch hier, der Bilder vom sozialen Elend überlagerte und weniger stark wahrnehmen ließ als in Europa. Das wird gerade daran deutlich, daß im Kern viele Berichte mit der Thematisierung der amerikanischen Riesenbauten als Vernichtern von „Luft und Licht" durchaus indirekt die zentrale Wohnungsproblematik in den europäischen Großstadtslums reflektierten, an der alternative Wohnungsbaukonzepte jeglicher Ausrichtung ansetzten. Doch die Übertragung auf amerikanische Wohnverhältnisse blieb bezeichnenderweise aus ebenso wie der Hinweis auf die Wohnungsproblematik der Unterschichten in Deutschland oder Europa. Im amerikanischen Fall lag dies in erster Linie am Eindruck des gehobenen Wohnstandards vieler Arbeiterhäuser, die die Wilhelminer vor allem bei ihren Werksbesichtigungen kennenlernen konnten; freilich muß dabei betont werden, daß dadurch naturgemäß vor allem „Vorzeigehäuser" in Augenschein genommen wurden und diese das Allgemeinbild daher entsprechend positiv prägten. Der Vergleich zu Deutschland oder Europa insgesamt fiel in diesem Bereich daher auch entsprechend bescheiden aus; zu groß schienen die Unterschiede zwischen beiden Kontinenten zu sein. Amerika hatte auch hier Wege beschritten, die vor allem die Distanz zu Europa fühlbar machten und die angesichts europäischer Klassenverhärtungen kaum als gangbar erschienen. Hinter dieser Distanzierung von einem amerikanischen Modell steckte zugleich eine offenkundige Defensivhaltung des Bürgertums angesichts der sozialen Herausforderung seitens der Arbeiter- bzw. Unterschichten. So sehr sich abstrakt der amerikanische Weg zu mehr sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit im Sinne urbürgerlicher Werte feiern ließ, so gefährlich schien die Übertragung im konkreten Bereich etwa der Familie oder des Wohnens. Man beschränkte sich daher in Beobachtung und Beurteilung neben den spektakulären Großstadtbauten lieber auf die Wohnverhältnisse in den vergleichbaren Schichten, die aber auch deshalb weniger stark in den Berichten auftauchen, als hier die Wohnstandards und Stilformen tatsächlich erstaunlich ähnlich waren und sich der Geschmack des bürgerlichen Amerika vor allem an der besonders intensiv besuchten Ostküste zumindest bis 1900 noch an europäischen Vorbildern des Historismus orientierte, auch wenn die Haushaltstechnik insgesamt deutlich fortgeschrittener war als in Europa und sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Fülle neuer Haus- und Wohntypen genuin amerikanischer Provenienz entwickelt hatten. 72 Diese

71 Vgl. z. B. Chudacoff, Evolution, S. 90-124. 72 Vgl. im Vergleich Pinol, Le monde des villes, S. 125-129 und für die USA Schlereth, Victorian America, S. 94-115 und S. M. Blumin: The Emergence of the Middle Class. Social Experience in the American City, 1760-1900. Cambridge u.a. 1989, S. 138-191 bzw. für Deutschland: W. Brönner: Schichtenspezifische Wohnkultur. Die bürgerliche Wohnung des Historismus. In: E. Mai u. a. (Hg.): Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Berlin 1982, S. 361-380.

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Ähnlichkeiten waren sozusagen „selbstverständlich" und bedurften keiner großen Erläuterung; die anhand des Wohnens vielerorts offenkundige „Verbürgerlichung" der Arbeiterschichten konnte dagegen mit dem Hinweis auf die Andersartigkeit der amerikanischen Verhältnisse in ihrem Vorbildcharakter relativiert werden, und das Wohnungselend der Unterschichten wurde ebenso wie die entsprechenden sozialreformerischen Ansätze von Seiten der „progressives" gar nicht erst thematisiert - drei Beobachtungs- und Beurteilungsstrategien, die deutlich machen, wie stark der Status quo der sozialen Verhältnisse mental favorisiert und gleichzeitig die Dynamik der sozialen Problematik aus dem Horizont der Wahrnehmung und Reflexion weitgehend verbannt wurde. Insgesamt wird sichtbar, daß der amerikanische Weg der Urbanisierung und Stadtentwicklung kein Vorbild für die Wilhelminer bzw. Europäer war, auch wenn eine konkrete „Amerikanisierung" europäischer Städte den deutschen wie auch französischen oder englischen Besuchern noch kaum unmittelbar bevorzustehen schien und die Perspektive einer nach amerikanischem Muster urbanisierten Welt für die meisten Beobachter allenfalls in ferner Zukunft relevant zu werden versprach - eine Sicht, die sich mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs ändern sollte. Erneut zeigt sich auch hier, daß die rapide und vor allem von kommunaler Seite praktisch ungeregelte Modernisierung in den USA bei den deutschen Besuchern trotz einiger enthusiastischer Gegenstimmen in der Mehrzahl Verwirrung und Ablehnung auslöste. Die amerikanischen Großstädte führten die Folgen der rapiden Modernisierung durch ihre Dimensionen radikaler vor Augen: Differenzierung, Rationalisierung und Individualisierung wurden in den USA im Vergleich zu Europa stärker und gefährlicher erlebbar im „Chaos" und der „Hektik" der Millionenstädte, die den einzelnen in der Masse untergehen zu lassen drohten und Metaphern des Krieges heraufbeschworen. Diese Erfahrung hatte trotz oder gerade wegen der rapiden Urbanisierung in Deutschland auch um 1900 nichts von ihrem Schockcharakter der Jahrhundertmitte verloren und korrespondierte kaum mit der andernorts schon registrierten mentalen Harmonieorientierung der Wilhelminer. Allerdings blieb das Urteil ambivalent; der Faszination des gewaltigen und in den Metropolen so sichtbaren „Fortschritts" konnten sich auch die deutschen Beobachter nicht entziehen: In dieser Ambivalenz spiegelt sich so nicht zuletzt auch die paradoxe Entwicklung der Moderne selbst, führten die amerikanischen Städte doch dramatisch vor Augen, welche individuellen wie kollektiven Kräfte durch mehr Freiheiten zur Entfaltung kommen konnten und doch zugleich das Individuum wie die idealiter gedachte „Gemeinschaft" in einer funktionell hochgradig differenzierten Massengesellschaft aufzulösen drohten. Doch gilt es zugleich im Blick zu behalten, daß diese Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster im Kern auch von anderen Europäern geteilt wurden, so daß sich auch und gerade im Bereich der Stadtwahrnehmung von einem europäischen Blick sprechen läßt, der wesentlich auf spezifisch europäische Stadtentwicklungen im Kontrast zum amerikanischen Urbanisierungsweg zurückging und zugleich spezifisch bürgerliche, von der europäischen Klassengesellschaft geprägte Urteilsmuster und Werthaltungen spiegelte. Angesichts der amerikanischen Erfahrung war sich die Mehrheit nicht nur des deutschen, sondern auch französischen oder britischen Bürgertums einig, daß das amerikanische Modell zwar Faszination ausübte, zugleich aber so erschreckend war, daß es in seiner ungeplanten Chaotik kaum ein Vorbild für die Heimatgesellschaften sein konnte. Daß die eigenen Gesellschaften sich auch im Hinblick auf die Stadtentwicklung trotz gewisser staatlicher bzw. kommunaler Vorgaben und

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Metropolis - Die Erfahrung der Großstadt

erster Ansätze bürgerlicher Sozialreform keineswegs weitaus weniger chaotisch entwickelten und die meisten sozialen Probleme vor dem Ersten Weltkrieg gerade auch aufgrund mangelnden Engagements der bürgerlichen Eliten ungelöst blieben, konnten oder wollten diese Eliten trotz ihrer in vielerlei Hinsicht erstaunlich realistischen Beobachtungen und Einschätzungen der auch für die europäische Zukunft aufschlußreichen Entwicklung in den USA nicht sehen.

Kapitel 7

Europa und Amerika - Der Vergleich der Kontinente

Immer wieder ist in den vorangehenden Kapiteln deutlich geworden, wie sehr die europäischen Beobachter trotz aller nationalen bzw. nationalistischen Denkkategorien in der Konfrontation mit den USA auf europäische Dimensionen und Besonderheiten verwiesen. Daher soll abschließend als Klammer der allgemeine Vergleich zwischen den Kontinenten noch einmal näher analysiert werden, wobei einige bereits oben skizzierte Detailbeobachtungen im Kern wieder zum Vorschein kommen werden. Hier verließen die Wilhelminer den Bereich der Anschauung und konkreten Beobachtung und begaben sich in philosophisch-abstrakte Spekulationen, die sich allerdings in Studien und Reiseberichten quantitativ fast gleichmäßig verteilt finden und keineswegs nur primär auf die übergreifenden Betrachtungen beschränkt blieben, wie man zunächst vermuten könnte. Zwar gab es naturgemäß auch eine ganze Reihe von Berichten, die kaum oder überhaupt nicht auf kontinentale Vergleiche anstellten, aber für viele der vor allem von Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern verfaßten gesellschaftsorientierten Studien und Berichte bildete dieser Hintergrund eine entscheidende Dimension der Amerika-Wahrnehmung und -Beurteilung. Zudem wurde der kontinentale Vergleich keineswegs nur als Möglichkeit zu geschichtsphilosophischen Spekulationen genutzt, sondern diente entscheidend zur Erklärung der gemachten Beobachtungen, was eine gesonderte Analyse um so wichtiger macht. Dabei kreisten die Überlegungen immer wieder um drei Grundfragen, nämlich erstens um das .Alter" Europas im Kontrast zur „Jugend" Amerikas, zweitens um die Dichotomie von europäischer Vielfalt und amerikanischer Monotonie und schließlich drittens um die Frage der Zukunft für beide Kontinente in Konkurrenz oder Allianz. Auffallend ist schon hier, wie stark dichotomisch das Denken im Hinblick auf den kontinentalen Vergleich generell ausfiel, aber auch in welchem Maße ein Bewußtsein für europäische Besonderheiten explizit vorlag.

1. „Alter" Europas versus „Jugend" Amerika Der Topos vom „Alter" Europas im Kontrast zur „Jugend" Amerikas drängte sich nahezu in allen Bereichen der Gesellschaftsbeobachtung auf und setzte zugleich den alten europäischen Mythos vom Land der Wildnis und des Neubeginns fort, wie er oben einleitend schon vorgestellt worden ist und sich etwa auch in Goethes Amerikabild gespiegelt fand.

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Europa und Amerika - Der Vergleich der Kontinente

Europa rückte damit oftmals in eine Reihe mit anderen alten Kulturen wie etwa denen Asiens, gegen die Amerika als die „neue Welt" schlechthin abstach. So führte der Diplomat Josef A. Lettenbaur in seinem 1914 verfaßten Amerikabuch mit dem bezeichnenden Titel „Jenseits der Alten Welt" den Leser folgendermaßen ein: „In der alten Welt gibt es immer noch eine Tradition, die trotz fundamentaler Umwälzungen, wie sie die große Revolution in Frankreich geschaffen hat, weiterbesteht und zur rechten Zeit wiederauflebt. Von China, das, seiner .Modernisierung' unter veränderter Verfassung ungeachtet, in unsere Tage ragt wie vor Jahrtausenden, bis zu den Völkern Europas hat die alte Welt, in den Familien verjüngt, nur dem Grade nach verschieden, altes Kulturerbe fortgeführt. (...) Die alte Welt kennt keine Sprünge, sondern Entwicklung. (...) Amerika war ein Experiment und ist es in einem gewissen Umfange heute noch; nicht als Staat, über dessen auf Volksherrschaft sich gründendes Gefüge hier zunächst nicht gesprochen werden soll, sondern als Menschheitsproblem. Amerika ist etwas Neues, ist eine Welt für sich, die einen Kontinent beeinflußt und ihre Anschauungen noch weit darüber hinaus über die ganze bewohnte Erde ausstrahlt." 1

Lettenbaur stand mit seiner Ansicht, daß Amerika auch um 1900 noch etwas „ganz Neues" und ein wesentlich traditionsloses Staats- und Gesellschaftsgebilde war, keineswegs allein. Immer wieder hoben deutsche Reiseberichte wie Studien die „Jugend" Amerikas hervor und verwiesen auf dessen ungeheure Prosperität und ökonomische wie politische Machtentfaltung.2 Nicht alle Autoren gingen dabei so weit wie der kritische Nationalökonom Johann Plenge, der 1912 über die vermeintliche europäische Rückständigkeit als „Kleinbürgergeist" erbost notierte: „Ist das amerikanische Volk nicht frischer, energischer, neuerungsfroher wie irgend ein anderes Volk der Welt. Fehlt ihm nicht völlig jener beschränkte, enge Kleinbürgergeist, dem alle seine Ruhe störender Fortschritt zuwider ist, wie er die europäischen Nationen aus ihrer früheren Versunkenheit in kleine Lokal- und Partikularinteressen her lähmt. (...) Wie viel mehr ist nicht von der organisatorischen Tatkraft des Amerikaners zu erwarten, wenn die Zukunft organisierte Gesellschaft heißt. Der Amerikaner kennt sein 19. Jahrhundert; bei uns gehört das äußerlichste Verständnis der eigenen Zeit weder zur Volksbildung noch zur allgemeinen Kultur!"

Plenge machte dabei deutlich, wen er dabei vor allem im Auge hatte: Es waren in erster Linie die europäischen Eliten, die in Ästhetizismus und Dekadenz zu versinken schienen anstelle angesichts des amerikanischen Beispiels von Arbeitsethos und sozialem wie wirtschaftlichtechnischem Fortschrittswillen ergriffen zu werden und diese Ziele der Zukunft in die Tat umzusetzen. 4 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die USA in ihrer von Traditionen vermeintlich ungehemmten Entwicklungsdynamik nicht nur „progressiven" Autoren kurz vor dem Ersten Weltkrieg als nachahmenswertes Vorbild erschienen. So finden sich erstaunlich positive Äußerungen beispielsweise auch in dem Bericht des württembergischen Hofbeamten Heinrich Graf Adelmann aus dem Jahre 1894:

1 Lettenbaur, Jenseits, S. 13f. 2 Vgl. u. a. Below, Bilder, S. 36f u. 229; Gerstenberger, Steinberg, S. 71f; Hoffmann, Bilder, S. 90-95; Zardetti, Westlich!, S. 8 u. 216; Barth, Eindrücke, S. 53f; Samhammer, Beobachtungen, S. 1 und Wolzogen, Dichter, S. 18f. 3 Plenge, Zukunft, S. 69. 4 Vgl. ebda., S. 70-73.

„Alter" Europas versus .Jugend" Amerikas

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„Die großen Leistungen aber, welche er (der Amerikaner, A. S.) durch ausdauernde Willenskraft und ruheloses Vorwärtsstreben, durch elastische, berechnende, nüchterne, aber auch kühne Art zu denken, zu stände gebracht hat, und die vielen, unserem altersschwachen Kulturleben vorauseilenden, zweckmäßigen Vorkehrungen, welcher jeder Reisende hier schätzen lernt, möge sich der Europäer unbefangen für sein Land aneignen. Ein Besuch in den Vereinigten Staaten wirkt wie eine geistige Blutauffrischung. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß es für den Fortschritt auf dem praktischen Gebiet des allgemeinen Wissens und für die Verbesserung unserer öffentlichen Einrichtungen von großem Nutzen wäre, wenn die Vereinigten Staaten mehr als bisher von Touristen, Berufsreisenden und Kommissären der deutschen Regierungen besucht würden." 5

Ganz konkret wurde hier also Amerika als Vorbild für Deutschland bzw. Europa vorgestellt, wobei sich Kulturkritik an europäischen Erstarrungen mit positiven Sichtweisen der amerikanischen Mentalität, wie sie oben geschildert worden sind, mischten. Zugleich wurde in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Notwendigkeit einer besseren Kenntnis der USA in Europa hingewiesen, zumal umgekehrt in Amerika mehr Kenntnisse über den alten Kontinent verbreitet zu sein schienen - ein Argument, das natürlich auch als Rechtfertigung und Aufwertung des eigenen Berichts gedacht war, zugleich aber auch deutlich machen sollte, wie sehr die USA immer noch von vielen „Bildungsbürgern" Europas aufgrund ihrer Geschichtslosigkeit für uninteressant oder irrelevant gehalten wurden, wie das ja oben schon anhand des relativ geringen Interesses an Amerika seitens prominenter Schriftsteller sichtbar geworden ist.6 Diese Sicht dominierte zwar in vielerlei Variationsformen die deutsche Amerikawahrnehmung und -beurteilung, aber sie blieb dennoch nicht unwidersprochen oder ohne Relativierung. Die Einschränkungen dieses Grundtenors bezogen sich dabei vor allem auf eine Relativierung des „Alters" der Kontinente und zugleich auf die Vorzüge der alten europäischen Traditionslinien. So hatte bereits der englische Schriftsteller Herbert G. Wells in seinem einflußreichen und 1911 ins Deutsche übersetzten Reisebericht „The Future in America" (1906) auf die starke Kontinuität des 18. Jahrhunderts und das fast starre Festhalten insbesondere an Verfassungsregeln in den USA hingewiesen und den Mythos des ewig Neuen in Amerika relativiert: .Amerika ist in den allerverschiedensten Hinsichten nicht auf der Höhe der Zeit. Zwar ist es ohne Zweifel in vielen Beziehungen Europa um zehn und mehr Jahre voraus, auf dem Gebiet der Technik und in allen Arten produktiver Organisation; dafür steht es aber in sehr vielen anderen und noch fundamentaleren Dingen um zehn und mehr Jahre zurück. Man braucht bei uns in Europa nur ein paar Jahre nach rückwärts zu schauen, und man wird sich überzeugen, daß sich für uns die Vergangenheitsperspektive bald zusammenschließt; (...)

5 Adelmann, 62 Tage, S. 203. Vgl. u. a. auch Bruncken, Volksseele, S. 164f und Pfister, Amerika, S. 140f sowie West, Hie Europa!, S. 13ff. 6 So schrieb z. B. Ludwig Fulda noch 1914: „Und wer könnte bestreiten, daß Europa von Amerika besser gekannt ist als Amerika von Europa? Die gebildeten Amerikaner wissen unendlich viel mehr von uns als wir von ihnen; sie widmen unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart ein rastloses Studium; sie kommen alljährlich in ungezählten Scharen herüber, um zu schauen und zu vergleichen, zu beobachten und zu lernen. Die Zahl der gebildeten Europäer, die ihnen zu den nämlichen Zwecken einen Gegenbesuch abstatten, war bis jetzt verhältnismäßig klein. Europa liegt für Amerika schon längst in der Nähe, Amerika für Europa noch immer in der Ferne." (Fulda, Eindrücke, S. 12). Vgl. auch u. a. Vay von Vaya, Amerika, S. 283ff und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 4-18.

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In Amerika aber geht alles in ununterbrochener Kontinuität auf den Unabhängigkeitskrieg zurück. (...) Ich habe vieles gehört über 1777 und ganz und gar nichts Wertvolles erfahren über 1977, ein Jahr, das mich weit mehr interessieren würde."

