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German Pages 419 [420] Year 2023
Regelbasierte Konstruktionsgrammatik
Linguistik – Impulse & Tendenzen
Herausgegeben von Susanne Günthner, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke Mitbegründet von Klaus-Peter Konerding
Band 112
Regelbasierte Konstruktionsgrammatik
Musterbasiertheit vs. Idiomatizität Herausgegeben von Marc Felfe, Dagobert Höllein und Klaus Welke
ISBN 978-3-11-133385-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-133404-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-133429-5 ISSN 1612-8702 Library of Congress Control Number: 2023942864 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Marcus Lindström/istockphoto Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort: Regelbasierte Konstruktionsgrammatik. Musterbasiertheit vs. Idiomatizität Konstruktionsgrammatik wird zumeist mit Termini wie Nichtkompositionalität (Idiomatizität), Lexik-Grammatik-Kontinuum, Netzwerk von Konstruktionen verbunden. Unberücksichtigt bleibt dabei die Musterbasiertheit der Konstruktionen und damit sprachliche Tätigkeit als Operieren über schematischen Konstruktionen (Konstruktionsmustern). In Goldbergs (1995) Terminologie sind das die Konzepte der Instantiierung und Vererbung. Solche Operationen sind selbstverständlich regelhaft, wenn auch nicht im Sinne des traditionellen Regelbegriffs, in dem Regel an invariante Gültigkeit gebunden wird. In diesem Sinne gehen wir, die Herausgeber, nicht von einem Konstruktikon/ Netzwerk von Konstruktionen anstelle einer Grammatik aus. Wir sehen das Konstruktikon als Netzwerk von Konstruktionen, das analog zum Lexikon als Reservoir existiert, aus dem sich Sprecherinnen und Sprecher musterbasiert bedienen. Die so von den Sprechern gebildeten Realisierungen kommen ganz im Sinne Goldbergs entweder über Fusion zustande, was der klassischen Projektion entspricht. Sie sind in diesem Falle kompositional (grammatisch, akzeptabel). Misslingt die Instantiierung, sind sie unkompositional, oder sie werden durch Koerzionen kompositional gemacht. Letzteres ist der konstruktionsgrammatisch insbesondere interessierende Fall. Für uns ist entscheidend, die Musterbasiertheit in der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung als zentrales Element zu (re)etablieren. Das Ziel des Sammelbandes ist deshalb, die Regelbasiertheit und/oder Idiomatizität von syntaktischen und morphologischen Strukturen vor dem Hintergrund von entsprechenden Konstruktionen und ihrem musterhaften Gebrauch zu demonstrieren. Dieser konstruktionsgrammatische Ansatz ist gebrauchsbasiert, funktionsbezogen, formbildungsbezogen und (nach Auffassung der Herausgeber) signifikativ (semasiologisch). Im Zentrum stehen der formale und semantische Beitrag entsprechender Konstruktionsmuster (schematischer Konstruktion) und die Prinzipien ihres Gebrauchs. Folglich geht es um Grammatik als Musterhaftigkeiten, welche sich in Instanzen von Konstruktionen (Tokenkonstruktionen, Konstrukte) mit komplexen Ausdrucks- und Inhaltsseiten manifestieren. Hierdurch ist der Titel „Regelbasierte Konstruktionsgrammatik“ mit dem Untertitel „Musterbasiertheit vs. Idiomatizität“ motiviert und das theoretische Spannungsfeld zwischen den Polen Lexikon/Konstruktikon und Grammatik abgesteckt. Es geht uns (den Herausgebern), wie anderen Konstruktionsgrammatikern, begonnen bei Goldberg (1995), um die Abgrenzung zu Theoremen der bisherigen strukturellen Grammatik, u. a. der Generativen Grammatik. Das betrifft zunächst die systembezogene Perspektive der modernen (generativen) Syntax, in der der Syshttps://doi.org/10.1515/9783111334042-202
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temzustand der Sprache (Grammatik) streng sowohl von der sprachlichen Tätigkeit der Sprecher/Hörer (Sprecherinnen/Hörerinnen) getrennt wird als auch von der Entwicklung dieses Systems (von seiner Dynamik, seiner Geschichte). Unser Verständnis von Gebrauchsbasiertheit (vgl. das Prädikat ‚usage based‘) steht diesem zweifach starren Systemgedanken gegenüber: Wir betrachten Sprache in ihrem Gebrauch, d. h. in der sprachlichen Kommunikation einzelner Individuen in der Zeit. Konstruktionsgrammatisch wird Sprachgebrauch als ein Operieren über Zeichen als bilaterale holistische Einheiten aus Form und innersprachlicher Bedeutung modelliert. Der innersprachliche signifikative Bezug folgt aus der Holistik von Form und Bedeutung. Dabei gilt, dass nicht nur Wörter und idiomatische morphosyntaktische Konstruktionen Zeichen sind, sondern auch formal-semantische Konstruktionsmuster (schematische Konstruktionen). Muster syntaktischer Konstruktionen bestehen aus Operatoren (grammatischen Mitteln) und kategorial indizierten Leerstellen für Wörter. Operatoren sind Wortfolge, Intonation, grammatische Morpheme, Hilfswörter. Wortmuster bestehen aus morphologischen Operatoren und kategorial indizierten Leerstellen für Wörter. Operationen über Konstruktionsmustern sind die Implementierung von lexikalischem Material (Vollwörtern), die Implementierung von Konstruktionsmustern und Token-Konstruktionen in Konstruktionsmuster, die Überblendung von Konstruktionsmustern, die Fusion (Verknüpfung) von Konstruktionsmustern und Token-Konstruktionen. Operationen über Konstruktionsmustern, Wörtern und Token-Konstruktionen erfolgen nicht willkürlich. Sie sind vielmehr notwendigerweise sozial geregelt. Die Sprecher/Hörer müssen wissen, wie und wozu sie ein gegebenes Muster und wie und wozu sie ein gegebenes Wort verwenden. Die Operationen führen zu wechselseitigen Anpassungen von Konstruktionsmustern und Wörtern. Aus momentanen Anpassungen kann ein dauerhafter Wandel folgen. Es ist aus unserer Sicht also nicht möglich, in der Konstruktionsgrammatik auf den Regelbegriff zu verzichten und ‚Regel‘ auf ‚Konstruktion‘ oder Taxonomie (Konstruktikon) zu reduzieren. Wir meinen, dass Vorbehalte gegen den Regelbegriff aus der Identifizierung mit dem Regelbegriff der traditionellen Grammatik (insbesondere der Generativen Grammatik) resultieren, wo Regeln als invariant und unwandelbar vorausgesetzt werden. Der von uns intendierte Regelbegriff fasst Regel nicht im Sinne von Mathematik oder Logik als invariant festgelegte Operation, sondern als soziale Norm und wandelbar. Sprache zu gebrauchen, heißt, Regeln anzuwenden und zwar Regeln, welche die Operationen über Zeichen steuern. In dem so verstandenen Sprachgebrauch bilden sich sowohl entsprechende Regeln als auch die ihnen unterworfenen Zeichen heraus und verändern sich. Generell ist unser Regelbegriff daher dadurch charakterisiert, dass wir an die Stelle der klassischen Definition nach invarianten Merkmalen die prototypentheoretische Definition nach typischen Merkmalen setzen.
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Nach unserer Auffassung kann es kein Entweder/Oder von Projektion (Valenz) und Konstruktion (Konstruktionsmuster) geben. Beide (Konstruktion und Projektion) bedingen sich vielmehr wechselseitig. Es geht um ein Wechselverhältnis unter dem Primat der Konstruktion. Um einen Satz (eine Token-Konstruktion) bilden und analysieren zu können, muss ein Sprecher/Hörer (im Prinzip) sowohl wissen, welche Wörter in ein gegebenes Muster implementiert werden können als auch in welche Muster ein gegebenes Wort implementiert werden kann. Ein beträchtlicher Teil sprachlichen Wandels resultiert aus der wechselseitigen Anpassung, dem Kompositional-Machen (vgl. oben). So wie von anderen sozialen Regeln weichen Sprecherinnen und Sprecher bewusst und unbewusst auch von aktuellen grammatischen Regeln ab. Das Ergebnis kann zu unakzeptablen, das heißt nicht kompositionalen Äußerungen führen oder aber der Regelverstoß wird unter Zuhilfenahme weiterer Wissensbestände kompositional und somit akzeptabel gemacht. Diskutiert wird, inwieweit auch jene Anpassungen regulär sind, ob sie in einem holistischen Sinne als Teil der Semantik zu modellieren sind (wie z. B. Goldberg 1995, Croft 2001) oder aber (wie z. B. Maienborn 2017 in Folge der sogenannten Zwei-Ebenen-Semantik) ob pragmatische Operationen erst einmal außerhalb der Semantik verortet werden sollten. In diesem Spannungsfeld stellen sich folgende Fragen: Inwieweit ist bei Implikaturen zwischen routinierten (vorhersagbaren) und nicht routinierten (ad hoc Implikaturen) zu unterscheiden? Unter welchen Bedingungen sollten jene Anpassungen zum sprachlichen Wissen gezählt werden? Unter welchen Umständen führen entsprechende Implikaturen zur Veränderung bestehender Regeln, zu neuen Regeln und/oder zu neuen Lexikoneinträgen und/oder zu neuen Konstruktionen (Grammatikalisierung) – und unter welchen Umständen führen sie gerade nicht zu Grammatikalisierungen? Auch Vererbung definieren wir (in Gegensatz zu Goldberg 1995) nicht als eine formale Relation zwischen Hyperonym- und Hyponym-Konstruktionen, sondern als einen diachronen Prozess der Entstehung von neuen Konstruktionen aus vorhandenen Konstruktionen. Auf Grund von Implikaturen entstehen Token-Konstruktionen mit bestimmten untereinander analogen semantischen Abwandlungen gegenüber der ursprünglichen Type-Konstruktion und ihrem Muster. Es entstehen homonyme Unter-Konstruktionen (mit einem homonymen Muster) gegenüber der ursprünglichen Konstruktion (in der Regel in Analogie zu einer bereits bestehenden anderen Konstruktion). Es entstehen also Widersprüche zwischen Form und Bedeutung. Erst nach mehr oder minder langen Zeiträumen werden Widersprüche durch allmähliche Anpassungen von Aspekten der formalen Seite der neuen Konstruktion aufgelöst. Theoretische Grundlage der Erklärung ist das No-Synonymy-Prinzip Goldbergs, nach dem eine Form ihre spezifische Bedeutung hat und eine Bedeutung von einer spezifischen Form ausgedrückt wird. Es entspricht dem Prinzip der traditio-
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nellen Semasiologie, dass Polysemie die Regel und Homonymie die Ausnahme ist. Das No-Synonymy-Prinzip sichert den sozialen Gebrauch der Sprache. In Grenzfällen kommt es zu Widersprüchen, ohne die es keinen sprachlichen Wandel gäbe. Grundlage ist die Variabilität sowohl der Form- als auch der Inhaltsseite von Konstruktionen. Diese wird gesichert durch das prototypentheoretische Herangehen, das Teil des konstruktionsgrammatischen Bedeutungsbegriffs ist. Die theoretische Ausgestaltung der Inhaltsseiten ist innerhalb der Konstruktionsgrammatik uneinheitlich, was wesentlich mit dem Bedeutungsbegriff zusammenhängt. Die Hauptunterschiede resultieren aus der Gewichtung von Bedeutung und Bezeichnung bzw. einem unterschiedlich stark ausgeprägten Bewusstsein über die Existenz dieser Unterscheidung. Unter Bedeutung wird mit Coseriu (1970) die innersprachliche Gestaltung eines Sachverhalts verstanden, während die Bezeichnung die Bezugnahme auf die außersprachliche Situation meint. Welke (2002: 96) gießt diese Erkenntnis in das Begriffspaar Sachverhalt und Situation. Wobei der Sachverhalt die sprachliche Szenierung eines Geschehens (der Situation) in der außersprachlichen Wirklichkeit ist. D. h. man kann durchaus mit zwei sprachlichen Realisierungen (Sachverhalten) in einer Einzelsprache auf dieselbe Situation Bezug nehmen, wie folgende Beispiele illustrieren: (1) Ich helfe dir. syn Subjekt Prädikat Dativobjekt sig Tätigkeitsträger Tätigkeit Tätigkeitsbetroffener (2) Ich unterstütze dich. syn Subjekt Prädikat Akkusativobjekt sig Handlungsträger Handlung Handlungsgegenstand Die Sätze eins und zwei können mit unterschiedlichem sprachlichem Material auf dieselbe Situation (sie sind bezeichnungssynonym) referieren. Von einem außersprachlichen, denotativen Standpunkt werden die Objektrollen in Satz (1) und (2) gleichgesetzt. Was die sprachliche, signifikative Kodierung angeht, sind die Objektrollen in (1) und (2) unterschiedlich. In Satz (1) kodiert das Dativobjekt die Rolle eines Tätigkeitsbetroffenen, das Akkusativobjekt in (2) die Rolle eines Handlungsgegenstands. Die denotative Semantik ist auf die Analyse der außersprachlichen Wirklichkeit (Bezeichnung) ausgerichtet und nicht auf die sprachliche Bedeutung und erfasst die Bezeichnungssynonymie der beiden Sätze korrekt. Die signifikative Semantik nimmt die einzelsprachliche Realisierung zum Ausgangspunkt, erkennt die sprachlichen Unterschiede an. In der Folge resultieren aus den sprachlichen Unterschieden Unterschiede in der semantischen Struktur. Einerseits auf Ebene
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der sprachlichen Darstellung als Handlung vs. Tätigkeit andererseits in der abweichenden Analyse von Dativ- und Akkusativobjekt als Tätigkeitsbetroffener bzw. Handlungsgegenstand.1 Die Unterscheidung von Bedeutung und Bezeichnung ist so grundlegend, dass konstruktionsgrammatische Theorien mit Blick auf den Bedeutungsbegriff in signifikative und denotative Ansätze unterschieden werden können. Signifikativsemantische Ansätze trennen die Bedeutung strikt von der Bezeichnung und konzentrieren sich auf die Bedeutung. Denotativ-semantische Ansätze nehmen mehr oder weniger reflektiert einen weiten Bedeutungsbegriff an, der Bedeutung und Bezeichnung umfasst, wobei sich denotative Ansätze feinklassifizieren ließen nach dem Grad, in dem sie die Bezeichnung in ihren Bedeutungsbegriff integrieren. So beinhaltet die Konstruktionsgrammatik Goldberg’scher Prägung (2019, 2006, 1995) eine bedeutungszentrierte Theorie, die in der Praxis implizit unter anderem durch die Nutzung der Framesemantik und denotativer Rollenkonzepte mit der Bezeichnung vermengt wird. So verwenden Konstruktionsgrammatiker, die sich auf Goldberg beziehen, einen weiten Bedeutungsbegriff, der die Bezeichnung integriert. Dadurch ist ihre Theorie im Bereich der denotativen Semantik zu verorten, wozu Goldberg durch missverständliche Äußerungen durchaus beigetragen hat. Allgemein sind konstruktionsgrammatische Ansätze, welche die Bedeutungsseite direkt an die Framesemantik Fillmore’scher (1982, 1985) Prägung koppeln, stärker denotativ, da (mehr oder weniger reflektiert) die Bezeichnung einen großen Raum einnimmt (z. B. Boas & Ziem 2018). Signifikativ-semantische Ansätze dagegen werden von Ágel (2017), Felfe (2018, 2012), Welke (2019), Höllein (2020, 2019) vertreten. Bei allen Unterschieden der in diesem Band diskutierten konstruktionsgrammatischen Ansätze ist ihnen die prototypentheoretische Modellierung der Bedeutung gemein. Für signifikative Semantikkonzepte ist diese von Beginn an grundlegend (vgl. Welke 1988), in einem denotativen Konzept ist sie seit Dowty (1991) vertreten. Bedeutung wird in der Folge von Rosch (1978) als radiales Konzept mit mehr oder weniger typischen Vertretern verstanden. Bedeutungen sind so verstanden nicht „simply not discrete“ (Dowty 1991: 571), sondern netzwerkartige Strukturen, in denen Instanzen auf typische Vertreter – die Prototypen – bezogen sind. Eine diachrone Lesart der Prototypik hat Welke (2011: 15) eingeführt. So verstanden ist der Prototyp der „erste Vertreter“ (ebd.) einer Bedeutung, aus dem sich im Fortschreiten der Zeit „Ketten von Abwandlungen“ (ebd.) ergeben. Von einer neuen Bedeutung ist dann auszugehen, wenn die Kette abreißt, also keine Verbindung mehr zum Prototypen herzustellen ist.
1 Zum System signifikativ-semantischer Rollen siehe Ágel & Höllein (2021).
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Für die Ausgestaltung des Konstruktikons ergeben sich aus der Opposition signifikativ vs. denotativ ebenfalls massive Konsequenzen. Das Konstruktikon lässt sich zunächst als Netzwerk modellieren, in dem die Konstruktionen aller Abstraktionsebenen einer Einzelsprache verbunden sind. Trotz der zentralen Bedeutung des Konstruktikons für die Konstruktionsgrammatik ist dessen konkrete Ausgestaltung und insbesondere die empirische Erprobung bislang Desiderat geblieben. Seit einem Jahrzehnt gibt es allerdings verstärkte theoretische Überlegungen zu seiner Modellierung (Boas 2019; Herbst 2019; Ziem 2014). Der Unterschied zwischen einem signifikativen Konstruktikon und einem denotativen ergibt sich aus den grundlegenden methodischen Unterschieden beider Theorien. Methodisch gehen signifikativ-semantische Ansätze von der Form aus, während denotativ-semantische von der Bezeichnung ausgehen (bzw. aus der eigenen Perspektive von der Bedeutung). Aus signifikativer Perspektive ergibt sich deshalb ein synchron endliches Konstruktikon, das theoretisch darstellbar ist, weil es von der Menge der Formen ausgeht. Ein denotatives Konstruktikon ist unendlich und auch theoretisch nicht darstellbar, weil die Menge der Bezeichnungen nicht endlich ist. Dieser Unterschied ist in der bisherigen Konstruktikographie ausgeblendet, wird aber bei der praktischen Anwendung sichtbar, weshalb eine zügige Umsetzung eines Konstruktikonprojekts wünschenswert erscheint. Die Darstellbarkeit des signifikativen Konstruktikons wird durch die prototypentheoretische Modellierung und das No-Synonymy-Prinzip weiter unterstützt, da beide Konzepte die Menge darzustellender Konstruktionen begrenzen. In den Beiträgen werden anhand konkreter sprachlicher Phänomene theoretische Fragen der Form-Funktionsbeziehung innerhalb von Konstruktionen und zwischen Konstruktionen sowie empirische Aspekte der Ermittlung, des Erwerbs, der Vermittlung und des zwischensprachlichen Vergleichs von Konstruktionen diskutiert. Die gebrauchsbezogene Musterbasiertheit und Regelhaftigkeit sind ein gemeinsamer Ausgangspunkt der Beiträge. Die jeweilige Gewichtung der Form oder der Bedeutung oder des Verständnisses stehen zur Diskussion. Die Reihe der Beiträge wird eröffnet durch Ad Foolen (Radboud University Nijmegen). Er diskutiert die Modellierung des Konstruktikons. Dabei geht es um die methodische und theoretische Gewichtung von Form und Bedeutung aber auch von Form versus Bedeutung. Bezüglich der Netzwerkmodellierung arbeitet er die Forschungsliteratur der letzten Jahre auf – nicht zuletzt, um zu verhindern, dass sich unterschiedliche Positionen so verfestigen, dass sie unproduktiv werden. Die theoretischen Ansätze werden am Beispiel der Dativalternation diskutiert. Im Vordergrund stehen formbezogene Ansätze der KxG im Gegensatz zu bedeutungsorientierten. Erstere setzen die Bedeutungsanalyse und Netzwerkmodellierung bei der sprachlichen Form an, letztere gehen von kognitiv-assoziativen Bedeutungsschemata aus und modellieren die Konstruktionen ausgehend von diesen. Sie
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sind in der Terminologie der Herausgeber denotativ und nicht signifikativ. Beide Richtungen werden im Spannungsfeld von Synchronie, Diachronie und Sprachvergleich insbesondere bezüglich horizontaler Netzwerkbeziehungen diskutiert. Es folgt ein klassisch formbezogener Beitrag von Klaus Welke (HumboldtUniversität zu Berlin/Universität Wien). Er untersucht Verbindungen von sein mit dem Partizip II und führt die Bedeutungsunterschiede prototypisch auf drei verschiedene Konstruktionen zurück: auf die Kopula-Konstruktion mit Subjektsprädikativ, auf die morphologische Konstruktion ‚Zustandspassiv‘ und auf das Perfekt im Falle des Partizips II perfektiver intransitiver Verben. Nicht ausgeschlossen ist außerdem eine Interpretation als elliptisches Vorgangspassiv. Zentrale Ableitungsgrundlage ist das Merkmal ‚Nachzustand‘ des attributiven Partizips II perfektiver Verben. Der Gebrauch in der Kopulakonstruktion wird an eine perzeptiv zugängliche Eigenschaft gebunden. Erlaubt das Partizip II eine solche Eigenschaftslesart nicht, führen die ableitbaren verbalen Merkmale ‚Abgeschlossenheit‘ oder ‚Vergangenheit‘ zur Herausbildung der morphologischen Konstruktionen. Das Zustandspassiv wird als eine Konstruktion auf Bewährung dargestellt, da der Mehrwert gegenüber der Kopula-Konstruktion und dem Vorgangspassiv äußerst gering ist. Um das Verhältnis von Valenz und Konstruktion sowie die Abgrenzungen zwischen Argumenten und Modifikatoren geht es Arne Zeschel (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache IDS). Er beschäftigt sich mit der formalen und semantischen Mustergültigkeit und Reichweite kausaler Verwendungen von an-PPen. Er zeigt, inwieweit der valenzielle Argumentbegriff durch die Annahme von Argumentstrukturkonstruktionen erweitert wird und stellt die Implikationen dar, welche sich bezüglich der Unterscheidung zwischen Argumenten und Modifikatoren aus einer konstruktionsgrammatischen Analyse ergeben. Aus der ursprünglichen Kontaktbedeutung von x an y wird eine Familie von drei Gebrauchsmustern abgeleitet. Diese Analyse erlaubt es, ungrammatische Instantiierungen (✶an etwas ins Krankenhaus kommen vs. an etwas sterben) zu erklären, statt sie im Rahmen einer allgemeinen Interpretierbarkeit in die Pragmatik auszulagern. Bezüglich der Form wird für zwei- und dreistellige Varianten sowie Konstruktionsüberblendungen argumentiert, wobei einzig der präpositionale Kopf und der von ihm regierte Kasus festgelegt seien. Der Prädikatsslot wird formseitig nicht nur auf die Kategorie Verb festgelegt, sondern auch auf dessen lexikalische Projektionsstufen. Mit valenz- und konstruktionsgrammatischen sowie empirischen Fragen zur Grundvalenz beschäftigt sich Dagobert Höllein (Universität Passau). Die konstruktionsgrammatische Literatur fokussiert bislang überwiegend Phänomene wie Resultativa, die etablierten Theorien Probleme bereiten. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit hat die Konstruktionsgrammatik dagegen auf die scheinbar theoretisch unproblematischen regelbasierten Strukturen gelegt, die z. B. über die Grundvalenz beschrieben werden können. Der Aufsatz setzt an genau dieser Stelle
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an und stellt Grundvalenzstrukturen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive ins Zentrum. Ziel des Aufsatzes ist es, Überlegungen aus der Valenztheorie in konstruktionsgrammatische Theoriebildung zu überführen und so nutzbar zu machen. Um die Analyse der Dativ-Akkusativ-Alternanz in Ausdrücken wie sie tritt ihn vs. ihm auf den Fuß geht es Marc Felfe (Humboldt-Universität zu Berlin). Ausgangspunkt sind die formbezogene Konstruktionsgrammatik, die signifikative Semantik und Korpusbelege aus verschiedenen Sprachstufen. Während der Akkusativ in Konstruktionen zum Handlungsausdruck das Patiens ausdrückt, kodiert der Dativ innerhalb entsprechender Konstruktionen den Vorgangs- oder Tätigkeitsbetroffenen. Mit beiden Kasus kann innerhalb entsprechender Konstrukte auf das gleiche Denotat verwiesen werden, weshalb es sich um Alternanten, aufgrund des semantischen Unterschieds jedoch nicht um Varianten handelt. Die Akkusativ-NP wird mit entsprechender direktionaler PP auf eine Überblendung von zwei projizierten Konstruktionen zurückgeführt, die produktive Dativ-Alternante auf eine, über Fusion entstandene Konstruktion. Die Pertinenzrelation wird mittels routinierter pragmatischer Prozesse erklärt. Um die Herleitung und Modellierung eines konkreten Konstruktionsnetzwerks geht es in dem Beitrag von Hagen Hirschmann (Humboldt-Universität zu Berlin). Er untersucht den pränominalen Gebrauch von so, so’n, so ein und solch ein. Diese werden als Netzwerk einer abstrakten zweifachen Determinierer-Konstruktion analysiert, wobei die unflektierten so oder solch den Determinierer modifizieren. Es wird zwischen deiktisch-spezifizierenden, vagheitsmarkierenden, demonstrativ-diskuseinführenden und intensivierenden Funktionen unterschieden. Die Variation der entsprechenden Form wird nicht stilistisch erklärt, sondern mustergültig an verschiedene sprachliche Funktionen (Phorik und Diskurseinführung) und Formen (Singular vs. Plural) gebunden. Die pränominale so-Konstruktion wird auf die zugrunde liegende adjektivische Vergleichskonstruktion, die auch in der Verbaldomäne gebraucht wird, bezogen und somit mustergültig motiviert. Der Frage danach, ob und wie die Satzklammer(n) im Deutschen konstruktionsgrammatisch analysiert werden können, geht Elena Smirnova (Université de Neuchâtel) nach. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass es sich bei Haupt- und Nebensatzklammern um zwei verschiedene Konstruktionstypen handelt. Aus diachroner Sicht stellt sie die Frage nach der Motivation der Hauptsatzklammer. Anhand von Korpusstudien wird gezeigt, dass die Grammatikalisierung analytischer Verbformen wie das Perfekt mit haben die spätere Hauptsatzklammer nicht direkt motiviert. Es werden verschiedene Netzwerkmodelle verwandter (horizontal angeordneter) klammernder Konstruktionen, auch Funktionsverbgefüge und Verbpartikelstrukturen untersucht. Anstelle einer klammernden Hauptsatzkonstruktion wird für ein analogisch motiviertes Netzwerk verschiedener Konstruktionstypen plädiert. Die pure Klammerstellung lässt sich nicht unabhängig von
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den verschiedenen syntaktischen Strukturen konstruktionell z. B. mit der Funktion eines linken grammatischen und eines rechten lexikalischen Pols erfassen. Mit Ellipsen beschäftigt sich Dániel Czicza (Universität Gießen). Sein Beitrag geht von der Diskussion über rein syntaktische (bedeutungslose) Konstruktionen im Gegensatz zu zeichen-basierten Konstruktionen aus. Dieser Ansatz wird bezüglich der Ellipsen als nicht adäquat kritisiert. Stattdessen erlaubt die Differenzierung zwischen Verfahren/Operationen und Zeichen/Konstruktionen auch eine konstruktionsgrammatische Differenzierung zwischen kontext-kontrollierten Analepsen und Strukturellipsen. Während erstere auf Operationen über konkreten Konstrukten zurückgeführt werden, lassen sich letztere als Operationen über Konstruktionsmustern fassen. Operative Prozeduren werden weder selbst als Bedeutung noch als bedeutungslose Konstruktion analysiert. Sie werden als ein Zurückspulen beschrieben, bei welchem die Bestandteile einer vollständig instantiierten Konstruktion im ersten Konjunkt für das Verständnis des elliptischen zweiten Konjunktes virtuell herangezogen werden. Fragen des Konstruktionserwerbs und dessen empirischer Untersuchung gehen Niklas Koch (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Stefan Hartmann (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) in ihrem Beitrag nach. Sie untersuchen korpuslinguistisch, wie Kinder im Alter zwischen 2,0 und 2,6 W-Fragekonstruktionen erwerben. Ihre Auswertung der Daten mittels Traceback-Methode ergibt, dass teilschematische W-Fragekonstruktionen, in der Regel mit dem Kopulaverb sein als lexikalischem Ankerpunkt, eine wesentliche Rolle im Erwerb spielen. Sowohl der Input als auch der Output weisen eine hohe, teilweise kontextspezifische Mustergültigkeit auf. Durch Variation führt diese zu sog. frame-and-slot-Konstruktionen wie wo ist X, welche Ausgangspunkt weiterer Kategorisierungen (wo ist NP) und weiterer Schematisierungen (w-Fragewort ist NP) sind. Der Erwerb von W-Fragen wird als ein prototypischer Fall des gebrauchsbasierten Spracherwerbs dargestellt. Um die didaktisch-methodische Umsetzung des Konstruktionskonzepts im Bereich Deutsch als Fremdsprache geht es Sabine De Knop (Université Saint-Louis Bruxelles) und Fabio Mollica (Università degli Studi di Milano). Sie beschäftigen sich mit dem gesteuerten Erwerb von deutschen ditransitiven Verben durch italophone Lernende. Als besondere Herausforderung gelten Verben w. z. B. fragen, die trotz Transfersemantik – und auch abweichend vom Italienischen – nicht mit der ditransitiven Nominativ-Dativ-Akkusativ-Konstruktion gebraucht werden, sondern mit dem doppelten Akkusativ. Folglich ist ihr Ansatz valenziell und konstruktionell. In einer empirischen Studie mittels Pre- und Posttests prüfen sie den Lernerfolg durch entsprechendes lexem- und konstruktionsbasiertes Priming, welches auch die Variation bei der Abfolge der Argumente berücksichtigt. Während sich die positiven Effekte bzgl. der Argumentreihenfolge in Langzeit-Posttests nachweisen lassen, stellen idiosynkratische Valenzen weiterhin ein Erwerbsproblem dar.
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In einer sprachvergleichenden Untersuchung im Bereich der Wortbildung ermittelt Berit Balzer (Universidad Complutense de Madrid) die jeweiligen Muster, Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sie beschäftigt sich in einer Korpusstudie mit metaphorisch gebrauchten Nominalkomposita wie Lackaffe, die der abwertenden Bezeichnung von Menschen dienen. In ihrem Beitrag vergleicht sie entsprechende Muster des Deutschen mit Bildungen im Englischen, Spanischen und Französischen. Sie zeigt, dass die metaphorischen Ableitungen der wörtlichen Bedeutung übereinzelsprachlich, d. h. kognitiv mustergültig und motiviert sind. Hierzu ermittelt sie als Bildspender insbesondere Vergleiche mit Tieren als Kopf des Kompositums, mit Körperteilbezeichnungen, Eigennamen und Verwandtschaftsbeziehungen. Diese kognitiven übereinzelsprachlichen Gemeinsamkeiten stehen im Kontrast zu ihrer jeweiligen Ausdrucksform. Diese ist zusammen mit der wörtlichen Bedeutung strikt einzelsprachlich geregelt und in diesem Sinne grammatisch mustergültig. Komposita aus Verb und Substantiv werden im Deutschen, Englischen und Spanischen als ein zentrales Konstruktionsmuster identifiziert. Der Beitrag von Thomas Brooks (Universität Wien) schließt diesen Band ab. Wir haben ihn gebeten, uns seinen nicht für den Sammelband konzipierten Aufsatz zu überlassen. Denn dieser spricht mit der Dialektik von Fehler und Figur, von vitium und virtus am Beispiel des Superlativs und des Doppelperfekts, genau das Problem an, um das es in der Konstruktionsgrammatik im Gegensatz zu einer auf invariante Regeln bezogenen Competence-Grammatik geht. Für das Ungenügen bisheriger Grammatiktheorien macht Thomas Brooks die Textvergessenheit der Grammatik verantwortlich, konzediert aber auch die innere Notwendigkeit, mit der sich die Grammatik auf den Satz konzentriert. Wir behaupten, dass die Konstruktionsgrammatik, so wie wir sie in diesem Band konzipieren, das Instrumentarium bereitstellt, kreative sprachliche Tätigkeit zu erfassen.
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Inhaltsverzeichnis Vorwort: Regelbasierte Konstruktionsgrammatik. Musterbasiertheit vs. Idiomatizität V Ad Foolen Form- und bedeutungsorientierte Konstruktionsgrammatik. Ein Vergleich an Hand der Dativalternation 1 Klaus Welke Muster auf Bewährung: Kopula-Konstruktion und Zustandspassiv
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Arne Zeschel Argumente, Modifikatoren und „Ergänzungsbedürftigkeit“ aus konstruktionsgrammatischer Sicht 75 Dagobert Höllein Überlegungen zu Konstruktion und Grundvalenz
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Marc Felfe Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion. Überblendung, Fragment oder Fusion? 135 Hagen Hirschmann Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten im Deutschen – eine syntaktische, konstruktions- und variationslinguistische Beschreibung 183 Elena Smirnova Satzklammer im Deutschen: eine Konstruktion?
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Dániel Czicza Zu Ellipsen und grammatischen Operationen in der Konstruktionsgrammatik 255 Nikolas Koch & Stefan Hartmann Musterbasiertheit und Idiomatizität in Fragekonstruktionen: Eine empirische Studie zum Spracherwerb des Deutschen 281 Sabine De Knop & Fabio Mollica Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht
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Inhaltsverzeichnis
Berit Balzer Metaphorische Nominalkomposita als abwertende Personenbezeichnungen 353 Thomas Brooks Von Fehlern und Figuren. Zum grammatischen Eigensinn literarischer Sprache am Beispiel von Thomas Bernhards Die Billigesser 381 Register
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Form- und bedeutungsorientierte Konstruktionsgrammatik. Ein Vergleich an Hand der Dativalternation 1 Einleitung „Wie das Konstruktikon tatsächlich zu modellieren ist, ist nicht abschließend geklärt,“ so Zima (2021: 241) im vorletzten Teil ihrer Einführung in die gebrauchsbasierte kognitive Linguistik. Diese Feststellung könnte auf Studierende und junge Linguisten unterschiedlich wirken. Einige werden vielleicht entmutigt fragen „Noch immer nicht?“, andere werden darin eine Herausforderung sehen. Ältere Leser haben vielleicht eher unangenehme Assoziationen zu den Linguistics Wars, die in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in grammatischen Kreisen wüteten (ausführlich dokumentiert in Harris 2021 [1993]). Oder man fragt sich etwas distanzierter, woran es denn liege, dass noch immer nicht über die Modellierung des Sprachwissens Einigkeit erzielt wurde. Es ist die altbekannte zentrale, aber zugleich schwer zu fassende Beziehung zwischen Form und Bedeutung, die zu unterschiedlichen Modellierungen führt, so zeigt Zima. Kurz zusammengefasst: Eine zentrale Aufgabe der KxG ist es natürlich zuerst, herauszufinden, welche Konstruktionen es in einer Sprache gibt, dann aber vor allem auch, diese Konstruktionen in einem Netzwerk miteinander in Verbindung zu bringen. Die Wege trennen sich bei der Frage, ob die Form als Basis der Verbindung in Netzwerken dienen soll oder die Bedeutung. Zima (2021: 238) gibt u. a. als Beispiel für eine formbasierte Verbindung ins Gras beißen und in den sauren Apfel beißen, die beide als Instanziierungen einer gemeinsamen schematischeren Konstruktion dargestellt werden. Als Kontrast stellt sie eine Modellierung vor, die eher bedeutungsbasiert ist: Er strickt wird als Handlungskonstruktion mit einer auf Kreation gerichteten Handlungskonstruktion verbunden (Er strickt den Schal), und in einem nächsten Schritt wird noch Er strickt ihm den Schal einbezogen, in dem intendierter Transfer hinzukommt. Hier werden also eine intransitive, eine transitive und eine ditransitive Konstruktion miteinander in Verbindung gebracht, und zwar auf der Basis einer gemeinsamen, schrittweise angereicherten Bedeutung (dabei wird auf Arbeiten von Lasch verwiesen, siehe weiter Abschnitt 4). Natürlich spielen in beiden Arten der Netzwerkmodellierung Form und Bedeutung eine Rolle, Sprachzeichen sind bilateral, aber das deskriptive Primat, die Basis der Verbindung, kann in der Tat unterschiedlich sein, Form versus Bedeutung. Eine vollständige Grammatik umfasst beide Netzwerke, so darf man annehmen. https://doi.org/10.1515/9783111334042-001
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Aber vielleicht gibt es Anlass, in der Forschung mit dem einen Netzwerk anzufangen, z. B. weil es empirisch zugänglicher ist. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, die KxG-Literatur der letzten Jahre daraufhin zu prüfen, wie diese, hier kurz angedeutete Wahl von verschiedenen Autoren theoretisch und methodisch unterschiedlich getroffen wird. Weitergehendes Ziel des Aufsatzes ist es dann, dazu beizutragen, zu verhindern, dass unterschiedliche Positionen sich in kriegerischer Weise verfestigen, wie das vor einem halben Jahrhundert geschah. Die sogenannte Dativalternation (Maria schickt Peter das Buch versus Maria schickt das Buch an Peter) dient bei dem Theorievergleich als deskriptives Beispiel. Es hätte auch die sogenannte Genitivalternation (Peters Buch versus Das Buch von Peter), die Beziehung zwischen Aktiv und Passiv oder Wortstellungsalternativen sein können. Aber die Analyse der Dativalternation wurde jahrzehntelang immer wieder von unterschiedlichen Autoren als Illustration der eigenen Ansichten benutzt, sodass dieses Phänomen sich besonders gut als Demonstrationsobjekt eignet. Zusätzlicher Anlass für diese Wahl war auch folgende Bemerkung in Harris (2021: 359): „The most famous, much traveled, argument for Construction Grammar comes from another one of Lakoff’s students, Adele Goldberg, on the Ditransitive Construction.“ In Abschnitt 2 werden drei Aspekte vorgestellt, die allgemeine Relevanz für die Thematik dieses Beitrags haben. In Abschnitt 3 wird die „klassische“ formorientierte Position der Konstruktionsgrammatik (hier F-KxG abgekürzt) besprochen, insbesondere, wie sie als Reaktion auf die Generative Grammatik zu verstehen ist. In Abschnitt 4 werden bedeutungsorientierte Ansätze diskutiert (hier B-KxG abgekürzt), die in gewisser Weise in Kontrast zur klassischen KxG stehen. Im abschließenden Abschnitt 5 wird der Frage nachgegangen, inwiefern eine Integration der in Abschnitt 3 und 4 besprochenen Standpunkte möglich und wünschenswert wäre.
2 Allgemeine Begrifflichkeiten 2.1 Was heißt gebrauchsbasiert? In einem trivialen Verständnis heißt gebrauchsbasiert, dass es der grammatischen Forschung zugutekommt, Beispiele aus dem „echten“ Sprachgebrauch zu benutzen, statt sich auf selbst konstruierte Beispiele zu verlassen und diese mit der eigenen Intuition auf deren Grammatikalität zu prüfen. Noch gebrauchsbasierter wäre es dann, systematisch Korpora auszuwerten, also alle Vorkommen einer Konstruktion
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in ihrer unterschiedlichen Gestaltung zu sammeln und eine Analyse vorzuschlagen, die diese Sprachgebrauchsdaten generalisierend beschreibt. Dieses linguistisch-methodologische Verständnis von gebrauchsbasierter Grammatik ist sicher beizubehalten, aber es gibt noch eine zweite, „tiefere“ Interpretation des Begriffes: Das Sprachwissen selbst ist als gebrauchsbasiert zu verstehen. Das Sprachwissen des Native Speakers hat ihre Basis nicht primär in einer angeborenen Universal Grammar, sondern im interaktionellen Sprachgebrauch, in dem das sprachlernende Kind einbezogen wird. Sprachlerner, Kinder und, beim Zweitspracherwerb, Erwachsene, werden schrittweise kompetente Teilnehmer der sprachlichen Interaktion, und gespeichertes Sprachwissen fungiert dabei zunehmend als „innere“ Unterstützung. Dieses Wissen ändert sich permanent unter dem Einfluss der sprachlichen Interaktion, vgl. Diessel (2020: 3): „I maintain that constructions are emergent and transient, like all other aspects of linguistic structure.“ Beispielsweise können Gebrauchsfrequenzdaten, die bei den Bausteinen des Sprachwissens mental gespeichert werden, sich ändern, Wörter können polysemer werden, Konstruktionen können sich in Form oder Bedeutung leicht verändern usw. Diese gebrauchsbasierte Sichtweise in Bezug auf die sprachliche Kompetenz impliziert wiederum, dass eine strikte Trennung von synchroner und diachroner Beschreibung eher unerwünscht ist. „Diachron“ kann dabei klassisch auf die Sprachgemeinschaft bezogen werden wie auch, weniger klassisch, auf die individuelle longitudinale Sprachentwicklung und -veränderung. Die Idee der Gebrauchsbasiertheit der Grammatik kann, in einem dritten Schritt, noch weiter „radikalisiert“ werden, wenn man annimmt, dass die Struktur der Konstruktionen und die Organisation ihrer gegenseitigen Beziehungen eine solche Form annehmen, dass sie für den Sprachgebrauch optimal geeignet sind. Dann könnte man eigentlich besser von „Gebrauchsorientiertheit“ der Grammatik sprechen. Diese Perspektive kommt der der Funktionalen Grammatik (in ihren unterschiedlichen Ausprägungen) nahe. Das „funktional“ der Funktionalen Grammatik ist primär als funktional für den kommunikativen Gebrauch zu verstehen. Funktionalität des Sprachwissens bedeutet u. a. schnelle Zugriffsmöglichkeit auf Sprecherseite und schnelle Möglichkeit der Verarbeitung auf Hörerseite. Aber auch: deutliche Strukturiertheit, um z. B. Sprechhandlungsintentionen, Höflichkeit oder den Unterschied zwischen alter und neuer Information formal anzuzeigen. Eine so verstandene gebrauchsbasierte, bzw. gebrauchsorientierte Grammatik ist pragmatisch gefärbt. Welke (2019) spricht im Untertitel seines Buches von sprachgebrauchsbezogen, was weiter nicht genau definiert wird, aber Passagen wie die auf S. 29, wo er anführt, dass Prozesse der Instanziierung „sprachgebrauchsbezogen interpretiert sind als Operationen in der sprachlichen Tätigkeit der Sprecher/ Hörer“ könnte man im Rahmen einer funktionalen Perspektive lesen.
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2.2 Synonymie Sprachliche Einheiten (Wörter, Morpheme, Konstruktionen) können ähnliche Bedeutung haben. Dieses Phänomen wird in der Sprachwissenschaft als Synonymie oder Bedeutungsäquivalenz bezeichnet. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Synonymie primär auf lexikalische Einheiten bezogen, in der Sprachwissenschaft auch auf andere bedeutungstragende Einheiten, wie Morpheme und syntaktische Konstruktionen. So wurde in der frühen generativen Grammatik angenommen, dass Konstruktionen, die transformationell von derselben Tiefenstruktur abgeleitet wurden, synonym wären. Wortstellungsvarianten, Aktiv-Passiv und die Dativalternation sind bekannte Beispiele aus der transformationellen Literatur, die Bedeutungsäquivalenz voraussetzen. Die Kognitive Linguistik hat in mehrfacher Hinsicht die Auffassungen der generativen Grammatik angezweifelt, auch die Annahme einer Bedeutungsäquivalenz unterschiedlicher sprachlicher Einheiten. Im Rahmen der kognitiven Perspektive wird betont, dass bei genauerer Betrachtung zwei Formen meistens doch nicht synonym sind, vgl.: [W]hile extensive polysemy is tolerated, synonymy tends to be avoided. To be sure, nearsynonyms – words with similar, though not identical meanings – are legion (think of big/large, small/little, tall/high, road/street, engine/motor, and many more). Yet it is difficult to find pairs of words which have exactly the same semantic value. (A possible candidate might be sofa and couch). In case of potential synonymy, ‘corrective’ mechanisms come into play – one of the words may fall into disuse, or the words become associated with different nuances, possibly of a stylistic or sociocultural nature. (Taylor 2002: 471)
Diese kognitionslinguistische Ansicht wird in der Konstruktionsgrammatik beibehalten und sogar zum Prinzip erklärt, das sogenannte no-synonymy-Prinzip (Goldberg 1995: 3; Welke 2019: 36). Das Prinzip besagt, dass unterschiedliche Formen unterschiedliche Bedeutung haben. Auch wenn zwei formunterschiedliche Äußerungen sich auf denselben Sachverhalt beziehen, sind sie, diesem Prinzip folgend nicht bedeutungsgleich. Der „schwächere“ Begriff Bedeutungsähnlichkeit kann aber durchaus zutreffen. In der kognitiven Linguistik wird in solchen Fällen der Bedeutungsunterschied oft als „construal“ betrachtet, vgl. Langacker (2015: 120): „Construal is the ability to conceive and portray the same situation in alternate ways. In cognitive linguistics, the term indicates an array of conceptual factors (such as prominence) shown to be relevant for lexical and semantic description.“ Oder in der Formulierung von Hamawand: No two expressions are identical or in free variation. Variants reflect different conceptualizations, and as a result are encoded linguistically differently. Two linguistic expressions may have the same conceptual content, but still contrast semantically. The semantic contrast
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between them is attributable to the imposition of alternate construals on their content. (Hamawand 2021: 244)
Auch Welke teilt diese no-synonymy-Auffassung: [D]ie Konstruktionen (35a) [Er unterstützt ihn] und (35b) [Er hilft ihm] [sind] Token-Konstruktionen zweier sowohl formal als auch semantisch verschiedener Konstruktionsmuster. Sie erfüllen damit die Bedingung der Einheit von Form und Bedeutung (der Bilateralität) von Konstruktionen. […] Das heißt nicht, dass die Einordnung ein sprachliches Gefängnis ist, wie es die Inhaltsbezogene Sprachauffassung […] angenommen hat. Im Prinzip weiß jeder Sprecher um die Möglichkeit der unterschiedlichen Einordnung und um die Möglichkeit, die Sache auch anders sehen zu können. Warum sollte diese Dialektik ausgerechnet auf die in einer Sprache konventionalisierten unterschiedlichen Klassifizierungen nicht zutreffen? (Welke 2021: 83)
2.3 Die Dativalternation Im Englischen, wie auch in vielen anderen Sprachen, kann eine ditransitive Konstruktion wie Maria schickt Peter das Buch durch eine Konstruktion mit Präpositionalphrase paraphrasiert werden: Maria schickt das Buch an Peter. Typischerweise beteiligen sich nicht alle Verben an dieser „Alternation“, bestimmte Verben können nur in der einen oder der anderen Konstruktion benutzt werden. Der Dativkasus, auch in der Indirektes-Objekt-Konstituente in einer ditransitiven Konstruktion, kann verschiedene, polysem verwandte Bedeutungsschattierungen (oft „semantische Rollen“ genannt) annehmen: Rezipient, Benefaktiv, Malefaktiv usw. (vgl. u. a. Colleman 2010; De Knop & Mollica 2017; Kotin 2021; Panther 2021; Paszenda 2017). Die typologische Forschung hat eine Vorliebe für implikative Ordnungen, in diesem Fall z. B. der Art: Wenn eine Sprache die malefaktive Schattierung in der Indirektes-Objekt-Konstruktion zulässt, dann auch die benefaktive und ganz sicher die „rezipiente“. Colleman (2010) vergleicht „mikro-typologisch“ Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch und hier ist die implikative Ordnung in der Tat vorfindbar: Im Deutschen lässt die ditransitive Konstruktion die ganze Breite der Schattierungen zu, im Englischen nur einen Teil davon, während überraschenderweise das Niederländische die Konstruktion praktisch auf die rezipiente Schattierung eingeschränkt hat. Die Varianz schließt eine semantische Unifizierung des Dativs nicht aus, vgl. Welke (2021: 83) „Man kann mit Wegener (1985, S. 321) das Merkmal der Betroffenheit als ,semantische Grundfunktion‘ (als invariante Bedeutung) des Dativs ansehen. Das heißt, Prototypik schließt Invarianz nicht aus.“ Die Präposition, die bei der präpositionalen Paraphrase benutzt wird, variiert. Zur Realisierung der rezipienten Schattierung wird im Deutschen eine
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Präpositionalgruppe an+Akk benutzt, im Niederländischen aan, im Englischen to, während als sprachliche Kodierung des Benefaktivs für, voor und for benutzt wird. In der transformationellen generativen Grammatik wurde angenommen, dass die Paraphrasebeziehung zwischen der ditransitiven und präpositionalen Konstruktion grammatischen Status hat, und dass deshalb ein formaler Zusammenhang zwischen den beiden Konstruktionen Teil der grammatischen Beschreibung sein sollte. Der Vorschlag dazu von Fillmore (1965) sei hier als Illustration dieser Auffassung kurz zusammengefasst. Nicht jedem ist bekannt, dass Fillmores wissenschaftliche Karriere (1929– 2014), wie die vieler anderer Pioniere der Kognitiven Linguistik und Konstruktionsgrammatik, in der Transformationsgrammatik angefangen hat. Gleich nach seiner Promotion im Jahr 1961 an der Universität von Michigan arbeitete er an der Ohio State University im „Project on Syntactic Analysis“. Das führte 1963 u. a. zu einem Aufsatz unter dem Titel The Position of Embedding Transformations in a Grammar, bekannt geworden wegen der Einführung des sogenannten transformationellen Zyklus, welcher als Prinzip besagt, dass Transformationen schrittweise auf eingebettete Sätze „von unten nach oben in der Baumstruktur“ angewandt werden sollen. Weniger bekannt ist, dass dieses Projekt auch speziell den Indirektes-ObjektKonstruktionen gewidmet war, insbesondere der Frage, wie die Beziehung zwischen der to-PP- und „kahlen“ NP-Form so sparsam wie möglich in generativen Regeln erfasst werden könnte. In einer kurzen Monographie (1965) stellt Fillmore eine transformationelle Analyse der Dativalternation vor. Die deskriptive Lösung wurde in der transformationellen Komponente gesucht: Beide Konstruktionen sollten von derselben Tiefenstruktur abgeleitet werden. Fillmore schlug vor, eine Tiefenstruktur anzunehmen, die der präpositionalen Form ähnlich war, die also ohne eingreifende transformationelle Änderung in die präpositionale Oberflächenstruktur umgesetzt werden konnte. Die NP-Form wurde hingegen mit Hilfe einer Transformation abgeleitet, die zum einen die Präposition streicht und zum anderen die jetzt „kahle“ NP in eine Position vor dem direkten Objekt bewegt. Bei der transformationellen Analyse gibt es Statusungleichheit zwischen den Varianten, insofern eine Variante der Tiefenstruktur ähnlicher ist als die andere. Ein paar Jahre nach dem Aufsatz von 1965 hebt Fillmore diese Statusungleichheit dadurch auf, dass eine semantische Basis für die verschiedenen formalen Realisierungen angenommen wird, vgl. Fillmore (1968: 33): „The ‚universal‘ character of the base rules is kept intact by the assumption that prepositions, postpositions and case affixes […] are all in fact realizations of the same underlying element, say K (for Kasus). We may regard all of the case categories therefore rewritten as K + NP.“ Diese Wendung öffnet den Weg zu generativ-semantischen und später frame-semantischen Forschungsansätzen, die beide eine sprach- und
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konstruktionsunabhängige semantische bzw. konzeptuelle Basis anstreben, von der aus die Formen als Realisierungen in Betracht gezogen werden. Fillmore war sich übrigens dessen bewusst, dass nicht alle Verben an der Alternation teilnehmen. Sätze mit solchen Verben werden aber einfach von der Analyse ausgeschlossen, vgl. Fillmore (1965: 11): „Constructions underlying (7) [He asked me a question] and (10) [I envy you your garden] are not taken up in this study.“ Es ist gerade dieses Phänomen des konstruktionsgebundenen Verhaltens der Verben, das in der späteren gebrauchsorientieren Konstruktionsgrammatik eine wichtige Rolle in der Neugestaltung der grammatischen Theorie spielen wird: Die Alternation als grammatiktheoretisches Konzept wird in Frage gestellt.
3 Formorientierte Konstruktionsgrammatik Wie das Ensemble des Sprachwissens intern strukturiert ist, ist eine ̶ oder vielleicht die ̶ zentrale Frage der Sprachwissenschaft. Gebrauchsbasierte Theorien über dieses Sprachwissen unterscheiden sich u. a. hinsichtlich des Abstraktheitsgrades. In der KxG wird meistens angenommen, dass Grammatik erst durch Abstrahierungsschritte entsteht. Und diese Schritte verlaufen primär entlang der Formseite der sprachlichen Einheiten, so nimmt die klassische KxG implizit oder explizit an. Die auf diese Annahme basierende Forschung werden wir in diesem Abschnitt näher betrachten. Die Bezeichnung formorientierte Konstruktionsgrammatik (F-KxG) ist auf den ersten Blick inkonsistent, wird doch in der KxG gerade die Einheit von Form und Bedeutung betont. Diese Bezeichnung will aber besagen, dass die Vernetzung der Konstruktionen über Formeigenschaften verläuft: Token-Konstruktionen mit derselben Form werden im Prinzip als ‚dieselbe Konstruktion‘ betrachtet, wobei angenommen wird, dass bei der Abstrahierung die Bedeutungseigenschaften automatisch ‚mitlaufen‘: Abstraktere Formschemata implizieren automatisch abstraktere Bedeutungsschemata usw. Das kognitiv-konstruktionelle no-synonymy-Prinzip impliziert zugleich, dass Konstruktionen unterschiedlicher Form, auf welcher Abstraktionsebene auch immer, unterschiedliche Bedeutungen implizieren. Diese Sichtweise bietet keinen Platz für generative Analysen wie die von Fillmore (1965), bei der gerade implizit Bedeutungsgleichheit zwischen Konstruktionen angenommen wird. In der klassischen KxG und in der auf ihr basierenden signifikativen Semantik (siehe unten) wird nicht von Synonymie als Bedeutungsidentität ausgegangen, sondern von Formidentität, wobei auf der Bedeutungsseite Monosemie, Polysemie und in seltenen Fällen auch Homonymie festzustellen sind. Diese Unterschiede sind
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nicht absolut: Ein monosemes Zeichen kann durch prototypische Bedeutungserweiterung polysem werden, und dieser Prozess kann noch weiter gehen, sodass die Verbindung zwischen den Bedeutungsvarianten des polysemen Zeichens nicht mehr als solche empfunden wird, was Homonymie zur Folge hat. Die formorientierte Forschungsstrategie hat Vorteile. So trägt die Orientierung auf Form dazu bei, dass die ‚onomasiologische Falle‘ vermieden wird. Mit dieser ‚Falle‘ ist die Annahme gemeint, dass es eine universelle Ontologie gäbe, die sozusagen von sich aus Kategorien bereitstellt, welche unter sich ein Netzwerk bilden. Ausgehend von dieser onomasiologischen Perspektive wäre es die Aufgabe des Linguisten herauszufinden, wie jede Sprache diese Kategorien formal erfasst. Eine solche Vorgehensweise wurde in der Tat schon von der mittelalterlichen Grammatica Speculativa verfolgt, aber inzwischen ist klar, dass semantische Unterschiede in erster Instanz sprachspezifisch sind. Natürlich müssen sie irgendwie auf ‚die Welt‘ oder ‚die Erfahrung‘, oder einen „Wahrnehmungsgegenstandsausschnitt“ (Lasch 2020: 136) beziehbar sein, sonst wird das Kommunizieren über die Welt mit Sprache mühsam. Aber zwischen Welt und Erfahrung einerseits und sprachspezifischer Organisation von Bedeutung soll unterschieden werden, wenn man linguistisch ‚saubere‘ Resultate erreichen will. Das Problem ist aber nun, dass diese sprachspezifische Organisation von Bedeutungen, das sprachliche Bedeutungsnetzwerk, nicht einfach gegeben und greifbar ist. Welche Bedeutungseinheiten es gibt, müssen wir erst durch Sprachanalyse ‚entdecken‘. Und das geht nun mal einfacher über den Weg der Form. Die formale Seite der Sprachzeichen ist perzeptiv ‚greifbar‘, was bei der inhaltlichen nicht so ist. Allerdings sind die Zeichen auch formal nicht einfach ‚gegeben‘. Jedes Wort bzw. jede Konstruktion muss analytisch ‚herauspräpariert‘ werden, und das geht nur, wenn man die Bedeutungen, wenn auch implizit, mit einbezieht. Man muss Intuitionen über Bedeutungsunterschiede oder -gleichheit einbringen können. Im darauffolgenden analytischen Schritt soll das Netzwerk rekonstruiert werden, das die Einheiten untereinander verbindet. Wiederum liegt es auf der Hand, diese Verbindungen über die formale Seite verlaufen zu lassen: Formal ähnliche Äußerungen geben Anlass zur Annahme eines zu Grunde liegenden abstrakteren Schemas. Das Prinzip der Bilateralität garantiert, dass das Netzwerk zugleich ein Bedeutungsnetzwerk beinhaltet: Abstraktere Schemata erfassen das formal Gemeinsame, aber automatisch auch das semantisch Gemeinsame. Und umgekehrt: Konkretere Schemata und Token-Konstruktionen sind reichhaltiger, sie präzisieren das abstrakte Schema formal und dadurch auch inhaltlich. Die hier in diesem Abschnitt erkundete Forschungslinie wird unterschiedlich bezeichnet. Einfach ‚Konstruktionsgrammatik‘ (Goldberg) oder mit Zusätzen wie ‚gebrauchsbasiert‘ oder ‚gebrauchsbezogen‘ (Welke 2019). Höllein (2019) nennt seinen Ansatz, unter Verweis auf Welke, ‚signifikative Semantik‘ (siehe auch Ágel & Höllein 2021).
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3.1 Goldberg (1995, 2002) Die klassische Arbeit ist natürlich Goldberg (1995), aber da in Goldberg (2002) die Dativalternation detailliert besprochen wird, konzentrieren wir uns hier auf diesen Aufsatz. Im Abstract wird die Argumentationslinie klar zusammengefasst: Since the earliest days of generative grammar, there has existed a strong tendency to consider one argument structure construction in relation to a particular rough paraphrase. Initially this was a result of the emphasis on transformations that derived one pattern from another. […] This article argues that it is profitable to look beyond alternations and to consider each surface pattern on its own terms. (Goldberg 2002: 327)
Im analytischen Teil des Aufsatzes betrachtet Goldberg die distributionellen Phänomene verschiedener Konstruktionen, die typischerweise transformationell auf einander bezogen wurden, darunter die load/spray-Alternation (He loaded the wagon with hay/He loaded hay on the wagon) und die Dativalternation. Ihr Befund zu der letzteren lautet: Thus we see that ditransitive expressions pattern alike on a number of syntactic and semantic dimensions regardless of their potential paraphrases. It seems that the only thing that the respective paraphrases [to- und for-Paraphrasen, AF] share with the ditransitives is the quite rough paraphrase relations themselves. There is little empirical motivation to decree that ditransitives must be derived from prepositional paraphrases, nor that ditransitives that admit of distinct paraphrases must be treated themselves as more than minimal variants of each other. The robust generalizations are surface generalizations. (Goldberg 2002: 333)
Wie in Abschnitt 2 schon behandelt wurde, sind die Konstruktionen nicht einfach formal gegeben, sie müssen mit impliziter Hilfe der Bedeutung ‚isoliert‘ werden. Eine Illustration dieses methodischen Problems findet sich in Goldberg (2002: 335). Es geht um Beispiele, die eine for-PP-Gruppe enthalten: Mina bought a book for Mel, That statue stood for three hours, He exchanged the socks for a belt. Goldberg spricht in solchen Fällen von constructional ambiguity: „[A] single surface form having unrelated meanings.“ Man könnte es auch Homonymie auf der Ebene des Token-Konstrukts nennen. Das Problem ist aus dem Lexikon bekannt: Bank als Sitzmöbel und als finanzielle Einrichtung. Dank dem impliziten Wissen um die Bedeutung kann der Linguist-als-native-Speaker ambige Konstruktionen auseinanderhalten. Das Phänomen der Token-Homonymie muss uns hier nicht weiter beunruhigen. Vor dem Hintergrund der Argumentation gegen eine grammatische Verbindung unterschiedlicher Konstruktionen (in diesem Falle Indirektes-ObjektKonstruktion und die präpositionale Konstruktion) erstaunt es, dass Goldberg am
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Ende ihres Aufsatzes doch wieder einräumt, dass Alternativen/Paraphrasen eine Rolle im Sprachwissen spielen: The arguments in this paper should not be taken to imply that possible paraphrase relations play no role in the learning, processing or representation of language. The essentially structuralist observation that the semantic interpretation of one linguistic construct tends to be affected by the existence of possible alternatives, receives empirical support from a number of studies […]. Paraphrase relations can also be seen to be relevant to on-line choices made in production. (Goldberg 2002: 349)
Aber diese Überlegungen sind für Goldberg kein Anlass, das vorgeschlagene formorientierte Grammatikmodell zu revidieren.
3.2 Welke (2019, 2020, 2021) Welke zeigt in seinem ‚sprachgebrauchsbezogenen‘ Ansatz eine kritische Affinität zur Konstruktionsgrammatik, insbesondere Goldberg’scher Prägung. Kritisch merkt er an, dass die KxG ständig der Gefahr unterliegt, Bedeutung denotativ (weltbezogen, framesemantisch modelliert) aufzufassen, er bemängelt „die in der KxG häufig anzutreffende Identifizierung von sprachlichem Wissen und Weltwissen (Wort- bzw. Konstruktionsbedeutung und enzyklopädischer Bedeutung)“ (Welke 2019: 506). Dass die von Welke signalisierte (Ver)mischung von Welt- und Sprachwissen durchaus noch aktuell ist, sehen wir z. B. in der Einführung von Zima (2021). Auf S. 242 werden Frames folgendermaßen definiert: „Frames [sind] erfahrungsbasierte Wissensstrukturen […], die von lexikalischen Einheiten evoziert werden. […] Auch Konstruktionen [rufen Frames auf]“. Auf der nächsten Seite illustriert Zima die Anwendung von Frames in der Bedeutungsexplikation an Hand der Ditransitivkonstruktion: „Im Falle der Ditransitivkonstruktion wird die Interdependenz von Frames und Konstruktionen […] besonders deutlich, denn die Bedeutung der Konstruktion konstituiert sich aus den Kernelementen des TRANSFER-Frames“ (Zima 2021: 243). Für die Definition dieses Frames verweist Zima auf FrameNet: „Dieser Frame beinhaltet einen Geber, der ein Objekt an einen Empfänger überträgt“ (Zima 2021: 242). Die hier benutzte Paraphrase mit an („an einen Empfänger“) suggeriert, dass in diesem Ansatz der Bedeutung eines Satzes mit geben und einer an-PP dieselbe Bedeutung zugeschrieben wird wie der Indirektes-Objekt-Konstruktion. Eine solche Bedeutungsidentifizierung ist etwas, was die F-KxG gerade vermeiden will. Da ist das no-synonymy-Prinzip leitend. Bilaterale Sprachzeichen (Form-Bedeutungseinheiten) sind im Sprachsystem eingebettet und unterhalten Beziehungen zu ‚benachbarten‘ Zeichen im System. Auf der Bedeutungsseite tragen solche Bezie-
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hungen zur präzisen Bedeutung eines Zeichens bei. Da zwei Zeichen nicht denselben Platz im System einnehmen können, können sie auch nicht bedeutungsgleich (synonym) sein: Zum Beispiel sind Aktiv und Passiv nicht unterschiedliche Formen ein und derselben Konstruktion, sondern unterschiedliche Konstruktionen mit jeweils eigener Form und Bedeutung, wenn auch bedeutungsähnlich und in diesem Sinn synonym. […] Ebenso sind die Ditransitiv-Konstruktion und die Direktivkonstruktion des Englischen unterschiedliche Konstruktionen, und Dativ und to-PP sind Kodierungen unterschiedlicher Rollen. (Welke 2019: 36)
Wie im Zitat zu lesen ist, wird Bedeutungsähnlichkeit nicht ausgeschlossen. Beispiele dafür finden sich in Welke (2019: 34), darunter auch Emil schickt Anton das Buch und Emil schickt das Buch an Anton. Bedeutungsähnlichkeit wird aber kein besonderer theoretischer Status zugeschrieben. Es ist sozusagen, wie bei Goldberg, ein Epiphänomen: Es kann auftreten, muss aber nicht. Wo es auftritt, stellt es dem Sprecher Formulierungsalternativen zur Verfügung, was vielleicht willkommen, vielleicht aber auch lästig ist. Aber für die Beschreibung des Sprachsystems, des Sprachwissens, hat das weiter keine Relevanz. Auch das System selber wird von diesem Epiphänomen nicht berührt, in dem Sinne z. B., dass es zu Sprachveränderung führen würde. So gesehen, gehört „das Nebeneinander konkurrierender schematischer Konstruktionen im Konstruktikon aus denen die Sprecher unter kommunikativen und kognitiven Zielstellungen auswählen [können]“ (Welke 2019: 505) eher in die Pragmatik als in die Grammatiktheorie.
3.3 Höllein (2019, 2020, 2021) Hölleins Studie zu Präpositionalobjekten (2019) schließt eng bei Welke an. Höllein nennt seinen Ansatz ‚signifikative Semantik‘ und benutzt dieses Label auch für Welkes Vorgehensweise (2019: 2): „Die signifikative Semantik Welkes […] fokussiert – pauschal gesagt – die Bedeutung im Sinne Coserius […] und steht damit im Gegensatz zu der etablierten bezeichnungszentrierten (denotativen) Rollensemantik Fillmore’scher Prägung.“ Wie Welke unterschreibt Höllein das no-synonymy-Prinzip ohne jeden Vorbehalt (2021: 271): „In terms of significative semantics, the principle of no synonymy is reflected in semantic analysis: ‘If two constructions are syntactically distinct, they must be semantically [distinct]’ (Goldberg 1995: 67), i. e. they must be analysed in terms of different semantic roles.“ Nach Höllein (2020: 97) ergibt sich „der Keine-Synonyme-Grundsatz der signifikativen Semantik […] daraus, dass Synonymie ein semiotisches Paradoxon ist. […]
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Zeichen können also bedeutungsähnlich, aber eben notwendig nicht bedeutungsgleich/synonym sein.“ In Fußnote 16 auf derselben Seite wird noch angemerkt: Synonymie ist nur als diachrones Übergangsphänomen in dem Sinne möglich, dass ein Zeichen die Stelle eines anderen einnimmt und zu einem synchronen Zeitpunkt Zeichen A noch vorhanden und Zeichen B schon vorhanden ist. Diesen Spezialfall scheinbarer Synonymie habe ich mit dem Konzept des Nischentransits in Höllein (2019: 82–89) beschrieben. (Höllein 2020: 97)
Die Anwendung des no-synonymy-Prinzips kann mit Hölleins Besprechung benefaktiver Konstruktionen illustriert werden: (31) Die Beamten backen der Redaktion einen Kuchen. […] (32) Die Beamten backen einen Kuchen für die Redaktion. […] Nach Ágel (2017: 510) ersetzen die Alternanten einander nicht, sondern bieten „dem Sprachbenutzer grammatisch-semantische Alternativen“ […]. Satz (31) repräsentiert die „signifikativ-semantisch neutrale, offene Alternante“ […], Satz (32) dagegen die „signifikativ-semantisch spezifische, geschlossene Alternante.“ (Höllein 2019: 199)
Was hier genau mit ‚offen‘ und ‚geschlossen‘ gemeint ist, ist im Kontext des jetzigen Aufsatzes nicht so wichtig, das Beispiel soll primär zeigen, dass der Kontrast zwischen den Alternativen betont wird, nicht deren Gemeinsamkeit.
3.4 Exkurs ins Niederländische Die Dativalternation existiert auch im Niederländischen und auch in der Niederlandistik wurde dieses Phänomen regelmäßig als beispielhafter Fall für die eigenen theoretischen Auffassungen aufgeführt. Ab den 1980er Jahren gab es an der Universität Amsterdam einen formorientierten Ansatz, der unter dem Label substantiële taalkunde ‚substantielle Sprachwissenschaft‘ praktiziert wurde. ‚Substantiell‘, weil davon ausgegangen wurde, dass sprachliche Einheiten Form-Bedeutungseinheiten sind und nicht, wie in der generativen Grammatik, formale Einheiten, die über ein ‚Interface‘ mit Bedeutung in Verbindung gebracht werden. In diesem theoretischen Rahmen verfasste Schermer-Vermeer (1991) eine Studie über die Dativalternation im Niederländischen, die der Konstruktionsgrammatik sehr nahekommt. Auch sie betont die Eigenständigkeit der beiden Konstruktionen. Bei der ditransitiven Konstruktion bleibt die Beziehung zwischen den beiden Objekten vager als bei der präpositionalen Variante, bei der die Präposition diese Beziehung präzisiert (Schermer-Vermeer 1991: 315). Auch Niederlandisten anderer theoretischen Orientierung haben argumentiert, dass die Bedeutungen der nominalen und präpositionalen Konstruktion nicht
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einfach als synonym betrachtet werden sollte. Janssen (1998) schreibt in einem kognitiv-linguistischen orientierten Aufsatz: I assume that the nominal and prepositional indirect object are different grammatical categories, although sentences such as (38) [Fred gaf Tom een wandelstok ‘Fred gave Tom a walking-stick’] and (39) Fred gaf een wandelstok aan Tom ‘Fred gave a walking-stick to Tom’] are generally judged as synonymous. Due to the undeniable semantic similarity between sentences of these two types, the nominal and prepositional indirect object are traditionally assumed to be instantiations of one and the same grammatical category, namely the category of the indirect object. Nevertheless, this idea is contestable because nominal and prepositional indirect objects do not alternate freely and, after all, sentences such as (38) and (39) do differ semantically, as argued by, for instance, […] Schermer-Vermeer (1991). (Janssen 1998: 15)
Wie Schermer-Vermeer versucht auch Janssen den semantischen Unterschied näher zu charakterisieren: How can the semantic difference between geven sentences with a nominal and sentences with a prepositional indirect object be characterized more specifically? What is referred to by means of the prepositional indirect object is the domain into which the direct object’s referent is assumed to fall. In contrary to this, the nominal indirect object specifies the domain in which the entire situation at issue has to be seen. (Janssen 1998: 16)
Und in einer neueren F-KxG orientierten Niederlandistik-Studie argumentiert Colleman (2021), dass bei der präpositionalen Alternative der Besitzverlust des Agens stärker in den Vordergrund tritt, während die NP-NP-Form den Transferprozess eher holistisch konzeptualisiert. Es geht hier nicht darum zu präzisieren, was genau die Autoren jeweils mit ‚vage‘ versus ‚präzise‘, ‚domain‘ oder ‚Vordergrund‘ usw. meinen. Die Verweise sollen nur zeigen, dass die Ausgangspunkte der formorientierten Konstruktionsgrammatik, insbesondere das no-synonymy-Prinzip, auch in anderen theoretischen Kontexten und auch bei der Beschreibung anderer Sprachen eine leitende Rolle gespielt haben und noch spielen.
4 Bedeutungsorientierte Konstruktionsgrammatik Trotz des in Kreisen der F-KxG breit akzeptierten no-synonymy-Prinzips ist festzustellen, dass in der modernen konstruktionsgrammatischen Literatur das Interesse für Synonymie und verwandte Begriffe nicht verschwunden ist. Im Gegenteil: Es gibt erneut Versuche, diesem Phänomen einen regulären Platz in der linguistischen Theoriebildung einzuräumen. In diesem Abschnitt werden wir einige der
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modernen Arbeiten, die diese Möglichkeit erkunden, genauer anschauen, und im abschließenden Abschnitt 5 wird die Frage gestellt, was die bedeutungsorientierte Konstruktionsgrammatik (B-KxG) eventuell im Abgleich mit der F-KxG bedeuten könnte oder müsste.
4.1 Cappelle (2006) Cappelle (2006) ist insofern ein locus classicus in der KxG, als er als einer der Ersten dafür plädiert hat, unterschiedliche Konstruktionen auf einander zu beziehen und sie als Varianten einer abstrakteren Konstruktion zu modellieren, die die Gemeinsamkeiten der Varianten erfassen soll. Für die Varianten führt er den Begriff ‚allostruction‘ ein. Im Abstract seines Aufsatzes schreibt Cappelle programmatisch: As a reaction against derivational frameworks, Construction Grammar accords no place to regular alternations between two surface patterns. This paper argues for a more tolerant position towards alternations. With respect to the well-known placement variability of verbal particles (pick up the book / pick the book up), the author grants that there is little reason for analysing one ordering as underlying the other but goes on to show that it is equally problematic to claim that the two orderings code two different meanings (or serve two different functions) and therefore cannot be linked in the grammar as variants of a single category. The alternative offered here is to consider the two orderings as two ‘allostructions’ of a more general transitive verb-particle construction underspecified for word order. (Cappelle 2006: 1)
Wie Cappelle (2006: 25) später im Aufsatz erläutert, wurde die Wahl des Begriffs gemünzt auf „the less controversial existence of allophonic and allomorphic variation in the domain of sound structure and word structure.“ Bei Cappelle geht es um Varianten, die sich in ihrer Bedeutung nicht oder minimal unterscheiden. Aber es spricht prinzipiell nichts dagegen, eine ähnliche Analyse für zwei oder mehr Konstruktionen unterschiedlicher Form vorzuschlagen, bei denen der Bedeutungsunterschied etwas größer ist, aber zugleich auch nicht so groß, dass es keine semantische Gemeinsamkeiten mehr gibt. Auf jeden Fall haben Perek (2012, 2015) und De Vaere & Kollegen sich bei ihren Analysen der Dativalternation im Englischen bzw. Deutschen von Cappelle (2006) inspirieren lassen.
4.2 Perek (2012, 2015) Cappelle hatte noch kein grammatisches Label für die übergeordnete abstraktere Konstruktion vorgeschlagen. Perek (2012: 629) füllt diese terminologische Lücke mit ‚Constructeme‘. Aus seinen Experimenten, in denen Versuchsper-
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sonen Sätze mit u. a. Dativalternationen im Englischen sortieren sollten, zieht er den Schluss: […] that formally distinct but semantically similar constructions can prime each other, which is evidence that they are indeed related at some level of representation in the mental grammar of speakers. These results suggest that the linguistic knowledge of speakers might well contain a higher level of generalizations composed of highly abstract constructional meanings detached from any particular form, which is tantamount to the notion of constructemes. (Perek 2012: 631)
Sprachwissen dieser Art ist nach Perek funktional: We suggest that speakers plausibly form cross-constructional categories for the same reason as they form any category: because they are useful to them. For one thing, organizing the construction into groups of semantically related constructions provides straightforward pathways to productivity: they provide speakers with an indication as to what the possible forms of their language might be, in that the occurrence of some verb in a particular allostruction triggers the expectation that this verb can also be used in the other allostructions of the constructeme. (Perek 2012: 631)
4.3 De Vaere & Kollegen (2020, 2021) De Vaere et al. (2021b) verweisen explizit auf die Arbeiten von Cappelle und Perek: Following Cappelle (2006: 18) and Perek (2015: 156) we call the underdetermined AGENTTHEME-GOAL construction we adopt in the analysis a ‘constructeme’, which in present-day German has two variants that are so-called ‘allostructions’. The prepositional allostruction in turn has variants, of which the variants with an and zu are of particular importance for the present study. (De Vaere et al. 2021b: 16)
Spezifisch für ihren Ansatz ist aber, dass sie die Unterscheidung zwischen Constructeme und Allostruction mit Coserius Unterschied zwischen System und Norm identifizieren und zugleich auch mit dem Unterschied zwischen Semantik und Pragmatik: With ‘semantics’ we refer to encoded meaning, i. e. the inherent properties of the constructeme; with ‘pragmatics’ we refer to inferred senses, i. e. the conventionalized but defeasible interpretations of the allostructions. This means that we regard the constructeme as encoded in the language system, whereas the allostructions that instantiate it are its variant realisations with additional pragmatic features as they can be found in the corpus. (De Vaere et al. 2021b: 16)
Dass De Vaere & Kollegen die Allostructions der pragmatischen Ebene zuweisen, ist etwas merkwürdig, denn konventionalisierte Gebrauchsweisen könnte man
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auch, sogar besser, semantisch nennen. Damit wollen wir uns hier aber nicht weiter beschäftigen. De Vaere hat in ihrer Dissertation von 2020 eine Korpusstudie präsentiert, in der die Faktoren untersucht wurden, welche eine Rolle spielen bei der Wahl zwischen DOC (Double-Object-Construction) und POC (Prepositional-Object-Construction) bei deutschen Verben wie geben, schicken, senden, ausleihen, verleihen und verkaufen. Detailstudien wurden in einigen Aufsätzen mit Ko-Autoren vorgelegt (De Vaere et al. 2020, 2021a, 2021b; Willems et al. 2019). So zeigen De Vaere et al. (2021a), dass, entgegen der etablierten Auffassung, auch geben an der Alternation teilnimmt. Es ist zwar so, dass die meisten Vorkommen von geben in dem untersuchten Korpus die Indirektes-Objekt-Realisierung vorzeigen, die präpositionale Variante kommt in 4 % der Fälle vor. Bestimmte Faktoren, dazu auch Eigenschaften des Rezipienten, beeinflussen die Wahl. Wenn z. B. der Rezipient ein Kollektiv ist (der Verein), dann erhöht das die Wahrscheinlichkeit einer präpositionalen Realisierung. Diese Art der distributionellen Forschung hat in den letzten Jahren ein hohes empirisches Niveau erreicht: Abundant research has shown that the factors governing the alternation between these two variants are multifaceted and non-deterministic: No single factor (or set of factors) categorically determines the choice of a given variant […]. Instead, numerous factors probabilistically influence the variation between the prepositional and the ditransitive dative. These factors include, for instance, pronominality, givenness, definiteness, frequency, animacy and length of the respective constituents (e.g. pronominal recipients favour the ditransitive, pronominal themes the prepositional dative). […] From a comparative perspective, there is some evidence that these factors may vary in subtle ways across different speech communities. (Röthlisberger 2018: 2)
Die Arbeit von Schröter (2021: 1) bietet eines der vielen Beispiele dieser Forschungslinie: „[T]he results show a strong effect of givenness on the order of recipients and patients in Turkish and Russian, whereas the Urum [eine Turksprache, AF] descriptions show a general preference for IO […] DO orders, independent from givenness.“
4.4 Lasch (2020) Der Anlass für die in der Einleitung zitierte, etwas entmutigende Feststellung von Zima war der Vorschlag von Lasch (2020), Konstruktionen als Bedeutungs-FormPaare, statt als Form-Bedeutungs-Paare zu bestimmen. Für Zima, die Autorin der Einführung in die gebrauchsbasierte kognitive Linguistik (2021), war diese Umkehrung „ein sehr interessanter Gedanke und im perfekten Einklang mit der
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kognitiv-linguistischen Grundprämisse, wonach der Studie der Bedeutung die größte Aufmerksamkeit zukommen sollte, denn Sprache dient der Konzeptualisierung der Welt und diese Konzeptualisierungen sind Bedeutungen“ (Zima 2021: 241). An anderer Stelle kommentiert Zima die Umkehrung folgendermaßen: [Lasch 2020] schlägt vor, das Konstruktikon nicht primär formbasiert zu denken bzw. zu modellieren, d. h. sich primär anzusehen, über welche Formelemente Konstruktionen miteinander verbunden sind, sondern er stellt die Frage, wie unser Modell des Sprachwissens aussieht, wenn wir uns Konstruktionen mit Hinblick auf ihre bedeutungsseitigen Gemeinsamkeiten ansehen. (Zima 2021: 238)
Mit Laschs (2020: 137) eigenen Worten: „Bisher wurden Konstruktionen als Form-Bedeutungs-Paare bezeichnet. Ich möchte dagegen […] die marginale begriffliche Schärfung zu Bedeutungs-Form-Paaren vorschlagen.“ In einer Fußnote geht Lasch auch auf die Alternation ein, die wir als Beispiel in unserem Aufsatz benutzt haben: An einem konkreten Beispiel bedeutet das, dass man sich zwar mittels des eingeführten Terminus Ditransitivkonstruktion ausgezeichnet verständigen kann, man aber – vielleicht in dem ein oder anderen Fall unreflektiert – im Gebrauch des Begriffs formale und funktionale Beschreibungsebenen vermengt. In einer semantisch motivierten Konstruktionsgrammatik würde man stattdessen bspw. eher von einer Transferkonstruktion zu sprechen haben. Die Neufassung des Begriffs hat also den Vorteil, einer der zentralen Prämissen der kognitiven Grammatik, in deren Tradition die gebrauchsbasierten konstruktionsgrammatischen Ansätze stehen, Rechnung zu tragen: Form emergiert aus Bedeutung. (Lasch 2020: 140)
Der von Lasch vorgeschlagene ‚inhaltsbezogene‘ Ansatz ist wohl die am schärfsten ausgeprägte Variante einer B-KxG. Zugleich ist der Ansatz noch sehr programmatisch, sodass eine Evaluation der Anwendbarkeit warten sollte, bis eine größere Menge deskriptiver Resultate vorliegt.
4.5 Diachrone B-KxG-Forschung zur Dativalternation Wenn zwei (oder mehr) Konstruktionen in der diachronen Dynamik einander in ihrer Bedeutung sehr nahe kommen, können sie sich in verschiedene Richtungen weiterentwickeln (vgl. De Smet et al. 2018). Die Konstruktionen können sich funktional angleichen (‚attraction‘), sich funktional differenzieren (‚differentiation‘), die eine Konstruktion kann die dominierende werden, wobei die andere obsolet wird oder sogar aus dem System verschwindet, oder sie können weiterhin als ‚Nachbarn‘ koexistieren. Wie wir in diesem Abschnitt sehen werden, ist eine solche Ko-existenz bei der (Geschichte der) Dativalternation in den westgermanischen Sprachen (Englisch, Niederländisch, Deutsch) der Fall. In den letzten Jahren wurde
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diese Geschichte im Rahmen einer Forschungslinie intensiv erforscht, die sich als Diachronic Construction Grammar profilierte. Wir beschränken uns hier auf die Forschung der letzten fünf Jahre (2017–2022). Colleman (2020) und Geleyn (2017) haben den diachronen Anfang und die weitere Entwicklung der Dativalternation im Niederländischen untersucht. Nach Colleman (2020: 137) hat sich die präpositionale Alternative mit aan (‚an‘) in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelt: „The latter construction is the younger of the two: it is a post-Middle Dutch innovation, which became a wellestablished part of the grammar of Dutch in 17th century language.“ Colleman (2020: 165) signalisiert „a gradual increase in the degree of functional overlap between the DOC [Dative-Object-Construction] and the emerging aan-dative and thus building up to this moment of cross-constructional connection.“ Schon ein paar Jahre vor Collemans Studie hatte Geleyn (2017) sich die niederländische Dativalternation im 17. Jahrhundert angeschaut. Seine Korpusanalyse zeigt, dass schon im 17. Jahrhundert der Gebrauch der Alternativen „was determined by a cluster of semantic, formal and discourse-pragmatic factors“ (Geleyn 2017: 65). Er stellt fest, dass sich die präpositionale Variante unabhängig von Entwicklungen in der DOC-Konstruktion (Verschwinden der Kasusmarkierung) etabliert hat: On a more general level, the aan-construction increases in frequency and this seems to be the result of broader language changes (a stricter word order and a tendency towards more analytical forms instead of synthetic forms) and not the result of direct competition with the DOC. (Geleyn 2017: 92)
Diese Sichtweise passt zu der von Welke (2019): Die neuen Konstruktionen entstehen gleichsam zufällig, unter der Hand, im Rücken des Handelnden (wie Ergebnisse des Handelns in anderen gesellschaftlichen Prozessen auch). Die entstandenen neuen Konstruktionen werden dann, falls sie sich als geeignet erweisen, zielgerichtet für kognitive und kommunikative Zwecke ausgenutzt, wobei sie sich gleichzeitig weiter verändern. (Welke 2019: 53)
Diese weitere Veränderung kann u. a. die Entwicklung einer sogenannten horizontalen Beziehung (siehe Abschnitt 5) zu einer schon existierenden Konstruktion beinhalten. Zehenter (2018, 2019, 2022) und Zehenter & Traugott (2020) haben die Dativalternation in der Geschichte des Englischen erforscht. Anders als Geleyn und Welke vertritt Zehenter, vor allem in ihrem Aufsatz von 2022, die These, dass die Entstehung der präpositionalen Alternativen durchaus mit beeinflusst wurde durch Kasusverlust, wodurch bei der DOC in bestimmten Kontexten Ambiguität zwischen der Agens- und Rezipientenrolle entstand, vgl. Zehenter (2022: 22): „The findings of
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the corpus study on Middle English ditransitives provide support for disambiguation as a contributing factor in the emergence of the dative alternation in various ways.“ Im Weiteren werden wir uns hier auf den Aufsatz von Zehenter & Traugott (2020) konzentrieren. Wie sie zeigen, entstand die Alternation im Englischen etwas früher als im Niederländischen, vgl. Zehenter & Traugott (2020: 169): „The dative alternation with to-POC fully developed […] in Middle English […]. As for the benefactive alternation with for-POC, it did not emerge until the Early Modern English […] period.“ Wie Geleyn für das Niederländische stellen Zehenter & Traugott (2020: 170) für das Englische fest, dass die Alternativen über die Jahrhunderte relativ stabil ko-existiert haben: „[T]he nominal and prepositional constructions with benefactive verbs have entered a state of steady co-existence over time, with their frequency distribution remaining remarkably stable throughout the centuries.“ Und wie in anderen Sprachen wird die Distribution durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst: „Factors such as pronominality, givenness, discourse accessibility or length of the objects affect the choice of variant.“ (Zehenter & Traugott 2020: 173). Interessant ist der Gedanke von Zehenter & Traugott, dass die Existenz von Alternativen dazu beitragen kann, dass beide erhalten bleiben: [W]e also follow up on the idea that horizontal links play an important part in the historical development of constructions. For example, if the horizontal association between two patterns becomes increasingly strong, this can lead over time to the establishment of a higher order abstraction, and can thus also account for the retention of both patterns instead of the loss of one or the other. Such stable constructional co-existence can most prominently be seen in the dative alternation. […] [The alternatives] are not simply represented in isolation from each other but are connected via (strongly entrenched) horizontal links as well as by an underspecified and highly schematic constructeme. (Zehenter & Traugott 2020: 174)
5 Integrative Ansätze In der KxG-Literatur wird die Idee der vertikalen Beziehungen vor allem in der F-KxG benutzt. Abstrakte Formschemata werden auf niedrigeren, konkreteren Ebenen weiter formal spezifiziert. Die Bedeutung wird vor allem durch lexikalische Besetzung der konstruktionellen Positionen konkretisiert. Horizontale Beziehungen werden hingegen vor allem in der B-KxG erkundet. Hier geht es um die Frage, welchen Konstruktionen mit unterschiedlicher Form Bedeutungsäquivalenz zugeschrieben werden kann. Wir sollten jetzt aber betonen, dass beide Arten der Beziehung, vertikale und horizontale, automatisch sowohl in F-KxG als in B-KxG relevant sind. Bei den vertikalen, hierarchisch strukturierten und formal orien-
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tierten Netzwerken kann man von horizontalen Beziehungen zwischen Konstruktionen auf derselben Abstraktionsstufe ausgehen. Und bei horizontal verbundenen bedeutungsgleichen oder bedeutungsähnlichen Konstruktionen kann vertikal eine abstraktere Stufe angenommen werden, auf der die semantische Gemeinsamkeit modelliert wird. Modelle, die solche horizontal-vertikal strukturierte Netzwerke sowohl formbasiert als bedeutungsbasiert annehmen, können als integrativ bezeichnet werden. Die formbasierten und bedeutungsbasierten Netzwerke werden sich bei völliger Bilateralität decken, aber wo die Sprache von diesem ‚Ideal‘ abweicht, werden die Netzwerke auch unterschiedlich sein. In einem integrativen Modell macht es nach Pijpops wenig Sinn, zwischen horizontalen Beziehungen und Allostruktionen zu unterscheiden, vgl. Pijpops (2020: 291): „I also include proposals that link two constructions together through a direct horizontal link in the constructicon rather than through an overarching construction […], since such proposals come with the same (dis)advantages and practical consequences.“ In ähnlichem Sinne schreiben Zehenter & Traugott (2020: 174): „The present paper combines allostructional and horizontal models. Specifically, we assume that while horizontal links may hold between various types of constructions, they importantly also connect alternating patterns, i. e. allostructions, which additionally may vertically connect to a constructeme.“ Zehenter & Traugott (2020: 197) beenden ihre Studie mit der Schlussfolgerung: that Construction Grammar accounts in general, and Diachronic Construction Grammar accounts in particular, can profit from combining the concepts of horizontal links and allostructional models with those of taxonomic, vertical links. In general, we hope to have shown that approaching alternations and their history in terms of constructional networks can yield interesting insights. (Zehenter & Traugott 2020: 197)
Integrativ sind auch die von Diessel (2019) und Schmid (2020) vorgeschlagenen Modelle des Sprachwissens, in dem Sinne, dass sie prinzipiell von Anfang an der B-KxG und F-KxG-Perspektive einen gleichwertigen Platz einräumen. Diessel (2013, 2015, 2019) modelliert das Sprachwissen auch als ein Netzwerk von Assoziationen. Die traditionellen KxG-Beziehungen zwischen abstrakteren und weniger abstrakten, formorientierten Konstruktionen werden ‚vertikale‘ Beziehungen genannt, die zwischen formunterschiedlichen Konstruktionen mit Bedeutungsähnlichkeit ‚horizontale‘ Beziehungen, vgl. Diessel (2015: 306): „The second type of link concerns the relationships between constructions at the same level of abstraction. These horizontal links are similar to the associative links between lexical expressions in the mental lexicon.“ In Diessel (2019) erläutert er seine Sichtweise folgendermaßen: In the construction-based literature, it is commonly assumed that every construction has particular semantic and/or pragmatic properties that distinguish it from other constructions
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in the network (Goldberg 2002); however, although constructions are never fully equivalent (in terms of their functions or meanings), speakers can often choose among several competing argument-structure constructions to express a particular communicative intention. For instance, although the double-object construction and the to-dative construction have different information-structure properties, there is an area of overlap between them where both constructions are appropriate to describe a particular event or situation. (Diessel 2019: 133)
Diessel stützt seine Ansicht, dass horizontale Beziehungen mentale Realität besitzen, mit dem Verweis auf sogenannte Priming-Experimente. Konstruktionen einer bestimmten Form als Stimulus rufen Konstruktionen mit ähnlicher Form hervor. Aber Konstruktionen mit ähnlicher Bedeutung rufen genauso Konstruktionen mit ähnlicher Bedeutung hervor, vgl. Diessel (2015: 307): „[P]riming also occurs with semantically related sentence types […]. For instance, Hare and Goldberg (2000) showed that a sentence such [as] John provided Bill with news primes a semantically related sentence such as John gave the ball to Pete although these sentences have very different structures.“ Schmid (2020) macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen, wie er sie nennt, onomasiologischen und semasiologischen Beziehungen. Beide werden ‚paradigmatische Assoziationen‘ genannt: „Paradigmatic associations establish connections in the network between the potential targets of symbolic associations, that is, the forms and meanings, respectively, which compete for activations during productive and receptive processing.“ (Schmid 2020: 47). Die Perspektiven werden aber unterschiedlich mit dem Prozess des Sprachgebrauchs verbunden. Die semasiologische Perspektive ist die rezeptive, die des Hörers: From the semasiological perspective, paradigmatic associations link the potential meanings that a perceived utterance type may have by virtue of its being polysemous. Paradigmatic associations thus connect the different senses of the polysemous verb to fall such as ‘to drop from a height,’ ‘to come down or over from an upright position’, or ‘to be killed’. (Schmid 2020: 47)
Die umgekehrte Perspektive ist die produktive, die des Sprechers: „The counterpart to the semasiological competition between several senses associated with one form is the onomasiological competition between different forms contending for the encoding of an idea.“ Schmid (2020: 263–64).
6 Fazit Wir beenden diesen Überblick mit einigen allgemeinen Bemerkungen. Zurückblickend fällt auf, dass sowohl bei den Befürwortern der F-KxG wie bei den Autoren, die für eine bedeutungsorientierte KxG plädieren, häufig Verweise auf die Arbeiten
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von Coseriu zu finden sind. Welke und Höllein verweisen u. a. auf Coseriu (1988), De Vaere (2020) u. a. auf Coseriu (1975). Für beide Forschungslinien gibt es in der Tat einen guten Grund, sich auf Coseriu zu beziehen. Einerseits betont Coseriu den Unterschied zwischen Bedeutung und Bezeichnung, andererseits den zwischen System und Norm. Der erste Unterschied wurde vor allem von der signifikativen Semantik aufgegriffen. Welke betont, dass die holistische Einbeziehung der Frame-Semantik in die Bedeutungsexplikation leicht den Unterschied zwischen Bedeutung und Bezeichnung vernachlässigt. Frame-Semantik modelliert Weltwissen und dadurch wird die Bedeutungsoperationalisierung denotativ, bezeichnungsorientiert, oft obwohl die KxG-Autoren in ihren theoretischen Grundsätzen die Einheit von Form und Bedeutung (Bilateralität) betonen. De Vaere & Kollegen beziehen sich auf einen anderen Coseriu’schen Unterschied, den zwischen System und Norm. Die Alternanten werden auf der Normebene platziert und deren semantische Gemeinsamkeit(en) auf der abstrakteren Systemebene. Obwohl beide Beschreibungsebenen als konventionalisiert betrachtet werden, wird die Normebene trotzdem der Pragmatik zugewiesen. Andere Vertreter der B-KxG machen einen solchen Ebenenunterschied nicht, die horizontale Bedeutungsbeziehungen verbinden Einheiten (Konstruktionen) auf derselben Bedeutungsebene, wie auch immer die konzeptualisiert wird. Vorausschauend ist die Frage, wie sich die KxG-Forschungslandschaft in nächster Zukunft entwickeln wird. Wie wir festgestellt haben, ist die F-KxG vor allem attraktiv bei synchronen einzelsprachigen Beschreibungen. Methodologisch ist die Formseite zugänglicher als die Bedeutungsebene, und dieser methodologische Vorteil wird der F-KxG weiterhin zugutekommen. Wie auch schon in Abschnitt 3 betont wurde, ist es nicht so, dass die Sprache dem Linguisten die Konstruktionen auf einem Präsentierteller bereitstellt; ohne interpretative und analytische Arbeit kommt man nicht weit. Aber diese Interpretationen und Analysen können methodisch ablaufen, dank der strukturalistischen Vorgänger, die gezeigt haben, wie syntagmatische und paradigmatische Relationen einer Einheit systematisch erkundet werden sollen. Bei der diachronen oder typologischen Forschung kommt man dagegen nicht darum herum, sich eine semantische ‚Basis‘ zu schaffen, von der aus gefragt werden kann, wie Sprachen bestimmte semantische Kategorien formal gestalten. Nicht umsonst schlägt Haspelmath (2010) vor, sich genau zu diesem Zweck auf comparative concepts zu einigen. Wer eine solche konzeptuelle Basis auch bei der synchronen innersprachlichen Forschung anwendet, landet aber leicht bei der frame-orientierten KxG. Eine funktionale Abwandlung der bedeutungsbasierten Vorgehensweise ist aber vertretbar: Sprecher wollen bestimmte kommunikative Ziele erreichen, und
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dafür stellt die Sprache verschiedene Mittel zur Verfügung. An sich ist die Zahl der Mittel unbeschränkt, der kreative Sprecher kann auch mit Das schmeckte gut! ein neues Bier bestellen. Aber bestimmte Mittel sind vielleicht so zutreffend und werden vielleicht so oft für denselben Zweck benutzt, dass das Wissen darüber ‚sedimentiert‘ und zum sprachlichen Wissen gerechnet werden kann. Der Sprachgebrauch-in-Kontext ist empirisch zugänglich, genauso (und genau so wenig) wie Sprachformen in Isolation betrachtet. Mit anderen Worten: Bei einer ‚pragmatischen Wende‘ der onomasiologischen B-KxG-Perspektive, könnte diese letztere den methodologischen Nachteil reduzieren. Wenn das gelingt, wären beide Forschungsperspektiven, F-KxG und B-KxG, auch bei der einzelsprachigen Forschung zulässig und sogar willkommen. Dabei sollte man sich immer davon bewusst sein, welche Perspektive in einer spezifischen Studie gerade eingenommen wird. Zu einem solchen (erhöhten) Bewusstsein wollte diese Literaturstudie beitragen.
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Muster auf Bewährung: Kopula-Konstruktion und Zustandspassiv 1 Einleitung Sprecher/Hörer, Sprecherinnen/Hörerinnen einer Sprache wissen, welche Argumente und damit Argumentkonstruktion(en) ein gegebenes Verb projiziert. Sie wissen auch, welche Verben in eine gegebene Argumentkonstruktion implementiert werden können. Dennoch ist die Gewohnheit der Linguisten, syntaktische Strukturen allein vom Wort, typischerweise vom Verb (von seiner Projektion) aus, zu betrachten, so eingebürgert, dass der Vorschlag Fillmores (1968), es anders herum zu sehen und von der Konstruktion und nicht vom Verb auszugehen, mit Unverständnis aufgenommen wurde. Gemeint ist Fillmores (1968) Ausgehen vom Kasusrahmen (case frame), dem er Verben mit ihrer Valenz (verb features) gegenübergestellt hat, die gewährleisten, dass in einen gegebenen Kasusrahmen nur eine bestimmte Auswahl von Verben eingefügt werden kann. Fast dreißig Jahre lang hat die Idee des Wechselverhältnisses von Projektion und Konstruktion brach gelegen, bevor sie von Goldberg (1995) aufgegriffen wurde und als Instantiierung von Konstruktionen neben der Konstruktionsvererbung eine der beiden Säulen ihres inzwischen klassisch zu nennenden Werkes wurde.1 Eine Grundidee einer sich als Grammatiktheorie (und nicht als eine allgemeine kognitive Theorie) verstehenden Konstruktionsgrammatik ist seit Goldberg (1995), dass es unter dem Primat der Konstruktion (genauer: des Konstruktionsmusters) ein geregeltes Wechselverhältnis von Konstruktionen (Konstruktionsmustern) und Köpfen dieser Konstruktionen gibt. Das Resultat der Instantiierung von Mustern von Argumentkonstruktionen durch Verben kann sein: (1) ein Verb passt problemlos in eine Konstruktion (ein Konstruktionsmuster). Die entstehende instantiierte Konstruktion (Token-Konstruktion) ist kompositional (akzeptabel, grammatisch und/oder sinnvoll). Der Sprechakt gelingt. (2) Die instantiierte Konstruktion 1 Fillmore selbst hat den Gesichtspunkt, dass es unter dem Primat der Konstruktion ein Wechselverhältnis von Projektion und Konstruktion gibt, bei seiner später Begründung der Konstruktionsgrammatik nicht aufgegriffen. Geblieben ist nur der Gesichtspunkt der Konstruktion als sprachlicher Grundeinheit. Er hat dadurch zunehmend die Konstruktionsgrammatik als eine allgemeine kognitive Theorie und nicht als (sc. regelbasierte) Grammatik interpretiert und ist später (vgl. z. B. Fillmore 2007) mit FrameNET zur Grammatik zurückgekehrt, jedoch nicht zu einer Konstruktionsgrammatik, sondern zu einer Projektionsgrammatik, nämlich zur Valenztheorie, von der er bereits in Fillmore (1968) ausgegangen war (vgl. dazu Welke 2019, 2021b, Busse 2012). https://doi.org/10.1515/9783111334042-002
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(Token-Konstruktion) ist nicht-kompositional (inakzeptabel, ungrammatisch und/ oder sinnlos). Der Sprechakt misslingt. (3) Es gelingt einem Hörer/einer Hörerin, die entstehende zunächst nicht-kompositionale Token-Konstruktion auf der Grundlage der Grice’schen Kommunikationsmaximen und von Implikaturen kompositional (akzeptabel, grammatisch und/oder sinnvoll) zu machen. Mit diesem Wechselverhältnis von Wort und Konstruktion und von Bedeutung und Implikatur (3) kommen Widersprüche zwischen Mustern und instantiierenden Wörtern in den Blick und damit neue Möglichkeiten, Aspekte des kreativen Zeichengebrauchs und des Sprachwandels linguistisch zu modellieren. Das soll im Folgenden am Beispiel von attributiven und prädikativen Adjektiv-Konstruktionen, insbesondere Partizip II-Konstruktionen, demonstriert werden. Ich gehe wie folgt vor: Nach einleitenden Abschnitten (2) zu Konstruktion, Kompositionalität und Prototypik wird es zunächst (3) um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von attributiven und prädikativen Konstruktionen mit originären Adjektiven gehen. Dem folgt (4) der Hauptteil mit einer Analyse der Veränderungen, die sich aus der Implementierung von Partizipien II in attributive und prädikative Adjektiv-Konstruktionen (Kopulakonstruktionen) ergeben. Das schließt das Problem ‚Kopula-Konstruktion versus Zustandspassiv‘ ein. Ich werde zeigen, dass prädikative Partizip II-Konstruktionen wie prädikative Adjektiv-Konstruktionen einerseits Kopula-Konstruktionen sein können, dass sie andererseits aber auch Zustandspassiv-Konstruktionen sein können, die aus partizipialen Kopula-Konstruktionen durch Konstruktionsvererbung entstehen.2 Sie büßen in diesem Fall ihren adjektivischen Charakter zu Gunsten des latent verbalen Charakters von Partizipien ein und werden zu Kohyponym-Konstruktionen von werden-Passiv-Konstruktionen, d. h. zu einem Zustandspassiv neben dem Vorgangspassiv. Die Analyse zeigt, dass sowohl die Möglichkeit, KopulaKonstruktionen, als auch die Möglichkeit, Zustandspassiv-Konstruktionen durch Partizipien II zu instantiieren, begrenzt ist. Die Differenz von Perfektivität und Imperfektivität spielt dabei eine zentrale Rolle. Konstruktionsmuster sind ‚Muster auf Bewährung‘. Sie bilden sich auf der Grundlage von Implikaturen heraus und müssen in der weiteren sprachlichen Tätigkeit ihre Brauchbarkeit (Relevanz) beweisen. Es geht folglich um die Reich-
2 Ein terminologisches Problem: Syntaktische Kopula-Konstruktionen sind qua Kopula prädikative Konstruktionen. Auch morphologische Zustandspassiv-Konstruktionen sind prädikative Konstruktionen. Hier liegt die Bezeichnung ‚prädikativ‘ auf Grund des insgesamt verbalen Charakters dieser Konstruktion näher. Denn wenn man unter ‚Zustandspassiv‘ eine morphologische Konstruktion versteht (was allein der Sinn dieses Terminus sein kann, wenn man das Zustandspassiv der Kopula-Konstruktion gegenüberstellt) dann gehört die Form sein + Partizip II transitiver Verben ins Paradigma des betreffenden Verbs. (Ein unpersönliches Zustandspassiv gibt es m. E. nicht.).
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weite bzw. Produktivität der einzelnen Konstruktionsmuster. ZustandspassivKonstruktionen sind theoretisch möglich und in Einzelfällen belegt. Sie sind jedoch gegenüber Kopula-Konstruktionen und Vorgangspassiv-Konstruktionen (werden-Passiv-Konstruktionen) von sehr eingeschränkter Relevanz (valeur im Sinne Saussures).
2 Konstruktion, Kompositionalität, Prototypik, No-Synonymy-Prinzip 2.1 Konstruktion Wie anderswo in der Welt und in anderen Terminologien sollten Konstruktionen Gerüste/Schemata sein, die Teile zu einem Ganzen verbinden. So ist eine konkrete Brücke eine Konstruktion. Die Brücke hat aber auch eine (bestimmte) Konstruktion, d. h. eine Art und Weise der Konstruiertheit, und sie folgt in ihrer Konstruiertheit einem bestimmten Muster. Daraus ergibt sich eine dreifache Auffassung von ‚Konstruktion‘: (1) Konstruktion als ‚Token-Konstruktion‘ (oder ‚Konstrukt‘), also als konkret vorliegendes Gebilde, (2) Konstruktion als ‚Type-Konstruktion‘, d. h. als Klasse aller in gleicher Weise konstruierten Token-Konstruktionen und (3) als ‚Konstruktionsmuster‘, d. h. als abstraktes Muster, das der Type-Konstruktion und den Token-Konstruktionen zu Grunde liegt.3 In der Konstruktionsgrammatik wird meist ‚schematische Konstruktion‘ als Oberbegriff für Klasse und Muster verwendet. Ich werde der Deutlichkeit halber hauptsächlich die Begriffe ‚Token-Konstruktion‘ und ‚Konstruktionsmuster‘ verwenden. Konstruktionsmuster Konstruktionsmuster sind formal-semantische Markierungen, die zurückbleiben, wenn man von dem konkreten lexikalischen Material, das in einer Konstruktion enthalten ist (also von den Voll-Wörtern als den Teilen einer Konstruktion), abstrahiert.4 3 In der Phonologie trifft man eine analoge Unterscheidung an mit Laut als Token und Phonem als Klasse von Lauten bzw. als Muster, dass der Bildung von Lauten zu Grund liegt. 4 Beispielsweise gibt es intransitive und transitive Konstruktionen und bei den transitiven Konstruktionen u. a. Nominativ-Verb-Dativ-Akkusativ-Konstruktionen und Nominativ-Verb-AkkusativDirektiv-Konstruktionen mit ihren jeweiligen Bedeutungen, vgl. Goldberg (1995), Welke (2019),
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Zeichen werden in der Konstruktionsgrammatik holistisch als unmittelbare Form-Bedeutungs-Einheiten aufgefasst.5 Der wesentliche Zusatz gegenüber anderen holistischen Konzepten besteht darin, dass auch Konstruktionsmuster als Zeichen aus Form und Bedeutung betrachtet werden.6 Der Terminus ‚Konstruktionsbedeutung‘ ist im Folgenden als Bedeutung des Konstruktionsmusters zu verstehen.
2.2 Kompositionalität Auch für eine Konstruktionsgrammatik als Grammatik gilt das Frege-Prinzip der Kompositionalität. Man kann es theorieübergreifend wie folgt formulieren: Die Bedeutung einer Äußerung ergibt sich aus der Bedeutung ihrer Teile und der Bedeutung ihrer Struktur (aus der Bedeutung der Beziehungen der Teile zueinander).
Es gibt keine Formulierung des Frege-Prinzips in der nicht beides, Teile und Struktur, als Bedingung von Kompositionalität bzw. Ableitbarkeit genannt wird, vgl. bspw. Maienborn (2017: 153): Freges Grundeinsicht, wonach die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks sich aus der Bedeutung seiner Teile ergibt – nach Maßgabe seiner syntaktischen Struktur – […].
Aus der Bedeutung nur der Teile kann man nicht auf die Bedeutung des Ganzen schließen (aus einer ungeordneten Menge von Wörtern und ihren Bedeutungen nicht auf eine Satzbedeutung). Zu Grunde liegt die Aristotelische Maxime, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, vgl. Aristoteles (1964: VII 17, 1041b): Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet – nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe –, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.
vgl. auch solche traditionellen Ausdrücke wie Akkusativ-Konstruktion, Kopula-Konstruktion, Infinitiv-Konstruktion, Nebensatz, Substantiv-Konstruktion. 5 Es wird also nicht modular wie in der Generativen Grammatik zwischen einer formalsyntaktischen und einer semantischen Ebene getrennt. 6 Idiomatisierte Konstruktionen betrachte ich – wie traditionell üblich – als einen Sonderfall und nicht wie in der Mainstream-Konstruktionsgrammatik als Prototyp der Konstruktion bzw. als Definition von Konstruktion (vgl. unten: Kompositionalität). Zu den oben genannten möglichen Ergebnissen einer Instantiierung: (1) kompositional, (2) nicht-kompositional, (3) durch Implikaturen kompositional gemacht kommt als (4) hinzu: Kompositionalität (ganz oder teilweise) verdunkelt. Denn die Konstruktionsgrammatik bezieht Prozesse der Idiomatisierung in die Erklärung ein.
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Eine konstruktionsgrammatische Formulierung des Kompositionalitätsprinzips lautet daher: Eine Konstruktion ist kompositional, wenn die Teile der Konstruktion in das zu Grunde liegende Konstruktionsmuster integrierbar sind.
Goldberg (1995: 16) gibt wenige Seiten nach ihrer meist zitierten und zu weit geteilten Missverständnissen einladenden Definition von Konstruktionen als nichtableitbar bzw. nicht-kompositional (Goldberg 1995: 4), eine konstruktionsgrammatische Formulierung des Kompositionalitätsprinzips: By recognizing the existence of contentful constructions, we can save compositionality in a weakened form: the meaning of an expression is the result of integrating the meanings of the lexical items into the meanings of constructions.
Das ist keine abgeschwächte Form des Kompositionalitätsprinzips, sondern eine vollkommen adäquate konstruktionsgrammatische Fassung. Unter der konstruktionsgrammatischen Maxime, dass schematische Konstruktionen (Konstruktionsmuster) selbständige Form-Bedeutungs-Paare (Zeichen) gegenüber den sie ausfüllenden Teilen sind, ergibt sich die Möglichkeit, die Dialektik von Teil und Ganzem neu und auf andere Weise zu modellieren. Goldberg definiert zuvor (1995: 4), wie gerade gesagt, Konstruktionen als nicht-strikt vorhersagbare Form-Bedeutungs-Paare: C is a construction ifdef C is a form-meaning pair < Fi, Sj > such that some aspect of Fi, or some aspect of Sj is not strictly predictable from C’s component parts or from previously established constructions.
Eines der Probleme dieser Definition ist, dass die nicht strikte Vorhersagbarkeit aus den Bestandteilen der Konstruktion (from C’s component parts) etwas anderes ist als die nicht strikte Vorhersagbarkeit aus anderen Konstruktionen (from previously established constructions). Was die Vorhersagbarkeit aus den Teilen betrifft, so gilt diese Definition in dem Sinne, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (vgl. die Aristotelische Maxime oben).7 Bei der Vorhersagbarkeit aus anderen Konstruktionen (Konstruktionsmustern) geht es dagegen um Fragen der Klassifikation von Konstruktionen, um die Subsumierbarkeit unter ein gleiches Muster, also um Fragen der Identität, um die Frage nach Polysemie versus Homonymie (vgl. dazu unten).
7 In gleiche Richtung argumentiert Lakoff (1987: 465): „We will argue that grammatical constructions in general are holistic, that is, that the meaning of the whole construction is motivated by the meaning of the parts, but is not computable from them.“
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Nicht-Vorhersagbarkeit wird in der Konstruktionsgrammatik oft als Nicht-Kompositionalität bzw. nicht-strikte Kompositionalität ausgelegt, vgl. bspw. Ziem/Lasch (2013: 11): Sprachliche Einheiten gelten nach Goldberg dann und nur dann als Konstruktionen, wenn ein Aspekt ihrer Form- oder Inhaltsseite nicht kompositionell ermittelbar oder von bereits etablierten Konstruktionen (etwa durch Analogieschluss) ableitbar ist.
Es ist unklar, welchen Zweck das undifferenzierte Merkmal der nicht strikten Ableitbarkeit bzw. nicht strikten Kompositionalität erfüllen soll, außer dass es vage darauf zielt, an die Stelle der tradierten Auffassung von Grammatik als System von Regeln zur Erzeugung von Sätzen ein Grammatik-Lexik-Kontinuum zu setzen.8 Das ist dann jedoch keine Grammatik mehr. Wenn man Konstruktionsgrammatik als Grammatik betreiben will, dann muss man geregelte Operationen über Zeichen voraussetzten und mit diesen das Frege’sche Kompositionalitätsprinzip.9 Der Grund dafür, dass es geregelte Operationen über Zeichen (über deren Verfasstheit und Stringenz gesondert zu sprechen ist) geben muss, ist im Frege-Prinzip enthalten: Wenn ein Hörer in der Lage ist, aus den (Voll-)Wörtern, die in einem Satz vorkommen, und aus der Struktur des betreffenden Satzes (ungefähr) das zu entnehmen, was der Sprecher mitteilen wollte, muss es (auf allgemeinen Prinzipien beruhende) konventionelle Regeln geben, die eben das gewährleisten.
2.3 Prototypik Im Anschluss an Lakoff (1977) und Goldberg (1995), aber auch an Wittgenstein (1984) und Wygotski (1977), beschreibe ich Bedeutungen als eine Menge von Bedeutungsvarianten, die durch Bezüge auf einen Prototyp zusammengehalten werden (vgl. Welke 2005).
8 Möglicherweise hat Goldberg mit der Definition von Konstruktionen als nicht strikt ableitbar den Gegensatz zur Projektionsgrammatik gemeint, nämlich den Umstand, dass es Konstruktionen gibt, die nicht aus Projektionen abgeleitet werden können bzw. nur aus Ad-hoc-Stipulationen von Projektionen wie im Falle des berühmten He sneezed the napkin off the table. Aber Ableitbarkeit ist nicht Ableitbarkeit allein aus Projektionen, wie Goldberg u. a. an diesem Beispielsatz zeigt. 9 Angemerkt sei außerdem, dass die Definition von Konstruktionen als nicht (strikt) kompositional nur in Bezug auf Token-Konstruktionen gelten kann, also den Begriff der Konstruktion nicht erfassen kann. Denn kompositional oder nicht-kompositional können nur die entstehenden Token-Konstruktionen sein. Auf schematische Konstruktionen (Konstruktionsmuster) ist der Kompositionalitäts-Begriff schlicht nicht anwendbar. Diese sind weder kompositional noch nicht kompositional.
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Bei Lakoff und Goldberg bilden Bedeutungen radiale Kategorien um eine Grundbedeutung (basic sense, central sense) (vgl. Lakoff 1987, Goldberg 1995: 31–39).10 In Welke (2005, 2019) wird die Vorstellung einer radialen Kategorie in Richtung auf eine lineare prozessuale Prototypik auf der Grundlage einer Merkmaltheorie der Bedeutung im Anschluss an Wittgenstein, Wygotski und Bowerman (1977) uminterpretiert.11 Der Prototyp ist hier nicht das Merkmal, das – bildlich gesprochen – im Mittelpunkt steht, sondern das Merkmal, das am Anfang einer Entwicklung steht. Ich verwende den Begriff des Prototyps damit so, wie es in Technik und Kunst üblich ist mit Prototyp als erstem Exemplar bspw. eines Geräts (eines Flugzeugs oder eines Autos, etwa des Volkswagens oder des Airbus) oder eines Themas in der Kunst (bspw. des Turms zu Babel). Entsprechend wird das Präfix proto- traditionell in der Wissenschaft gebraucht. Das Protoindoeuropäische ist nicht eine Sprache, die der typischste Vertreter aller indoeuropäischen Sprachen ist, sondern die rekonstruierte Sprachform, von der man annimmt, dass sie am Beginn indoeuropäischer Sprachen steht und alle indoeuropäischen Sprachen direkt und indirekt aus ihr abgeleitet sind. Eine prozessuale Prototypik eröffnet die Möglichkeit, sprachliche Tätigkeit jenseits des langue-parole-Dualismus zu beschreiben und in ihrer diachronen Entwicklung. Motor dieser prototypischen Entwicklungen ist Analogie. Sprecher/ Sprecherinnen versuchen in einem ständigen Sprachspiel (Wittgenstein 1984), das zu Sagende durch Analogie zu dem schon Gesagten zu realisieren, und Hörer/ Hörerinnen interpretieren das Gesagte in dem gleichen ständigen Sprachspiel zu früher Gehörtem. Das in diesem Sprachspiel angewendete Instrumentarium sind Implikaturen. Implikaturen sind mögliche (nicht strikte) Folgerungen von wörtlich Gesagtem (von der wörtlichen Bedeutung) auf das Gemeinte, von der Bedeutung auf den Sinn. Invarianztheorien neigen qua Invarianzforderung dazu, Bedeutung und Implikatur gleichzusetzen. Für eine prototypentheoretisch fundierte Konstruktionsgrammatik ist die Unterscheidung fundamental.12 Wesentlich ist: Implikaturen (Implikate) 10 Im Gegensatz zu Rosch (1973) handelt es sich bei Lakoff (1977, 1987), Lakoff & Johnson (1980) und Goldberg (1995) um ein Konzept auf der Basis von Merkmalen. 11 Das geschieht im Gegensatz zur der holistisch auf ganzheitliche Entitäten gerichteten Prototypentheorie Roschs (1973) und im Gegensatz zu einer immer noch in der Sprachwissenschaft im Anschluss an Rosch herrschenden Auffassung, dass Prototypentheorie nur auf ganzheitliche perzeptive Entitäten beziehbar ist. 12 Ich folge bei der Verwendung des Terminus ‚Implikatur‘ dem alltäglichen Sprachgebrauch, d. h. ich differenziere nicht zwischen nomen actionis und nomen acti. Man könnte als nomen acti auch den Terminus ‚Implikat‘ wählen. Als Verb zu dem von Grice im Unterschied zur logischen ‚Implikation‘ gebildeten Kunstwort ‚Implikatur‘ existiert in der Literatur das Kunstwort ‚implikieren‘ – im Unterschied zum logisch strikten ‚implizieren‘.
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können, müssen aber nicht zu Bedeutungen werden. Denn die Tatsache, dass Bedeutungswandel durch Implikaturen vermittelt wird, könnte leicht zu der Folgerung führen, dass Implikaturen nur im Bedeutungswandel ihren Platz haben, dass sie also nur Übergangsformen von alten Bedeutungen zu neuen Bedeutungen sind. Der diachrone Übergang zu Bedeutungen ist jedoch nicht die Regel. Implikaturen sind ein Feld sui generis, so wie Metaphern, die ja ebenfalls Implikaturen bzw. Implikate sind, nicht automatisch und bei weitem nicht notwendigerweise zu Bedeutungswandel führen. Das betrifft auch die Instantiierung von Argument-Konstruktionen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass aus niesen jemals ein direktives Handlungsverb, also ein Verb mit einer höheren Stelligkeit wird. Überhaupt werden aus Geräuschverben, auch wenn sie mit hoher Frequenz als Bewegungsverben verwendet werden, nicht mit Notwendigkeit Handlungsverben mit einer höheren Stelligkeit (vgl. Engelberg 2009, Welke 2019). Was das im Folgenden zu besprechende Problem der Implementierung von Partizipien II in prädikative Konstruktionen betrifft, so gibt es keinen Ort, wo eine geänderte Valenz eingetragen sein kann. Denn Partizipien erhalten, soweit sie nicht lexikalisiert sind, keinen Lexikoneintrag.
2.4 No-Synonymy Grundlage des Verhältnisses von Polysemie versus Homonymie in der Konstruktionsgrammatik ist das No-Synonymy-Prinzip Goldbergs (1995). Das Prinzip der No-Synonymy (der Nicht-Bedeutungsidentität13) besagt, dass sich Form und Bedeutung sprachlicher Zeichen im Wesentlichen in einem 1:1-Verhältnis zueinander befinden, also isomorph zueinander sind. Goldberg (1995:3) zitiert Bolinger (1968: 12): A difference in syntactic form always spells a difference in meaning.
Die Implikation dieser Äußerung ist: Wenn ein Unterschied in der Form stets einen Unterschied in der Bedeutung nach sich zieht, hat jede Form ihre spezifische Bedeutung. Ferner gilt dann, dass (typischerweise) weder ein und dieselbe Bedeutung durch zwei unterschiedliche Formen ausgedrückt wird, noch zwei unterschied-
13 Synonymy wird von Goldberg wie in der dem Invarianzprinzip folgenden formalen Semantik als Bedeutungsidentität definiert. ‚No-Synonymy‘ ist also ‚Nicht-Bedeutungsidentität‘. In der europäischen semasiologischen Tradition ist Synonymie ‚Bedeutungsähnlichkeit‘ – was einem prototypentheoretischen Ansatz entspricht.
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liche Bedeutungen ein und derselben Form zukommen.14 Mit anderen Worten: Polysemie ist die Regel, Homonymie ist die Ausnahme. No-Synonmy ist ein sprachliches Grundprinzip. Denn nur eine annähernd eineindeutige (isomorphe) Zuordnung von Form und Bedeutung sprachlicher Zeichen macht die Sprache zu einem annähernd verlässlichen Mittel der Kommunikation und des Denkens.15 Die Prototypenmethode vermag diese Dialektik zu erfassen. Denn sie erlaubt es, Isomorphie flexibel zu interpretieren, indem sowohl die Formseite als auch die Bedeutungsseite des sprachlichen Zeichens als Einheiten aus prototypisch zusammengehörenden Varianten beschrieben werden.16 Damit kann sie erklären, dass in der kreativen sprachlichen Tätigkeit der Sprecher/Hörer mit Notwendigkeit Widersprüche zwischen Form und Bedeutung entstehen, so dass sowohl eine Form zwei Bedeutungen gegenüberstehen kann als auch eine Bedeutung zwei Formen.
2.4.1 Eine Form – zwei Bedeutungen: Homonymie Token-Konstruktionen können sich im Verlauf ihrer Verwendung so weit von der Ursprungsbedeutung entfernen, dass sie von den Sprechern/Hörern nicht mehr als Varianten des Konstruktionsmusters, aus dem sie stammen, interpretiert werden, sondern einem anderen Konstruktionsmuster zugeordnet werden, und zwar in der Regel in Analogie zu einem anderem benachbarten Konstruktionsmuster. Einer Form stehen dann über unterschiedlich lange Zeiträume mehrere
14 Wenn Goldberg das Bolinger-Zitat verwendet (vgl. oben), so ist das wahrscheinlich gegen die Annahme der Generativen Grammatik gerichtet, dass unterschiedliche Konstruktionen (syntaktische Strukturen) die gleiche Bedeutung (die gleiche Tiefenstruktur) besitzen können. Ein Standardbeispiel ist das Verhältnis von Aktiv und Passiv als bedeutungsidentisch bzw. identisch in der syntaktischen Tiefenstruktur. In der Konstruktionsgrammatik müssen Aktiv- und Passivsätze dagegen als bedeutungsverschieden, da formverschieden, interpretiert werden. Das Prinzip, dass umgekehrt einer syntaktischen Form zwei verschiedene Bedeutungen zukommen können, wird m. E. Auch in der Generativen Grammatik nicht vertreten. 15 Saussure und die moderne Syntax folgern aus diesem Prinzip (vermittelt über die These der Arbitrarität des Verhältnisses von Form und Bedeutung) die Unveränderlichkeit dieser Zuordnung. Als Sprachhistoriker weiß Saussure, dass das nicht so ist. Es bleibt jedoch eine bloße Deklaration, wenn er gleichsam dialektisch anmerkt, dass Sprache unveränderlich und veränderlich zugleich sei (Saussure 1967). 16 Auch traditionell wird das zumindest partiell so gehandhabt, vgl. das Verhältnis von Morphem und Allomorph auf der formalen Seite und das Verhältnis von Grundbedeutung und abgewandelten Bedeutungen (wörtlicher Bedeutung und übertragener Bedeutung) auf der Bedeutungsseite.
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unterschiedliche Bedeutungen gegenüber. Mit anderen Worten: Es entsteht Homonymie. ‚Polysemie‘ versus ‚Homonymie‘ sind Begriffe, die in der traditionellen Semasiologie in Bezug auf Wörter geprägt wurden. Wörter besitzen Familien von Bedeutungsvarianten, die aus einer prototypischen Bedeutungsvariante, einer Grundbedeutung, abgeleitet sind. Ausnahmsweise können Wörter jedoch auch homonym sein bzw. werden. In diesem Fall gibt es neben einem Wort a (mindestens) ein weiteres Wort b, das mit dem gegebenen Wort a formal identisch ist, aber eine Bedeutung besitzt, die die Sprecher nicht als Bedeutungsvariante des Wortes a werten, sondern eines anderen Wortes b, weil es für sie zwischen den Bedeutungen a und b keinen Zusammenhang mehr gibt. Dem entspricht, dass man bei Homonymie, zumindest bei Substantiven, traditionell zwei Wörter ansetzt (zwei Lemmata in der lexikographischen Praxis). Das heißt, man nimmt unterschiedliche Wörter mit gleicher Form und unterschiedlicher Bedeutung an – und nicht identische Wörter mit divergierenden Bedeutungen. Wörter sind grundsätzlich polysem und nur ausnahmsweise homonym. Aber auch Konstruktionen, Token-Konstruktionen und Konstruktionsmuster, sind polysem oder homonym. Auf der Wortebene kann man zwischen phonetischen und semantischen Ursachen der Homonymie unterscheiden. Auf der Konstruktionsebene geht es m. E. allein um semantische Ursachen. Bei semantischen Ursachen geht es wie im lexikalischen Bereich um Bedeutungsentwicklungen. Homonymien sind notwendige Widersprüche in der durch das No-SynonymyPrinzip (Isomorphie-Prinzip, vgl. oben) geregelten sprachlichen Tätigkeit. Denn einerseits gilt: Eine Sprache könnte ihre Funktion als Medium von Kognition und Kommunikation nicht erfüllen, wenn es keine prinzipielle Isomorphie von Form und Bedeutung gäbe. Andererseits gäbe es bei vollständiger Isomorphie keine Entwicklung (vgl. Saussures Folgerung, vgl. Anmerkung 16). Denn neue Zeichen (neue FormBedeutungs-Einheiten) entstehen nicht ex nihilo, sondern stets aus vorhandenen Form-Bedeutungs-Einheiten. Wenn sie aber aus vorhandenen Form-BedeutungsEinheiten entstehen, dann schließt das notwendigerweise Störungen der Isomorphie, d. h. Widersprüche zwischen Form und Bedeutung ein. Mit anderen Worten: Homonymien sind Widersprüche, die notwendigerweise den Sprachwandel begleiten.17 So kann es im Wechselverhältnis von Konstruktion und Projektion, nämlich durch Instantiierungen auf Grund von Implikaturen, zur Bildung von Token-Kons17 Ich beziehe mich auf lexikalischem Gebiet nicht auf neue Wörter, die auf Grund von Komposition entstehen, sondern auf übertragene Bedeutungen (Metaphern). Wenn der metaphorische Zusammenhang verloren geht, existieren über mehr oder lange Zeiträume ausnahmsweise zwei unverbundene Bedeutungen einer Form, also Homonyme, im Widerspruch zum No-SynonymyPrinzip (zum Isomorphie-Prinzip).
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truktionen kommen, die tendenziell den Rahmen einer gegebenen Konstruktion (eines gegebenen Konstruktionsmusters) sprengen. Ein Prozess der Konstruktionsvererbung wird in Gang gesetzt (vgl. Welke 2019). Bei einem typischen Weg der Vererbung entdecken die Sprecher/Hörer Analogien zu einer benachbarten Konstruktion. Die abweichenden Token-Konstruktionen werden unter einem gesonderten Mikro-Konstruktionsmuster zusammengefasst und als Hyponym-Konstruktion einer anderen Hyperonym-Konstruktion untergeordnet. Eine Hyponym-Konstruktion einer Hyperonym-Konstruktion A wird zu einer Hyponym-Konstruktion einer Hyperonym-Konstruktion B. Zunächst existieren die beiden untergeordneten Konstruktionsmuster in den Hyperonym-Konstruktionen A und B als Homonyme nebeneinander. In mehr oder minder langen Zeiträumen folgen formale Differenzierungen der semantischen Differenzierung. Die Homonymie wird zu Gunsten der Isomorphie beseitigt. Besonders auffällig sind Vererbungen von syntaktischen in morphologische Konstruktionen, in der Grammatikalisierungsforschung Grammatikalisierung genannt. Unter anderem geht es um Übergänge im verbalen Bereich bei der Herausbildung von Konstruktionen mit modalen, modifizierenden, temporalen und passivischen Hilfsverben und mit sog. Funktionsverben, also um Modalverb-Konstruktionen, Konstruktionen mit modifizierenden Hilfsverben, Perfekt-Konstruktionen, Futur-Konstruktionen, Passiv-Konstruktionen (Vorgangsund Rezipienten-Passiv), Funktionsverbgefüge. Analogiemuster sind in diesen Fällen Konstruktionen mit einfachen Vollverben. Die Herausbildung dieser morphologischen Konstruktionen aus syntaktischen Konstruktionen ist synchron rekonstruierbar, diachron-empirisch dokumentiert und durch syntaktische versus morphologische Varianten synchron belegbar. Denn die Muster der syntaktischen Konstruktionen existieren noch (mehr oder weniger häufig gebraucht und über mehr oder minder lange Zeiträume) neben den Mustern der neueren morphologischen Konstruktionen, bspw. als Infinitivkonstruktion versus Konstruktion mit einem modifizierenden Hilfsverb (1a), als Objektsprädikativ-Konstruktion versus bekommen-Passiv (1b), Objektsprädikativ-Konstruktion versus haben-Perfekt (1c), Subjektsprädikativ-Konstruktion versus sein-Perfekt (1d): (1)
a. b. c. d.
Der Mann drohte von der Brücke zu springen/zu fallen. Ich bekomme mein Fahrrad repariert. Die Kuh/der Mann hat eine Glocke umgehängt. Der See ist zugefroren.
Jeweils verliert das (finite) Verb seine semantische Funktion als formal (syntaktisch) übergeordnetes Prädikat und erhält entgegen der (über lange Zeiträume weiterhin erhalten bleibenden und sich nur langsam an die neue Funktion anpas-
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senden) formalen Struktur der Konstruktion die neue semantisch untergeordnete Funktion eines Hilfsverbs. Das geschieht im Falle der Konstruktionen (1) in Analogie zu Konstruktionen mit einfachen Verben. Ursprünglich syntaktische komplexe Token-Konstruktionen, die eine Infinitivkonstruktion (1a), ein Objektsprädikativ (1b,c) oder ein Subjektsprädikativ (1d) enthalten, werden – infolge der möglichen Analogie von Verb + jeweiligem Komplement zu einfachen Verben – Hyponym-Konstruktionen innerhalb von Hyperonym-Konstruktionen mit einfachen finiten Verben. Im Falle des werden-Passivs ist die Vorgangskonstruktion mit einem intransitiven Verb das analoge Konstruktionsmuster (vgl. Welke 2019). Im Falle eines möglichen Zustandspassivs ist das werden-Passiv das Konstruktionsmuster für die Analogie. Analogie heißt: Die neuen Konstruktionen werden nach dem Vorbild bereits vorhandener Konstruktionen gebildet und eingeordnet.
2.4.2 Eine Bedeutung – zwei Formen: Muster auf Bewährung Bei Vererbungen kann es dazu kommen, dass zwei Formen zwei kaum zu unterscheidenden Bedeutungen gegenüberstehen. Ob die wenigen Beispiele, die in Lexikologie-Lehrbüchern genannt werden (z. B. Hautarzt – Dermatologe), zutreffend sind, sei dahingestellt.18 Entstehen morphologische Konstruktionen aus syntaktischen Konstruktionen, so kann es zu der Konstellation kommen, dass sich die neuen Muster gegenüber dem alten syntaktischen Muster und bereits vorhandenen morphologischen Mustern (dem werden-Passiv im Falle des sein-Passivs, dem einfachen Perfekt im Falle des Doppelperfekts) „bewähren“ müssen. Das heißt, sie müssen den Sprechern/Hörern Spielräume eröffnen für Ausdrucksmöglichkeiten, die einen Mehrwert gegenüber den alten und nunmehr konkurrierenden Mustern bieten. Mit anderen Worten: Die neuen Muster müssen ihre Relevanz beweisen. Andernfalls gehen sie verloren oder existieren in einer Nische. In diesem Sinne ist das Zustandspassiv ein „Muster auf Bewährung“, und zwar ein Muster, das, wie sich zeigen wird, nur
18 Eine Besonderheit stellen Allomorphe dar, unterschiedliche Formen mit identischer Bedeutung, bspw. Dubletten wie -e, -en, -s als Varianten des Pluralmorphems oder das haben- und sein-Perfekt als Varianten des Perfekts. Das sind Varianten, die nicht Abwandlungen voneinander sind, sondern dem funktionalen Zusammenfall von divergierenden Lautmustern (etwa im Deutschen /ç / ([x], [ç]) oder /ʁ/ ([r], [ʀ])) vergleichbar sind.
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einen sehr geringen Spielraum eröffnet. Es hat nur wenig Mehrwert gegenüber der Kopula-Konstruktion einerseits und dem Vorgangspassiv andererseits.19
3 Attributive und prädikative Adjektiv-Konstruktionen Die Token-Konstruktionen (2) und (3) repräsentieren die beiden zentralen syntaktischen Substantiv-Adjektiv-Konstruktionen. (2) der reife Apfel (3) Der Apfel ist reif. Es sind Ko-Hyponyme in einer Hyponymie-Relation mit einer abstrakten Adjektiv-Substantiv-Konstruktion als Hyperonym.20 Adjektiv-Substantiv
(4)
attributive A-S-Konstruktion A–S
prädikative A-S-Konstruktion Nom – Kopula – Adj
(2) ist eine adjektivische Attribut-Konstruktion mit einem Substantiv als Kopf. (3) ist eine verbale Argumentkonstruktion mit einem Nominativ-Argument als 1. Argument und einem Adjektiv als 2. Argument und dem Verb (der Kopula) als Kopf.21
19 Analog verhält es sich mit dem sog. Doppelperfekt gegenüber der Kopula-Konstruktion einerseits und dem einfachen Perfekt und dem Plusquamperfekt andererseits (vgl. Welke 2009). 20 Eine abstrakte Konstruktion ist eine Verallgemeinerung über Konstruktionen nach gewissen formalen oder/und semantischen Merkmalen. Konkret (in einer konkreten Gestalt und Bedeutung) existieren nur attributive und prädikative Adjektiv-Substantiv-Konstruktionen, aber keine Adjektiv-Substantiv-Konstruktion an und für sich. 21 Eine Besonderheit der Kopula-Konstruktion besteht darin, dass es sich im Unterschied zu anderen Argument-Konstruktionen um eine Konstruktion mit einem ganz bestimmten Verb und wenigen Varianten (sein, werden, bleiben) handelt. Die die Konstruktionsbedeutung determinierende Variable ist im Falle der Kopula-Konstruktion das Prädikativum. Eine zweite Besonderheit ist, dass Kopula-Konstruktionen nicht Situationen oder Ereignisse abbilden, sondern die Zuschreibung einer Eigenschaft im Falle der adjektivischen Kopula-Konstruktion (die Einordnung in eine Klasse
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Wenn man Konstruktionen vom Typ (2) und (3) vergleicht, könnte man von dem in der modernen Linguistik bevorzugten onomasiologischen Standpunkt22 aus vermuten, dass sich beide Muster semantisch weitgehend entsprechen. Der Unterschied sollte nur global die attributive versus prädikative Funktion sein, zu umschreiben etwa mit Helbig & Buscha (2001) als präsupponierte versus explizite Prädikation. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch weitere Unterschiede. So stellt sich heraus, dass die prädikative Verwendung von Adjektiven (und Partizipien II) wesentlich eingeschränkter ist als die attributive Verwendung.23 Aus konstruktionsgrammatischer Sicht müssen Unterschiede der Konstruktionsbedeutungen der attributiven Konstruktion und der Subjektsprädikativ-Konstruktion die Ursache sein. Ein Blick in die Duden-Grammatik (2005: 361–365) ergibt folgendes Bild:24 Adjektive, die das attributive Muster nicht instantiieren können, sind nahezu aufzählbar. Es handelt sich um Isolierungen bzw. Idiomatisierungen, z. B. lexematisierte Partizipien II (5), isolierte Derivationen (6), Substantive, die in adjektivische Kopula-Konstruktionen implementiert werden und dadurch zu Adjektiven umgedeutet werden (7), Paarformeln (8): (5)
Er ist eingedenk/gewillt/mir untertan/zugetan/abhold.
(6)
teilhaftig, anheischig, vorstellig, abspenstig, ausfindig, habhaft
(7)
Er ist pleite. Das ist Mist. Das Spiel war Spitze.
(8)
Das ist klipp und klar. Der Entscheid ist null und nichtig.
Im Unterschied zum attributiven Gebrauch unterliegt dagegen die prädikative Verwendung massiven Einschränkungen, vgl.: (9) a. der morgendliche Spaziergang b. literarisches Colloquium c. kriminologische Untersuchung
Der Spaziergang ist morgendlich. Das Colloquium ist literarisch. ✶ Die Untersuchung ist kriminologisch. ✶ ✶
im Falle der substantivischen Kopula-Konstruktion) selber vornehmen – vergleichbar Konstruktionen mit performativen Verben. 22 Gegen diesen wendet sich Goldbergs (1995) No-Synonymy-Prinzip. 23 Einschränkungen der Instantiierbarkeit prädikativer Konstruktionen mit Partizipien I und Partizipien III (zu + Partizip I) wären gesondert zu diskutieren. 24 Die Duden-Grammatik verzichtet auf Erklärungen und ist streng synchron beschreibend. Der Überblick scheint an H. Paul (1958) angelehnt zu sein.