Dieser Gedanke wurde auch in deutschen Studien zur Relativierung des „Alters" der Kontinente aufgegriffen, 8 auch wenn sich letztlich alle Beobachter einig waren, daß dies nur bestimmte gesellschaftliche und politische Felder betraf und etwa der Bereich der Ökonomie und Technik fraglos moderner erschien, wie wir oben bereits festgestellt haben. Die andere Relativierung amerikanischer „Jugend" bezog sich eher auf deren Bewertung, indem darauf hingewiesen wurde, wie stark die amerikanischen Innovationen und sogar die gesamte amerikanische Existenz von europäischen Leistungen und Erfindungen abhängig gewesen und ohne diese undenkbar sei und noch immer durch die massive europäische Auswanderung von europäischer Kultur und Tradition profitiere. So betonte beispielsweise der Schriftsteller Ernst von Wolzogen in seinem Amerikabericht, wie stark auch solche genuin amerikanischen Erfindungen wie der Wolkenkratzer bzw. der Expreßaufzug erst durch die jahrhundertealte „Kulturarbeit" Europas ermöglicht worden seien, und in gewohnt historisierender Weise resümierte er: „Jedes Schiff brachte einen neuen Gedanken von der Alten Welt herüber, und diese neuen Gedanken brauchten sich nicht in hartem Kampfe erst langsam durchzusetzen gegen den widerstrebenden Willen der Alten denn es gab keine Alten in diesem Lande, in dem Jugend und Kraft allein regierten. (...) Und weil jeder Anfang für die Leute dieser Neuen Welt ein Weiterbauen auf etwas bedeutete, das die Alte bereits als ein Vollendetes geliefert hatte, so mußte sich in den Köpfen dieser Neuweltleute die Überzeugung festsetzen, daß es für ihre Entwicklung keine Schranken gäbe. (...) Aus eben dem Grunde aber vermögen kultivierte Menschen der Alten Welt in jenen stolzen Luftschlössern niemals heimisch zu werden. Sie finden es fußkalt darin, weil die unteren Stockwerke unbewohnt sind und alle Winde frei durch das leere Eisengerippe streichen. Wir wurzeln eben mit unserer ganzen Seele in der Vergangenheit."9

Hier kam deutlich bildungsbürgerlicher Stolz auf das Alter der europäischen Kultur zum Ausdruck, das Material zur mentalen Verteidigung gegen den vermeintlichen Vorsprung der jungen Republik jenseits des Atlantiks lieferte und den Vorteil der „Jugendlichkeit" relativierte - darauf wird im Zusammenhang der Debatte über eine vermeintliche Gefahr der Amerikanisierung noch zurückzukommen sein. Zuvor sei hier jedoch noch ein weiteres Gegensatzpaar angeknüpft, das den Faden dieses Gedankens aufnahm und als Dichotomie von europäischer Vielfalt (der Kultur) im Kontrast zu amerikanischer Monotonie fortspann.

7 Wells, Zukunft, S. 208. Vgl. auch ebda., S. 209f. 8 Etwa bei Lettenbaur, Jenseits, S. 15ff bzw. Plenge, Zukunft, S. 16ff, der sich damit direkt auf Wells bezog: „Sieht man mit einer geistigeren Fassung des Problems das Alter einer Nation in der Zeit, wie lange ihre entscheidenden geschichtlichen Erlebnisse zurückdatieren, wie lange es namentlich her ist, daß die das innenpolitische Leben bestimmenden Grundideen über Staat und Gesellschaft gebildet wurden, dann ist unzweifelhaft Amerika das älteste Land unter den fortgeschrittenen Gebieten der weißen Rasse. Wie weit liegt der Unabhängigkeitskrieg für uns zurück und wie nahe lebt er in der Erinnerung der Amerikaner." (S. 17). 9 Wolzogen, Dichter, S. 275ff. Vgl. ebda., S. 273-280. Vgl. zur Rolle der Immigranten als „Geschenk" immenser Wirtschaftskraft Europas an Amerika auch Hesse-Wartegg, Amerika, S. 9ff sowie allgemein Moltke. Nord-Amerika, S. 50f.

Europäische Vielfalt versus amerikanischer Monotonie

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2. Europäische Vielfalt versus amerikanische Monotonie Es ist schon in den Abschnitten zu den Mentalitäten, aber auch zur Bildung und zum Städtebau deutlich geworden, wie sehr die Wilhelminer vom kulturellen Rückstand Amerikas gegenüber Europa überzeugt waren. Immer wieder wurde vor allem in den Reiseberichten das Argument der Jugendlichkeit mit dem der mangelnden kulturellen „Reife" der „Kolonie" Amerika in Zusammenhang gebracht, so daß die Amerikaner vielfach entweder noch nicht zur Ausbildung einer eigenständigen, von Europa unabhängigen Kultur gelangt oder aber durch die prinzipielle Dominanz des Materialismus und Geschäftsgeistes auch in absehbarer Zukunft kaum eine solche zu entwickeln in der Lage zu sein schienen.10 Diese Haltung führte nicht selten zu einer Distanzerfahrung zwischen den Weltteilen, die der Ingenieur Ludwig Brinkmann in einem von Mißverständnissen geprägten Gespräch mit einer Amerikanerin über Grundfragen kultureller Identität folgendermaßen umriß: „,Wir beide stammen nur aus verschiedenen Erdteilen; aber doch erscheint es, als wären wir auf zwei weit getrennten Planeten geboren! Ich gebe zu: der, von dem ich stamme, ist älter, kälter, vielleicht schon abgestorbener, vielleicht ausgereifter, wie man es nehmen will - kurz, er ist ganz anders als der Ihre'. ( . . . ) Wie sollen wir uns einem solchen Kinde begreiflich machen, die wir schon als Buben alt sind, die wir die ganze zentnerschwere Last einer tausendjährigen Kultur auf den Schultern tragen, die wir als Jünglinge bereits im Wechselspiele harten Lebenskampfes und in der Enge der Verhältnisse und Bedingungen früh zermürbt und so verwirrt werden, daß wir bald nicht ein noch aus wissen! Es ist ein vergebliches Unterfangen, sich verständigen zu wollen. Du denkst, du bist in Neuyork - und hast ganz Europa auf deinem Rücken mitgebracht, und zwischen deinem Wesen und dem ihrigen dehnt sich der weite Atlantische Ozean!" 11

Mochte hier auch die Kritik am Alter und an der „Dekadenz" europäischer Kultur durchklingen, so ließ der Autor wie viele andere doch keinen Zweifel daran, daß kulturell der .American Dream" in seiner Jugendlichkeit bzw. „Kindlichkeit" auf den verfeinerten, gebildeten Europäer, als den sich fast alle Reisenden verstanden, keinerlei Attraktivität auszuüben vermochte.12 Zwar fanden sich in einigen Studien erneut relativierende Stimmen, die Ansätze einer eigenständigen amerikanischen Kultur erblickten und zugleich die klischeehafte Dichotomie von europäischer „Kultur" und amerikanischer „Zivilisation" (die den Topos von der deutschen Kultur im Kontrast zur westlichen Zivilisation fortschrieb und auf ein bezeichnendes neues Niveau hob) kritisierten,13 doch blieb der schon oben im Zusammenhang mit den Mentalitäten festgestellte Topos vom Land ohne Kunst und Kultur gerade im kontinentalen Vergleich prägend.

10 Vgl. u. a. Lamprecht, Americana, S. 22,38f u. lOOff; Niese, Bilder, S. 30ff; Unruh, Amerika, S. 63f; Wolzogen. Dichter, S. 6f u. 128ff und Röder, Reisebilder, S. 50ff, 86ff u. 118ff. 11 Brinkmann, Eroberer, S. 247 u. 259. 12 Vgl. ebda., S. 258f u. 291ff sowie Below, Bilder, S. 288f; Heymann, USA, S. 159f; Hoffmann, Bilder, S. 91-95; Mancke, Im Fluge, S. 44f u. 50f; Schmidt, Reiseskizzen, S. 24-27 sowie Moltke, Nord-Amerika, S. 50f. 13 Siehe dazu z. B. Diercks, Kulturbilder, S. 272f u. 374-378 sowie Rambeau, Amerika, S. 38f u. 72ff. Ambivalent urteilte auch Friedrich Ratzel, der einerseits ebenfalls eine neue Kultur in den USA in der Entstehung sah, zugleich aber das „Kulturnomadentum" und den dadurch gering entwickelten ästhetischen Sinn kritisierte. Vgl. Ratzel, Vereinigte Staaten, S. 650ff u. 725-729.

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In diesem Zusammenhang wurde immer wieder auch auf den Gegensatz von kultureller Vielfalt in Europa im Gegensatz zur amerikanischen „Monokultur" verwiesen, der ebenfalls schon besonders anhand der Stadtthematik sichtbar geworden ist, aber auch wesentlich für das Verhältnis von Natur und Kultur galt; er war aber vor allem in der Vielfalt der europäischen Völker und ihrer spezifischen Traditionen, die in den USA zum einheitlichen Schmelztiegel eingeschmolzen zu werden drohten, begründet. Dies war dabei keineswegs nur bildungsbürgerlicher Kulturhochmut, auch wenn in der Abwertung amerikanischer Lebensformen und kultureller Muster in den meisten Berichten vieles davon mitschwang. Aber auch der Arbeiter Fritz Kummer kam 1913 zu einem ähnlichen Schluß: „Der Reisende in Europa wird durch stetige Abwechslung wieder und immer wieder gefesselt. Er braucht noch nicht einmal Landesgrenzen zu überschreiten, um eine große Mannigfaltigkeit der Menschenarten, der Dichtung, der Sitten und Trachten, ja selbst der Würste, Biere und Schnäpse zu finden. Solch anregende Abwechslung kennt der Nordamerikaner nicht oder doch nur in geringem Maße. Wenn sich nun auch die .amerikanische Rasse' nicht aus Menschen zusammensetzt, die einander wie die Eier gleichen (...), so verschwinden die Verschiedenheiten doch zumeist schon mit dem ersten oder zweiten nachwachsenden Geschlecht. Noch schneller weichen die geistigen Unterschiede." 14

Allerdings gab es auch Stimmen, die die Vorzüge dieses amerikanischen „Schematismus" im Hinblick auf die Zukunft moderner Gesellschaften erkannten, so daß die USA gerade auch in kultureller Hinsicht durchaus moderner erschienen; in diesem Zusammenhang sei erneut der Nationalökonom Johann Plenge zitiert: „Der Amerikaner lebt schon heute schematischer wie wir. Auf schematischen Farmen, in schematischen Staats- und Bezirksgrenzen oder in schematischen Großstädten ohne historische Verschiedenheit, schematischer in dem Erzeugnis seiner Arbeit, schematischer im Verbrauch seiner Güter. Der riesige Raum hat den sozialen Raum gestaltet. Durfte man das alles übersehen, wenn man danach forschte, was gerade aus Amerika in einer Zeit des konstruktiven systematischen Gesellschaftsbaues werden könnte? Und in alledem liegt, bei aller Gefahr der geistigen Verödung eine erleichternde Bedingung, wenn durch kommende große Organisationsformen unser Leben immer ordnungsmäßiger und gleichmäßiger werden sollte. Der Amerikaner hat weniger zu vergessen, um sich in solche neuen Formen hineinzufinden und leidet weniger unter romantischen Erinnerungen an eine größere Buntheit unseres sozialen Seins." 15

Eine solche Sichtweise war sicher nicht typisch für die meisten Wilhelminer, im Gegenteil sie schrieb dezidiert gegen die übliche rückwärtsgewandte Vergangenheitsfixierung im Gewand „romantischer Erinnerungen" an; doch wird gerade anhand dieser Passage, die eine Fülle von oben bereits skizzierten Denk- und Wahrnehmungsmustern über die USA noch einmal bündelt, deutlich, wie sehr die amerikanische Erfahrung zum Nachdenken über Modernisierung im allgemeinen und auch vergleichend im Hinblick auf die Zukunft Deutschlands bzw. Europas anregte und Zukunftsmodelle entwerfen ließ, die zwischen

14 Kummer, Weltreise, S. 146. Vgl. auch ebda., S. 144f bzw. Gerstenberger, Steinberg, S. 319f; Lamprecht, Americana, S. 18f und Wolzogen, Dichter, S. 208ff u. 256-259, wo es dementsprechend hieß: „Wir haben es ja so viel leichter, persönlich, original, volkstümlich zu sein, denn wir sind ein Volk, als Rasse zwar auch gemischt, aber in dieser Mischung doch schon seit Jahrtausenden konsolidiert. Was das alte Europa für den feinsinnigen Betrachter so unerschöpflich interessant macht, das ist die unendliche Abwechslung und Differenzierung im Charakter seiner Völker." (S. 256). 15 Plenge, Zukunft, S. 51.

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Parallelität und völligem Kontrast hin und her schwankten - wir werden darauf weiter unten noch zurückkommen. Diese Unklarheit über Parallelität oder Unterschiedlichkeit des europäischen und amerikanischen Weges in die Zukunft der modernen Gesellschaft hatte dabei auch wesentlich damit zu tun, daß Amerika immer wieder als Kontrast von Wildnis und Zivilisation auf engstem Raum erfahren und beschrieben wurde, was schon anhand der Beobachtungen zur Natur und zur Großstadt immer wieder sichtbar geworden ist; es bezog sich aber auch auf die Gesellschaft in ihrer Mischung aus „Plebejertum" und „aristokratisch"-hierarchisierenden Tendenzen16 und ließ so insgesamt die USA vor allem als „Land der Kontraste" bzw. als „Land der Widersprüche" erscheinen,17 wobei diese Kontraste vor allem in ihrer kulturellen Dimension besonders kraß waren und der organisch-historischen Entwicklung Europas diametral zuwiderliefen. Eine typische Sichtweise faßte der Schriftsteller Ernst von Wolzogen treffend zusammen, als er 1912 am Ende seines Berichts unter dem Oberbegriff „Heimat" bemerkte: „Wenn man aus den Vereinigten Staaten nach Europa zurückkehrt, so nimmt zunächst das Auge mit wonnigem Behagen den Eindruck der Ordnung, der Fertigkeit, der stilsicheren Harmonie zwischen Natur und Menschenwerk in sich auf. Sei es eine englische Hügellandschaft mit ihrem üppigen Wiesengrün und ihren anmutigen Heckenzäunen, sei es ein französischer alter Herrensitz mit wundervollem Schloß ( . . . ) , sei es selbst nur eine arme deutsche Flachlandschaft mit ihren peinlich nach der Schnur bestellten Feldern, ihrem trauten Dörflein, so behaglich im Schatten alter Baumgruppen versteckt ( . . . ) . Alles das sind Dinge, die wir jenseits des Ozeans schmerzlich vermißt haben und die man uns auch drüben nicht nachahmen kann. Das ist Tradition einer alten Kultur, das sind Instinktleistungen einer tief verankerten Disziplin, ästhetische Werte, die nicht nur die Sinne des anspruchsvollen höheren Menschen erfreuen, sondern auch ethisch Uberaus fruchtbar sind, weil in allen diesen Dingen die besten Kräfte der Rasse äußerlich sichtbar werden." 1 8

In dieser charakteristischen Äußerung findet sich ein ganzes Konglomerat verschiedenster Identitäten, wobei hervorsticht, wie stark Europa insgesamt durch die Kontrasterfahrung der USA zur „Heimat" werden konnte und damit die rein regionalen oder nationalen Grenzen des Heimatgefühls überstieg, auch wenn zugleich in dem vollkommen diffus gebrauchten RasseBegriff eine Relativierung dieser „europäischen Identität" enthalten zu sein scheint. Doch im Kontext einer vor allem bürgerlichen Identität, die sich an den hier postulierten Werten des .Ästhetischen" bzw. des „anspruchsvollen höheren Menschen" manifestiert und diese zugleich als verbindlich für alle Europäer entwirft, wird sichtbar, wie allgemein europäisch hier im Hinblick auf eine kulturelle Identität gedacht wurde. Diese kulturelle Identität wurde damit wesentlich durch allgemein bürgerliche Werte und Normen jenseits nationaler Begrenzungen geprägt, auch wenn einschränkend betont werden muß, daß dies nur für West- und Nordeuropa galt, während Süd- und Osteuropa zumindest im Hinblick auf die Gegenwart kaum dazuzählte, was an den vielen abwertenden Urteilen über die von dort nach Amerika Einwandernden sichtbar wird.

16 Vgl. dazu ζ. B. Lettenbaur, Jenseits, S. 148f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 388f. 17 Siehe dazu u. a. Barth, Eindrücke, S. lOff u. 38ff; Mancke, Im Fluge, S. 3Iff; Moltke, Nord-Amerika, S. Iff; Vay von Vaya, Amerika, S. 38, Bürgers, Kulturbilder, S. 32ff und Bluth, Wanderleben, S. 82f. 18 Wolzogen, Dichter, S. 258f.

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Eine Variante dieses Musters bildungsbürgerlichen kulturellen Selbstverständnisses bestand darin, die USA in der schon mehrfach festgestellten Manier der historisierenden bzw. historische Analogien (mit der Antike) bildenden Methode als das „neue", ökonomisch wie politisch machtvolle „Rom" zu konzipieren, dem Europa analog als altes Griechenland mit seiner überlegenen und vorbildgebenden Kultur gegenübergestellt wurde.19 Dieses Bild paßte in das dominierende Interpretationsmuster, wonach die amerikanische Kultur noch stark von europäischen Einflüssen abhängig sei und auch noch in absehbarer Zukunft bleiben werde, auch wenn vereinzelte Stimmen die Entwicklung einer eigenständigen und genuin amerikanischen Kultur in Ansätzen wahrzunehmen meinten.20 Generell jedoch erschien die europäische Kultur als Vorbild für die USA und vor allem als Korrektiv gegen den immer wieder beschworenen Materialismus, den nur wenige Kritiker wie beispielsweise der Schriftsteller Ludwig Fulda auch in Deutschland in gleichem Maße verbreitet sahen, der damit gegen die gängige Verklärung der Vergangenheit und die Verdrängung der Moderne in Deutschland anschrieb.21 Typisch war dagegen eher eine Äußerung wie diese, die die Amerikaner zum Lernen von Europa aufforderte: „Sie (die Amerikaner, A. S.) würden Vergleiche anstellen, sie würden zu zweifeln anfangen, ob Amerika denn wirklich in allem ,ahead' ist, sie würden vielleicht mit innerer Beschämung ihre lächerliche Überhebung, ihren albernen Dünkel und ihre furchtbare Unkenntniß fremder Verhältnisse erkennen. ( . . . ) Sie würden vielleicht beschämt, vernichtet auf die Schulbank flüchten, und mit brennendem Eifer anhören, was die alte Lehrmeisterin Europa ihnen zu sagen hat. Sie würden begierig aus dem tausendjährigen Becher der Geschichte lebensalte Weisheit schlürfen - sie würden lernen!"