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d. e. f. g. h.
sprachwissenschaftliche Diss. bauliche Maßnahmen unmittelbarer Vorgesetzter mutmaßlicher Mörder vermeintlicher Mörder
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Die Diss. ist sprachwissenschaftlich. Die Maßnahmen sind baulich. ✶ Der Vorgesetzte ist unmittelbar. ✶ Der Mörder ist mutmaßlich. ✶ Der Mörder ist vermeintlich. ✶ ✶
Im Duden (2005: 3.3.5.1, 361) werden „quantifizierende und relationale“ Adjektive genannt. Relationale Adjektive werden als Adjektive definiert, die die räumliche und zeitliche Lage angeben: mittlere, morgendliche, nächtliche, diesjährige. Ferner wird auf Adjektive verwiesen, die (a) die Zugehörigkeit, (b) die Herkunft, (c) den Bereich oder (d) den Stoff angeben, also Adjektive, die man ebenfalls als relational auffassen kann (Duden-Grammatik 2005: 362). Fazit Die Bedeutung der prädikativen Konstruktion (Kopula-Konstruktion) erscheint verglichen mit der attributiven Konstruktion wesentlich stärker eingeschränkt. Die Einschränkungen resultieren aus einem relationalen Charakter der betreffenden Adjektive. Eigenschaften, die sekundär durch Bezug auf andere Qualitäten (Dinge, Modalitäten, Prozesse) gewonnen werden, sind ausgeschlossen. Das heißt im Umkehrschluss, dass in der prädikativen Adjektiv-Konstruktion (KopulaKonstruktion) die Bedeutung des Adjektivs auf Eigenschaft als eine unmittelbar an ihren Trägern in Erscheinung tretende Qualität begrenzt ist.
4 Attributive und prädikative Partizip II-Konstruktionen 4.1 Attributive Partizip II-Konstruktionen Ich gehe von folgenden Annahmen aus: (1) Wie attributive Adjektiv-Konstruktionen (vgl. oben 3) sind auch attributive Partizip II-Konstruktionen diachron und damit prototypentheoretisch gegenüber prädikativen Partizip II-Konstruktionen primär, vgl. H. Paul (1958,4: 67):25
25 Es geht um das Verhältnis des attributiven und prädikativen Gebrauchs von Adjektiven und Partizipien, nicht um das Verhältnis von Attribution und Prädikation an sich.
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Die Kategorie des Part. ist zunächst für attributive Verwendung geschaffen worden, während für prädikative die Formen des Verb. fin. zu Gebote standen.
(2) Diese ursprünglich nur attributiv verwendeten Partizipien II wurden von perfektiven intransitiven und transitiven Verben abgeleitet. Ein Hinweis darauf findet sich bei Oubouzar (1974). Sie stellt fest, dass es bei Notker Partizipien II nur zu perfektiven Verben gibt. (3) Ein Vergleich von Partizip II-Konstruktionen und Adjektiv-Konstruktionen zeigt, dass die attributive Partizip II-Konstruktion wie die attributive Adjektiv-Konstruktion wesentlich aufnahmefähiger für Implementierungen (wesentlich produktiver) ist als die entsprechende prädikative Konstruktion. Während die Bedeutungen prädikativer Partizip II- und Adjektiv-Konstruktionen relativ scharf konturiert sind (vgl. 4.1 und 4.2 unten), ist die attributive Konstruktion extrem offen für Erweiterungen. Entsprechend schwer fassbar ist die Konstruktionsbedeutung der attributiven Konstruktion. Sie scheint allein in der Charakterisierung von (prototypisch) als Gegenstände gefassten Entitäten durch (einfache oder komplexe) Merkmale im weitesten Sinne zu bestehen. So hat es zwar zwischen 1530 und 1730 einen Anstieg von erweiterten vorangestellten Attributionen gegeben – „mit einer Geschwindigkeit, die nicht anders als rasant bezeichnet werden kann“ (Brooks 2006: 34). Dennoch war die strukturelle Möglichkeit der Ausdehnung schon früher gegeben, wie sich u. a. bei Notker zeigt, bei dem die späteren Ausweitungen bereits vorgeprägt sind (Brooks 2006). Als Bedeutung von Partizipien II wird oft ‚Nachzustand‘ bzw. ‚Resultat‘ angegeben (Bußmann 1990, Glück 2010). Dem liegt die für Invarianztheorien typische Identifizierung von prototypischer und invarianter Bedeutung zu Grunde. Denn die Bedeutung ‚Nachzustand‘ besitzen nur (attributiv verwendete) Partizipien II perfektiver Verben. Dass es hier nur um Partizipien II perfektiver Verben gehen kann, folgt bereits aus der Tatsache, dass nur perfektive Verben Vorgänge bedeuten, die auf einen Kulminationspunkt zusteuern, an dessen Ende ein Nachzustand bzw. Resultat steht. Wenn man sagt, dass ein Haus zerfällt oder zerstört wird, so impliziert das, dass es am Ende dieses Prozesses zerfallen oder zerstört ist – falls dieser Prozess nicht kontingent (durch äußere Einflüsse) abgebrochen wird. Attributiv verwendete Partizipien II perfektiver Verben passen exakt zu dieser Bedeutung. Sie bedeuten genau den Nachzustand, den das Verb semantisch (und damit strikt) impliziert, den es aber selbst nicht (als einen in diesem Falle notwendigerweise aktuell bestehenden Zustand/ Vorgang) bedeutet. Nachzustände zu perfektiven Verben sind folglich das Resultat des Vorgangs, aber nicht der Vorgang selbst. Denn solange der perfektive Vorgang noch andauert, liegt das Resultat noch nicht vor (vgl. das Aristoteles-Kriterium der Perfektivität versus Imperfektivität, vgl. Aristoteles 1994: 9. Buch 6,3 1048b):
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Von den Handlungen (práxeis), die eine Grenze (perás) haben, enthält keine ein Ziel (télos), sondern sie betreffen nur das zum Ziel Führende. So ist z. B. das Ziel des Abmagerns die Magerkeit, aber wenn sich das Abmagernde in einer solchen Bewegung (kínesis, K.W.) befindet, ohne mit dem Ziel der Bewegung zusammenzufallen, so ist dieses keine Handlung oder wenigstens keine vollendete, denn sie enthält kein Ziel; jene dagegen, in welcher das Ziel enthalten ist, ist auch Handlung. So kann man wohl sagen: er sieht und hat zugleich gesehen, er überlegt und hat zugleich überlegt, er denkt und hat zugleich gedacht, aber man kann nicht sagen: er lernt und hat zugleich gelernt, er wird gesund und ist zugleich gesund geworden. Dagegen: er lebt gut und hat zugleich gut gelebt, er ist glücklich und ist zugleich glücklich gewesen. Wo nicht, so hätte er einmal damit aufhören müssen, wie wenn einer sich abmagert; nun ist dem aber nicht so, sondern er lebt und hat gelebt. Von diesen Dingen muß man also die einen als Bewegung (kinesis), die andern als wirkliche Tätigkeiten (enérgeia, K.W.) bezeichnen. Jede Bewegung ist unvollendet, z. B. Abmagerung, Lernen, Gehen, Bauen. Dieses sind Bewegungen, und zwar unvollendete; denn einer kann nicht zugleich gehen und gegangen sein, oder bauen und gebaut haben, oder werden und geworden sein, oder sowohl bewegen als auch bewegt haben, sondern ein anderes bewegt und ein anderes hat bewegt. Dagegen kann dasselbe Wesen zugleich sehen und gesehen haben, zugleich denken und gedacht haben. Einen Vorgang von dieser Art nenne ich wirkliche Tätigkeit, einen von jener Art Bewegung.
Beispielsweise beziehen sich die Partizipien in (10) genau auf den Nachzustand, den die betreffenden perfektiven Verben auf Grund ihrer Bedeutung implizieren. (10) a. b. c. d. e.
das zerstörte Haus das rot angestrichene Haus das renovierte Haus das zerfallene Haus der umgestürzte Baum
Nun können aber auch Partizipien II imperfektiver Verben in attributive Partizip II-Konstruktionen implementiert werden. Sie bedeuten jedoch nicht ‚Nachzustand‘, und sie können auf Grund ihrer Herkunft diese Bedeutung nicht haben, vgl.: (11) a. das betrachtete Haus b. das geliebte Haus c. das von Scheinwerfern bestrahlte Haus Ein betrachtetes, geliebtes, von Scheinwerfern bestrahltes Haus ist kein Haus, das sich in einem Nachzustand von betrachten, lieben, bestrahlen befindet. Vielmehr ist das Haus weiterhin in dem gleichen Zustand/Vorgang, den bereits das imperfektive Verb signalisiert. Es ist ein Haus, das zu irgendeinem Zeitpunkt betrachtet, geliebt, von Scheinwerfern bestrahlt wird, vgl.:
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(12) Das (gestern/heute/morgen) betrachtete/geliebte/von Scheinwerfern bestrahlte Haus wird abgerissen. Es geht in (12) um einen mit der übergeordneten Ereigniszeit gleichzeitigen Vorgang/ Zustand,26 vgl. H. Paul zum Partizip II (Partizipium Perfecti) von imperfektiven Verben (1958: 79):27 So weit sie zu imperfektiven Verben gehören, beziehen sie sich häufig ebenso wie die aktiven Partizipia Präs. auf Gleichzeitigkeit, vgl. das von vier Säulen getragene Dach, [...]
„Rückvererbung“ Die attributive Partizip II-Konstruktion ist zwar produktiver als die prädikative. Dennoch resultieren nicht alle ihre Erweiterungen unmittelbar aus ihrer größeren Aufnahmefähigkeit. Man kann zwei Arten und vielleicht auch zwei Phasen einer anzunehmenden Rückvererbung unterscheiden: (1) Partizipien II sind ursprünglich Partizipien perfektiver Verben. Partizipien II imperfektiver Verben entstanden innerhalb von werden-Passiv- und von habenPerfekt-Konstruktionen. Zu Instantiierungen attributiver Partizip II-Konstruktion imperfektiver Verben kam es folglich erst über den Umweg des werdenPassivs und des haben-Perfekts mit Partizipien II imperfektiver Verben. Diese prädikativen Konstruktionen werden in attributive Partizip II-Konstruktionen sozusagen rückvererbt. (2) Man kann nahezu jeden Satz mit beliebigen Modifikatoren im sein-Perfekt oder in einem werden-Passiv in eine attributive Partizip II-Konstruktion transformieren. Auch das zeigt, dass attributive Partizip II-Konstruktionen teilweise Resultate der Vererbungen aus Konstruktionen mit sein-Perfekt und werden-Passiv sind. Das betrifft Passiv-Konstruktionen mit Partizipien II sowohl perfektiver (13) als auch imperfektiver Verben (14):
26 Durch das Einfügen eine entsprechenden Adverbials wie einst gelangt man zu einer gegenüber der übergeordneten Ereigniszeit vergangenen Vorgang/Zustand. 27 In Bezug auf perfektive Verben heißt es bei H. Paul (1958: 79–80): „Auch die Partizipia der perfektiven Verba beziehen sich ursprünglich eigentlich auf etwas Gleichzeitiges, indem sie nicht angeben, daß sich etwas in einer früheren Zeit vollzogen hat, sondern daß etwas in einen Zustand gebracht ist, der noch fortdauert. So ist z. B. eine geladene Flinte nicht eine Flinte, die irgend einmal geladen ist, sondern eine solche, in der sich noch die Ladung befindet.“ Diese Interpretation H. Pauls entspricht der Interpretation als: ‚mit der übergeordneten Evaluationszeit gleichzeitigen) Nachzustand‘: Er betrachtet die geladene Flinte.
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(13)
a. Das Präparat ist vor einigen Jahren auf den Markt gelangt. → das vor einigen Jahren auf den Markt gelangte Präparat (sein-Perfekt → partizipiale Attribution) b. Das Präparat ist in viele Länder verkauft worden. → das in viele Länder verkaufte Präparat (werden-Passiv → partizipiale Attribution)
(14)
a. Der Schauspieler wird von allen bewundert. → der von allen bewunderte Schauspieler b. Die Ausstellung wurde stark frequentiert. → die stark frequentierte A.
Ein Indiz des „Umwegs“ der Vererbung über das werden-Passiv (und nicht das haben-Perfekt) sind die bis heute bestehenden Beschränkungen in der Reichweite der attributiven Partizip II-Konstruktion. Es gibt keine attributive Verwendung von Partizipien II imperfektiver intransitiver Verben, vgl.: (15)
a. Der Mann hat letzte Nacht schlecht geschlafen → ✶der letzte Nacht schlecht geschlafene Mann b. Dem Mann wurde nicht geholfen → ✶dem nicht geholfenen Mann
Das Gleiche gilt für attributive Partizipien II transitiver imperfektiver Verben. Vererbungen sind aus dem werden-Passiv möglich (16a), nicht aber aus dem haben-Perfekt (16b): (16)
a. Die Ausstellung wurde gut besucht .→ die gut besuchte b. Emil hat die Ausstellung gesehen. → ✶der die Ausstellung
Ausstellung gesehene Emil
Dieser Umstand verursacht eine systematische Lücke in den Möglichkeiten der Attribuierung. Vererbbar in die Attribution ist nur das werden-Passiv, aber nicht das haben-Perfekt transitiver imperfektiver Verben.28 Gelegentlich füllen Sprecher diese Lücke mit Hilfe des Partizips I von haben, sozusagen mit einer noch getreueren Übersetzung in die attributive Konstruktion: (17)
a. ✶der geschlafene Schüler b. der geschlafen habende Schüler
28 Zu generellen Gründen der passivischen Perspektivierung von Partizipien II transitiver Verben vgl. Welke 2002.
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a. ✶die alle Vorfälle untersuchte Firma b. die alle Vorfälle untersucht habende Firma
Gelegentlich finden sich auch „Notbildungen“ wie: (19)
a. b. c.
einen sich ins Dorf verirrten Bühnenmaler des im Dorf liebend Fuß gefassten Bertram ✶ und neu sich in Freundeskreisen und eingetragenen Vereinen zusammengetanen Leuten ✶ ✶
Es handelt es sich um Lücken in einer allgemeinen Tendenz zur substantivischen und partizipialen Nominalisierung, in der ansonsten annähernd alles, was verbal ausdrückbar ist, auch nominal ausgedrückt werden kann.29
4.2 Prädikative Partizip II-Konstruktionen Maienborn (2007: 86) konstatiert in ihrem vielfach rezipierten Aufsatz, dass es vier unterschiedliche Erklärungen von Konstruktionen mit Subjekt +sein + Partizip II transitiver Verben gibt:30 (a) eine ältere, nach der eine Konstruktion mit sein + Partizip II eine Vorgangspassiv-Ellipse ist (Grimm 1898, Wilmanns 1906, Behaghel 1924) (b) die Auffassung, dass es sich um ein drittes Genus verbi handelt (Glinz, 1952, Brinker 1971, Helbig/Kempter 1973, Helbig 1982, 1983, 1987, 1989, Zifonun 2005)31 (c) die Einordnung als eine gesonderte Kategorie ‚Resultativum‘ (Leiss 1992) (d) die Analyse als Kopula-Konstruktion in neueren generativ-grammatisch inspirierten Arbeiten. Maienborn schließt sich der Auffassung (d) an. Ihr Ziel ist die Revision der in der Folge von Glinz (1952) üblich gewordenen Annahme, dass Konstruktionen aus Subjekt + sein + Partizip II transitiver Verben ein drittes genus verbi bilden, nämlich
29 Prädikative Bedeutungen werden in attributiver Form ausgedrückt (vgl. Welke 2016, 2019, Grimshaw 1990) Bedeutung und Form geraten dadurch in einen systematischen Widerspruch. 30 Ich habe bereits in Welke (2007) eine Entgegensetzung und Weiterführung versucht, unternehme also den Versuch ein zweites Mal, nunmehr von einem konstruktionsgrammatischen Standpunkt aus. 31 Auszuschließen ist, obwohl das bei Anwendung des Begriffs ‚Zustandspassiv‘ nicht immer klar formuliert wird, dass es bei der Charakterisierung als Zustandspassiv nicht einfach um den „passivischen“, d. h. konversen Charakter von Partizipien II geht.
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ein Zustandspassiv (sein-Passiv) neben dem Vorgangspassiv (werden-Passiv) und dem Aktiv. Den genannten vier Analysen ist gemeinsam, dass Token-Konstruktionen aus sein + Partizip II transitiver Verben ausschließlich (invariant) entweder als Vorgangspassiv-Ellipsen, Zustandspassiv-Konstruktionen, Resultativ-Konstruktionen (zusammen mit dem Perfekt transitiver und intransitiver Verben) oder als Kopula-Konstruktionen (als syntaktische Konstruktionen) aufgefasst werden.32 Diese Analysen folgen dem Ideal der Invarianz. Eine Klasse von Erscheinungen wird auf der Grundlage von Merkmalen definiert, von denen man annimmt, dass sie gleichermaßen allen Elementen dieser Klasse zukommen und alle Elemente anderer Klassen ausschließen. Aus dem Invarianzprinzip folgt eine streng synchrone Betrachtungsweise. Ziel der Erklärung ist eine auf Widerspruchsfreiheit gerichtete Systemanalyse, die davon absieht, dass Syntax und Grammatik diachronen Entwicklungen unterworfen sind und daher notwendigerweise Widersprüche enthalten. Die Invarianzforderung gilt verstärkt für moderne syntaktisch orientierte Interpretationen. Ich gehe dagegen von folgenden Hypothesen aus: (1) ‚Zustandspassiv‘ (b) und ‚Kopula-Konstruktion‘ (d) sind nicht einander ausschließende Klassifizierungen einer Konstruktion, sondern zwei unterschiedliche homonyme Konstruktionen. (2) Die beiden Konstruktionen sind nicht Varianten einer polysemen Konstruktion, sondern homonyme, aber verwandte Konstruktionen (deren Übergänge ineinander rekonstruierbar sind). (3) Die Kopula-Konstruktion ist eine syntaktische Konstruktion. Das Zustandspassiv ist eine morphologische Konstruktion, die aus der Kopula-Konstruktion per Konstruktionsvererbung bzw. Grammatikalisierung entstanden ist. (4) Nicht auszuschließen ist, dass Token-Konstruktionen auftreten, die man als elliptisches Vorgangspassiv interpretieren muss. Es wird im Folgenden insbesondere um die Frage gehen, ob und in welchem Umfang das Muster einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktion neben einer syntaktischen Kopula-Konstruktion existiert. Von einem Invarianzprinzip aus könnte man annehmen, dass Partizipien II, die attributiv verwendbar sind, wie originäre Adjektive (vgl. oben 3) auch prädi-
32 Leiss (1992) ordnet in die Resultativkonstruktion auch sein + Partizip II intransitiver Verben ein, also neben entsprechenden Kopula-Konstruktionen auch das sein-Perfekt. Helbig unterscheidet neben dem Zustandspassiv, ein Zustandsreflexiv und eine allgemeine Zustandsform (vgl. z. B. Helbig & Buscha 2001).
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kativ verwendet werden können. Bereits bei Partizipien II perfektiver transitiver Verben gibt es jedoch neben Entsprechungen (20) zahlreiche Zweifelsfälle (21): (20)
a. b. c. d. e. f.
der angespitzte Bleistift der gekennzeichnete Weg das beschädigte Bild das zersägte Brett die geflieste Küche das verschwundene Buch
Der Bleistift ist angespitzt. Der Weg ist gekennzeichnet. Das Bild ist beschädigt. Das Brett ist zersägt. Die Küche ist gefliest. Das Buch ist verschwunden.
(21)
a. b. c. d. e. f.
der ermordete Mann der gefütterte Kater der gegessene Kuchen das runtergeschluckte Bonbon die verabschiedeten Gäste der gelesene Aufsatz
?Der Mann ist ermordet. ?Der Kater ist gefüttert. ?Der Kuchen ist gegessen. ?Das Bonbon ist runtergeschluckt. ?Die Gäste sind verabschiedet. ?Der Aufsatz ist gelesen.
Ein Test mit 30 Studentinnen und Studenten der Germanistik mit Deutsch als Muttersprache und 30 Studentinnen und Studenten mit Deutsch als Fremdsprache an der Universität Wien ergab folgende Grammatikalitätsbewertungen: (22) a. Der Bleistift ist angespitzt.33 b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.
Der Mann ist ermordet. Der Weg ist gekennzeichnet. Das Bild ist beschädigt. Die Gäste sind verabschiedet. Der Kater ist gefüttert. Das Brett ist zersägt. Der Kuchen ist gegessen. Die Küche ist gefliest. Das Buch ist verschwunden. Das Bonbon ist runtergeschluckt.
Muttersprache gut nicht gut 12 4 27 29 12 20 27 18 23 30 6
18 26 2 1 17 0 3 12 7 0 24
gut
DaF nicht gut
16 13 20 23 10 15 21 4 16 29 10
4 17 10 7 20 15 9 16 14 1 20
33 Die Bewertung ist verzerrt, da in Österreich „gespitzt“ verwendet wird.
Muster auf Bewährung: Kopula-Konstruktion und Zustandspassiv
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Ursache der Akzeptabilitätsunterschiede sind nach der Ausgangsannahme (oben) Unterschiede in der Konstruktionsbedeutung der attributiven und der prädikativen Adjektiv-Konstruktion. Sowohl für die Interpretationen von Partizip II-Konstruktionen als KopulaKonstruktionen als auch von Zustandspassiv-Konstruktionen stellen die Beschränkungen (21) gegenüber (20) ein Problem dar. Eine Eingrenzung akzeptabler Konstruktionen auf transitive Verben ist nicht möglich. Semantische Restriktionen bringen Annäherungen, aber keine invariante Definition. Eine Annäherung ist die Eingrenzung auf perfektive Verben (z. B. Erben 1960). Helbig (1983) nennt einen hohen Grad an Affiziertheit des vom Subjekt Denotierten als unterscheidendes Merkmal. Aber auch diese Eingrenzung ist problematisch, wenn man (20) und (21) vergleicht. Ein Ausweg ist die Pragmatik. Solange jedoch Regeln als invariant gültig aufgefasst werden, schließen die Begriffe ‚Pragmatik‘ und ‚Regel‘ einander aus. Symptomatisch für die Reserviertheit der Grammatiktheorie gegenüber pragmatischen Faktoren oder gar pragmatischen Regeln ist das Regelverständnis, das der Einschätzung Helbigs (1983: 49) in Bezug auf Brinker (1971) und Schönthal (1976) zu Grunde liegt: Unbefriedigend ist die – fast agnostizistisch anmutende – Annahme, es gäbe überhaupt keine systematischen Regeln für diese Restriktionen, sie seien nur eine Sache der Verwendung.
Das Chomsky’sche Postulat der Autonomie der Grammatik bewirkte, dass zunächst auch Semantik nur zögerlich in die Diskussion von Restriktionen einbezogen wurde, m.a.W. als regelhaft akzeptiert wurde. Eine Ausweitung auf Pragmatik, d. h. auf pragmatische Regeln ist bis heute selten. In der Tempusliteratur bspw. finden sich nur wenige Vorstöße, z. B. bei Grewendorf (1982a), (1982b) und Welke (2005). Maienborn (2007) argumentiert vom Standpunkt der Zwei-Ebenen-Semantik (Bierwisch 1983, Bierwisch & Lang 1987) aus. In Bezug auf prädikative Partizip II-Konstruktionen verweist sie darauf, dass sich strikte Grammatikalitätsurteile wie (23) durch regulär erscheinende Belege entkräften lassen. Sie stellt (ebd: 104) den Grammatikalitätsbewertungen, die sie bei anderen Autoren findet (23), die Google-Belege (24) gegenüber: (23)
a. b. c. d.
(24)
a. Ist die Antwort denn nun gewusst oder geraten? Ebd.: 104: (56) b. Von dem, was gewusst ist, kann es keinen Glauben geben. c. Damit kann man schon punkten. Das Ego ist gestreichelt. Das Selbstwertgefühlt zufrieden gestellt. Plötzlich ist man wer.
Die Antwort ist gewusst. Maienborn 2007: 104: (55) Carola ist seit letztem Sommer geheiratet. ✶ Sie ist gestreichelt. ✶ Das Haus ist gezeigt. ✶ ✶
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d. Ganz am Schluss, wenn alle Hindernisse überwunden sind und die Prinzessin geheiratet ist Maienborn (2007: 105) folgert: Die bisherige Diskussion der Daten […] weist darauf hin, dass es nicht in erster Linie die Grammatik ist, die über die Zulässigkeit des Zustandspassivs entscheidet (etwa in Form einer Beschränkung auf resultative transitive Verben oder ähnlich), sondern dass hier offenbar maßgeblich pragmatische Bedingungen beteiligt sind.
Von einem konstruktionsgrammatischen Standpunkt aus ist die Öffnung zur Pragmatik willkommen. Maienborn bleibt jedoch beim Invarianzpostulat der formalen Semantik. Sie (2007: 106) nimmt an, dass den Abgrenzungsproblemen des Zustandspassivs eine „systematisch gegebene Mehrdeutigkeit“ zu Grunde liegt, deren Interpretationsspielraum die Pragmatik auszuschöpfen hat. Um das zu zeigen, greift sie einen Vorschlag von Brandt (1982: 31) auf, in dem zwischen einer Charakterisierungslesart und einer Nachzustandslesart der sein+Partizip II-Konstruktion unterschieden wird, vgl. Maienborn (2007: 106): (25)
a. Das Fleisch ist gekocht… wir können es jetzt essen (Brandt 1982: 31 = Nachzustandslesart) b. Das Fleisch ist gekocht… und nicht roh/gebraten. = Charakterisierungslesart
Brandt unterscheidet mit der Nachzustands- und der Charakterisierungslesart zwei Bedeutungen der von ihr weiterhin ‚Zustandspassiv‘ genannten Konstruktion aus sein + Partizip II.34 ‚Charakterisierung‘ kann man als synonym zu ‚Eigenschaft‘ ansehen.35 Maienborn (2007: 108) subsumiert das, was Brandt im Gegensatz zu ‚Charakterisierung‘ ‚Nachzustand‘ nennt, unter den Begriff ‚Eigenschaft‘ und betrachtet „Zuschreibung einer Eigenschaft an den Subjektreferenten“ (diese Charakterisierung auch in Maienborn 2003, 2005) als eine einheitliche invariante Bedeutung der sein+ Partizip II-Konstruktion:36 34 Brandt entscheidet nicht, ob es dabei um eine oder um zwei Konstruktionen geht (um Polysemie oder Homonymie). 35 Dass man ‚Charakterisierung‘ und ‚Eigenschaft‘ gleichsetzen kann, nimmt Maienborn (2007: 106) an, wenn sie in Bezug auf (26) festhält: „In der Charakterisierungslesart (58b) drückt das Zustandspassiv aus, dass das Fleisch zur Klasse der gekochten Dinge gehört, und nicht etwa zu den rohen oder gebratenen Dingen.“ 36 Weil diese Konstruktion in beschreibenden Grammatiken ‚Zustandspassiv‘ genannt wird, spricht auch Maienborn von ‚Zustandspassiv‘, ohne damit eine theoretische Einordnung als genus verbi (als morphologische Konstruktion) zu implizieren.
Muster auf Bewährung: Kopula-Konstruktion und Zustandspassiv
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Der „Clou“ des Zustandspassivs (der prädikativen Partizip II-Konstruktion, K.W.) […] ist, dass es über das Inventar bestehender Adjektive hinaus ein sprachliches Ausdrucksmittel bietet, um neue Ad hoc-Eigenschaften zu bilden. Die Adjektivierung des verbalen Partizips (plus etwaiger integrierter adverbaler Modifikatoren) dient zur spontanen Konzeptualisierung einer beliebig komplexen Eigenschaft, mit Hilfe derer Individuen für bestimmte Zwecke kategorisiert werden können. (Maienborn 2007: 10)
Postuliert wird damit ein pragmatischer Prozess, der aus der Bedeutung ‚Nachzustand‘ per Implikatur Ad-hoc-Eigenschaften macht. Maienborn verwendet den Begriff ‚Eigenschaft‘ hier so, wie er in der Logik gebräuchlich ist. Aus dieser Perspektive kann man einstellige Prädikate (26) als Eigenschaften interpretieren und alle mehrstelligen Prädikate (27) auf einstellige Relationen (also ebenfalls Eigenschaften) zurückführen. (26)
Das Schloss zerfällt. zerfallen (Schloss) Das Schloss hat die Eigenschaft zu zerfallen.
(27)
Das Schloss steht auf einem Hügel. Stehen auf Hügel (Schloss) Das Schloss hat die Eigenschaft, auf einem Hügel zu stehen.37
Entsprechend kann man auch einen Nachzustand als Eigenschaft in diesem allgemein logischen Sinne auslegen: (28)
Der Wein ist getrunken. Der Wein hat die Eigenschaft, in einem Nachzustand des Trinkens zu sein. Nachzustand (trinken (Wein)) getrunken (Wein)
37 Relationslogisch: STEHEN AUF (Schloss, Hügel). Das Schloss befindet sich zu einem Hügel in einer Relation des Darauf-Stehens. Auf der Interpretierbarkeit von Relationen als Eigenschaften beruht die Aristotelische Logik.
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Klaus Welke
Indiz für den spezifisch eingeschränkten Charakter der sprachlichen (natürlichsprachlichen) Konstruktionsbedeutung ‚Eigenschaft‘ (bzw. ‚Charakterisierung‘) als Eigenschaft im engeren Sinne sind bereits die Beschränkungen des prädikativen Gebrauchs von nicht-partizipialen Adjektiven in Kopulakonstruktionen (vgl. oben 3). Im Unterschied zum Gebrauch des Terminus ‚Eigenschaft‘ in der Logik geht es bei Kopula-Konstruktionen also eher um Zuweisungen einer Eigenschaft in einem oberflächlichen Sinne. Das ist Brandts Bedeutung ‚Charakterisierung‘. Ein Merkmal dieser Eigenschaften im engeren Sinne ist, dass sie typischerweise perzeptiv zugänglich sind: (29) Der Tisch ist rund/hoch/schön/wacklig/zerkratzt. Zu diesen perzeptiv zugänglichen Eigenschaften gibt es außerdem typischerweise auf der Hand liegende saliente, gleichwertige und ebenfalls perzeptiv erkennbare Alternativen, vgl. Maienborn (2007: 111): Für die pragmatische Legitimation der Charakterisierungslesart spielt der zeitliche Verlauf keine Rolle. Hier muss der Diskurskontext vielmehr saliente inhaltliche Alternativen bereitstellen [...].
Hinzu kommt, dass Eigenschaften im engeren Sinne sprachlich typischerweise durch Adjektive wiedergegeben werden. Zu diesen gibt es typischerweise naheliegende und saliente Antonyme. Ferner werden diese Adjektive typischerweise nur in einem spezifisch begrenzten Umfang durch Modifikatoren charakterisiert. Im Folgenden betrachte ich prädikative Partizip II-Konstruktionen wiederum getrennt in Konstruktionen mit Partizipien II transitiver perfektiver (4.3.1) und imperfektiver Verben (4.3.3), unterbrochen durch (4.3.2) Konstruktionen mit Partizipien II intransitiver perfektiver Verben.
4.2.1 Sein + Partizip II transitiver perfektiver Verben: Kopula-Konstruktion und Zustandspassiv Wie bei prädikativen Konstruktionen mit originären Adjektiven (vgl. 3) scheint die (offensichtliche) Akzeptabilität prädikativer Partizip II-Konstruktionen auf der Grundlage von Partizipien II perfektiver transitiver Verben mit dem Bezug auf eine oberflächliche und typischerweise perzeptiv wahrnehmbare Eigenschaft im engeren Sinne in Verbindung zu stehen, vgl. (21) und (22), wieder aufgenommen als (30) und (31):
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(30)
a. b. c. d. e. f.
der angespitzte Bleistift der gekennzeichnete Weg das beschädigte Bild das zersägte Brett die geflieste Küche das verschwundene Buch
Der Bleistift ist angespitzt. Der Weg ist gekennzeichnet. Das Bild ist beschädigt. Das Brett ist zersägt. Die Küche ist gefliest. Das Buch ist verschwunden.
(31)
a. b. c. d. e. f.
der ermordete Mann der gefütterte Kater der gegessene Kuchen das runtergeschluckte Bonbon die verabschiedeten Gäste der gelesene Aufsatz
?Der Mann ist ermordet. ?Der Kater ist gefüttert. ?Der Kuchen ist gegessen. ?Das Bonbon ist runtergeschluckt. ?Die Gäste sind verabschiedet. ?Der Aufsatz ist gelesen.
Betrachten wir zunächst die als grammatisch einzustufenden Beispiele (30). Ein Bleistift, von dem behauptet wird, dass er angespitzt ist (30a), und ein als gekennzeichnet charakterisierter Weg (30b) sind in diesen Eigenschaften perzeptiv erkennbar und dadurch leicht zugänglich. Auch ein als verschwunden gekennzeichnetes Buch (30 f ) ist durch die Negation seiner Eigenschaft der Perzipierbarkeit gekennzeichnet. Zusätzliches Kriterium ist wie bei Konstruktionen mit originären Adjektiven das Vorliegen einer auf der Hand liegenden salienten, gleichwertigen und ebenfalls perzeptiv zugänglichen Alternative (und das Vorhandensein eines naheliegenden Antonyms), bspw. die Opposition eines stumpfen Bleistiftes zu einem (an)gespitzten, eines nicht gekennzeichneten Weges zu einem gekennzeichneten, eines nicht beschädigten Bildes zu einem beschädigten, einer ungefliesten zu einer gefliesten Küche. Dagegen liegt bei den Beispielen (31) mit fraglicher Akzeptabilität weder eine perzeptiv leicht zugängliche Eigenschaft vor, noch gibt es eine saliente und gleichwertige Alternative. Ein Tot-Sein ist (von Grauzonen abgesehen) relativ leicht zu erkennen, ein Ermordetsein (31a) dagegen nicht. Die (relativ) gleichwertige Alternative wäre nicht die Alternative zu Totsein, nämlich Lebendigsein, sondern Auf-andere-Weise-zu-Tode-Gekommen-Sein, z. B. Ertrunken-Sein, und das ist nicht so leicht auszumachen. Die Modalität ‚verschwunden‘ (31 f ) ist perzeptiv leicht überprüfbar und hat eine klare und leicht perzipierbare gleichwertige Alternative: ein vorhandener Kuchen, ein vorhandenes Bonbon. Nicht naheliegend ist die Alternative jedoch wiederum bei ‚gegessen‘ (31c) oder ‚runtergeschluckt‘ (31d). Eine relativ gleichwertige Alternative zu ‚gegessen‘ könnte ‚weggeworfen‘ sein, zu ‚runtergeschluckt‘ ‚ausges-
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puckt‘. Diese liegen aber nicht gleichermaßen auf der Hand. Es ist schließlich auch nicht an einem Kater unmittelbar perzeptiv erkennbar, dass er gefüttert ist (31b), oder an einem Gast, dass er verabschiedet ist (31e). Soweit zum Merkmal Charakterisierung bzw. Eigenschaft der prädikativen Partizip II-Konstruktion transitiver Verben. Nun können aber, wie Maienborn (2007) zeigt, zunächst unakzeptabel scheinende Konstruktionen (mit Partizipien II perfektiver und imperfektiver Verben) durch Implikaturen, die kontextuell nahegelegt sein können, akzeptabel werden. Die neue Lesart und die alte Bedeutung könnten polysem (1) oder homonym (2) zueinander sein: 1. Die Varianten a und b sind zwei protototypisch zusammenhängende Varianten einer polysemen Konstruktion. 2. Die Varianten a und b hängen zwar prototypisch zusammen, sind jedoch nicht Varianten einer Konstruktion, sondern sind Bedeutungen zweier homonymer Konstruktionen, einer syntaktischen Kopula-Konstruktion mit adjektivischem Partizip II in der Bedeutung ‚Eigenschaft‘ (Charakterisierung) und einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktion mit verbalem Partizip II. Die Interpretation 1 scheidet aus den gleichen Gründen aus wie die Vereinigung der Merkmale ‚Charakterisierung‘ und ‚Nachzustand‘ in einer invarianten Bedeutung ‚Eigenschaft‘. Die beiden Bedeutungen sind zu weit voneinander entfernt. Es bleibt die Interpretation 2. Dazu folgende Ausgangs-Annahmen: (1) Die Bedeutung ‚Nachzustand‘ ist die Bedeutung von attributiven Partizipien II perfektiver Verben. (2) Die Implementierung von Partizipien II perfektiver Verben in die syntaktische Kopula-Konstruktion sein + Partizip II erfordert eine Coercion mit Hilfe der Implikatur ‚Nachzustand → Eigenschaft im engeren Sinne‘. (3) Die Coercion in die syntaktische Kopula-Konstruktion gelingt, wenn die Implikatur ‚Nachzustand‘ → ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘ möglich ist. (4) Wenn die Implikatur nicht gelingt, können die Sprecher/Hörer auf eine andere Implikatur aus ‚Nachzustand‘ zurückgreifen: ‚Nachzustand → Abgeschlossenheit des vorangehenden Vorgangs‘. Diese Implikatur sprengt die Konstruktionsbedeutung der syntaktischen Kopula-Konstruktion. Die ursprüngliche Kopula-Konstruktion wird in Analogie zum werden-Passiv in eine mit der Kopula-Konstruktion formal identische morphologische (periphrastische) verbale Konstruktion vererbt. Den zentralen Abschnitt „4.4. Beitrag der Pragmatik“ eröffnet Maienborn (2007: 109) mit folgendem Beleg:
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(32) Es ist spät, der Weißwein ist getrunken, die Geräusche sind verstummt. (Judith Hermann: Sommerhaus später) Maienborn 2007: 109 (62) Maienborn nimmt für der Weißwein ist getrunken eine Nachzustandslesart an, die pragmatisch (also per Implikatur) in eine Eigenschaftslesart umgewandelt wird. Maienborn trennt nicht zwischen Konstruktionen mit perfektiven und imperfektiven Verben. Es handelt sich in diesem Fall um das Partizip eines perfektiven Verbs, also eines Verbs, das in der Tat semantisch einen Nachzustand impliziert. Ist aber getrunken in der Weißwein ist getrunken wirklich als ‚Nachzustand‘ (‚Nachzustand als Ad-hoc-Eigenschaft‘) zu interpretieren? Ein Weißwein im Nachzustand des Trinkens ist ein nicht mehr vorhandener, den Verdauungsorganen zugeführter Weißwein. Ist von einem sich in einem solchen Nachzustand befindlichen Weißwein die Rede? Eine m. E. näher liegende Interpretation ist, dass die Konstruktion der Weißwein ist getrunken die Abgeschlossenheit eines vorausgehenden Vorgangs implikiert, dass es sich also um eine Implikatur aus dem Umstand handelt, dass perfektive Verben einen Nachzustand semantisch implizieren: Nachzustand → vorangehender Vorgang abgeschlossen Die Interpretation ‚vorangehender Vorgang abgeschlossen‘ passt zum anschließenden Perfektsatz die Geräusche sind verstummt. Auf ‚Abgeschlossenheit‘ verweist auch Maienborns (2007: 109) Interpretation: Bei einem Satz wie (62) (hier (33) K.W.) drückt das Zustandspassiv aus, dass auf den Weißwein zur Äußerungszeit die Eigenschaft zutrifft, getrunken – sprich alle – zu sein und setzt in der Nachzustandslesart als Diskurshintergrund voraus, dass zu einer (relevanten) früheren Zeit der Weißwein noch nicht getrunken war.
In meiner Interpretation ist ‚Abgeschlossenheit‘ eine Implikatur aus dem vom Verb implizierten und vom attributiven Partizip II als Bedeutung aufgegriffenen ‚Nachzustand‘. ‚Abgeschlossenheit‘ ist auch die naheliegendere Interpretation der weiteren Beispiele mit Partizipien II perfektiver Verben, die Maienborn für die Lesart ‚Nachzustand als Ad-hoc-Eigenschaft‘ anführt: (33)
a.
Männer, die Tore sind geschossen. Maienborn 2007: 109 (63) (Fritz Walter zum Rummel um das „Wunder von Bern“) b. Der Brief ist geschrieben. (Nun lass uns ins Kino gehen). Maienborn 2007: 110 (65a) c. ✶Der Brief ist mit roter TINte geschrieben (Nun lass uns ins Kino gehen.) Maienborn 2007: 110 (65b)
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Wenn Maienborn (2007: 110) schreibt, dass Fritz Walter in seiner Äußerung (33a) „die [...] beileibe nicht mehr brandneue Eigenschaft des Geschossen-Seins (Hervorhebung K.W.) auswählt [...]“ ersetzt sie ebenfalls ‚Nachzustand‘ durch ‚Abgeschlossenheit‘.38 Der Satz (33c) wirkt im gegebenen Kontext (Nun lass uns ins Kino gehen) durch den Modifikator mit roter Tinte abweichend, weil durch diesen Zusatz die Implikatur auf ‚Eigenschaft‘ (im engeren Sinne) nahegelegt wird, der Kontext (Nun lass uns ins Kino gehen) aber die Implikatur auf ‚Abgeschlossenheit‘ nahelegt. Die Konstruktionsbedeutung der Kopula-Konstruktion ist ‚Zuweisung, einer Eigenschaft‘. ‚Abgeschlossenheit‘ (‚Abgeschlossenheit des Vorgangs, der den Nachzustand impliziert‘) ist im Unterschied zu ‚Eigenschaft‘ ein genuin verbales Merkmal und kein adjektivisches. Ein Anpassungsprozess ‚Nachzustand → Abgeschlossenheit‘ schließt daher einen Prozess der Grammatikalisierung ein, in dem aus einer syntaktischen Konstruktion eine morphologische Konstruktion (eine analytische Verbform) wird. In diesem Prozess verliert das Partizip (wie im Falle des sein-Perfekts, vgl. 4.2.2) seinen adjektivischen (nominalen) Charakter. Es wird als Teil einer nunmehr analytischen Verbform in seine Herkunft zurückgeholt. Fazit Neben der Implikatur von ‚Nachzustand‘ auf ‚Eigenschaft‘ machen weitere Implikaturen die Instantiierung von Prädikativ-Konstruktionen durch Partizipien II perfektiver Verben möglich: Das sind die Implikaturen: ‚Nachzustand erreicht‘ → ‚Vorzustand abgeschlossen‘ ‚Nachzustand erreicht‘ → ‚Vorzustand vergangen‘ Die Implikatur auf ‚Vorzustand abgeschlossen‘ betrifft Konstruktionen mit Partizipien II transitiver perfektiver Verben. Sie ist verbunden mit einer Konstruktionsvererbung (Grammatikalisierung) zu einer morphologischen Konstruktion ‚Zustandspassiv‘. Die Implikatur auf ‚Vorzustand vergangen‘ betrifft Konstruktionen mit Partizipien II intransitiver perfektiver Verben. Sie ist verbunden mit einer Konstruktionsvererbung (Grammatikalisierung) zu einer morphologischen Konstruktion ‚Perfekt‘.
38 Analog Maienborn (2007: 110) „Ad hoc-Eigenschaft des Gestreicheltseins“.
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4.2.2 Sein + Partizip II intransitiver perfektiver Verben: Kopula-Konstruktion und Perfekt Mit dem Zustandspassiv vergleichbar und verwandt ist nicht nur das Vorgangspassiv (werden-Passiv) und das Rezipientenpassiv (bekommen-Passiv), sondern auch das sein-Perfekt und das haben-Perfekt. Die morphologische Eigenständigkeit des sein-Perfekts und des haben-Perfekts als Tempora ist (wie die Eigenständigkeit eines Zustandspassivs) in generativ geprägten Theorien umstritten. Denn aus der Invarianzforderung folgt jeweils das Bemühen, von diachronen Veränderungen und möglichen Homonymien zu Gunsten der ursprünglichen syntaktischen Konstruktion als einer invarianten Konstante abzusehen. Unberücksichtigt bleibt damit auch, dass die einzelnen syntaktischen und morphologischen Konstruktionen abhängig vom Alter der entsprechenden morphologischen Konstruktionen und der verbliebenen Produktivität der homonymen syntaktischen Konstruktion unterschiedlich weit voneinander entfernt sind. So ist die Existenz des werden-Passivs, des sein-Perfekts und des haben-Perfekts als morphologische Konstruktionen weniger umstritten als die des bekommen-Passivs und des Zustandspassivs.39 Das in seiner Existenz als morphologische Konstruktion und analytische Tempusform weniger umstrittene sein-Perfekt ist aber eine gewisse Parallele und damit ein Präzedenzfall des Zustandspassivs. Das sein-Perfekt entstand wie das morphologische Zustandspassiv durch Konstruktionsvererbung aus der syntaktischen Kopula-Konstruktion. AnalogieMuster des Perfekts ist das synthetische Präteritum. Das sein-Perfekt ist zusammen mit dem allomorphen haben-Perfekt neben u. a. dem Präteritum (Imperfekt) eine der Hyponymkonstruktionen in der (abstrakten) Hyperonym-Konstruktion ‚Vergangenheitstempus‘ (vgl. Welke 2005).40 Token-Konstruktionen aus sein + Partizip II intransitiver perfektiver Verben sind homonym, wenn neben der Interpretation als Perfekt die Interpretation als Kopula-Konstruktion möglich ist. Wie beim Zustandspassiv ist die Bedingung der Interpretation als Kopula-Konstruktion die Möglichkeit der Implikatur von ‚Nachzustand‘ auf ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘. Die Implikatur ist bspw. möglich im Fall der Token-Konstruktion (34a), aber nicht im Falle von (35a). Die Token-Konstruktionen (34) können ‚Eigenschaft‘ bedeuten oder ‚Vergangenheit‘. Dagegen
39 Keine analytische Verbform ist gänzlich unumstritten. 40 Das gilt für die konzeptionelle Schriftlichkeit. In der mündlichen Kommunikation, in Umgangsprachen und Dialekten ist das Präteritum bis auf Restformen verschwunden. Die semantische Differenz zwischen Perfekt und Präteritum wird hier nicht benötigt bzw. bei Bedarf durch Perfekt versus Doppelperfekt ausgedrückt.
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können die Token-Konstruktionen (35) nicht ‚Eigenschaft‘ (im engeren Sinne) bedeuten, sondern nur ‚Vergangenheit‘.41 (34)
a. Der See ist zugefroren. b. Der See ist vereist. c. Die Blätter sind vermodert.
(35)
a. Emil ist gekommen. b. Emil ist nach Wien geflogen. c. Emil ist zum Bäcker gegangen.
Der Prozess der Entstehung des Perfekts könnte bei einer Token-Konstruktion wie (36) begonnen haben. (36) Der See ist zugefroren. Zunächst konnte diese Konstruktion (36) über die Implikatur ‚Nachzustand → Eigenschaft‘ als Kopula-Konstruktion aufgefasst werden. Die Fusionierung dieser Kopula-Konstruktion mit einem individual level Adverb wie stark oder tief ist semantisch akzeptabel. Die Fusionierung mit einem stage level Adverb wie schnell oder gestern widerspricht der Implikatur ‚Nachzustand → Eigenschaft‘. Die Fusionierung mit den stage level Modifikatoren schnell oder gestern gelingt jedoch auf der Grundlage einer Implikatur Nachzustand → Vergangenheit (des Vorzustandes). (37)
a. Der See ist schnell zugefroren. b. Der See ist gestern zugefroren.
Besonders deutlich wird das bei der Fusion mit gestern. Das Adverb gestern ist mit der Präsensform von sein semantisch nicht verträglich.42 Um den Satz interpretieren zu können, musste ein potentieller erster Hörer falls er den Satz nicht als inakzeptabel (den Sprechakt als misslungen) zurückwies, daher auf die Implikatur ‚Nachzustand → Vergangenheit‘ ausweichen. Später ist diese Implikatur zur Bedeutung geworden mit der Folge, dass Konstruktionen aus sein + Partizip II perfektiver intransitiver Verben in der Regel nicht dem Muster der Kopula-Konstruktion, sondern dem Muster der morphologischen Konstruktionen ‚Perfekt‘ folgen. 41 Eine Interpretation als Eigenschaft in einem erweiterten logischen Sinne wäre auch hier durchaus möglich: ‚Emil hat die Eigenschaft, gekommen zu sein‘ – ein weiteres Argument gegen eine zu weite Auslegung von ‚Eigenschaft‘. 42 Eine Interpretation als historisches Präsens kann man ausschließen.
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Diese Konstruktion besitzt die temporale Bedeutung ‚Vergangenheit‘. Das macht sie zunächst synonym zum Präteritum. Betrachtet man Umgangssprachen für sich, in denen das Präteritum bis auf Restformen verschwunden ist, ist das Perfekt der formale Ersatz für das Präteritum. Innerhalb der Hochsprache hat sich aber ein semantischer Kontrast im Zusammenhang mit einer sekundären Evaluationszeit herausgebildet (Betrachtzeit, point of reference, Reichenbach 1947) zusätzlich zur primären Evaluationszeit (Sprechzeit, point of speech). In Welke (2005) führe ich die sekundäre Evaluationszeit (Betrachtzeit) auf die ursprüngliche syntaktische Struktur des Perfekts zurück, indem ich davon ausgehe, dass die Sprecher/Hörer die Existenz der temporal markierten Kopula (sein – Gegenwart, war – Vergangenheit) nicht einfach als nur störend übergangen, sondern semantisch als eine sekundäre Evaluationszeit zusätzlich zur primären Evaluationszeit interpretiert haben. Diese stimmt im Falle des Perfekts (Präsensperfekts) mit der primären Evaluationszeit überein (38a). Im Falle des Plusquamperfekts (Präteritumperfekts) liegt die sekundäre Evaluationszeit vor der primären Evaluationszeit. Beim Futurs II (Futurperfekt) liegt sie danach. Aus der mit der primären Evaluationszeit übereinstimmenden sekundären Evaluationszeit des Perfekts (Präsensperfekts) resultieren solche oft genannten Perfekt-Effekte (Implikaturen) wie ‚Gegenwartsrelevanz‘, ‚Außenperspektive‘, ‚Ganzheitlichkeit‘, ‚Abgeschlossenheit‘. Den entstehenden Kontrast zum Präteritum interpretierten die Sprecher/Hörer dahingehend, dass auch dem Präteritum eine sekundäre Evaluationszeit zugesprochen wurde (38b). (38)
43
a. Perfekt: sekundäre Evaluationszeit (Betrachtzeit, point of reference) = primäre Evaluationszeit (Sprechzeit, point of speech) b. Präteritum: sekundäre Evaluationszeit = Situationszeit (Ereigniszeit, point of the event)43
Zum sein-Perfekt entwickelte sich die Parallelform des haben-Perfekts mit Partizipien II transitiver perfektiver und imperfektiver Verben und intransitiver imperfektiver Verben. Die syntaktische Vorform des haben-Perfekts sind Objektsprädikativ-Konstruktionen mit Partizipien II. Deren passivische Perspektivierung wurde in der haben-Perfekt-Konstruktion neutralisiert (vgl. im Einzelnen Welke 2019).
43 Reichenbach verfolgt als Logiker ein Invarianzkonzept. Alle Tempora erhalten bei ihm eine sekundäre Evaluationszeit (Betrachtzeit). Dem folgen auch linguistische Adaptionen (z. B. bei Helbig & Buscha 2001). In einem Prototypenkonzept gibt es keinen Grund, auch dem Präsens und dem Futur I eine sekundäre Evaluationszeit zuzubilligen (vgl. Welke 2005).
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4.2.3 Sein + Partizip II transitiver imperfektiver Verben Partizipien II sind ursprünglich (und damit prototypisch) Partizipien II zu perfektiven Verben. Partizipien II zu imperfektiven Verben sind, so nehme ich an (vgl. Welke 2002, 2019), innerhalb der morphologischen Konstruktionen des werden-Passivs und des haben-Perfekts entstanden (vgl. oben „Rückvererbung“). Anschließend wurden sie in die attributive Konstruktion vererbt (vgl. 4.1 Rückvererbung): (39) Emil wird von allen geliebt. → der von allen geliebte Emil Noch ausgeprägter als bei perfektiven Verben stehen bei imperfektiven Verben relativ unbeschränkt möglichen attributiven Token-Konstruktionen vergleichsweise wenige prädikative Token-Konstruktionen gegenüber, vgl. (40) und (41). (40)
(41)
a. der behinderte Verkehr b. die gut besuchte Ausstellung c. die streng bewachten Gefangenen d. die von 15 Mill. Menschen bewohnte Stadt e. das von Schnee bedeckte Auto
Der Verkehr ist behindert. Die Ausstellung ist gut besucht. Die Gefangenen sind streng bewacht.
a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.
?Emil ist von allen geliebt. ?Emil ist von allen gehasst. ?Emil ist von allen geärgert. ?Emil ist von allen gekannt. ??Die Schauspielerin ist bewundert. ??Der Schrei ist von allen gehört. ?Der Mörder ist gesehen. ?Die Antwort ist gewusst. ?Die Antwort ist gesucht. ?Der Mann ist beobachtet.
der von allen geliebte Emil der von allen gehasste Emil der von allen geärgerte Emil der von allen gekannte Emil die bewunderte Schauspielerin der von allen gehörte Schrei der gesehen Mörder die gewusste Antwort die gesuchte Antwort der beobachtete Mann
Die Stadt ist von 15 Mill. Menschen bewohnt. Das Auto ist von Schnee bedeckt.
Man könnte die gleiche Erklärung versuchen, wie bei Partizipien II perfektiver Verben. Die Token-Konstruktionen (40a) können als Zuweisung (Prädikation) einer Eigenschaft im engeren Sinne interpretiert werden. Zumindest bei (40a,e) und bedingt bei (40b) scheint das möglich zu sein. Hier bleibt allerdings zu fragen, wie es überhaupt zu der möglich scheinenden Bedeutung ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘ gekommen sein kann. Bei perfektiven
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Verben geht die Bedeutung ‚Eigenschaft‘ auf die Implikatur aus der (semantischen) Implikation ‚Nachzustand‘ zurück. Imperfektive Verben implizieren keinen Nachzustand. Die Bedeutung ‚Eigenschaft‘ kann also nicht auf diese Implikatur zurück gehen. Zu erklären ist also zunächst, wie es überhaupt zur Ableitung grammatisch richtig erscheinender prädikativer Konstruktionen mit Partizipien II imperfektiver Verben wie (42) gekommen ist: (42) das von Schnee bedeckte Auto → Das Auto ist von Schnee bedeckt. Man kann annehmen, dass die Sprecher/Hörer der formalen Identität der Partizipien folgend versuchen, Partizipien II imperfektiver Verben analog zu Partizipien II perfektiver Verben zu implementieren. Ausgangspunkt einer Ableitung könnte die Implikatur von Kausalität auf Temporalität gewesen sein: Ein semantisch implizierter Nachzustand ist ein zeitlich folgender Zustand. Obwohl imperfektive Verben keinen Nachzustand semantisch implizieren, kann auch ihnen ein Nachzustand im Sinne eines zeitlich folgenden Zustands zugebilligt werden. Die Sprecher/Hörer fragten sich, wie ein zwar nicht semantisch implizierter, aber dennoch zeitlich folgender Zustand beschaffen sein könnte. Es ergeben sich zwei Möglichkeiten. Diese hängen davon ab, ob die Sprecher/Hörer (1) annehmen, dass der zu Grunde liegende Vorgang, der Bedeutung imperfektiver Verben entsprechend, andauert oder ob sie (2) annehmen, dass der zu Grunde liegende Vorgang (kontingent) abgebrochen worden ist. Im Fall des Andauerns (1) kann der angenommene Nachzustand nur wieder der vorangehende Vorgang selbst sein, nämlich als noch andauernder Zustand44 (vgl. die Aristotelische Unterscheidung von Perfektivität und Imperfektivität, vgl. 4.1). Das ist die von H. Paul angenommene Variante ‚Gleichzeitigkeit‘ (vgl. 4.1): (43) Das Haus ist von Scheinwerfern angestrahlt. Wenn die Sprecher/Hörer (2) einen kontingenten Abbruch annehmen, ist der zeitlich folgende Nachzustand die bloße Negation des Vorzustandes, seine nicht mehr bestehende Existenz. Eine mögliche Implikatur daraus ist, dass der Vorgang abgeschlossen ist.
44 Die Unterscheidung von Vorgängen und Zuständen ist relativ. „Objektiv“ (auf der außersprachlichen Ebene, der Sachverhaltsebene) gibt es nur Vorgänge. ‚Nachzustand‘ ist der semantisch implizierte und/oder folgende Vorgang oder Zustand.
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Schließlich gelangen die Sprecher/Hörer über den Umweg der Implikatur auf (1) ‚Gleichzeitigkeit‘, nämlich ‚Gleichzeitigkeit eines andauernden Zustands‘, zu der Möglichkeit, auf (3) ‚Eigenschaft‘ zu schließen, wenn der betreffende gleichzeitige Zustand das Eigenschafts-Kriterium der leichten Perzipierbarkeit erfüllt, zusammengefasst: Grundlage: Implikatur von Kausalität auf Temporalität: Bei perfektiven Verben ist ein semantisch implizierter Nachzustand ein zeitlich folgender Zustand. Imperfektive Verben verhalten sich insofern analog, als auch sie Vorgänge/Zustände in der Zeit denotieren. Fragen sich die Sprecher/Hörer, wie ein Nachzustand als zeitlich folgender Zustand bei imperfektiven Verben beschaffen sein könnte, so ergeben sich folgende Möglichkeiten: (1) Ohne Annahme eines (kontingenten) Abbruchs des zu Grunde liegenden Vorgangs: Ein imperfektiver Vorgang/Zustand impliziert semantisch keinen anderen Vorgang/Zustand als Nachzustand. Der Vorgang/Zustand dauert – theoretisch – ewig, falls er nicht kontingent (durch äußere Einflüsse) abgebrochen wird. Der zeitlich folgende Zustand (Nachzustand) eines nicht (kontingent) abgebrochenen imperfektiven Vorgangs/Zustands kann daher nur wiederum der Vorgang/Zustand selbst als ein andauernder Vorgang/Zustand sein. Der Vorgang/Zustand impliziert sich gewissermaßen selbst. Implikatur: Die Konstruktion weist auf einen zu einer übergeordneten Ereigniszeit vorhandenen, also mit dieser gleichzeitigen Zustand hin. (2) Mit Annahme eines (kontingenten) Abbruchs des zu Grunde liegenden Vorgangs/ Zustands: Ein imperfektiver Vorgang/Zustand impliziert keinen anderen Vorgang/ Zustand als Nachzustand. Der zeitlich folgende Zustand eines (kontingent) abgebrochenen imperfektiven Vorgangs/Zustands ist daher die Negation des Vorgangs/Zustands, seine Nicht-Existenz. Implikatur: Die Konstruktion weist auf Abgeschlossenheit eines Vorgangs/Zustand hin. Möglich ist ferner: (3) Wenn die Eigenschafts-Bedingung der leichten Perzipierbarkeit vorliegt, können die Sprecher/Hörer aus dem verbalen Merkmal ‚Gleichzeitigkeit‘ auf das adjektivische Merkmal ‚Eigenschaft‘ schließen.
Die Implikaturen (1) und (2) greifen auf den verbalen Ursprung des Partizips II (auf das zu Grunde liegende Verb) zurück. Ihre Ergebnisse (falls akzeptabel) wären also dem morphologischen Konstruktionsmuster ‚Zustandspassiv‘ zuzuordnen. Die Variante 2 ‚Abgeschlossenheit eines Vorgangs/Zustands‘ wäre identisch mit der Bedeutung des Zustandspassivs mit Partizipien II perfektiver Verben. Die Implikatur (3) auf ‚Eigenschaft‘ ist eine Implikatur aus der Implikatur ‚andauernder Zustand‘. Fragen wir uns, welche Erfolgschancen die Muster „auf Bewährung“ besitzen, die auf der Grundlage der Implikaturen (1) und (2) entstehen könnten. Zunächst zur Implikatur (1) ‚Gleichzeitigkeit‘: Die prädikativen Konstruktionen (40), wieder aufgenommen als (44), können als Prädikationen eines Zustands interpretiert werden, der gleichzeitig zur übergeordneten Ereigniszeit ist.
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(44)
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a. der behinderte Verkehr b. die gut besuchte Ausstellung c. die streng bewachten Gefangenen d. die von 15 Mill. Menschen bewohnte Stadt e. das von Schnee bedeckte Auto f. die von Bergen umgebene Stadt g. das durch das Mittelmeer von Afrika getrennte Europa h. die durch eine Brücke verbundenen Ufer
Die Stadt ist von 15 Mill. Menschen bewohnt. Das Auto ist von Schnee bedeckt. Die Stadt ist von Bergen umgeben. Europa ist durch das Mittelmeer von Afrika getrennt. Die Ufer sind durch eine Brücke verbunden.
a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.
?Emil ist von allen geliebt. ?Emil ist von allen gehasst. ?Emil ist von allen geärgert. ?Emil ist von allen gekannt. ??Die Schauspielerin ist bewundert. ??Der Schrei ist von allen gehört. ?Der Mörder ist gesehen. ?Die Antwort ist gewusst. ?Die Antwort ist gesucht. ?Der Mann ist beobachtet.
der von allen geliebte Emil der von allen gehasste Emil der von allen geärgerte Emil der von allen gekannte Emil die bewunderte Schauspielerin der von allen gehörte Schrei der gesehen Mörder die gewusste Antwort die gesuchte Antwort der beobachtete Mann
Der Verkehr ist behindert. Die Ausstellung ist gut besucht. Die Gefangenen sind streng bewacht.
Wie kommt es, dass die Konstruktionen (45) abweichend wirken? Eine mögliche Antwort ist, dass für die Akzeptabilität von (44) und die anscheinende Nicht-Akzeptabilität von (45) die Möglichkeit der Implikatur (oben 3) aus ‚Gleichzeitigkeit‘ auf ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘ verantwortlich ist. Das wiederum bedeutet, dass es kein Zustandspassiv imperfektiver Verben in einer Gleichzeitigkeitsvariante gibt. Möglich ist nur das Muster der syntaktischen Kopula-Konstruktion, und zwar auf Grund der Implikatur von Gleichzeitigkeit auf Eigenschaft, also unter der Bedingung, dass der gleichzeitige Zustand als Eigenschaft interpretierbar ist. Aus einer möglich scheinenden morphologischen Konstruktion Zustandspassiv‘ wird auf eine syntaktische Kopula-Konstruktion zurück geschlossen. Gegen ein morphologisches Zustandspassiv in der Gleichzeitigkeitsvariante spricht auch, dass präsentische werden-Passiv-Konstruktionen annähernd dasselbe leisten wie ist-Passiv-Konstruktionen in der Gleichzeitigkeitsvariante, vgl.:
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a. der behinderte Verkehr b. die gut besuchte Ausstellung c. die streng bewachten Gefangenen d. die von 15 Mill. Menschen bewohnte Stadt e. das von Schnee bedeckte Auto f. die von Bergen umgebene Stadt g. das durch das Mittelmeer von Afrika getrennte Europa h. die durch eine Brücke verbundenen Ufer
Der Verkehr wird behindert. Die Ausstellung wird gut besucht. Die Gefangenen werden streng bewacht. Die Stadt wird von 15 Mill. Menschen bewohnt. Das Auto wird von Schnee bedeckt. Die Stadt wird von Bergen umgeben. Europa wird durch das Mittelmeer von Afrika getrennt. Die Ufer werden durch eine Brücke verbunden.
Das Muster des sein-Passivs scheint gegenüber dem präsentischen werden-Passiv redundant zu sein. Für diesen Befund spricht außerdem, dass die inakzeptablen prädikativen sein + Partizip II-Konstruktionen (45) akzeptabel werden, wenn man sein durch werden ersetzt, vgl.: (47)
a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.
Emil wird von allen geliebt. Emil wird von allen gehasst. Emil wird von allen geärgert. Emil wird von allen gekannt. Die Schauspielerin wird bewundert. Der Schrei wird von allen gehört. Der Mörder wird gesehen. Die Antwort wird gewusst. Die Antwort wird gesucht. Der Mann wird beobachtet.
Einzurechnen in diesen Befund ist, dass sich die Zustandsbedeutung von sein und die Vorgangsbedeutung von werden nur relativ ausschließen. Der Zustandscharakter von sein bspw. in (44a) kann bedingt durch den Vorgangscharakter von behindern ebenso neutralisiert werden wie umgekehrt der Vorgangscharakter von werden durch den Zustandscharakter von umgeben in (46 f ), wieder aufgenommen als (48a,b). (48)
a. Der Verkehr ist behindert. b. Die Stadt wird von Mauern umgeben.
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Es bleibt als Möglichkeit die oben genannte Implikatur (2): ‚Abgeschlossenheit eines Vorgangs/Zustands‘ (auf der Grundlage, dass der Sprecher/Hörer einen kontingenten Abbruch des Vorgangs annimmt). Bei Maienborn (2007: 110) findet sich für diese Variante (2) ein selbst gebildetes Beispiel: (49)
Der Kater ist gestreichelt. Maienborn 2007: 110 (64) Für heute habe ich meine Nachbarschaftspflicht erfüllt: Der Kater ist gestreichelt, die Blumen sind gegossen, der Briefkasten ist geleert.
Maienborn interpretiert die Konstruktion Der Kater ist gestreichelt im angeführten Kontext als ‚Nachzustand als Ad-hoc-Eigenschaft‘. In meiner Interpretation würde die Implikatur ‚Abgeschlossenheit‘ (auf Grund eines kontingenten Abbruchs) vorliegen – wie in den beiden Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver Verben im Beispiel Maienborns (49), wieder aufgenommen als (50): (50)
Die Blumen sind gegossen, der Briefkasten ist geleert.
Die anderen Belege und Beispiele Maienborns für die Variante ‚Nachzustand als Ad-hoc-Eigenschaft‘ (von mir als ‚Abgeschlossenheit‘ interpretiert) enthalten Partizipien II perfektiver Verben. Zwei Belege mit Partizipien II imperfektiver Verben sind: (51)
a. Die Produktivität von Suffixen ist bekanntlich vielfältig diskutiert und es ist schwer, einen allgemein anerkannten Produktivitätsbegriff zu finden. Fuhrhop/Werner (2016): Die Zukunft der Derivation oder: Derivation 2.0, Linguistik online, 77,3: 130. b. Die Partikel bặ ist in der Literatur zum Chinesischen vielfach diskutiert; […] Campes/Otto (1994): Nicht-morphologische Nominalkomposition – etwas ganz anderes?, Institut für Sprachwissenschaft Universität zu Köln, Arbeitspapiere Nr. 18: 31.
Fazit Klare Belege für ein morphologisches Zustandspassiv gibt es nur bei prädikativen Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver Verben. Im Falle zweifelsfrei grammatischer (akzeptabler) Konstruktionen mit Partizipien II imperfektiver Verben lässt sich die Gegenwartsvariante in Anspruch nehmen. Sie lassen sich jedoch auch als (syntaktische) Kopula-Konstruktionen interpretieren. Die Interpretation als Kopula-Konstruktion erhält zusätzlich Gewicht dadurch, dass die ZustandspassivInterpretation in der Gegenwartsvariante gegenüber dem präsentischen werden-
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Passiv nahezu redundant ist (kaum Mehrwert hat). Die Variante ‚Abgeschlossenheit‘ erweist sich als redundant gegenüber dem Perfekt des werden-Passivs (vgl. unten 5).
5 Elliptisches Vorgangspassiv Die Auflistung von Interpretationsvarianten prädikativer Partizip II-Konstruktionen (Maienborn 2007: 85, vgl. oben 4.2 einleitend) enthielt die traditionelle Interpretation als elliptisches Vorgangspassiv. Fragen wir uns abschließend, ob diese Option ausgeschlossen werden kann. Beginnen wir mit dem Beispiel (49), wieder aufgenommen als (52). (52)
Der Kater ist gestreichelt. Maienborn 2007: 110 (64) Für heute habe ich meine Nachbarschaftspflicht erfüllt: Der Kater ist gestreichelt, die Blumen sind gegossen, der Briefkasten ist geleert.