Hier kehrte sich der „Schock" über den wirtschaftlich-technischen Vorreiter USA um in die Geste des europäischen Kulturlehrmeisters, der ein Lernen von eigenen Maßstäben forderte, wo er umgekehrt vielfach genauso wenig bereit war, eben jenen „Dünkel" abzubauen, der zur gängigen Dichotomie von Vorbild und Negativmodell gehörte. Doch im Hinblick auf ein spezifisches Europabewußtsein ist offenkundig, daß gerade „Kultur" - und gemeint war fast immer im bürgerlichen Sinne historisch gewachsene und traditionelle „Hochkultur" der Literatur, Architektur, der bildenden Künste und der Musik - den Kern eines solchen Bewußtseins ausmachte und ganz explizit und bewußt ins Feld des Kampfes um Vorzüge und Nachteile der beiden Kontinente geführt wurde; sie bildete sozusagen das scharfe Geschütz, mit dem die Wilhelminer immer wieder vermeintliche Unterlegenheiten Europas oder Deutschlands gegen das unterstellte Selbstbewußtsein der Amerikaner verteidigten, wobei sie nur zu oft übersahen, daß gerade viele amerikanische Intellektuelle diesen Kulturvorsprung Europas keineswegs leugneten, sondern im Gegenteil sogar umfangreiche Europareisen unternahmen, um Kunst und Wissenschaft vor Ort kennenlernen zu können.

19 Vgl. z. B. Below, Bilder, S. 14 u. 288f; Klien, Amerikareise, S. 47f u. 114f sowie Gerstenberger, Steinberg, S. 146f. 20 Vgl. z. B. Below, Bilder, S. 86; Lamprecht, Americana, S. 118fu. 143f; Bruncken, Volksseele, S. 163 und Fulda, Eindrücke, S. 16f u. 312f. 21 Vgl. Fulda, Eindrücke, S. 14f. 22 Grzybowski, Land und Leute, S. 213f. Vgl. auch ebda., S. 126ff bzw. 148ff u. 212-217 und Lamprecht, Americana, S. 32f u. 118f.

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Allerdings muß einschränkend auch zugestanden werden, daß sich dieses Europabewußtsein nicht selten auf spezifisch deutsche Überlegenheitsgefühle reduzierte; so wurde immer wieder auf den spezifisch deutschen Kultureinfluß in den USA hingewiesen, sei es durch die Einführung spezifisch „deutscher Tugenden" wie Fleiß, Ausdauer, Ordentlichkeit, Pflichtbewußtsein usw., die die Einwanderer vermeintlich mitbrachten (und damit zugleich vor allem als Projektionsfläche spezifisch bürgerlicher Werte dienten), sei es durch Kunst und vor allem Wissenschaft, deren Einfluß man an den hohen Raten amerikanischer Studenten, die traditionell im 19. Jahrhundert an deutschen Universitäten studiert hatten oder noch studierten, ablesen zu können meinte.23 Vor diesem Hintergrund wurde nicht selten eine Fülle von Ähnlichkeiten zwischen beiden Völkern behauptet, die vor allem deutsche und zugleich bürgerliche Selbststilisierungen vermittelt, etwa wenn „Gründlichkeit", „Begeisterungsfähigkeit", „Rationalität" und ähnliche den Amerikanern zugeschriebene Werte oder nationale Eigenschaften vor allem auf den deutschen Einfluß durch die Einwanderer zurückgeführt wurden.24 Es zeigt sich also, daß innerhalb des Musters eines spezifisch europäischen „Kulturselbstbewußtseins" ein nationaler Kern dominant blieb, der je nach der Dimension des Vergleichs entweder den Vergleich beherrschte oder aber erweitert werden konnte, wenn die nationale Dimension zur mentalen „Selbststabilisierung" angesichts der amerikanischen Herausforderung nicht mehr ausreichte. Dennoch ließ sich kaum übersehen, daß die USA gerade aufgrund ihrer relativen Traditionslosigkeit dazu prädestiniert erschienen, der „Kontinent der Zukunft" zu werden.

3. Die USA als Kontinent der Zukunft Europa und die „amerikanische Gefahr" Immer wieder tauchte implizit wie explizit in den Berichten und Studien über Amerika die Vorstellung auf, daß die USA das Land bzw. der Kontinent der Zukunft 25 seien, in dessen Spiegel vieles von der deutschen und insgesamt europäischen Zukunft vorweggenommen erschien - dies galt besonders für die Berichte, die nach 1900 publiziert wurden, während in den 90er Jahren diese Frage noch weitaus weniger diskutiert worden war. Gerade diese Zukunftsdimension machte die USA nicht nur als Reiseland, sondern generell für Reflexionen und Debatten über die gesellschaftliche und ökonomische wie kulturelle Gegenwart und Zukunft so attraktiv, wobei natürlich, wie wir oben gesehen haben, auf entsprechende

23 Vgl. u. a. Gerstenberger, Steinberg, S. 246ff; Grzybowski, Land und Leute, S. 91ff u. 114-119; Laverrenz, Amerikafahrt, S. 1 lf und Oberländer, Ozean, S. 58, 109ff, 118ff und 130f. 24 Vgl. die vorhergehenden Anmerkungen und besonders Unruh, Amerika, S. 5-11 u. 20f, besonders S. 9, wo es dementsprechend hieß: „Die Gründlichkeit, die der Amerikaner bei aller raschen Lebendigkeit bekundet, die zähe in die kleinen Einzelheiten der Dinge eindringende Ausdauer und die offene, gutmütige, zwanglose Umgangsart des Amerikaners, endlich der Trieb alles rationell zu gestalten, sind wesentlich auf das deutsche Element zurückzuführen, ebenso die Begeisterungsfähigkeit des Amerikaners." 25 Vgl. dazu auch Brenner, Reisen, S. 398ff.

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Stereotypen in der europäischen Literatur und nicht zuletzt auf explizite Vorbilder wie Tocqueville zurückgegriffen wurde. Ludwig Fulda brachte diese Sicht am Ende seines Reiseberichts auf den Punkt, als er schrieb: „Daß dies jüngste und räumlich größte Kulturland der Erde noch nicht fertig ist, darauf beruht gerade der einzigartige Reiz, der verjüngende Zauber, den es auf seine Besucher ausübt. Wer sich andächtig in das Gewesene versenken will, der muß nach dem Orient pilgern; wer das Bestehende in seiner höchsten und feinsten Blüte genießen will, der findet es nur in Europa; Amerika aber ist das gegebene Wanderziel für jeden, den das Werdende lockt. Diesen Anblick kann ihm die Alte Welt nicht bieten, weil in ihr das Gewordene dem Werdenden sich wie eine Festungsmauer entgegenstemmt. Wir hüten ein tausendjähriges Erbteil, worunter so mancherlei Petrefakte sich befinden (...). Dort dagegen ist alles noch flüssig ( . . . ) und läßt sich darum ohne Verzug in beliebige Formen gießen. (...) Nur dort vermag man einem Drama zu folgen, das vorher von der Menschheit noch nicht gespielt wurde." 2 6

Fulda formulierte damit einmal mehr die Distanzerfahrung, die Amerika trotz aller europäischer Wurzeln von der Alten Welt trennte. Für viele Beobachter blieben daher die USA auch ein Land, das im Grunde kaum über den nationalen Vergleich mit einem europäischen Land erschließbar schien und selbst nach europäischen Maßstäben nicht adäquat beurteilt werden konnte, was nicht nur an den räumlichen Dimensionen lag, sondern auch und wesentlich den Zeitfaktor der unterschiedlichen Entwicklungstempi beider Kontinente einschloß. 27 Arthur Holitscher spitzte diese Sichtweise des räumlich wie zeitlich so unterschiedlich dimensionierten Kontinents jenseits des Atlantiks am Ende seines Berichts noch zu, als er von Amerika als „Erfüllung des Menschengeschlechts" sprach, was als Fazit eines insgesamt sehr kritischen Berichts eher verwundert und einmal mehr die für fast alle reflektierenden Berichte charakteristische Ambivalenz der Haltungen gegenüber Amerika sichtbar macht: „Etwas Unerhörtes ist in Amerika laut geworden, mit etwas Ungheurem muß sich der Erdball vertraut machen. Zwischen den Grenzen zweier Meere wächst eine Menschenmasse auf, die Eine Sprache spricht, Einem Gebot gehorcht, Einer Not widerstrebt. (...) Was der zersplitterte, von Wahn und Verbrechen jahrtausendelang zerwühlte Weltteil Europa seinen Völkern angetan hat, das wird jetzt in Amerika gutgemacht, durch das homogene Vorwärtsschreiten einer geeinten Menschenmasse. Unter ihrem Schritte wankt schon die Erde. Keine Entwicklung geht einen geraden Weg, und viele Irrtümer werden noch begangen werden, dort drüben, und überwunden werden. Aber wer das Drängen der neuen Welt in seine eigenen Pulse hinüberschlagen gefühlt hat, der weiß tief innen: Amerika ist das Schicksal und die Erfüllung des Menschengeschlechts." 2 8

Mochte hier auch eine Art diffuses Revolutionspathos den Ton angeben, so ist doch unverkennbar, wie stark die USA als Leitbild der Moderne schlechthin selbst bei Autoren aufgefaßt wurden, die ansonsten dem Modell Amerika eher kritisch und tendenziell ablehnend oder doch zumindest ambivalent gegenüberstanden.

26 Fulda, Eindrücke, S. 312. Vgl. auch ebda., S. 16f sowie Hoffmann, Bilder, S. 96 und Zardetti, Westlich!, S. 8 u. 216ff sowie Neve, Charakterzüge, S. 8f u. 89, der allerdings auch Deutschland als „Land der Zukunft" beurteilte und daher für einen intensiven Austausch beider Länder auf allen Ebenen plädierte. 27 Vgl. u. a. Harjes, Reise, S. 49ff; Adelmann, 62 Tage, S. 202f; Gerstenberger, Steinberg, S. 88f; Schweitzer, Urlaub, S. 28f u. 189f sowie Lettenbaur, Jenseits, S. 33f und Münsterberg, Amerikaner, Bd. 1, S. 5. 28 Holitscher, Amerika heute und morgen, S. 428f. Vgl. u. a. auch Wolzogen, Dichter, S. 250f und Unruh, Amerika, S. 195 sowie für die 90er Jahre Diercks, Kulturbilder, S. 40f.

Die USA als Kontinent der Zukunft - Europa und die „amerikanische Gefahr"

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In jedem Fall erschien jedoch fast allen Beobachtern die Entwicklung in den USA als Vorwegnahme vor allem der ökonomischen und gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven Europas. Zugleich wirkte sie so rapide und tendenziell gefahrlich, daß gegen diese Herausforderung einer denkbaren Amerikanisierung Deutschlands und Europas Antworten und Strategien von deutscher Seite entwickelt werden mußten, die dem entgegenwirken sollten. Diese Strategien gegen die amerikanische Herausforderung bestanden vor allem in Allianz- oder aber Konfrontationsplänen und reichten von rein ökonomischen Maßnahmen gegen die oben schon erwähnte wirtschaftliche „amerikanische Gefahr" 29 über Austauschprojekte und Aufforderungen zum Lernen „im kleinen" bis hin zu Plädoyers für eine Einigung Europas nach amerikanischem Vorbild, die allerdings in vielen Fällen unter deutscher Vorherrschaft erfolgen sollte. Immer wieder tauchte in diesem Kontext die Frage auf, was man von Amerika lernen könne und müsse und welche Entwicklungen zu vermeiden seien, wobei Widersprüche auch innerhalb ein und desselben Berichts keineswegs untypisch waren - Indiz für die ambivalente Erfahrung zwischen Distanz und Nähe, die gedanklich zumeist weder eine totale Abwehr noch eine reine Adaption erlaubte. Charakteristisch war in dieser Hinsicht die Haltung Wilhelm von Polenz', der eine Amerikanisierung Europas (wie auch eine Europäisierung Amerikas) weder für realistisch noch für wünschenswert und sinnvoll hielt und dennoch eine Reihe von Eigenschaften der Amerikaner insbesondere den Deutschen zur Nachahmung oder Ablehnung empfahl, wobei es sich bezeichnenderweise um Kennzeichen handelte, die in der Mentalitätsdebatte als besonders positiv oder aber negativ herausgehoben wurden. Danach sollten die Deutschen vor allem im Bereich des „Praktischen" von den Amerikanern lernen, denn: „Uns aber könnte ein wenig Amerikanisierung gar nichts schaden, wenn sie sich auf das rechte Gebiet beschränkte. Wir können vor allen Dingen im Praktischen viel vom Amerikaner lernen; und zwar nicht etwa bloß durch Nachahmen jener zeitsparenden Einrichtungen, in denen die Yankees groß sind, mehr noch in der ganzen, einfachen, großzügigen Arbeitsmethode, deren geheimnisvolle Kraft auf Konzentration und Organisation beruht. Wir Deutschen müssen den gesunden, von keiner Wissenschaft angekränkelten Menschenverstand anzuwenden wagen, sonst können wir wirtschaftlich mit diesem Volke, dem wir kulturell so unendlich Uberlegen sind, nicht gleichen Schritt halten." 30

Polenz führte hier die mittlerweile bekannte „Arbeitsteilung" zwischen den Kontinenten bzw. Ländern weiter fort und empfahl vor allem den Abbau von Bürokratismus, Sozialneid und Kastengeist - Muster, die uns schon in den ersten Kapiteln immer wieder aufgefallen sind. Zugleich ließen er und mit ihm eine Reihe weiterer Beobachter jedoch keinen Zweifel daran, wie gefährlich eine kulturelle Adaption sich auswirken würde: „Nur darin könnte von Amerika her für die deutsche Zivilisation eine ernste Gefahr drohen, wenn wir amerikanisches Wesen gedankenlos nachahmen wollten. Das würde für die Alte Welt und ganz besonders für Deutschland ein Zurücksinken bedeuten von höherer Kulturstufe auf eine niedere. Amerikanisierung der Kul31 tur hieße Veräußerlichung, Mechanisierung, Entgeistigung.

29 Vgl. z. B. Knebel-Doberitz, Amerikanische Gefahr, S. 81ff, der allerdings diese Überlegenheit der USA relativierte und nur eine partielle Vorbildfunktion anerkannte. 30 Polenz, Land, S. 400. 31 Ebda., S. 402. Vgl. auch ebda., S. Iff und ferner Wolzogen, Dichter, S. 251-254 sowie Bürgers, Kulturbilder, S. 28ff.

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Polenz und mit ihm die meisten Autoren sprachen sich für eine Bewahrung „deutscher Werte" aus, die sie vor allem im Arbeitsideal, in Idealismus, Begeisterungsfähigkeit und „geistiger Tiefe" erblickten und von denen Amerika seinerseits lernen sollte - ein Muster, das schon oben anhand des Kulturvorbilds Europa bzw. der Vorstellung eines besonders positiven deutschen Einflusses in den USA sichtbar geworden ist. 32 Diese deutschen Werte sollten es schließlich auch sein, die Deutschland zur Führungsnation eines nach amerikanischem Vorbild geeinten Europa prädestinieren würden; dieser Gedanke war zwar kaum dominant in deutschen Reiseberichten und Studien vor 1914, aber er taucht doch überraschend häufig als Antwort auf die amerikanische Herausforderung auf. So hoffte beispielsweise Wilhelm von Polenz auf den Zusammenschluß der europäischen Staaten aufgrund amerikanischen (indirekten) Drucks, der schließlich den Weltfrieden garantieren sollte. Dabei ließ er allerdings offen, welcher Nation die Führungsrolle in einem solchen Europa zufallen würde, auch wenn er mit der Aufzählung der dafür erforderlichen Eigenschaften wie „Kraft", „Selbstzucht", „Energie", „Volksgesundheit" usw. sicher an Deutschland dachte bzw. darauf in Zukunft hoffte. 33 Zu solchen Modellen gesellten sich zugleich stark konservative Europavorstellungen, die sich deutlich gegen das demokratische Vorbild Amerika wandten und doch zugleich wesentlich davon beeinflußt waren. So resümierte der Schriftsteller Ernst von Wolzogen: „Es ist höchst wahrscheinlich, daß die Propheten, die uns als nächstes Ziel unserer politischen Entwicklung die Vereinigten Staaten von Europa verheißen, recht behalten werden. Aber alsdann werden die gesunden, stolzen Rassen immer noch ein völkisches Sonderdasein führen und auch ihre Kaiser und Könige pietätvoll konservieren können, wie ihre Eigenart auf allen geistigen Gebieten. Wenn aber diese Vereinigten Staaten von Europa ein vernünftiges, zukunftssicheres Gebilde werden sollten, dann werden sie es den Lehren mit zu verdanken haben, die ihnen das Land der absoluten Gegenwart als untrüglicher Spiegel der Zukunft gegeben hat." 34

Hier zeigt sich, wie ambivalent die Herausforderung Amerikas gedeutet werden konnte und wie stark sich konservative und aus heutiger Sicht progressive Elemente darin mischten, die zugleich die Spannungen zwischen radikalen Modernisierungstendenzen und extrem konservativen Sinndeutungsmustern gerade bei den Eliten spiegeln. An den globalen Dimensionen, die der Gigant jenseits des Atlantiks evozierte, wurden sich die Wilhelminer durchaus auch der Schattenseiten der europäischen Vielfalt bewußt; gerade die Berichte und Studien nach 1900 und besonders kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs reflektierten daher auch die Gefahren, die von einem künftigen europäischen Krieg ausgehen würden - die Einheit der USA wurde so zum Modell einer möglichen Friedensordnung, die liberale Autoren wie der Schriftsteller Ludwig Fulda beschworen, dessen Schlußwort vor dem Hintergrund des kurz danach ausbrechenden Weltkriegs als

32 Vgl. Polenz, Land, S. 4 0 3 ^ 1 3 sowie ζ. B. Wolzogen, Dichter, S. 252ff u. 277ff; Niese, Bilder, S. 9-19; Mancke, Im Fluge, S. 128; Röder, Reisebilder, S. 37ff; Molkte, Nord-Amerika, S. 52f und die Angaben unter Anm.23. 33 Vgl. Polenz, Land, S. 408f. In eine ähnliche Richtung gingen Zukunfstpläne eines ökonomisch vereinigten Europa unter deutscher Vorherrschaft zur Abwehr der amerikanischen Wirtschaftsmacht. Vgl. dazu ζ. B. Knauer, Deutschland, S. 180ff. 34 Wolzogen, Dichter, S. 272.

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prophetische Warnung wirkt, auch wenn er angesichts der allgemeinen Kriegsbegeisterung im August 1914 wie ein Rufer in der Wüste erscheint: ,,Nach jedem großen europäischen Krieg der Zukunft werden auch die Sieger die Besiegten Amerikas sein. Aber sogar in einem andauernden Frieden, zumal in einem derart waffenbeladenen, werden die einzelnen Nationalstaaten für sich allein mit dem höher und höher emporwachsenden Riesen überm Ozean nicht gleichen Schritt halten können. Dazu sind sie zu klein. Um die Vorherrschaft werden, wie einst Stadt mit Stadt, dann Gau mit Gau, dann Land mit Land, künftig nur noch Kontinent mit Kontinent zu ringen haben, und ein zerstückelter muß einem ungeteilten unterliegen. Soll die Alte Welt von der Neuen nicht in den Schatten gestellt, nicht von ihrer Übermacht dermaleinst auch ohne feindlichen Zusammenstoß erdrückt werden, so hat sie nur noch ein einziges Rettungsmittel. Die Hoffnung aber, daß es rechtzeitig angewendet werden wird, scheint heute utopischer als je. Es heißt: Die Vereinigten Staaten von Europa."