(52) enthält im erläuternden Kontext zunächst einen haben-Perfekt-Satz. Diesem folgen drei prädikative Partizip II-Konstruktionen: (1) das potentielle Zustandspassiv auf der Grundlage eines imperfektiven Verbs: der Kater ist gestreichelt und zwei potentielle Zustandspassiv-Konstruktionen auf der Grundlage perfektiver Verben: (2) die Blumen sind gegossen und (3) der Briefkasten ist geleert. Zu fragen ist, ob (1), (2) und (3) auch als elliptische Vorgangspassiv-Konstruktionen im Perfekt interpretiert werden können. Stellen wir zu diesem Zweck die entsprechenden Passivsätze gegenüber: (53)
a. Der Kater ist gestreichelt. Der Kater ist gestreichelt worden. b. Die Blumen sind gegossen. Die Blumen sind gegossen worden. c. Der Briefkasten ist geleert. Der Briefkasten ist geleert worden.
Die beiden prädikativen Partizip II-Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver Verben (53b,c) weisen deutlich einen Mehrwert gegenüber dem werden-Passiv im Perfekt auf. Die passivische Perfekt-Konstruktion gibt einen vergangenen Vorgang mit dem (zusätzlichen) Perfekt-Effekt ‚Abgeschlossenheit‘ wieder. Die Partizip II-Konstruktionen (Zustandspassiv-Konstruktionen) fokussieren den Abschluss des Geschehens. In den passivischen Perfekt-Konstruktionen liegt der Fokus dagegen auf dem (vergangenen) Geschehen selbst. Die darin zum Ausdruck kommende Differenz ist die der Situationsschilderung. Verben und verbale Konstruktionen sind typischerweise situationsschildernd. In der Situations- bzw. Ereignissemantik enthalten Verben daher das sogenannte
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Situations- bzw. Ereignisargument. Kopula-Konstruktionen beschreiben keine Ereignisse. Der Kopula wird daher in der Regel kein Ereignisargument zugesprochen. Dieser unterschiedlichen Fokussierung: ‚Abschluss eines Geschehens‘ versus ‚Geschehen‘ entspricht der Differenz zwischen Nicht-Situationsschilderung und Situationsschilderung. Bezüglich der Nicht-Situationsschilderung verhalten sich morphologische Zustandspassiv-Konstruktion (in der Variante ‚Abgeschlossenheit‘) und syntaktische Kopula-Konstruktion gleich. Die Konstruktion mit dem Partizip II des imperfektiven Verbs streicheln (53a) weist diese Differenz zur Situationsschilderung nicht in gleicher Deutlichkeit auf. Sie kann daher auch als Ellipse des Perfekt-Passivs interpretiert werden. Noch stärker scheint Situationsschilderung auf die Belege (51) zuzutreffen, wieder aufgenommen als (54) und (55): (54)
a. Die Produktivität von Suffixen ist bekanntlich vielfältig diskutiert und es ist schwer, einen allgemein anerkannten Produktivitätsbegriff zu finden. Fuhrhop/Werner (2016): Die Zukunft der Derivation oder: Derivation 2.0, Linguistik online, 77,3: 130. b. Die Produktivität von Suffixen ist bekanntlich vielfältig diskutiert worden.
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a. Die Partikel bặ ist in der Literatur zum Chinesischen vielfach diskutiert; […] Campes/Otto (1994): Nicht-morphologische Nominalkomposition – etwas ganz anderes?, Institut für Sprachwissenschaft, Universität zu Köln, Arbeitspapiere Nr. 18: 31. b. Die Partikel bặ ist in der Literatur zum Chinesischen vielfach diskutiert worden.
Die zweifelhafte semantische Differenz zwischen Token-Konstruktionen einer möglichen Zustandspassiv-Konstruktion mit Partizipien II imperfektiver Verben und entsprechenden Token des Vorgangspassivs im Perfekt eröffnet die Möglichkeit der traditionellen Interpretation ‚elliptisches Vorgangspassiv‘.45 Aber auch Partizip II-Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver Verben können als elliptische Vorganspassiv-Konstruktionen interpretiert werden, wenn sie kontextuell einen deutlich situationsschildernden Charakter erhalten und keinen situationsabschließenden Charakter, vgl. (32), wieder aufgenommen als (56a), mit (56b):
45 Konstruktionsgrammatisch kann man diese Ellipsen als Strukturellipsen, d. h. als partiell nicht ausgeführte Realisierungen von Mustern auffassen (vgl. Czicza in diesem Band).
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a. Es ist spät, der Weißwein ist getrunken, die Geräusche sind verstummt. b. Der Weißwein ist gestern gern und ausgiebig getrunken.
Den möglichen nicht-situationsschildernden Charakter des Zustandspassivs in der Variante ‚Abgeschlossenheit‘ zeigt auch der Umstand, dass in partizipialen Kopula-Konstruktionen und in Zustandspassiv-Konstruktionen die von-PP fraglich ist,46 vgl.: (57)
a. Der Raum ist ✶von uns schlecht gelüftet. – Der Raum ist von uns schlecht gelüftet worden. b. Es ist spät. Der Weißwein ist ?von uns getrunken. – Es ist spät. Der Weißwein ist von uns getrunken worden.
Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal Beispiel (33b,c), wieder aufgenommen als (58a,b): (58)
a. Der Brief ist geschrieben. (Nun lass uns ins Kino gehen). b.✶ Der Brief ist mit roter TINte geschrieben. (Nun lass uns ins Kino gehen.)
Man kann die Konstruktion (58b) als Kopula-Konstruktion (Eigenschafts-Konstruktion) auffassen, in der die Eigenschaftsbedeutung des Partizips geschrieben durch den Modifikator mit roter Tinte deutlicher hervortritt, auf Grund der Ausgestaltung durch den Modifikator eventuell auch als elliptisches Vorgangspassiv, aber nicht wie (58a) als Zustandspassiv. Der Kontext des folgenden Satzes: Nun lass uns ins Kino gehen schließt in (58a) an die Bedeutung ‚Abgeschlossenheit‘ eines vorangehenden Zustandspassivs an, aber nicht an eine Kopulakonstruktion (mit der Bedeutung ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘). Man kann im Umkehrschluss annehmen, dass eine prädikative Partizip II-Konstruktion erst dann als Zustandspassiv-Konstruktion interpretiert werden kann, wenn die Implikatur ‚Nicht-Situationsschildung‘ und ‚Abschluss‘ kontextuell deutlich nahegelegt werden. Entsprechend interpretiere ich die Hörbelege (59a,b) als elliptische Vorgangspassiv-Konstruktionen. (59)
a. Sie erhielten dadurch Zugang zu den Greuel, die begangen sind. b. Ihr Antrag ist als erfolgreich betrachtet.
46 Ausnahmen sind von-PP, die die Relevanz der Äußerung sichern, vgl. (45d,e,f,h).
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Die Möglichkeit der Analyse einer prädikative Partizip II-Konstruktion als elliptische Vorgangspassiv-Konstruktion erhält auf Grund dieser Faktoren erhebliches Gewicht.
6 Zusammenfassung Attributive und prädikative Adjektiv-Konstruktionen (Kopula-Konstruktionen) unterscheiden sich in ihrer Instantiierbarkeit. Adjektivische Kopula-Konstruktionen sind in ihrer Reichweite (Produktivität) gegenüber attributiven Adjektiv-Konstruktionen eingeschränkt. Konstruktionsgrammatisch ist die Ursache der Einschränkung in Unterschieden der Konstruktionsbedeutung der beiden Konstruktionen zu suchen. Prädikative Adjektiv-Konstruktionen sind im Unterschied zu attributiven Adjektiv-Konstruktionen auf die Zuweisung einer Eigenschaft im engeren Sinne begrenzt. Eigenschaften im engeren Sinne sind perzeptiv zugängliche Eigenschaften, die über saliente, ebenfalls perzeptiv zugängliche Alternativen verfügen. Die Unterschiede der Instantiierbarkeit setzen sich bei attributiven Konstruktionen und prädikativen Konstruktionen mit Partizipien II fort. Ihre Differenz ist wesentlich stärker ausgeprägt als die Differenz zwischen attributiven und prädikativen Adjektiv-Konstruktionen. Um die Unterschiede in der Instantiierbarkeit zu erklären, setze ich beim Ursprung von Partizipien II an, d. h. bei attributiven Partizipien II perfektiver Verben und ihrer Bedeutung ‚Nachzustand‘. Dieser Nachzustand ist der vom betreffenden perfektiven Verb semantisch implizierte Nachzustand. Die Instantiierung von prädikativen Adjektiv-Konstruktionen (Kopula-Konstruktionen) durch Partizipien II erfordert eine Anpassung an die Konstruktionsbedeutung der prädikativen Adjektiv-Konstruktion ‚Eigenschaft im engeren Sinn‘. Die dafür notwendige Implikatur gelingt bei Partizipien II perfektiver Verben, wenn die von diesen implizierte Partizip-Bedeutung ‚Nachzustand‘ eine Implikatur auf ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘ zulässt. Die entstehende Token-Konstruktion ist wie die entsprechende Adjektiv-Konstruktion eine syntaktische Konstruktion (Kopula-Konstruktion). Die Sprecher/Hörer können aber auch auf weitere mögliche Implikaturen aus der zu Grunde liegenden prototypischen Bedeutung ‚Nachzustand‘ zurückgreifen. Weitere mögliche Implikaturen sind ‚Vergangenheit‘ und ‚Abgeschlossenheit‘ des im Verb ausgedrückten Vorgangs. Wenn die Sprecher/Hörer, Sprecherinnen/Hörerinnen diese Implikaturen herstellen, sprengen sie die syntaktische Kopula-Konstruktion. Sie leiten im Falle von intransitiven perfektiven Verben mit Hilfe der Implikatur auf ‚Vergangenheit‘ eine Vererbung in eine morphologische Konstruktion ‚sein-
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Perfekt‘ analog zum Präteritum bzw. Imperfekt ein (in eine Kohyponym-Konstruktion neben dem Präteritum) und im Falle von transitiven perfektiven Verben über eine Implikatur auf ‚Abgeschlossenheit‘ in eine morphologische Konstruktion ‚Zustandspassiv‘ analog zum werden-Passiv, d. h. in diesem Fall in eine KohyponymKonstruktion ‚Zustandspassiv‘ neben dem Vorgangspassiv. Imperfektive Verben implizieren semantisch keinen Nachzustand. Dennoch sind Implikaturen möglich. Die Implikaturen sind abhängig davon, ob die Sprecher/Hörer einen äußeren (kontingenten) Abbruch des Vorgangs annehmen oder nicht. Es gibt drei mögliche Implikaturen: (1) Wenn die Sprecher/Hörer keinen Abbruch des Geschehens annehmen, ergibt sich die Implikatur, dass der Nachzustand eines imperfektiven Verbs wiederum nur der Vorgang selbst als weiterhin anhaltender Zustand sein kann. Das ist die Implikatur auf einen mit der übergeordneten Situationszeit gleichzeitigen Zustand. (2) Wenn die Sprecher/Hörer einen Abbruch des Geschehens annehmen, ist die Implikatur möglich, dass der vorangehende Vorgang abgeschlossen ist. (3) Aus der Implikatur (1) auf einen anhaltenden Zustand ist eine Implikatur auf ‚Eigenschaft im engeren Sinne‘ möglich, sofern der anhaltende Zustand als Eigenschaft im engeren Sinne aufgefasst werden kann. Das Resultat ist bei prädikativen Konstruktionen mit Partizipien II transitiver perfektiver Verben die Existenz sowohl der Möglichkeit einer syntaktischen KopulaKonstruktion als auch einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktion. Die Instantiierbarkeit von prädikativen Konstruktionen mit Partizipien II imperfektiver transitiver Verben ist weniger gesichert. Sicher ist die Instantiierbarkeit der syntaktischen Kopula-Konstruktion. Die Implikatur auf ‚Gleichzeitigkeit des Vorgangs/Zustands‘ ist zwar theoretisch möglich, ergibt aber kaum eine semantische Differenz zum Vorgangspassiv und damit kaum Relevanz. Die entsprechenden Beispiele können besser durch eine weitere Implikatur aus ‚gleichzeitiger Nachzustand‘ bei Vorliegen entsprechender Bedingungen als Eigenschaftszuweisungen (Eigenschaft im engeren Sinne) in Kopula-Konstruktionen interpretiert werden. Die Instantiierbarkeit einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktion mit Partizipien II imperfektiver Verben durch eine Implikatur auf ‚Abgeschlossenheit eines Vorgangs‘ ist ebenfalls theoretisch möglich, jedoch besser als elliptisches Vorgangspassiv zu interpretieren. Als Befund ergibt sich: Neben Vorkommen von syntaktischen Kopula-Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver und imperfektiver Verben gibt es vereinzelt Vorkommen von morphologischen Zustandspassiv-Konstruktionen mit Partizipien II perfektiver Verben. Prädikative Partizip II-Konstruktionen folgen dem Muster der syntaktischen Kopula-Konstruktion, wenn sie die Interpretation ‚Zuweisung einer Eigenschaft im engeren Sinne‘ zulassen. Partizip II-Konstruktionen perfek-
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tiver Verben können, wenn sie nicht als Eigenschaftszuweisung aufgefasst werden und wenn sie nicht-situationsschildernd sind, dem Muster einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktionen mit der Bedeutung ‚Abgeschlossenheit eines Vorgangs‘ folgen. Partizip II-Konstruktionen imperfektiver Verben können unter den entsprechenden Bedingungen als Eigenschaftszuweisung (Eigenschaft im engeren Sinne) und damit als syntaktische Kopula-Konstruktionen interpretiert werden. Dass auch sie dem Muster einer morphologischen Zustandspassiv-Konstruktion folgen können, ist zwar theoretisch möglich (weil entsprechende Implikaturen angenommen werden können), jedoch wenig wahrscheinlich. Schließlich bleibt im Falle von prädikativen Partizip II-Konstruktionen sowohl mit perfektiven als auch imperfektiven Verben in einem situationsschildernden Kontext die traditionelle Interpretation als elliptisches Vorgangspassiv möglich. Die Muster der syntaktischen Kopula-Konstruktion, der morphologischen Zustandspassiv-Konstruktionen und der elliptischen Vorgangspassiv-Konstruktion schließen einander nicht aus. Prädikative Partizip II-Konstruktionen sind nicht syntaktische Kopula-Konstruktion oder morphologische Zustandspassiv-Konstruktionen oder elliptische Vorgangspassiv-Konstruktionen im ausschließenden Sinne (Disjunktion). Sie können abhängig von der Grundunterscheidung ‚perfektiv – imperfektiv‘ und abhängig von der individuellen Verbbedeutung (Interpretierbarkeit als Eigenschaft im engeren Sinne) und in Abhängigkeit vom Kontext einem der drei Muster (Kopula-Konstruktion, Zustandspassiv und elliptisches Vorgangspassiv) folgen – und auch im Einzelfall, im Fall einer konkreten Token-Konstruktion, besteht also keine strenge Disjunktion. Wie Maienborn (2007, vgl. auch Welke 2007) habe ich mich mit der pragmatischen Lizenzierung von prädikativen Partizip II-Konstruktionen beschäftigt. Im Unterschied zu Maienborn habe ich Lizenzierungen von zunächst ungrammatisch erscheinenden Partizip II-Konstruktionen nicht invariant als eine Ausdehnung der Konstruktionsbedeutung von Kopula-Konstruktionen interpretiert. Ich habe die Konstruktionsbedeutung ‚Eigenschaft‘ nicht als Eigenschaft im formallogischen Sinne interpretiert, sondern wesentlich enger als Eigenschaft in einem oberflächlichen perzeptiv wahrnehmbaren Sinne. Es ergibt sich dadurch ein differenzierteres Bild sowohl gegenüber der Interpretation Maienborns als auch gegenüber traditionellen Interpretationen. Das in Grammatik und Semantik allgemein befolgte Invarianzpostulat wird zu Gunsten einer prototypentheoretischen Erklärung aufgegeben.
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Arne Zeschel
Argumente, Modifikatoren und „Ergänzungsbedürftigkeit“ aus konstruktionsgrammatischer Sicht
Anmerkungen am Beispiel kausaler Konstruktionen mit an
1 Einleitung Der vorliegende Beitrag diskutiert Implikationen für die grammatiktheoretische Grundunterscheidung von Argumenten und Modifikatoren, die mit der Erweiterung einer wortbasiert-valenzgrammatischen um eine musterbasiert-konstruktionsgrammatische Analyseperspektive einhergehen. Wird Argumenthaftigkeit nicht mehr (oder nicht mehr nur) relativ zum Verb, sondern relativ zur schematischen Argumentstrukturkonstruktion bestimmt, in der ein Verb gebraucht wird, hat sich das Problem einer Unterscheidung von Argumenten und Modifikatoren damit nicht erübrigt. Dem Problem, dass eine umfassende und trennscharfe Unterscheidung von Argumenten und Modifikatoren aus Sicht des Verbs allein nicht zweifelsfrei zu leisten ist, ist damit aber zumindest die grundsätzliche theoretische Sprengkraft genommen, dass der gesamte folgende Strukturaufbau auf einer unsicheren Anfangsunterscheidung aufsetzt. Gleichzeitig stellen sich im Rahmen des konstruktionsgrammatischen Perspektivwechsels aber neue Fragen. Welche Strukturen können Anspruch auf den Status einer eigenständigen Argumentstrukturkonstruktion erheben? Was sind ihre Bedeutungen und konstitutiven Bestandteile? Unter welchen Bedingungen können sie sowohl durch bestimmte lexikalische Füller als auch durch andere, ihrerseits schematische Konstruktionen instanziiert werden? Wie können Argumentstrukturkonstruktionen sowohl mit Modifikatoren als auch mit anderen Argumentstrukturkonstruktionen kombiniert werden? Der Beitrag diskutiert einige dieser Fragen am Beispiel von Ausdrücken wie den folgenden:
Anmerkung: Ich danke den Herausgebern des Bandes, Kristel Proost und Stefan Engelberg für Kommentare und Diskussion sowie Elisabeth Jost für ihre Unterstützung bei der Datenkodierung. https://doi.org/10.1515/9783111334042-003
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a.
Die Medien geilen sich an peinlichen Privatheiten auf, als ob es keine relevanteren Themen gäbe, und bieten so nicht mehr als ein hochsommerliches Amüsement. (Tages-Anzeiger, 29.07.2008)1 b. Als Jochen Rindt einmal einen Abarth an den Strohballen zerbeulte und mit den Worten an der Box ablieferte „da habt’s euern Krempel“, entschied der Patron umgehend: „Der fährt nie mehr für mich.“ (Süddeutsche Zeitung, 29.11.2008) c. „Viele Menschen essen sich krank an Nahrungsmitteln, die nur mit Blick auf den Profit produziert wurden“, ist Ruhl sich sicher. (Lauterbacher Anzeiger, 29.11.2008) d. Mit politologisch aufgeklärter Melancholie wird da an großen Lösungen verzweifelt und das Einverständnis mit dem Sachzwang hergestellt. (Berliner Zeitung, 01.11.1997)
In allen Belegen in (1) findet sich eine PP mit an + Dativ, die auf den ersten Blick auch jeweils einen ähnlichen Bedeutungsbeitrag zum Satz leistet: Bezeichnet wird eine Art Ursache, die das Prädikatsereignis auslöst. Im Folgenden wird daher von einer kausalen Verwendung der PP mit an gesprochen.2 Die Prädikate, zu denen diese PP in (1) tritt – sich aufgeilen, zerbeulen, sich krank essen, verzweifeln – haben auf den ersten Blick dagegen recht unterschiedliche Bedeutungen, und auch
1 Alle Korpusbelege sind dem deutschen Referenzkorpus DeReKo (Kupietz et al. 2010) entnommen. 2 Gemäß dieser Veranschlagung wird hier, wie Dagobert Höllein (persönliche Mitteilung) kritisch anmerkt, „eine klassische Adverbialbedeutung [wie etwa die einer wegen-PP, AZ] auch von einem Objekt kodiert“. Erschwerend käme hinzu, dass ich in Zeschel (2019) auch bestimmten Konstruktionen mit vor eine kausale Bedeutung zuschreibe, sodass die (nur vermeintliche) Synonymie dieser nicht-kommutierenden Konstruktionen noch weiter um sich greife. Genau dieser Befund, d. h. die Nicht-Synonymie der Konstruktion mit an zu anderen Kausalkonstruktionen (wie etwa der mit vor) soll allerdings auch nicht bestritten, sondern im Folgenden vielmehr untermauert werden, indem die spezifischen Verwendungsbedingungen der Konstruktion mit an herausgearbeitet werden. Gleichwohl ähneln sich beispielweise sterben an Hunger und sterben vor Hunger semantisch aber auch stärker als viele andere, nicht-kausale Ausdrücke mit an und vor. Die Feststellung, dass beide Präpositionen in bestimmten Verwendungen kausale Beziehungen zum Ausdruck bringen können, steht meines Erachtens in keinem Widerspruch zur Feststellung, dass sie nicht generell synonym sind und auch nicht kommutieren. Beide Konstruktionen unterliegen je spezifischen, nicht-identischen Verwendungsbedingungen und enkodieren keine völlig generalisierte Kausalrolle. Eine andere, an dieser Stelle nicht vertiefte Frage ist, wie (und ob) eine strikte Trennung von Objekten und Adverbialen vorzunehmen ist und ob dabei bestimmte semantische Relationen prinzipiell dem einen oder dem anderen Bereich vorzubehalten sind (vgl. auch Fußnote 12).
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die Argumentstruktur der Sätze ist verschieden: in (1.a) ist sie intransitiv-medial,3 in (1.b) transitiv, in (1.c) prädikativ und in (1.d) passivisch. Wie lassen sich sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede dieser Ausdrücke geeignet erfassen? Nach einem kurzen Überblick über die Behandlung solcher Verwendungen von an in der Literatur (Abschnitt 2) präsentiere ich in Abschnitt 3 einen Vorschlag für eine gebrauchsbezogene konstruktionsbasierte Beschreibung, die dieser Aufgabe gerecht werden soll. Im Anschluss kehrt Abschnitt 4 dann zurück zur Ausgangsfrage, welche Implikationen diese Analyse für die Verwendung der Begriffe Argument und Modifikator hat. Anders als in der üblichen binären Unterscheidung von „regulären“, konventionell valenzgrammatisch beschreibbaren Strukturen einerseits (mit „Argumenten“ als Argumenten des Verbs) sowie „koerziven“, nur konstruktionsgrammatisch befriedigend zu beschreibenden Strukturen andererseits (mit „Argumenten“ als Argumenten der Konstruktion) werden dabei insgesamt vier verschiedene Konstellationen unterschieden, wie sich die strukturellen Ergänzungsbedarfe von Verben und Argumentstrukturkonstruktionen zueinander verhalten können.
2 Kausale Konstruktionen mit an Der folgende Abschnitt gibt eine kurze Literaturübersicht zu Ausdrücken des Typs in (1). Dazu werden zunächst Einschätzungen zur Bedeutung und zum Argumentstatus der an-PP aus Wörterbüchern, Grammatiken und zwei Aufsätzen verglichen, die sie allein aus wortbasiert-valenzgrammatischer Perspektive betrachten (Abschnitt 2.1). In Abschnitt 2.2 wird argumentiert, dass sich bei einer Erweiterung der Analyse um eine musterbasiert-konstruktionsgrammatische Ebene einige der offen gebliebenen Fragen erübrigen, die in Abschnitt 2.1 aufgeworfen wurden. Gleichzeitig stellen sich für diese Perspektive aber neue Fragen, die zu Beginn von Abschnitt 2.2 formuliert werden. Im Anschluss werden in Sektion 2.2.1 und 2.2.2 zwei bereits vorliegende konstruktionsgrammatische Analysen von Ausdrücken des Typs in (1) mit Blick auf diese Fragen verglichen.
3 Obwohl das Verb aufgeilen prinzipiell auch transitiv gebraucht werden kann, sodass sich aufgeilen auch reflexiv gedeutet werden könnte, ist in Kombination mit der hier interessierenden an-Konstruktion eine transitive Argumentstruktur ausgeschlossen (✶jemanden an etwas aufgeilen).
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2.1 Der Blick vom Wort Sind die Ausdrücke in (1) überhaupt als ‚kausal‘ zu bezeichnen? In Präpositionswörterbüchern wie Schmitz (1964), Schröder (1990) und Kiss et al. (2016) ist eine kausale Lesart für an nicht gelistet. Unter Grammatiken, die auf solche Fragen eingehen, verzeichnen Helbig/Buscha (1991) und Weinrich (2005) ebenfalls keine kausale Bedeutung für an, Schulz/Griesbach (1982: 246) hingegen schon („Ursache“). Bei Flämig (1991: 542) ist die Rede von einer Bezeichnung „kausale[r] Beziehungen im weiteren Sinne“, bei Brinkmann (1971: 154) davon, dass der durch an bezeichnete Kontakt „Ursache für einen Sachverhalt“ sein kann. Die IDSGrammatik spricht von einer „lokal fundierten, kausal verwendeten“ Präposition (Zifonun et al. 1997: 2154), deren „kausale Note“ darin bestehe, dass bestimmte Verwendungen „metaphorisch im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs gedeutet“ würden (Zifonun et al. 1997: 2119). Wenig eindeutig wird diese Feststellung allerdings später durch die Einschränkung relativiert, dass „die kausale Vorstellung“ bei den entsprechenden Verwendungen von an „nicht dominant“ sei, und es z. B. bei sich an etwas freuen einer Überinterpretation gleichkomme, im Referenten der PP eine Ursache des bezeichneten Gefühlszustands zu sehen (Zifonun et al. 1997: 2154). Bei Lerot (1982: 271) heißt es dagegen explizit, dass die an-PP in einem Satz wie Er starb an einem Herzschlag „eine Kausalrelation ausdrückt“. Als Beleg wird darauf verwiesen, dass sie sowohl mit einer wegen-PP als auch mit einem weil-Satz kommutiert. Wie steht es mit ihrem Argumentstatus? Lerot verweist darauf, dass Gebräuche mit der relevanten Interpretation auf Kombinationen mit bestimmten Prädikaten beschränkt sind. So ist im Gegensatz zu sterben z. B. ins Krankenhaus kommen4 zwar mit einer wegen-PP und einem weil-Satz kombinierbar, aber nicht mit einer kausalen an-PP (✶an einem Herzschlag ins Krankenhaus kommen). Er folgert daraus, dass es sich bei der an-PP anders als bei der wegen-PP gemäß dem Valenzkriterium der „Subklassenspezifik“ um eine Ergänzung und nicht um eine Angabe handelt. Auf allgemeinerer Ebene veranschlagt auch die IDS-Grammatik, dass „lokale Präpositionen im engeren Sinne, die [...] die statische Lokalisierung in der Umgebung eines Gegenstandes ausdrücken, [...] [nicht] zum Gebrauch in [...] Supplementen mit eigenständigem kausalem Gewicht geeignet sind“ (Zifonun et al. 1997: 2154). Zugleich verwirft sie das von Lerot angeführte „verbsubklassenspezifische Vorkommen“ jedoch als Komplementkriterium, da es „stets möglich [ist],
4 Lerots (1982: 272) eigenes Beispiel verwendet die unidiomatische Wendung jemanden ins Krankenhaus führen.
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Supplementklassen so einzurichten, daß sie nur subklassenspezifisch vorkommen“ (Zifonun et al. 1997: 1050).5 Auch das stattdessen eingeführte Kriterium der „verbsubklassenspezifischen Impliziertheit“6 erweise aber, dass „an [...] nur in Komplementausdrücken [...] kausal gebraucht werden“ kann (Zifonun et al. 1997: 2153). Grundlage dieser Einordnung ist die schwache Variante des so genannten „Folgerungstests“, derzufolge die Bedeutung der zu beurteilenden Phrase „in bestimmten Zusammenhängen und bestimmten Verwendungsweisen des Verbs“ durch dieses Verb impliziert wird (Zifonun et al. 1997: 1046). Angewandt auf kausales an bedeutet das: Wenn es bei bestimmten Verbverwendungen möglich ist, zu folgern, dass die durch sie bezeichneten „Handlungen oder Vorgänge durch bestimmte Ereignisse hervorgerufen oder verursacht werden“ (Zifonun et al. 1997: 1049), so ist der Referent der an-PP, die dieses Ereignis bezeichnet, für dieses Verb als lexikalisch sachverhaltsbeteiligt einzustufen. Vor dem Hintergrund, dass Folgerungen, die für beliebige Propositionen gelten, ansonsten gerade keinen Komplementstatus begründen (Zifonun et al. 1997: 1047), erscheint das als Begründung aber nicht überzeugender als das verworfene Kriterium des „verbsubklassenspezifischen Vorkommens“. Tatsächlich wird an anderer Stelle auch bemerkt: „Da alle Geschehnisse in Raum und Zeit stattfinden und alle Ereignisse Ursachen und Gründe haben können, gehören solche Spezifikationen nicht zur Verifikationsregel bestimmter einzelner Verben. Die Bedeutungsbeschreibungen oder -erklärungen paraphrasierend hinzuzufügen ist tautologisch“ (Zifonun et al. 1997: 1048). Für eine Wertung als Ergänzung plädiert auch Kubczak (1999) in einem Aufsatz, der einige Probleme reflektiert, vor die sich die Autoren des Valenzwörterbuchs VALBU (Schumacher et al. 2004) bei der Beschreibung des Verbs verletzen gestellt sahen. Neben der Frage, ob neben transitivem verletzen auch ein mediales sich verletzen anzusetzen ist, betreffen diese Schwierigkeiten nicht zuletzt den
5 Beispielsweise kämen „Spezifikationen der Zeitdauer [...] nur bei durativen Prädikatsausdrücken vor“, genau wie auch „Instrumentalangaben bei vielen Arten von Prädikatsausdrücken unangebracht“ seien, ohne dass dies etwas an ihrem Supplementstatus ändere (Zifonun et al. 1997: 1050). 6 „Das Kriterium der verbsubklassenspezifischen Impliziertheit in seiner stärkeren und schwächeren Spielart ist nicht zu verwechseln mit dem Kriterium eines verbsubklassenspezifischen Vorkommens. Nach diesem letztgenannten Kriterium wären alle diejenigen Phrasenklassen als Κ [Komplemente, AZ] einzuordnen, die nur bei bestimmten verbalen Subklassen vorkommen können. [...] Hingegen ist beim Kriterium der verbsubklassenbezogenen Impliziertheit oder Folgerungsrelation nicht der distributionelle Gesichtspunkt der verbsubklassenspezifischen Kookkurrenz ausschlaggebend, sondern der Gesichtspunkt eines zumindest mitgedachten oder mitzudenkenden „Mitspielers“, d. h. eines bei der Konstitution des Sachverhaltsentwurfs mit einem bestimmten Verb in der Regel (oder in bestimmten Zusammenhängen) – wenn auch nur als ungenannte und variable Größe – beteiligten Gegenstandes“ (Zifonun et al. 1997: 1050).
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Status der an-Phrase in Ausdrücken des Typs sich [an einem Gegenstand] verletzen. Kubczak referiert zunächst die Darstellung von (sich) verletzen in drei weiteren Valenzlexika,7 von denen zwei die an-Phrase überhaupt nicht erwähnen und das dritte sie als Alternative zu einer mit-Ergänzung (sich mit einem Messer verletzen) wertet, die im Falle einer Realisierung mit an aber Angabenstatus besitze. Kubczak selbst kommt dagegen zu dem Schluss, dass der Referent der PP „wohl sachverhaltsbeteiligt“ (Kubczak 1999: 143) und insofern als Ergänzung zu werten sei, und so ist es in VALBU auch verzeichnet. Gerade wenn man mit Fischer (2001) speziell die Sachverhaltsbeteiligung als entscheidendes Valenzkriterium erachtet, erscheint die Einordnung der an-PP in sich verletzen als Ergänzung allerdings fragwürdig. Anders als etwa erkranken, das notwendig eine beteiligte Krankheit impliziert, involviert sich verletzen nicht notwendig einen „verletzenden Gegenstand“ bzw. eine „verletzende Substanz“, wie Kubczak die Rolle des PP-Referenten bestimmt (Kubczak 1999: 142) – vgl. (2): (2)
Bei der Choreografie würden sich ungeübte Leute verrenken und verletzen, doch die beiden Mädchen lächeln, als wäre die Übung eine Leichtigkeit. (Lausitzer Rundschau, 15.02.2011)
Aus valenzieller Sicht liefern also weder die eingeschränkte Distribution der an-PP noch Einschätzungen zur Sachverhaltsbeteiligung ihres Referenten eindeutige Hinweise darauf, ob sie als lokale Angabe mit „kausaler Note“ (wie bei sich verletzen) oder als (fakultative) Ergänzung zu werten ist (wie bei erkranken). In einem dritten Typ von Fällen kann sie auch obligatorisch sein. Ein Beispiel ist das Medialprädikat sich weiden. Grimms Wörterbuch erläutert, wie mediales sich weiden historisch mit transitivem weiden (Die Hirten weiden die Schafe auf der Wiese) zusammenhängt, indem beide auf das Konzept einer ‚Sättigung‘ verweisen.8
7 Verglichen werden das „Kleine Valenzlexikon deutscher Verben“ (Engel/Schumacher 1976), das „Valenzlexikon deutsch-rumänisch“ (Engel/Savin 1983) sowie das „Lexikon deutscher Präfixverben“ (Schröder 1996). 8 Auch transitives weiden tritt schon mit menschlichen Objektreferenten auf, wenn „die nahrung oder weidefläche subject und der gelabte object“ ist (sie ist ein vorschmack jener freüden, die einst die auserwählten waiden, Drollinger). Bei sich weiden („fallen subject und object des weidens zusammen, so entsteht reflexiver gebrauch“) nimmt die Bedeutungsentwicklung ebenfalls ihren Ausgang vom „ziellos behaglichen wandeln auf der flur“, das später von der Bedeutung einer „sättigung“ verdrängt wird. Anschließende Übertragungen „schreiten von körperlicher sättigung zu den verschiedensten arten geistiger befriedigung empor“, etwa der „befriedigung durchs auge“ durch „gefallen an schönen naturformen“ oder dem „übersinnlichen genusz“ der religiösen Verzückung. In weiteren Anreicherungen kommt die Komponente einer „schuld“ hinzu, wenn sich weiden „dem unglück eines andern gilt“ (bösartig aber weidete an ihrer not / sich Aphrodite, Spitteler).
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Wie bei Konsumverben ist der Gegenstand des so konzeptualisierten Vorgangs sachverhaltsbeteiligt. Die Überprüfung einer Stichprobe von 100 Zufallstreffern für mediales sich weiden in DeReKo ergibt ausnahmslos präpositionale Komplementierung, davon in 96% der Belege mit an, was für die formale Spezifizität der Ergänzung spricht.9 Wie man es bei einer obligatorischen Ergänzung erwarten würde, nennen auch Wörterbücher des Gegenwartsdeutschen wie Wahrig und das Deutsche Universalwörterbuch des Dudenverlags ausschließlich Beispiele mit an. Kurz zusammengefasst ergibt eine Betrachtung aus wortbasiert-valenzgrammatischer Perspektive allein also weder klare Antworten zur Bedeutung noch zum Argumentstatus der an-PP.
2.2 Der Blick vom Muster Die angesprochene Variabilität (bzw. Indeterminiertheit) des valenziellen Status’ der PP ist allerdings weder ungewöhnlich noch spezifisch für kausale an-PPen. Dowty (2003: 45) setzt sie universell: „Virtually all complements have a dual analysis as adjuncts, and any kind of adjunct can potentially receive an analysis as complement“.10 Konstruktionsgrammatisch betrachtet kommt der Frage, ob die PP bei einem gegebenen Verb nun eine Angabe, eine fakultative Ergänzung oder eine obligatorische Ergänzung ist, allerdings auch keine entscheidende Bedeutung zu. Relevant ist, ob sich eine verbübergreifende Musterhaftigkeit entsprechender Ausdrücke zeigen lässt, und worin genau diese Musterhaftigkeit besteht. Dabei können auch in einem konstruktionsgrammatischen Ansatz PPen in Modifikator- von solchen in Argumentfunktion unterschieden werden.11 Wie auf der lexikalischen
9 Die übrigen vier entfallen auf in, vgl. Man bekommt kurz den Eindruck, der exilierte algerische Star weide sich in der erhöhten Alarmstimmung, die sein Auftreten begleitet (Tages-Anzeiger, 21.06.1997). 10 Vgl. auch: „Dieselben Ausdrücke, die in einem gegebenen Zusammenhang als Argumentausdrücke fungieren, können in identischer Form in anderen Sätzen auftreten, ohne diese Funktion zu haben“ (Zifonun et al. 1997: 733). 11 Es stellt sich allerdings die Frage, ob man diese Unterscheidung auf konstruktioneller Ebene auch fortschreiben muss. Begreift man Argumentstrukturkonstruktionen als Abstraktionen über die Argumentstrukturen konkreter lexikalischer Verben (sowie als Vererbungen existierender in neue, von ihnen abgeleitete Konstruktionen), so muss es für jede schematische Argumentstrukturkonstruktion bestimmte instanziierende Prädikate geben, die die entsprechende Argumentstruktur lexikalisch projizieren. Nun lassen sich für viele – vielleicht auch, wie Dowty formuliert, alle – Arten von Ausdrücken, die gemeinhin als Modifikatoren gewertet werden (wie etwa Lokal-, Temporal- und Modalspezifikationen) Verwendungen mit bestimmten Prädikaten finden, in denen der mutmaßliche Modifikatorausdruck sachverhaltskonstitutiv ist (und somit, sofern dieses Krite-
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Ebene ist dazu nach der Sachverhaltsbeteiligung des Referenten der PP zu fragen – nur dass es eben um den als Konstruktionsbedeutung semantisierten Sachverhalt geht, und nicht um eine Beteiligung am Verbereignis. Präpositionale Modifikatoren sind gemäß dieser Festlegung nicht Teil der durch die jeweilige Argumentstrukturkonstruktion symbolisierten Kernszene, sondern dienen zu deren Situierung oder Detaillierung. Sie werden mit Argumentstrukturkonstruktionen kombiniert, sind zum grundständigen Aufruf der durch die Argumentstrukturkonstruktion symbolisierten Szene selbst jedoch nicht notwendig. Umgekehrt sind sie auch ihrerseits nicht auf eine bestimmte Argumentstruktur angewiesen, die sie zur Realisierung ihrer je spezifischen Bedeutung benötigen, sondern kodieren diese Bedeutung autonom,12 vgl. etwa die in-PP (sowie das Subjektsprädikativ) in (3):
rium denn als ausschlaggebend erachtet wird, Argumentstatus besitzt). Wortbasiert-valenzgrammatisch werden solche Fälle – wie etwa die Lokalspezifikation bei Verben wie wohnen, die Temporalspezifikation bei Verben wie dauern oder die Modalspezifikation bei Verben wie sich anhören – als „ausnahmsweise obligatorische Modifikatoren“ (Welke 2019: 168) charakterisiert. Ließen sie sich dann musterbasiert-konstruktionsgrammatisch nicht auch als Argumente schematischer lokaler, temporaler oder modaler Argumentstrukturkonstruktionen auffassen, deren Besonderheit schlicht darin besteht, dass Verwendungen mit Verben, die sie auch lexikalisch projizieren, innerhalb ihres Gebrauchsspektrums nicht dominant/prototypisch, sondern vergleichsweise selten sind? In diesem Fall wäre der Unterschied zwischen „Argumentstrukturkonstruktionen“ und „Modifikatorkonstruktionen“ nicht qualitativer, sondern nur quantitativ-gradueller Art. Dagegen wird in der Regel angeführt, dass Modifikatorkonstruktionen auch typischerweise semantische Leistungen anderer (nämlich: „situierender“ oder „detaillierender“) Art erbringen und anders als genuine Argumentstrukturkonstruktionen auch nicht koerziv sind: Eine Modifikatorkonstruktion, die mit einer gegebenen Prädikation kombiniert wird, kann das von der modifizierten Argumenstrukturkonstruktion evozierte Szenario nicht grundlegend verändern. Diese Nicht-Koerzivität typischer Modifikatoren ist die Kehrseite ihrer „autonomen Kodierung“, deren Vorliegen allerdings auch nicht immer klar ersichtlich ist (siehe Fußnote 13). Letztlich ist die Frage, ob eine gegebene kompositionelle Erweiterung von Argumentstrukturkonstruktion A mit einer weiteren Konstruktion B als Kombination mit einer Modifikatorkonstruktion oder als Überblendung mit einer unabhängigen Argumentstrukturkonstruktion zu sehen ist, durch eine Einschätzung der „Autonomie“ des Bedeutungsbeitrags von Konstruktion B nicht immer klar zu entscheiden. 12 Letztlich ist allerdings auch die Dichotomie von autonomer vs. nicht-autonomer Kodierung nicht absolut. Speziell mit Blick auf Präpositionalphrasen bemerkt die IDS-Grammatik: „Autonome Kodierung ist hier ein unscharfes Konzept: Klar autonom kodierende Verwendungen z. B. von auf wie in auf dem Boden sitzen weisen semantische Übergänge auf zu weniger autonom kodierenden Verwendungen wie in auf dem Grundgesetz fußen oder noch stärker semantisch ausgebleichten Verwendungen wie in auf dem Grundgesetz bestehen. Solche Unterscheidungen können jeweils nur im Einzelfall bezogen auf Valenzträger und zugeordnete Präpositionen getroffen werden“ (Zifonun et al. 1997: 1040).
Argumente, Modifikatoren und „Ergänzungsbedürftigkeit“
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(3) Der Autor des Bestsellers „Das Boot“ war am vergangenen Donnerstag im Kreiskrankenhaus Starnberg 89-jährig an Herzversagen gestorben. (Süddeutsche Zeitung, 26.02.2007) Gemäß dieser Bestimmung handelt es sich bei den an-PPen in (1) um Marker von Argumentstrukturkonstruktionen. Kausale an-PPen sind in ihrer Distribution nicht frei (autonom kodierend), sondern an bestimmte Verwendungskontexte gebunden. Diese Kontexte definieren ihre strukturellen und semantischen Gebrauchsrestriktionen, die im Rahmen einer konstruktionsbasierten Beschreibung zu explizieren sind. Instanzen wie sich an etwas krank essen in (1.c) sprechen für die Produktivität und aktive Zeichenhaftigkeit des zugrundeliegenden Musters, während andere wie sich an etwas weiden konventionalisierte Verbvalenzen darstellen. Unabhängig davon, ob die PP durch ein bestimmtes instanziierendes Prädikat auch lexikalisch impliziert wird oder nicht, hat sie als konstitutiver Bestandteil der postulierten Argumentstrukturkonstruktion aber per definitionem Argumentstatus in diesem Muster. Für die in den Hintergrund tretende Frage nach dem verbalen Argumentstatus der PP stellen sich aus dieser Sicht nun aber einige neue: Handelt es sich bei den Ausdrücken in (1) tatsächlich um Instanzen ein- und derselben Konstruktion, oder sind es mehrere verschiedene? Wie ist/sind ihre Bedeutung(en) zu charakterisieren? Wie kann ihre formale Variabilität in der Beschreibung abgebildet werden? Und wie verhalten sich die hier als ‚kausal‘ betrachteten Ausdrücke in (1) zu weiteren Ausdrücken mit an und Dativ wie etwa denen in (4)? (4)
a. b. c. d.
Das Land baut an vier neuen Reaktoren. Die Basis rächt sich an der Parteispitze. Die Konjunktur gewinnt an Schwung. Keiner dort hängt sonderlich an seinem Job.
Damit nun zum angekündigten Vergleich der beiden bereits vorliegenden konstruktionsbasierten Analysen von kausalem an mit Blick auf diese Fragen.
2.2.1 Rostila (2005, 2007, 2014, 2018a) In einer Reihe von Arbeiten hat Rostila (u. A. 2005, 2007, 2014, 2018a) Ideen Lerots (1982) zum Verhältnis von Verb- und Präpositionsbedeutung in deutschen PO-Konstruktionen mit Überlegungen Hundts (2001) zu ihrer Grammatikalisierung verbunden und den Ansatz zu einer konstruktionsgrammatischen Analyse als bedeutungshaltige argument structure constructions im Sinne Goldbergs (1995)
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ausgebaut. Im Fokus steht dabei eine bestimmte Untermenge solcher Konstruktionen, denen der Status eines „produktiven Präpositionalobjekt[s]“ zugesprochen wird, das durch einen Grammatikalisierungsprozess entstanden sei. Illustriert wird die Argumentation vornehmlich anhand semantisch „prospektiver“ Präpositionalobjekte mit auf, daneben wird auch auf „kausales vor“ (Rostila 2007: 185) und „aspektuelles an“ eingegangen (Rostila 2007: 192). Am Rande erwähnt werden zudem Präpositionalobjekte mit über zur Bezeichnung eines „intellektuellen Themas“ sowie die hier interessierende kausale Konstruktion mit an. Eine nähere Beschreibung ihrer formalen und semantischen Spezifika findet sich bei Rostila zwar nicht, bestimmte Eckpunkte einer solchen Analyse lassen sich aber aus seiner ausführlicheren Diskussion der prospektiven auf-Konstruktion ablesen und auf die Konstruktion mit an übertragen. Grundlegend ist in beiden Fällen eine zweistellige Intransitivkonstruktion: (5)
Die Sith sinnen auf Rache. (St. Galler Tagblatt, 27.09.2008)
Genauer gesagt veranschlagt Rostila (2007: 169), dass die prospektive auf-Konstruktion in (5) bedeutungsseitig über zwei Argumente verfügt (einen „Zukunftsgerichteten“ und ein „künftiges Ereignis“), auf der Formseite jedoch nur eines davon in seiner grammatischen Markierung festlegt, nämlich das perspektivisch zweite Argument (das präpositional kodierte „künftige Ereignis“). Als Beleg verweist er auf Attributkonstruktionen wie (6), in denen formseitig weder ein Verb noch ein ihm zugehöriges Subjekt auftreten: (6)
Nein, für mich ist Sweeney kein Bösewicht, sondern ein trauriger, tragischer Mann, den nur das Sinnen auf Rache am Leben hält. (Berliner Zeitung, 21.02.2008)
Semantisch sei die Rolle des „Zukunftsgerichteten“ aber auch hier präsent und mitverstanden, da sie von der Präposition mitsymbolisiert werde.13 Analog wird gemäß Rostilas Analyse auch in der verbalen Konstruktion sinnt in (5) die Markierung des „Zukunftsgerichteten“ nicht durch die POKonstruktion selbst festgelegt, sondern erhält ihre nominativische Form aus der intransitiven Konstruktion, mit der sich die PO-Konstruktion in (5) verbindet.14 Diese Analyse hat den Vorteil, dass man bei abweichender Markierung des ersten Arguments keine Vervielfachung entsprechender PO-Konstruktionen benötigt. Neben der intransitiven Konstruktion mit Nominativ gibt es im Deutschen schließlich noch andere intransitive Argumentstrukturkonstruktionen, in denen der perspektivisch erste Partizipant des Prädikatsausdrucks als Akkusativ (vgl. mich friert) oder Dativ (vgl. mir schaudert) realisiert wird. Während für diese Grundstrukturen jeweils unabhängige Argumentstrukturkonstruktionen anzusetzen sind, wird in Rostilas Ansatz nicht jeweils eine weitere unabhängige Konstruktion benötigt, wenn solche Konstruktionen zu einer PO-Konstruktion ausgebaut werden. Ein Beispiel mit auf-PO ist (7): (7)
Der CSU und ihrem Parteichef Horst Seehofer steht der Sinn auf Rache, anders lassen sich seine harschen Anwürfe gegen Oppermann und die SPD nicht erklären. (Nürnberger Nachrichten, 17.02.2014)
Zwar enthält auch (7) eine NP im Nominativ (der Sinn), sie ist hier aber nicht als Argument, sondern als lexikalisierter Bestandteil des zweistelligen Prädikatsgefüges steht der Sinn zu sehen. Zur Anwendbarkeit des Ansatzes auf Passivkonstruktionen wie (1.d) verbleiben dagegen Fragen: (8)
Klein-Johanna wird gerettet, zur Gotteskriegerin erzogen und auf Rache eingeschworen. (Thüringische Landeszeitung, 09.07.2005)
Einerseits könnte auch hier veranschlagt werden, dass in (8) eine formal unterspezifizierte zweistellige auf-Konstruktion mit einer passivischen Nom: Vorgangsträger/1-Konstruktion (wie diese Konstruktion bei Rostila hieße) kombiniert wird. Als Subjekt realisiert wird dabei einerseits derselbe (auf Rache orientierte) Partizipant wie in (5), andererseits liegt in (8) aber nicht nur ein anderes (dreistelliges) Verb vor, sondern auch eine andere Perspektivierung des von ihm
14 „Nom gehört m. E. nicht zur Ausdrucksseite der A-Strukturkonstruktion mit der Inhaltsseite Zukunftsgerichteter/1-künftiges Ereignis/2 aus dem einfachen Grund, weil er Teil der A-Strukturkonstruktionen Nom: Agens/1 oder Nom: 1 ist. Je nachdem, ob Intentionalität involviert ist oder nicht, wird der erste Partizipant von Verben wie in (34) [warten, hoffen, gespannt sein, sich vorbereiten, AZ] mit Nom: Agens/1 oder Nom: 1 fusioniert“ (Rostila 2007: 173). Hinter diesen Bezeichnungen verbergen sich intransitive Konstruktionen, die ihr Subjekt entweder als Agens und perspektivisch primäres Argument oder aber rein perspektivisch als erstes (und einziges) Argument ausweisen.
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bezeichneten Szenarios: auf Rache eingeschworen werden bedeutet etwas anderes als auf Rache sinnen, und dieser Unterschied wird durch den spezifischen Verbalkomplex des werden-Passivs auch formal markiert. Andererseits: Wenn nominalisiertes Sinnen auf Rache in (6) als Vererbung aus einer semantisch zweistelligen Argumentstrukturkonstruktion mit einem grammatisch unrealisierten ersten Argument analysiert wird, ließe sich nicht mit gleichem Recht auch (8) als semantisch dreistellige Konstruktion mit grammatisch unrealisiertem ersten Argument betrachten? Im monostratalen Ansatz der Konstruktionsgrammatik ist das nicht vorgesehen: Passivsätze werden nicht aus zugrundeliegenden Aktivsätzen abgeleitet, sondern als Konstruktionen sui generis betrachtet. Aber auch wenn (8) nicht „eigentlich“ semantisch dreistellig ist, wird eine solche Konstruktion doch zumindest für Beispiele wie (9) benötigt: (9)
Ganz Ohr, „all ears“, nennt sich Prinz Hamlet in der Tragödie, als sein toter Vater als Gespenst aufkreuzt und ihn auf Rache einschwört. (Frankfurter Neue Presse, 05.11.2013)
Wenn man an der konstruktionsgrammatischen Idee der Argumentstrukturkonstruktion als holistischer Gestalt festhält, die – auch bei formseitiger Unterspezifikation bestimmter Konstruktionselemente – eine gegebene Szene im Ganzen symbolisiert, ist für das dreistellige Szenario in (9) eine in Stelligkeit und Kausativität von den zuvor illustrierten Strukturen zu unterscheidende, eigene Argumentstrukturkonstruktion anzusetzen. Davon abgesehen könnte die dreistellige auf-Konstruktion den Kasus ihrer beiden nicht-präpositionalen Argumente dann aber wie in den vorangegangenen Beispielen auch aus einer unabhängigen (in diesem Fall transitiven) Argumentstrukturkonstruktion beziehen.15 Auch bedeutungsseitig beschränkt sich Rostila auf eine Charakterisierung der Argumentrollen, die die je beschriebene Konstruktion vorsieht. Damit entfällt die zweite Komponente, die Goldberg (1995) auf der Bedeutungsseite grammatischer Konstruktionen ansetzt: Informationen zu zulässigen Relationen zwischen Konstruktions- und Prädikatsbedeutung. Für Rostila ist dagegen „die Überlappung der Rollen die einzige, allerdings verletzbare, semantische Bedingung für grammatische Konstruktionseinbettungen“ und „das Verhältnis zwischen der Verbund der Konstruktionsbedeutung ansonsten eine pragmatische Frage“: „Es steht im Ermessen des Sprachbenutzers, wie er Verben mit A-Strukturkonstruktionen
15 Für eine solche Lösung wäre allerdings noch darzulegen, wie sichergestellt wird, dass der auf Rache orientierte Partizipant der auf-Konstruktion mit dem akkusativisch markierten zweiten Argument der transitiven Konstruktion identifiziert wird und nicht mit deren Subjekt.
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kombiniert, solange solche Kombinationen für den Hörer nur nachvollziehbar sind“ (Rostila 2007: 179). Für die hier interessierende Konstruktion mit an wird eine „GRUND“-Rolle des PO angesetzt (Rostila 2007: 132). Eine nähere Eingrenzung der Sachverhalte, die im Rahmen dieser Konstruktion konventionellerweise kausal aufeinander bezogen werden können, erfolgt nicht. Die unterschiedliche Akzeptabilität von Paaren wie zum Beispiel an etwas sterben versus ✶an etwas ins Krankenhaus kommen würde bei Rostila entsprechend nicht semantisch hergeleitet, sondern auf eine verbspezifische Konventionalisierung des an-PO bei sterben einerseits sowie eine fehlende generelle Produktivität der Konstruktion andererseits zurückgeführt werden. Im Rahmen seines Grammatikalisierungsansatzes wäre die Konstruktion mit kausalem an entsprechend auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als das von ihm diskutierte prospektive auf-PO zu verorten. Warum das an-PO nun gerade bei sterben (und einer Reihe verwandter Prädikate, siehe Abschnitt 3) als Komplement konventionalisiert ist, bleibt damit offen. Zudem erscheint eine grundsätzliche Entgegensetzung16 von produktiven und nicht-produktiven PO fragwürdig, zumal das zentrale Abgrenzungskriterium der Produktivität eigentlich auch von Rostila selbst als gradient erachtet wird.17 Dazu passend heißt es in einem Aufsatz jüngeren Datums: „many, if not most PO-Ps [Präpositionalobjekt-Präpositionen, AZ], can be seen as part of some kind of productive pattern built around a common semantic denominator“ (Rostila 2018a: 412). Das wiederum bedeutet jedoch nichts anderes, als dass sie Teil einer bedeutungshaltigen Argumentstrukturkonstruktion im konstruktionsgrammatischen Sinne sind.18 16 Rostila (2018: 409) spricht von einer „fundamentally different class of meaningful PO-Ps [=„Präpositionalobjekt-Präpositionen“, AZ]“: Objektpräpositionen der Stufe 2 seines vierstufigen Modells seien „sekundäre Zeichen“, deren Bedeutung erst im Rückgriff auf die Bedeutung ihres verbalen Regens’ zu bestimmen sei; Präpositionen der Stufe 3 hingegen „primäre Zeichen“, d. h. „(relativ) selbstständige Bedeutungsträger, aber nicht als Lexeme, sondern als Argumentstrukturkonstruktionen“ (Rostila 2007: 121). 17 Aus diesem Grund wird auch Kays (2005) Vorschlag einer Differenzierung (vollproduktiver) Konstruktionen und (teilproduktiver) „Prägemuster“ („patterns of coining“) zurückgewiesen (Rostila 2007: 197). 18 Bereits die implizite Prämisse, dass eine – wie auch immer zu operationalisierende – Dichotomie von „lexikalischen“ und „grammatischen“ Fällen (mit einem bestimmten diachronen KippPunkt zwischen beiden Kategorien) überhaupt logisch erforderlich ist, ist in einem gebrauchsbezogenen Ansatz zu hinterfragen. Sollte die konventionelle Kookkurrenz eines bestimmten Verbs mit einem bestimmten Präpositionalobjekt – metaphorisch gesprochen – „im Lexikoneintrag“ eines gegebenen Sprechers für dieses Verb „gespeichert“ sein, ist allein deshalb nicht ausgeschlossen, dass mehrere Fälle solcher „Speicherungen“, die bestimmte semantische Parallelen aufweisen, nicht gleichzeitig vom selben Sprecher in ihrer Parallelität erkannt werden, sodass ein übergreifendes Schema extrahiert wird. Das Präpositionalobjekt in ein und demselben beobachteten Ausdruck
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Zusammengefasst würden die Beispiele in (1.a) und (c) in Rostilas Ansatz als Instanzen derselben zweistelligen PO-Konstruktion mit kausalem an-PO analysiert werden. Wie die kausativ-dreistellige Aktivkonstruktion in (1.b) oder die passivische Variante in (1.d) aufgefasst würden, geht aus Rostilas Arbeiten nicht eindeutig hervor.19 Das an-PO trägt in allen Fällen die semantische Rolle „GRUND“. Die unterschiedliche Markierung der übrigen Konstruktionselemente ergibt sich aus Interaktionen der unterspezifizierten an-Konstruktion mit basaleren, nicht-präpositionalen Argumentstrukturkonstruktionen. Von den weiteren Konstruktionen mit an in (4) wird (4.a) als Instanz einer separaten („aspektuellen“) produktiven PO-Konstruktion betrachtet (Rostila 2007: 192). Ob auch für die Ausdrücke in (4.b) bis (d) noch weitere teilschematische Argumentstrukturkonstruktionen (anstelle von individuellen Verbvalenzen) anzusetzen wären, bleibt offen.
2.2.2 Höllein (2019) Breiter und stärker empirisch angelegt ist die Korpusstudie von Höllein (2019), die sich das ehrgeizige Ziel setzt, „die Entschärfung eines Standardproblems der Grammatiktheorie im Allgemeinen und der Valenztheorie im Besonderen“ zu leisten – nämlich eine „funktionale Unterscheidung von präpositionalen Strukturen in Präpositionalobjekte (PO) und Adverbiale durch die Modellierung von PO als Träger von semantischen Rollen“ (Höllein 2019: 1). Dazu werden Analysen von 13 verschiedenen PO-Präpositionen (an, auf, aus, für, gegen, in, mit, nach, über, um, von, vor, zu) in 17 verschiedenen Präposition+Kasus-Kombinationen präsentiert (an+AKK, an+DAT, auf+AKK, auf+DAT ...) und dabei 28 „semantische Nischen“ identifiziert, die von den behandelten PO grammatisch enkodiert werden. Ihre Realisierung erfolgt im Rahmen verschiedener „Satzbauplanzeichen“, worunter produktive grammatische Argumentstrukturkonstruktionen verstanden werden (Höllein 2019: 163). Satzbauplanzeichen werden von nicht-zeichenhaften Satzbauplänen unterschieden, die gleichfalls musterhaft, aber nicht
kann auf diese Weise von ein und demselben Sprecher sowohl als „lexikalisch projiziert“ als auch als „konstruktionell erfordert“ betrachtet werden. 19 In Rostila (2018a: 423) werden auch „possible a-constructions based on PO-Ps in structures where the predicate verb is accompanied by three or more arguments“ erwähnt. Als Beispiel wird „Sie (1) hat ihn (2) in das Geheimnis (3) eingeweiht“ genannt. Tatsächlich diskutiert werden solche Konstruktionen dann allerdings nicht („outside the scope of this paper“, Rostila 2018a: 423).
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mehr/noch nicht produktiv sind.20 Wie bei Rostila liegt der Fokus auf produktiven Konstruktionen, denn erst das Vorkommen eines PO bei einem Verb, das dieses PO nicht auch schon lexikalisch lizenziert, indiziere eine aktiv prägekräftige und daher ihrerseits zeichenhaft verwendete Konstruktion. Als Nachweis bzw. „Absicherung“ (Höllein 2019: 79) einer Nische gilt insofern das Auffinden von PO-Belegen im Untersuchungskorpus der Arbeit, die an ein Verb angebunden sind, für das der entsprechende präpositionale Satzbauplan nicht konventionalisiert ist.21 Die Bedeutung der angesetzten Satzbauplanzeichen wird als Konstellation signifikativ-semantischer Rollen im Sinne Welkes (2002) angegeben. In Abweichung von Welkes Postulat, dass „[f]ormal einheitliche Konstruktionen [...] semantisch – im Regelfall [...] – einheitlich interpretiert werden [müssen]“ (Welke 2019: 99), schlägt Höllein vor, dass PO „über das Potential verfügen, homonyme Bedeutungen auszubilden“ (Höllein 2019: 81). An anderer Stelle heißt es, „dass es mehr Muster [=Satzbauplanzeichen/ Argumentstrukturkonstruktionen, AZ] gibt, als es formale Muster gibt, da Zeichen in der Regel polysem sind“ (Höllein 2019: 59). Unabhängig davon, ob in einem gegebenen Fall nun Homonymie oder Polysemie anzusetzen ist, gibt es also zumindest kein generelles theoretisches Monosemiegebot für die untersuchten PO (mit entsprechend zahlreichen „unprototypischen“ Abweichungen bzw. Gegenbeispielen zur vorgeschlagenen Generalisierung). In der praktischen Umsetzung bleibt es in der Regel aber doch bei wenigen sehr abstrakten Kategorien: Nur für zwei der 17 untersuchten Formkategorien (auf+AKK sowie von+DAT) werden drei oder mehr getrennte Nischen angesetzt, für mehr als die Hälfte der Kategorien nur eine einzige. Für an+DAT werden zwei verschiedene Nischen vorgeschlagen. Als Haupttyp wird die PO-Rolle „AFFIZIERT“ veranschlagt (Die 305 PS zerren an der Vorderachse), als seltenerer Nebentyp die Rolle „DETECTUM“ (Er erkennt ihn an der Stimme). Rostilas Ansetzung einer kausalen Rolle wird diskutiert, jedoch verworfen (Höllein 2019: 171): Der semantische Beitrag des PO zur Satzbedeutung in Er starb an Krebs sei vielmehr derselben Art wie in Er trinkt an dem Bier, nämlich die Markierung eines „partiell Erfassten“, wie die Bedeutung der Rolle AFFIZIERT paraphrasiert wird (Höllein 2019: 169). Zwar wird konzediert, dass Ausdrücke wie an
20 Als Beispiel für einen in diesem Sinne nicht-zeichenhaften Satzbauplan wird Es – Präd – auf+AKK (Es kommt auf eure Mitarbeit an) genannt (Höllein 2019: 59). 21 Als Kriterium für die Konventionalisierung zählt die Listung des entsprechenden Verbs mit dem entsprechenden Valenzmuster in mindestens einem von vier konsultierten Valenzlexika und zwei weiteren Wörterbüchern. Als produktive Verwendungen werden nach Abzug dieser konventionalisierten Instanzen alle weiteren Verben gezählt, die sich in einschlägiger Verwendung im Untersuchungskorpus finden (ein Jahrgang der Hamburger Morgenpost).
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etwas sterben oder an etwas leiden „wesentlich abstraktere Instanzen der Nische AFFIZIERT realisieren als prototypische Beispiele“ (wie an etwas trinken) – aber: „Signifikativ-semantisch kodieren die PO jedoch hier dieselbe Bedeutung“ (Höllein 2019: 169). Das ist schwer nachzuvollziehen: Was bedeutet es, zu sagen, dass die den Tod verursachende Krankheit in sterben an Krebs ‚partiell erfasst‘ ist von dem durch das Verb sterben bezeichneten Ereignis? Wäre in dieser Hinsicht nicht eher noch das PO in jemanden an seiner Stimme erkennen – ein Szenario, für das die separate semantische Nische DETECTUM angesetzt wird – plausibler als AFFIZIERT zu charakterisieren, nämlich als betroffen/erfasst vom Ereignis des Erkennens, wie auch das Bier betroffen ist vom Ereignis des Trinkens? Für Bildungen des Typs sterben/leiden/erkranken... an etwas gilt das hingegen nicht. Auch die in Abschnitt 2.1 aufgeworfene Frage, warum diese Ausdrücke auftreten, ✶an etwas ins Krankenhaus kommen aber nicht, bleibt in der Analyse von an + Dativ als Markierung eines ‚partiell Erfassten‘ offen. Strukturell wird anders als bei Rostila keine intrinsisch zweistellige PO-Konstruktion angesetzt, sondern zunächst nur die PO-Rolle als solche. Entsprechend gibt es kein „mitsymbolisiertes“ erstes, nicht-präpositionales Argument, das jeweils mit einem bestimmten Argument einer anderen Argumentstrukturkonstruktion identifiziert werden muss, sondern nur Kombinationen der PO-Rolle mit verschiedenen anderen Rollen im Rahmen von Satzbauplanzeichen, die signifikativ-semantisch als „Handlungskonstruktionen“, „Tätigkeitskonstruktionen“, „Vorgangskonstruktionen“ und „Zustandskonstruktionen“ charakterisiert werden.22 Aus diesen Kombinationen ergeben sich nischenspezifische PO-Konstruktionen mit je eigenen Bedeutungen. Für die einschlägige Nische AFFIZIERT werden dabei die folgenden drei Satzbauplanzeichen angesetzt (Höllein 2019: 168): (10) a. Subj Präd TÄTIGKEITSTRÄGER TÄTIGKEIT Sie bastelt (AFFIZIERT+TÄTIGKEIT)
POan+Dat AFFIZIERT an ihrem Auto.
22 Diese vier Kategorien bilden ein Raster möglicher Optionen, wie das Verbereignis grammatisch perspektiviert (d. h. als eine bestimmte Art von Ereignis dargestellt) werden kann. Semantisch werden Szenarien mit „Eigenaktivität“ des Satzsubjekts (Handlungen, Tätigkeiten) von solchen ohne Eigenaktivität (Vorgänge, Zustände) unterschieden. Innerhalb der ersten Gruppe wird mittels des Kriteriums der Transitivität weiter zwischen Handlungen (transitive Ereignisse) und Tätigkeiten (intransitive Ereignisse) differenziert. Innerhalb der zweiten Gruppe wird mittels des Kriteriums der Dynamizität zwischen Vorgängen (dynamische Sachverhalte) und Zuständen (statische Sachverhalte) unterschieden. Formal kann die Perspektive u. A. durch die Prädikatsdiathese (Aktiv vs. Vorgangspassiv vs. Zustandspassiv) sowie durch die Argumentstruktur (transitive vs. intransitive Konstruktion) angezeigt werden. Für Details vgl. Höllein (2017).
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b. Subj Präd POan+Dat VORGANGSTRÄGER VORGANG AFFIZIERT Sie verletzt sich an dem rostigen Stacheldraht. (AFFIZIERT+VORGANG) c. Subj Präd AkkObj POan+Dat HANDLUNGSTRÄGER HANDLUNG HDL.GEGENSTAND AFFIZIERT Er operiert ihn an der Leiste (AFFIZIERT+HANDLUNG) Die ersten beiden Varianten sind formgleich, aber bedeutungsverschieden: Für (10.a) wird ein Szenario angesetzt, in dem „der TÄTIGKEITSTRÄGER punktuell auf das AFFIZIERTE einwirkt“ (Höllein 2019: 169), für (10.b) dagegen ein Szenario, in dessen Rahmen „dem VORGANGSTRÄGER durch Kontakt mit dem AFFIZIERTEN etwas widerfährt“ (Höllein 2019: 173). Für die transitive Variante in (10.c) wiederum wird ein Szenario angesetzt, in dem „der HANDLUNGSTRÄGER auf das AFFIZIERTE einwirkt, das als Element des HANDLUNGSGEGENSTANDS dargestellt wird“ (Höllein 2019: 174).23 Übertragen auf die Beispiele in (1) würden für diese Ausdrücke entsprechend die folgenden Analysen angesetzt werden: – Beispiel (1.a), sich an peinlichen Privatheiten aufgeilen, ist eine Tätigkeitskonstruktion,24 die besagt, dass jemand ‚punktuell auf peinliche Privatheiten einwirkt‘ – Beispiel (1.b), einen Abarth an den Strohballen zerbeulen, ist eine Handlungskonstruktion, die besagt, dass jemand ‚auf die Strohballen einwirkt, die als Element des Abarth dargestellt werden‘ – Beispiel (1.c), sich an (bestimmten) Nahrungsmitteln krank essen, ist eine Vorgangskonstruktion, die besagt, dass jemandem ‚durch Kontakt mit den Nahrungsmitteln etwas widerfährt‘
23 Kubczak (1999) differenziert zwischen an-PPen des Typs an dem rostigen Stacheldraht in (10.b) und an der Leiste in (10.c). Dass hier beide als Träger derselben Rolle AFFIZIERT gesehen werden, führt dazu, dass diese Rolle in einem Satz wie Beim Übersteigen des Zaunes verletzte er sich an dem rostigen Stacheldraht an der Leiste doppelt vergeben werden müsste. 24 „Die Abgrenzung zwischen TÄTIGKEIT und VORGANG im Bereich der sich-Verben wird dabei wie folgt vorgenommen: Wenn eine intransitive Parallelstruktur ohne sich vorliegt, szeniert das Prädikat den Sachverhalt als VORGANG; liegt keine solche intransitive Parallelstruktur vor, szeniert das Prädikat den Sachverhalt als TÄTIGKEIT“ (Höllein 2019: 164). So bezeichne sich öffnen in Die Tür öffnet sich einen Vorgang, da eine parallele Intransitivstruktur möglich ist (Das Geschäft öffnet), sich verausgaben in Er verausgabt sich dagegen eine Tätigkeit, da es keine intransitive Parallelstruktur gibt (✶Er verausgabt). Das Verb aufgeilen kann sowohl transitiv (jemand geilt jemanden auf) als auch reflexiv gebraucht werden (jemand geilt sich auf), nicht aber intransitiv (✶jemand geilt auf), sodass (1.a) in Hölleins Ansatz als Tätigkeitskonstruktion zu werten ist.