4. Die „amerikanische Herausforderung" ein Spiegel europäischer Defizite Wie schon in den vorhergehenden Abschnitten wird auch hier deutlich, wie stark dualistisch bzw. dichotomisch das Denken durch die Konfrontation mit den USA geprägt wurde. Im Zentrum dieses dualistischen Denkens stand die Vorstellung vom ,Alter" Europas im Kontrast zur „Jugend" der USA, die zugleich den Ausgangspunkt für die Gegenüberstellung von europäischer Vielfalt und amerikanischer (kultureller) Monotonie abgab. Es hat sich gezeigt, wie ambivalent die Beurteilung der in dieser Hinsicht relativ einheitlichen Befunde ausfiel. Die USA schienen vor diesem Hintergrund eindeutig besser für die Zukunft einer modernen und industriellen Welt gerüstet, boten aber für den „gebildeten Europäer" damit kaum Anhaltspunkte für eine kulturelle Identifikation. Gerade in der kulturellen Überlegenheit Europas gegenüber einem Amerika, das unter dem Primat von Technik und Wirtschaft nur in Ansätzen eigene Leistungen in den Bereichen der Hochkultur zu entwickeln schien, ließ sich bürgerliches Selbstverständnis angesichts der amerikanischen Herausforderung stabilisieren; wie schon im Kapitel zu den Mentalitäten deutlich geworden ist, bildete damit ein explizites Bekenntnis zur vermeintlich homogenen und „organisch" gewachsenen europäischen Geschichte und Kultur, als deren Träger sich das Bürgertum verstand, ein wichtiges Identifikationspotential in einer sich immer rapider modernisierenden und damit immer „unüberschaubarer" werdenden Wirklichkeit. Dem hatten die USA nur ein schroffes und „unorganisches" Nebeneinander von Wildnis und Zivilisation gegenüberzustellen, so daß dieses „Land der Widersprüche" und Kontraste in dieser Hinsicht kaum als Konkurrenz auftreten konnte. 35 Fulda, Eindrücke, S. 316. Vgl. auch ebda., S. 314f und ζ. B. auch Müller, Leben, S. 89 oder den Bericht des Bankiers Leiffmann, der sich sogar zu einem Gedicht mit dem Titel „An Europa" inspirieren ließ, in dem es u. a. hieß: „Schlafe wohl, du Heimatland/Mit den Nachbarn allen./Wieviel eurer Kinder sind/Schon im Streit gefallen? Von dem hohen Mäste aus/Auf dem weiten Wasser/Seid ihr doch ein einzig Land, Lieber, ihr, und Hasser. Seht, das Band des Ozeans/Hat euch ganz bezwungen, Millionen Jahre lang/Enge schon umschlungen. Kinder, folgt der Mutter nach/Lernet von den Wellen, Die sich wie Geschwister stets/Friedgesinnt gesellen. Und will eine sich/Ob der andern heben/Lange werdet ihr das Bild/Sicher nicht erleben. Länder auch sind jung und alt/So wie meine Wellen./Geht, vergrabet euer Schwert/Lernet euch gesellen." (Leiffmann, Zu den Wundern, S. lOf).

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Dabei gilt es allerdings zwei Einschränkungen zu machen: Zum einen schlug immer wieder ein spezifisch deutsches Kulturbewußtsein durch, das vor allem den Kultureinfluß der deutschen Einwanderer in den USA hervorhob und entsprechend pries. Zum anderen wurde das Europa-Bewußtsein konterkariert durch ein biologistisch-sozialdarwinistisch geprägtes „Rassendenken", das den Gegensatz zwischen „Germanen", „Romanen" und „Slawen" postulierte und damit die kulturelle europäische Identifikation zumindest im Hinblick auf die Gegenwart spaltete bzw. schwächte. Dennoch erzeugte die allgemein konstatierte Herausforderung der USA als „Kontinent der Zukunft" auch Pläne und Ideen eines europäischen Zusammenschlusses, so vage und diffus diese letztlich auch blieben. So sehr sich die Wilhelminer des Vorteils der Vielfalt europäischer Kultur gerade im Vergleich zu den USA bewußt wurden, so offenkundig wurde deren Schattenseite - die starke Zerrissenheit und latent kriegerische Konkurrenz der europäischen Staaten gerade angesichts der Einheitlichkeit der Vereinigten Staaten. Bei aller Distanzerfahrung, die die USA darstellten, zeigt sich doch, wie sehr die Konfrontation mit dem anderen Kontinent als Katalysator einer „Globalisierung" des Denkens wirkte und oftmals rein nationale Maßstäbe überwand. Dies galt allerdings mehr für die Dimensionen als für den Charakter dieser internationalen Vergleiche, wenn man bedenkt, daß diese Bündnisvorstellungen vor allem auf Druck von außen und gegen andere Kontinente entwickelt wurden, so daß trotz einer unverkennbaren Friedenssehnsucht doch das Wettbewerbsdenken prinzipiell nicht überwunden wurde. Die politische und ökonomische Stärke wie die gesellschaftliche und territoriale Einheitlichkeit der USA machten Amerika damit durchaus zum Modell für die Lösung europäischer bzw. deutscher Probleme, wobei erneut das typisch ambivalente Argumentationsmuster fast aller Bewertungen im gesamten Zeitraum wie auch bei fast allen Berufssparten deutlich wird: So sehr „im großen", d. h. im abstrakten Rahmen von Wirtschaft und Gesellschaft die USA als Vorbild empfunden werden konnten, so eindeutig fiel zumeist die Ablehnung „im kleinen" etwa in den Bereichen Familie, Bildung, „Kultur" und Stadtentwicklung aus. Die Wurzeln dieser Ambivalenz sind bereits im Kapitel zu den Amerika-Stereotypen aufgezeigt worden und müssen daher hier nicht mehr näher ausgeführt werden; erinnert sei nur an die bereits um 1800 klassische Dichotomie vom Land ohne Kunst und Kultur auf der einen Seite und andererseits dem Kontinent der Zukunft, wobei wiederum ältere Deutungen und Orientierungsmuster fortgeschrieben wurden. 36 Interessanterweise bestand dieses Muster auch nach dem Ersten Weltkrieg fort und wurde durch diesen eher noch wie durch einen Katalysator verstärkt, nicht jedoch im Kern verändert. Und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg läßt sich noch eine Reihe von Stimmen des kulturkonservativen wie politisch linken Spektrums des Antiamerikanismus finden, die dieses klassische Muster europäischer intellektueller „Selbststabilisierung" weiterführten und propagierten. 37 Damit ist auch darauf hingewiesen, daß dies keineswegs ein

36 Vgl. Brenner, Reisen, S. 330ff u. 398ff bzw. zu Hegel als typischem und einflußreichem Vertreter dieser Sichtweise in Deutschland auch Fraenkel, Amerika, S. 112f. 37 Vgl. u. a. Chester, Europe, S. 127-133; Α. Ν. J. Hollander, Europäisches Kulturbewußtsein, S. 33-52; P. Hollander, Anti-Americanism, S. 378-393 und für das Deutschland der Weimarer Republik auch D. J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt/M. 1987, S. 178-181.

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s p e z i f i s c h deutsches Muster war, sondern daß sich gerade im kontinentalen Vergleich w i c h t i g e Parallelen finden lassen, w o b e i das Negativbild in Frankreich - w i e oben bereits g e z e i g t - o f f e n k u n d i g noch stärker ausgeprägt und besonders unter Intellektuellen d o m i nanter blieb. 3 8 Aber auch andere Beobachter verwiesen immer wieder auf den spannungsreichen und damit so kulturgeladenen Raum europäischer Vielfalt i m Hinblick auf Landschaften, Städte, Institutionen usw., der als Gegensatz zur amerikanischen M o n o t o n i e so deutlich b e w u ß t wurde, s o ζ. B. der hervorragende und viel g e l e s e n e Amerika-Kenner James B r y c e , der dabei z u g l e i c h fast prophetisch das k o m m e n d e Verhängnis Europas vorauszuahnen schien: „Das Vergnügen, das ein Amerikaner bei einer Fahrt über den Atlantischen Ozean empfindet, ein intensiveres Vergnügen als irgendeines, das der Europäer genießt, besteht darin, daß er aus einem Lande glücklicher Eintönigkeit in Gegenden gelangt, wo alles von Erinnerungen an die Vergangenheit duftet und von der Vergangenheit nicht weniger als von der Gegenwart einen Reichtum und eine feine Verwicklung ableitet, welche kein neues Land besitzen kann. Das Leben in Amerika ist in den meisten Beziehungen angenehmer, einfacher, weniger mit Herkömmlichen beschwert als in Europa; es schwimmt in einem Gefühl der Glückseligkeit gleich der eines strahlenden Sommermorgens. Doch das Leben in jedem der großen europäischen Zentren ist einer Intensität, eines Reichtums fähig, der aus vielen Bestandteilen gemischt ist, die in Amerika noch nicht erreicht worden sind. (...) Im welchem Lande immer man in Europa wohnt, fühlt man, daß die anderen Länder nahe sind, daß die Schicksale ihrer Völker mit den Schicksalen des eigenen Landes verknüpft sind, daß Ideen zwischen ihnen hin und her schießen. Das von der Geschichte Tag für Tag über ganz Europa hergestellte Gewebe ist gewaltig und farbenreich. Es ist für jeden Europäer verhängnisvoll. Doch in Amerika ist es bloß der Philosoph, der empfinden kann, daß es schließlich auch für Amerikaner Verhängen nisvoll sein wird." Grundsätzlich erschienen die U S A daher nicht nur den Deutschen, sondern fast allen Europäern als junges, zukünftiges und zugleich kulturloses Land, d e m Europa in Zukunft kaum g e w a c h s e n sein würde, 4 0 wobei vor allem kulturkonservative Autoren aus ästhetischer Perspektive den Verlust an „Schönheit" und „Poesie" der alteuropäischen Kultur durch die wachsende Amerikanisierung im Sinne von zunehmender Wirtschaftsmacht und Naturbeherrschung beklagten; ein typischer Bericht mit diesem Tenor war ζ. B. das AmerikaB u c h des Literaturwissenschaftlers Edouard Rod, der in seinen „Reflets d'Amérique" 1905 bemerkte: „So begriff ich, daß sie (die USA, A. S.) Europa eines Tages unausweichlich verschlingen würden. Unsere bewunderungswürdige Vergangenheit, auf die wir mit Recht stolz sind, ist nur ein Element, das durch die Zeitläufte in diesen ungeheuren Schmelztiegel hineingeschleudert wird, wo das unsichtbare Feuer einer keinerlei Hindernisse kennenden Betriebsamkeit die Zukunft aufkocht. Es wird daraus verändert und kaum mehr erkennbar hervorgehen (...), ja es wird schon bald nur noch in der Form des Souvenirs oder der Reliquie existieren. (...) Ich habe mir während meiner Reise oft gesagt, daß wir ihnen (den Vereinigten Staaten, A. S.) bald folgen und sie nachahmen müssen und daß unser altes Europa, das so lange den Ton angegeben hat, sich eines Tages wird daran gewöhnen müssen, ihnen zu ähneln, weil sie die Stärke

38 Vgl. dazu Fournier-Galloux, Voyageurs, S. 264-271; Grewe, Amerikabild, S. 328-360 und Strauss, Menace, S. 33-42 bzw. für die Zeit zwischen 1870 und 1914 Portes, Une fascination, S. 365-383 sowie allgemein Κ. Pomian: Europa und seine Nationen. Berlin 1990, S. 137f. 39 Bryce, Amerika als Staat und Gesellschaft, Bd. 2, S. 542. Vgl. auch ebda., S. 536-545. 40 So auch die italienischen Beobachter. Vgl. dazu Torielli, Italian Opinion, S. 285-297.

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verkörpern und weil die Stärke das letzte Wort hat - wenn es denn stimmt, daß das Leben dem dynamischen Prinzip folgt." 41

Auch wenn Autoren wie Wells u. a. gegen diese Vorstellung vom jungen Land der Zukunft teilweise anschrieben, konnte doch die allgemeine Verbindlichkeit dieser Sichtweise kaum aufgebrochen werden - und auch Wells, der bezeichnenderweise seinem Amerikabericht den Titel „Die Zukunft in Amerika" gab, konnte sich dieser Sicht nicht entziehen. Diese Perspektive trug daher auch wesentlich zum Distanzgefühl gegenüber den USA bei; das galt gleichermaßen vor allem bei den vor 1914 insgesamt dominierenden kulturkonservativen Autoren aus Deutschland oder Frankreich, aus Italien wie aus England, so daß die USA zumal in französischen und italienischen Berichten fast als „exotisches" Land erschienen, auch wenn man damit eine ganz andere Exotik als etwa die Asiens oder Afrikas meinte. 42 Zugleich versuchten nicht nur deutsche Autoren, diese Distanz durch Analogiebildung mit historischen Vorbildern zu überbrücken, wobei vor allem das Bild vom „neuen Rom" auch bei Briten und Franzosen allgemeine Prägekraft im kontinentalen Kulturvergleich erhielt. Dieses Deutungsmuster erklärt sich nicht nur durch die klassisch-humanistischen und allgemein europäischen bildungsbürgerlichen Erziehungsinhalte, sondern gewann auch an Prägekraft durch amerikanische Selbstbilder und entsprechende Staatssymbole. Der Adler im Wappen, die Bezeichnungen „Kapitol" und „Senat", die klassizistische Architektur der Repräsentationsbauten in den Hauptstädten - allen voran Washington - und eine Fülle weiterer Symbole, mit denen die Beobachter konfrontiert wurden, bestärkten sie in einer historisierenden Deutung, die die USA als politisch-wirtschaftliches Analogon zum antiken Rom und Europa als Pendant zum politische zersplitterten und damit zunehmend machtlosen, wenn auch kulturell dominanten Griechenland stilisierte - erneut Indiz für die Prägung des Blicks durch europäische Bildungstraditionen wie durch die auf den Reisen vermittelten amerikanischen Selbstbilder. 43 So sehr die USA in diesem Analogiedenken also als „Erbe" Europas erschienen und daher die Distanz etwa im Vergleich zu anderen Kontinenten wie Asien geringer erfahren wurde, 44 so offenkundig führte die nun gegen das eigene Herkunftsland Europa gerichtete Offensive dieses „erwachsen" gewordenen Sprößlings europäischer Kultur nicht nur bei den Wilhelminern zu einem erstaunlichen europäischen Gemeinschaftsgefühl, das zwar vage blieb und immer wieder von starkem Nationalismus und Chauvinismus überlagert wurde, sich aber doch in einer

41 Rod, Reflets d'Amérique, S. 95f bzw. 113. Vgl. auch insgesamt ebda., S. 90-115 und u. a. Dugard, La société américaine, S. 304-318; Chevrillon, Etudes anglaises, S. 72-77 sowie Siegfried, Deux mois en Amérique du Nord, S. Iff bzw. 83f und zu den USA als dem dominierenden Land des 20. Jahrhunderts auch Gohier, Le peuple, S. 20-26 und Anadoli, L'empire du travail, S. VlIIff. 42 Vgl. Vann Woodward, Old World, S. 66-72, der Oscar Wildes paradoxes Bonmot dazu zitiert: „The youth of America is their oldest tradition." (S. 68). Vgl. ferner Rapson, Britons, S. 55ff u. 72f sowie für Frankreich den Aufsatz von J. Portes: L'exotisme de la société américaine vu par les Français de la Belle Epoque. In: L'Amérique et l'Europe: Réalités et représentations. Bd. 1, Université de Provence 1985, S. 83-102, bes. 83f u. 96ff und für Italien Torielli, Italian Opinion, S. 264-274. 43 Vgl. auch Vann Woodward, Old World, S. 63f u. 75ff. 44 Vgl. zur Debatte über eine gemeinsame „atlantische Zivilisation" auch T. Schabert: Die Atlantische Zivilisation. Über die Entstehung der einen Welt des Westens. In: P. Haungs (Hg.): Europäisisierung Europas? Baden-Baden 1989, S. 4 1 - 5 4 bzw. 145f.

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Reihe von Berichten vor allem liberaler Autoren besonders in den letzten zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immer deutlicher abzuzeichnen begann. So vermerkte beispielsweise in auffallender Parallelität zu den oben zitierten Äußerungen Ludwig Fuldas der französische Industrielle Lazare Weiller 1904 zur Notwendigkeit einer zukünftigen europäischen Einheit: „So können jene europäischen Denker und Staatsmänner beruhigt sein, die darüber nachdenken, ob die Alte Welt nicht gezwungen sein wird der Neuen Welt zu folgen, will sie nicht von jener überwältigt werden; diese Denker, die an der Wiege des 20. Jahrhunderts jene Idee formulieren, die vielleicht zum Signum der schönsten Errungenschaft dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts werden wird, nämlich die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa". ( . . . ) Deswegen sollten wir uns wünschen, daß die USA auch weiterhin für uns ein solches Modell darstellen, auch wenn sie damit zugleich eine Gefahr für uns werden sollten." 4 5

Allerdings gilt es in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß es sich hierbei in erster Linie um ein kontinentales Muster handelte, während sich britische Autoren zwar kulturell zu Europa gehörig fühlten, europäische Einigungsmodelle jedoch durch die traditionell enge Beziehung zwischen den USA und dem „Mutterland" und durch die Sonderrolle des britischen Empire kaum favorisierten.46 So sehr diese Ansätze im Zeitalter von Imperialismus und Chauvinismus, die gerade auch von den führenden intellektuellen und politischen Eliten der Zeit getragen wurden, Randphänomene blieben, so offenkundig ist dabei doch, daß gerade die Herausforderung durch die neuen Weltmächte Rußland und USA ein wachsendes Bewußtsein für das „gemeinsame Schicksal" Europas erzeugte, das sich dabei zugleich auf Europapläne stützen konnte, wie sie bereits um die Mitte des Jahrhunderts im Umfeld der Revolution von 1848 vorgelegt worden waren, etwa u. a. von Victor Hugo in Frankreich, von Julius Fröbel in Deutschland, von Giuseppe Mazzini in Italien oder Charles Mackay in Großbritannien.47

45 Weiller, Les grandes idées, S. 399f. Ähnlich brachte der viel gelesene Journalist und Reiseschriftsteller Jules Huret das Gefühl europäischer Identität angesichts der amerikanischen Herausforderung (wie auch als Überlegenheitsgefühl gegenüber Asien und Afrika) auf den Punkt, als er 1908 schrieb: „Ein Franzose in Deutschland oder in England oder umgekehrt ein Deutscher oder Engländer in Frankreich fühlen sich dort jeweils recht heimatlos und sind froh, wenn sie einen Landsmann treffen, mit dem sie ihre Sehnsucht teilen können. Aber lassen Sie sich einen Franzosen, Deutschen und Engländer auf der Reise nach New York, Pittsburgh oder Denver treffen und Sie werden sehen, wie sie sich wie Quecksilbertropfen verschmelzen. Das beweist, daß die europäische Kultur nicht nur angesichts der asiatischen oder afrikanischen Barbarei existiert, sondern auch im Hinblick auf die amerikanische Zivilisation." (Huret, En Amérique. Bd. 2, S. 209). Vgl. auch Gohier, Le peuple, S. 27f und insgesamt auch Portes, Une fascination, S. 382f. 46 Siehe dazu die verschiedenen Beiträge in W. Mommsen (Hg.): Der lange Weg nach Europa. Historische Betrachtungen aus gegenwärtiger Sicht. Berlin 1992, so W. Loth: Die Deutschen und das Projekt der europäischen Einigung, S. 39f; F. Bédarida: Frankreich und Europa - von gestern bis heute, S. 1-4; V. Castronovo: Italienischer Europäismus im 20. Jahrhundert, S. 7 1 - 7 8 und für Großbritannien W. Wallace: Die britische Haltung zu Europa, S. 123ff u. 133-137. 47 Vgl. dazu Barraclough, Europa, Amerika und Rußland, S. 297-309; Pomian, Europa und seine Nationen, S. 84-89; P. M. Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, S. 144-189 bzw. zum Rückgriff auf ältere Modelle der Aufklärung in Frankreich und Deutschland S. 12f u. 2 0 - 2 9 sowie G. Schwan: Europa als Dritte Kraft. In: Haungs (Hg.), Europäisierung Europas?, S. 16ff u. 20-25 und umfassend speziell zu Deutschland J. Nurdin: L'idée d'Europe dans la pensée allemande à l'époque bismarckienne. Berne u. a. 1980, S. 127-172.

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Diese Europapläne wandelten sich in Analogie zum oben schon gezeigten Verblassen des liberal-revolutionären Paradigmas und damit auch des politischen Modells Amerika seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; ihre Ausrichtung und Programmatik zielte nun auf die Bildung wirtschaftlicher Großräume, wobei politisch-ökonomische Hegemonieansprüche ζ. B. in Gestalt der deutschen „Mitteleuropa"-Pläne bestimmendes Gewicht erhielten und eher egalitäre und aufklärerische Konzepte zurückdrängten. 48 Zugleich wurde der Europagedanke im Kontext eines immer stärker werdenden biologistischen und sozialdarwinistischen und zugleich nicht selten antisemitischen Denkens durchaus auch bei französischen oder britischen Autoren immer mehr ausgehöhlt, indem „ewige" bzw. unveränderlich gewachsene Gegensätze zwischen den europäischen „Rassen" konstruiert wurden, wobei vor allem eine kulturelle wie politische Unvereinbarkeit von „Angelsachsen", „Romanen", „Germanen" und „Slawen" betont wurde, was auch in der Amerika-Rezeption zum Ausdruck kam. Dies galt, wie wir u. a. an der Abwertung der neuen Einwanderer aus Süd- und Osteuropa bereits gesehen haben, besonders für deutsche wie für französische Autoren, wobei gerade die Franzosen vielfach einer Befürchtung vor einer zu starken „Germanisierung" Amerikas durch die Flut der deutschen Einwanderer Ausdruck gaben. Vor wie auch nach dem Ersten Weltkrieg erschien daher besonders in progressiv-liberalen Kreisen eine Amerikanisierung Frankreichs weniger gefahrlich als eine vermeintliche „Germanisierung", auch wenn hier eher politische als biologistische Argumente im Vordergrund standen. 49 Und selbst Europa-Pläne, die den Nationalismus und Biologismus zu überwinden bestrebt waren, übertrugen nicht selten einfach die nationalen Modelle auf Europa, wofür Friedrich Nietzsches bei deutschen wie europäischen Schriftstellern überaus einflußreiches Konzept vom „guten Europäer" paradigmatisch stand. Hier wurde der Nationalismus keineswegs im Geiste der Aufklärung überwunden, vielmehr sollte das Hegemoniestreben und der Kampf um die (kontinentale) geistige wie politisch-wirtschaftliche Vorherrschaft auf ganz Europa übertragen werden, um Europa nicht in selbstzerstörerischen Kämpfen zu schwächen. 50 Dieser Denkansatz ist auch in den Berichten immer wieder deutlich geworden, auch wenn sich Nietzsche ansonsten durch seinen betonten Antinationalismus scharf von den Zeitgenossen abhob; es bleibt als Fazit jedoch, daß die Europa-Pläne um 1900 erstens vor allem gegen andere Weltmächte entwickelt wurden und zweitens in erster Linie durch Druck von außen zustande kamen und weniger oder nur in Ansätzen durch ein echtes Umdenken evoziert

48 Vgl. dazu P. Theiner: „Mitteleuropa"-Pläne im Wilhelminischen Deutschland. In: H. Berding (Hg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1984, S. 128-148 bzw. zur Herausforderung der USA bes. S. 130f sowie allgemein Pomian, Europa und seine Nationen, S. 207-218. Zu einem spezifisch europäischen Wirtschaftsraum um 1900 vgl. auch H. Nussbaum: Der europäische Wirtschaftsraum. Verflechtung, Angleichung, Diskrepanz. In: F. Klein/K. O. von Aretin (Hg.), Europa um 1900. Texte eines Kolloquiums. Berlin 1989, S. 41-50, bes. S. 43f zur „amerikanischen Gefahr". 49 Siehe dazu Strauss, Menace, S. 48ff und Fournier-Galloux, Voyageurs français, S. 280ff. 50 Vgl. zu Nietzsches Europa-Konzept ausführlich Nurdin, L'idée d'Europe, S. 479-526; Lützeler, Die Schriftsteller, S. 190-204 sowie Schwan, Europa als Dritte Kraft, S. 19f und H. Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen 1964, S. 325-332.

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wurden,51 das den nationalen Wettkampf überwunden und damit vielleicht auch den Ersten Weltkrieg verhindert hätte. Andererseits darf das kulturelle Selbstbewußtsein als „Europäer" bei den intellektuellen Eliten vor 1914 nicht unterschätzt werden. Gerade die Begriffsgeschichte von Schlüsselbegriffen wie „Kultur" und „Zivilisation" erweist für das 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg trotz aller nationalen Ausrichtung ein gemeinsames europäisches Selbstbewußtsein: .„Kultur' und .Zivilisation' bringen im 19. Jahrhundert primär ein - wenngleich national getöntes - europäisches Selbstbewußtsein zum Ausdruck, das Bewußtsein, gemeinsam an der Spitze einer umfassenden weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung zu stehen. Wie man diese Bewegung im einzelnen zu sehen und zu bewerten hatte, war umstritten. Die Zahl derer aber, die Europa einen bevorzugten Platz überhaupt verweigerten, blieb gering." 52 Es waren daher auch nicht nur Schriftsteller wie Heinrich Mann, Stefan Zweig, Romain Rolland oder Adrien Mithouard, die Europa in ihren Schriften immer wieder als den entscheidenden Focus kollektiver wie individueller Identität beschworen,53 sondern auch politische Eliten (wie etwa die sozialistische Internationale) oder Wirtschaftseliten, die bereits vor 1914 einen hohen Grad an internationaler Verflechtung erreicht hatten.54 Man wird daher nicht fehlgehen, gerade in der auch in den Reiseberichten und Studien über Amerika immer wieder sichtbaren Vagheit der Europaideen ein Indiz für die Selbstverständlichkeit eines kulturellen Europabewußtseins zu sehen; auffallend ist dabei, wie konkret und bewußt die Vielfalt der europäischen Kultur als europäische Besonderheit auch mit den Schattenseiten einer massiven Rivalität der europäischen Mächte und einer entsprechend kriegerischen Geschichte ins Bewußtsein drang und darin im Kontrast zu den USA erschien. So hat auch die historische Forschung heute besonders im angelsächsischen Raum immer wieder auf der Suche nach europäischen Besonderheiten auf den „strukturellen Pluralismus" als Basis einer spezifisch europäischen Dynamik hingewiesen. Vor allem die politische Zersplitterung und die Fülle politisch, militärisch, wirtschaftlich und kulturell konkurrierender Zentren und Peripherien in Europa wird dabei als europäisches Spezifikum betont und das Fehlen einer länger andauernde Hegemonie eines Staates oder Reiches als besondere Situation Europas etwa von

51 Zur alten Tradition eines Europabewußtseins, das in erster Linie durch äußerem Druck bzw. gegen andere Kontinente entwickelt wurde, vgl. auch H. Schulze: Die Wiederkehr Europas. Berlin 1990, S. 38ff. Vgl. zum Problem des deutschen Chauvinismus bzw. „Pangermanismus" nach 1871 auch Nurdin, L'idée d'Europe, S. 561-598. 52 Fisch, Zivilisation, Kultur, S. 740.. Vgl. auch ebda., S. 740-745. 53 Vgl. Lützeler, Die Schriftsteller, S. 205-216 bzw. 236ff bzw. allg. zu verbindenden europäischen Mythen und Themen der „Hochkultur" bzw. zur integrierenden Rolle europäischer Hauptstädte wie Paris oder London Pomian, Europa und seine Nationen, S. 126-130. 54 Siehe dazu R. Girault: Chronologie d'une conscience européenne. In: Ders. (Hg.): Identité et conscience européennes au XXe siècle. Paris 1994, S. 171 ff. Vgl. ferner F. Klein: Gesellschaft im Wandel - wohin? Europa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Ders./von Aretin (Hg.), Europa um 1900, S. 24-29 sowie A. Heller: Europa - ein Epilog? In: H. C. Buch (Hg.): Ein Traum von Europa. (Literaturmagazin Sonderband 22). Reinbek 1988, S. 27ff und E. Morin: Europa denken. Frankfurt/M., New York 1988, S. 62ff. Zu den verschiedenen Europa-Konzeptionen der Katholiken, Sozialisten, Pazifisten, Ökonomen etc. speziell in Deutschland nach 1871 vgl. ausführlich Nurdin, L'idée d'Europe, S. 173-440.

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Europa und Amerika - Der Vergleich der Kontinente

asiatischen Großreichen unterschieden. Dazu kommt die in dieser Form spezifisch europäische Herausbildung relativ distinkter und autonomer sozialer Schichten bzw. Klassen sowie einer Vielzahl unterschiedlicher kultureller und funktionaler Eliten (sowie relativ autonomer Städte und eines teilautonomen Rechtssystems) seit der frühen Neuzeit - Faktoren, die die Vielfalt und Heterogenität Europas entscheidend prägten, zugleich aber auch den massiven Konfliktcharakter der europäischen Geschichte bedingten, der durch die verbindende Klammer der christlichen Tradition nur unzureichend eingedämmt werden konnte. 55 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die inzwischen umfangreiche Literatur zu diesem Thema ausführlich vorzustellen. Es sollte lediglich darauf hingewiesen werden, wie mehr oder weniger bewußt europäische Besonderheiten durch die Kontrasterfahrung der USA von den Autoren artikuliert wurden und in ihrem Kern teilweise im Vergleich zur Forschung erstaunlich aktuell wirken, auch wenn sie gedanklich zumeist in Ansätzen steckenblieben. Dieses teilweise deutlich artikulierte, teilweise unterschwellig wirkende Europabewußtsein speiste sich somit aus einem spezifisch europäischen und zugleich bürgerlichen Bildungszusammenhang und zerbrach zusammen mit dieser spezifisch bürgerlichen Kultur im Ersten Weltkrieg, gerade weil sie zu schwach war, das dominante nationalstaatliche Denken zu überwinden. Dabei hatte Amerika ja als „Land der Zukunft" das Modell einer Modernisierung im Sinne von mehr Supranationalität und einer Überwindung nationaler Schranken geliefert, indem es einerseits durch die modernen Sektoren Technik und Wirtschaft hervorstach und andererseits gerade indirekt durch seinen vermeintlichen kulturellen Rückstand die Stärke einer gemeinsamen europäischen Kulturtradition bewußt machte. Doch nur die kritischeren Autoren nahmen die Chance des „doppelten Vorbilds", nämlich einer Rückbesinnung auf die Wurzeln bürgerlich-aufklärerischer Kultur einerseits und auf Amerika als eines politischen und wirtschaftlichen Einheitsmodells für Europa andererseits, wirklich wahr, während die Mehrzahl in nationalistischem bzw. biologistischem Wettkampfdenken gefangen blieb und auf die Herausforderung Amerikas nur mit konflikthaft angelegten Gegenmodellen zu reagieren vermochte. Insofern blieb gerade der Bereich der Kultur für die meisten Autoren zwar europäisch geprägt, aber im Wettkampf der Staaten, Völker und „Rassen" letztlich zu wenig ausschlaggebend, um einen zentralen und verbindlichen Orientierungspunkt moderner Identität abzugeben, zumal der Kulturbegriff in Deutschland schon vor 1914 zunehmend nationalisiert wurde und vor allem im konservativen Denken, das viele

55 Vgl. u. a. S. N. Eisenstadt: Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive. In: Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität, S. 25ff bzw. Ders.: European Civilization in a Comparative Perspective. A Study in the Relations Between Culture and Social Structure. London u. a. 1987, S. 47-52; J. A. Hall: Powers and Liberties. The Causes and Consequences of the Rise of the West. Oxford 1985, S. 133-143; M. Mann: European Development. Approaching a Historical Explanation. In: J. Baechler u. a. (Hg.) Europe and the Rise of Capitalism. Oxford, New York 1988, S. 7-18; P. Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt/M. 1991, S. 48-68 und allgemein auch Morin, Europa denken, passim, bes. S. 28-52, der als Hauptkennzeichen dementsprechend auf intellektueller Ebene das Prinzip der „Dialogik(en)" als Wechselspiel permanenten Austausche und Konflikts und dauernder Infragestellung bestehender „Wahrheiten" als europäisches Spezifikum und Basis der europäischen Dynamik begreift. Vgl. dazu vor allem ebda., S. 74-130.

Die „amerikanische Herausforderung" - ein Spiegel europäischer Defizite

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der hier untersuchten Autoren prägte, immer mehr chauvinsitischen Exklusivitätscharakter annahm - ein Umstand, der allerdings ζ. B. auch für das französische Verständnis von „Zivilisation" in diesem Zeitraum festzustellen ist.56 Damit scheiterte das europäische Kulturbewußtsein bereits vor dem Ersten Weltkrieg, der nicht zuletzt als Ergebnis dieser Abkehr von den gemeinsamen Grundlagen der europäischen Kultur und Aufklärung bei den Eliten der europäischen Länder gedeutet werden kann. Eine Restauration konnte trotz kulturkonservativer Ansätze gerade in der Auseinandersetzung mit Amerika daher nach diesem Krieg kaum mehr gelingen,57 auch wenn angesichts der Katastrophe Europas nun politische Einigungspläne wie der Völkerbund, das Briand-Stresemann-Abkommen oder verschiedenste PanEuropa-Pläne stärker und konkreter als politische Notwendigkeiten in den Vordergrund traten. 58 Das Modell Amerika war allerdings mit dem Krieg keineswegs erledigt worden, im Gegenteil: es spaltete heftiger als zuvor die Lager der Gegner und Befürworter, auch wenn die Argumente im Kern die gleichen blieben.

56 Vgl. dazu und zur ähnlich verlaufenden Begriffsgeschichte in Großbritannien und Italien Fisch, Zivilisation, Kultur, S. 749-769. 57 Siehe zur zunehmenden „Auflösung" des Bürgertums nach 1918 auch H. Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert. In: Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit, S. 288-315. 58 Zu den Europa-Entwürfen verschiedenster politischer Couleur zwischen 1918 und 1945 vgl. u. a. auch Schwan, Europa als Dritte Kraft, S. 25-32.

Schluß

Die Analyse hat eine Fülle sehr unterschiedlicher und ambivalenter Einzelbeobachtungen und Bewertungen, aber auch eine Vielzahl höchst homogener Stereotypen ergeben. Diese Einzelbilder und Stereotypen wie ein Mosaik zusammenzusetzen und dabei Antworten auf die eingangs gestellten Fragen zu finden, soll nun abschließend versucht werden. Eine erste Leitfrage der Untersuchung zielte ganz generell auf das Innovationspotential einer Analyse gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung im Hinblick auf eine Mentalitätsgeschichte der Beobachtergruppe, in unserem Fall des deutschen bzw. europäischen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg. Diese Frage hat gerade deshalb einiges Gewicht, weil Studien über „das Bild" einer fremden oder benachbarten Gesellschaft immer wieder der vielfach durchaus berechtigte Vorwurf der endlosen Wiederholung von Stereotypen und der bloßen Addition von Impressionen ohne analytischen Erkenntnisgewinn gemacht worden ist. War also der Amerika-Diskurs der Deutschen und Europäer nur eine Anhäufung von Klischees und abgeschriebenen Floskeln, die in ihrer Begrenztheit nicht einmal über die Mentalität der Verfasser geschweige denn über die gesellschaftliche Wirklichkeit Amerikas Aufschluß zu geben vermögen? Die Analyse der einzelnen Gesellschaftsbereiche hat insgesamt gezeigt, daß es durchaus solche Berichte voller Klischees und häufig abgeschriebener Stereotype gab. Dominierender ist jedoch der Eindruck einer erstaunlichen Vielfalt der Beobachtungen und einer unerwarteten Ambivalenz der Bewertungen, auch wenn gewisse Grundmuster immer wieder den Ton angaben. Gerade die wichtigsten, am häufigsten aufgelegten und daher auch am meisten rezipierten Amerika-Berichte und -Studien wichen zumeist von den gängigen Stereotypen mehr oder weniger stark ab oder schrieben sogar dezidiert gegen die dominanten Klischees an. Diese Ambivalenz der Beurteilungen bei aller erstaunlichen Ähnlichkeit und Homogenität der Beobachtungen stellt sich denn auch als wichtiges Merkmal der hier untersuchten Muster gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung heraus. Insofern läßt sich als erstes wichtiges Ergebnis festhalten, daß die Analyse gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung nicht in Stereotypen und Klischees aufgehen muß, ja daß bei entsprechend gewandelter Perspektive die existierenden Stereotypen sogar als Schlüssel für zugrundeliegenden Mentalitäten und kulturelle Deutungsmuster benutzt werden können. Ebenso hat sich gezeigt, daß aus Autobiographien destillierte mentale Muster wie „Aggressivität", „Assimilation", „Harmonieorientierung" etc. zwar zunächst heuristisch wirksam sind, letztlich aber angesichts der Komplexität der Wahrnehmungsstrukturen, wie