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Beispiel (1.d), an großen Lösungen wird verzweifelt, ist ebenfalls eine Vorgangskonstruktion, allerdings ohne Nennung des VORGANGSTRÄGERS, dem ‚durch Kontakt mit großen Lösungen etwas widerfährt‘
Die kausale Interpretation der Belege kommt nur in der Paraphrase der Vorgangskonstruktionen (1.c)25 und (d) zum Ausdruck, in denen es um ein „Widerfahren“ geht. Dabei kommt dem PO-Referenten allerdings weniger die Rolle eines AFFIZIERTEN als die eines ‚Affizierenden‘ zu. Aus der theoretischen Perspektive der Arbeit würde dieser Einwand vermutlich als denotativ-semantisch fundiertes Missverständnis und damit als irrelevant verworfen werden. Aber für eine Bedeutungsparallelität etwa von an etwas sterben und an etwas basteln gibt es auch signifikativ-semantisch gesehen wenig Anhaltspunkte: Signifikativ betrachtet wird auf der Bedeutungsseite kausaler an-Konstruktionen eine abstrakte Ursächlichkeit (d. h. ein inferierter Zusammenhang zwischen bestimmten Situationen in der Welt) sprachlich als räumliches Kontaktszenario entworfen. Zur Konzeptualisierung solcher Sachverhaltsentwürfe zählen neben den beteiligten Entitäten selbst in der Regel auch bestimmte konstitutiv beteiligte Kräfte, die zwischen ihnen walten, und zwar mit einer bestimmten Wirkrichtung („force dynamics“, Talmy 2000, Kap. 7). Die semantische Gleichsetzung des PO-Referenten in allativ-imperfektivem an etwas basteln, auf den eine Einwirkung ergeht, mit dem PO-Referenten in ablativ-kausalem an etwas sterben, von dem eine Wirkung ausgeht, ignoriert diese unterschiedlichen Wirkrichtungen und hebt allein auf die in beiden Fällen vorliegende Kontaktrelation bzw. die identische Präposition ab. Unabhängig von der Bezeichnungsebene werden dadurch zwei Szenarien mit unterschiedlicher Bedeutung miteinander vermengt.26
25 Gemäß den in Anmerkung 23 und 25 referierten Kriterien ist das genannte Beispiel Sie verletzte sich an dem rostigen Stacheldraht allerdings eigentlich nicht als Vorgangskonstruktion zu werten: Die Bildbarkeit einer intransitiven Parallelstruktur für die relevante Lesart des Verbs erscheint (wenn überhaupt) nur in sehr speziellen stützenden (z. B. kontrastierenden) Kontexten vorstellbar (?Sie verletzte), sodass hier analog zu Er verausgabt sich die Ansetzung einer Tätigkeitskonstruktion erwartbar wäre. Zweitens kommt dem Subjektreferenten in Sie verletzte sich an dem rostigen Stacheldraht auch das klassifikationsleitende Merkmal der Eigenaktivität zu, was ebenfalls für eine Tätigkeit spräche. 26 Marc Felfe (persönliche Mitteilung) wendet ein, dass signifikativ-semantisch „von konzeptuellen Differenzen [wie den unterschiedenen Wirkrichtungen der Kausalbeziehung, AZ] abstrahiert“ werde und solche „konzeptuellen Anreicherungen (vermittelt über Implikaturen) ... nicht Teil der signifikativ-semantischen Rolle“ seien. Mir scheint eine Wertung dieser Bedeutungskomponente als bloße „Anreicherung“ und „Implikatur“ dagegen nicht schlüssig. Die Direktionalität des Kausalverhältnisses ist sowohl zentral für die korrekte Interpretation solcher Ausdrücke (ist es der Referent der an-PP, der durch die Einwirkung eines anderen Partizipanten affiziert wird, oder ist
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Zusammengefasst würden die Beispiele in (1) in Hölleins Ansatz also als Instanzen von vier verschiedenen Satzbauplanzeichen/Argumentstrukturkonstruktionen aufgefasst werden, von denen die letzten beiden vom selben semantischen Typ sind (Vorgangskonstruktion). Jede dieser Konstruktionen hat ihre eigene Bedeutung, in die der konstant als etwas „partiell Erfasstes“ charakterisierte PO-Referent in jeweils unterschiedlicher Weise eingebunden ist. Da es sich um verschiedene Konstruktionen handelt, stellen Unterschiede in der formalen Realisierung ihrer weiteren Argumente und des Prädikatsausdrucks für die Beschreibung kein Problem dar. Die weiteren Ausdrücke mit an und Dativ in (4) – an etwas gewinnnen, sich an jemandem rächen, an etwas bauen, an etwas hängen – werden sämtlich derselben Nische wie die Ausdrücke in (1) zugeschlagen, sodass auch hier kein weiterer semantischer Erläuterungsbedarf gesehen wird.
3 Eine gebrauchsbezogene Analyse Bevor ich im Folgenden eine dritte Analyse der Bedeutung (Abschnitt 3.1) und Form (Abschnitt 3.2) der genannten Konstruktionen mit an vorstelle, sei noch eine kurze Erläuterung zur Terminologie vorweggeschickt: Der folgende Abschnitt basiert auf der Darstellung der Konstruktionen in (1) in der gegenwärtig am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erarbeiteten „Musterbank argumentmarkierender Präpositionen (MAP)“ (Proost et al. 2022). Die dort behandelten „Argumentstrukturmuster“ sind konstruktionsbasierte Beschreibungen von präpositionalen Argumentstrukturkonstruktionen mit ein bis drei Argumenten, zwischen denen eine identische (und nicht rein räumliche) Relation besteht. In Anknüpfung an die von Talmy (1975) in die Linguistik eingeführte gestaltpsychologische Unterscheidung von „Figur“ und „Grund“ wird dabei das Element im Vorbereich der Präpositionsrelation als das figur-Argument der musterspezifischen Relation sowie das Element im Nachbereich (d. h. das PP-interne Nominal) als das grund-Argument dieser Relation bezeichnet (vgl. Der WagenFIGUR zerbeulte an dem StrohballenGRUND). Tritt in kausativen Varianten eines Musters ein dritter Partizipant hinzu, der das Zustandekommen der musterspezifischen Relation veranlasst/ bewirkt/herbeiführt etc., so wird er als das auslöser-Argument dieses Szenarios bezeichnet (vgl. ErAUSLÖSER zerbeulte den WagenFIGUR an dem StrohballenGRUND).
es umgekehrt dieser andere Partizipant, der vom Referenten der an-PP affiziert wird?) als auch fest/nicht-löschbar semantisiert (nur eben für unterschiedliche Konstruktionen mit an in je unterschiedlicher Weise – aus der statischen Quellbedeutung kontakt haben sich hier zwei separat konventionalisierte Muster entwickelt).
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3.1 Bedeutung Ursprünglich entstanden ist die kausale Bedeutung der PP vermutlich durch eine metonymische Verschiebung aus einem adverbialen (bzw. „direktiven“) Quellszenario, in dem der durch die Präposition bezeichnete Kontakt der figur mit dem grund einen Schaden bei der figur verursacht. Konkret sind zwei solche Szenarien zu unterscheiden. Das erste ist eine kollision: (11)
Bei einem Fehler in einer 50 bis 60 Grad steilen Rinne kommst du erst 500 Meter weiter unten wieder zum Stehen, oder du knallst an einen Felsen. (Salzburger Nachrichten, 17.11.1997)
Die Konstruktion in (11) ist direktional und dynamisch, entsprechend trägt das grund-Argument einen Felsen den Akkusativ. Demgegenüber benennt die dativische Zielkonstruktion mit ihrer statisch-lokalen Bedeutung, was mit der figur im nächsten Schritt der Ereigniskette am bezeichneten Ort geschieht: Sie erfährt infolge ihres Anpralls auf den grund eine bestimmte Zustandsveränderung. Diese Veränderung wird durch das Verb bezeichnet. Ist die figur unbelebt, kann es sich in den glimpflichsten Fällen um eine bloße Verformung handeln (12.a). Typischer sind allerdings Verben, die ein Brechen (12.b) oder Reißen (12.c) der figur bezeichnen. Sehr geläufig sind Präfigierungen mit zer-. Seiner ursprünglichen literalen Bedeutung nach gehört auch das häufigste Verb des Musters, scheitern, in diese Gruppe (laut DWb auch: zerscheitern, zu Scheiter i. S.v. ‚Trümmer‘, vgl. das Schiff geht zu Scheitern): (12)
a.
b.
c.
Hier ist der größte Autohandel des Kontinents. Väter hieven ihre Söhne hinters Lenkrad, und ein Opa vergisst beim Einsteigen vor Aufregung, den Lederhut abzusetzen. Der Hut zerknautscht an der Dachkante. (Stern, 06.11.2003) Natürlich ist die Widerstandsfähigkeit von Eierschalen begrenzt, und irgendwann haben sich auch die härtesten Eier an Wurzelwerk, Steinchen oder einem Baum einen Knacks geholt. (Berliner Zeitung, 13.04.2017) Das Motorrad rutschte unter die Leitplanke und zerriss an einem Stützpfosten in zwei Teile. (Rhein-Zeitung, 08.07.2008)
Ist die figur belebt, bezeichnet das Prädikat zumeist eine Verletzung. Ähnlich wie bei unbelebten Objekten kann es sich um eine Schädigung durch Oberflächenkontakt handeln, typischerweise auch hier in Gestalt eines Risses (sich an etwas schneiden/stechen/ritzen...), jedoch nicht notwendigerweise (sich an etwas verbren-
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nen/verbrühen/verätzen...).27 Alternativ kann der grund seine Schadwirkung auch von innen entfalten, wenn er zuvor in den Körper aufgenommen wurde (sich an etwas verschlucken/vergiften/den Magen verderben...). Als zweite Hauptgruppe neben der Verletzung steht bei belebten Referenten der figur die Erkrankung (an etwas erkranken/dahinsiechen/laborieren...).28 Hierhin gehören auch Prädikate, die eine Infektion oder Verseuchung durch Kontakt mit einem Krankheitserreger oder Überträger sonstiger Schadwirkungen bezeichnen (sich an etwas anstecken/ infizieren/kontaminieren...).29 Eng damit verbunden ist die Vorstellung eines Verderbens durch Verunreinigung, die der figur infolge eines Kontakts mit dem grund als Makel anhaftet (sich an etwas beschmutzen/die Finger schmutzig machen/die Hände besudeln...). Als gravierendster Schaden droht belebten Referenten der figur schließlich der Verlust des Lebens (an etwas sterben/verenden/eingehen...). Neben diesen auf der kollisions-Ableitung beruhenden Verwendungen gibt es noch ein zweites Quellszenario für kausale Gebräuche von an, in dem es aufgrund von Kontakt mit (oder zu großer Nähe zu) dem als Hitzequelle konzeptualisierten grund zu einem entzünden der figur kommt: (13)
a. Innerhalb von Sekunden entzündete sich das ausströmende Kältemittel an der glühenden Abgasanlage. (Süddeutsche Zeitung, 18.07.2013) b. An der Tabakglut entflammte sich die Kleidung des Regungslosen. (Oberösterreichische Nachrichten, 01.04.1997) c. Demnach entfachte sich das Feuer nicht – wie zunächst angenommen – an einem Motor der Entlüftungsanlage, sondern durch einen Kurzschluss in der Leinwandtechnik. (Rhein-Zeitung, 25.03.2014)
In metaphorischer Verwendung signalisieren solche Verben eine abstrakte Intensitätszunahme, die als sinnlich erfahrbarer Temperaturanstieg dargestellt wird. Bezeichnet werden dabei vornehmlich Situationen mit Konfliktpotential, in denen der grund den Gegenstand darstellt, an dem sich der thematisierte Konflikt entzündet oder weiter verschärft. Möglich sind solche Verwendungen auch mit Verben, für
27 Aus Platzgründen wird im Folgenden auf eine Belegillustration für jede einzelne der angeführten Bedeutungsgruppen verzichtet. In Klammern angeführte Prädikate stehen stellvertretend für semantische Klassen attestierter Füller im Deutschen Referenzkorpus DeReKo. 28 Das Verb laborieren markiert einen Übergang zum kohyponymen Kausalmuster empfindung (s. u.), dessen häufigster Füller das semantisch eng verwandte Verb leiden ist. 29 Usueller bei diesen Verben wäre eine mit-PP. Ihr (seltenes) Vorkommen in der zweistelligen an-Konstruktion ist ein Indiz für die analogische Anziehungskraft, die das Muster mit an auf semantisch kompatible Prädikate ausübt.
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die sich die genannte abstrakte Bedeutung auf Basis anderer metaphorischer Ableitungen konventionalisiert hat (sich an etwas zuspitzen/hochschaukeln/eskalieren...). Gemeinsames Merkmal aller bisher genannten Verwendungen ist die Bezeichnung eines erlittenen Schadens der figur infolge ihres Kontaktes mit dem grund. In antonymischer Relation dazu stehen Verwendungen, in denen der figur aus ihrem Kontakt mit dem grund ein bestimmter Nutzen erwächst. Auch hier gibt es wieder bestimmte Untergruppen: Eine erste bilden Prädikate, die die Erfüllung bestimmter körperlicher Grundbedürfnisse bezeichnen (sich an etwas wärmen/ erfrischen/erquicken...), insbesondere mit Bezug auf die Nahrungsaufnahme (sich an etwas stärken/sättigen/gütlich tun; seinen Durst an etwas stillen).30 Andere Verben bezeichnen einen Konsum zu Genusszwecken (sich an etwas laben/berauschen/betrinken...) oder Gewinn an körperlichem Wohlbefinden (an etwas genesen/ gesunden/erstarken...). Weiter verallgemeinert kann es auch um die Erzielung von Besitzvorteilen gehen (sich an etwas bereichern/bedienen/die Taschen füllen, an etwas verdienen/profitieren/gewinnen...). Eine metonymische Verschiebung sowohl gegenüber Instanzen des Typs „Schaden“ als auch solchen des Typs „Nutzen“ stellen Belege mit Prädikaten dar, die eine bestimmte durch den grund ausgelöste Empfindung der figur bezeichnen. Im Zentrum dieser Ableitung stehen Verben, die einen (häufig sexuellen) Lustgewinn bezeichnen (sich an etwas aufgeilen/erregen/weiden...). Daneben findet sich die PP mit an zwar auch bei Prädikaten, die sublimiertere Formen des Lustempfindens bezeichnen, konkurriert dort jedoch stärker mit anderen Präpositionen (sich an etwas erbauen/erfreuen/entzücken...). Wieder sind auch antonymische Extensionen belegt, die dann auf den Quell eines Unlustempfindens verweisen (sich an etwas stoßen/stören/ekeln...; an etwas leiden/verzagen/verzweifeln...). Möglich sind auch Verwendungen mit Verben, die allein auf eine Zunahme psychischer Agitation an sich verweisen (sich an etwas hochziehen/erregen/ereifern...). Gerade unter den semantisch weiter abgeleiteten Verwendungen ist auffällig, dass die an-PP in vielen Verwendungen entweder bei veraltenden oder in Wörterbüchern als „gehoben“ gekennzeichneten Verben steht (sich an etwas delektieren/ergötzen/erquicken...) oder einer häufigeren präpositionalen Konkurrenzform gegenübersteht (sich an/vor etwas ekeln, sich an/über etwas freuen, sich an/mit etwas berauschen...). Vermutlich sind solche Gebräuche gegenwärtig also gerade nicht im Prozess einer Ausbreitung und zunehmenden Schematisierung, sondern im Gegenteil bereits im Abbau begriffen. Das (wie auch die Frage, ob die 30 Das Muster ist damit eine deutsche Teilentsprechung der von Goldberg (2014) als „Rely on construction“ bezeichneten englischen PO-Konstruktion mit on, deren Bedeutung sie mit der Relation „gain sustenance from“ paraphrasiert. Für andere deutsche Teilentsprechungen dieser Konstruktion mit PO-auf vgl. Rostila (2018b).
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oben skizzierte Ableitung der unterschiedenen Bedeutungsfelder sich tatsächlich auch historisch ähnlich zugetragen hat), ließe sich empirisch natürlich nur mit einer geeigneten diachronen Überprüfung klären. Für die hier behandelte Frage, ob sich das synchron attestierte Gebrauchsspektrum solcher Ausdrücke überhaupt irgendwie motivieren und auf bestimmte auch aktuell noch aktive/ produktive Bedeutungskerne zurückführen lässt (wovon zumindest im Fall des Teilmusters „Schaden“ auszugehen ist), ist die genaue historische Konventionalisierungsfolge einzelner Gebräuche aber nicht entscheidend. Zusammengefasst hat die kausale Verwendung von an drei miteinander verbundene semantische Gebrauchsmuster ausgebildet, die man als zusammengehörige Familie von Ausdrücken beschreiben kann, in denen das Prädikat eine bestimmte Folge des konkreten oder metaphorischen Kontakts der figur mit dem grund benennt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum ✶an einem Herzschlag ins Krankenhaus kommen keine akzeptable Instanz des Musters ist: das Prädikatsgefüge ins Krankenhaus kommen kann nicht als Bezeichnung eines erlittenen Schadens, eines gewonnenen Nutzens oder einer ausgelösten Empfindung verstanden werden, der bzw. die durch Kontakt mit dem grund entsteht. Die Erwartung, dass auch dieser Ausdruck akzeptabel sein sollte, basiert auf der Prämisse, dass Kausalkonstruktionen mit an ein ursächliches Verhältnis zwischen beliebigen Ereignissen bezeichnen können sollten. Diese Annahme ist unzutreffend, und auch unnötig: Wie bei den meisten anderen PO-Konstruktionen sind kausale Konstruktionen mit an von einer vollständigen Generalisierung der in ihnen angelegten Bedeutungsmerkmale weit entfernt. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die Restriktionen, denen ihr Gebrauch unterliegt, nicht prinzipiell explizierbar wären. Dafür ist jedoch eine detailliertere Charakterisierung nötig, als sie durch eine abstrakte semantische Rolle wie „GRUND“31 (oder nochmals abstrakter: „AFFIZIERT“) allein geleistet werden kann. Es ist meines Erachtens auch nicht überzeugend, entsprechende Bildbarkeitsbeschränkungen unanalysiert „in die Pragmatik“ einer Konstruktion auszulagern. Sicher ist in der Frage, wie weit individuelle Sprecher eine Konstruktion generalisiert haben (und sie auch aktiv einzusetzen bereit sind) mit zuweilen deutlichen Schwankungen zu rechnen. Es gibt aber keine Evidenz, dass sich die Bereitschaft, bestimmte Instanzen einer Konstruktion als akzeptabel zu erachten, allein daran orientiert, ob solche Bildungen prinzipiell interpretierbar wären („solange solche Kombinationen für den Hörer nur nachvollziehbar sind“, Rostila 2007: 179). Im
31 Gemeint ist hier die kausale semantische Rolle, die Rostila (2007) als „GRUND“ bezeichnet, nicht die im vorliegenden Ansatz als Gegenbegriff zu „FIGUR“ verwendete präpositionale Perspektivrolle „GRUND“.
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Gegenteil sorgt die „idiomatische Prägung“ (Feilke 1998) der Sprache typischerweise für eine recht enge Orientierung an bereits bekannten und durch wiederkehrenden Gebrauch befestigten Instanzen einer Konstruktion. Um die tatsächlich anzutreffenden Gebrauchsbedingungen von Konstruktionen wie den hier beschriebenen mit an abzubilden, muss sich eine gebrauchsbezogene Beschreibung daher auch auf das je benötigte Ausmaß an Detail einlassen.
3.2 Form Die in der Einleitung in (1) illustrierten Realisierungen sind nur eine kleine Auswahl der formalen Varianten, in denen Ausdrücke mit kausalem an auftreten können. Ihr Prädikatsausdruck kann medial (sich an etwas verschlucken) oder nicht-medial sein (an etwas ersticken). Er kann aktivisch (an etwas profitieren), passivisch (es wird sich an etwas bereichert) oder auch anderweitig konvers realisiert sein (an etwas ist nichts zu verdienen). Wie weiter unten in diesem Abschnitt diskutiert wird, kann das Prädikat bei Eintritt in die Konstruktion zudem auch schon komplementiert sein (sich an etwas eine Verletzung zuziehen). Anzahl und Markierung der realisierten Argumente können auch in Abhängigkeit von weiteren Konstruktionen variieren, die mit der an-Argumentstrukturkonstruktion interagieren (die BahnreformAKK an Erbsenzählerei scheitern lassen). Wie kann diese Variabilität in der konstruktionellen Formspezifikation berücksichtigt werden? Werden Nominalisierungen einstweilen außer Acht gelassen und nur verbale Konstruktionen betrachtet, bestehen die hier betrachteten Konstruktionen generell aus einer schematischen Prädikatsposition und Positionen für die zugehörigen Argumente. Für PO-Konstruktionen ist mit Rostila (2007) zunächst festzuhalten, dass nur eines dieser Argumente konkret formal spezifiziert ist: das PO, und zwar für seine Kopfpräposition und den von ihr regierten Kasus. Auch in den strukturell einfachsten Varianten solcher Konstruktionen muss die Markierung keiner einzigen weiteren Argumentposition festliegen (vgl. jemand fürchtet sich vor etwas, jemanden schaudert es vor etwas, jemandem graust vor etwas).32 Bedeutungsseitig gibt es von diesen Argumentpositionen bei allen präpositionalen Konstruktionen mindestens
32 Die Bindung zwischen Prädikat und Kasus des ersten Arguments besteht hier unabhängig davon, ob mit der PO-Konstruktion noch ein zweites Argument hinzutritt oder nicht. Aus valenzieller Perspektive würde man sagen, dass der Kasus des ersten Arguments vom Verb abhängt. Aus konstruktionistischer Perspektive würde man drei verschiedene Argumentstrukturkonstruktionen mit je spezifischen Prädikatsrestriktionen ansetzen, mit denen das schematische vor-Muster in den genannten Beispielen kombiniert wird. Abbilden lässt sich die Bindung zwischen Prädikat und nominativischer, akkusativischer oder dativischer Argumentstrukturkonstruktion auf beiderlei Wegen.
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zwei (figur-grund), viele haben aber auch dreistellige Varianten (auslöser-figur-grund). Das gilt für direktive Konstruktionen (der Ball donnert an die Latte – er donnert den Ball an die Latte) genau wie für die hier besprochenen Ausdrücke: (14)
a. Es scheppert und rappelt und klirrt. Töpfe, Teller und TassenFIGUR zerdeppern an der WandGRUND, der Boden ist übersät mit winzigen Steinchen, und zwischendurch schwafeln Männer dummes Zeug. (Aar-Bote, 21.01.2003) b. Früher hätten die Seebären von der WaterkantAUSLÖSER jedem Wind und Wetter getrotzt, bei der Taufe die SektflascheFIGUR mit den Zähnen entkorkt, in einem Zug entleert und dann am QuadratschädelGRUND zerdeppert. (die tageszeitung, 05.12.2013)
Was die Argumentanzahl des Musters betrifft, wird also sowohl ein zweistelliges als auch ein dreistelliges Konstruktionsschema benötigt. Wie sowohl die Argumente als auch der Prädikatsausdruck dieser Konstruktionen grammatisch markiert werden, hängt von weiteren Konstruktionen ab. Beispielsweise erscheint die figur in (15) zwar wie in (14.a) im Nominativ, der Prädikatsausdruck jedoch in anderer Form: (15)
Rund um das Denkmal lagen Glassplitter. Man kann davon ausgehen, dass BierflaschenFIGUR an dem DenkmalGRUND zerdeppert wurden. (Rhein-Zeitung, 14.10.2009)
Da man die Passivkonstruktion in (15) auch unabhängig von der spezifischen Konstruktion mit an benötigt, ist es sinnvoll, hier von einem Zusammenwirken verschiedener Konstruktionen zu sprechen. Welke (2019) verwendet dafür den Begriff der „Überblendung“. In diesem Sinne wäre etwa (15) die Überblendung einer einstelligen werden-Passivkonstruktion mit der zweistelligen an-Konstruktion, die das PO in den Satz in (15) einbringt. In (16) dagegen liegt die dreistellige anKonstruktion vor, die hier aber ihre gegenüber (14.b) abweichende Markierung von figur und auslöser aus dem „erweiterten Passiv“ (Weinrich 2005: 166) bezieht, mit dem sie überblendet wird: (16) Am DenkmalGRUND waren BierflaschenFIGUR von jemandemAUSLÖSER zerdeppert worden.33
33 Signifikativ-semantisch wären sowohl die „figur“- als auch die „auslöser“-Rolle in der Passivkonstruktion in (16) von ihren anders perspektivierten Pendants in der Aktivkonstruktion (14.b)
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So verstanden impliziert Überblendung nicht zwingend Stelligkeitserhöhung, sondern kann auch so gesehen werden, dass eine zwischen zwei Konstruktionen geteilte Strukturposition, die in Konstruktion A formal unterspezifiziert ist, ihre formale Markierung von Konstruktion B empfängt. Ob die dreistellige Konstruktion mit an für die ausdruckseitige Markierung der Argumente figur und auslöser unterspezifiziert gelassen wird (im Sinne von Rostila 2007) oder ob die verschiedenen Interaktionen mit unabhängig benötigten weiteren Argumentstrukturkonstruktionen bereits ausbuchstabiert aufgelistet werden (im Sinne von Höllein 2019), läuft letztlich auf dasselbe hinaus. Wie die Passivbelege illustrieren, ist auch die Prädikatsposition der beiden PO-Konstruktionen mit an schematisch. Variabel ist dabei jedoch nicht nur die morphologische Realisierung des Prädikatskerns selbst, sondern auch, projektionistisch gesprochen, seine Projektionsstufe. Kann ein gegebener Prädikatskern die semantischen Restriktionen der konstruktionellen Prädikatsposition nur in Verbindung mit einem bestimmten Komplement ausfüllen, so kann (bzw. muss) er dieses Komplement auch in die Prädikatsposition des Musters mit einbringen: (17)
a. Mit 2266 Euro Beute machte sich der Einbrecher aus dem Staub – hinterließ aber Spuren: Er hatte sich an einer Glastür geschnitten. (Krone, 09.05.2003)
zu unterscheiden und auch entsprechend anders zu bezeichnen. Eine solche Differenzierung wird hier nicht vorgenommen. Kerngedanke des hier gewählten Rollenansatzes ist, weder mit traditionellen (denotativ-semantischen) Rollen wie „ursache“ oder „patiens“ noch mit muster- bzw. framespezifischen Rollen wie „schadensquelle“ und „geschädigter“ zu operieren. Stattdessen wird mit den musterübergreifenden Perspektivrollen figur und grund eine einheitliche, generalisierte Bezeichnung für die Relationspartner aller in der Musterbank beschriebenen Präpositionalrelationen verwendet, deren jeweilige semantische Spezifik durch die zwischen ihnen bestehende Beziehung zum Ausdruck gebracht wird (wie etwa in der Paraphrase ‚Der grund bewirkt einen Schaden bei der figur‘). Welches Element einer gegebenen Relation der grund ist, wird sprachlich angezeigt: es ist das Argument in der PP, das in der Literatur zur Präpositionalsemantik ansonsten auch als „Referenzobjekt“ oder als „Landmark“ bezeichnet wird (vgl. etwa Kiss et al. 2016). Die in Relation zum grund gesetzte figur dagegen kann, ähnlich wie in Rostilas Ansatz, unterschiedlichen formalen Ausdruck haben und hängt somit nicht an einer bestimmten sprachlichen Form. Sie wird semantisch identifiziert als dasjenige Element, das innerhalb des versprachlichten Szenarios in der musterspezifischen Relation zum grund steht (unabhängig davon, ob diese Relation nun beispielsweise aktivisch perspektiviert wird mit der figur als Akkusativobjekt oder passivisch mit der figur als Subjekt). Die so identifizierten Muster sind insofern sowohl formal (qua Stelligkeit, präpositionalem Argumentmarker und von ihm regierten Kasus) als auch semantisch bestimmt und können durch Kombinationen mit unterschiedlichen anderen Konstruktionen (wie etwa Transitiv-Aktiv vs. erweitertes werden-Passiv) formal variabel instanziiert werden.
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b. Eine Frau zog sich an einer Glastür Schnittwunden zu, als sie diese eintrat. (Rhein-Zeitung, 04.11.2003) c. ✶Eine Frau zog sich an einer Glastür zu, als sie diese eintrat. Die Ausdrücke sich schneiden und sich Schnittwunden zuziehen sind weitgehend synonym und können entsprechend beide in dem Muster auftreten. Während sich schneiden eine atomare lexikalische Einheit ist, ist sich Schnittwunden zuziehen jedoch ein kompositionell gebildetes Syntagma bestehend aus dem DativMedialverb sich zuziehen und einem lexikalisch variablen Akkusativobjekt.34 Aus Sicht der kausalen an-Konstruktion ist dieses Akkusativobjekt allerdings kein Argument: Es ist weder figur, noch grund oder auslöser der bezeichneten an-Relation, sondern Teil des Ausdrucks, der ihre Prädikatsposition besetzt. Valenziell betrachtet ist das Objekt eine obligatorische Ergänzung von sich zuziehen (vgl. (17.c)). Konstruktionistisch betrachtet ist es Bestandteil einer transitiven Konstruktion, mit der sich zuziehen fusioniert, und dieser fusionierte Prädikatsausdruck tritt seinerseits dann in die Konstruktion mit an ein (wird mit ihr überblendet). Zusammengefasst lautet der Vorschlag also, für präpositionale Muster wie das hier diskutierte mit kausalem an je nach der Stelligkeit der symbolisierten Szenarien entweder eine rein zweistellige Konstruktion, eine rein dreistellige Konstruktion oder aber einen Verbund aus einer zwei- und einer dreistelligen Konstruktionsvariante anzusetzen. Die parallele Existenz zwei- und dreistelliger Konstruktionsvarianten entspricht den Verhältnissen bei lokal-direktionalen Argumentstrukturkonstruktionen (Lokalkonstruktionen und „Direktiva“), aus denen sich die abstrakteren PO-Konstruktionen entwickelt haben.35 Ich folge Rostila (2007) in der Annahme, dass 34 Kubczak (1999: 144) bezeichnet den parallelen Fall sich eine Verletzung zuziehen als „Funktionsverbgefüge“, was eine Klassifikation als lexikalisiertes (und damit wieder einstelliges) Gefüge und nicht als kompositionell gebildeter Prädikatsausdruck impliziert. Gemäß der in Storrer (2006) vorgeschlagenen Tests für Nominalisierungsverbgefüge handelt es sich jedoch nicht um ein solches Gefüge, sondern um eine kompositionelle Verbindung des regulär reihenbildenden Prädikats sich zuziehen mit einem Akkusativobjekt: Das Objekt ist erfragbar (Was hat sie sich zugezogen?), pronominalisierbar (Die Verletzung war schwer. Sie hatte sie sich an einer Glastür zugezogen), lässt freie Artikelwahl zu (Sie hat sich eine Verletzung/die Verletzung/Verletzungen an einer Glastür zugezogen), lässt eine Negation der Prädikation mit kein zu (Sie hat sich keine Verletzung zugezogen) und ist attributiv modifizierbar (Sie hat sich eine schwere Verletzung zugezogen). Das Ergebnis aller Tests spricht gegen ein Nominalisierungsverbgefüge. 35 In konstruktioneller Begrifflichkeit spricht Goldberg (1995) von der „intransitive motion construction“ und der „caused motion construction“. Eine identische Konstellation finden sich auch bei Prädikativkonstruktionen, wo von einer „intransitive resultative construction“ und einer „transitive resultative construction“ gesprochen wird, die gemeinsam eine „Konstruktionsfamilie“ bilden (Goldberg & Jackendoff 2004). Die Rede von der gemeinsamen „Familie“ und die geteilte Bezeichnung als „motion construction“ und „resultative construction“ zeigt, dass die als separate
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die Argumentpositionen dieser Konstruktionen semantisch angelegt sind, formseits jedoch jeweils nur das grund-Argument konkret spezifiziert ist. Diese Spezifikation ist die Kombination der argumentmarkierenden Präposition als syntaktischem Kopf der PP mit dem von ihr regierten Kasus ihres lexikalischen Kerns. Gemeinsam mit der/den weiteren schematischen Argumentposition(en) sowie der schematischen Prädikatsposition der Konstruktion bilden diese Spezifikationen das formale Gerüst, an das die Bedeutung der jeweiligen Argumentstrukturkonstruktion gebunden ist. Die Existenz teilweise paralleler verbaler (sich an etwas bereichern), substantivischer (der Reichtum an etwas) und adjektivischer Konstruktionen (reich an etwas) eines bestimmten semantischen Typs deutet ein weiteres (ebenfalls bereits von Rostila betontes) Potenzial für integrierte Beschreibungsansätze an, in denen auch der kategoriale Typ des Prädikatsausdrucks, zu dem die PP tritt, schematisch gelassen wird. Darauf kann an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden.
4 Implikationen Damit zurück zur Ausgangsfrage, welche Implikationen konstruktionsgrammatische Analysen wie die hier vorgestellten für die Unterscheidung von Argumenten und Modifikatoren haben und wie sich die Ergänzungsforderungen von Verben und Konstruktionen zueinander verhalten. Wird Argumentstruktur weder rein valenziell noch rein konstruktionell beschrieben, sondern eine Integration beider Ansätze angestrebt, impliziert das zunächst einmal eine Verdopplung von Argumentstruktur: Konkrete Sätze sind dann immer auf zwei Prädikat-Argumentstrukturen gleichzeitig zu beziehen, nämlich einerseits die lexikalische Argumentstruktur des verbalen Prädikatskerns, und andererseits die konstruktionelle Argumentstruktur der schematischen Argumentstrukturkonstruktion, in die das lexikalische Prädikat im vorliegenden Satz eingesetzt wird (ist der Prädikatsausdruck bereits seinerseits kompositionell erweitert, kommt noch eine weitere Überblendungsebene hinzu). Kern dieser Argumentstrukturen ist jeweils ein Prädikat: einerseits ein lexikalisches, durch ein konkretes Lexem symbolisiertes, andererseits ein konstruktionelles, durch ein abstraktes Schema symbolisiertes. Je nachdem, wie sehr und in welcher Weise sich diese Prädikate semantisch ähneln, kann es zu unterschiedlichen Konstellationen von Übereinstimmung und Abweichung bezüglich Art und Anzahl der beteiligten Argumente kommen. Wie in der
Konstruktionen behandelten Strukturen auf höherer Ebene wiederum als Angehörige derselben Kategorie (in der hier gewählten Terminologie: desselben Argumentstrukturmusters) betrachtet werden.
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Einleitung erwähnt lassen sich vier verschiedene Konstellationen unterscheiden, die im Folgenden der Reihe nach illustriert werden. Der erste und einfachste Fall ist eine (quasi-)vollständige Entsprechung von Verb- und Konstruktionsbedeutung. Goldberg (1995) postuliert ein solches Verhältnis etwa für die englische Ditransitivkonstruktion und ihren prototypischen Füller give sowie für die englische „caused motion construction“ und ihren prototypischen Füller put. In solchen Fällen bestehen keine Abweichungen: Argumente des Verbs sind auch Argumente der Konstruktion, und andersherum genauso. Möglich ist das allerdings nur bei Konstruktionen, die eine (synonymische oder hyponymische) „Instanz“-Relation der Verb- zur Konstruktionsbedeutung zulassen. Trifft das auf die hier diskutierten Konstruktionen mit an zu? Gemäß der Analyse in Abschnitt 3.1 bezeichnen sie die Bewirkung eines Schadens, eines Nutzens oder einer bestimmten Empfindung der figur durch den grund. Das eingesetzte Verb spezifiziert zwar jeweils die genaue Art des eintretenden Schaden-/ Nutzen-/Empfinden-Ereignisses (also einen Teil der Konstruktionsbedeutung), impliziert aber nicht notwendigerweise auch immer dessen externe Bewirkung durch einen weiteren Beteiligten. Wie in Abschnitt 2.1 gezeigt, ist aber zumindest bei einigen Füllern (wie etwa sich an etwas weiden) der Quell des bezeichneten Ereignisses auch lexikalisch als obligatorische Ergänzung zu betrachten, sodass die Argumente von Verb und (Type-)Konstruktion hier wie in der von Goldberg geschilderten Konstellation zusammenfallen. Daneben können lexikalische und konstruktionelle Argumentstruktur aber auch in unterschiedlicher Weise voneinander abweichen. Viel diskutiert ist der zweite Fall, in dem die Konstruktion eine komplexere Argumentstruktur besitzt als das Verb, das sie instanziiert. Die Konstruktion stellt dem lexikalischen Prädikatsausdruck dann Argumente zur Seite, die er nicht projiziert. Im vorliegenden Fall trifft das etwa auf Ausdrücke wie sich an etwas krank essen sowie das in Abschnitt 2.1 diskutierte sich an etwas verletzen zu. Solche Konstellationen stehen im Zentrum des valenztheoretischen Interesses an der Konstruktionsgrammatik und sind im Zusammenhang mit dem Begriff der „Koerzion“ bereits ausführlich diskutiert worden (vgl. etwa Welke 2019, Kap. 5). In Abschnitt 3.2 wurde darauf hingewiesen, dass auch der umgekehrte, dritte Fall existiert: Ein Valenzträger bringt ein lexikalisches Argument in eine PO-Tokenkonstruktion ein, das von der instanziierten PO-Typekonstruktion nicht explizit gefordert wird. Während das bezeichnete Element für das lexikalische Prädikatsszenario sachverhaltskonstitutiv ist und daher Argumentstatus besitzt, kommt ihm im Rahmen des konstruktionell symbolisierten Szenarios kein solcher Rang zu. Beispiele sind die Akkusativobjekte in Ausdrücken wie sich Schnittwunden an etwas zuziehen oder eine Provision an etwas verdienen. Wie in Abschnitt 3.2 ausgeführt, werden diese lexikalischen Argumente nicht mit einer Argumentrolle
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der PO-Konstruktion fusioniert, sondern bilden gemeinsam mit dem lexikalischen Prädikatskern ein komplementiertes Prädikat, das die schematische Prädikatsposition der Konstruktion instanziiert. Wie der Vergleich von verdienen und sich zuziehen zeigt, kann das zusätzliche Argument valenziell betrachtet fakultativ oder auch obligatorisch sein, in jedem Fall aber ist es lexikalisch selegiert. Aus Sicht der Konstruktion, die lediglich semantische Anforderungen an ihren Prädikatsausdruck stellt, ist diese Unterscheidung unerheblich. Viertens ist auch möglich, dass Phrasen weder im Rahmen des lexikalischen, noch im Rahmen des konstruktionell evozierten Szenarios Argumentstatus besitzen – und trotzdem interpretationsnotwendig sind. Auch hierfür ist der Ausdruck sich an etwas krank essen ein Beispiel. Gemäß der Analyse in Abschnitt 3.2 handelt es sich dabei um die Überblendung einer Resultativkonstruktion (sich krank essen) mit der zweistelligen kausalen an-Konstruktion im Rahmen des Musters „Schaden“. Der zugrundeliegende lexikalische Prädikatskern essen ist für sich genommen nicht kompatibel mit dieser Konstruktion, sondern erst sein Ausbau zu einem geeigneten Zustandswechselprädikat. Obwohl die Prädikativkonstruktion hier also semantisch notwendig ist, sind ihre Bestandteile (d. h. das Akkusativpronomen und das Subjektsprädikativ) weder Argumente des Verbs essen noch der überblendenden an-Konstruktion. Ágel (2017) spricht in solchen Fällen von „Prädikatsdynamik“. Ähnliche Effekte lassen sich nicht nur bei Überblendungen verschiedener Argumentstrukturkonstruktionen beobachten, sondern auch bei Kombinationen von Argument- und Modifikatorkonstruktionen. Obwohl Modifikatoren in der Regel frei hinzufüg- und auch weglassbar sind, gibt es auch Fälle, in denen erst die Hinzufügung eines Modifikators die reguläre Interpretierbarkeit einer gegebenen Argumentstrukturkonstruktion sicherstellt – vgl. etwa (18): (18)
Und dann gibt es noch diejenigen, die vor lauter Hunger ihre InstantNudelsuppen schon mal trocken mit den Fingern essen. (Hamburger Morgenpost, 10.12.2005)
Die kausale PO-Konstruktion mit vor in (18) drückt eine intensivierte Eigenschaftszuschreibung aus (Zeschel 2011). Die Relation von Konstruktions- und Verbbedeutung in diesem Muster ist konsekutiv: Die durch die Konstruktion zugeschriebene Eigenschaftsausprägung ist so außerordentlich, dass sie an dem durch das Verb bezeichneten Ereignis erkennbar wird. Wie im Beispiel sich an etwas krank essen in (1.c) ist das Verb essen allein (bzw. das komplementierte Prädikat ihre Instant-Nudelsuppen essen) aber nicht geeignet, um die Prädikatsposition der Tokenkonstruktion in (18) auszufüllen (?die Instantsuppe vor lauter Hunger
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essen).36 Erst die Hinzufügung der Modifikatoren trocken und mit den Fingern (bzw. zumindest eines der beiden Elemente) stellt die erforderliche semantische Passung her. Die beiden zuletzt genannten Beispiele zeigen, dass auch holistische Konstruktionsschemata, deren konstitutive Argumentpositionen nicht mehr „ergänzt“ werden müssen, sondern bereits strukturell vorgezeichnet festliegen, ergänzungsbedürftig sein können: Und zwar bezüglich ihres Prädikatsausdrucks. Ergänzungsbedürftig ist damit nicht eigentlich die Konstruktion selbst, sondern ein gegebenes instanziierendes Prädikat. Die Beispiele in (17.b) und (18) illustrieren, das ein solcher Bedarf entweder lexikalisch oder konstruktionell bedingt sein kann: Entweder verlangt das Verb die Realisierung eines bestimmten Arguments, ohne das die lexikalisch bezeichnete Szene nicht aufgerufen werden kann (vgl. sich Schnittwunden zuziehen), oder die Konstruktion verlangt eine bestimmte Modifikation (vgl. die Instant-Suppe trocken essen) oder Überblendung mit einer anderen Argumentstrukturkonstruktion (vgl. sich krank essen), um einem ansonsten inkompatiblen Verb den Weg in ihre Prädikatsposition zu ebnen. In allen genannten Fällen kommen Elemente ins Spiel, die nicht einfach zwischen verbaler und konstruktioneller Argumentstruktur abgeglichen und dann mit einer konstruktionellen Argumentrolle fusioniert werden. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Prädikatsposition der untersuchten Konstruktionen formseitig nicht angemessen mit der Kategorie „V“ zu repräsentieren ist (wie etwa in Goldberg 1995). Neben einfachen Vollverben, medialen Verben und verschiedenen Arten von Prädikatsgefügen („semantisch einfache Prädikate mit komplexem Ausdruck“ im Sinne der IDS-Grammatik, Zifonun et al. 1997: 701) muss diese Position auch bereits komplementierte Prädikate verschiedener lexikalischer Projektionsstufen aufnehmen können, um Überblendungsphänomene wie die oben beschriebenen abbilden zu können. Des Weiteren muss in einem solchen Rahmen bei der Rede von „Argumenten“ und „Modifikatoren“ deutlich gemacht werden, auf welchen Bezugspunkt sich die Einordnung bezieht: das lexikalische oder das konstruktionelle Prädikat der jeweiligen Tokenkonstruktion. Deren Argumentstrukturen können identisch sein, müssen das aber nicht. Ein Satzglied kann Argument einer Konstruktion sein, ohne gleichzeitig Argument des Verbs zu sein, das diese Konstruktion instanziiert. Ebenso kann ein Satzglied aber auch Argument des Verbs sein, ohne gleichzeitig Argument der Konstruktion zu sein, in die dieses Verb als bereits komplementiertes Prädikat eintritt. Werden in konstruktionsba36 Der Ausdruck ist akzeptabler, wenn man Instant-Suppen auch in zubereitetem Zustand als etwas betrachtet, das nicht oder nur in Ausnahmesituationen (wie eben außerordentlich großem Hunger) essbar ist. Bei einer solchen Interpretation würde bereits das Akkusativobjekt allein die semantische Passigkeit von essen herstellen.
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sierten Darstellungen die Begriffe „Argument“ und „Modifikator“ weiterhin nur zur Bezeichnung von Ergänzungen und Angaben zum Verb verwendet, greift das mithin zu kurz.
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Argumente, Modifikatoren und „Ergänzungsbedürftigkeit“
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Dagobert Höllein
Überlegungen zu Konstruktion und Grundvalenz 1 Einleitung Die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik ist bislang auf die Modellierung des sprachlich Exzeptionellen ausgerichtet und nicht auf die Modellierung prototypischer Realisierungen. Dieser grammatiktheoretisch neue Fokus hat zum großen Erfolg der Konstruktionsgrammatik in den letzten Jahrzehnten maßgeblich beigetragen. (1)
Mercedes hat einen Pkw gebaut. (Z20/JAN.00328 Die ZEIT, 16.01.2020, S. 61)
Bereits Goldberg (1995: 51) erwähnt jedoch, dass nicht die produktiven und/oder exzeptionellen, sondern Realisierungen wie (1) im Bereich der Argumentstrukturkonstruktionen der Normalfall sind. Goldberg spricht präzise nicht von Prototypen, sondern äußert: The typical case is one in which the participant roles associated with the verb can be put in a one-to-one correspondence with the argument roles associated with the construction. (Goldberg 1995: 51)
Goldberg referiert mit typical case auf ihr Fusionskonzept, nach dem die Partizipantenrollen des Verbs mit den Argumentrollen der Argumentstrukturkonstruktion „can be put in a one-to-one correspondence“ (ebd.), d. h. fusioniert werden. Wie bereits vielfach kritisiert, bleibt jedoch die konstruktionsgrammatische Erklärung, was unter associated zu verstehen ist, nicht nur bei Goldberg, sondern in der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik allgemein unklar (vgl. Trijp van 2015: 623; Höllein 2019: 41). Da die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik zu einem der beherrschenden syntaxtheoretischen Paradigmen in der Linguistik geworden ist, wird es jedoch zur Pflicht, auch prototypische Strukturen erklären zu können, die die empirische Mehrzahl der Daten ausmachen. Dieser Aufsatz stellt deshalb Realisierungen wie (1) ins Zentrum. Zur Beschreibung wird das im Rahmen der Valenztheorie entwickelte Konzept der Grundvalenz einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen und geprüft, inwiefern es zur Beschreibung von Konstruktionen und insbesondere Argumentstrukturkonstruktionen nutzbar ist. Die Grundvalenztheorie hat zuletzt mit Welke (2019) in konstruktionsgrammatischem und mit Ágel (2017) in valenztheoretischem Rahmen https://doi.org/10.1515/9783111334042-004
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wieder verstärkt Erwähnung gefunden. Sie harrt jedoch weiterhin einer konkreten theoretischen Ausgestaltung, zu der hier Überlegungen angestellt werden. Neben der theoretischen steht dabei die empirische Anwendung im Fokus. Der Aufsatz ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden die theoretischen Vorarbeiten, die im Rahmen der Valenztheorie publiziert worden sind, gesammelt und der Forschungsstand diskutiert. Aufbauend auf dieser Synopse werden Probleme der Grundvalenztheorie auf Lösungen hin diskutiert. Anschließend wird eine Übertragung der Grundvalenztheorie auf die Konstruktionsgrammatik an exemplarischen empirischen Anwendungen demonstriert.
2 Grundidee und Forschungsstand Terminus und Theorie der Grundvalenz sind in den 70er Jahren von einer Gruppe deutscher und finnischer Linguisten entwickelt worden. Ausgangspunkt waren Belege, die valenztheoretisch insofern problematisch waren, als in ihnen ‚erwartbare‘ Valenzen wie in Satz (2) nicht realisiert werden oder nicht erwartbare Valenzen wie in Satz (3) realisiert werden. Belege also, die auch konstruktionsgrammatisch interessant sind. (2)
Emil kauft gern. (Welke 1988b: 58)
(3)
Wittgenstein baute seiner Schwester ein Haus in die Kundmanngasse. (Welke 2011: 234)
So wäre in Beispiel (2) ein Akkusativobjekt erwartbar, das aber nicht realisiert ist. In Beispiel (3) sind dagegen sowohl die Realisierung des Dativobjekts seiner Schwester als auch des Direktivums in die Kundmanngasse nicht unbedingt erwartbar, die Elemente sind aber realisiert. Es ist die Kernidee der Grundvalenztheorie, diese Intuition der Erwartbarkeit bzw. Nichterwartbarkeit einer Valenzrealisierung in der Umgebung eines Verbs theoretisch zu fassen. In Beispiel (2) ist die Valenz gegenüber der Grundvalenz also reduziert, in Beispiel (3) dagegen die Valenz gegenüber der erwartbaren Grundvalenz erweitert. Die Theorie ermöglicht, für Verben eine „mittlere Ebene“ (Welke 2019: 206) der Valenz – ihre Grundvalenz – zu bestimmen, und von dieser Grundvalenz gibt es Abweichungen nach unten (Valenzreduktion) wie in Beispiel (2) und nach oben (Valenzerweiterung) wie in Beispiel (3). Begründer der Grundvalenzidee ist Ehnert (1974), der aus praktischen Überlegungen zu einer ersten Grundvalenzidee kommt, als er für „die häufigsten deutschen
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Verben“ (Ehnert 1974: 1) die typischen Valenzen sucht. Diese typischen Valenzen beschreibt er in der Einleitung seines Werks erstmals als Grundvalenz, wobei Grund noch in Anführungszeichen steht. Ehnert skizziert seine Theorie lediglich auf einer halben Seite. Deutlich wird jedoch bereits, dass er die Grundvalenztheorie quantitativ-empirisch denkt: „Als ‚Grund‘valenz ist die am häufigsten auftretende Valenz eines Verbs zu verstehen“ (Ehnert 1974: 3). Ähnlich äußert sich zuvor Große (1971: 125), der ebenfalls eine empirisch begründete Grundvalenz annimmt: Danach erscheint es uns angemessener, die Hauptbedeutung, die in der Regel auch die stärker frequentierte ist, mit ihrer Valenz als obligatorisch anzusetzen, auch wenn diese die höherwertige ist. (ebd.)
Bemerkenswert ist neben der generellen Erwähnung der Frequenz sein Zusatz: „auch wenn diese die höherwertige ist“ (ebd.). Denn das bedeutet, dass die empirische Evidenz auch dann relevant ist, wenn diese Valenzreduktionen nach sich zieht. Dieser Punkt ist angesichts des in den 1970er Jahren vorherrschenden Valenzkonzepts markant, das von strikter Obligatorik ausging und höherwertige Valenzmuster tendenziell als fakultativ bewertet hat (siehe exemplarisch Engel/ Schumacher (1976)). Da formallogisch strikte Obligatorik nicht reduzierbar ist, markiert diese Definition den Bruch mit der vorherrschenden logizistischen Valenzauffassung. (4)
Er bat ihn um Unterstützung. (Große 1971: 124)
(5)
Er bat um Geduld. (ebd.)
Für das Verb bitten geht Große konsequent von einer dreiwertigen Grundvalenz („Hauptbedeutung“ (Große 1971: 125)) wie in (4) aus, weil es die häufigste („frequentierte“ (ebd.)) Realisierung sei. In Beispiel (5) dagegen ist die Grundvalenz um das Akkusativobjekt reduziert. D. h., Große akzeptiert eher einen Widerspruch zur damals vorherrschenden Valenztheorie, als gegen die Frequenz zu urteilen. Das korpuslinguistisch-frequenzbasierte Programm von Ehnert (1974) und Große (1971) ist weitsichtig, Anfang der 1970er Jahre aber angesichts einer sich erst in den Kinderschuhen befindlichen Korpuslinguistik technisch nicht realisierbar gewesen, was zumindest Ehnert reflektiert: Dabei ist es einstweilen unumgänglich, sich auf Sprachgefühl und Erfahrung zu verlassen. Um zuverlässige Aussagen über die Grundvalenz machen zu können, müßte ein sehr umfangreiches Textcorpus analysiert werden. (Ehnert 1974: 3)
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Auch wenn Großes und Ehnerts theoretisch-methodisches Programm heute im Zeitalter großer Korpora technisch zumindest deutlich eher umsetzbar ist, mangelt es nach wie vor an hinreichend annotierten Korpora.1 Aus Ehnerts (1974) Grundvalenz-Zweifelsfällen, in denen sein Sprachgefühl nicht eindeutig ist, ergibt sich implizit eine weitere wichtige theoretische Grundannahme seiner Grundvalenztheorie: „In Zweifelsfällen wurde die niedrigere Valenz und […] ein Beispiel für die höhere, in wenigen Fällen wurden zwei Valenzmöglichkeiten angegeben.“ (Ehnert 1974: 3) Daraus folgt einerseits, dass Ehnert prototypisch von (genau) einer Grundvalenz ausgeht. Indirekt könnte man daraus aber folgern, dass Ehnert durchaus die – zumindest temporäre Existenz mehrerer Grundvalenzen annimmt oder zumindest für möglich hält. Ein zentraler Punkt, der im Abschnitt 3 aufgegriffen wird. Auch Tarvainen hat früh mit dem Konzept der Grundvalenz gearbeitet und geht davon aus, dass unter Grundvalenz „die am häufigsten auftretende Valenzkonstruktion zu verstehen ist“ (Tarvainen 1981: 34). Was Tarvainen unter dem Terminus Valenzkonstruktion versteht, kann allerdings nur indirekt aus einer Beispielanalyse rekonstruiert werden: (6) Ihr Gefühl entwickelte sich vom Mitleid zur Liebe. (Tarvainen 1981: 34) Seine Analyse des Beispiels (6) lautet: „Vom Standpunkt der Grundvalenz ist vom Mitleid wohl als Erweiterung oder Erhöhung der Valenz zu betrachten.“ (Tarvainen 1981: 34) Erstens kann aus dem Kommentarglied wohl geschlossen werden, dass selbst im konstruierten Beispiel keine Sicherheit über das Analyseergebnis besteht. Dies ist nicht als Kritik an Tarvainen zu verstehen, sondern als Indiz dafür, dass die Theorie empirisch und/oder theoretisch geschärft werden muss. Zweitens können die Beispiele Tarvainens (1981: 34–35) vorsichtig dahingehend interpretiert werden, dass für Tarvainen prototypisch nur solche Elemente zur Grundvalenz zählen, die potentiell Komplemente sind. Klassische Supplemente wie Lokaladverbiale kommen in seinen Belegen nicht vor. Korhonen (1977) beschreibt zwar Valenzerweiterungen und Reduzierungen präzise, erwähnt jedoch die Grundvalenz mit Bezug auf Ehnert (1974) nur am Rand. In einer Fußnote diskutiert Korhonen (1977: 193) allerdings den wichtigen Gedanken der Reihenfolge der Argumente, der später bei Rostila (2007: 13) und Welke (2011: 193–194) prominente Aufnahme findet. Methodisch schlägt auch Korhonen vor, die Reihenfolge der Argumente frequenzbasiert in die Grundvalenz
1 Darüber hinaus bestehen von Ehnert nicht erwähnte, aber in der Valenztheorie bekannte theoretische Hürden wie das Variantenproblem fort. Diese Probleme werden in Kap. 3 diskutiert.
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einfließen zu lassen. So verstanden wäre Grundvalenz nicht nur die prototypische Realisierung der Komplemente (Art und Zahl), sondern auch deren Reihenfolge.2 Zentrale Bedeutung erlangt die Grundvalenztheorie schließlich bei Welke (1988a: 58–74; 1988b), der sie zu einem theoretischen Kernelement seiner Valenztheorie ausbaut. Den Grundvalenzbegriff der älteren Forschung formuliert er wie folgt: „Grundvalenz ist diejenige Valenzrealisierung, die am häufigsten vorkommt.“ (Welke 1988a: 63) Welke übergeht zwar die Frage, „wie sie im Einzelnen zu ermitteln ist“ (ebd.), betont aber, dass „die Usualität durch Häufigkeitsuntersuchungen zu ermitteln […] ein schwieriges Unterfangen“ (Welke 1988a: 64) ist. Seinen Grundvalenzbegriff fasst er folgendermaßen: Die Grundvalenz repräsentiert das Wissen der Sprecher/Hörer über das übliche Argumentenpotential […]. Von dieser Grundvalenz gibt es Möglichkeiten zur Abweichung […]. Reduktionen und Erweiterungen bedeuten […] nicht, daß hier Valenzen völlig verschwinden oder dazukommen. Vielmehr handelt es sich um ein Verhältnis von zu aktualisierender Valenz einerseits und latent bleibender Valenz andererseits. (Welke 1988a: 63–64)
Eine Abweichung von der Grundvalenz führt mit Welke also nicht unmittelbar zur Änderung derselben, Welkes Definition eröffnet aber die Modellierung von Sprachwandel. Denn eine fortwährende abweichende Realisierung kann sehr wohl zur Änderung der Grundvalenz führen. Das ist auch Ágels Idee: „Die Valenzrealisierung von gestern ist die Valenzpotenz von heute.“ (Ágel 2000: 274) Insbesondere dieser Gedanke, dass Grundvalenz kein in der Zeit statisches Konzept sein kann und deshalb auch nicht so zu definieren ist, ist eine Einsicht, die aus unerfindlichen Gründen bis heute keine breite Aufnahme in die Grammatiktheorie gefunden hat.3 Schließlich muss die Grundvalenztheorie (bzw. jede Syntaxtheorie) mit Welke signifikativ-semantisch sein. Denn „es gibt keine Abbilder ohne subjektive Brechung“ (Welke 1988b: 138). Damit spricht Welke einen Spezialfall der konstruktivistischen Grundannahme an, dass einer dieser Filter/Brechungen die Einzelsprache ist und Menschen (auch deshalb) keinen unmittelbaren Zugang zur Welt haben (vgl. Glasersfeld 1996). D. h.: Wir perspektivieren mit der Einzelsprache außersprachliche Situationen als Sachverhalte in einer bestimmten Weise, die auch durch die spezifische Verfasstheit dieser Einzelsprache geprägt ist. Auf die Valenz bezogen bedeutet das: Die Grundvalenz eines Verbs ist/sind die Valenzstruktur/en, mit der/denen eine
2 Dieser Gedanke kann aufgrund der Vielzahl der möglichen Permutationen hier nicht empirisch aufgenommen werden. Die Reihenfolge der Argumente sollte aber in weiteren Studien Berücksichtigung finden. 3 Selbst wenn man einpreist, dass Sprache im Moment der Äußerung unwandelbar ist, bleibt Valenz abstrahiert von der Einzeläußerung im Kern ein historisches und also wandelbares Phänomen.
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außersprachliche Situation in einer Einzelsprache prototypisch („usuell“ (Welke 1988a: 63)) versprachlicht wird. Eine angemessene Würdigung des Grundvalenzkonzepts ist m. E. bislang aus drei Gründen unterblieben: Erstens standen dem Konzept die betonten korpuslinguistischen Hemmnisse im Weg (das Konzept war seiner Zeit um ein halbes Jahrhundert voraus). Zweitens hat die anfängliche Euphorie um die multidimensionale Valenztheorie von Jacobs (1994), die lange Zeit das Standardmodell der Valenztheorie gewesen ist, eine Beschäftigung mit der Grundvalenztheorie nachhaltig blockiert.4 Drittens nahm in den 2000er Jahren das Interesse an Valenztheorien zugunsten der Konstruktionsgrammatik vorläufig ab. Heute sind die Umstände aus ebenfalls drei Gründen günstiger: Erstens liegen die Schwächen der multidimensionalen Valenztheorie offen zu Tage. Auch sie kann die Abgrenzung von Komplementen und Supplementen nicht zufriedenstellend lösen (Fischer 2013; Höllein 2020a). Zweitens ist die multidimensionale Valenztheorie eine statische Theorie, mit der Wandel nicht modellierbar ist, da die formal strikt formulierten Valenzdimensionen nur eine synchrone invariante Testierung zulassen. Dieses formalistische statische Theoriedesign wird zunehmend (wieder) als Manko betrachtet (Ágel/Höllein 2021). Die Grundvalenztheorie ist dagegen dynamisch, bzw. leicht zu dynamisieren. Drittens – und das ist der Hauptgrund – begünstigt paradoxerweise der Status der nicht mehr strikt projektionsfeindlichen gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik als vorherrschende Syntaxtheorie die Grundvalenztheorie, wie im Folgenden deutlich wird. Nachdem die konstruktionsgrammatische Goldberg-Schule zu Anfang projektionistische Theorien wie die Valenztheorie kritisch gesehen hat (Goldberg 1995: 9–10), ist mittlerweile die Auffassung verbreiteter, für prototypische Realisierungen von Verben wie in (1) die Valenztheorie zu nutzen und für Abweichungen davon die Konstruktionsgrammatik, wie für die Beispiele (2) und (3) (Jacobs 2009; Höllein 2020b). Gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatiken versuchen implizit oder explizit weiterhin den Bereich Grundvalenz wie Goldberg (1995: 45) durch ein schlichtes Obligatorikkonzept, dessen deutlich komplexere Varianten in der Valenztheorie wegen unlösbarer Probleme als nicht hinreichend kritisiert und verworfen worden sind (Ágel 2000: 173; Helbig 1982: 72–85; Höllein 2019: 44), gepaart mit Framesemantik zu modellieren. Das ist abgesehen von den theoretischen Problemen der Obligatorik insofern nicht zielführend, als die Framesemantik neben
4 Die multimodale Grundvalenztheorie bleibt der Illusion einer absoluten Entscheidbarkeit verhaftet, was sich in Jacobs formal-logisch formulierten Valenzrelationen spiegelt. Mit der auf Prototypik ausgerichteten Grundvalenztheorie insbesondere nach Welke ist sie praktisch nicht vereinbar.
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anderen Problemen insbesondere keine Antwort auf die Frage hat, was Element eines Frames ist und was nicht (Höllein 2019: 43; 2020b: 87, 103–107).5 Dass diese Probleme in der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung nicht präsenter sind, ist mutmaßlich auch damit zu erklären, dass die empirische Umsetzung der Konstruktionsgrammatik und die konkrete Ausgestaltung des Konstruktikons auch nach mehreren Jahrzehnten konstruktionsgrammatischer Forschung nurmehr in Ansätzen vorliegen (vgl. Boas 2019; Herbst 2019). Ganz im Gegensatz zur Valenztheorie, in der durch die starke Forschung in der Valenzlexikographie schnell die Fragen nach Art und Zahl der Komplemente drängend wurden. Während die Valenzforschung zehn Jahre nach Tesnière (1976 [1959]) mit Helbig/ Schenkel (1969) das erste Valenzwörterbuch vorgelegt hat, gibt es mehr als ein Vierteljahrhundert nach Goldberg (1995) noch immer kein konstruktionsgrammatisches Lexikon oder eine empirische Ausgestaltung des Konstruktikons.6 Es sind deshalb Vorschläge für Theorien gemacht worden, die Konstruktionsgrammatik und Valenztheorie miteinander verbinden – und in diesen Verbundtheorien spielt die Grundvalenz eine zentrale Rolle (Welke 2019; 2015; 2011; Ágel 2017; Jacobs 2009; Eroms 2012; Höllein 2020b). Welke (2011) formuliert implizit bereits früh den Bruch mit dem Projektionismus der klassischen Valenztheorie: Mit dem Konzept der Grundvalenz […] verlassen wir den Boden einer projektionistischen Grammatik, nach der alles von Anfang an vorbestimmt ist, und betreten das Feld des Unbestimmten, in dem das Potentielle noch nicht bereits vor seiner Entfaltung festgelegt ist. (Welke 2011: 171)7
Anders formuliert: Durch die Loslösung von der reinen Projektion kann die Grundvalenztheorie die prototypischen Realisierungen erfassen und die Abweichungen von der Grundvalenz können über konstruktionsgrammatische Theoriekonzepte wie Koerzion modelliert werden. Das Theoriekonzept der Grundvalenz steht und fällt jedoch (weiterhin) mit der Antwort auf die Frage, wie die Grundvalenz für den
5 In diesem Sinn könnte die Framesemantik mutatis mutandis von der Grundvalenzforschung profitieren, da die Grundvalenztheorie zur Lösung eines Kernproblems der Framesemantik beitragen kann: Wo verläuft die Grenze zwischen Core-Frame-Elements und Non-Core-Elements (siehe Abschnitt 3.4). 6 Vorstudien zur Konstruktikographie liegen unter anderem mit Boas (2019) und zum Konstruktikon mit Ziem (2014) vor. 7 Anders formuliert muss das Potentielle in einer solchen Theorie nicht vorhergesagt werden. Das ist ein formallogischer Vorteil gegenüber projektionistischen Theorien wie der generativen Grammatik und der klassischen Valenztheorie, die nur funktionieren können, wenn sie die Zukunft eines Sprachsystems exakt zu prognostizieren in der Lage wären. Dass dieser formaltheoretische Fehler nicht aufgefallen ist, ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass ausschließlich konstruierte Beispiele statt echter Sprachdaten verwendet worden sind und somit die Abweichungen von den Projektionen unerkannt bleiben konnten.
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Verbbestand8 einer Einzelsprache zu bestimmen ist. Es ist deshalb eine Schärfung der Theorie und der Methode der Grundvalenz nötig? Die theoretische Frage der Grundvalenz lautet: Was ist die Grundvalenz. Die methodische Frage lautet: Wie kann sie identifiziert werden? Die Beantwortung insbesondere der theoretischen, aber auch der methodischen Fragestellung setzt die Lösung von Problemen voraus, die im Folgenden diskutiert werden.
3 Probleme der Grundvalenztheorie In diesem Abschnitt werden aufbauend auf dem allgemeinen Forschungsstand zentrale Probleme der Grundvalenz diskutiert, die zur Beantwortung der theoretischen und der methodischen Frage relevant sind. Die in diesem Kapitel geschilderten Probleme sind auch für die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik (mindestens) im Bereich der Argumentstrukturkonstruktionen von vitaler Bedeutung, da die konkrete Modellierung der Probleme die Beschaffenheit einzelner Argumentstrukturmuster, aber auch des Konstruktikons massiv beeinflusst.
3.1 Empirieproblem(e) Die bisherige Grundvalenzforschung geht, wie in Kapitel 2 rekapituliert worden ist, davon aus, dass die am häufigsten realisierte Argumentstruktur die Grundvalenz eines Verbs bildet, ohne allerdings ein empirisches Programm zu deren Ermittlung vorgelegt zu haben. Das Fehlen eines empirischen Programms, wie auch die für die Grundvalenztheorie zentrale Stellung der Empirie, gehen allerdings mit methodologischen Herausforderungen einher, die hier als Empirieproblem gefasst und diskutiert werden. Denn mit der Entscheidung für eine empirische Ermittlung bzw. Absicherung der Grundvalenz werden die Probleme jeder empirischen Forschung zu Problemen der Grundvalenztheorie. Das klassische Induktionsproblem im Allgemeinen wird zum Korpusproblem oder Textsortenproblem im Speziellen. D. h.: Es kann – wie balanciert das Korpus auch sein mag – nicht ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse verzerrt sind. Dies gilt insbesondere für die gegenwärtige Linguistik, die in Ermangelung hinreichend annotierter großer Korpora, die valenziell notwendige Informationen erfassen, nach wie vor auf (kleine) Testkorpora ange8 Da Prädikate z. B. im Fall von Funktionsverbgefügen auch deverbale Elemente enthalten können, ist das Problem sogar an sich noch weitreichender. Für diesen Hinweis danke ich Maria Gallinat.