Schluß

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sie gerade anhand der Erfahrung einer fremden Gesellschaft offenkundig geworden sind, zu eindimensional verlaufen. Wir haben gesehen, wie wenig in diesem Zusammenhang eindeutig von einer „closed mind" der Wilhelminer im Hinblick auf ihre Wahrnehmung und Reflexion über die amerikanische Gesellschaft gesprochen werden kann, so sehr auch in vielen Fällen Stereotypen und Negativklischees den Blick verstellten - damit muß auch die zumeist ohne eingehende Analyse aufgestellte Annahme eines vorwiegend negativen Amerikabildes in der deutschen Öffentlichkeit vor 1914 eindeutig revidiert werden.1 Gegen dieses immer wieder vor allem aus Quellen der fiktionalen Literatur gewonnene Negativbild sind im Laufe der Untersuchung eine ganze Reihe positiver Grundzüge der amerikanischen Gesellschaft deutlich geworden, so ζ. B. die prinzipielle (wenn auch keineswegs immer reale) Überwindung der Klassengesellschaft durch gesteigerte soziale Mobilität und ein allgemein dominierendes Bewußtsein gesellschaftlicher Offenheit bzw. Chancengleichheit, der hohe Stellenwert von „Arbeit" jeglicher Form in Verbindung mit einer gewaltigen Arbeitsenergie bei hochgradiger Praxisorientierung und entsprechender Flexibilität, die in ihren Dimensionen außerordentlichen Leistungen des wirtschaftlich-industriellen Fortschritts und der damit verbundene hohe Lebensstandard des Durchschnittsamerikaners sowie die zwar harten, aber im Kern „unideologischen" und damit das gesellschaftliches Gesamtgefüge nicht in Frage stellenden Arbeitskämpfe. Dazu kamen mentale Prägungen wie Optimismus, „Gemeinsinn" bzw. eine Form „idealistischer" Orientierung am Gemeinwohl, gepaart mit Werten wie Hilfsbereitschaft, Toleranz und Gastfreundschaft auf der Basis einer zwar unspirituellen, dafür aber im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa qualitativ wie quantitativ weitaus stärkeren Religiosität. Diese breite Palette von Beobachtungen mit weitgehend positiver Beurteilung galt naturgemäß nicht für alle Berichte und Studien; die Gewichtungen waren immer wieder höchst unterschiedlich verteilt und es gab eine Fülle von Berichten, die an der amerikanischen Gesellschaft kein gutes Haar ließen. Doch wenn man die Debatte insgesamt betrachtet und bedenkt, wie wichtig die gegen die vielfach ablehnende Grundmeinung anschreibenden Arbeiten wie die von Wilhelm von Polenz, Ludwig Fulda oder Hugo Münsterberg mit ihren hohen bzw. häufigen Auflagen waren, so ergibt sich im Hinblick auf die Beurteilung der amerikanischen Gesellschaft insgesamt ein erstaunlich positives Bild im skizzierten Sinne. Diese positive Sicht entsprach allerdings, wie wir gesehen haben, sozusagen dem „Panoramablick" auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den USA, wobei hier erneut betont werden muß, daß in erster Linie das weiße Amerika der middle und upper class ins Blickfeld der Beobachtungen geriet und Minderheiten oder Unterschichten weitgehend ausgeklammert blieben - wir kommen darauf weiter unten noch zurück. Verengte sich der Blick nun auf konkrete Beobachtungen, wie es vor allem anhand der Bereiche Familie, Bildung und Stadt sichtbar geworden ist, unterlag das Urteil zunehmend Revisionen, die die Schattenseiten der amerikanischen Entwicklung stärker betonten. Zwar fanden sich auch hier Beurteilungsmuster, die den skizzierten Phänomenen auf der „Haben-Seite" des amerikanischen Kontos entsprachen wie ζ. B. die Erziehung der Kinder zu früher Selbständigkeit, der Abbau allzu rigider Geschlechtertrennungen, der ungeheure „Bildungseifer"

1 Vgl. so ζ. B. Markham, Workers, S. 63-76 und Ott, Amerika ist anders, S. 161f.

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und die damit verbundene rapide Expansion sämtlicher Institutionen öffentlicher wie privater Ausbildung sowie nicht zuletzt die kaum mit europäischen Verhältnissen vergleichbaren Dimensionen des amerikanischen Städtebaus mit seinen radikalen architektonischen Innovationen. Aber insgesamt dominierten hier doch Negativurteile, die vor allem auf die vermeintliche Umkehr traditioneller Hierarchien zielten. Solche Negativmuster hatte es natürlich auch in den anderen Gesellschaftsbereichen gegeben - es sei nur kurz an besonders hervorstechende Züge erinnert wie an die verbreitete Korruption aufgrund eines „schwachen" Staates, dem ein starkes loyales Berufsbeamtentum fehlte, ebenso wie an die Auswüchse der Trustbildung in der Wirtschaft, an die Dominanz des Ökonomischen und die damit einhergehende „Mechanisierung des Menschen", an den „Materialismus" in Gestalt von „Dollarjagd" und reinem „Utilitarismus", an den Topos vom Land ohne Geschichte bzw. ohne Kunst und Kultur etc. In all diesen Bereichen hielten sich jedoch zumeist positive wie negative Urteile die Waage, oder es gewannen Bewunderung und Vorbildcharakter partiell sogar die Oberhand. In den unmittelbareren Erfahrungsräumen von Familie, Bildung und Stadt jedoch erfolgte eine vorwiegend negative Reaktion auf Modernisierungsprozesse, die vor dem Hintergrund der historisch rekonstruierbaren Entwicklung stark überinterpretiert wirken und eine mehr oder weniger bewußte Abwehrhaltung deutlich machen, die in erster Linie mit im Ansatz vergleichbaren Entwicklungen in Deutschland zusammenhing - das dabei zugrundeliegende mentale Reaktionsmuster ließe sich nach der skizzierten Analyse als Abwehr oder Angst vor einer Veränderung bzw. vor einer Umkehr traditioneller Hierarchien beschreiben. Diese Angst oder Verdrängung ist sicher am stärksten anhand der Beurteilung von Familienstrukturen und Geschlechterrollen deutlich geworden. Das Schreckbild einer „Herrschaft der Frau", bei der die traditionelle männliche Dominanz in allen Lebensbereichen in Frage gestellt worden wäre, führte zu entsprechenden überinterpretierenden Abwehrhaltungen, die den amerikanischen Ehemann schon als „Sklaven" antizipierten und dabei den tatsächlichen Stand der Frauenemanzipation in Familie, Beruf und Politik auch im Vorreiterland USA deutlich überschätzten. Ähnliches galt, wie wir gesehen haben, auch für die Kindererziehung: Auch hier ließ sich angesichts früher Egalisierung der Eltern-Kinder-Beziehungen die Umkehr der Autoritäten befürchten bzw. in ungeahnte Schreckensdimensionen einer totalen Auflösung der Familie steigern. Dieses Muster tauchte dementsprechend auch im Bildungsbereich anhand einer vermeintlich zu geringen Distanz zwischen Schülern und Lehrern und in zu stark auf egalisierenden Pragmatismus und Utilitarismus gerichteten Bildungszielen der amerikanischen (Hoch-)Schulen wieder auf, wurde hier allerdings abgeschwächt durch die Vorstellung, daß die USA hier eher Nachzügler auf dem Weg zum deutschen Modell seien. Offenkundig wurde es jedoch wieder anhand der Großstadtwahrnehmung, bei der eindeutig der Schock einer extremen Modernisierung deutlich wird, die schon allein optisch die traditionellen Hierarchien als Dominanz von Kirchen- und Staatsgebäuden (bis auf die Ausnahme der charakteristischerweise zumeist sehr positiv beurteilten Hauptstadt Washington) durch die der Verwaltungs-, Büro- und Fabrikgebäude ersetzte und dabei durch die extrem rationelle Anlage der Straßenzüge das Egalitätsprinzip im Straßenbild radikal verwirklichte. In dieser Abwehr von Umkehrungen traditioneller Hierarchien durch den beschleunigten Prozeß wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Modernisierung lassen sich die in der autobiographischen Forschung festgestellten mentalen Prägemuster der Autoritätsfixierung, der

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Aggressivität, der Assimilation und Harmonieorientierung, wie sie einleitend kurz vorgestellt worden sind, durchaus wiederfinden, denn alle diese Muster laufen prinzipiell auf die Bestätigung bzw. auf eine mehr oder weniger rigide Verteidigung bestehender gesellschaftlicher und politischer Hierarchien hinaus. Dennoch hat sich gerade anhand der gesellschaftlichen Fremdwahrnehmung vor allem im Hinblick auf das herausfordernde Egalitätsmodell USA gezeigt, daß dies nur die eine Seite der Medaille ist. Hinter der Verteidigung des Bestehenden auf einer bewußt-ideologischen wie unbewußt-mentalen Ebene stand auf der anderen Seite eine unverkennbare Suche nach „Gemeinschaft" und nach der Durchsetzung genuin bürgerlicher Werte in einer Phase rapiden Wandels in allen Lebensbereichen, die traditionelle Deutungsmuster in Frage stellte und zugleich nach neuen Orientierungen und Sinnstiftungen suchen ließ. Eine solche Sinnstiftung schien in dem Versuch der Bildung von „Gemeinschaft" zu liegen, den die amerikanische Gesellschaft trotz aller moderner Hierarchisierungstendenzen exemplarisch vorführte. Selbst die härtesten und konservativsten Kritiker Amerikas konnten, wie wir gesehen haben, nicht umhin, die USA hier als Vorbild und Modell einer in Klassengegensätzen „zerrissenen" Gesellschaft in Deutschland vorzustellen. Eine solche gesellschaftliche Selbstkritik selbst bei eher liberalen bis konservativen Autoren ging also eindeutig auf die Herausforderung durch die amerikanische Gesellschaft zurück und enthüllt damit ein „Unbehagen in der (eigenen) Kultur", das in Autobiographien und anderen Selbstbeschreibungen entweder gar nicht oder weitaus verdeckter auftauchte. Aber die hier analysierten Quellen gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung haben sich in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive auch im Hinblick auf eine weitere zentrale Fragestellung als aufschlußreich und innovativ erwiesen, nämlich hinsichtlich der Frage von Kontinuität und Wandel bürgerlicher Grundwerte und Dispositionen im Laufe des ^.Jahrhunderts. Gerade die Konfrontation mit der „urbürgerlichen" Gesellschaft Amerikas erweist sich für diese Frage als eine Art Schlüssel. Im positiv bewerteten Modell einer idealiter klassenlosen „Gemeinschaft", das in den USA im Vergleich zu Europa zumindest im Hinblick auf mehr Chancengleichheit und geringere Klassenhierarchien eingelöst worden zu sein schien, spiegelt sich unverkennbar die eingangs skizzierte genuin bürgerliche Werthaltung gesellschaftlicher Gleichheit auf der Grundlage individueller Leistung und damit das Ideal der Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg des einzelnen gegen eine von Geburtsvorrechten bestimmte Welt adliger Herrschaft. Die Wilhelminer waren oder wurden sich angesichts der amerikanischen Erfahrung bewußt, wie stark die deutsche Gesellschaft immer noch vom Adel beherrscht und von traditionellen „Geburtsrechten" dominiert war - ein Umstand, der im Modernisierungswettlauf der Staaten durchaus als negatives Hemmnis ganz im Sinne urbürgerlicher Gesellschaftskritik bewertet wurde. Dies erklärt u. a. die Bewunderung für amerikanische „(Chancen-)Gleichheit" und die (durchaus überschätzte) soziale Mobilität in den USA, die zwar auch mit dem Fortbestehen alter Amerika-Mythen und nicht zuletzt mit dem amerikanischen Selbstbild (erfolgreicher Einwanderer!) zu tun hatte, wesentlich aber auch der Kontinuität bürgerlicher Werte entsprang und deutlich macht, wie mehr oder weniger versteckt alte mentale Prägungen durchaus in Phasen beschleunigten Wandels fortbestanden, auch wenn sie überlagert und in der einen oder anderen Richtung modifiziert wurden. Ein ähnliches „urbürgerliches" Muster wird anhand der Hochschätzung von Arbeit (auch manueller Art) in den USA sichtbar. Wir haben oben bereits angedeutet, daß diese Hochschätzung zum Kanon bürgerlicher Werthaltungen in der offensiven Phase des Bürgertums

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um 1800 gehört und ein zentrales Element darin gebildet hatte. Auch dieses mentale (wie zugleich ideologisierte) Muster individueller wie kollektiver Sinnstiftung ist anhand des USA-Diskurses in seiner Kontinuität sichtbar geworden, wobei die Faszination des SelfmadeMan nur eine Facette unter anderen ausmachte; prägend für dieses Wahrnehmungsmuster war aber vor allem ein in allen Schichten anzutreffender Leistungswille, dessen durchgängig positive Beurteilung bei nahezu allen Autoren außer Frage stand, in Verbindung mit der Realität eines allgemeinen Bewußtseins der Chancengleichheit seine urbürgerliche Faszination entfaltete und in ungebremster Fortschrittseuphorie seinen Ausdruck fand. Eine vergleichbare Aktualisierung in den USA erfuhr der bürgerliche Wert rationaler und methodischer Lebensführung und die für die Formationsphase des Bürgertums ebenfalls konstitutive Anerkennung von Bildung, was anhand der überaus positiven Beurteilung des amerikanischen „Bildungseifers", aber auch im Bereich der Mentalitäten angesichts von „Rationalismus", „Pragmatismus", „Fortschrittsdenken" usw. deutlich geworden ist. In diese Richtung gingen ebenfalls die genuin bürgerliche Wertschätzung von Selbständigkeit (wie sie selbst in den eher skeptisch beurteilten Bereichen von Frauenrolle und Erziehungsmustern positiv aufschien) und die positive Hervorhebung einer aktiven Teilnahme an gemeinschaftlichen Lebensaufgaben, wie sie mentale Dispositionen im Sinne von „common sense" zum Ausdruck brachten. Im Umkehrschluß zeigt sich die Fortdauer des bürgerlichen Wertekanons auch in den entsprechend beurteilten „Schattenseiten" der USA. So fügt sich in dieses Bild ζ. B. das besondere bürgerliche Verhältnis zur Hochkultur ein, an dem sich europäische Überlegenheitsgefühle gerade aufgrund des vermeintlichen Mangels an (Hoch-)Kultur bzw. kultureller Monotonie, Einförmigkeit und Abhängigkeit von Europa oder anhand eines angeblich dominierenden „Materialismus" entzündeten. Ebenso läßt sich anhand des Korruptionsvorwurfs deutlich zeigen, wie „klassische" bildungsbürgerliche (Beamten-) Werte wie Loyalität gegenüber dem Staat und „Gemeinsinn" als Gegenwerte aktualisiert wurden. Und auch die typisch bürgerliche „Innenorientierung" auf das Ausleben der eigenen Gefühle, Gedanken und Stimmungen, wie es beispielhaft im Muster „deutscher Gemütlichkeit" immer wieder beschworen wurde, erweist ihre Kontinuität gerade im Hinweis auf ihr offenkundiges Fehlen in den USA: Radikales Abstinenzlertum, „unspirituelle" Religiosität oder „hektisches" Lebenstempo in den überdimensionierten Großstädten wurden hier als Indizien bezeichnenderweise immer wieder ins Feld geführt. All diese Muster zeigen in ihrer diskursiven Artikulation wie auch in der zugrundeliegenden mentalen Provokation durch die amerikanische Gesellschaft, wie sehr die Gesellschaft der USA trotz ihres tiefgreifenden Wandels am Ende des Jahrhunderts immer noch als Gradmesser für die Frage nach dem Fortbestand von Werthaltungen und Zielsetzungen, die das Bürgertum in Deutschland bzw. Europa ursprünglich geprägt und konstituiert hatten, gelten konnte. Sie sprechen insofern deutlich für eine „lange Dauer" bürgerlicher Grundwerte, die teilweise unbewußt oder in anderen Argumentationsmustern versteckt, teilweise ganz explizit in der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Gesellschaft evoziert wurden. Dies wird auch anhand des genuin bürgerlichen Familienideals sichtbar, das oben bereits detailliert vorgestellt worden ist und hier keiner näheren Erläuterung mehr bedarf. Wie in einem Fokus zeigt sich dabei zugleich, wie diese alten Muster in der radikal veränderten Welt der Hochindustrialisierung sozusagen unter Druck gerieten und deutlichen Modifikationen oder auch radikalen Umkehrungen unterlagen: Das Ideal von der Ergänzung der Geschlechter als

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selbständigen und autonomen Persönlichkeiten und einer darauf ausgerichteten Erziehung der Kinder schien nicht völlig begraben und tauchte immer wieder im Amerika-Diskurs auf, geriet aber in seiner in den USA vermeintlich radikalen Realisierung schließlich doch so stark unter Beschuß, daß es von der Rückkehr zu festen Hierarchien und (männlich bestimmten) Autoritätsmustern überlagert wurde - Indiz dafür, in welchem Maß das Amerikabild als Projektionsfläche deutscher Befindlichkeiten und sozialer Veränderungen der deutschen Gesellschaft in der Phase der Hochindustrialisierung interpretiert werden kann. Die Frage nach dem Wandel der Mentalitäten und Werthaltungen des Bürgertums läßt sich daher keineswegs einfach oder eindimensional beantworten, sondern erweist eine Fülle von Ambivalenzen und Paradoxien: Die Herausforderung der amerikanischen Gesellschaft aktivierte genuin bürgerliche, d. h. egalitär-emanzipatorische Werthaltungen ebenso wie Abwehrhaltungen gegen eine zunehmenden Abbau von Hierarchien und provozierte nicht selten einen Rückzug auf das Denken in vermeintlich natürlichen und daher „ewigen" sozialen wie auch „rassischen" Unterschieden. Amerika schien einerseits modellhaft die Verbürgerlichung breiter sozialer Schichten verwirklicht und damit wichtige Elemente der bürgerlichen Utopie (wie sie noch in den Anfängen der 1848er Revolution im deutschen Bürgertum vorbildgebend gewesen war) eingelöst zu haben, andererseits wirkte diese eingelöste Utopie in ihrer Realisierung nun zu radikal und tendenziell bedrohlich für die eigene gesellschaftliche Position. Welches Modernisierungsmodell für die eigene Gesellschaft leiteten die Wilhelminer nun aus dieser Konfrontation mit der amerikanischen Gesellschaft ab? Faßt man die geschilderten Beobachtungs- und Bewertungsmuster modellartig zusammen, so ergibt sich wie in einer Graphik zwischen den bürgerlichen ,Achsen" von Kontrolle bzw. Hierarchie einerseits und Emanzipation bzw. Egalität andererseits eine Art Koordinatennetz der Vorzüge und Fehlentwicklungen in den beiden Ländern, das das Modernisierungsideal der meisten Beobachter verdeutlicht und das man als partielle, staatlich gelenkte, reformatorische Modernisierung bezeichnen könnte: Die Vorzüge der USA bestanden in diesem dichotomischen Modell vor allem im Abbau sozialer Privilegien und traditioneller, die Entwicklung hemmender Standesschranken mit der Chance zu sozialem Aufstieg nach Maßgabe individueller Leistung; manifest wurde dies in sozial stark erweiterten Bildungschancen, in sozialem „Common sense", in einer frühen Erziehung zu Selbständigkeit usw. Dieser Sicht entsprach die Kritik an deutschen Verhältnissen, die durch zu starke gesellschaftliche Brüche, durch Standesdenken, sozialen Dünkel und durch fehlenden Gemeinsinn geprägt zu sein schienen, so daß auch wirtschaftliche Produktivität und ökonomische (wie national-militärische) Entwicklungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb behindert und sogar gefährdet erschienen. Umgekehrt lagen die Vorzüge Deutschlands klar auf der Hand: Ein starker Staat ermöglichte eine „objektive" Lenkung aller Gesellschaftsbereiche im Sinne einer „geregelten Modernisierung", die „natürliche" Hierarchien bewahrte und lediglich traditionelle Überhänge reformatorisch erneuerte, wogegen in den USA der durch die Demokratie geschwächte Staat die Modernisierung kaum zu lenken vermochte und diese daher gerade durch die außerordentlichen Dimensionen der Entwicklung außer Kontrolle zu geraten drohte, was sich im Umkippen der ursprünglich „idealen" Gesellschaftsform u. a. in Trustbildung, „Dollarjagd" und schrankenlosen „Materialismus" bzw. Egoismus zu dokumentieren schien. So sehr also Klassen- und Standesschranken als Traditionsballast abgebaut

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werden sollten, so wichtig erschien andererseits der Erhalt vermeintlich „natürlicher" Hierarchien, die auf die Unterschiede individueller Leistungsfähigkeit bzw. „ewiger" Geschlechterunterschiede zurückgingen. Die Schwerpunkte in diesem Argumentationsnetz wurden dabei je nach der grundsätzlichen politischen Ausrichtung entsprechend verschoben, wobei deutlich wird, daß die professionellen Unterschiede im Hinblick auf Wahrnehmungs- und Urteilsmuster deutlich geringer als die politischen Prägungen veranschlagt werden müssen, auch wenn es gewisse Schwerpunktbildungen innerhalb der Debatte nach Berufen gab, die jedoch eher thematischer als mentaler oder ideologischer Natur waren. Anzumerken ist dabei auch, daß das zeitliche Profil der Berichte und Studien kaum signifikante Veränderungen auf der semantischen Ebene bewirkte, auch wenn insgesamt eine Intensivierung der Debatte nach 1900 festgestellt werden kann. Betrachtet man daher nun das im Kern politisch-ideologische Profil genauer, so zeigt sich, daß die Mehrzahl der („impressionistischen") Reiseberichte zu konservativen Positionen tendierte, die die Kritik an den USA stärker betonten und Deutschland demgegenüber „auf dem richtigen Weg" wähnten. Mit der Verschiebung zu stärker liberal-progressiven Positionen nahm naturgemäß die Vorbildfunktion der USA zu, wobei noch einmal unterstrichen werden muß, daß die meisten wichtigen und am häufigsten gelesenen Autoren wie Wilhelm von Polenz, Ludwig Fulda, Hugo Münsterberg, Ludwig Max Goldberger u. a. in dieses Lager gehörten und mit ihren differenzierenderen Studien bzw. landeskundlichen Reiseberichten den insgesamt erstaunlich positiven Grundtenor prägten. Erst im dezidiert linken Lager, das hier eine Minderheit um Autoren wie Arthur Holitscher, Werner Sombart oder Carl Legien bildete, sank die Sympathie für die USA wieder ab, wobei allerdings die Argumentation umgekehrt wurde und Amerika als Modell für Veränderungen nicht auszureichen schien, zumal es seine revolutionären Ansätze vermeintlich aufgegeben hatte und daher als „Inbegriff des Kapitalismus" in der Gegenwart eher zum Negativmuster für die erhofften Wandlungen in Deutschland avancierte. Es zeigt sich also, daß unter politischen Gesichtspunkten Amerika vor allem ein Modell der Liberalen blieb, deren urbürgerliche Werte und Ideale durch die Konfrontation mit den USA durchaus neu artikuliert wurden, wobei zugleich der Wandel dieser Werte gerade anhand des amerikanischen Modells offenkundig geworden ist. Die Beschleunigung des Modernisierungsprozesses in Deutschland, die das Bürgertum immer schneller und gravierender in die soziale wie politische Defensive gegenüber einem immer noch im internationalen Vergleich außerordentlich starken Adel und einer immer stärker werdenden Arbeiterschaft drängte, machte das Bild einer wie auch immer verklärten Gesellschaft als Gemeinschaft so attraktiv, ließ jedoch unter dem Blickwinkel der europäischen Traditionen nach der zentralen Lenkung durch übergeordnete (staatliche) Steuerungsmechanismen suchen, was zugleich die Abkehr vom traditionellen liberalen Dogma des „Laisser-faire" deutlich macht und generell dem Wandel des deutschen Liberalismus im späten Kaiserreich hin zu „starkem Staat" und ausgeprägtem Nationalismus korrespondiert. Die USA mochten daher noch für Kurskorrekturen in Deutschland bzw. Europa durchaus vorbildgebend wirken, doch das genuin liberale Modell des „freien Spiels der Kräfte" ohne starke staatliche Hand, wie es in Amerika verwirklicht erschien, hatte angesichts des immer stärker werdenden Modernisierungssturms auf die Festung bürgerlicher Privilegien und führender Positio-

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nen innerhalb fester Hierarchien in der traditionellen Form ausgespielt. Die amerikanische Herausforderung blieb bestehen, an Details ließ sich lernen (so u. a. etwa im ökonomischen Bereich von einem produktiven Pragmatismus oder im gesellschaftlichen Raum von einer Entwicklung hin zu mehr „common sense"), doch mußte der Weg in die Moderne letztlich ein „deutscher Weg" sein, darin waren sich fast alle Autoren einig. Das galt um so mehr, als sich für die Mehrzahl der Autoren auch die gelegentlich schon beschworene (ökonomische) „amerikanische Gefahr" in Zukunft nur durch diesen mit den Grundlagen deutscher Traditionen und „Charaktereigenschaften" in Einklang gebrachten „deutschen Weg" in die Moderne würde abwenden lassen. Die USA waren damit keineswegs ein eindeutiges Vorbild für die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands, wie sie ebenso keineswegs immer mit „Moderne" gleichzusetzen waren, wie wir etwa anhand des Bildungssektors, aber auch in anderen Bereichen von Kultur (und Politik) gesehen haben. Eine Amerikanisierung Deutschlands oder ganz Europas fand daher in den Augen der meisten deutschen Beobachter nur bedingt statt und wurde auch für die Zukunft nur in sehr begrenztem Rahmen für möglich gehalten; sie wurde in erster Linie an Egalisierungstendenzen und vor allem an der Entwicklung der technisch-industriellen Moderne, wo Amerika wohl am unbestrittensten „das Land der Zukunft" verkörperte, festgemacht und - wie wir gesehen haben - sogar in einem gewissen Grad gewünscht. Umgekehrt ließen sich aber scheinbar auch Tendenzen einer Europäisierung Amerikas ausmachen, so etwa die wachsende soziale Hierarchisierung der Gesellschaft besonders an der Ostküste und in den Großstädten oder das .Aufholen" in den Bereichen von Bildung und Kultur. Eine Konvergenz der Industriegesellschaften beider Kontinente ließ sich also durchaus konstatieren, doch deren Gewicht blieb letztlich auf Teilbereiche beschränkt und vermochte nicht die Grunderfahrung des „ganz anderen" in Amerika zu überdecken, wobei die Distanz zum „Modell USA" dabei vor allem auch auf zwei miteinander eng verwobenen Argumentationsebenen beruhte, die man die „sachliche" und die „voluntaristische" nennen könnte. Vor dem Hintergrund eines allgemein im Bürgertum verbreiteten Denkens in historistischen und idealistischen Argumentationsmustern schienen auf der sachlichen Ebene die stark unterschiedlichen historischen und ideellen Prägungen der Kontinente, wie wir gesehen haben, kaum eine rasche Annäherung wahrscheinlich zu machen. Auf der „voluntaristischen" Ebene ist deutlich geworden, wie wenig die USA aufgrund der geschilderten Schattenseiten zum Vorbild avancieren konnten, wobei selbst die positiven und vorbildhaften Züge bezeichnenderweise bei der Mehrheit als zu spezifisch amerikanisch und daher kaum auf europäische Verhältnisse übertragbar gewertet wurden - beide Ebenen hingen also in der Argumentation eng miteinander zusammen, denn eine Übertragbarkeit kam ja gerade deshalb nicht in Frage, weil ein mental angelegtes wie diskursiv explizites Denken in (historisierenden) Dichotomien bzw. Determinismen die Unterschiede beider Kontinente ins Zentrum rückte; vor diesem Hintergrund erschien eine Veränderbarkeit des Bestehenden in jedem Falle problematisch, wenn nicht (zumindest im großen) gar unmöglich - ein Umstand, der sich erst nach dem Ersten Weltkrieg durch den Aufstieg der USA zur Weltmacht und angesichts der Krise Europas durch die Radikalisierung der Positionen im Amerikadiskurs verschob. Auch wenn die Beobachtungen wie auch die Argumente und Beurteilungen nach 1918 im Kern die gleichen blieben und auch in ihrer politischen Verteilung eine offenkundige Dauer aufwiesen, brachte nicht zuletzt der massive militärische wie ökonomische Eingriff der USA in

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Europa eine Verschärfung der Amerikanisierungs-Debatte mit sich, wobei interessanterweise anzumerken ist, daß angesichts der europäischen Krise nun kaum mehr von der Europäisierung Amerikas die Rede war, sondern die Debatte vor dem Hintergrund der neuen Macht Amerikas fast nur noch um eine direkte Abwehr oder Annahme amerikanischer Modelle für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland kreiste. War die Debatte um Amerikanisierung oder Europäisierung der Kontinente, die auch ein Reflex auf die im Kern vergleichbaren Entwicklungen der modernen Industriegesellschaften im Zeichen der kapitalistischen Hochindustrialisierung war, vor 1914 noch Ausdruck europäischen Selbstbewußtseins gewesen, so stand das Gefühl europäischer Unterlegenheit nach 1918 im Vordergrund und polarisierte die Meinungen entsprechend einer Situation, in der Europa und besonders Deutschland angesichts eines übermächtig gewordenen „europäischen Ablegers" von einst ökonomisch sozusagen „mit dem Rücken zur Wand" stand. Daß dabei im Kern die alten Argumente nur radikalisiert, aber nicht wirklich modifiziert wurden, 2 erstaunt zunächst, gewinnt aber an Plausibilität, wenn man bedenkt, daß erstens die Wortführer der Debatte auch nach 1918 sozial wie politisch praktisch die gleichen blieben und zweitens die „lange Dauer" von Urteilsmustern bereits mehrfach deutlich geworden ist. Daß allerdings überhaupt von Europäisierung (und nicht etwa von „Germanisierung" oder „Romanisierung") gesprochen wurde, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen fiel hier das für die europäische Wahrnehmung nicht unerhebliche amerikanische Selbstbild ins Gewicht, wobei immer wieder auch in der heutigen Forschung herausgestrichen worden ist, wie sehr sich die amerikanische Gesellschaft von Anfang an vor allem gegen Europa und die dortigen sozialen und politischen „Mißstände" definiert und abgegrenzt hatte. Diese antieuropäische Haltung, die bei allem kulturellen Vorbildcharakter Europas immer wieder auch den reisenden Deutschen bzw. Europäern zu Bewußtsein kam oder gebracht wurde, hatte nicht unerheblichen Anteil an der mentalen wie explizit ideologischen Polarisierung des Bewußtseins, die damit eher kontinentalen als nationalen Maßstäben folgte. Wichtiger war aber zweitens ein zugrundeliegendes Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster, das eindeutig auf das Bestehen eines ausgeprägten Europabewußtseins vor allem im kulturellen Bereich verweist. Es ist jenseits des direkten kontinentalen Vergleichs in den einzelnen Kapiteln schon deutlich geworden, in welchem Maße immer wieder explizit mit Europa insgesamt und nicht nur mit Deutschland verglichen wurde; wir haben das vor allem anhand der Beobachtungen zur Gesellschaft und Wirtschaft allgemein, zu den Mentalitäten, zur Familie und den Geschlechterrollen sowie zum Städtebau beobachten können. Nur im gesellschaftlichen Sektor der Bildung wurde diese europäische Vergleichsebene mehr oder weniger stark durch die nationale überlagert oder zurückgedrängt. Ganz deutlich aber wurde dieses europäische Gemeinschaftsbewußtsein auf der diskursiven Ebene anhand der Urteile zur Kultur im allgemeinen, auch wenn einschränkend dabei immer wieder „Rückfälle" in nationalistische oder rassistische Denkmuster festgestellt werden müssen. Dennoch: Kein anderer Kontinent provozierte vor 1914 ein solches kulturelles Gemeinschaftsgefühl bei den europäischen Eliten wie die USA!

2 Entsprechend stellt Ott eine erstaunliche Kontinuität der Ambivalenz des Amerikabildes bzw. der Pro- und Contra-Argumente im deutschen Amerika-Diskurs bis in die Zeit nach 1945 fest. Vgl. Ott, Amerika ist anders, S. 4 4 2 ^ 5 1 .

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Dieser Umstand verweist zugleich auf eine fünfte zentrale Fragestellung, die den europäischen Vergleich jenseits der expliziten Diskursebene betrifft: War der deutsche Blick so spezifisch oder fügen sich die Beobachtungs- und Beurteilungsmuster nicht eher zu einem im Kern europäischen Muster, das zugleich Aufschluß über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bürgerlicher Kultur in den hochindustrialisierten Ländern Europas vor dem Ersten Weltkrieg geben könnte? Für diese Frage hat sich die Methode des diachronen und synchronen Vergleichens als außerordentlich fruchtbar erwiesen, denn sie hat sichtbar werden lassen, wie ähnlich die Beobachtungen und Urteilsmuster gerade auch in ihrer politischen Streuung bei Briten, Franzosen und in gewissem Grad auch bei den Italienern ausfielen und damit auf ein gemeinsames Grundmuster bürgerlicher Kultur in den hochindustrialisierten Teilen (West-)Europas vor 1914 verweisen, das sich sehr viel deutlicher von dem der jeweils nationalen Arbeiterkulturen unterschied als im internationalen Vergleich. Die vergleichende Analyse von gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung hat sich insofern - und das wäre als weiteres wichtiges Innovationspotential der Analyse des zeitgenössischen Gesellschafts- und Zivilisationsvergleichs als einer Quelle für Mentalitäts- und Kulturgeschichte zu nennen - als fruchtbare Möglichkeit erwiesen, Merkmale bürgerlicher Kultur im internationalen Maßstab genauer zu beleuchten und damit über den rein nationalen Rahmen hinauszuweisen. Gerade die Kultur des Bürgertums ist dabei sozialhistorisch (und nicht nur als literatur- bzw. kunsthistorisches Beziehungsgeflecht) erst in Ansätzen erforscht worden, so daß die anhand des Amerikabildes festgestellten Gemeinsamkeiten der Urteilsmuster und Werthaltungen angesichts des fast identischen Sozialprofils der Reisenden und Amerikaautoren in allen untersuchten Ländern hier einen Baustein unter anderen im Mosaik bürgerlicher Kultur im 19.Jahrhundert zu bilden vermag. Diese kulturell-mentalen Gemeinsamkeiten von Deutschen, Briten und Franzosen (bzw. Italienern) haben sich anhand der Beurteilung aller gesellschaftlichen Phänomene in den USA in verblüffend ähnlicher Weise gezeigt: Erinnert sei nur u. a. an die grundsätzlich positive Beurteilung der amerikanischen Gleichheit und sozialen Mobilität als spezifischer Bewußtseinshaltung, an die Bewunderung der industriell-technischen Fortschrittsleistungen, an die Hochschätzung der immer noch fortbestehenden amerikanischen Werte, „Tugenden" und Mentalitäten, aber auch an die gemeinsame Ablehnung der zu starken Abkehr von traditionellen Hierarchien im Bereich von Familie, Erziehung und Bildung, an die Verurteilung von „Materialismus" und „Dollarjagd", an die Auswirkungen von Trustbildung und politischer Korruption im Zeichen eines schrankenlosen Liberalismus bzw. deren greifbarer Folgen angesichts des Städtebaus. Diese Einheitlichkeit wirkt dabei vor allem angesichts der massiven Unterschiede in der sozialen wie politischen Struktur der bürgerlichen Sozialmilieus in den einzelnen Ländern vor 1914 besonders eindrucksvoll und relativiert deutlich die These eines kulturellen „deutschen Sonderwegs". Auch für Briten und Franzosen (sowie Italiener), so ließe sich resümieren, war der radikalisierte bzw. „ungesteuerte" Weg der USA in die Moderne kaum mit den Traditionen der eigenen Gesellschaft vereinbar und damit auch als Modell insgesamt nicht akzeptabel, auch wenn die Steuerungsvorstellungen und -konzepte anders ausfielen als in Deutschland und weniger den „starken Staat" favorisierten; auch für die Westeuropäer beschränkte sich also die Modellfunktion Amerikas angesichts der immer noch fundamentalen Distanz und Fremdheit der USA nur auf Detailbereiche.

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Allerdings dürfen trotz der eindeutigen Dominanz der Gemeinsamkeiten auch die nationalen Unterschiede in den mentalen Dispositionen, Werthaltungen und den sich darin manifestierenden Urteilsmustern nicht unterschlagen werden, die deutlich unterschiedliche spezifisch nationale Prägungen der bürgerlichen Gruppen spiegeln. Als deutsche Besonderheit läßt sich dabei - wir haben es oben schon gesehen - vor allem neben einer besonderen Sensibilität für die Naturverwüstungen in den USA oder für die Probleme des Städtebaus die besondere Orientierung an der Rolle des Staates im Diskurs wie auf der mentalen Ebene als „Staatsfixiertheit" und tendenzielle Ablehnung der Demokratie als Staatsform festmachen. Im Unterschied dazu hat sich bei den französischen Reisenden ein ganz besonderes Kulturverständnis herausgestellt, das nicht nur die Ebene der Alltagskultur - also etwa Umgangsformen, Trink- und Eßgewohnheiten, Mode usw., sondern auch die der Hochkultur - manifest in Musik, Malerei, Architektur oder Literatur - umfaßte. Immer wieder lehnten vor allem Franzosen anders als die deutschen Beobachter das „amerikanische Modell" weniger aufgrund des zu liberalen Staates oder gar aufgrund der demokratischen Verfassung ab, sondern führten in fast allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft, Mentalitäten, Bildung, Familie und Stadt immer wieder den „Mangel an Kultur" in den USA ins Feld, auch wenn umgekehrt die Leistungen im amerikanischen Bildungssystem besonders intensiv erkundet und teilweise als direktes Vorbild für die französischen Bildungsreformen positiv bewertet wurden. Dennoch: Wie nirgendwo sonst in Europa erschienen die USA hier vor allem als ,,Land ohne Kunst und Kultur" bzw. als bloßer Imitator europäischer Leistungen - der entscheidende Grund, warum sich die überwiegende Mehrzahl der Franzosen eine Existenz in den USA kaum als wünschenswert denken konnte, auch wenn dieses Land in seiner Jugend und Expansionskraft in mancherlei Erscheinung „exotisch" wirken mochte. Als britische Besonderheit wiederum läßt sich im Vergleich zu Franzosen und Deutschen ein deutlich weniger entwickeltes explizites Europabewußtsein feststellen. Auch wenn britische Autoren immer wieder einzelne Phänomene bzw. gesellschaftliche Strukturen mit denen in ganz Europa verglichen, hat sich doch auf der kontinentalen Vergleichsebene deutlich gezeigt, wie stark das insulare, vom „Kontinent" mental abgetrennte Sonderbewußtsein und vor allem die enge Bindung des ehemaligen Mutterlandes an die frühere Kolonie das Amerikabild in eine abweichende Richtung lenkten. Diese britische Sonderhaltung im Sinne der bekannten „splendid isolation" zeigt sich dabei u. a. auch daran, daß bei britischen Autoren fast nirgendwo der Gedanke einer europäischen Einigung nach amerikanischem Vorbild angesichts tiefgreifender europäischer Rivalitäten anzutreffen war, wo ihn progressive französische und deutsche Autoren zumindest in Ansätzen entwickelten. Dennoch fällt auf, wie stark insgesamt der Blick der europäischen Besucher durch die Determinanten einer spezifisch bürgerlichen Kultur im oben skizzierten Sinne bestimmt wurde, so daß sich die Frage stellt, ob wir es deshalb allein mit einer „bürgerlichen Karikatur" der amerikanischen Wirklichkeit zu tun haben. Der aus diesem Grund notwendige Vergleich mit den Forschungen zur sozialhistorischen Wirklichkeit der USA hat entgegen der Erwartung einer reinen Addition von Klischees dabei gezeigt, daß unabhängig von der Einflußnahme europäischer Determinanten das Amerikabild in vielen Facetten überraschend realistische Züge trug und keineswegs dem Karikaturbild entsprach, das in der Forschung oft entworfen worden ist, so daß es schien, als sei nach Tocqueville eigentlich kaum ein Bericht aus europäischer Feder noch für die historische