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wiesen ist. Die Nutzung empirischer Ressourcen bietet bei allen Problemen allerdings enormes Potential, weshalb der Aufbau solcher Korpora vielversprechend erscheint. Dies zumal, da die bisherige Forschung das rein deduktive Potential der Theorie in den vergangenen 50 Jahren m. E. ausgeschöpft hat und relevanter Mehrwert nurmehr durch die empirische Ausgestaltung zu erwarten steht. Für die empirische Umsetzung der Grundvalenztheorie ergeben sich konkret zwei Fragen: Gibt es immer nur eine Grundvalenz? Wenn es mehrere Grundvalenzen gibt: Wie viele sind es? Die Antwort auf die erste Frage lautet bei Anerkennung des Sprachwandels zwingend: Es muss notwendig ein Sprachsystemzustand existieren, in dem eine von einer anderen Grundvalenzstruktur abgelöst wird. Deshalb muss es – so kurz dieser Übergangsmoment auch sein mag – die Möglichkeit in einem Sprachsystem geben, in dem zu einem gewissen Zeitpunkt mehr als eine Grundvalenzstruktur bei einem Verb existiert. Auch Ágel (2017: 269) spricht sich für mehrere Grundvalenzen bei einem Verb aus. Über dieses formal hergeleitete Potential ist allerdings nicht klar, ob mehrere Grundvalenzen die Regel sind, was zu Frage zwei führt. Frage zwei ist die nach der Anzahl der Grundvalenzen und implizit auch die nach ihrer Abgrenzung. Betrachten wir zur Beantwortung zunächst das in der Grundvalenzliteratur breit diskutierte – allerdings bislang nicht empirisch untersuchte – Verb bestehen und die Valenzstrukturen, die es realisiert. Der Auswertung in Tabelle 1 liegt eine tentative Korpusuntersuchung zugrunde, in der 100 Belege des Zeitungsjahrgangs 2020 der Zeitung Die Zeit mit dem Verb bestehen analysiert worden sind. Die Valenzstrukturen sind als Argumentstrukturkonstruktionen mit Satzgliedern und signifikativ-semantischen Rollen angegeben. Tabelle 1: Valenzrealisierungen des Verbs bestehen nach Argumentstrukturkonstruktionen.9 Argumentstrukturkonstruktionen Sub:ZT – Präd:ZUST – POaus+Dat:Mate
Sub:ZT – Präd:ZUST – POin+Dat:DISI
Verteilung
Beleg
31 %
Unser Gehirn besteht aus Billionen von Verbindungen. (Z20/JAN.00064 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 49) 23 % Worin könnten diese Sinngehalte bestehen? (Z20/JAN.00189 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 50)
9 Vor dem Doppelpunkt steht das Satzglied, nach dem Doppelpunkt die semantische Rolle. Chiffren der Satzglieder: AkkObj = Akkusativobjekt; Präd = Prädikat; PO = Präpositionalobjekt; Sub = Subjekt. Chiffren der semantischen Rollen: BENE = Benefactum; DISI = Disziplin; HAND = Handlung; HG = Handlungsgegenstand; HT = Handlungsträger; MATE = Material; OPPO = Opponentum; TÄTI = Tätigkeit; TT = Tätigkeitsträger; ZUST = Zustandsträger; ZT = Zustandsträger; NN = Nomen Nominandum.
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Dagobert Höllein
Tabelle 1 (fortgesetzt) Argumentstrukturkonstruktionen Sub:ZT – Präd:ZUST
Verteilung 19 %
Sub:HT – Präd:HAND – AkkObj:HG
8 %
Sub:ZT – Präd:ZUST – POauf+Dat:Basis
8 %
Sub:ZT – Präd:ZUST – PObei+Dat:NN10
4 %
Präd:HAND – AkkObj:HG
2 %
Sub:TT – Präd:TÄTI
1 %
Sub:TT – Präd:TÄTI – POfür+Akk:Bene
1 %
Sub:ZT – Präd:ZUST – POdurch+Akk:NN
1 %
Sub:TT – Präd:TÄTI – POgegen+Akk:Oppo
1 %
Sub:TT – Präd:TÄTI – POin+Dat:Disi – POfür+Akk:Bene
1 %
10
Beleg Ein Bedarf besteht immer. (Z20/JAN.00160 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 28) Sie besteht ihre Prüfung und wechselt weiter Windeln. (Z20/JAN.00140 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 15) Unsere Kolumnistin besteht auf der Trennung von Werk und Autorin. (Z20/JAN.00442 Die ZEIT, 23.01.2020, S. 52) Diese Gefahr besteht nun auch bei der Rentenreform. (Z20/JAN.00036 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 24) Sie kramt ihren Lebenslauf aus der Dokumentenmappe: erster Platz im ErsteHilfe-Wettbewerb, erster Platz beim Nationalen Wettbewerb der Pflegewissenschaften, ein Jahr lang Deutsch gelernt, B2-Sprachtest für Fortgeschrittene bestanden. (Z20/JAN.00140 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 15) Weil er die meiste Erfahrung mitbringt und der Einzige ist, der auf dem Berliner Parkett bestehen kann. (Z20/JAN.00533 Die ZEIT, 30.01.2020, S. 8) Für einen Rauswurf bestand kein Anlass. (Z20/ JAN.00258 Die ZEIT, 16.01.2020, S. 8) Die wohl größte Bedrohung besteht durch Attacken auf Raffinieren [sic!] und Kraftwerke, plötzlich geht der Strom aus, oder bestimmte Waffensysteme funktionieren nicht mehr. (Z20/ JAN.00388 Die ZEIT, 23.01.2020, S. 7) Können die Leute mit Gewissen gegen die anderen bestehen? (Z20/JAN.00032 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 19) Für die Osteuropäer bestand ein Teil des Schocks über den Brexit in der […]. (Z20/ JAN.00528 Die ZEIT, 30.01.2020, S. 4)
Die empirische Verteilung der Muster zeigt dreierlei: dass das Verb bestehen mehr als eine Valenzstruktur realisiert, dass eine dieser Valenzstrukturen deutlich häufiger als die anderen ist und dass drei der realisierten Valenzstrukturen 10 Der PO-Status der Präpositionalgruppe mit bei ist bislang strittig. Im Zweifelsfall müssen diese Belege zu denen des Musters Sub:ZT – Präd:ZUST gerechnet werden.
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knapp drei Viertel der Belege ausmachen. Eine Möglichkeit wäre anzunehmen, dass deshalb nur die ersten drei Strukturen Grundvalenzen sind. Aber letztlich bleibt die Setzung einer Grenze künstlich und schwer zu rechtfertigen – darüber hinaus sind bei anderen Verben Verteilungen zu erwarten, in denen deutlich mehr Strukturen hohe Belegzahlen aufweisen. In diesen Fällen müssten dann vier oder fünf Grundvalenzstrukturen angenommen werden. Ágel (2017) formuliert ein anderes Kriterium: „Das Kriterium für einen Grundvalenzträger ist, dass er die Grundlage für Umszenierungen, beispielsweise für Valenzreduktionen und -erhöhungen, bilden können muss.“ (Ágel 2017: 269) Das Problem ist, dass praktisch jede der in Tabelle 1 gelisteten Strukturen potentiell Basis für Umszenierungen sein kann, da die Zukunft des Sprachsystems ungewiss ist. Insbesondere die letzte Struktur ist instruktiv, da sie bestätigt, dass auch Pläne mit mehreren PO möglich sind. Eine bislang völlig offene Frage ist, wie sich Feilkes (1998) Theorie der idiomatischen Prägung auf Konstruktionsgrammatik, Konstruktikon und Grundvalenz auswirkt. Nach der Theorie der idiomatischen Prägung spielt Frequenz für die Relevanz eines Musters in der Sprache generell eine untergeordnete Rolle, da auch extrem seltene Muster hochverfestigt sein können, was die herausgehobene Rolle der Frequenz in Zweifel zieht. Eine aus dieser Theorie abgeleitete Frage ist, wie seltene, aber feste Muster bei Verben (z. B. liegen: mir liegt an Dir vs. X liegt) zu interpretieren sind. Wie sind diese systematisch aus Frequenzperspektive irrelevanten, beim Einzelverb aber hochfrequenten Muster grundvalenziell zu bewerten? Handelt es sich um Argumentstrukturen oder um Petrifizierungen wie in Ágel/Höllein (2021) postuliert? Die mit dem Empirieproblem verbundenen Fragen sind in der Konstruktionsgrammatik bislang ausgeblendet worden. Ausdruck dessen ist, dass das Verhältnis von Argumentstrukturkonstruktionen zueinander im Sinne des Konstruktikons bislang offen ist bzw. es bei metaphorischen Umschreibungen bleibt: „Aus der Charakteristik des Verhältnisses von den Argumentstrukturrollen einer Konstruktion und der Partizipantenrollen des Verbs […] [lässt] sich […] das Postulat [ableiten], dass das Konstruktikon die Gestalt eines Netzwerkes […] hat.“ (Ziem 2014: 28) Die Klärung dieser Fragen ist für Valenz- und Konstruktionsgrammatik jedoch von gleicher Bedeutung.
3.2 Variantenproblem Unter dem Variantenproblem versteht die klassische Valenztheorie abseits von rein formalen Mustern vereinfacht formuliert die Frage, ab wann Bedeutungen zu mehr als einem Valenzeintrag im Lexikon führen. Die allgemeine Valenzliteratur hat sich ausgiebig mit diesem Problem beschäftigt (Eroms 2014; Coene 2006; Ágel
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Dagobert Höllein
2000: 114–130) und auch im Rahmen der Grundvalenz ist das Problem von Ágel (2017: 269–270) und Schöfer (1989) diskutiert worden. Die theoretisch tiefste Analyse des Varianten- wie auch des nah verwandten Alternantenproblems findet sich bei Ágel (2000: 113–138; 2017). Er geht im Kern davon aus, dass Varianten eines Verbs mit unterschiedlichen syntaktischen Grundstrukturen zu neuen Grundvalenzen führen. „Das Kriterium für einen Grundvalenzträger ist, dass er die Grundlage für Umszenierungen, z. B. für Valenzreduktionen und -erhöhungen, bilden können muss.“ (Ágel 2017: 269) Diese Definition bietet immer dann eine robuste Abgrenzung, wenn die Varianten durch konkurrierende Argumentstrukturkonstruktionen repräsentiert werden, wie in den folgenden Fällen. (7)
Sein „Traum“ oder besser: Mantra bestand aus drei Vokabeln. (Z20/JAN.00148 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 19)
(8)
Worin könnten diese Sinngehalte bestehen? (Z20/JAN.00189 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 50)
(9)
Sie besteht ihre Prüfung. (Z20/JAN.00140 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 15)
Für das Verb bestehen müssten aufgrund der Belege (7)–(9) und des angesprochenen Kriteriums drei Grundvalenzen angenommen werden, deren Repräsentationen die Belege (7)–(9) anzeigen.11 So tritt zu (7) und (8) kein Akkusativobjekt und zu (9) keines der Präpositionalobjekte aus (7) und (8). Jede potentielle Grundvalenzstruktur ist nach der Art der Komplemente (POaus+Dat, POin+Dat, Akkusativobjekt) formal von den anderen abgrenzbar.12 Während die Abgrenzung im Bereich der Valenzerweiterungen (konstruktionsgrammatisch Koerzionen nach oben) präzise ist, ist die bei allen drei Varianten mögliche Abgrenzung nach unten problematisch. Potentiell ist zwar für die Grundvalenzstrukturen der Belege (7)–(9) eine Abweichung nach unten möglich, indem die POs oder das Akkusativobjekt nicht realisiert werden, semantisch ergibt sich aber folgendes Problem: (10)
Weil er […] der Einzige ist, der auf dem Berliner Parkett bestehen kann. (Z20/JAN.00533 Die ZEIT, 30.01.2020, S. 8)
(11)
Gold besteht.
11 Die Empirie hat partiell andere Grundvalenzmuster ergeben. 12 Die empirische Untersuchung in Abschnitt 3.1 deutet darauf hin, dass Beleg (9) empirisch keine Grundvalenzstruktur des Verbs bestehen ist. Siehe Abschnitt 4 zur Diskussion.
Überlegungen zu Konstruktion und Grundvalenz
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Beleg (10) verdeutlicht, dass sich für die reduzierte Struktur von (9) eine Lesart ‚standhalten‘, abweichend von der Lesart ‚absolvieren‘, einstellen kann. Selbst wenn bei bestehen mit POaus+Dat prototypische Lexeme wie Gold in (11) realisiert werden, ist die Lesart ‚standhalten‘ möglich. Allerdings ist in den Belegen (10) und (11) auch die Lesart ‚etwas existiert weiterhin‘ möglich, die der in Abschnitt 3.1 diskutierten empirisch als dritter Grundvalenzstruktur entspricht. In diesem Fall wären die Realisierungen überhaupt keine Reduktionen, sondern Realisierungen einer eigenen Grundvalenzstruktur. Empirisch plausibel ist laut Untersuchung die Bedeutung ‚etwas existiert weiterhin‘ nicht nur deshalb, weil es eine Grundvalenzstruktur abbildet, sondern auch weil die Auswertung in Abschnitt 3.1 zeigt, dass Reduktionen empirisch nicht überzubewerten sind: Im Testkorpus machte die Zahl der reduzierten Valenzstrukturen nur 1 % der Belege aus. Theoretisch plausibel ist jedoch auch die Lesart ‚standhalten‘, da das Akkusativobjektmuster zwar nicht bei bestehen, aber für das Gesamtsystem des Deutschen das prototypischere Muster darstellt.13 Denn es gibt deutlich mehr Verben, die das transitive Muster als Grundvalenz kodieren, als es Verben gibt, die Präpositionalobjekte grundvalenziell realisieren. Erwartbar ist deshalb, dass Rezipienten Abweichungen auf das prototypische Muster beziehen. Spätestens hier wird der prototypische Charakter von Sprache deutlich. Es kann keine eindeutige Erklärung geben, sondern es ist die Vagheit der Sprache, auf die „man sich einlassen“ (Welke 2002: 169) muss. Ohne Einbezug der Empirie ergibt sich aus Ágels Vorschlag ein weiteres Problem: Denn aus jeder Grundstruktur, die das Potential für Abweichungen nach oben und/oder unten bietet, entstehen eine Ausgangsstruktur sowie eine oder mehrere abgeleitete; und es stellt sich die Frage, was die Grundvalenzstruktur und was die auf sie bezogene Struktur ist. Denn Beleg (10) kann als Abweichung nach unten von (9) betrachtet werden; ebenso kann jedoch Beleg (9) als Abweichung nach oben von (10) analysiert werden. Durch die Hinzunahme der Empirie ist dieses Problem aber praktisch lösbar: Als Grundvalenzstruktur gilt die empirisch typische. Deshalb wäre (9) hier die maßgebliche Struktur und (10) eher als Abweichung nach unten von (9) zu interpretieren. Offen ist trotz dieser heuristischen Lösung im Bereich syntaktisch abweichender Grundstrukturen noch das traditionelle Lesarten-Problem als rein semantische Unterscheidung wie in (12) und (13).
13 Zumindest ist das Akkusativobjektmuster im Korpus nicht das am häufigsten Belegte für bestehen.
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Dagobert Höllein
(12)
Sie und ihre Geschwister lasen Bücher. (Z20/JUL.00169 Die ZEIT, 09.07.2020, S. 52)
(13)
Auf einer Anhöhe lesen Arbeiter Trauben in den Weinbergen. (Z10/SEP.03452 Die Zeit (Online-Ausgabe), 16.09.2010)
In den Belegen werden die traditionellen Lesarten von lesen i. S. v. ‚den Sinn von etwas Geschriebenem erfassen‘ (12) vs. ‚ernten‘ (13) kontrastiert. Dieses Problem ist im Bereich der signifikativen Grundvalenz dadurch wesentlich entschärft, dass die syntaktischen Grundstrukturen den Ausgangspunkt bilden. In der Folge wird signifikativ hier aus drei Gründen nicht von mehreren Grundvalenzen ausgegangen: Erstens unterscheiden sich die Argumentstrukturkonstruktionen nicht, zweitens ist die Koordination möglich, wie Beleg (14) verdeutlicht.14 (14)
Weinkenner liest Buch statt Trauben. (https://www.saechsische.de/riesa/ wein-buchlesung-am-sonntag-5487903.html)
Diese Koordinierbarkeit spricht mit Coseriu (1970: 56) dafür, dass viele scheinbare Lesarten keine Lesarten in der Bedeutung, sondern in der Bezeichnung und damit signifikativ-semantisch irrelevant sind. Die Ableitungskette ist sprachhistorisch für lesen i. S. v. ‚den Sinn von etwas Geschriebenem erfassen‘ nurmehr lose vorhanden, aber m. E. nicht abgerissen (Höllein 2019: 25–26). Die Lesart „schrift lesen […] ist […] auf das auflesen und zusammenstellen der kleinen mit runen eingekerbten stäbchen beim loswerfen bezogen […]; allmählich aber auf das zusammenstellen der buchstaben zu worten schlechthin gewendet“ (Grimm 2020: s. v. lesen). Drittens gibt es empirisch in der Gegenwartssprache mit ‚den Sinn von etwas Geschriebenem erfassen‘ eine klare Hauptbedeutung. D. h., dass der Bedeutungstransit zur (ursprünglich) übertragenen Bedeutung fast abgeschlossen ist. Das Deutsche Referenzkorpus (Institut für Deutsche Sprache 2023) enthält im Die Zeit-Korpus für die Bedeutung ‚ernten‘ vier Belege; für die Bedeutung ‚den Sinn von
14 Der in diesem Zusammenhang von Ágel (2000: 129–130) angewendete Zeugmatest ist zur Separierung von Lesarten gedacht: Wenn bei Koordination ein Zeugma vorliegt, ist von zwei Lesarten auszugehen. Aus Grundvalenzsicht beweist der Test aber m. E. das Gegenteil. Zeugmata mögen markierte Realisierungen sein, letztlich sind sie aber ein Nachweis der Koordinierbarkeit und indizieren damit den unteren Grenzfall einer Valenz, nicht das Vorliegen von zweien. Ein Test wäre eher, dass zwei Grundvalenzen anzunehmen sind, wenn selbst zeugmatische Realisierungen ausgeschlossen sind. Davon abgesehen führt der Zeugmatest in problematisches Fahrwasser, da schwer begründbare (denotative) Intuitionen der Testenden abgefragt werden.
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etwas Geschriebenem erfassen‘ dagegen – allein in Verbindung mit dem Lexem Bücher – 989 Belege – also das Zweihundertfache.15 Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf das Variantenproblem für die hier zu entwerfende Theorie festhalten: Ágels (2017; 2000) syntaktische Unterscheidung der Lesarten ist in Kombination mit einer empirischen Evaluationskomponente ein geeignetes Mittel, um Grundvalenzstrukturen zu identifizieren. Das klassische semantische Lesartenproblem ist wiederum durch die signifikative Unterscheidung von Bedeutung und Bezeichnung theoretisch deutlich entschärft und zusätzlich empirisch dadurch gut handhabbar, dass in der Regel eine der beiden semantischen Varianten deutlich frequenter realisiert wird und damit in Bezug auf die Grundvalenz diese häufigere maßgeblich ist.
3.3 Problem: Genus Verbi, Valenz und Prädikatsrollen Zur Frage, wie Passive in Bezug auf die (Grund)Valenz zu modellieren sind, hat die Valenztheorie verschiedene Antworten gegeben (vgl. Ágel 2000: 118–120). Eine gängige Möglichkeit ist, Genus Verbi als Einheitenkategorisierung im Sinne Eisenbergs (2013: 19–22) aufzufassen. Der Nachteil ist, dass im Vergleich zu anderen Einheitenkategorisierungen wie Numerus und Person ein relativ kleiner Teil des Verbbestandes über sämtliche Kategorien der Kategorisierung verfügt. Explizit ist die Passivfähigkeit vieler Verben eingeschränkt. (7’) ✶Sein Mantra wird/ist/bekommt aus drei Vokabeln bestanden. So sind für die häufigste Valenzstruktur des in Abschnitt 3.1 diskutierten Verbs bestehen mit der Argumentstruktur Sub:ZT – Präd:Zust – POaus+Dat/Material weder das Vorgangs-, das Zustands- noch das bekommen-Passiv möglich, wie Beispiel (7’) zeigt. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, ist der in Höllein (2017) präsentierte Perspektiveansatz. Die Grundidee dieses Ansatzes ist, dass erstens Genus Verbi keine Einheitenkategorisierung von Verben ist, und dass zweitens Verben nicht semantischen Klassen angehören, wie dies in der traditionellen Forschung angenommen worden ist. Es gibt also keine sog. ‚Handlungsverben‘, sondern ‚nur‘ Verben, die (prototypisch) Handlung kodieren. Ich gehe davon aus, dass die Verben als Prädikate die Perspektivrollen Handlung, Tätigkeit, Vorgang und/oder Zustand annehmen.
15 Cosmas II-Suchanfragen: &lesen /+w0:3,s0 &Traube und &lesen /+w0:3,s0 &Traube.
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Dagobert Höllein
Im Ergebnis können Verben verschiedene Perspektiven annehmen, wenn sie als Prädikate in Sätzen realisiert werden und die Perspektivrollen Vorgang und Zustand werden dabei durch Verben im Vorgangs- bzw. Zustandspassiv realisiert. Während die Valenztheorie klassisch davon ausgegangen ist, dass Passive Transformate der Aktivstrukturen sind, obwohl ganze Großgruppen von Verben wie sog. Bewegungsverben prototypisch in der Passivbildung stark eingeschränkt sind, können sie im Rahmen des Perspektiveansatzes als eigene Grundvalenzstrukturen beschrieben werden. Daraus folgt erstens nicht, dass jedes konkrete Verb alle Perspektiven kodieren können muss. Es bedeutet, dass die System-Entität Verb im Deutschen prototypisch über diese Kategorien verfügt. So wie trotz Pluralia- und Singulariatantum für die Systementität Substantiv die Kategorien Singular und Plural der Kategorisierung Numerus angenommen werden. Zweitens folgt daraus nicht, dass alle Verben die Perspektivrollen identisch fest/frequent kodieren. Vielmehr haben konkrete Verben „Prädispositionen“ (Höllein 2017: 302–303) für gewisse Perspektivrollen, die sich bei Korpusanalysen in Häufigkeitsverteilungen empirisch niederschlagen. Diese Prädispositionen können im negativen Sinn so weit reichen, dass Perspektiven aktuell überhaupt nicht realisiert werden, wie das bereits diskutierte Verb bestehen zeigt: (7’’)
✶
(7’’’)
✶
Sein […] Mantra bestand ihn aus drei Vokabeln. Sein […] Mantra wird aus drei Vokabeln bestanden.
Die Prädisposition für die Perspektive Zustand ist für die Argumentstrukturkonstruktion mit POaus+Dat derart stark, dass eine Realisierung weder mit der Prädikatsrolle Handlung (7’’) noch mit der Perspektive Vorgang (7’’’) empirisch nachgewiesen ist und auch andere Passive nicht einschlägig scheinen, wie Beispiel (7’) illustriert. Das Problem ist deshalb relevant, weil das Gros des Verbbestandes des Deutschen seine Grundvalenzen aus den Argumentstrukturkonstruktionen bezieht, die sich direkt aus den Perspektivrollen ergeben, wie das Verb bauen illustriert: Für das Verb bauen sind die häufigsten realisierten Muster die transitive Argumentstrukturkonstruktion (43 %) sowie die intransitive Vorgangs-Argumentstrukturkonstruktion (15 %), wie Tabelle 2 illustriert. Die Gesamtheit der Belege, die rein die Perspektiverollen realisieren, macht knapp drei Viertel der Belege aus. Die um ein Dativobjekt erweiterte ditransitive Handlungs-Argumentstrukturkonstruktion ist mit 6 % der Belege die einzige Struktur, die nennenswerte Belegzahlen hat und nicht ausschließlich aus Rollen gebildet wird, die sich direkt aus den Perspektiverollen ergeben.
Überlegungen zu Konstruktion und Grundvalenz
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Tabelle 2: Belegzahlen bauen. Argumentstrukturkonstruktionen
Verteilung
Sub:HT – Präd:HAND – AkkObj:HG
43 %
Sub:VT – Präd:VORG
15 %
Sub:HT – Präd:HAND – DatObj:HB AkkObj:HG
6 %
Sub:ZT – Präd:ZUST
6 %
Sub:ZT – Präd:ZUST – POaus+Dat:MATE
3 %
[…]16
Beleg Man kann Schulen bauen. (Z20/JAN.00023 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 13) Allerdings werden nur sehr wenige zusätzliche Wohnungen gebaut. (Z20/ JAN.00023 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 13) Er hat seinen Schweinen drei Meter breite und fünf Meter lange mobile Ställe gebaut. (Z20/JAN.00165 Die ZEIT, 09.01.2020, S. 31) Der Rollstuhl ist so gebaut, dass vielleicht 70 Prozent der Last auf den Hintermann kommen. (Z20/JAN.00330 Die ZEIT, 16.01.2020, S. 62) Sie bauen Häuser […] aus Geld. (Z20/ JAN.00023 Die ZEIT, 03.01.2020, S. 13)
Auf der Systemebene des Deutschen dürfte die Verteilung der verbalen Perspektiven in absteigender Häufigkeit wie folgt verlaufen: Handlung → Tätigkeit → Vorgang → Zustand.17 Diese systematische Verteilung hat aber nur bedingte Aussagekraft für das Einzelverb. Ob man Genus Verbi in die Valenz einbezieht oder nicht, ist eine offene Frage. Tut man es nicht und wertet Genus Verbi als Einheitenkategorisierung, müssen sowohl im Rahmen der Valenztheorie als auch der Konstruktionsgrammatik die weitreichenden Realisierungseinschränkungen erklärt werden, was bislang nur eingeschränkt versucht worden ist (vgl. Welke 2007).
16 Die fehlenden Prozente sind mit jeweils nur einfach oder zweifach belegten Mustern nachgewiesen, die hier aus Übersichtgründen nicht aufgeführt werden. Allerdings ist in Bezug auf das Empirieproblem natürlich offen, ob es sich bei diesen Mustern trotz der niedrigen Belegzahlen um Grundvalenzen handelt (siehe Abschnitt 3.1). 17 Grundlage der Überlegung ist die Menge der Verben, die prototypisch die jeweilige Perspektive im Aktiv kodieren, das als unmarkierte Kategorie des Genus Verbi angenommen wird. Die Gruppe transitiver Verben (Handlung) ist ebenso wie die Gruppe intransitiver Verben, die Tätigkeit kodieren, im Deutschen größer als die Gruppe der Verben, die aktivisch prototypisch Vorgang bzw. Zustand kodieren.
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Dagobert Höllein
3.4 Komplementproblem (Argumentstrukturproblem) Was ich als Komplementproblem bezeichne, ist ein Teilproblem der Frage nach der Abgrenzung von Komplementen und Supplementen in der allgemeinen Valenztheorie und ein zentrales Problem der Grundvalenztheorie (Welke 2011; Ágel 2000; Zifonun et al. 1997). In der Konstruktionsgrammatik bleibt das Komplementproblem bislang unverständlicherweise weitgehend ein blinder Fleck, obwohl das Problem für sie von ähnlicher Relevanz ist, da die Argumentstrukturkonstruktionen nicht ohne eine Lösung des Problems funktionieren (Höllein 2019: 1). Dabei ist es unerheblich, ob die Inhaltsseiten der Argumentstrukturkonstruktionen signifikativ-semantisch oder denotativ-semantisch bzw. direkt über semantische Rollen oder indirekt als über Frames organisiert modelliert werden. Denn für Rollensemantik wie Framesemantik gilt das Komplementproblem in analoger Weise, wie in Höllein (2020b) ausgeführt worden ist. Da die konstruktionsgrammatische Literatur bislang keine theoretischen Lösungsvorschläge präsentiert hat, werde ich das Problem zunächst valenztheoretisch beschreiben und es darauf aufbauend auf die Konstruktionsgrammatik abbilden. Die Valenztheorie hat Jahrzehnte der Forschung darauf verwendet, die Abgrenzung von Komplementen und Supplementen theoretisch und empirisch herzuleiten (Höllein 2020a). Nach Phasen starker Formalisierung und Zersplitterung von Valenzdefinitionen in der Multidimensionalen Valenztheorie (Jacobs 1994) etabliert sich aktuell die monodimensionale Valenztheorie (Fischer 2013; Ágel 2017; Höllein 2020b), die einzig auf der Valenzrelation BETEILIGTHEIT beruht und die Fischer wie folgt definiert: Valenz ist der Entwurf eines Kernsachverhalts durch ein Verb, Ergänzungen sind Phrasen, deren Referenten in diesem Entwurf vorgesehen sind. (Fischer 2013: 109)
Dieses Zurück zur Dramenmetapher Tesnières unter anderen Vorzeichen führt zu einem Komplementkanon, der im Wesentlichen aus Subjekt, Kasus- und Präpositionalobjekten (sowie für Teile der Forschungsgemeinde aus Direktiva) besteht und nur eingeschränkt aus Adverbialen. In Zusammenhang mit Argumentstrukturkonstruktionen müsste auch die Konstruktionsgrammatik ein vitales Interesse an der Frage haben, welche Elemente Teil dieser Konstruktionen sind und welche nicht. Dies ist jedoch (bislang) nicht der Fall. Wohl nicht zufällig diskutiert nur der aus der Valenztheorie kommende Welke die Probleme, die der Konstruktionsgrammatik aus dem Verhältnis von Adverbialen bzw. „Modifikatorkonstruktionen“ (Welke 2019: 279) und Argumentstrukturkonstruktionen erwachsen:
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Einerseits werden Argumentkonstruktionen ohne Einbeziehung von Modifikatoren beschrieben, andererseits gehört die Möglichkeit der Andockung von Modifikatorkonstruktionen an Argumentkonstruktionen […] zum sprachlichen Wissen über Argumentkonstruktionen. Wenn auch anders als durch Leerstellen (Slots) für Verben muss auch die potentielle Zugehörigkeit von Modifikatoren zu Argumentkonstruktionen dokumentiert werden […]. Argumentkonstruktionen sind ganzheitliche Gebilde aus ein bis drei Argumenten. Sie enthalten originär in Gestalt der Argumente keine Modifikatoren. Modifikatorkonstruktionen werden als selbständige Konstruktionen zu Argumentkonstruktionen hinzugefügt. (Welke 2019: 280)
Der letzte Satz von Welke mag ex post eine elegante Erklärung für aufgetretene Adverbiale in Belegen sein. Offen bleibt aber die Frage, wie gerade die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik erklärt, was Teil eines Argumentstrukturmusters ist bzw. warum dies in der Regel keine Adverbiale sind, wenn einerseits Projektion ausgeschlossen wird, andererseits aber ein Instrumentarium zur Bestimmung der Elemente einer Argumentstrukturkonstruktion fehlt (zum Problem vertiefend siehe Höllein (2019; 2020b)). Dieses Problem wird in der Konstruktionsgrammatik durch die Hinzunahme von Frames zur Gestaltung der Inhaltsseiten zu lösen versucht, dadurch aber nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft. Denn wenn die Konstruktionsgrammatik zur Modellierung der Inhaltsseiten auf Frames zurückgreift, werden zusätzlich framesemantische Theorieprobleme virulent, wie am Beispiel bauen und dem m. E. einschlägigen building-Frame aus Framenet (2023) gezeigt werden kann.18 Laut Framenet soll der building Frame aus den drei Core-Frame-Elementen Agent, Component und Created entity sowie den 13 Non-Core-Elementen Beneficiary, Depictive, Descriptor, Duration, Instrument, Manner, Means, Particular_iteration, Period_of_iterations, Place, Purpose, Result und Time bestehen. Bei dieser Liste drängt sich mit Blick auf die Argumentstrukturmuster zunächst die Frage auf, mit welcher Begründung aus allen möglichen Frameelementen genau die Auswahl dieser 16 Elemente zustande kommt. Aus Sicht einer prototypischen Theorie wäre eine deutlich geringere Anzahl zu erwarten. (15) Jack built a new house out of old bricks. (Framenet 2023: s. v. building)
18 Es werden hier bauen und der sog. Building-Frame besprochen, da Frame-Net das Verb bestehen (engl. consist) dem Medical_intervention zuordnet (Framenet 2023), was in dieser Spezifik offensichtlich unzutreffend ist, da der medizinische Bezug wohl weder im Englischen, sicher aber im Deutschen (insbesondere empirisch) wenig bis nicht relevant ist. So kommt in keinem der hier analysierten Korpusbelege ein solcher Bezug in Frage bzw. eine Situation vor, die sich auf einen außersprachlichen Weltausschnitt mit Bezug zu einer Medical_intervention beziehen ließe. Es geht also weder in der Bezeichnung (denotativ), auf die Framenet abzielt, noch in Bezug auf sprachliche Bedeutung (signifikativ) um etwas, das zu „Medical_intervention“ passen würde.
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In Bezug auf die Core-Elemente ist empirisch interessant, dass nicht nur die (im Deutschen äquivalente) Struktur zum konstruierten Framenet-Beispiel (15), die die Core-Elemente sprachlich abbildet, lediglich 3 % der Korpusbelege ausmacht, sondern dass auch das Core-Element Component ebenfalls nur in 3 % überhaupt belegt ist. Die Core-Elemente bilden also im Ganzen die semantische Struktur einer empirisch relevanten Argumentstruktur nicht ab.19 Fraglich bleibt darüber hinaus die Abgrenzung von Core und Non-Core. So wird das Non-Core-Element Place mit 14 % der Belege20 mehr als vier Mal so oft realisiert wie das Core-Element Component. Das Argument, das Core-Frame-Element Component werde nicht versprachlicht, weil es so fest im Frame verankert ist, ist m. E. ein Scheinargument. Denn wenn Versprachlichung (negativ) mit Verankerung im Frame zusammenhängen oder gar korrelieren würde, müssten entweder auch die anderen Core-FrameElemente nicht versprachlicht werden (was nicht der Fall ist: Das Core-Element Agent kommt in mindestens 40 % der Belege vor21) oder die Non-Core-Elemente des Frames müssten quasi die Core-Elemente der Konstruktion sein. Denn das, was eher nicht mitgedacht wird, müsste dann eher versprachlicht werden. Auch in dieser Hinsicht zeigt die Empirie jedoch deutlich, dass dies nicht der Fall ist. So sind einige der sog. Non-Core-Frameelemente wie Purpose im Korpus überhaupt nicht belegt. An diesen Problemen zeigt sich ein Grundproblem der Frametheorie. Sie ist mit Coseriu (1972: 78; 1970: 56–57) eigentlich keine semantische Theorie im Sinne einer Bedeutungstheorie, sondern eine Bezeichnungstheorie, die versucht, die Situationen und Abläufe in der außersprachlichen Wirklichkeit iterativ zu beschreiben.22 So klar Coseriu die Unterschiedlichkeit von Bedeutung und Bezeich-
19 Ziem (2008: 374–375) benennt dieses methodologische Problem der Frametheorie – wenn auch folgenlos – in seiner Dissertation. Es „führt zu eklatanten Diskrepanzen in den Analyseergebnissen. Beispielsweise führen drei Untersuchungen zum konzeptuellen Gehalt des Verbs to run zu drei z. T. stark voneinander abweichenden Ergebnissen“ (Ziem 2008: 375). Er führt das Problem allerdings auf die Introspektion zurück und nicht darauf, dass in der Framesemantik nicht die Bedeutung, sondern die Bezeichnung untersucht wird, wodurch ein wesentlicher Teil des Problems erhalten bleibt. 20 Valenztheoretisch in allen Fällen ein Lokalsupplement. 21 Die 40 % beinhalten nur die auch außersprachlich klaren Agenten, die auch für die denotative Framesemantik sicher Agent sind. Ob Die Stadt im folgenden Beleg denotativ frame-semantisch als Agent zu werten ist, scheint mir fraglich und wurde deshalb nicht gezählt, zumal sich die Frage der Zuordnung von Framerollen zu Argumenten in Zustandspassiv-Strukturen stellt: Die Stadt ist auf ein Dutzend Hügel gebaut. (Z20/JAN.00462 Die ZEIT, 23.01.2020, S. 66). 22 Welke (2021) diskutiert ein weiteres Grundproblem der Framesemantik, dass sie, indem sie „eine Kopplung semantische[r] Einheiten an syntaktische Raster“ (Ziem 2008: 95–96), also an For-
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nung beschrieben und die Probleme, die sich aus ihrer Vermengung ergeben, benannt hat, so wenig hat seine Kritik zu Änderungen in der Semantik geführt. Fillmore (1968; 2003) hat unter meaning von den frühen bis zu den späten Schriften nicht klar zwischen Bedeutung und Bezeichnung getrennt, obwohl Fillmore (1977) zeitweilig selbst meinte, den Unterschied erkannt zu haben. Starosta bezeichnet die Vermengung von Bedeutung und Bezeichnung martialisch gar als „infection“ (Starosta 1978: 467) und attestiert Fillmore polemisch: „that he had better not go off his medication just yet“ (ebd.). Die Framesemantik kämpft – möglicherweise wegen des starken Fillmore-Einflusses – nach wie vor mit der unsauberen Trennung und diese greift von der Framesemantik auf die Konstruktionsgrammatik über, wenn diese Inhaltsseiten framesemantisch zu beschreiben versucht. Für die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik ist zur Herleitung der Inhaltsseiten von Argumentstrukturkonstruktionen eine Bedeutungstheorie wie die signifikative Semantik adäquater, die die prototypischen Elemente der Argumentstrukturkonstruktionen absichert. Gleichzeitig ist die signifikative Semantik geeigneter, den Anspruch der Konstruktionsgrammatik zu erfüllen, Bedeutungsund nicht Bezeichnungsseiten zu modellieren.
4 Konstruktionsgrammatisches Potential der Grundvalenztheorie Trotz der diskutierten Probleme ist eine Ausarbeitung der Grundvalenztheorie von integraler Bedeutung für die Konstruktionsgrammatik, da alle angesprochenen Probleme conditiones sine qua non für die Funktionsfähigkeit einer Konstruktionsgrammatik im Bereich der Argumentstrukturmuster sind. D. h., ob mit oder ohne Grundvalenzkomponente muss eine Konstruktionsgrammatik alle geschilderten Probleme lösen, wenn sie ihren Anspruch der Gebrauchsbasiertheit oder präziser genereller Anwendbarkeit einlösen möchte. Die Grundvalenztheorie kann dann der Missing Link sein, der die prototypischen Realisierungen modelliert, die für die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik von jeher so problematisch sind. Eine so verstandene Konstruktionsgrammatik kann sich dann auf die Modellierung des Speziellen (also der produktiven Belege) fokussieren, in der ihre Stärken liegen. Zentral bei der Verzahnung ist das Konzept
men ablehnt, den semiotischen Konsens seit Saussure aufgibt, nach dem Zeichen nicht nur aus Ausdruck (Form) und Inhalt (Bedeutung) bestehen, sondern auch das eine nicht ohne das andere zu denken ist (Blatt-Metapher).
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der Koerzion, über das Grundvalenzmuster erhöht und/oder reduziert werden (können). Konkret geht es um die Frage, wie genau aus Grundvalenzstrukturen und Koerzion neue Strukturen entstehen. Ich möchte diese Frage am Beispiel niederfrequent belegter Argumentstrukturkonstruktionen für die hier untersuchten Verben illustrieren. Die Lesart von bauen in einer ditransitiven Argumentstrukturkonstruktion ist bereits in Höllein (2020b) ausführlich beschrieben worden. Deshalb möchte ich hier auf bestehen im Sinne der folgenden Lesart eingehen: (16) Europa könne den Wettbewerb bestehen. Gehen wir davon aus, dass die Ergebnisse der Untersuchung in Abschnitt 3.1 das gegenwärtige System des Deutschen korrekt abbilden, realisiert Beleg (16) keine der in Abschnitt 3.1 gelisteten drei empirisch häufigsten Grundvalenzstrukturen. Vielmehr wären sogar mehrfache Koerzionen nötig, um von einer der Grundvalenzstrukturen zur Struktur in Beleg (16) zu gelangen.
Im oberen Teil der Grafik sind die Grundvalenzstrukturen von bestehen schematisch wiederholt. Im Mittelteil der Grafik wird die Koerzion schematisch illustriert und der untere Teil der Grafik zeigt die Ziel-Argumentstrukturkonstruktion als Ergebnis der Koerzionen. Geht man von der empirisch typischen Grundvalenzstruktur bestehenSubj/Zustandsträger – POin+Dat/Disziplin aus, muss nicht nur das POin+Dat syntaktisch in ein Akkusativobjekt, sondern auch semantisch von der Rolle Disziplin in Handlungsgegenstand koerziert, die Prädikatsrolle von Zustand zu Handlung und die Subjektrolle von Zustandsträger zu Handlungsträger koerziert werden.
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Meine These ist, dass die Belegzahl umso geringer ist, je höher der Koerzionsaufwand ist. Diese These zu verifizieren oder falsifizieren, ist Aufgabe einer anderen Studie. Trifft die These aber zu, wäre zu erwarten, dass bestehen über eine Grundvalenzstruktur verfügt, die näher an der Handlungs-Lesart oder bestehen sogar eine handlungs-Lesart grundvalenziell kodiert, da der Koerzionsaufwand m. E. zu hoch für die relativ geringe Belegzahl (2 %) ist. In einem repräsentativen Korpus würde sich diese Grundvalenzstruktur dann empirisch frequenter abzeichnen. Als alternative Erklärung ist denkbar, dass die starke systematische Relevanz des transitiven Musters greift (Systemvalenz) und deshalb generell das Muster hier so stark wirkt, dass Koerzionen in das Handlungs-Muster leichter koerziert werden können, obwohl der Koerzionsaufwand hoch ist. Unabhängig von diesen empirischen Fragen ist damit der grundsätzliche Prozess beschrieben, über den im Rahmen der konstruktionsbasierten Grundvalenztheorie aus Grundvalenzstrukturen über Koerzionen Erhöhungen/Reduzierungen realisiert werden können.
5 Fazit Den Nutzen der Grundvalenz für die konstruktionsgrammatische Theoriebildung zu überprüfen, war Ziel dieses Aufsatzes. Die Diskussion grundlegender Probleme der Grundvalenz mag das Konzept auf den ersten Blick wenig geeignet für die konstruktionsgrammatische Theoriebildung erscheinen lassen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass die Probleme der Grundvalenztheorie auch zentrale Probleme der Konstruktionsgrammatik sind, die bislang weitgehend ausgeblendet worden sind. Insbesondere die theoretische und die methodische Kernfrage der Grundvalenztheorie sollten zu Leitfragen der Konstruktionsgrammatik werden: Die theoretische Frage lautet: Was ist die Grundvalenz oder – konstruktionsgrammatisch formuliert – welche Elemente bilden eine Argumentstrukturkonstruktion? Während die Valenztheorie zwischen Komplementen und Supplementen unterscheidet und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Komplemente zur Grundvalenz rechnet und Supplemente eben nicht, hat die Konstruktionsgrammatik diese Frage bislang schlicht nicht gestellt. Lediglich (ursprüngliche) Valenztheoretiker wie Welke (2019) werfen sie auch im Rahmen der Konstruktionsgrammatik auf. Konstruktionsgrammatisch ist der Status der Adverbiale in Argumentstrukturkonstruktionen deshalb unklar und die Grundvalenztheorie wäre ein geeigneter Ausgangspunkt für deren theoretische Modellierung. Deutlich geworden ist darüber hinaus, dass es in jedem Fall mehr als eine Grundvalenzstrukturen/Argumentstrukturkonstruktionen pro Verb geben kann.
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Dagobert Höllein
Die methodische Frage lautet: Wie ist die Grundvalenz zu bestimmen bzw. – konstruktionsgrammatisch formuliert – wie werden Zahl und Art der Partizipanten von Argumentstrukturkonstruktionen bestimmt? Während die Konstruktionsgrammatik auch diese Frage bislang nicht gestellt hat, ist die häufigste Antwort in der valenztheoretischen Literatur eine empirische. Die häufigsten Valenzstrukturen sind bislang die frequentesten. Dass diese Lösung mit Problemen behaftet ist, ist im Aufsatz mit Verweis auf Feilkes (1998) Theorie der idiomatischen Prägung problematisiert worden. Ein zusätzliches theoretisch-methodisches Problem ist das Variantenproblem, also die Frage, welche realisierten Token man noch einem abstrakten Type zuordnen will. Während die Valenztheorie über die Valenzlexika recht früh die Anwendung der Theorie erprobt hat, entzieht sich die konstruktionsgrammatische Literatur (auch die gebrauchsbasierte) bislang weitgehend der Anwendung ihrer Theorie auf echte Sprachdaten, weshalb die Überlegungen hier als Anstoß gesehen werden können. Insbesondere die Modellierung des Konstruktikons, das zunehmend in den Blick der Theoriebildung rückt, hängt zentral mit der Beantwortung dieser Frage zusammen.
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Überlegungen zu Konstruktion und Grundvalenz
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Marc Felfe
Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion. Überblendung, Fragment oder Fusion? 1 Einleitung Ausgehend von der Alternanz zwischen Dativ und Akkusativ in Ausdrücken wie jemandem auf den Fuß treten versus jemanden auf den Fuß treten werden in diesem Beitrag Antworten auf die folgenden Fragen vorgeschlagen: Entspricht der formalen Alternanz ein semantischer Unterschied? Was hat es mit der sogenannten Pertinenzrelation auf sich? Lässt sich die Alternanz konstruktionsgrammatisch erklären? Wie wären entsprechende Konstruktionen zu motivieren? Die Überlegungen stützen sich auf Daten, die mehrheitlich aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo)1 aber auch aus mittelhochdeutschen2 und frühneuhochdeutschen3 Korpora stammen. Zuerst wird das Phänomen bezüglich möglicher Verben und des syntaktischen Status der Dativ-NP vorgestellt. Anhand von Belegen wird gezeigt, dass erstens der Dativ subklassenspezifisch, aber nicht im valenziellen Sinne verbregiert ist und dass zweitens der Dativ nicht notwendigerweise eine Pertinenzrelation kodiert. Im dritten Abschnitt geht es um bisherige Deutungen der Alternanz: Ausdrücke mit Dativ und Akkusativ werden als bedeutungsgleich analysiert oder mögliche Unterschiede werden auf konnotativer, diskurssemantischer oder konzeptueller Ebene verortet. Ein formal durch den Akkusativ im Gegensatz zum Dativ kodierter Bedeutungsunterschied wird nicht diskutiert. Dieser wird im vierten Abschnitt auf unterschiedliche signifikativ-semantische Rollen zurückgeführt. Während der Akkusativ in der Nominativ-Akkusativ-Konstruktion (Handlung) das Patiens denotiert, markiert der Dativ die Rolle des Zuwendungsbetroffenen. Konzepte wie Benefizient/ Malefizient und Experiencer werden als Folgemerkmale von der kodierten subjektiven Betroffenheit abgeleitet. Anschließend werden die Ausdrücke mit Akkusativ und PP als überblendete Konstruktionen analysiert. Die Ausdrücke mit Dativ sind Instanzen von Argumentkonstruktionen. Diese werden weder von projizierten Token-Konstruktionen wie jemandem über die Straße helfen abgeleitet, noch als
1 https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/faces/investigation/corpus.xhtml . 2 Referenzkorpus Mittelhochdeutsch https://www.linguistics.rub.de/rem/ 3 Bonner Frühneuhochdeutschkorpus https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/FnhdC/ https://doi.org/10.1515/9783111334042-005
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Fragment der Ditransitivkonstruktion w. z. B. jemandem [den Leuchter] auf den Kopf schlagen bestimmt. Ich werde für eine Fusion aus zwei selbständigen Konstruktionen argumentieren. Im fünften Abschnitt wird gezeigt, wie die formal durch den Dativ kodierte Rolle konzeptuell, durch Implikaturen und Präsuppositionen für ein sinnvolles Verständnis angereichert wird und welche Rolle die Pertinenzrelation als eine Zugehörigkeitsrelation im weitesten Sinne spielt.
2 Das Phänomen Bestimmte transitive Verben können zusammen mit einer direktionalen PP entweder mit einer NP im Akkusativ (1a) oder aber mit einer NP im Dativ (1b) gebraucht werden. (1)
a. Er beugte sich herunter zu mir, küsste mich auf die Stirn […]4 b. Er brachte mich sicher an den Rand, küsste mir auf die Stirn […]5
Mit beiden Ausdrücken kann auf die gleiche außersprachliche Situation referiert werden. Die Alternanz tritt auch wie in (2) innerhalb eines Satzes auf. (2)
Dort warf man mich auf den Boden, trat mir ins Gesicht und schlug mich mit einem elektrischen Vielstachel-Stock und trat mich in die Brust.6
Folglich variiert dieser Kasusgebrauch nicht nur interindividuell, zwischen verschiedenen Sprecherinnen und Sprechern, sondern auch intra-individuell. Unkommentiert wird das Original aus Brechts Dreigroschenoper mit einer Akkusativ-NP (3a) häufig7 wie in (3b) mit der entsprechenden NP im Dativ wiedergegeben. Die Alternation bezeichnet Schmid (2006: 56) als „weitgehend ohne Bedeutungsunterschied“.
4 Z99/910.02074 Die Zeit, 30.10.1999. Belege aus dem DeReKo werden mit der Position angegeben. 5 HMP16/JAN.00295 Hamburger Morgenpost, 06.01.2016. 6 RHZ05/JUL.06165 Rhein-Zeitung, 06.07.2005. 7 Bei einer Google-Suche [15.11.21] werden 881 Treffer mit Akkusativ gegenüber 1.040 Treffern mit Dativ angezeigt. Im DeReKo [W – Archiv der geschriebenen Sprache] ist das Verhältnis umgekehrt: es finden sich 11 zitierende Belege mit Akkusativ und 3 mit Dativ, was an der textsortenspezifischen Treue zum Original liegen dürfte. Auch im DeReKo überwiegt bei nicht zitierenden Belegen eine Form von hauen mit Dativ (ihm) und einer direktionalen auf-PP mit 81 Belegen gegenüber 2 Belegen mit Akkusativ (ihn) und einer direktionalen auf-PP.
Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion
(3)
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a. Der Mensch ist gar nicht gut/drum hau ihn auf den Hut8 b. Der Mensch ist gar nicht gut/drum hau ihm auf den Hut9
Auffällig ist, dass das Substantiv in der PP häufig ein Körperteil denotiert und die Referenten der NP im Akkusativ und im Dativ als Träger dieses Körperteils verstanden werden. Auf jener Teil-Ganzes-Relation beruht der Pertinenzbegriff. Typischerweise wird er von Körperteilen auf getragene Kleidung, enge menschliche Beziehungen, unmittelbares Zubehör wie ein gefahrenes Transportmittel bis hin zur einfachen Besitzrelation10 ausgedehnt. Allerdings ist bei dem entsprechenden Verständnis die Akkusativvariante lexikalisch an ein Substantiv in der PP gebunden, welches ein Körperteil (4a) bezeichnet. Ansonsten wird die Äußerung im Sinne der kausativen Bewegung (4b) verstanden oder sie ist nicht interpretierbar, da nicht kompositional (4c). (4)
a. Sie trat den Mann auf den Fuß. b. Sie trat den Mann auf den Boden/in die Flucht. c. ?Sie trat den Mann auf die Blumen.
Das ist bei der Dativkonstruktion nicht der Fall. Zwar zeigt die automatisch erstellte Kookkurrenzanalyse im DeReKo, dass alle statistisch relevanten Zusammenvorkommen mindestens eine Körperteilbezeichnung aufweisen.11 Aber das Substantiv in der PP muss nicht ein Körperteil des Dativ-Referenten bezeichnen (5). (5)
a. da kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze Hunde an glühenden Ketten, […]: die schrieen greulich, traten ihm auf sein Feuer, zerrten es auseinander und wollten es ausmachen.12
8 Bertold Brecht (1928): Die Dreigroschenoper. Berlin: Suhrkamp, 1968, S. 79. 9 E14/MAI.02373 Tages-Anzeiger, 30.05.2014. 10 Den wohl engsten, da auf Körperteile beschränkten Pertinenzbegriff setzt Isačenko (1965: 14) an, den wohl weitesten bis hin zur reinen Zugehörigkeit von Polenz (1966: 162). Helbig & Buscha (2001: 291) differenzieren, sicher in Folge von Helbig (1984) zwischen Pertinenz zur Bezeichnung einer unveräußerlichen Teil-Ganzes- oder Träger-Relation und nur temporär bestehenden Besitzverhältnissen. 11 So zum Beispiel nach Rang aufgeführt bei treten (agentive und nicht agentive Bedeutung) mit Dativ-NP: Schweiß auf Stirn, in den Bauch, Tränen in die Augen, in den Unterleib, in den Rücken, auf den Fuß/die Füße, ins Genital, in/auf die Hacken, ins Gesicht. 12 Jacob und Wilhelm Grimm (1819): Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. In: Kinder- und Hausmärchen, gesammelt von Jacob und Wilhelm Grimm. München: Winkler, 1978, S. 57.
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b. Die Fahrradfahrer fahren oft mittig, dann schimpfen sie schnell, wenn man sie anhupt. Letztens hat einer mir gegen die Tür getreten.13 c. Trauer, unsägliche Trauer/Trat mir ins Haus14 In diesem Sinne trifft die Bezeichnung Pertinenzakkusativ, wie bei Zifonun et al. (1997: 1086), in der Duden-Grammatik (2016: 831, 950) und bei Ágel (2017: 521), besser als die gängigere Bezeichnung Pertinenzdativ zu. Allerdings hat die Pertinenzlesart in (4a) nichts mit dem Akkusativ zu tun. Im dritten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass es die Relationalität des Substantivs und die Definitheit der mit ihm gebildeten NP innerhalb der PP ist, welche die Pertinenzlesart auslösen und die Lesart als kausative Bewegung blockieren. In den Sätzen (5) besteht keine Trägerbeziehung zwischen Mensch und Körperteil. Um die Äußerung sinnvoll verstehen zu können, müssen wir einen Zusammenhang herstellen zwischen den Dativ-Referenten und der direktionalen Dynamik. Um die Art, jene Relevanz durch ein Possessivverhältnis im weitesten Sinne herzustellen, geht es im vierten Abschnitt. Verben, welche eine Alternanz zwischen Akkusativ und Dativ erlauben, sind dynamisch und verfügen über die Merkmale ‚Bewegung‘ und ‚Kontakt‘. In der transitiven Lesart ist ein belebtes, meist menschliches Kontaktziel stark präsupponiert. Es handelt sich um Verben wie beißen, boxen, fassen, hauen, kneifen, küssen, schlagen, schneiden, stechen, streicheln, treten, zwicken… Diese Verben verfügen in ihrer Valenz über eine zweite Ergänzung, welche durch eine NP im Akkusativ gesättigt wird (6a). Zusätzlich kann eine direktionale PP (6b) gebraucht werden. Grundsätzlich können diese Verben intransitiv gebraucht werden: entweder einwertig (6c) oder mit einer direktionalen PP als zweiter Ergänzung. Dies gilt für relationale (6d) und nicht relationale Substantive (6e) innerhalb der PP. (6)
a. b. c. d.
Der Hund biss mich. Als ich ihn verfolgte, biss mich sein Hund in die Wade.15 In mir steckt ein kleines Monster, das beißt, wenn man mich beleidigt.16 Mike Tyson hat’s einmal im Boxring vorgemacht und biss ins Ohr des Kontrahenten.17
13 BZ, 29.06.2017. 14 David Samojlow: Stimmen hinter dem Hügel. Gedichte 1938–1987. Herausgegeben von Holger Wendland. Dresden: Buchlabor, 2010. 15 NKU07/JUN.06880 Nordkurier, 26.06.2007. 16 FOC14/MAI.00194 FOCUS, 12.05.2014. 17 M01/MAI.36134 Mannheimer Morgen, 15.05.2001.
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e. Ein Irrer kommt auf den Bahnsteig gerannt, springt auf die Gleise und beißt in die Schiene.18 Anders als die Akkusativ-NP sättigt die Dativ-NP keine originär in der Verbvalenz angelegte Leerstelle.19 Die Dativ-NP ist anders als die Akkusativ-NP an das Vorhandensein der direktionalen PP gebunden (7a). Ohne diese wird die Äußerung ungrammatisch (7b).20 Engelen (1975: 120–121) hält auch die Dativ-NP für obligatorisch. Dem widersprechen jedoch Belege wie in (7c). Die fragliche Akzeptabilität von (7d) liegt an der ungesättigten Semantik des definit gebrauchten relationalen Substantivs in der PP. (7)
a. Bevor ich das Wasser verlasse, beißt mir eines der Biester ins Bein.21 b. ✶Bevor ich das Wasser verlasse, beißt mir eines der Biester. c. „Wenn jemand vorbeigeht springen die Hunde auf den Zaun, beißen in Beine und Fersen, zwicken in die Hosen“, weiß eine Frau.22 d. ?Der Hund beißt ins Bein.
Sowohl die NP im Akkusativ als auch die NP im Dativ verfügen über alle typischen Eigenschaften von Satzgliedern. Sie sind erfragbar, voranstellbar und pronominalisierbar. Isačenko (1965: 14–15) und v. Polenz (1969: 163–165) halten die Dativ-NP für eine Ableitung aus einem possessiven Verhältnis. Primär handele es sich um eine attributive Beziehung der Person zu dem Referenten einer NP, welche ein Körperteil denotiert. Ihr Hauptargument ist die Umformbarkeit der Dativ-NP in ein Genitiv-Attribut (8). (8)
Der Hund biss dem Mann ins Bein –> ins Bein des Mannes.
18 BRZ06/JAN.02760 Braunschweiger Zeitung, 07.01.2006. 19 So wird z. B. im EVALBU bei treten angemerkt, dass ein Pertinenzdativ möglich sei, bei schlagen sei er üblich (Kubczak 2010). In die Satzbaupläne wird dieser Dativ nicht aufgenommen. Helbig & Schenkel (1983: 427) bemerken, dass bei treten ein „zusätzlicher freier, possessiver Dativ“ möglich sei, wenn die NP innerhalb der PP ein Körperteil bezeichne. Allerdings bestimmen Helbig & Schenkel (1983: 42–43) den possessiven Dativ weder als Angabe noch als Ergänzung, sondern analog zum Genitivattribut als von der NP abhängig, welche ein Körperteil bezeichnet. 20 Belege ohne direktionale PP finden sich in älteren und/oder poetischen Texten, so z. B. in einem Gedicht von Karl Marx: Den Jüngling faßt’s, wie Wähnen,/Es stürzen ihm die Thränen,/Es klopft die volle Brust. Karl Marx: Weltgericht. Dichtungen aus dem Jahre 1837. Bonn: Dietz, 2017, S. 53. Im DeReKo lässt sich diese Konstruktion nur mit direktionaler PP belegen: ihm stürzen die Tränen aus den Augen/übers Gesicht/über die Wangen. 21 Z01/111.05953 Die Zeit, 29.11.2001. 22 NKU03/AUG.02040 Nordkurier, 07.08.2003.
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Wenn auch der Wahrheitswert gleich sein mag, spricht nichts für eine attributive Grundstruktur, welche mit der possessor-raising-Analyse von Landau (1999: 10) auch in der Generativen Grammatik angenommen wird.23 Unter dem Gesichtspunkt des Wahrheitswerts wäre auch die Akkusativ-NP in ein Genitivattribut umformbar: den Mann ins Bein beißen/ins Bein des Mannes beißen. Dies wird jedoch nicht vorgeschlagen, weil der Status der Akkusativ-NP als Objekt unumstritten ist. Isačenko (1965), v. Polenz (1969), Helbig (1984), Engel (2009), Landau (1999) u. a. umgehen die Frage nach dem Satzgliedstatus der Dativ-NP mittels der ‚tiefen‘ Attributanalyse, weil sie nicht in der Valenz der entsprechenden Verben verankert ist. Die Differenz zwischen Dativ-NP und Genitiv-NP (8) ist eklatant. Helbig & Buscha (2001: 264) begründen wie Engel (2009: 143)24 die Attributanalyse der Dativ-NP damit, dass diese, wie oben erwähnt, vom Substantiv in der direktionalen PP abhänge. Dass Satzglieder an das Vorhandensein anderer Satzglieder gebunden sind, ist unter dem Stichwort der Kasusdependenz25 bekannt. So ist auch bei ditransitiven Verben die Realisierung der Dativ-NP an das Vorkommen einer Akkusativ-NP gebunden: ✶sie schenkt dem Freund.26 In unserem Fall ist die Realisierung der Dativ-NP an das Vorhandensein einer direktionalen PP gebunden. Das ist ein Indiz für die höhere Anbindung der Dativ-NP in der Konstituentenstruktur. Es stellt aber nicht die Abhängigkeit der Dativ-NP vom Verb infrage. Konstituenz und Dependenz sind zwei wesentliche, aber getrennt zu betrachtende Prinzipien sprachlicher Strukturbildung. Diese beruht primär auf Abhängigkeitsbeziehungen, sekundär auf der schrittweisen Verbindung von regierendem und abhängigem Element. Welche Satzgliedfunktion kommt dieser Dativ-NP als sogenanntem freien Dativ zu? Offensichtlich ist sie nicht durch die Grundvalenz27 der aufgeführten Verben lizenziert. Deshalb und durch mögliche Transformationen z. B. in ein Geni-
23 Possessor-raising besagt, dass eine tiefenstrukturelle Genitiv-NP aus der Spezifikatorposition einer DP (welche das Komplement einer Präposition ist) an der Oberfläche auf die Schwesternposition von v‘ angehoben wird und mit ihr eine vP bildet. 24 Engel vertritt die Attributanalyse bereits in der ersten Auflage von 1977, S. 180–182. 25 Hierauf beruht die Annahme von Czepluch (1987: 22), dass der Dativ als struktureller Kasus zwar nicht direkt von V, sondern von der Konfiguration V‘ abhänge, was auch Wegener (1991: 90) und Ogawa (2003: 18–27) übernehmen, um die Lizenzierung eines zusätzlichen Dativs über die Konstituentenstruktur, eben strukturell zu erklären. Willems & Pottelberge (1998: 59–60) argumentieren dafür, dass der Dativ als zusätzliches Argument zu einer gesamten Argumentkonstruktion samt Subjekt zu werten sei, da ditransitive Konstruktionen auf der Erweiterung einer transitiven Grundstruktur beruhen. 26 So auch Wegener (1985: 128). 27 Welke (1988: 63) bezeichnet die Grundvalenz als „das Wissen der Sprecher/Hörer über das übliche Argumentenpotential (die übliche Perspektivierung, die starke Präsupposition) und damit
Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion
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tivattribut bestimmt sie Helbig (1984: 196, 208) durchgängig nicht als Argument, sondern als attributähnlich. Bei einer möglichen für-Paraphrase und/oder Auslagerung mit und das geschah bestimmt er sie als adverbialähnlich. Ich bestimme die besprochene Dativ-NP genauso wie die anderen sogenannten freien Dative (außer Iudicantis und Ethicus) als Argument.28 Dieses basiert auf einer Valenzerhöhung, die im vierten Abschnitt (4.3) konstruktionsgrammatisch erklärt wird. Der Referent der Phrase, welche durch die Argumentkonstruktion lizenziert wird, ist an dem von der Konstruktion ausgedrückten Sachverhalt beteiligt.29 Im Folgenden werden die Indizien für den Argumentstatus der Dativ-NP aufgeführt, welche die Funktionsbestimmung als Dativobjekt rechtfertigen. Erstens ist die Dativ-NP, um die es hier geht, bezüglich der Verben nicht frei. Sie wird nur mit bestimmten Verbgruppen gebraucht. Zweitens können sogenannte freie Dativ-NPs als Anker für elliptische Auslassungen von valenzgeforderten Dativ-NPs fungieren. Drittens werden die hier besprochenen Dativ-NPs bei der passivischen Perspektivierung auch wieder als Sachverhaltsbeteiligte, und zwar als Nominativ-NP mit der Rolle eines Vorgangsträgers in Szene gebracht. Auf dem Muster der bereits beschriebenen Gruppe transitiver Verben mit den Merkmalen Bewegung und Kontakt werden auch Vorgangsverben wie brennen, hageln, regnen, scheinen, schneien, wehen mit einer Dativ-NP und einer direktionalen PP gebraucht (9). So wie jemand seinen Arm zum Schlagen bewegt, so können Vorgänge wie Brennen, Regnen und Wehen selbst als zielgerichtet dargestellt werden. Typischerweise wird ein Körperteil als Ziel dargestellt (9a), aber nicht ausschließlich (9b). Alternative Ausdrücke mit einer NP im Akkusativ sind nicht möglich. (9)
a. Die Sonne brennt mir auf den Schädel.30 b. Es ist heut ein goldner Herbsttag; die Sonne scheint mir aufs Papier.31
über die übliche (usuelle) signifikative Bedeutung der Verben“. Siehe zur Diskussion den Beitrag von Dagobert Höllein in diesem Band. 28 Cf. Wegener (1985: 140–141), Welke (1988: 72–74), Eisenberg (2006: 299), Zifonun et al. (1997: 1088). 29 Damit beziehe ich mich hier konstruktionell auf die Valenzdefinition von Fischer (2013: 109), der die Beteiligtheit eines Arguments an dem ausgedrückten Sachverhalt für das wesentliche Valenzmerkmal hält: „Valenz ist der Entwurf eines Kernsachverhalts durch ein Verb, Ergänzungen sind Phrasen, deren Referenten in diesem Entwurf vorgesehen sind.“ 30 NZZ00/MAR.04740 Neue Zürcher Zeitung, 25.03.2000. 31 Theodor Storm an Paul Heyse 14.10.1885. In: Albrecht Bernd Clifford (Hrsg.): Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. III. Band 1882–1888. Berlin: Erich Schmidt, 1974, S. 119.
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Außerdem werden intransitive Verben, die eine Emissionsbedeutung haben, mit einer Dativ-NP und einer direktionalen PP gebraucht. Die Emission kann akustisch sein wie bei brummen, heulen, pfeifen, rülpsen, schnarchen, seufzen, stöhnen (10a). Sie kann wie bei grinsen, lächeln, schmunzeln (10b) gestisch und wie bei kacken, kotzen, pissen, spucken (10c) materieller Natur sein. Auch bei diesen Verben liegt zwischen dem Dativ-Referenten und dem Referenten der NP innerhalb der PP typischerweise ein Pertinenzverhältnis vor, obligatorisch ist es aber nicht (10c). (10)
a. Dein Bruder […] schnarcht dir ins Ohr.32 b. Entweder ignorieren mich die Schmackos aus dem Süden, oder sie lächeln mir ins Gesicht.33 c. Zusammen mit Mann Adolf ist sie zu Besuch bei Freund Gustav und kotzt dem hinters Sofa.34
Diese Verben verfügen nicht unbedingt über das Merkmal Bewegung (✶wohin schnarcht er), dieses kann aber mittels einer direktionalen PP koerziert werden (durch die Nase/durch die Wand schnarchen). Transitiv verwendbar sind sie in der Regel nur mit einem kognaten Objekt wie ein schönes Lächeln lächeln. Auch transitiv verwendbare Verben der Kommunikation und Kommunikationsart wie flüstern, keifen, schreiben, schreien werden intransitiv mit einer NP im Dativ und einer direktionalen PP gebraucht (11). Von dem kommunizierten Inhalt wird abstrahiert. (11)
Um den Bewußtseinsgrad des alten Mannes zu prüfen, kneift ihn Thierbach heftig in den Arm, brüllt dem Schwerhörigen ins Ohr.35
Die kommunikative Bedeutung der Verben wird auf dem Muster zielgerichteter Tätigkeiten aktualisiert. Die Grenzen zwischen Geräuschverben wie heulen und kommunikativen Verben wie schreien sind fließend. Die nächste Gruppe bilden Fortbewegungsverben wie gehen, fahren, laufen, treten. Im Unterschied zu den transitiven Verben wie beißen und schlagen bedeuten sie die Fortbewegung des Subjektreferenten, typischerweise hin zu einem Ziel oder entlang eines Weges (12a–b). Ebenso werden Vorgänge metaphorisch auf dieser Schablone ausgedrückt (12c). Auf diesem Muster wird auch treten in der Bedeutung
32 U05/JUL.01302 Süddeutsche Zeitung, 08.07.2005. 33 RHZ08/DEZ.06308 Rhein-Zeitung, 09.12.2008. 34 U96/NOV.72036 Süddeutsche Zeitung, 02.11.1996. 35 RHZ99/MAR.04492 Rhein-Zeitung, 06.03.1999.