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Erfassung der Realität in den USA relevant gewesen. So erstaunlich „realistisch" das Bild der Wilhelminer bzw. Europäer auch ausfiel, es lassen sich doch Gründe dafür angeben: Wir haben gesehen, daß die Autoren fast alle aus Bereichen des Bildungsbürgertums stammten bzw. ein Studium absolviert hatten, mithin über rationale Kategorien zur Einordnung zunächst fremder Realitäten verfügten, die eine mehr oder minder systematische Auseinandersetzung mit dem Erlebten ermöglichte, so schief und durch eigene mentale Denkkategorien „verzerrt" die Einordnung dann auch letztlich ausfiel. Dabei gilt es in diesem Zusammenhang allerdings zwei wichtige Einschränkungen zu berücksichtigen: Zum einen beschränkt sich dieser im Vergleich zur Forschung durchaus feststellbare Realitätsgehalt zumeist auf die reine Beobachtungs- und nicht auf die Beurteilungsebene, wobei auch hier einschränkend auf einige Irrtümer hingewiesen werden muß, die nicht zuletzt auf amerikanische Selbstbilder und klassische europäische Mythen über die „große Alternative" Amerika zurückgingen - die Überschätzung der sozialen Mobilität wie auch des technisch-industriellen Fortschritts, aber auch des Ausmaßes der politischen Korruption in den USA gehörten ζ. B. dazu. Wichtiger noch erscheint jedoch zweitens die Tatsache, daß insgesamt vor allem die vergleichbare Schicht der (weißen) middle und upper class in den Blick geriet und gesellschaftliche Randbereiche wie die Slums in den Großstädten, die Minderheiten der Schwarzen und Indianer und generell bis auf wenige Ausnahmen die Unterschichten weitgehend außerhalb der Wahrnehmung standen oder ohne direkte Erfahrung pauschal abgewertet wurden - Indiz für einen deutlich sozial selektiven Blick der europäischen Reisenden, der gerade darin allerdings erneut das Bestehen eines spezifisch europäischen gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und kulturellen Bewertungsmusters erweist und sozusagen den „blinden Reck" des bürgerlichen Blicks als Form der Verdrängung gesellschaftlicher Grundkonflikte verdeutlicht. Dabei ist festzuhalten, daß dieser blinde Fleck bis auf die genannte Kritik an zu starken Klassengegensätzen auch für die Sicht der eigenen deutschen (und analog der französischen und britischen) Gesellschaft galt; in den Berichten wie Studien wurde Kritik vielfach von einem Wunschdenken ganz im Sinne der geschilderten „Harmonieorientierung" überlagert, so daß die Projektion sozialer Harmonie nicht selten die sozialen Probleme einfach ausklammerte oder aber eine Lösbarkeit dieser Probleme durch staatliche Steuerung im Sinne von „Fortschritt" suggerierte. Bezeichnend für diesen selektiven Blick auf die amerikanische Gesellschaft aus bürgerlicher Perspektive war daher auch, daß nach dem Ersten Weltkrieg trotz der angedeuteten Fortdauer der meisten Beobachtungs- und Bewertungsmuster die Erschütterung des sozialen Gefüges in Europa doch zunehmend unübersehbar wurde und „die Massen" der sozialen Unter- oder Randschichten nun im Gefolge der geschilderten stärkeren Aufmerksamkeit für soziale Probleme mehr Beachtung fanden - eine Tendenz, die sich mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 deutlich verstärkte. Es läßt sich daher abschließend festhalten, daß nicht nur die Wilhelminer, sondern gleichermaßen die bürgerlichen Eliten anderer hochindustrialisierter und territorial expandierender Länder Europas wie Frankreich und Großbritannien in den USA ein Modell der Modernisierung erblickten, das bis auf wenige Ausnahmen (wie im Bildungsbereich, wo die USA eindeutig als Aufholer auf europäische Standards gelten konnten) vor allem in den Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft (weniger im Bereich von Politik und Kultur) die zukünftige Entwicklung der Industriestaaten in Europa vorwegzunehmen schien. Doch fast alle Europäer, die vor 1914 nach den USA reisten bzw. über dieses Land schrieben, ließen keinen Zweifel

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daran, daß gerade aufgrund der Modellhaftigkeit der Entwicklung in Amerika eine massive Regulation des Modernisierungsprozesses nach genuin europäischen Maßstäben notwendig wurde. Eher konservative Autoren erblickten daher auch in Frankreich oder Großbritannien darin vor allem die Notwendigkeit, an den alten Hierarchien unbedingt festzuhalten und den nationalen Weg in die Moderne politisch wie wirtschaftlich unbeirrbar fortzusetzen, während eher liberale bzw. progressive Beobachter wie in Deutschland Übernahmen in Teilbereichen für sinnvoll und notwendig erachteten, letztlich aber eine direkte Übertragbarkeit des amerikanischen Modells auf europäische Verhältnisse kaum für möglich hielten - zu unterschiedlich schienen dafür die historischen Prägekräfte der Kontinente verlaufen zu sein. Hier überwog deutlich der Glaube an die Reformierbarkeit der bestehenden gesellschaftlichen Situation in Europa, der sich u. a. auch in den gerade in Deutschland starken und teilweise durchaus international vorbildlichen und erfolgreichen Ansätzen bürgerlicher Sozialreform, wie wir sie vor allem im Kapitel zur Sozialgesetzgebung und zum Städtebau kurz kennengelernt haben, manifestierte. Die amerikanische Herausforderung ließ sich hier kaum mehr leugnen, aber der Glaube an die Selbstheilungskräfte der bürgerlichen Kultur Europas waren noch nicht erloschen oder so erschüttert, daß die Frage der Amerikanisierung so existentiell und radikal wie nach dem Ersten Weltkrieg debattiert worden wäre. Damit läßt sich der Amerika-Diskurs neben seiner expliziten Ebene auch als mehr oder weniger bewußte Reflexion über gesellschaftliche Modernisierung im deutschen und insgesamt europäischen Bürgertum deuten. Die Anwendung des „paradoxen" Modernisierungsmodells hat sich dabei als erstaunlich aufschlußreich erwiesen, spiegeln sich doch in den deutschen wie französischen, italienischen und britischen Amerikaberichten die eingangs festgestellten zentralen Parameter der Modernisierung. Die USA konfrontierten die Beobachter unterschwellig stärker mit den Paradoxien der Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierung und Domestizierung, als dies in den Heimatgesellschaften durch die eingeschliffene Optik traditionell sozialisierter Orientierungsmuster möglich gewesen wäre. Dabei ist sichtbar geworden, wie stark die grundsätzliche Zustimmung zu diesen Prozessen aus den Amerikaberichten - „gegen den Strich gelesen" - deutlich wird, was insofern auch nicht verwundert, als ein großer Teil des Modernisierungsprogrammes ja genuin bürgerlichen Werthaltungen und positiv besetzten Werten entstammte, die in der offensiven Phase gegen den herrschenden Adel im Kontext der beiden großen Revolutionen am Ende des 18.Jahrhunderts entwickelt worden waren. Vor allem die USA boten um 1900 als Gesellschaft des (vermeintlichen) „Schmelztiegels" der Völker mit enormer ökonomischer Prosperitätsentfaltung das Bild gigantischer, „globalisierter" und hochgradig differenzierter wirtschaftlicher und sozialer Netzwerke mit differenzierter Arbeitsteilung (für die die Ford-Fabriken sozusagen das „Urmodell" lieferten). Nirgendwo sonst schien das Individuum gleichermaßen freigesetzt von traditionellen gesellschaftlichen und politischen Schranken und so unbehindert in seinen Chancen zu sozialem Aufstieg und zur Emanzipation von traditionellen Bindungen zu sein. Kaum eine Gesellschaft schien in ihrer Wirtschaftsordnung, ihren Bildungsinstituten oder ihrem Städtebau rationeller vorzugehen als die amerikanische, ebenso wie die Naturbeherrschung der modernen Technik nirgendwo sonst so radikal und in solchen Maßstäben verwirklicht worden war und in der Gegenwart immer neue Höchstleistungen erreichte. Allerdings bot Amerika auch wie kaum eine andere industrialisierte Gesellschaft Anschauungsmaterial für die paradoxen Gegenentwicklungen: Die Differenzie-

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rung und Individualisierung bewirkte neue Abhängigkeiten, die das Individuum in ein „unmenschliches" Lebenstempo in letztlich unwirtlichen Großstädten hineinzwangen, getrieben einzig von der „Jagd nach dem Dollar" auf Kosten einer Umwelt, die gnadenlos zerstört wurde und damit die schreckliche Kehrseite der Domestizierung von Natur erwies, zumal die „innere Domestizierung" gemäß bürgerlicher Programmatik als Triebkontrolle hier nur in Ansätzen in einer schmalen upper class stattgefunden hatte, und die Masse der Amerikaner durch schlechte Umgangsformen und hemmungsloses Ausleben individueller Wünsche das Programm der bürgerlichen Selbstdisziplin eher ad absurdum zu führen schien. Und in den Fabriken schließlich schien die Rationalisierung der Arbeit umzuschlagen in die inhumane „Mechanisierung des Menschen", wobei zugleich gegensteuernde Maßnahmen durch zu geringe Bürokratisierung und fehlende staatliche Steuerung unterblieben. Die U S A machten daher die widersprüchlichen Entwicklungen der Modernisierung aus europäischer Perspektive besonders deutlich, denen man im Prinzip um so weniger entgehen konnte, als vergleichbare Entwicklungen in anderer Gestalt und in gebremsterer Form in Deutschland bzw. Europa kaum zu übersehen waren, auch wenn man sie zu „verdrängen" versuchte. Die Parameter der gesellschaftlichen Modernisierung - Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierung und Domestizierung - , die wesentliche Zielsetzungen des „bürgerlichen Programms" beinhalteten, wirkten daher in den U S A radikaler eingelöst als in Europa, doch die dabei zugleich auftretenden Schattenseiten machten ihre Verwirklichung fragwürdig. Das Fehlen von Steuerungskapazitäten durch etablierte Hierarchien und die Kräfte des starken Staates hatte die Entwicklung bis hin zum paradoxen Umschlag getrieben, bei dem die alte Ordnung nicht mehr entwicklungsfähig, sondern nur noch in ihren Hierarchiemustern umkehrbar erschien - wobei anzumerken ist, daß gerade viele europäische Autoren der Linken diese extreme Zuspitzung der Gegensätze noch stärker wahrnahmen und vor dem Hintergrund des Marxschen Modells daher eine soziale Revolution in den U S A früher als in Europa erwarteten. Diese vermeintlich bevorstehende Umkehr der Hierarchien konnten und wollten die konservativen wie liberalen Eliten des europäischen Bürgertums nicht als Modell akzeptieren, glaubten sie doch die Paradoxien und gesellschaftlichen Aporien des bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs am Ende des Jahrhunderts auf ihre Weise durch Steuerung und behutsame Reform im Rahmen der bestehenden Hierarchiemuster lösen zu können. Dieser Glaube schien gerade aufgrund der paradoxen Entwicklungen der Modernisierung gerechtfertigt, denn die emanzipatorischen Prozesse wurden j a unverkennbar durch neue Abhängigkeiten und Unfreiheiten konterkariert, die zugleich aber als Stabilisierungsfaktoren für die bestehende Ordnung wirken konnten und sollten. Dabei wurde die Dynamik des Prozesses deutlich unterschätzt, auch wenn man sich als Zeitgenosse eines rasch fortschreitenden Jahrhunderts mit einiger Fortschrittseuphorie über die Verschärfung der Spannungen hinwegzutäuschen vermochte. Die Idee eines „harmonischen Fortschritts" in Überwindung der Klassengegensätze, dem so viele Bürger Europas (wie Amerikas) anhingen, stellte sich allerdings zunehmend als Illusion heraus. Der Preis, der für die Abkehr vom bürgerlich-utopischen Gesellschaftsentwurf, für die Verdrängung der „sozialen Frage" und ihrer Dramatik, für zunehmenden Illiberalismus und chauvinistischen Nationalismus und für die wachsende Übernahme sozialdarwinistischrassistischer Denkmuster gezahlt wurde, war hoch: Der Versuch, den Paradoxien der Modernisierung zu entkommen, führte in den Ersten Weltkrieg, der die Auflösung der bürgerlichen Kultur in Europa wie kein Ereignis zuvor dramatisch beschleunigte.

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3. Personen Verzeichnis Adams, Jane 119 Adelmann, Heinrich Graf 268f Alger, Horatio 115 Aram, Kurt 136 Avenel, Georges Vicomte d' 111, 142 Bahr, Herrmann 41 Bahr, Max 107,124,135,219 Barnekow, Hans von 94 Barth, Theodor 95,123,218 Bell, Alexander G. 146 Below, Ernst 252 Bernstein, Eduard 150 Blanc, Marie-Thérèse 205 Bloch, Marc 19 Bluth, Hugo 171 Börne, Ludwig 88 Bourdieu, Pierre 23 Boutmy, Emile 111 Brinkmann, Ludwig 243, 271

Bruncken, Ernest 97, 108 Bryce, James 44,112,281 Burnham, Daniel 261 Campe, Johann H. 58 Carnegie, Andrew 98,146 Chesterton, Gilbert K. 46 Chevrillon, André 141,254 Cook, Thomas 62 Derrida, Jacques 23 Dewey, John 183,234 Diercks, Gustav 157 Dreiser, Theodore 115 Duden, Gottfried 89 Dugard, Marie 203f, 229 Dürkheim, Emile 52, 54 Edison, Thomas A. 146f Eichendorff, Joseph von 87

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Personenverzeichnis Elias, Norbert 57 Engels, Friedrich 150 Enzensberger, Hans M. 65f, 79 Feb vre, Lucien 19 Ford, Henry 73, 140 Foucault, Michel 23, 57 Fröbel, Friedrich Wilhelm A. 234 Fröbel, Julius 283 Fulda, Ludwig 41, 94, 79f, 166, 190f, 194, 217f, 221, 251, 274, 276, 278f, 283, 289, 294 Geiger, Theodor 20 Gerstäcker, Friedrich 89 Gerstenberger, Liborius 95, 128 Grzybowski, Paul 159,246,251 f, 274 Goethe, Johann W. 59f, 86f, 267 Gohier, Urbain 143 Goldberger, Ludwig Max 41, 100, 103f, 127, 137, 294 Goldschmidt, Friedrich 125, 248 Gutzkow, Karl 88 Haeckel, Emst 179 Harjes, Philipp 101, 122, 128, 131, 156, 158, 197, 201f Hauptmann, Gerhard 41 Hegel, Georg Wilhelm F. 88 Heine, Heinrich 64,70, 88 Hesse-Wartegg, Ernst von 159, 246f Hintrager, Oskar 135, 173,192f, 200 Hoffmann, Johannes 101,200 Hofmannsthal, Hugo von 41 Holitscher, Arthur 41,49, 94,131,133f, 160,168, 224f, 243, 276, 294 Hugo, Victor 283 Huret, Jules 143, 230 Insull, Samuel

146

Jaspers, Karl 183 Jaurès, Jean 150 Kerr, Alfred 41 Kolb, Alfred 105f, 134 Kürnberger, Ferdinand 90 Kummer, Fritz 94, 198f, 221 f, 272 Lamprecht, Karl 79, 129, 158f, 178, 220 Langbehn, Julius 257

Lasch, Christopher 57 Legien, Carl 49,75, 123, 294 Lenau, Nikolaus 87-90 Lettenbaur, Josef A. 156,163, 268 Liebknecht, Karl 150 Liebknecht, Wilhelm 49 Lindau, Paul 168,249 Lukacs, Georg 183 Mackay, Charles 283 Mann, Heinrich 182,285 Mareks, Erich 226f, 240, 245 Marx, Karl 150, 301 May, Karl 42,91 Mazzini, Giuseppe 283 Mithouard, Adrien 285 Müller, Gustav 108 Münsterberg, Hugo 41, 72, 126, 157f, 162, 165, 172f, 178, 195, 211, 218, 222, 226, 240, 289, 294 Münsterberg, Otto 73, 100 Muirhead, James F. 67 Murray, John 62 Neve, Jürgen Ludwig 135,196 Nevers, Edmond de 112 Nicolai, Friedrich 58 Niese, Charlotte 194f Nietzsche, Friedrich 284 Nölting, O.W. 136 Oberländer, Richard 108,128 Oetken, Friedrich 171,191f, 219 Park, Robert 261 Pestalozzi, Johann H. 234 Pieck, Julius 70 Pfister, Albert 193 Plenge, Johann 99, 107, 129, 268, 272 Polenz, Wilhelm von 41, 103, 130-132, 134, 138, 161, 163-165, 167, 179, 196f, 247f, 251, 277f, 289, 294 Rabe, Johannes E. 201 Rambeau, Adolf 76f, 125,137, 191, 225 Ratzel, Friedrich 178 Riehl, Wilhelm H. 257 Riesman, David 57 Rockefeller, John D. 98, 146 Rod, Edouard 28 lf

328 Röder, Adam 96 Rolland, Romain 285 Rousseau, Jean J. 60, 85, 208 Sartorius von Waltershausen, August 104,127 Sauvin, Georges 204, 255 Schiller, Friedrich 87 Schmidt, Anneliese 38 Sealsfield, Charles 89 Seume, Johann G. 61 Simmel, Georg 183 Sinclair, Upton 115 Skal, Georg von 164,201,214,224 Sombart, Werner 98, 156, 169, 183, 245, 294 Spengler, Oswald 257 Taylor, Fredrerick W. 139 Tesla, Nikola 146 Tocqueville, Alexis de 30, 89, 93, 276, 298 Tönnies, Ferdinand 52, 54

Anhang Unruh, Conrad von

126,166, 192f, 244

Vay von Vaya und zu Luskod, Graf von 133, 161 Vanderbilt, Cornelius 98, 146 Vehlen, Thorstein 115 Weber, Alfred 183 Weber, Max 14, 52, 56, 106, 129, 170, 172, 183 Weiller, Lazare 229, 283 Wells, Herbert George 44, 112, 255, 269, 282 West, J.H. 105 Willkomm, Ernst 90 Wittstock, Oskar 170 Wolzogen, Ernst von 41,133,169,198,200,222f, 224ff, 270, 273, 278 Wundt, Wilhelm 165,178 Zardetti, Otto 77f Zweig, Stefan 285