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von ‚gelangen‘ gebraucht, z. B. wenn jemandem Tränen in die Augen treten oder Schweiß auf die Stirn. (12)
a. Ein 36-jährige Autofahrer hatte die 15-jährige übersehen, als er in die Liebenhaller Strasse einbog. Sie fuhr ihm in die Tür.36 b. Da traten mir plötzlich zwei Soldaten vors Auto, sagt er.37 c. Diese Ironie und das Lebenswerk des Künstlers gehen mir ins Herz.38
Auch sogenannte ergative Vorgangsverben wie fallen, rutschen, stürzen, wachsen können analog zu den Fortbewegungsverben mit einer Dativ-NP und einer direktionalen PP gebraucht werden. Auch mit diesen Verben liegt häufig eine Pertinenzrelation vor (13a), obligatorisch ist diese aber nicht (13b). (13)
a. Der Helm rutschte mir ständig über die Augen.39 b. Wenn ich das meinem Freund Manzauer erzähle, der rutscht mir unter den Tisch vor Lachen.40
Zwar handelt es sich bei der Dativ-NP in den hier besprochenen Fällen um ein zusätzliches Argument, aber dieses ist auf die erwähnten Verbgruppen beschränkt und in diesem Sinne subklassenspezifisch. Bis auf diejenigen transitiven Verben, welche alternierend mit Akkusativ oder Dativ zusammen mit einer direktionalen PP gebraucht werden, stellt der Dativ hier die einzig mögliche Argumenterhöhung intransitiver Verben und Verbvarianten dar (✶jemanden ins Ohr schnarchen). Was bisher keine Beachtung gefunden hat, ist, dass jene Subklassenspezifik auf dem aktualisierbaren oder koerzierbaren Merkmal Bewegung beruht und nicht auf Aktionsarten41. So werden sowohl Tätigkeits- als auch Vorgangsverben, die mit einer direktionalen PP kombinierbar sind, um ein Argument im Dativ erweitert. Ein weiteres Argument für den Argument- und damit Objektstatus der Dativ-NP ist die Tatsache, dass sich zusätzliche und valenziell lizenzierte Objekte gleich verhalten. Hierauf weisen Müller & Wechsler (2014: 27) hin. Die nicht via 36 BRZ08/SEP.03637 Braunschweiger Zeitung, 06.09.2008. 37 RHZ18/NOV.23585 Rhein-Zeitung, 24.11.2018. 38 B13/FEB.02416 Berliner Zeitung, 27.02.2013. 39 PRF05/NOV.00369 profil, 21.11.2005. 40 DIV/EPP.00001 Emme, Pierre: Pastetenlust. Meßkirsch: Gmeiner-Verlag, 2009. 41 Traditionellerweise geht es um die sogenannte Aristotle-Ryle-Kenny-Vendler-Klassifizierung nach temporalen Kriterien und Kausativität: accomplishment, activity, achievement, state. Cf. Dowty (1979: 51). Im dritten Abschnitt werden die Aktionsarten erstens strikt signifikativ-semantisch (statt denotativ) und zweitens auch formal bestimmt. Der Handlungsbegriff wird an die Anwesenheit eines Akkusativobjekts gebunden, der Tätigkeitsbegriff an seine Abwesenheit.
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Grundvalenz lizenzierte Dativ-NP dient als Anker für die elliptische Auslassung der valenziell geforderten Dativ-NP im gleichen Satz (14). (14)
Die er – seinem Alter entsprechend – auch gleich damit bezirzte, dass er ihrj auf den Schoß kletterte und []j einen Kuß gab.42
Ein weiteres wesentliches Indiz für den Argumentstatus der Dativ-NP ist, dass diese genauso wie verbal lizenzierte Akkusativ-NPs bei der Vorgangsperspektivierung im Passiv beteiligt ist. So wie die Akkustativ-NP der Aktivstruktur (15a) beim werden-Passiv als Vorgangsträger im Nominativ ausgedrückt wird (15b), so wird auch die Dativ-NP der Aktivstruktur (16a) beim bekommen-Passiv zum Ausdruck des Vorgangsträgers im Nominativ (16b) kodiert.43 (15)
a. Einer trat ihn in die Rippen […]44 b. Er wurde in die Rippen getreten und blutete aus dem Mund.45
(16)
a. Die Frau stieß ihn um, trat ihm gegen das Schienbein […] 46 b. „Ich habe gegen das Schienbein getreten bekommen“, sagte Benjamin Auer.47
Die am Sachverhalt beteiligten Objektreferenten der Aktivstruktur bleiben auch in der Passivstruktur sachverhaltsbeteiligt, aber ihre syntaktische Realisierung und ihre semantische Rolle ändern sich. Umstritten ist aber die Frage nach dem funktionalen Unterschied zwischen Akkusativ- und Dativ-NP, also zwischen (15a) und (16a). Hierum geht es im folgenden Abschnitt.
3 Deutungen der Akkusativ-Dativ-Alternanz Die Alternanz zwischen Akkusativ und Dativ betrifft ausschließlich transitive Verben, bei denen anstelle des valenziell lizenzierten Akkusativobjekts ein Dativobjekt vorkommen kann. Entsprechende Ausdrücke können mit beiden Kasus 42 P09/JUN.02443 Die Presse, 24.06.09. 43 Die Vorgangsperspektivierung im Passiv ist bei Vorgangsausdrücken wie der Ring fiel ihr ins Meer vorhersagbar nicht möglich. 44 S13/NOV.00061 Der Spiegel, 04.11.2013. 45 NUN92/JUN.00281 Nürnberger Nachrichten, 04.06.1992. 46 M03/APR.23857 Mannheimer Morgen, 10.04.2003. 47 RHZ03/NOV.15248 Rhein-Zeitung, 20.11.2003.
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potentiell auf dieselbe außersprachliche Situation verweisen, sind also extensional gleichbedeutend. Die Frage nach der Motivation und Funktion der Alternanz wird seit langem und äußerst kontrovers diskutiert. Knobloch (2015: 253) schreibt diesbezüglich: „Hier findet man die widersprüchlichsten (und oft pseudosemantischen) Argumentationen“. Die relativ diffusen Deutungen der Differenz und die meist konnotativen und pragmatisch-interpretatorischen Faktoren werden in diesem Abschnitt dargestellt. Im dritten Abschnitt werde ich anders als in bisherigen Untersuchungen nicht von der potentiellen Bedeutungsgleichheit bezüglich des Denotats ausgehen, sondern bei der formalen Differenz als Ausdruck unterschiedlicher semantischer Rollen ansetzen. Bei entsprechender Konkurrenz hält Grimm (1837: 684) den Dativ für „frischer, lebendiger und in der sprache älter“. Für Delbrück (1907: 190) dient der Akkusativ dem Ausdruck des von der Handlung betroffenen Objekts, wohingegen der Dativ ein an der Handlung beteiligtes Wesen kodiert. Wilmanns (1909: 653–654) schreibt bezüglich der Alternanz zwischen Akkusativ und Dativ, dass beide Kasus „eine zarte Grenze trennt“ und merkt an: „Wir meiden den Akkusativ umso mehr, je weniger wir die Person als Objekt der verbalen Tätigkeit ansehen.“ Havers (1911: 2, 267) hält den in ein Genitivattribut transformierbaren Dativ für einen eigenen Typ und bezeichnet ihn als sympatheticus: „Dieser Dativ drückt eben die innere Anteilnahme der von dem Verbalbegriff betroffenen Person aus, er ist subjektiver, wärmer und innerlicher als der Genitiv […]“. Im Unterschied zum Akkusativ würden Äußerungen mit dem Dativ ein unabsichtliches Geschehen ausdrücken. Dies haben Matthias (1897: 194) und später auch Weisgerber (1962: 312) vorgeschlagen. Ihnen zufolge schwinge bei einen auf den Fuß treten Absichtlichkeit mit, bei einer Frau auf den Rock treten liege hingegen ein Versehen vor. Matthias (1897: 195) vermutet, dass der Dativ für den Gebrauch in übertragenen Redewendungen prädestiniert sei, da er „innerlicher und bildlicher“ als der Akkusativ sei: ich schneide mich in den Finger vs. die Trauerbotschaft schneidet mir durch den Leib. Diese Erklärung übernimmt auch Grebe in der Duden-Grammatik (1959: 455). Anhand einer korpuslinguistischen Untersuchung zeigt Starke (1970: 73–74), dass das nicht der Fall ist. Auch im metaphorisch geprägten Sprachgebrauch findet sich die Kasusalternanz: jemanden oder jemandem vor den Kopf stoßen. Klare Tendenzen sind aber beobachtbar. Im DeReKo finden sich keine Belege mit eindeutigem Akkusativ für sich auf die Zunge beißen und nur wenige Belege für sich in den Hintern beißen. Ebenso wird bei unbelebtem Subjekt der Dativ stark präferiert: der Rauch beißt mir vs. mich in die Augen, was Wegener (1985: 169) auf mangelnde Agenseigenschaften des Subjekts zurückführt. Obwohl Paul (1919: 380, 411–412) den freien Dativ als Kasus für Belebtes bestimmt, welcher dem „Ausdruck des Interesses, eines Beteiligtseins irgendwelcher Art“ dient, führt er die Alternanz zwischen Akkusativ und Dativ letztlich auf
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ein ins Schwanken geratenes Sprachgefühl zurück, so „dass auch neben sonst trans. Verben der Akk. mit dem Dat. vertauscht worden ist“ (Paul 1919: 412–413). Behaghel (1927: 352) schreibt bezüglich der Dativ-Akkusativ-Alternanz, dass sich die Sprache „die merkwürdigsten Launen“ gestatte. Er verwirft konnotative Erklärungen eines innerlich anteilnehmenden Dativs gegenüber einem eher äußerlich betroffenen Akkusativ und zeigt, dass auch die Absichtlichkeit der Tätigkeit kein sicheres Kriterium ist, um die Differenz beider Kasus zu erklären.48 Letztlich hält Behaghel (1927: 350) den Dativ für einen strukturellen Lückenbüßer, der dort gebraucht wird, „wo keine ungefähr gleichartige, wenn auch unbestimmtere Fügung mit dem Akkusativ danebensteht“. Mit dem Akkusativ wie in den Feind aufs Haupt schlagen werde eher ein punktuelles, abschließendes Ereignis ausgedrückt. Behaghel (1923: 609) sieht die Grundfunktion des Dativs im Ausdruck einer Person, der sich ein Vorgang oder eine Handlung zuwendet. Auch von Polenz (1969: 166) bestimmt den sogenannten Pertinenzdativ, entgegen seiner Auffassung der denominalen Dependenz, als „Partizipationsdativ“. Eine ähnliche Deutung nimmt Zubin (1977: 91) vor: „The accustive will emphasize the effect on the person, whereas the dative will emphasize his personal involvement“. Allerdings bezweifelt Behaghel (1927: 352), dass sich Sprecher möglicher Differenzen bewusst seien – eine Auffassung, die auch Starke (1970: 77–78) vertritt. Wegener (1985: 168–169) ermittelt bei einer Umfrage unter 38 Studierenden, dass Ausdrücke mit dem Akkusativ wie er tritt ihn auf den Fuß bezüglich der Einwirkung auf den Akkusativ-Referenten intensiver und bezüglich des Subjekts als absichtlicher verstanden werden als beim Dativausdruck jemandem auf den Fuß treten. 24 der 38 Befragten würden allerdings keinen Bedeutungsunterschied ausmachen können. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte darin bestehen, dass zwischen manchen Akkusativ- und Dativformen Synkretismus besteht. Dies ist bei artikellos gebrauchten Eigennamen, dem Reflexivpronomen und den Personalpronomen der ersten und zweiten Person Plural der Fall: er tritt Paul auf den Fuß, er tritt sich/uns/euch auf den Fuß. Nach Starkes (1970: 67) Belegsammlung machen diese Fälle 15% aus und könnten für die Alternanz aus Unsicherheit verantwortlich sein. Den Formenzusammenfall für die Alternanz verantwortlich zu machen, würde heißen, nur noch von diskreten Resten neben einem eigentlichen Gemeinschaftskasus nach Sütterlin (1907: 189) auszugehen (analog zum Englischen). Allerdings spricht einiges dagegen, den partiellen Synkretismus für die Alternanz, quasi aus Unsicherheit der Spreche-
48 Behaghel (1927: 349–350): „Wenn ich einer Dame beim Tanzen auf die Schleppe trete, so ist das nicht innerlicher und bildlicher, als wenn ich sie aus Versehen mit einer Nadel in den Finger steche.“
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rinnen und Sprecher, geltend zu machen. Denn diese Alternanz tritt ausschließlich bei den Verben auf, die den Akkusativ regieren. Intransitive Verben werden zusammen mit einer direktionalen PP ausschließlich um eine Ergänzung im Dativ, nicht aber um eine im Akkusativ erweitert: er lächelt ihr ins Gesicht vs. ✶er lächelt sie ins Gesicht. Hier herrscht im Sprachgebrauch keine Unsicherheit. Die Idee eines Gemeinschaftskasus wäre nur dann plausibel, wenn sich eine systematische Formennivellierung wie im Niederdeutschen nachweisen ließe. Lee-Schoenfeld & Diewald (2014: 298–299) werten geschriebene (DeReKo) und gesprochene (DGD) Daten bezüglich der Alternanz zwischen Dativ und Akkusativ bei beißen, boxen, hauen, schlagen und treten aus und ermitteln, dass der Dativ vor dem Akkusativ klar dominiert und dass die Fälle, in denen sowohl Dativ als auch Akkusativ vorliegen kann, nur 2,95% betragen. Lee-Schoenfled & Diewald (2014: 302) halten die Alternanz für pragmatisch motiviert: wenn der Possessor im Akkusativ markiert werde, dann vorrangig zur Einführung eines neuen Diskursreferenten in formalen Texten wie Berichten, in denen Sachverhalte objektiviert werden und Sprecher/Hörer eher als Zeugen fungieren. Der generell dominierende Dativ werde hingegen besonders in informellen Erzählungen in der ersten Person gebraucht. Der Dativ führe zu mehr Empathie und der Dativ-Referent stehe im Vordergrund der Darstellung. Dies erklären die Autorinnen mit einer grundlegenden Differenz der Rollenmarkierung. Je mehr der Besitzer mit dem Körperteil identifiziert wird, umso eher werde er als Patiens im Akkusativ ausgedrückt. Nach Lee-Schoenfeld (2012: 402) ist der Possessor im Akkusativ affizierter als der im Dativ. Je mehr der Besitzer auch unabhängig vom Körperteil als Geschehensbeteiligter gesehen werde, umso eher werde er im Dativ kodiert (Lee-Schoenfeld & Diewald 2014: 300–301). Auch Mellado Blanco (2012: 11) schreibt speziell dem Pertinenzdativ das inhärente Merkmal der emotionalen Teilnahme zu. Hieraus ergebe sich der hohe Anteil des Pertinenzdativs in Phraseologismen gegenüber den möglichen Alternativen im Akkusativ oder Genitiv. Diese Interpretationen korrelieren mit Auffassungen der Inhaltsbezogenen Grammatik. So bezeichnet Brinkmann (1962: 435, 439) den Dativ als Kasus der „sinngebenden Person“, der „den Menschen als Person zur Geltung“ bringe, wohingegen der Akkusativ die Zielgröße des eingreifenden Handelns sei. Es sei hier nur am Rande auf ein ähnliches Phänomen im Englischen hingewiesen. Bei bestimmten Verben alterniert der Dativ mit einer to-PP: Ann gave Beth the car vs. Ann gave the car to Beth. Krifka (2005: 24–25) geht, trotz gleichen Wahrheitswertes, von unterschiedlichen semantischen Repräsentationen aus. Mit dem Dativ werde die Herstellung einer Haben-Relation ausgedrückt, mit der PP hingegen ein kausatives Bewegungsereignis. Allerdings lässt Krifka (2005: 26–27) offen, ob diese Differenz auf der jeweiligen syntaktischen Konstruktion oder auf der Polysemie
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der entsprechenden Verben beruhe.49 Rappaport & Levin (2008: 132–134) gehen jeweils von einer, in allen Gebrauchsvarianten stabilen verbalen Grundbedeutung aus. Diese werde mit verschiedenen Ereignisschemata kombiniert. Die Autorinnen lassen offen, ob diese formal an syntaktische Konstruktionen gebunden sind oder an lexikalische oder syntaktische Repräsentationen. Im hier aufgeführten Beispiel mit dem Verb give sehen sie keine Bedeutungsdifferenz zwischen der Dativund der PP-Struktur: in beiden Fällen handele es sich um die Herstellung einer Haben-Relation. Bei Verben wie throw hingegen, die in ihrer Semantik über ein Weg-Merkmal verfügen, könne mit der PP-Variante eine kausative Bewegung ausgedrückt werden im Gegensatz zur Herstellung einer Haben-Relation mittels Dativ-NP. Die hier in Kürze wiedergegebene Diskussion um die Alternanz von Dativ und Akkusativ lässt sich einteilen in zwei wesentliche Auffassungen. Der ersten zufolge besteht Bedeutungsgleichheit, wobei unter der Hand Bedeutung und Wahrheitswert bzw. Extension gleichgesetzt werden. Mögliche Unterschiede werden meist der Konnotation zugeschrieben. Der zweiten Auffassung zufolge handelt es sich um verschiedene Bedeutungen. In keinem der Ansätze wird der Bedeutungsunterschied ausgehend vom Kasus als formale Kodierung semantischer Rollen untersucht. Dies mag an invarianten Bedeutungskonzepten wie bei Paul (1919: 216) liegen: „Dagegen für den Dativ lässt sich kaum eine Grundbedeutung aufstellen, aus der sich alle Verwendungsweisen ableiten ließen“. Oder aber es liegt daran, dass moderne prototypische Rollentheorien binär angelegt sind: Foley & Van Valin (1984: 29) gehen von den Makrorollen Actor vs. Undergoer aus, Lakoff (1977: 244) von Agent vs. Patient und Dowty (1991: 572–573) von Proto-Agent vs. Proto-Patient. Ihr Ansatz ist prototypisch und denotativ, d. h. nicht an die sprachliche Ausdrucksform gekoppelt, sondern an entsprechende Situationen in der Welt. Primus (1999: 54–55) geht mit dem Proto-Rezipienten von einer dritten denotativen Makrorolle aus, welche allerdings nicht an den Dativ gebunden ist. Primus (2012: 59) formuliert neben der Rolle eines Proto-Rezipienten ein allgemeines Dativ-Prinzip. Diesem zufolge zeichnet das im Dativ realisierte semantische Argument aus, dass es keine Kontrolle über das vom Prädikat bedeutete Ereignis hat und das erste Argument in einer aus der Verbbedeutung präsupponierten oder implizierten Relation ist. Dies trifft aber auch auf Patiens-Argumente zu, wenn wir deren Zustandsveränderung als erstes Argument eines BECOME-Prädikats oder eines implizierten STATE-Prädikats entpacken. Blume (2000: 158–159), die ein an Teilsi49 Dieser differentielle Ansatz steht der Auffassung gegenüber, dass beide Argumentrealisierungen nur formale Varianten ein und derselben Bedeutung sind. Dabei werden beide Oberflächenstrukturen meist derivationell auf eine Tiefenstruktur bezogen. Cf. Rappaport Hovav & Levin (2008: 130–131).
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tuationen gebundenes prototypisches Wettbewerbsmodell für die Kasusvergabe zweiwertiger Verben mit Dativ erarbeitet, hält die Merkmale ‚Interesse‘ (ebenso wie beim Agens) und die Abwesenheit klarer Patiensmerkmale (nicht kontrolliert) für ausschlaggebend für die Dativzuweisung.50 Primus (1999, 2012) und Blume (2000) sehen Dativ-Argumente eher als Lückenbüßer zwischen den Merkmalen der Rollen Agens und Patiens. Eine Rolle kommt Dativ-Argumenten, abgesehen vom Proto-Rezipienten bei Primus (1999: 54–55), nicht zu. Auch wenn beide Autorinnen durch theoretische Prämissen den Kasusformen keine Kodierungsfunktion zugestehen, überrascht das. Denn gerade die durch die Dativform ausgedrückten Argumente weisen eine mit Adverbialen vergleichbare relativ autonome (relativ verbunabhängige) Kodierung einer Proto-Rolle auf, wie Zifonun et al. (1997: 1088) – fernab konstruktionsgrammatischer Postulate – bemerken. Lehmann et al. (2004: 17) sehen einen direkten Zusammenhang zwischen einer einzelsprachlichen Form und den drei Makro-Rollen Actor, Indirectus und Undergoer. Sie charakterisieren die Dativ-Rolle durch das Merkmal der ‚Mitbetroffenheit‘ in Abgrenzung zum Merkmal der ‚Inaktivität‘ für die Rolle des Undergoers. Das steht im Einklang mit der von Wegener (1985: 285) vorgeschlagenen Makro-Rolle des Betroffenen, welche sich prototypisch durch die Merkmale belebt, weniger involviert als die Patiens-Rolle und weniger aktiv mitwirkend als die Agens-Rolle auszeichnet. Allerdings verbirgt sich hinter Wegeners Makrorolle letztlich nur ein Oberbegriff für die vielen traditionellen denotativen Dativ-Rollen wie Experiencer, Benefezient, Rezipient, Cause usw., welche beziehungslos nebeneinanderstehen. Dem Kasus Dativ selbst kommt keine Rollenkodierung zu. Im folgenden dritten Abschnitt wird die Rollendifferenz signifikativ-semantisch herausgestellt. Dabei spielt die Possessor- oder Teil-Ganzes-Beziehung keine Rolle. Eine Erklärung des Phänomens kann nur gelingen, wenn zwischen der formalen Kodierung semantischer Rollen der Prädikation und zusätzlicher, durch pragmatische Implikaturen hergestellten Beziehungen zwischen den Geschehensbeteiligten unterschieden wird. Denn sowohl das im Akkusativ als auch das im Dativ kodierte Argument kann in den hier diskutierten Fällen als Träger eines Körperteils (er tritt ihn/ihm auf den Fuß) verstanden werden, muss dies aber beim Dativ nicht (er tritt ihm auf den frisch gewischten Boden). Die Erklärung in der Duden-Grammatik (2016: 830–831 § 1250), dass es
50 Bei asymmetrischen, da schwächer transitiven Verben, werde der Dativ primär durch die Abwesenheit von Patiensmerkmalen zugewiesen. Hierbei handelt es sich nach Blume (2000: 85) um inhärente Merkmale der Verbbedeutung. Problematisch daran ist, dass Alternationen wie jemanden auf den Fuß treten und jemandem auf den Fuß treten auf einer Verbbedeutung beruhen. Der Handlungsausdruck mit Akkusativ ist die syntaktische Umsetzung der Valenz. Der Tätigkeitsausdruck mit Dativ wandelt die Verbbedeutung ab, da der Dativ eine Rolle kodiert, die nicht in der Verbbedeutung angelegt ist.
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bei den hier interessierenden Dativ-NPs „eine Überlappung der semantischen Rollen Possessor und Benefizient“ gebe, ist insofern irreführend, als diese Überlappung nicht originär mit dem Dativ und nichts mit den am Geschehen beteiligten Rollen zu tun hat. Die Possessor- oder Trägerrolle wird nämlich nicht im Rahmen der Prädikation hergestellt, sondern unabhängig vom Zustandekommen des Geschehens präsupponiert. Die Ebene der Geschehensbeteiligten ist von der Ebene der prädikatsunabhängigen Beziehung zwischen Geschehensbeteiligten zu unterscheiden. Die Nicht-Unterscheidung führt bereits bei von Polenz (1969: 153–154) zu einem Paradox. Der Dativ hänge zwar vom Substantiv in der PP ab, sei also adnominal und stehe dennoch im Verhältnis der „adverbalen syntaktischen Subordination“, weshalb die syntaktische Dependenz an der Oberfläche und die semantische Dependenz in der Tiefenstruktur „ausnahmsweise auseinandergehen“. Die verschiedenen in diesem Abschnitt aufgeführten Deutungen werden im nächsten Abschnitt im weitesten Sinne pragmatisch erklärt. Es handelt sich um Implikationen und Präsuppositionen auf der Basis der semantischen Rollen-Kodierung durch den Dativ bzw. den Akkusativ.
4 Signifikative Semantik – Konstruktionsgrammatik Um bei den hier interessierenden Äußerungen den Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ zu erfassen, muss der Blick auf die sprachliche Darstellung einer Situation gerichtet werden. Der Ansatz ist semasiologisch, intensional: wie von Welke (2019: 38–40, 2021: 376) vorgeschlagen, gehen wir von der Form aus und fragen nach ihrer Bedeutung. Das steht dem onomasiologisch, extensionalen Zugang gegenüber: semantische Rollen werden nicht a priori konzeptuell und/oder in der außersprachlichen Situation, also denotativ vorausgesetzt. In Abgrenzung zu außersprachlichen Situationen sprechen wir von einzelsprachlich perspektivierten Sachverhalten oder Szenarien.51 Wenn jemand jemanden auf den Fuß getreten hat, dann wird sprachlich ausgedrückt, dass es eine getretene Person gibt. Das ist nicht der Fall, wenn jemand jemandem auf den Fuß oder auf den Mantel getreten hat. Wir können pragmatisch durch Implikaturen darauf schließen, sprachlich kodiert ist es nicht. Wenn einer Person auf den Fuß, Mantel oder frisch gewischten Boden getreten wird, dann handelt es sich signifikativ-semantisch nicht um eine getretene
51 Cf. Welke (2005: 96). Fischer (2003: 28–30) schlägt für die einzelsprachliche Darstellung den Begriff des Szenarios vor.
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Person. Nur im Falle der Pertinenzlesart, kann darauf geschlossen werden. Im Folgenden wird zwischen Denotat, Signifikat und Implikatur unterschieden. Die einzelsprachlich kodierte Bedeutung ist das Signifikat. Aus diesem ziehen Hörerinnen und Hörer unter Rückgriff auf nicht-sprachliches Wissen Schlussfolgerungen (Implikaturen) und schließen auf Voraussetzungen (Präsuppositionen). Mit Welke (2019: 53–54) unterscheide ich somit zwischen Semantik (Signifikat) und Pragmatik, auch wenn es erstens Überlappungen gibt und zweitens auch bestimmte pragmatische Unterschiede formal kodiert sein können, wie das bei der jeweiligen Abfolge der Argumente einer Token-Konstruktion der Fall ist. Ich gehe vom konstruktionsgrammatischen Postulat der Einheit aus Form und Bedeutung sowie vom No-Synonymy-Prinzip aus. Letzteres besagt mit Bolinger (1968: 127), dass ein Unterschied in der syntaktischen Form einen Unterschied in der Semantik bedeutet, was von Goldberg (1995: 3) übernommen wird. Bezüglich der Alternanz zwischen Akkusativ und Dativ wird hier im Rahmen der Scene Encoding Hypothesis nach Goldberg (1995: 39) von unterschiedlichen Argumentkonstruktionen zur Darstellung unterschiedlicher Sachverhalte ausgegangen. Im ersten Abschnitt wurde gezeigt, dass es sich bei der NP im Dativ genauso wie bei der NP im Akkusativ um Ergänzungen bzw. Argumente handelt. Die semantischen Rollen werden nicht nur auf Merkmale der Verbbedeutung zurückgeführt. Token-Konstruktionen (Konstrukte) werden im Gebrauch von ihren lexikalischen Füllungen abstrahiert und auf formale Merkmale sowie abstrakte Rollen schematisiert.52 Die Argumentkonstruktionen dienen dem Ausdruck von Sachverhaltstypen, d. h. von sprachlich-subjektiv perspektivierten basalen Lebenssituationen als Zustand, Vorgang, Tätigkeit oder Handlung.53 Nach Welke (2019: 116–118) stehen diesen logischen Sachverhaltstypen die entsprechenden lokaldirektionalen Varianten mit einem Direktiv oder Lokativ gegenüber. Die hier interessierenden Konstruktionen gehören zu den letzteren. Während die Ausdrücke mit Akkusativ-NP und direktionaler PP Handlungen mit einem Handlungsgegenstand und einem Direktiv ausdrücken, geht es bei einer Dativ-NP mit direktionaler PP um direktionale Tätigkeits- und Vorgangsausdrücke mit der Rolle eines Zuwendungsbetroffenen. Die kasusmarkierten und via PP-markierten Slots der Konstruktionen kodieren die semantischen Rollen. In diesem Sinne sind der Dativ und Akkusativ Bestandteile verschiedener Argumentkonstruktionen, innerhalb derer sie verschiedene seman52 In Felfe (2020: 264) verstehe ich unter Argumentkonstruktionen virtuelle Valenz-Zeichen, welche durch Einsetzung eines Verbs als Kopf syntaktische Token-Konstruktionen (Konstrukte) lizenzieren. 53 Von der Kopulakonstruktion als performativer Eigenschafts- und Klassenzuweisung wird abgesehen, da diese hier keine Rolle spielt.
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tische Rollen kodieren. Es handelt sich um syntaktisch kompakt ausgedrückte Rollen, welche an einem sprachlich perspektivierten Sachverhalt beteiligt sind. Die kodierten Konstruktionsrollen werden für eine sinnvolle Interpretation pragmatisch durch Implikaturen und Präsuppositionen angereichert. Analytische Einsicht in jene konzeptuelle Anreicherung der sprachlich sparsam kodierten Bedeutung bietet die Zerlegung komplexer Szenariotypen in Teilszenarien, wie es in der Ereignissemantik und in der formalen Semantik üblich ist. Dies wird von der sprachlichen Bedeutung unterschieden und im Abschnitt 4 dargestellt. Die maßgeblich von Welke54 entwickelte signifikativ-semantische Analyse muss prototypisch vorgehen. Unter Prototyp wird kein außersprachlicher Vertreter einer Klasse verstanden, der möglichst viele oder alle Merkmale auf sich vereint. Mit Welke (2019: 42–43) wird als prototypisch eine Definitionsmethode bezeichnet, die davon ausgeht, dass nicht allen Mitgliedern einer Kategorie dasselbe definitorische Merkmal (als deduktive differentia specifica oder als denotatives tertium comparitionis) zukommt.55 Es geht einerseits um Ableitungsketten von Merkmalen. Andererseits geht es darum, was Ágel (2001: 319–320) als das Prinzip der Viabilität beschreibt, nämlich dass die Ableitung kompatibel ist mit der sprachhistorischen Entwicklung. Von einem prototypentheoretischen Standpunkt aus muss jede Analyse immanent auch entwicklungsbezogen und damit auch diachron sein (vgl. Welke 2019: 46–47). In der signifikativen Semantik geht es darum, eine durch die einzelsprachliche Form ausgedrückte Bedeutung von denotativen Situationsmerkmalen und (von diesen bzw. von einfacheren Sätzen abgeleiteten) universellen apriori-Merkmalen zu trennen. In diesem Sinne handelt es sich mit Welke (2019: 115–116) um die subjektiv sprachliche Brechung der Welt, indem Situationen aus verschiedenen Perspektiven sprachlich abgebildet werden. Potentiell kann durch sie tritt ihn auf den Fuß und sie tritt ihm auf den Fuß auf die gleiche außersprachliche Situation referiert werden. Aber die innerhalb der Konstruktionen durch den Akkusativ und Dativ prädizierten Rollen unterscheiden sich. Ihr Signifikat ist verschieden, was in den folgenden beiden Abschnitten erklärt wird.
54 Welke (1988: 188–204), (20052: 95–98), (2019: Kapitel 3). Als indirekter Vorläufer einer signifikativen Semantik kann Starosta (1978: 465–472, 504–508) gelten. Die prototypentheoretische Methode geht neben Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (1953) direkt auf Lakoff (1977: 244) und Dowty (1991: 553–554) zurück. Ágel (2017: 5–8) hat in seiner Grammatischen Textanalyse das Prototypen-Konzept signifikativ-semantischer Rollen von Welke übernommen. Auch die signifikativ-semantisch fundierten Satzbaupläne von Ágel & Höllein (2021) basieren hierauf. 55 Der Zugang über ein solches tertium comparationis ist in sprachvergleichenden Analysen durchaus sinnvoll, w. z. B. bei Lehmann et al. (2004: 1–2).
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4.1 Signifikativ-semantische Rolle des Akkusativs: jemanden auf den Fuß treten Durch den Gebrauch von Verben wie beißen, schlagen, treten usw. mit dem Akkusativ werden Handlungen ausgedrückt. In Folge von Lakoff (1977: 244) beschreibt Welke (2019: 102, 126) eine prototypische Handlung wie folgt: „Ein Mensch wirkt intentional kausal auf einen Gegenstand ein. Dieser entsteht oder verändert sich durch die Einwirkung.“ Die formale Seite des Handlungsausdrucks ist die in indoeuropäischen Sprachen basale Nominativ-Akkusativ- bzw. präverbale-NPpostverbale-NP-Konstruktion. Dieses Ausgangsmodell, der Archetyp wird abgewandelt, z. B. wenn die einwirkende Größe kein Mensch, sondern ein Gegenstand ist, der als Quelle der Einwirkung (Energie) und somit als verantwortlich für die Einwirkung auf das Patiens-Argument dargestellt wird (Qualm biss ihn in die Augen, vgl. Abschnitt 2). Signifikativ-semantisch ist diese Darstellung (vs. Denotat) als Agens und Patiens zentral. Diesbezüglich schreibt Bühler (1934: 239): „Wir lassen faktisch auch Materialien wie das Wasser und Steine ‚handeln‘: das Wasser ‚wälzt‘ den Stein, der Stein ‚hemmt‘ den Wasserlauf.“ Während sich primäre Verantwortlichkeit aus dem intentionalen Einwirken ergibt56, wird hiervon die sekundäre Verantwortlichkeit abgeleitet. Somit ist das Merkmal Absicht zwar archetypisch aber für die Darstellung eines Handlungsbeteiligten als Agens nicht notwendig. Analog zu behandelten Gegenständen werden genauso belebte Wesen und Informationen als Patiens kodiert. Aus dem zentralen Merkmal der Zustandsveränderung, welcher das Patiens-Argument unterliegt, können ebenfalls Folgemerkmale abgeleitet werden. Die fremdverantwortete Zustandsveränderung des Patiens setzt archetypisch einen physischen Kontakt, ein Berührtwerden voraus. So muss das Patiens-Argument objektiv keiner Zustandsveränderung unterliegen, sondern es kann nur punktuell unter die Kontrolle des Agens geraten, z. B. wenn jemand jemanden tritt. Damit wird die durch den Akkusativ in Handlungskonstruktionen kodierte Rolle des Patiens nicht an die Zustandsveränderung als Invariante gebunden. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zum accomplishment.57
56 Cf. Lakoff (1977: 244): „The agent is primarily responsible for what happens (his action and the resulting change).“ 57 Nach der Aristotle-Ryle-Kenny-Vendler Verb Classification werden accomplishments über die Prädikate CAUSE und BECOME bestimmt. Cf. Dowty (1979: 51). Dagegen, die Handlungsbedeutung an die Telizität einer Äußerung zu binden, spricht auch, dass diese sich kompositional aus der Konstruktions- und Verbbedeutung sowie aus der Bedeutung der Objekt-NP ergeben. Man vergleiche Häuser bauen (atelisch) mit ein Haus bauen (telisch) und mit einen Haustyp bauen (atelisch). Cf. Felfe (2018: 407–410).
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Die verschiedenen voneinander ableitbaren Merkmale konstituieren die semantischen Rollen Agens oder Handlungsträger sowie Patiens oder Handlungsgegenstand nicht isoliert, sondern in gegenseitiger Opposition. Konkrete Instanzen der Agens- und Patiens-Kategorie können jeweils unterschiedliche und verschieden viele Merkmale der Kategorie aufweisen. Es handelt sich um formal kodierte Rollen, welche Sprecherinnen und Sprecher den Sachverhaltsbeteiligten zuweisen. Wenn nun jemand jemanden irgendwohin tritt, dann tut das vom Agens-Argument Denotierte etwas aus eigener Kraft, was dazu führt, dass das Patiens-Argument unter die Berührung, also eine Form von Kontrolle des Agens gelangt. Wer jemanden auf den Fuß tritt, der tritt jemanden und zwar auf den Fuß. Das Ergebnis ist ein getretener Mensch. Auf Absicht kann geschlossen werden, sie ist aber nicht kodiert. Die entsprechenden Verben und die spezielle Einsetzung eines Körperteils innerhalb der PP bedeuten keinen Zustandswechsel im Sinne einer strikten Implikation, die besagt, dass das Patiens-Argument in einen bestimmten Zustand gerät. Die Verben bedeuten eine Bewegung, welche zu einer mindestens punktuellen Berührung des Patiens führt. In Abhängigkeit vom Verb kann leicht via Implikatur auf Veränderungen des Patiens geschlossen werden: wer in den Arm gebissen wurde, der hat eine Wunde bzw. ist verletzt und fühlt Schmerzen.
4.2 Signifikativ-semantische Rolle des Dativs: jemandem auf den Fuß treten Die semasiologische Perspektive setzt bei der sprachlichen Form an und fragt nach ihrer Bedeutung. Im Deutschen werden die verbalen Argumente durch drei zentrale Kasus formal markiert: Nominativ, Akkusativ, Dativ.58 Folglich ist a proiri davon auszugehen, dass diese drei Kasus auf der Ebene der sachverhaltsbeteiligten Satzglieder innerhalb von Argument-Konstruktionen klar voneinander zu unterscheidende signifikativ-semantische Rollen ausdrücken. Signifikativ-semantisch sollte sich die durch den Dativ kodierte Rolle klar von den durch den Nominativ kodierten Rollen Zustands-, Vorgangs-, Tätigkeits-, Handlungsträger und von der durch den Akkusativ kodierten Patiens-Rolle unterscheiden. Da der Dativ nur relikthaft das erste verbale Argument als Zustandsträger auszeichnet (jdm. graut vor etwas), zielt die Frage auf den Unterschied zwischen 58 Der Genitiv spielt auf der Ebene der Satzglieder nur mehr eine relikthafte Rolle als Objektkasus und eine lexikalisierte Rolle als Adverbialkasus (eines Nachts). Präpositionalobjekten kann selbstverständlich keine einheitliche Rolle zukommen, weil es ganz verschiedene Präpositionen gibt. Höllein (2019: Kap. 5) zeigt, dass einzelne Präpositionen durchaus im Sinne semantischer Nischen klar voneinander unterscheidbare semantische Rollen kodieren.
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der Patiens-Rolle im Akkusativ und der Dativrolle ab. Signifikativ-semantisch geht es um den elementaren Unterschied der Rollen wie bei den oft thematisierten jemanden unterstützen versus jemandem helfen. Der primäre Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ liegt darin begründet, dass entsprechende Äußerungen mit einer Dativ-NP keine Handlungen, sondern Tätigkeiten (activity) ausdrücken. Im Handlungsmodell wirkt das Agens direkt auf das Patiens ein. Im Fall von jemanden auf den Fuß treten wird das Patiens vom Agens als Energiequelle berührt und somit physisch affiziert. Beim Dativ ist das nicht der Fall. Wenn jemand einem Menschen auf den Mantel, aufs Feuer oder in die Sonne tritt, so tritt er nicht diesen Menschen sondern irgendwohin. Signifikativsemantisch, auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung gibt es kein energetisches Einwirken des Agens auf das Dativ-Argument, sondern auf ein räumliches Ziel, welches mittels einer direktionalen PP ausgedrückt wird. Der im Dativ kodierte Sachverhaltsbeteiligte ist von jener zielgerichteten Tätigkeit (17a) betroffen, wird aber physisch davon nicht affiziert. Dies gilt analog für Fälle, in denen es sich wie in (17b) und (17c) um einen Vorgang handelt. (17)
a. Er trat mir aufs Feuer/auf den Fuß. b. Der Ring fiel ihr ins Meer/vom Finger. c. Es regnet mir ins Haus/ins Gesicht.
Der wesentliche Unterschied zwischen Tätigkeit und Vorgang besteht darin, dass der Vorgangsträger anders als der Tätigkeitsträger den Sachverhalt weder kontrolliert noch verantwortlich für diesen ist. Folglich ist der Ausdruck von Tätigkeiten an den Ausdruck des Tätigkeitsträgers gebunden. Der Ausdruck des Vorgangsträgers ist hingegen nicht obligatorisch. Er kann wie in (17b) ausgedrückt werden, muss dies aber wie in (17c) nicht. Konstruktionell wird der Vorgangsträger beim sog. unpersönlichen Passiv nicht ausgedrückt (ihm wurde auf den Fuß getreten). Tätigkeitskonstruktionen sind grundsätzlich imperfektiv, Vorgangskonstruktionen können wie in (17b) perfektiv oder wie in (17c) imperfektiv sein. Nur auf denotativer Ebene kann auf ein direktes physisches Einwirken des Agens bzw. des Vorgangs auf das Dativ-Argument via Implikatur geschlossen werden. Dies kann der Fall sein, wenn das Substantiv der direktionalen PP einen Körperteil bezeichnet und der Referent der Dativ-NP als dessen Träger verstanden wird. In (17a) ist der Dativ-Referent davon betroffen, dass die Tätigkeit des Agens ein ganz bestimmtes Feuer bzw. einen ganz bestimmten Fuß als räumliches Ziel hat. Wir halten den Dativ-Referenten für fähig, die Tätigkeit bzw. die entsprechende mentale Repräsentation zu bewerten. Die relationale Bedeutung des definit gebrauchten Substantivs Fuß führt zu einer Bindung durch den Dativ-Referenten als dessen Träger und folglich vermuten wir, dass sich der Dativ-Referent geschädigt fühlt, weil es
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normalerweise wehtut, auf den Fuß getreten zu bekommen. Um Relevanz zwischen einem Aufs-Feuer-Treten durch das Agens und dem Dativ-Referenten herzustellen, können wir denken, dass letzterer das Feuer gerade mühsam entzündet hat und dass ihm die Tätigkeit des Agens schadet, weil sie zum Erlöschen des Feuers führen kann. In (17b) vermuten wir eine Trägerbeziehung zwischen dem Dativreferenten und dem Ring und/oder dem Finger. In (17c) geht es um einen Vorgang, bei dem es in ein ganz bestimmtes Haus oder ein ganz bestimmtes Gesicht regnet. Hiervon ist der Dativ-Referent betroffen, wobei wir am Ende verschiedener Zwischenschritte dahin kommen, ihn in Bezug auf das Haus als Geschädigten zu sehen, weil es im weitesten Sinne sein Haus ist. Beim Gesicht verstehen wir den Dativ-Referenten in Trägerrelation. Diese prädikationsunabhängige Beziehung zwischen einem Körperteil und dessen Träger lässt eine relevante Interpretation der Betroffenheit zu. Das ist jedoch nicht Teil der Prädikation und gehört somit nicht zur Darstellung des Sachverhaltes durch die Rollen der am Sachverhalt Beteiligten. Das deckt sich mit älteren Beschreibungen des Dativs. Nach Winkler (1896: 3) drückt der Dativ als verbaler Kasus aus, „dass jemandem zum nutzen oder schaden etwas geschieht“, weshalb vom „dativ des interesses“ gesprochen werden sollte. Nach Wilmanns (1909: 616) kodiert der freie Dativ „in der Regel eine Person, in deren Interesse, zu deren Nutzen oder Schaden etwas vorgenommen wird oder geschieht (Dat. commodi)“. Nach Behaghel (1923: 608–638, § 435–448) bezeichnet der Dativ eine Person, der sich ein Vorgang oder eine Handlung zuwendet, oder den Zweck eines Vorgangs oder einer Handlung. Welke (2019: 156) bestimmt die durch den Dativ kodierte Rolle durch die abwandelbaren Merkmale ‚Person‘ und ‚Zuwendung durch ein Agens in guter oder schlechter Absicht‘ und hält die Ableitung auf Vorgänge für möglich aber auch umgekehrt, die Ableitung des Betroffenen von Handlungen und Tätigkeiten aus dem Vorgangsbetroffenen. Für letzteres spricht nach Welke (2019: 160), dass nach Listen von Paul (1919: 380) die zweiwertigen Vorgangsverben mit Dativ dominieren, so z. B. dauern, gelingen, glücken, jucken, nutzen, passen, schaden. Wesentlich ist, die signifikative Dativ-Rolle nicht primär von der heute prominenten Rezipienten-Rolle der ditransitiven Verben des Gebens und Nehmens abzuleiten, wie es Schöfer (1992: 72) vorschlägt. Denn die Ableitungsbasis sollte, wie auch Welke (2019: 163) bemerkt, im Sinne der Viabilität die einfachere Struktur sein.59 Die signifikativ-semantische Unterscheidung zwischen der Betroffenheit eines Patiens und der Dativrolle ist wesentlich. Unter Patiens wird die sprachliche Darstellung eines Geschehensbeteiligten verstanden, der unter die Kontrolle eines 59 So bemerkt Winkler (1896: 3), dass der Dativ im Germanischen als verbaler Kasus „am klarsten“ bei zweiwertigen Verben in seiner Funktion als Dativ des Interesses hervortrete. Ebenso hält Kotin (2021: 53, 90) den Dativ in ditransitiven Strukturen für eine Ableitung aus einfacheren zweiwertigen Konstruktionen lokalen Ursprungs und folglich nicht für den Archetyp.
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Handlungsträgers gelangt, welcher für mögliche Zustandsveränderungen verantwortlich ist. Somit ist Patiens oder Handlungsgegenstand ausschließlich eine durch den Akkusativ kodierte Rolle innerhalb von Handlungsausdrücken. Die Dativrolle ist nicht konstitutiv an einen Sachverhaltstyp gebunden. Die vom Dativ ausgedrückte Rolle ist von einer Zuwendung betroffen, ohne unter Kontrolle zu geraten. Dies kann innerhalb von Zustands- (du stehst mir in der Sonne), innerhalb von Handlungsausdrücken (der Hund beißt ihm eine Wunde in die Hand) und in den hier interessierenden Fällen innerhalb von Tätigkeits- (der Hund beißt mir in die Hand) und von Vorgangsausdrücken (es regnet mir ins Gesicht) der Fall sein. Wenn ich im Folgenden verkürzend von der Dativrolle als Betroffener schreibe, so steht dies für weder affizierter noch effizierter Zuwendungsbetroffener. Das Merkmal ‚Interesse‘ halte ich für zu ungenau formuliert, denn es kann sich mal um das Interesse des Agens handeln, welches sich einem Betroffenen zuwendet (18a) und mal um das Interesse des Betroffenen selbst, nämlich wenn diesem, ohne vom Agens beabsichtigt zu sein, entsprochen oder wenn es verletzt wird (18b). Letzteres gilt grundsätzlich, wenn es sich um Vorgänge handelt (18c). (18)
a. Ich blicke ihm über die Schulter.60 b. Bernardo [Hund] stiess mich an und sabberte mir auf die Schuhe.61 c. Jetzt tröpfelte mir das Wasser schon in den Kragen.62
In (18a) verstehen wir durch das Dativ-Argument die Motivation des Agens. Dieses wendet sich dem Dativ-Argument zu, um Einblick in dessen Tätigkeitsbereich zu bekommen. Der Referent der Dativ-NP muss des Geschehens aber nicht gewahr werden. Hingegen geht es in (18b) unabhängig vom Agens um die vom DativArgument empfundene Zuwendung bzw. in (18c) um einen als zugewandt empfundenen Vorgang. Sowohl (18b) als auch (18c) verstehen wir eher als dem Interesse des Dativ-Arguments zuwiderlaufend. Das Merkmal Interesse ist wesentlich für die sinnvolle Interpretation des Dativ, aber es ist kein Merkmal der durch den Dativ kodierten Rolle. Das Merkmal, um welches es geht, ist die Betroffenheit von einer Zuwendung, unabhängig davon, ob es ein sich zuwendendes (interessiertes) Agens gibt (18a), ein nicht absichtlich (uninteressiert) tätiges Agens (18b) oder ob ein Vorgang selbst vom Dativ-Argument als ihm zugewandt empfunden bzw. so dargestellt wird. Wegener (1985: 286–287) schreibt diesbezüglich: „Man könnte daher 60 Dieser Satz ist von Polenz (1969: 164, 166) entnommen, der den sogenannten Pertinenzdativ als Partizipationsdativ bezeichnet, da es seine primäre Aufgabe sei, die Geschehensbeteilung des Dativreferenten auszudrücken. 61 NZS06/FEB.00316 NZZ am Sonntag, 12.02.2006. 62 Z65/APR.00518 Die Zeit, 30.04.1965.
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zwischen einem subjektiven und einem objektiven Betroffenen unterscheiden […] Diese Unterscheidung ist allerdings für den Dativgebrauch im heutigen Gebrauch irrelevant.“ Das stimmt. Aber primär (archetypisch) kodiert der Dativ eine subjektive Betroffenheit im Gegensatz zur objektiven Betroffenheit des Patiens-Arguments. Denn der Dativ-Referent muss potentiell in der Lage sein, das Geschehen wahrzunehmen und zu bewerten. Die primär subjektive Betroffenheit entspricht der primären, einfacheren semantischen Struktur von zweiwertigen Vorgangsverben mit Dativ. Aufgrund der primären subjektiven Betroffenheit werden Gegenstände nicht als Betroffene kodiert (19a). Möglich aber sind Personifizierungen, insbesondere innerhalb von Idiomen (19b), aber auch in der Literatur (19c). (19)
a. ?Ich blicke dem Haus über das Dach. b. Das regnerische Frühlingswetter spuckte dem traditionellen Töpfermarkt im rheinland-pfälzischen Freilichtmuseum in den getöpferten Napf.63 c. Das Schriftstück steckt er in ein Kuvert, dann geht er noch einmal in den Flur und greift seinem Mantel, der da hängt, in die Tasche.64
Das Merkmal der subjektiven Betroffenheit führt zur Präsupposition des Merkmals belebt, aus welchem sich das Merkmal wahrnehmungs- und repräsentationsfähig (Experiencer) ableitet. Hieraus ergeben sich weitere Implikaturen: der DativReferent wird als Nutznießer oder Geschädigter (Benefizient) interpretiert. Voraussetzung hierfür ist eine enge Beziehung zwischen dem Dativ-Referenten und anderen Referenten des dargestellten Sachverhalts. Die im zweiten Abschnitt aufgeführten Deutungen der Alternanz zwischen Dativ und Akkusativ lassen sich durchgängig als Implikaturen, d. h. als interpretatorische Folgemerkmale der Rollendifferenz begreifen. Es handelt sich nicht um das Signifikat der durch den Dativ kodierten Rolle. Bei der mit dem Akkusativ assoziierten Absichtlichkeit handelt es sich um eine Präsupposition aus dem transitiven Handlungsmodell. Aus dem Agensmerkmal ‚aus eigener Kraft auf das Patiens einwirkend‘ folgern wir Absichtlichkeit. Auch der Eindruck, dass es schmerzhafter ist, wenn mich jemand auf den Fuß tritt als wenn mir jemand auf den Fuß tritt, leitet sich aus dem sprachlichen Handlungsmodell ab. Denn die transitive Konstruktion kodiert direkte Einwirkung. Beim Dativ ist das nicht der Fall. Dass beim Dativ der Mensch im Vordergrund stehe und dass der Dativausdruck empathischer sei, liegt daran, dass die entsprechende Rolle über das primäre Merkmal der subjektiven Betroffenheit von einer Zuwendung verfügt. Bei
63 RHZ12/MAI.12124 Rhein-Zeitung, 11.05.2012. 64 Jenny Erpenbeck: Kairos. München: Penguin Verlag, 2021, S. 61.
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der Empfindung, dass der Dativ wärmer, lebendiger, innerlicher sei als der Akkusativ, handelt es sich um Implikaturen, die sich aus Merkmalen der signifikativsemantischen Rolle Zuwendungsbetroffener ableiten lassen. Um entsprechende Implikaturen, konzeptuelle Anreicherungen und die Pertinenzrelation geht es im fünften Abschnitt.
4.3 Konstruktion: Akkusativ mit Überblendung vs. Dativ und Fusion Äußerungen wie sie tritt ihn auf den Fuß sind keine Instanzen (Konstrukte) einer im Deutschen existierenden schematischen Argumentkonstruktion bzw. eines im Konstruktikon gespeicherten Konstruktionsmusters. Es handelt sich primär um die verbal lizenzierte Handlungskonstruktion mit einer NP im Nominativ und einer NP im Akkusativ. Erstere denotiert ein Agens und letztere, wie in 4.1 dargestellt, ein Patiens: sie tritt ihn. Unter der Bedingung, dass die Verbbedeutung über das Merkmal Bewegung verfügt, kann das zweite Argument durch eine direktionale PP als Ziel (Goal/Direktivum) aktualisiert werden: sie tritt nach ihm.65 Die direktionale Nominativ-PP-Konstruktion zum Ausdruck zielgerichteter Tätigkeiten kann die Nominativ-Akkusativ-Konstruktion zum Handlungsausdruck überblenden: sie tritt ihn auf den Fuß. Eine Valenzerhöhung findet nicht statt. Die Besonderheit jener Überblendung besteht darin, dass sowohl das Merkmal Kontakt durch den Akkusativ als Handlung als auch das Merkmal Bewegung durch die direktionale PP aktualisiert werden. Die Herstellung der Beziehung zwischen Mensch und Körperteil findet nicht aufgrund der prädizierten Rollen statt. Sie ist nicht semantisch kodiert, sondern wird pragmatisch hergestellt. Ausgangspunkt ist die ungesättigte Leerstelle des definit gebrauchten Substantivs, welches auf einen Körperteil referiert.
65 Diese Alternation bezeichnet Levin (1993: 41–42) als „conative alternation“, wobei die Alternante mit der PP im Gegensatz zur NP im Akkusativ eine „attempted action“ kodiere. Im Deutschen besteht bei einem unbelebten zweiten Argument häufig keine Alternanz: gegen die Tür schlagen/ auf eine Mine treten. Insbesondere bei transitiven Handlungsverben, welche neben den Merkmalen Bewegung und Kontakt auch einen Zustandswechsel des Patiens-Referenten implizieren, führt die PP im Tätigkeitsausdruck zu einem schwächeren Grad an Affiziertheit: das Holz vs. ins Holz hacken, eine Tomate vs. in eine Tomate schneiden. Ich danke dem Hinweis von Dagobert Höllein, dass die PP bei nach jemandem treten auch als Präpositionalobjekt mit der Rolle des Gesuchten (Quaesitum) analog zu nach etwas/jemandem suchen, tasten, greifen bestimmt werden kann.
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Das Ergebnis jener Überblendung sieht aus wie eine Instanz der kausativen Bewegungskonstruktion mit einer NP im Nominativ, einer NP im Akkusativ und einer direktionalen PP: sie tritt ihn in die Flucht. Bei dieser wird jedoch die durch den Akkusativ markierte Patiens-Rolle als bewegte Entität (trad. Theme) konzeptualisiert. Bei der Überblendung ist das nicht der Fall. Der Referent der Akkusativ-NP ist Ziel einer Einwirkung. Signifikativ-semantisch handelt es sich um dieselbe Rolle, nämlich ein Patiens. Sowohl die auf der kausativen Bewegungskonstruktion beruhende Lesart als auch die, welche durch Überblendung erzeugt wird, sind miteinander kompatibel (20). (20)
90-Jährige schlägt Räuber auf die Nase und in die Flucht.66
Der erste Unterschied zwischen der projizierten Überblendung von zwei Konstruktionen (Pertinenzakkusativ) und der kausativen Bewegungskonstruktion besteht in der Art der Lizenzierung und in der konzeptuellen Anreicherung der Rollen. Der zweite Unterschied betrifft die Produktivität. Die Überblendung ist insofern nicht produktiv, als sie nur bei Verben vorkommt, welche beide Konstruktionen projizieren (21a). Die kausative Bewegungskonstruktion führt produktiv zu Valenzerhöhung (21b). (21)
a. ✶Sie lächelt ihn ins Gesicht. b. Zwingenberger spielt den Boogie-Woogie nicht nur. Er lächelt ihn ins Publikum.67
Der dritte Unterschied besteht darin, dass, wie bereits erwähnt, beim sogenannten Pertinenzakkusativ sowohl die Akkusativ-NP als auch die PP alleine mit entsprechenden Verben wohlgeformte Ausdrücke bilden, bei Instanzen der kausativen Bewegungskonstruktion kann die Akkusativ-NP nur zusammen mit der PP gebraucht werden (✶sie lächelt ihn). Beim sogenannten Pertinenzdativ sieht es anders aus. Da er nicht verbal lizenziert ist und an das Vorhandensein einer direktionalen PP gebunden ist, analysiere ich ihn als Bestandteil von zwei formengleichen Konstruktionen. Wenn die NP im Nominativ einen Vorgangsträger kodiert, so handelt es sich um eine Vorgangskonstruktion mit der Dativ-Rolle als Vorgangsbetroffener (22a). Handelt es sich um Tätigkeiten, so kodiert die NP im Nominativ einen Tätigkeitsträger und folglich die Dativ-NP einen Tätigkeitsbetroffenen (22b).
66 Westfalenpost, 17.01.2019. 67 Süddeutsche Zeitung, 25.04.2016.
Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion
(22a) Vorgangskonstruktion NPNom NPDat PPdir | | | VorgTr. V-Betroff. Goal Instanz: das Papier fällt ihm ins Wasser
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(22b) Tätigkeitskonstruktion NPNom NPDat PPdir | | | Agens T-Betroff. Goal Instanz: sie lächelt ihm ins Gesicht
Die Annahme entsprechender Dativ-Konstruktionen erklärt im Gegensatz zum Pertinenzakkusativ sowohl die Häufigkeit entsprechender Konstrukte als auch die Valenzerhöhung. Vargyas (2009: 127–130) schlägt vor, die intransitive Tätigkeitskonstruktion (22b) als Fusion der ditransitiven Konstruktion (sie lächelt ihm ein Lächeln) mit der kausativen Bewegungskonstruktion (sie lächelt ihm ein Lächeln ins Gesicht) zu analysieren, wobei das Patiens-Argument syntaktisch unterdrückt werde (sie lächelt ihm ein Lächeln ins Gesicht). Auch Goldberg (2005) nimmt in den hier interessierenden Fällen ein implizites Argument an. Für Vargyas (2009: 128) bildet das implizite Patiens die Voraussetzung für die Dativ-NP, für Goldberg (2005: 21) die Voraussetzung für die direktionale PP. Diese Annahme ist recht alt68 und rührt m. E. daher, dass freie Dative fälschlicherweise immer auf der Schablone von ditransitiven Verben analysiert werden und dass direktionale PPs mit telischen Bewegungsereignissen, also der Bewegung einer Entität zu einem Ziel gleichgesetzt werden.69 Goldberg (2005: 21) sieht implizite Argumente u. a. bei Emissionsverben im Vorhandensein der direktionalen PP begründet. Bei einer Äußerung wie Pat sneezed onto the computer screen werde durch die Konstruktion ein bewegtes Argument (Theme) mitverstanden, aber formal unterdrückt: Pat sneezed (mucus) onto the computer screen. Dieses semantisch vorhandene aber formal unterdrückte Argument fungiere als erstes Argument des CHANGE-Ereignisses, welches durch die PP ausgedrückt werde.70 Die formale Auslassung wird an eine spezielle implicite theme construction gebunden: Subject/source–∅/theme–Oblique/direction. Für Goldberg (2005: 27) ist der Gebrauch dieser Unterdrückungskonstruktion einer-
68 Cf. Grimm (1837: 693), Behaghel (1923: 619). 69 So hält Lee-Schoenfeld (2012: 403–404) die PP deshalb für obligatorisch, weil sie zur Telizität des Ausdrucks führe und somit die Dativ-NP lizenziere. Telizität wird jedoch nicht additiv durch direktionale PPs erzeugt, sondern ergibt sich kompositional aus der Verb- und Präpositionsbedeutung. Ausdrücke wie jemandem über das Haar streichen sind nicht telisch. 70 Goldberg (2005: 22) geht es um die Relativierung des sog. Argument Realization Principle, demzufolge innerhalb einer Ereignisstruktur pro Unterereignis ein Argument und ein Prädikat syntaktisch ausgedrückt werden müssen. Cf. Rappaport Hovav & Levin (1998: 113).
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seits an die semantische Rekonstruierbarkeit gebunden und kann andererseits gerade bei Emissionsverben wie niesen, husten, pinkeln usw. durch Höflichkeit motiviert sein: je weniger explizit, umso weniger tabu. Was spricht gegen die Annahme einer Fusion aus ditransitiver und kausativer Bewegungskonstruktion mit anschließender Fragmentierung in Form eines impliziten Patiens- bzw. Theme-Arguments? Zu allererst, dass ohne Not keine leeren Argumente angenommen werden sollten. Und Not besteht nur, wenn für die PP-Bindung (Goldberg 2005) oder für die Dativ-Bindung (Vargyas 2009) ein zusätzliches, unsichtbares Argument angenommen werden muss. Im fünften Abschnitt wird gezeigt, dass bei Ausdrücken wie sie tritt ihm auf den Fuß oder niest ihm ins Gesicht ein Teilereignis selbst, anstelle eines versteckten Arguments, Argumentstellen anderer Teilereignisse sättigen kann: das Tun des Tätigkeitsträgers oder der Vorgang, welchem der Vorgangsträger unterliegt, werden als erstes Argument des Ortswechsels verstanden und dieser Ortswechsel selbst wird wiederum als dasjenige verstanden, wovon der Referent der Dativ-NP betroffen ist. Die Erklärung über ein implizites Argument könnte bei den Verben plausibel sein, welche wie flüstern tatsächlich zweiwertig sind und im Defaultfall zweiwertig mit einer transitiven Handlungskonstruktion gebraucht werden. Eine konstruktionelle Verankerung der Implizitheit ist nicht nötig. Das implizite Argument ist Teil der abgespeicherten Verbbedeutung, nicht der Konstruktion.71 Der signifikativsemantische Beitrag der Konstruktion ist bei jemandem ins Ohr flüstern, jemandem ins Gesicht lächeln und jemandem auf den Fuß treten gleich. Ausgedrückt werden Tätigkeiten und keine Handlungen. Hier muss zwischen der Verbbedeutung (Emission ist immer Emission von etwas) und der syntaktischen Umsetzung unterschieden werden.72 Viele dieser Verben sind primär intransitiv und dienen dem Ausdruck von Tätigkeiten oder Vorgängen. Erst sekundär kann das lexikalische Merkmal des Outputs durch eine Transitivkonstruktion syntaktisch in den Blick genommen werden. Bei Ausdrücken mit einem sogenannten kognaten Objekt handelt es sich um Valenzerhöhungen: ein freundliches Lächeln lächeln, ein lautes Niesen niesen usw. Es ist sehr mechanisch gedacht, dass diese Verben eigentlich transitiv seien, was eine direktionale PP und eine Dativ-NP lizenziere, wobei dann aber jenes so
71 Neben jemandem ins Ohr flüstern kann beim reinen Dativgebrauch mit transitiven Verben von einem impliziten Argument gesprochen werden: Meine Sachen packe ich natürlich garnicht mehr aus, eine niedliche Arbeitersfrau im Hause kocht mir und bedient mich so einigermaßen. (Ricarda Huch: Du mein Dämon, meine Schlange… Briefe an Richard Huch 1887–1897. Herausgegeben von Anna Gabrisch. Göttingen: Wallstein, 1998, S. 118). Das implizite Argument ist auch hier Teil der Verbbedeutung und nicht der Argumentkonstruktion. 72 Hierauf macht auch Goldberg (2005: 22) aufmerksam: „semantic decomposition does not itself directly determine argument realization“.
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zentrale zweite Argument auf syntaktischer Ebene unterdrückt werde. Zudem widerspricht es dem konstruktionsgrammatischen Postulat der Einheit von Form und Bedeutung. Der Tätigkeitsausdruck jemandem ins Gesicht lächeln und der Handlungsausdruck jemandem ein Lächeln ins Gesicht lächeln wären gleichbedeutend. Leirbukt (1997: 97–99) argumentiert für ein implizites Argument und begründet dies mit der möglichen Passivierung mittels bekommen: er bekam auf den Kopf geschlagen/auf den Fuß getreten. Dies sei nur möglich, weil implizit ein Tritt oder ein Schlag mitverstanden werde, also eine Entität, die bekommen wird.73 Ich halte die Passivierung ohne Akkusativ-NP eher für ein Indiz der vorangeschrittenen Grammatikalisierung von bekommen als Hilfsverb. Die Zweiwertigkeit des Vollverbs wird abgebaut: geholfen bekommen, auf den Fuß getreten bekommen. Gegen die Annahme eines konstruktionell angelegten impliziten Arguments spricht auch, dass die mögliche Explizierung sortal nicht festgelegt ist. So sind verschiedene Besetzungen eines Patiens-Arguments möglich (23b–c). Diese basieren aber auf einer anderen Konstruktion als (23a). (23)
a. Sie schlug ihm auf den Kopf. b. Einer der Täter schlägt ihm einen Messingleuchter auf den Kopf.74 c. […] ein kochend heisser Gesteinsbrocken schlug ihm ein Loch in den Kopf.75
Schließlich spricht gegen die Annahme eines konstruktionellen impliziten Arguments und damit gegen die Ableitung der Nom-Dat-PP-Konstruktion aus der ditransitiven Nom-Dat-Akk-PP-Konstruktion auch die Datenlage im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch76 sowie im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus77. Die Verben, welche ditransitiv und mit PP belegt sind wie stechen, treten oder schlagen in (24a), werden nur äußerst selten ohne den Akkusativ mit Dativ gebraucht (24b). Hier überwiegt, anders als heute, der projizierte Akkusativ wie in (24c).
73 Wegener (1985: 73) führt bestimmte Dativverwendungen wie jemandem leben auf „zugrundeliegende Transitivität“ zurück, die sie mit kognaten Objekten begründet: er lebt seinen Kindern sein Leben. Auch hier ist problematisch, dass eine Valenzerhöhung angenommen wird, welche den Dativ zulässt, um danach wieder von der sprachlichen Oberfläche zu verschwinden. 74 HMP07/FEB.02846 Hamburger Morgenpost, 25.02.2007. 75 E01/JUL.03214 Tages-Anzeiger, 27.07.2001. 76 https://www.linguistics.rub.de/rem/ 77 https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/FnhdC/
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a. […] vnd ſlugen ym eynen nagel yn dy eyne hant.78 b. […] vnd ſluͤgen ym auff den hals.79 c. Vn̄ ſluͤgen in ouf ſeinen hals.80
Hingegen findet sich die Nom-Dat-PP-Konstruktion gerade bei intransitiven Verben wie fahren, fließen, laufen und fallen (25), die nicht mit dem Akkusativ gebraucht werden. (25)
a. Der ſteyn der felt jm vff den grindt [grindt übertragen ‚Kopf‘]81 b. […] ſo lauffen Jm dy viſch zu dˢ handt.82 c. […] vn̄ de tranē de vloten eme vte den ogē.83
Besonders aufschlussreich sind die folgenden mittelhochdeutschen Belege in (26a) und (26b). (26)
a. vnd ſtach ím aín grozz wundē mít ſeinē ſpíezz ín díe pruſt84 b. Meleagant ſtach yn durch den ſchilt vnd durch all ſyn wapen ſo das ím die glen aldurch vnd durch die lincken ſchultern fur.85 [glen ‚Lanze‘]
Während in (26a) stechen mit Dativ, Akkusativ und direktionaler PP gebraucht wird, finden sich nur zwei Belege mit sogenanntem Pertinenzdativ. Häufig hingegen ist der Gebrach wie in (26b) mit dem verbalen Akkusativ und direktionaler PP. Im gleichen Satz wird mit dem intransitiven Verb fahren hingegen die NomDat-PP-Konstruktion gebraucht.
78 https://annis.linguistics.rub.de/?id=a1d48dad-96e9-4e4a-a4ce-ec564402158b (15. Jahrhundert, frühneuhochdeutsch, mitteldeutsch). 79 https://annis.linguistics.rub.de/?id=a95cf193-9ffa-4303-bf1b-1f8c373b7dec (2. Hälfte 15. Jahrhundert, frühneuhochdeutsch, oberdeutsch). 80 https://annis.linguistics.rub.de/?id=96453a2d-9309-426a-9fef-6ceac48deabb (2. Hälfte 14. Jahrhundert, frühneuhochdeutsch, oberdeutsch). 81 https://annis.linguistics.rub.de/?id=77f58ca6-ea82-4ca9-8683-0b44b0c461be (Sebastian Brand: Das Narrenschiff. 1499). 82 https://annis.linguistics.rub.de/?id=43870482-b4ba-4c91-8775-8c3ff9291e1a (Georg Prell: Hausbuch Prell. frühneuhochdeutsch, oberdeutsch). 83 https://annis.linguistics.rub.de/?id=f6be2d15-a7d9-4fcc-9ae3-c0bcb1d7441d (Niederdeutscher Beleg, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts). 84 https://annis.linguistics.rub.de/?id=de717a4d-b177-4888-88db-165aeed297ea (Hans Mair: Buch von Troja, 1392, oberdeutsch). 85 https://annis.linguistics.rub.de/?id=f243610d-283b-4d3b-ba5e-8ebfc1ce4abc (Der Karrenritter. Episode des mhd. Prosa Lancelot, 1430).
Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ? – Valenz und Konstruktion
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Wenn nicht von einer Fragmentierung der ditransitiven kausativen Bewegungskonstruktion ausgegangen wird, stellt sich die Frage nach der Motivation der Konstruktion. Der Weg der Valenzabstraktion scheint hier unplausibel. Nur wenige Verben, welche den Dativ regieren, erlauben zusätzlich eine direktionale PP wie jemandem über die Straße helfen, jemandem in eine Bar folgen. Eine hohe Type-Frequenz auf der Verbstelle ist aber eine Voraussetzung dafür, dass Argumentstrukturmuster von Konstrukten abstrahiert werden. Gegen entsprechende Abstraktion spricht zudem, dass das Verb helfen mit direktionaler PP auch mit dem Akkusativ gebraucht wurde86, analog zur kausativen Bewegungskonstruktion. So bliebe als Muster nur noch das Verb folgen. Außerdem ist der Dativ der Konstruktion an die direktionale PP gebunden, was bei helfen und folgen gerade nicht der Fall ist. Deshalb gehe ich hier von einer nicht projizierten Konstruktion aus. Plausibler ist die Annahme einer Fusion der direktionalen Vorgangs- und Tätigkeitskonstruktion mit der Vorgangs- und Tätigkeitskonstruktion, welche die Rolle des Betroffenen durch eine NP im Dativ ausdrückt. Für eine solche Fusion spricht erstens, dass Sprecherinnen und Sprecher routiniert bestimmte Valenzmuster um eine Dativergänzung erhöhen und zweitens, dass Dativ-Argumente mit allen Sachverhaltstypen kompatibel sind: mit Zuständen (er steht ihr in der Sonne), mit Vorgängen (der Ring fällt ihr ins Meer), mit Tätigkeiten (er tritt ihr in den Weg) und mit Handlungen (sie baut ihm ein Haus auf den Berg). Das Resultat der Fusion sieht aus, wie ein Fragment der Konstruktion zum Ausdruck einer ditransitiven kausativen Bewegungshandlung. Rein taxonomisch kann von einer Subpart-Relation gesprochen werden. Ein Ableitungsverhältnis besteht jedoch nicht. Das wäre genauso unplausibel wie die Annahme, dass Sprecherinnen und Sprecher intransitive Konstruktionen aus transitiven Konstruktionen bzw. Verben abgeleitet haben. Unter einem Netzwerk von Konstruktionen (Konstruktikon) wird der langfristige Aufbau von komplexen aus einfachen Konstruktionen verstanden.87 Träger dieses Aufbaus sind die Sprecherinnen und Sprecher über verschiedene Generationen hinweg. Die Zusammenhänge werden in der folgenden Abbildung dargestellt.
86 Z. B. Ach Gott hilf ihn aus dieser Pein (Achim Arnim und Clemens von Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 2. Heidelberg, 1808, S. 111.) Bis ins 18. Jhd. wurde helfen mit dem Akkusativ gebraucht, wenn das Subjekt unbelebt war und mit dem Dativ bei belebtem Subjekt. Cf. Paul (1919: 381–382). 87 Die Konstruktionen werden im Konstruktikon, analog zum Lexikon, gespeichert. Die Kombination von Lexemen mit Konstruktionen sowie von Konstruktionen untereinander ist durch die Grammatik im engeren Sinn geregelt. Lexikon/Konstruktikon und Grammatik werden somit nicht als ein Kontinuum aufgefasst. Wesentlich ist jedoch, dass die entsprechenden Regeln als Gebrauchswissen unter der entsprechenden Konstruktion vermerkt sind. Cf. Felfe (2020: 266).
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5 Konzeptuelle Anreicherung der Dativrolle – Pertinenz Wenn signifikativ-semantische Rollen, wie im vierten Abschnitt, semasiologisch an die Kasusform und an die Konstruktion gebunden werden, dann folgt daraus Unterspezifiziertheit. Es handelt sich um eine syntaktisch-semantische Kompression, welche die Hörerinnen und Hörer für ein sinnvolles Verständnis konzeptuell anreichern müssen. Diese Anreicherung ist insofern pragmatisch, als es sich, aus Sicht der Rezipienten, um die aktive Herstellung von Sinn handelt. Dabei wird auch auf sogenanntes Weltwissen zurückgegriffen. Welche Rolle spielt nun die Zugehörigkeitsrelation, die Pertinenz des Substantivs in der PP zum Dativreferenten? In älteren Grammatiken wird sie hervorgehoben.88 Für Welke (1988: 74) kodiert die Dativergänzung keine Possessivrelation, sondern diese werde durch Inferenz hergestellt, etwa die zwischen einem Körperteil und dessen Träger. Auch Zifonun et al. (1999: 1338) schreiben von „interpretatorischen Zugaben, die auf einem bestimmten Faktenwissen beruhen“.
88 Cf. Havers (1911: 3), Paul (1919: 412) ohne Differenz zum possessiven Genitiv (Paul 1919: 290), Behaghel (1923: 633).
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Ogawa (2003: 35) bezeichnet die Unterscheidung zwischen Pertinenz- und Commodi-Dativ als „Epiphänomen der zugrunde liegenden Dativ-Semantik“. Auch für Hole (2014: 130–137) kodieren freie Dativ-Argumente primär Geschehensbeteiligte mit der hier interessierenden (allerdings denotativ fundierten) Rolle eines wahrnehmungs- und repräsentationsfähigen Affizierten (jemandem auf den Mantel treten).89 Hole (2014: 125) hält auf der Ebene der Wahrheitsbedingungen einen doppelten Bezug des Dativ-Arguments für nötig. Er unterscheidet nicht zwischen Signifikat und Denotat. Bedeutung wird gleichgesetzt mit Wahrheitswert. Der Dativ-Referent müsse zusätzlich eine durch den Dativ präsupponierte Possessor- oder Zweck-Relation binden. Diese Bindung erfolge an der Possessorvariable einer tiefer eingebetteten, von der Dativ-NP c-kommandierten definiten NP. Hole (2014: 123) hält diese doppelte Bindung für eine grammatische Restriktion90, nicht für eine pragmatische Anpassung. Problematisch ist die Kopplung grammatischer und damit genuin sprachlicher Restriktionen an den Wahrheitswert, das heißt die Gleichstellung des Signifikats mit dem Denotat. Bei der Possessor-Relation handelt es sich um eine geschlussfolgerte Präsupposition. Hörerinnen und Hörer schlussfolgern aus einer Äußerung wie sie tritt ihm auf den Fuß, dass der Dativ-Referent von einem Treten-Ereignis auf seinen Fuß betroffen ist. Diese geschlussfolgerte Trägerbeziehung liegt unabhängig vom Geschehen, bereits vor dem Geschehen vor.91 Die primär subjektive Betroffenheit von einem Szenario setzt voraus, dass das Szenario bzw. ein Szenariobeteiligter in enger Beziehung zum Dativ-Referenten steht. Wie im ersten Abschnitt anhand von Korpusdaten gezeigt wurde, ist diese Implikatur eingeübt und routiniert.
89 Die Rolle des Affizierten ergebe sich aus der Kombination der Rollen Experiencer und Landmarke. Letztere beruhe auf einer Teil-Ganzes-Beziehung und habe innerhalb der VP eine lokalisierende Funktion (der Kiste quillt Füllmaterial aus den Ritzen). Jene Merkmale schreibt Hohle (2014: 130, 196) nicht der dativischen Form zu, sondern sie werden durch entsprechende Diathesemorpheme als grundsätzlich verschiedene thematische Rollen eingeführt. Allerdings bemerkt Hole (2014: 42), dass die Trennung zwischen verblizenzierten Dativ-Argumenten und über ein entsprechendes Diathesemorphem eingeführten sogenannten freien Dativen nicht der Tatsache gerecht werde, dass beide sehr ähnlich seien und dass letztlich von Homomorphie zwischen dem morphologischen Kasus und der semantischen Rolle gesprochen werden könnte. 90 Hole (2014: 55) sieht den Bindungszwang darin bestätigt, dass unter einer VP-Ellipse der Dativ nur sogenannte sloppy-Lesarten zulässt: Es regnet ihm ins Haus und ihr auch wird verstanden als ‚ihm in sein Haus‘ und ‚ihr in ihr Haus‘. Ich halte das für die Voraussetzung, um die Betroffenheit des Dativ-Referenten sinnvoll interpretieren zu können. Subjektive Betroffenheit von einem Sachverhalt setzt voraus, dass der Sachverhalt bzw. ein Sachverhaltsbeteiligter in enger Beziehung zum Dativ-Referenten steht. 91 Hierauf macht bereits Behaghel (1923: 633) aufmerksam.
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Problematisch ist es jedoch, diese konzeptuelle Anreicherung der Semantik des Dativs zuzuschreiben und einen doppelten Bindungszwang des Dativs als grammatische Restriktion anzunehmen. Denn erstens wird der originäre Ausdruck einer Possessor-Relation im signifikativ-semantischen Sinne (Besitz, Verfügbarkeit, Teil-Ganzes und Zugehörigkeit) durch den attributiven Genitiv, ein äquivalentes Possessivpronomen oder durch den adnominalen Dativ (dem Vater sein Hut) unterhalb der Satzgliedebene geleistet.92 Bei telischen Sachverhalten ist die Dativ-NP kompatibel mit NPs, die nicht als Possessum des Dativ-Referenten verstanden werden (27). (27) Bei der älteren Patientin rutschte dem Arzt die künstliche Linse in den Glaskörper des rechten Auges.93 Signifikativ-semantisch ist der Arzt von einem Vorgang betroffen, nämlich vom Rutschen einer künstlichen Linse in den Glaskörper des rechten Auges bei einer älteren Patientin. Wer den Satz (27) sinnvoll interpretiert, der wird sicherlich auf eine außersprachliche Situation schließen, in der es sich weder um ‚die Linse des Arztes‘ noch um ‚den Glaskörper seines Auges‘ handelt. Wir können die Betroffenheit relevant interpretieren. Denn wir vermuten, dass der Arzt eine gewisse Verfügungsgewalt über die Linse und über das Auge der Patientin hat und dass es nicht seine Absicht war, die Linse in den Glaskörper zu befördern. In diesem Sinne können wir den Dativ-Referenten als Geschädigten verstehen: ihm ist etwas schiefgegangen. Grammatisch kodiert ist das ebenso wenig wie unser alltägliches Verständnis, nämlich dass der Arzt verantwortlich für den Vorgang ist, worauf später eingegangen wird. Zweitens kann es Fälle von zweifacher Possessor-Bindung wie in (28) geben. (28) Das dunkle lockere Haar fällt ihm seitwärts in die Stirn.94 Signifikativ-semantisch bleibt offen, um wessen Haar und um wessen Stirn es sich handelt: es gibt ein Fallen-Ereignis des dunklen lockeren Haares in die Stirn, wovon der Dativ-Referent betroffen ist. Durch Implikaturen verstehen wir sowohl
92 Nur bei den Verben des Gebens und Nehmens impliziert die Verbbedeutung, dass der Dativreferent zum Besitzer von etwas wird. Bei gehören ist die Rolle des Possessors lexikalisch bestimmt. Konstruktionell wird der Dativ zusammen mit den Kopulaverben als Besitzer interpretiert: das bleibt mir und umgangssprachlich bzw. regional das ist mir. Hierauf wird im letzten Abschnitt eingegangen. 93 Neue Presse, 29.12.2010. 94 Z90/SEP.00239 Die Zeit, 21.09.1990.
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das dunkle lockere Haar95 als auch die Stirn als ‚sein Haar‘ und ‚seine Stirn‘. Gäbe es einen grammatisch ausgewiesenen Bindungszwang, wäre zu erwarten, dass die Sättigung des Bindungszwangs eine weitere Possessor-Bindung unmöglich macht. Drittens sollte bei einem grammatisch angewiesenen Zwang zur Bindung entweder nur die Possessor- oder aber die Zweckbindung möglich sein. Tatsächlich hängen beide eng miteinander zusammen und bedingen sich häufig. Wenn jemandem auf den Fuß getreten wird, dann verstehen wir den Dativ-Referenten als Possessor von Fuß aber auch als Geschädigten. Ersteres ist eine Voraussetzung für Letzteres. Und Letzteres ist die wesentliche Bedingung für eine sinnvolle Interpretation. Mitunter genügt die Possessor-Bindung nicht: ?er sieht ihm auf den Fuß vs. er sieht ihm in die Augen. Denn die Relevanz der Betroffenheit muss herstellbar sein. Viertens wird bei den Verben, welche eine Fortbewegung bzw. ein Fortbewegtsein des ersten Arguments implizieren (Telizität), die Possessor-Relation flexibel hergestellt: mal mit dem Subjektreferenten als Possessum (29a) und mal mit dem Referenten des Substantivs in der PP als Possessum (29b). Ausschlaggebend hierfür sind Definitiheit und ein sinnvolles Verständnis der Betroffenheit des Dativreferenten. (29) a. Und wenn auf dem Papier mit den Hausaufgaben ein Tintenklecks ist? Keine Sorge, hier ist die perfekte Ausrede […]: „das blatt papier fiel mir ins meer!/da schwamm ein tintenfisch daher! […]“96 b. […], die Äpfel fallen mir aufs Haus und drücken das Dach ein.97 Fünftens kommt es nicht nur bei Dativ-NPs zu Possessor-Bindungen, sondern auch durch eine NP im Nominativ (30a), im Akkusativ (30b) sowie situationell durch den Sprecher (30c). Knobloch (2015: 252) bezeichnet diese als „die möglichen situativen und syntaktischen Ankerpunkte für den indizierten oder implizierten ‚reference point‘ Possessor“. Das spricht für eine von der Hauptprädikation und von den an diese gebundenen Formen unabhängige Beziehung. (30)
a. Er wird/bekommt auf den Fuß getreten. b. Er tritt den Mann auf den Fuß. c. Oma hat Geburtstag.
95 Durch das Merkmal ‚lockere‘ wird die Bedeutung von Haar als ‚Gesamtheit der Haare auf dem Kopf‘ aktualisiert. 96 U20/OKT.01446 Süddeutsche Zeitung, 13.10.2020. 97 Martin Auer: Joscha unterm Baum. Mit Bildern von Christine Sormann. Wien: St. Gabriel, 1994; S. 16.
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Die Possessor-Relation wird in (30) durch die relationale Semantik der Substantive eingefordert, in (30a,b) durch den definiten Gebrauch Fuß und in (30c) durch den Gebrauch von Oma als Eigenname. Die Sättigung der substantivischen Leerstelle erfolgt kasus- und rollenunabhängig. Lehmann et al. (2004: 23–24) bezeichnen diese prädikatsunabhängige Beziehung als Interpartizipantenrolle. Ihr Prototyp ist die zwischen einem Possessor und einem Possessum. Unabhängig von der prädizierten semantischen Rolle weist der Possessor Merkmale auf, welchen einen hohen Grad an Empathie beim Sprecher bedingen: u. a. Sprechaktteilnehmer, menschlich, belebt, Individuum (vs. Substanz), Entität (vs. Proposition) usw. Das Possessum weist das wesentliche semantische Merkmal der Relationalität auf wie das bei Bezeichnungen für Körperteile und Verwandtschaftsbeziehungen der Fall ist. Nach Lehmann et al. (2004: 26) ist auf kognitiver Ebene die semantische Rolle eines Geschehensbeteiligten nicht von einer Interpartizipantenrolle zu unterscheiden. Denn auch die Rollen der verbalen Argumente sind konzeptuell Beziehungen zwischen Geschehensbeteiligten. Auf sprachlicher Ebene stehen diese in Beziehung zu einem durch die Verbform hypostasierten Sachverhaltskern. Anstelle einer grammatisch angewiesenen Doppelbindung handelt es sich bei der Possessor-Bindung, im Sinne einer weiten Verfügbarkeit, um eine implizierte Präsupposition. Sie ist die Voraussetzung, um ausgehend von Implikationen oder Implikaturen die Betroffenheit des Dativ-Referenten sinnvoll zu interpretieren. Diese Relevanz wird meist durch Folgerungen auf die Betroffenenrolle als Nutznießer oder Geschädigter hergestellt. Grammatisch angewiesen ist die Beziehung zwischen der Dativ-NP und der direktionalen PP. Denn, wie im ersten Abschnitt dargestellt, ist die Dativ-NP hier an die Kookkurrenz einer direktionalen PP gebunden. Um die konzeptuelle Anreicherung annähernd zu erfassen, zerlegen wir das durch die Äußerungen mit einer NP im Nominativ, einer NP im Dativ und einer direktionalen PP ausgedrückte Szenario, wie in der formalen Semantik üblich98, in drei Teilereignisse. Die durch die Konstruktion kodierten Argumente werden mittels abstrakter Prädikate in Propositionen zerlegt. Das erste umfasst das Tun eines Agens oder den Vorgang eines Vorgangsträgers x als DO(x) bzw. PROC(x). Mit Wunderlich & Herweg (1991: 776) bestimmen wir das durch die direktionale PP kodierte Ziel (Direktivum) als zweites Teilereignis. Dieses besteht in der Veränderung (CHANGE) von einem Argument in einer raum-zeitlichen Dimension d. Die Veränderung vollzieht sich im Raum LOC zu einem Ziel y, welches mittels der Präposition P angegeben wird. Bei Fortbewegungsverben und sogenannten ergativen Verben (31b) mit dem Merkmal Bewegung wird das Argument x mit dem ersten Argument des CHANGE-Prädikats identifiziert: CHANGE(d, Loc(x, P(y)). Im
98 Cf. Dowty (1979) und speziell für das Deutsche Engelberg (2000).
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dritten Teilereignis wird die durch den Dativ kodierte Rolle des Betroffenen als Beziehung zwischen dem Dativ-Referenten z und dem zweiten Teilszenario (e2) erfasst: BETR(z, e2). Eine Möglichkeit der konzeptuellen Anreicherung des syntaktisch kompakt kodierten Sachverhalts wird in (31a) angeben. Auf dieser Grundlage wird die Äußerung (31b) in (31c) aufgedröselt. Hierbei handelt es sich nicht um die signifikativ-semantische (formal angewiesene) Struktur, sondern eine logische, durch Implikaturen angereicherte Form. (31)
a. PROC(x) (e1) & CHANGE(d, LOC(x, P(y)) (e2) & BETR(z, e2) (e3) b. Das Papier fällt dem Kind ins Meer. c . FALL(Papier) (e1) & CHANGE(d, LOC(Papier, IN(Meer)) (e2) & BETR(Kind, e2) (e3)
Das zweite Teilereignis (e2) impliziert den Nachzustand, dass sich das Papier im Meer befindet. Davon ist der Dativreferent betroffen. Sinnvoll wird jene Betroffenheit interpretiert, indem eine weitgefasste Possessor-Relation des Dativ-Referenten zum Papier präsupponiert wird. Es gerät aus der Verfügungsgewalt des Possessors und wird notwendigerweise nass. Der Dativ-Referent kann somit als Geschädigter interpretiert werden. Eine zusätzliche Implikatur lässt den Dativ-Referenten als Verantwortlichen verstehen. Denn, wenn er als Possessor über das Blatt verfügte, die Verfügungsgewalt aber verloren hat, so kann dieser Verlust in seiner Verantwortung liegen. Denn die präsupponierte Possessor-Relation impliziert Kontrolle. Kontrollverlust ist eine Kausalrelation. Wegener (1985: 274, 316) hält jene Lesart für eine semantische Rolle des Dativs und bezeichnet sie als CAUSE und den Typ als ergativischen Dativ. Tatsächlich handelt es sich um eine implikative Lesart. Man vergleiche entsprechende Implikaturen bei der Patient ist dem Arzt gestorben vs. dem Kind ist sein geliebter Hund gestorben vs. denn ein Kind ist uns geboren. Grammatisch, das heißt formal ist keine dieser Anreicherungen angewiesen. Wenn sich der Referent der NP innerhalb der PP besser für die Possessor-Bindung eignet, wird dort gebunden (32). (32)
a. Die Äpfel fallen dem Mann aufs Dach. b. FALL(Äpfel) (e1) & CHANGE(d, LOC(Äpfel, AUF(Dach)) (e2) & BETR(Mann, e2) (e3)
Für ein sinnvolles Verständnis der Betroffenheit des Dativ-Referenten von den Äpfeln, die auf das Dach fallen, wird präferiert eine Possessor-Relation zwischen dem Dativ-Referenten und dem Dach hergestellt. Eine mögliche Implikatur lautet, dass der Mann so zu Äpfeln gelangt, also Benefizient der Situation ist. Eine ebenso
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mögliche Implikatur kann zur Interpretation des Betroffenen als Geschädigten führen, nämlich wenn die auf sein Dach fallenden Äpfel dieses beschädigen. Kontextabhängig wäre aber auch die Interpretation möglich, dass die Betroffenheit darin besteht, dass die eigenen Äpfel auf das Dach des Nachbarn fallen und damit aus der Reichweite des Possessors gelangen. Wenn wie bei treten in (33a) keine Interpretation als Fortbewegung plausibel ist, sieht die Anreicherung anders aus. Zum ersten Argument des CHANGE-Prädikats wird das erste Teilereignis selbst. Wer irgendwohin tritt, boxt oder kneift, der richtet sein Tun auf ein Ziel. Die Ausdrücke sind atelisch. Die Betroffenheitsrelation besteht zwischen dem Dativ-Argument und dem zweiten Teilereignis bzw. Implikaturen aus diesem (33b). (33)
a. Der Mann tritt dem Kind auf den Fuß. b. TRET(Mann) (e1) & CHANGE(d, LOC(e1, AUF(Fuß)) (e2) & BETR(Kind, e2) (e3)
Wenn die NP innerhalb der PP definit auf einen Körperteil verweist, so geht die Possessor-Bindung von der relationalen Semantik des Substantivs und der definiten Referenzweise aus. Die Betroffenheitsrelation ist in diesem Rahmen leicht sinnvoll zu interpretieren. Wenn das Tätigkeitsziel ein Körperteil des Betroffenen ist, dann ist die Betroffenheit unmittelbar körperlich. Die Anreicherung führt zu einer Lesart des Dativ-Referenten als physisch affiziert, was der Rolle Betroffener selbst nicht zukommt. Der sogenannte Pertinenzdativ ist weder ein eigener Dativtyp, noch ein Merkmal der entsprechenden Dativ-Rolle.99 Wenn in der Äußerung kein Körperteil vorkommt, dann muss die Relevanz der Betroffenheitsrelation über Implikaturen hergestellt werden. Der Anker hierfür ist im weitesten Sinne eine Possessor-Relation. Wenn es jemandem ins Haus regnet, dann lässt sich die Betroffenheit am besten verstehen, wenn es im weitesten Sinne ‚sein Haus‘ ist (Präsupposition), welches nass wird (Implikatur), wodurch 99 Das Phänomen bezeichnet Dowty (2001: 183) als „Part-to-Whole Spread“: von der KontaktAffizierung eines Patiens, das in einer Teil-Ganzes-Beziehung steht, wird auf die Affizierung des Ganzen geschlossen. So folge aus (i) Mary touched the toenail on John’s big toe –> (ii) Mary touched John’s big toe …–> (iii) Mary touched John. Diese Folgerung ändert nichts daran, dass John in (i) signifikativ-semantisch als Lokativ kodiert ist und in (ii) als Possessor. In beiden Fällen handelt es sich um semantische Beziehungen unterhalb der Satzgliedebene. Nur in (iii) wird John als Patiens der Handlung ausgedrückt. Die Folgerung vom Betroffenen im Dativ auf ein physisch affiziertes Patiens im Akkusativ ist bei vielen transitiven Verben mit den Merkmalen Bewegung und Kontakt möglich: Sie kneift ihm in den Arm –> Sie kneift ihn vs. Sie tippt ihm auf die Schulter –> ✶Sie tippt ihn. Bei Verben, deren Bedeutung eine Zustandsveränderung impliziert, ist das nicht möglich: Sie schnitt ihm in den Finger. –> #Sie schnitt ihn.
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wir den Dativ-Referenten als Geschädigten verstehen. Wenn die Sonne jemandem auf das Papier scheint, dann wird durch die grammatisch kodierte Betroffenheitsrelation eine Possessor-Bindung zwischen dem Dativ-Referenten und dem Papier präsupponiert. Unter dieser Voraussetzung verstehen wir den Dativ-Referenten als Geschädigten, denn eine Implikatur könnte lauten, dass ein Blatt Papier, auf welches die Sonne scheint, blendet oder aber umgekehrt als Nutznießer, nämlich wenn der Text, welcher auf das Papier geschrieben wird, gedeiht. Die Grenzen für das sinnvolle Verständnis sind bei diesen Verben deutlich enger gesteckt als bei den Ausdrücken der Fortbewegung (er geht ihr ins Netz) und bei den sogenannten ergativen Verben (der Efeu wächst ihr über den Balkon). Denn letztere referieren telisch und implizieren Nachzustände, von denen der Dativ-Referent betroffen ist. Bei ersteren wird kein Nachzustand impliziert. Anders als Lee-Schoenfeld (2012: 41–42) behauptet, führt die direktionale PP mit diesen Verben nicht zu telischen Äußerungen. Durch irgendwohin treten, beißen, scheinen, boxen, lächeln werden keine mittels gängiger Tests nachweisbaren Nachzustände impliziert. Denn das erste Argument des CHANGE-Prädikats ist das Tun oder der Vorgang selbst, keine Entität, die an ein Ziel gelangt. Es bestätigt sich eine Erklärung von Ogawa (2003: 28–29), nämlich dass die Lizenzierung der Dativ-NP an einen hohen Grad von Affiziertheit gebunden ist und/oder an eine enge Relation zum dargestellten Sachverhalt im Sinne von Pertinenz als Träger-Relation. In der hier vorgeschlagenen Analyse kann präzisiert werden: das zweite Teilereignis, von welchem der Dativ-Referent betroffen ist, sollte entweder einen hohen Grad an Affiziertheit aufweisen, das heißt einen Nachzustand implizieren und/ oder ein Argument mit physischer Nähe (Pertinenz im Sinne der Träger-Relation) enthalten. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Merkmale der Dativ-Rolle Betroffener, sondern um Implikaturen, um diese Rolle sinnvoll interpretieren zu können. Insbesondere bei Körperteilbezeichnungen ist es durchaus möglich, dass Sprecherinnen und Sprecher mit der Dativkonstruktion gezielt eine Pertinenzrelation ausdrücken wollen. Das würde bedeuten, dass die routinierte Implikatur ausschlaggebend ist und die signifikative Rolle des Dativarguments sekundär. Das vermutet Ágel (2017: 519): „Wenn auf die statische Grundstruktur die externe Possession angewandt werden soll, muss der PD [Pertinenzdativ, MF] hinzugefügt werden. Der statische Valenzträger bekommt ein dynamisches Dativobjekt gewissermaßen ‚typologisch geschenkt‘.“ Im Gegensatz zum internen Possessorausdruck (sie klopft auf die Schulter des Mannes/von dem Mann) führt der Dativ zur Sichtbarkeit des Possessors auf der Ebene der Satzglieder und, was die Reihenfolge betrifft, gegenüber der Genitiv- und PP-Kodierung zur primären Inblicknahme des
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Possessors.100 In dieser doppelt prominenten Sichtbarkeit liegt m. E. der Mehrwert gegenüber internen Possessorausdrücken. Der als Possessor verstandene Referent der Dativ-NP geht dem Possessum in der PP auf Satzgliedebene voraus und das Possessum steht in absoluter Fokusposition. Jene Sichtbarkeit halte ich nicht für „typologisch geschenkt“, sondern für beabsichtigt. Die signifikativ-semantische Rolle des Betroffenen mag dabei sekundär sein. In diesem Sinne ist es durchaus möglich, dass eine routinierte Implikatur den Gebrauch einer Konstruktion wesentlich motiviert. Deshalb muss sich jedoch die formal kodierte Bedeutung nicht wandeln. Denn diese wird weder durch die Possessor-Implikatur noch durch die Lesarten als Benefizient oder Malefizient verändert. Die Implikaturen sind bei entsprechenden Akkusativausdrücken (sie tritt ihn auf den Fuß) ähnlich, was nichts an der durch den Akkusativ kodierten semantischen Rolle verändert. Statt von einer semantisch gegebenen Überschneidung von Benefizient und Possessor auszugehen, sollte zwischen der signifikativ-semantischen Rolle des Zuwendungsbetroffenen und Implikaturen differenziert werden. Im Gegensatz zu entsprechenden Ausdrücken mit Akkusativ ist die Possessor-Implikatur beim Dativ routiniert.
6 Fazit und Ausblick Im Titel dieses Aufsatzes sind die Begriffe Pertinenzdativ und Pertinenzakkusativ mit einem Fragezeichen versehen. Ich habe gezeigt, dass sowohl der sogenannte Pertinenzdativ als auch der Pertinenzakkusativ bzgl. der Pertinenzrelation keine Kasusfunktionen entsprechender Argumentmuster sind. Der Akkusativ kodiert die signifikativ-semantische Rolle des Patiens und der Dativ die des Zuwendungsbetroffenen. Ausdrücke wie er haut ihm auf den Hut bedeuten keine direkte Einwirkung des Referenten der Nominativ-NP auf den Referenten der Dativ-NP. Gerade das ist die Semantik der Nominativ-AkkusativKonstruktion: er haut ihn auf den Hut. Es handelt sich nicht um gleichbedeutende Varianten, sondern um unterschiedliche Sachverhalte. Diese erlauben eine unterschiedliche Perspektivierung einer potentiell gleichen außersprachlichen Situation. Die in der Literatur diskutierten Unterschiede wurden auf die unterschiedliche Rollenkodierung und damit auf unterschiedliche Sachverhaltstypen zurückgeführt. Aufgrund der semantischen Differenz muss von Alternanten, nicht aber von Varianten gesprochen werden.
100 Langacker (1991: 177–178) bestimmt innerhalb der Possessor-Relation den Possessorausdruck als Topic und das Possessum als Fokus. Diese Konstruktionsweise gelte über Possessor-Relationen hinaus insbesondere für Personenbezeichnungen als Referenzpunkte.
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Sprachliche Varianz ist auf den seltenen Fall einzugrenzen, dass zwei verschiedenen Strukturen das gleiche Signifikat haben (er erschrak/erschreckte sich vor dem Hund). Von Alternanz hingegen ist zu sprechen, wenn verschiedene Formen potentiell auf das gleiche Denotat verweisen können, dies aber mit unterschiedlichem Signifikat, d. h. aus unterschiedlich kodierten Perspektiven tun. Die signifikativ-semantische Analyse geht anstelle eines Linkings über sogenannte Schnittstellen von einem konstruktionsspezifischen Zusammenhang zwischen Form und Bedeutung aus: die Kasus Akkusativ und Dativ kodieren innerhalb von verschiedenen Argument-Konstruktionen verschiedene semantische Rollen. Im Unterschied zum Nominativ kodieren sie relativ einheitlich: der Akkusativ das Patiens und der Dativ die Rolle des Zuwendungsbetroffenen. Der erste Unterschied zwischen beiden Kasus und den durch sie kodierten Rollen ist, dass der Akkusativ als Argumentkasus fast nur in Konstruktionen zum Ausdruck von Handlungssachverhalten vorkommt, weshalb die Rolle auch als Handlungsgegenstand bezeichnet wird. Der Dativ hingegen kodiert Zuwendungsbetroffene in Konstruktionen zum Ausdruck von Handlungs-, Tätigkeits-, Vorgangs- und Zustandssachverhalten. Dies lässt sich mit dem zweiten Unterschied erklären: der Dativ kodiert konstruktionsübergreifend relativ autonom, d. h. relativ unabhängig von einer Prädikats- oder Sachverhaltsklasse bis hin zu prädikatslosen Ausdrücken wie dem deutschen Volke die Rolle des Zuwendungsbetroffenen. Die signifikativ-semantische Analyse erlaubt und erfordert die Differenzierung zwischen Semantik als der formal kodierten, komprimierten Bedeutung durch eine sprachliche Form und Pragmatik als dem von der Semantik ausgehenden und über sie hinausgehenden sinnvollem Verstehen durch sogenanntes Weltwissen. Diese notwendige und mehr oder weniger routinierte Anreicherung wurde im fünften Abschnitt dargestellt. Bei der konzeptuellen Anreicherung wird die Relevanz der Betroffenheit des Dativreferenten bezüglich des zweiten aus der direktionalen PP analysierbaren Teilereignisses hergestellt. Deshalb ist die Dativ-NP an die Kookkurrenz der PP gebunden. Bei den hier betrachteten Verben hat sich eine einfache Argumenterhöhung nur um eine Dativ-NP nicht durchgesetzt. Seltene und meist ältere Belege wie da besann ich mich auf alles, wie Du mit mir gewandelt bist in nächtlichen Stunden und hast mir gelächelt101 haben keine Mustergültigkeit erlangt. Zu dieser gehört die direktionale PP als Grundlage der Betroffenheitsrelation: er lächelte ihr ins Gesicht. Das aus der PP analysierbare zweite Teilereignis muss entweder einen impliziten
101 Bettine von Arnim (1835): Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. 1. Theil. Berlin: Dümmler, S. 146. Dieser Gebrauch ist abzugrenzen von idiomatischen Ausdrücken wie: das Glück/ein Gedanke hat jemandem gelächelt.
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Nachzustand und/oder eine enge Relation zum Dativ-Referenten beinhalten, damit dessen Betroffenheit sinnvoll interpretiert werden kann. Jene enge Beziehung wird routiniert durch Implikaturen hergestellt. Ihr Prototyp ist die Possessor-Relation, deren engster Vertreter die Pertinenz-Relation ist. Die Possessorbindung wird weder prädiziert, noch ist die Bindung strukturell festgelegt (der Ring fiel ihm ins Meer –> routiniert ‚sein Ring‘ vs. der Stein fiel ihm auf den Fuß –> routiniert: ‚auf seinen Fuß‘ vs. das Haar fiel ihm in die Suppe –> routiniert: ‚sein Haar‘ oder ‚seine Suppe‘ oder beides). Da es sich anders als beim Akkusativ um routinierte Implikaturen handelt, sollten sie zum sprachlichen Wissen gezählt werden, allerdings nicht zur Semantik der kodierten Rolle, sondern zur Pragmatik. Denn die Betroffenen-Rolle ist per se eben keine Possessor-Rolle: bei einer Patientin fiel dem Arzt die Linse in den Glaskörper des Auges –> dativunabhängig: ‚ihr Auge‘ und ‚dessen Linse‘ bzw. ‚ihre Linse‘). Die Akkusativausdrücke wurden als Überblendung von zwei projizierten Konstruktionen analysiert (drum hau ihn auf den Hut): die Nominativ-AkkusativKonstruktion (Handlung) wird von der direktionalen Nominativ-PP-Konstruktion (lokal gerichtete Tätigkeit) überblendet. Das Ergebnis ist formgleich mit Instanzen der kausativen Bewegungskonstruktion (hau es in die Tonne), basiert aber nicht auf dieser. Die Implikatur, welche zur Possessorbindung führt (‚sein Hut‘) ist nicht routiniert, nicht an eine Argumentkonstruktion gebunden und somit nicht Teil des sprachlichen Wissens. Der in diesem Beitrag ermittelte Unterschied zwischen routinierten und nicht routinierten, an sprachliche Formen und nicht an sprachliche Formen gebundenen Implikaturen sollte bei der Modellierung sprachlichen Wissens berücksichtigt werden. Die Dativausdrücke (drum hau ihm auf den Hut) basieren auf einer produktiven Argumentkonstruktion. Das mag die Häufigkeit entsprechender Konstrukte gegenüber den Alternativen mit Akkusativ und die Valenzveränderung bzw. Erhöhung erklären. Sprecherinnen und Sprecher haben bei intransitiven Verben nur die Wahl der mustergültigen Nom-Dat-PP-Konstruktion (sie lächelt ihm ins Gesicht). Im Gegensatz zu möglichen Nom-Akk-PP-Konstrukten bei transitiven Verben könnte angenommen werden, dass die projizierte Überblendung vermieden wird, weil sie zwar formal und bzgl. der semantischen Rollenkodierung mit der kausativen Bewegungskonstruktion identisch ist (sie haut ihn auf die Nase und in die Flucht), aber konzeptuell anders angereichert wird. Routiniert werden Nom-Akk-PP-Konstrukte so entpackt, dass das Agens auf das Patiens einwirkt, wodurch letzteres an den Ort gelangt, der durch die PP ausgedrückt wird. Die Pertinenzlesart ist eine Art Notlösung, wenn die kausative Lesart blockiert ist. Ausgelöst wird diese Blockierung durch eine definite auf ein Körperteil referierende oder als solches interpretierbare NP innerhalb der PP. Denn diese sind schwer als Ziel der Bewegung des Akkusativ-Referenten konzeptualisierbar.
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Möglich und m. E. plausibler ist aber, dass beim Sprechen die Argumentkonstruktion mit Dativ gegenüber der Überblendung mit Akkusativ gewählt wird, weil sie produktiv ist. Die in Nominativ-Akkusativ-Sprachen fundamentale transitive Nom-Akk-Konstruktion wird ‚pur‘ nur bei kognaten Objekten produktiv, das heißt per Koerzion gebraucht.102 Ansonsten ist sie an eine konstruktionelle Veränderung des Prädikats (Präfix- und Partikelverben sowie verwandte resultative Konstruktionen) gebunden. Die Überschneidung zwischen projizierter Überblendung mit quasi koerzierter possessiver Lesart und kausativer Bewegungskonstruktion ist sekundär, zumal es bei der konzeptuellen Anreicherung konkreter Konstrukte kaum zu Mehrdeutigkeiten kommt. Die heute produktive und dominierende Nom-Dat-PP-Konstruktion spricht für Sprachwandel im Sinne der unsichtbaren Hand. Sprecherinnen und Sprecher nutzen diese Konstruktion mit Verben, die über das (auch koerzierbare) Merkmal Bewegung verfügen, welche zu Kontakt mit einer Entität führt. Dabei kann es sich um die Bewegung oder Fortbewegung einer Entität hin zu einem Ziel bzw. entlang eines Weges handeln oder aber um einen Vorgang oder eine Tätigkeit, die selbst als zielgerichtete Bewegung dargestellt wird. Mit dem Dativ wird ein Sachverhaltsbeteiligter als Betroffener in Perspektive gebracht. Diese Regularität liegt auch bei idiomatischen Fügungen wie jemandem auf die Finger sehen vor. Die Idiomatisierung ist durch die grammatisch kodierte Bedeutung motiviert. Zu untersuchen ist, inwieweit die routiniert hergestellte Possessorbeziehung zwischen dem Dativ-Referenten und einem anderen Geschehensbeteiligten den Gebrauch der Konstruktion motiviert. Im Unterschied zur genuin grammatisch kodierten Possessorrelation (postnominaler Genitiv oder entsprechende von-PP) erscheint mit dem Dativ der implikatierte Besitzer pränominal als vom Sachverhalt Betroffener. Der Hauptfokus liegt auf der PP. Ebenfalls zu untersuchen ist, inwieweit Interpretationseffekte wie ein Mehr oder Minder an Absichtlichkeit und Einwirkungsstärke den Gebrauch der jeweiligen Alternante bedingt. Während sich grundlegende Argumentkonstruktionen auf die Abstraktion von projizierten Konstrukten zurückführen lassen, handelt es sich bei der hier untersuchten Nom-Dat-PP-Konstruktion um die Fusion von zwei unabhängigen Konstruktionen. Die Besonderheit mag darin begründet sein, dass sowohl der Dativ als auch direktionale PPs relativ autonom semantische Rollen kodieren. Das erklärt auch ihren verblosen Gebrauch wie jetzt ins Bett und das bereits erwähnte
102 Cf. Felfe (2018).
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dem deutschen Volke.103 Es bedarf keiner Bedeutungsübertragung von projizierten Konstrukten auf die abstrakte Konstruktion. Die Existenz nicht projizierter Konstruktionen kann als ein Indiz für das Primat von Konstruktionen gegenüber Projektionen gewertet werden. M. E. kann die hier vorgeschlagene Analyse auf andere sogenannte freie Dative übertragen werden: die Rolle des Betroffenen muss in Bezug auf ein Teilereignis, welches einen Nachzustand und/oder Nähe zum Dativreferenten impliziert, sinnvoll interpretierbar sein. Für die Konstituentenstruktur bedeutet das, dass sogenannte freie Dativ-NPs mindestens über einem bereits mit dem Verb verbundenen Argument stehen. Zu prüfen ist, in welchem Verhältnis die hier für den produktiven Dativgebrauch angesetzte Rolle zu verblizenzierten Dativen wie dem Kühlschrank etwas entnehmen, jemandem ähneln, der Wegmarkierung folgen oder zu Ausdrücken mit schwächerer Akzeptabilität104 wie dem Haus einen Schuppen anbauen steht. Es sollte weder von der Betroffenenrolle als Invariante (Wegener 1985) ausgegangen werden, noch sollten verschiedene durch den Dativ kodierte Rollen nur nebeneinandergestellt werden (Paul 1919: 216). Verschiedene Verwendungsweisen sind prototypisch auf die Genealogie des Dativs zu beziehen. Nach Kotin (2021: 71–72, 88) besteht der wesentliche (formale und semantische) Ableitungspfad vom indogermanischen Lokativ (X ist in A), welcher einerseits innerhalb bestimmter Konstruktionen metaphorisch auf eine belebte Besitzerrolle übertragen wird (etwas ist/bleibt mir via ‚ist mir nahe‘) und andererseits von der Position auf eine Bewegung im Raum ausgedehnt wurde (jdm. folgen/begegnen). Die Merkmale ‚belebt‘ und ‚Ziel‘ ergeben die Rolle des von einer (empfundenen) Zuwendung Betroffenen. Insbesondere bei lokal motivierten Partikel- und Präfixverben zeigt sich der ursprünglich direktionale Charakter des Dativs, welcher auch unbelebte Zielpunkte als Zuwendungsgröße ausdrückt: dem
103 Steinitz (1997: 342) hält u. a. direktionale PPs für einstellige Prädikate, was dann auch für Dativ-NPs gelten würde. Deshalb sieht sie ihren Status als etwas Drittes zwischen Argumenten (gesättigter, referierender Ausdruck) und Modifikatoren (nicht gesättigter, nicht referierender Ausdruck). Letztlich handele es sich semantisch um Prädikate und syntaktisch um Komplemente (Steinitz 1997: 348). Dies erinnert an Vorschläge der formalen Semantik die Argumente als Propositionen darzustellen, so bei Dowty (1979: 91) und in der Diskussion bei Davis (2011: 402). M. E. handelt es sich dabei nicht mehr um die formal kodierte Bedeutung, sondern die logische Analyse und/oder die konzeptuelle Anreicherung. In der hier vorgeschlagenen Analyse handelt es sich um relativ autonom kodierende Argumente von Argumentkonstruktionen. Aufgrund der Eigenbedeutung und der jeweiligen konzeptuellen Anreicherung erlauben sie aber auch andere Verwendungen in anderen Konstruktionen z. B. attributiv: der Weg in die Stadt/dem Vater sein Hut, wo sie als Modifikatoren fungieren. Prädikatsähnlich sind sie bei dem erwähnten verblosen Gebrauch. 104 Cf. Hole (2014: 20–21).
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Haus einen Schuppen anbauen/dem Kühlschrank etwas entnehmen. Bei Verben des Gleichens bezeichnet Welke (2019: 162) die Dativrolle als Relatum und führt sie auf eine Implikatur zurück: anstelle der Zuwendung zu einer Person wird die Relation zu einer Person oder einem Gegenstand ausgedrückt oder hergestellt. Nach der hier skizzierten Ableitung lässt sich präzisieren: das Relatum ist als Metapher des Merkmals ‚Nähe‘ motiviert: ‚jdm. nah sein/kommen‘ –> jdm. ähneln, folgen. Die lokalistische und die logische Bestimmung von Rollen stehen nicht in einem Entweder-Oder-Verhältnis, sondern lassen sich im Sinne eines Grammatikalisierungspfades aufeinander beziehen.
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Hagen Hirschmann
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5.
Hagen Hirschmann
Gradpartikel mit Korrelatfunktion: Mit den anderen Darstellern versteht er sich so gut , dass er sich wünscht , „dass die Pfefferkörner immer Freunde bleiben!“ (deWaC: https://bit.ly/3RN0588 ; so ist ungefähr paraphrasierbar mit derart) Subjunktion: Walter Hoffmann wird das merken bei seinen Rundgängen durch die Stadt. So er sich dazu die Zeit nimmt. (deWaC: https://bit.ly/3epPCBY )
In bestimmten konzeptionell bis medial mündlichen Varietäten tritt so außerdem als Diskursmarker (in Hennig 2006 wird diese redeeinleitende Funktion als „Operator“ bezeichnet). 6. Diskursmarker: So, ich muss mich jetzt sputen, wir hören uns… (deWaC: https://bit.ly/3CPeexl ) Ebenso existieren Analysen des präphrasalen oder klammernden so als Fokusmarker (Wiese 2011). 7. Fokusmarker: Was machen wir so heute so? (Beispiel nach Wiese 2011: 1004) Gemeinsam mit dem indefiniten Artikel ein bildet so neben solch überdies eine komplexe Struktur, in so ein bzw. solch ein. In dieser Verbindung werden Vorkommen von so (bzw. solch) laut Zifonun et al. (1997: 1938) als „Determinativmodifikatoren (Prädeterminative) zum unbestimmten Artikel“ klassifiziert. Am Beispiel so/solch eine Unverschämtheit (Beispiel aus Zifonun et al. 1997: 1938) wird deutlich, dass so und solch hier als grammatisch gleichwertige Varianten interpretiert werden. Hole & Klumpp (2001) beschreiben das aus so und dem indefiniten Artikel ein zu so’n (in Hole & Klumpp: son) verschmolzene Artikelwort als im mündlichen Sprachgebrauch systematische und voll grammatikalisierte Form mit einer eigenen Funktion, die weder durch den definiten noch den indefiniten Artikel abgedeckt wird, sondern zwischen diesen beiden liegt: Die Autoren beschreiben diese Funktion als eine Referenz auf indefinite Token (Referenten) eines definiten Typs (einer definiten Menge). Die Verbindung des spezifizierenden Teils so mit dem Indefinitmarker ’n verorten die Autoren in der Morphologie, wodurch sich eine syntaktische Beschreibung der komplexen Determiniererstruktur ausschließt. Lenerz & Lohnstein (2005) fokussieren ebenso auf die Beschreibung von so’n, nehmen allerdings eine strikt syntaktische Analyse der Verbindung von so und ’n vor, analog zu Verbindungen wie solch ein, gar kein usw. Sie betonen außerdem eine homogene semantische Eigenschaft von so als Modifikator in der Adjektiv-, der Verbal- und der Nominaldomäne, nämlich als Kopf einer Vergleichskonstruktion3, und schla-
3 Als erste Illustrationsbeispiele können dienen: (Paul ist) so groß wie Erwin (Adjektivdomäne); (Paul hat das) so gemacht wie Erwin (Verbaldomäne); so ein Mensch wie Erwin (ist nett) (Nominaldomäne).
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gen deshalb letztendlich vor, so-Phrasen in diesen Domänen einheitlich als „vollständige und vollspezifizierte Deg-Phrasen“ (Vergleichsphrasen) zu analysieren. Der vorliegende Beitrag zeigt zunächst, dass im Deutschen eine pränominale Verwendung von so ohne den Indefinitartikel (ein oder ‘n) existiert. Es handelt sich um so vor Nomina ohne ein weiteres (overtes) Element. Beispiele hierfür finden sich in (1)–(7).4 (1)
(...) rechts oben davon – es sind so Wohnwägen (...) (BeMaTaC-L1: https://t1p.de/zvv5j )
(2)
also da gibt s auch so lehrgänge äh bei uns... (FOLK, Sprechereignis FOLK_E_00004_SE_01: https://bit.ly/3wX81w0 )
(3)
Mein Körper hat schon so Risse überall (TüBa-D/Z-Korpus, Release 8: https://bit.ly/3qip7k1 )
(4)
Höre so Sachen eher weniger... (DECOW 16B: https://bit.ly/3RzaJzE )
(5)
Ich hab da auf den Fotos so schwarze Würstchen gesehen (deWaC-Korpus: https://bit.ly/3elD26P )
(6)
Die toten sind alle irgendwie abmutiert, so dass denen überall Tentakeln und so Zeug rausgewachsen sind (deWaC-Korpus: https://bit.ly/3RTbPGe )
Diese Verwendung ist, obwohl sie in bestimmten Verwendungskontexten gegenüber den Varianten so’n, so ein und auch solch die bevorzugte Variante ist (vgl. Abschnitt 4), in der Forschungsliteratur weitgehend übersehen. Nur sehr wenige regionalsprachlich orientierte Beiträge erwähnen die Verwendung von so ohne weiteren Determinativbestandteil, hierunter am ausführlichsten Elmentaler & Rosenberg (2015) und Wich-Reif (2010). In beiden Fällen rückt über eine korpuslinguistische Unter-
4 Berücksichtigt werden in diesem Beitrag ausschließlich Strukturen mit originär nominalem, nicht von anderen Wortarten abgeleitetem Kopf, denn deverbale (z. B. die Beleidigten) und deadjektivische (der/die/das Große) Köpfe lassen sich aufgrund ihrer ursprünglichen Eigenschaften durch so modifizieren: So Beleidigte werden lange zürnen; So Große wie die Beatles haben keine Privatsphäre. Dies gilt jedoch für originäre Nomina nicht. Es geht also nicht darum, unter welchen Bedingungen so allgemein innerhalb einer Nominalphrase auftreten kann, sondern darum, welche Eigenschaften der originären Nomina sowie des „Universalworts“ so den pränominalen Gebrauch von so lizensieren.
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suchung der Variation im pränominalen bzw. determinierenden Bereich die soVariante ins Blickfeld. Beide Publikationen gewinnen die Erkenntnis, dass die Verwendung dieser Variante in den untersuchten Korpora mündlicher Kommunikation relativ häufig ist und überregional gültig zu sein scheint (teilweise wird die Variante offenbar in norddeutschen Dialekten verortet). Offen bleibt jeweils eine detaillierte grammatische Einordnung dieser Variante sowie die Analyse der grammatischen Bedingungen, die zur Verwendung dieser Variante gegenüber den konkurrierenden Varianten so ein bzw. so’n, solch ein und dem flektierten solch führen. Genau um diese Aspekte soll es gehen: Im Verlauf des Beitrags wird erarbeitet, wie sich die Vorkommen von so mit direkt folgendem Nomen neben den Varianten so ein, so’n und solch (ein) (mit jeweils folgendem Nomen) syntaktisch einordnen, gebrauchsbasiert erklären und bis zu einem gewissen Maße vorhersagen lassen. Die bereits erwähnten Beiträge zum pränominal auftretenden so vermuten eine homogene Bedeutung bzw. Funktion von so in seinen Verwendungen. Andere Veröffentlichungen hingegen zeigen, dass so verschiedene Lesarten zulässt: Umbach & Ebert (2009) zeigen z. B. die intensivierende Bedeutung sowie die Verwendung von so als Heckenausdruck auf, besprechen aber auch, wie diese beiden Effekte auf dieselbe Grundbedeutung zurückgeführt werden können. Weitere Beiträge, die den (scheinbaren) Widerspruch zwischen einer Bedeutungsvielfalt und einer Bedeutungseinfalt von so und anderen deiktischen Ausdrücken aufzeigen und zum Teil auflösen, bilden die Grundlage, um zunächst zu spezifizieren, welche Bedeutungsvarianten so im pränominalen Bereich zulässt. Anschließend wird besprochen, inwieweit die Konstruktionsgrammatik ein passendes Instrumentarium besitzt, diese Varianten zum einen getrennt beschreiben zu können, sie aber auch auf dieselbe Grundkonstruktion zurückzuführen.
2 Syntaktische Einordnung des pränominalen so im Vergleich zu seinen Varianten Zunächst sei erwähnt, dass sich Vorkommen des pränominalen so wie in (1)–(7) in großen konzeptionell mündlichen Korpora des Deutschen nicht nur vereinzelt, sondern in beträchtlichen Mengen finden lassen, so dass die Struktur nicht als Randphänomen, dialektales Phänomen oder sprachliche Fehlleistung eingestuft werden kann.5 Eine Quantifizierung des pränominalen so gegenüber alternativen
5 Wer an das regelmäßige Auftreten des pränominalen so nicht glauben mag, sei auf die dem Beitrag beiliegende Datengrundlage von so-Belegen verwiesen (sämtliche Korpusressourcen sind
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Elementen folgen in Abschnitt 4. Noch erstaunlicher ist, dass sich das Phänomen nicht, wie die meisten Leser zunächst annehmen werden, auf den medial mündlichen Bereich beschränkt, sondern unter gegebenen syntaktisch-informationsstrukturellen Voraussetzungen sowohl mündlich als auch schriftlich produziert wird: Die Beispiele (1) und (2) entstammen mündlichen Dialogen, (3) ist Teil eines modernen Theaterstücks, (4)–(6) sind Belege aus Internetforendiskussionen. Die Beispiele in (1)–(6) zeigen verschiedene Verwendungen des pränominalen so, unter anderem in semantischer Hinsicht. Die Bedeutung von so ist nicht in jedem Beleg dieselbe: Während man (4) (Höre so Sachen eher weniger...) mit einem Satz wie Sachen, über die wir gerade gesprochen haben, höre ich eher weniger paraphrasieren müsste, gilt für (4) (Ich hab da auf den Fotos so schwarze Würstchen gesehen) eher eine Paraphrase wie Ich hab da auf den Fotos etwas gesehen, das schwarze Würstchen sein könnten. Auch in distributioneller Hinsicht unterscheiden sich die Beispiele – so steht in leicht verschiedenen syntaktischen Umgebungen, allerdings immer pränominal und NP-intern. (1)–(4) sind prototypische Kontexte des pränominalen so; sie zeigen so vor einem pluralischen Nomen, ohne weitere Artikelwörter oder Modifikatoren. Dass dies jedoch nicht der einzige Rahmen ist, in welchem das pränominale so auftritt, verdeutlichen die Belege (5) und (6). Die Verwendung von so in (5) ist strukturell ambig – der Modifikator kann sich entweder als Intensivierer (auch: Gradpartikel) auf das Adjektiv beziehen, die wahrscheinlichere Lesart ist jedoch, dass sich so auf die gesamte Nominalphrase inklusive Adjunkt bezieht und dann keine intensivierende, sondern eine vagheitsmarkierende Semantik besitzt (wie in der oben gegebenen Paraphrase verdeutlicht). In (6) steht so vor einem Nomen im Singular.6 Im Allgemeinen herrscht in der Syntax der Anspruch, jedem Wort eine eindeutige Kategorie zuzuweisen. Folgt man einer syntaktischen Herangehensweise, so ergibt sich die Kategorie eines Wortes nicht aus seiner Semantik oder aus Formmerkmalen, sondern aus seiner syntaktischen Position gemäß dem (syntaktischen) Kontext. Diesem Ansatz nach muss eine Wortform wie mancher je nach Verwendungskontext unterschiedlichen Klassen zugeordnet werden: (7) Wird dieser Index noch zusätzlich auf die Situation von Frauen bezogen, stürzen manche Länder regelrecht ab (...) (deWaC-Korpus: https://bit.ly/3emjcIq ) öffentlich oder zu Forschungszwecken zugänglich und in den Literaturangaben referenziert). Auch ist ratsam, bei privaten Gesprächen beliebige Personen auf so+N-Konstruktionen hin zu beobachten und zu staunen, wie häufig diese Strukturen sind. 6 Es handelt sich um einen Sammelbegriff (im genannten Beispiel Zeug), der nur singularisch verwendet wird. Die Systematik des pränominalen so bei pluralischen und singularischen Nomen wird weiter unten im selben Abschnitt behandelt.
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mancher in (7) befindet sich an der Position des Determinierers (kann durch andere Wörter derselben Klasse wie dieser, ein, jeder ausgetauscht werden) und ist deshalb als Artikel bzw. Determinierer zu klassifizieren. (8) Er nannte zum Beispiel ein Werk „Geheimwissenschaft im Umriss“ und freute sich, dass mancher das Buch nicht aufgeschlagen hat, weil er sich an dem Titel störte und daran hängen blieb. (deWaC: https://bit.ly/3CtZmDn ) mancher in (8) vertritt hier sämtliche Elemente der Nominalphrase (kann bspw. durch Eigennamen oder Pronomen wie er oder einer ausgetauscht werden) und wird deshalb in standardgrammatischen Klassifikationen als Pronomen klassifiziert. Die Kernelemente der Nominaldomäne sind Nomina7, Pronomina, Determinierer und Adjektive. Hinsichtlich des Status von Determinierern und Nomina innerhalb von Nominal- bzw. Determiniererphrasen im Deutschen besteht keine klare Einigung, vor allem weil manche Linguistinnen und Linguisten, zumeist aus der Perspektive der generativen Syntax heraus, den Determinierer als Kopf der Phrase interpretieren und somit die Phrase selbst als Determiniererphrase auszeichnen (vgl. z. B. Abney 1987, insbesondere 169–188, sprachübergreifend sowie zum Deutschen Sternefeld 2008: 127–156 oder Haider 1988 und 1992). Andere Grammatikerinnen und Grammatiker sehen das Nomen als den Kopf der Phrase an und zeichnen dementsprechend die Gesamteinheit als Nominalphrase aus. Vgl. z. B. Müller (2010: 45–51) oder Engel (2009: 83–89) (im letzten Beitrag wird die Diskussion kurz angerissen). Vgl. auch Müller (2022) für eine zusammenfassende Diskussion dieser Auffassungen vor dem Hintergrund des Minimalismus und der Head-Driven Phrase Structure Grammar. In diesem Beitrag folge ich der in Müller (2022) präferierten Analyse im Kontext der x-Bar-Syntax, nach der das Nomen der Kopf der Gesamtstruktur ist und der Determinierer (je nach lexikalischer oder kontextspezifischer Bedeutung des Nomens) vom Nomen als Komplement gefordert wird.8 Der letzte Aspekt ist wesentlich für die Lizensierung des pränominalen so ohne weitere
7 Dieser Begriff bezeichnet manchmal die Oberklasse nominaler Wortarten, unter die Substantive und andere nominale Wortarten wie Pronomina fallen (dem entspricht z. B. die Wortartenkategorisierung in Schäfer 2018: 182–185). Im vorliegenden Beitrag wird er synonym zu „Substantiv“ verwendet und grenzt sich somit von den Wortarten Artikel, Adjektiv und Pronomen ab. 8 Die in diesem Beitrag herausgearbeiteten Zusammenhänge am linken Rand der Nominalphrase widersprechen nicht grundsätzlich der DP-Analyse. Die Tendenz bestimmter Nomina hingegen, (im Singular) Determinierer zu erfordern bzw. nicht zu benötigen, lässt sich allerdings in der NP-Analyse (in der das Nomen ja der Kopf ist) besser begründen. Weitere Vorteile dieser Analyse folgen im Text.
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
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Artikelbestandteile (so Typen), wie im Laufe der Argumentation evident wird. Die in Abbildung 1 gezeigte Struktur ist aus Müller (2022: 95) übernommen.
Abbildung 1: Schematische Darstellung von Nominalphrasen nach der NP-Analyse gemäß Müller (2022: 95).
Die Behandlung des Determinierers als phrasales Element birgt die Möglichkeit, komplexe D-Strukturen wie so ein Bild oder all diese Dinge syntaktisch zu analysieren und sie nicht als Mehrwortlexeme beschreiben zu müssen. Hierdurch kann ihr polyfunktionaler Charakter in der Syntax berücksichtigt werden und muss nicht zwingendermaßen der Morphologie zugeschrieben werden. Müller (2002: 83) belegt die Existenz komplexer Determinierer im Deutschen durch das Beispiel unter des Körpersportlers Haut. Kommen wir zur Frage nach dem Wortartstatus des pränominalen so: Die Daten in (1)–(6) weisen darauf hin, dass es sich bei dem pränominalen so um einen Determinierer handelt, denn so kann in allen Fällen mit alternativen Artikelwörtern ersetzt werden; vgl. eine Erweiterung von (2) in Beispiel (9): (9) also da gibt s auch so/diese/solche/etliche/... lehrgänge äh bei uns (...) (FOLK, entspricht Beleg (2); so durch Artikelwörter ersetzt) Somit drängt sich die Annahme auf, das pränominale so wäre kategorial zu den Determinierern zu zählen. Bei genauerer Betrachtung reiht es sich aber in die Klasse der unflektierbaren manch, solch, all, welch [Kram]) ein. Diese besitzen allerdings nicht vollen Determiniererstatus, sondern werden mit gutem Grund als Prädeterminative (vgl. Zifonun et al. 1997: 33), also Elemente, die dem Determinierer vorangehen, eingeordnet. Diese Elemente sind also nicht gleichzusetzen mit anderen unflektierbaren Elementen wie derlei, etwas [Schreckliches] usw., die in der Determiniererposition auftreten. Erstere (manch, solch usw., hierzu gehört auch das pränominale so), sind nämlich kombinierbar mit einem hauptsächlichen Determinierer (solch ein, mach ein, all die, und eben auch so ein bzw. so’n), wohingegen die Vertreter der zweitgenannten Klasse die D-Kopfposition ausfüllen müssen (derlei ✶ein/der/…, etwas ✶ein/das/… [Schreckliches]). Nun stellt sich aber die Frage, warum so (und ggf. andere Prädeterminative) in manchen Kontexten alleine vor dem Nomen auftritt.
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Schauen wir deshalb auf weitere Belege (Tabellen 1 und 2). Da auffällt, dass die meisten Belege Pluralnomen betreffen und Singularnomen zunächst schwerlich auszumachen sind, werden die Belege nach Numerus getrennt. Die Tabellen 1 (Plural – der häufigere Fall) und 2 (Singular – der seltenere Fall) zeigen die jeweils zehn häufigsten Vorkommen von Nomen, die so unmittelbar folgen.9 Tabelle 1: Die zehn häufigsten Vorkommen des pränominalen so bei Nomina im Plural, basierend auf einer Datengrundlage, die aus den Korpora deWaC und DECOW extrahiert wurde. Freq.
nominaler Kopf
exemplarischer Beleg
660
Sachen
(…) da hast du mich kalt erwischt, das sind so Sachen über die ich mir gar keine Gedanken mache (…) (deWaC: https://bit.ly/3Ctyl2G )
194
Leute(n)
(…) aber zum Glück kann man so Leute ja auch einfach ignorieren... (deWaC: https://bit.ly/3Ezm67i )
147
Kleinigkeiten
Du siehst Deinen Lehrer den halben Tag und dann passieren ständig so Kleinigkeiten, das schaukelt sich schnell hoch. (https://bit.ly/3MDqV1L )
113
Typen
Normalerweise kommen bei denen so Typen an, die Englisch studieren, Literatur studieren oder sowas (…) (deWaC: https://bit.ly/3RTNYpX )
91
Situationen
Es gibt auch so Situationen, dass ich nur am Wochenende zu Hause bin (…) (deWaC: https://bit.ly/3VcHPYG )
80
Dinge(n)
Das ist die einfache Anwendung, die man systematisch tun kann, wenn es um so Dinge geht wie das Zahlen von Rechnungen und das Einladen zu einer Veranstaltung (…) (deWaC: https://bit.ly/3rTpsdL )
75
Aussagen
Da gibt es dann so Aussagen wie : „mach den Damen doch mal Feuer unterm hintern (...)“ (deWaC: https://bit.ly/3CRqygK )
69
Aktionen
(…) wenn dem so wäre, wären ja so Aktionen wie das FSJ total überflüssig (deWaC: https://bit.ly/3elHceX )
57
Spielchen
Jetzt werden wieder alle sagen ein Menschenleben ist für so Spielchen zu kurz (…) (deWaC: https://bit.ly/3TfwDZs )
40
Ideen
Wie kommt man nur auf so Ideen? (deWaC: https://bit.ly/3Vo1WU6 )
9 Um systematisch so vor Nomina im Singular finden und quantifizieren zu können, wurden aus den Internetkorpora deWaC (Baroni et al. 2009) und DECOW (16A und B; Schäfer 2015 und Schäfer & Bildhauer 2012) zunächst positive Belege von so+Nomen in ihrem Satzkontext extrahiert, anschließend wurden diese mittels des RFTaggers (www.cis.uni-muenchen.de/~schmid/tools/RFTagger/) flexionsmorphologisch analysiert, die Singular-Instanzen gefiltert und die entsprechenden Singularnomen nach ihrem Vorkommen mit pränominalen so quantifiziert.
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
191
Tabelle 2: Die zehn häufigsten Vorkommen des pränominalen so bei Nomina im Singular, basierend auf einer Datengrundlage, die aus den Korpora deWaC und DECOW extrahiert wurde. Frequenzen sind absolute Werte. Freq.
nominaler Kopf
Beleg-Nr.
exemplarischer Beleg
2272
Zeug(s)
(19.1)
(…) wir haben auch haufenweise so Zeug zugeschickt bekommen. (deWaC: https://bit.ly/3TitCYF )
54
Kram
(19.2)
Meiner Meinung [nach] verliert man mit so Kram seine Glaubwürdigkeit und Autorität. (https://bit.ly/3yAi0YV )
26
Musik
(19.3)
(…) hatte aber vorher auch ganz viel Zappa gehört und so Hippie-Musik. (deWaC: https://bit.ly/3rNCMR5 )
20
Wetter
(19.4)
(…) und da kann man ne schöne Runde reiten. Allerdings bei so Wetter wie heute nicht so wirklich… (deWaC: https://bit.ly/3VcLiGG )
17
Mist
(19.5)
Assauer redet genau so Mist (…), wie der Strunz oder der andere Hoeneß oder Meier. (https://bit.ly/3CtcZlV )
9
Blödsinn
(19.6)
Ich werde im Alter Stützstrümpfe tragen müssen. So furchtbar ist dieser Sommer, dass ich mich im Alter von 27 Jahren mit dem Gedanken an so Blödsinn auseinandersetzen muss. (deWaC: https://bit.ly/3MpAzVs )
9
Schwachsinn
(19.7)
(…) wer auf so schwachsinn wie Jamba reinfällt is selber schuld (…) (deWaC: https://bit.ly/3yuiTCg )
8
Quatsch
(19.8)
als wenn außerirdische nix anderes zu tun hätten als nachts getreide umzumähen... warum eigentlich immer nachts? (…) Das meiste wurde eh von Menschenhand erschaffen. Ebenso wie die zerstückelten Rinder und lauter so Quatsch. (deWaC: https://bit.ly/3EzhBtr )
6
Krempel
(19.9)
Dann gibts Wirtschaftsinformatik und ne Palette von Kombinationen mit IT oder Programmierung, es gibt teilweise auch Bioinformatik oder so Krempel (…) (deWaC: https://bit.ly/3yujpjG )
6
Müll
(19.10)
hats da noch mehr so müll den man gut verwerten kann?!? (DECOW: https://bit.ly/3Cqwfk7 )
Versucht man, für die Nomina in Tabellen 1 und 2 eine Kategorie zu finden, könnte man allenfalls sagen, dass die Nomina relativ allgemeine Begriffe betreffen, die allesamt als Sammelbegriffe verwendet werden können. Hierunter zählen sowohl Begriffe, die konkrete Entitäten (Leute) als auch abstrakte (Ideen) umfassen können, wobei die meisten Begriffe für beides gelten können (Kleinigkeiten kann konkrete Dinge wie Süßigkeiten umfassen, aber auch Abstraktes wie Details, die zu bedenken wären). Die Tabellen 1 und 2 könnten also darauf hindeuten, dass so spezifisch für die Attribuierung (oder Determinierung) von sehr allgemeinen nominalen Katego-
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rien ist. Dies kann jedoch einem Frequenzeffekt geschuldet sein: Die Tabellen 1 und 2 listen die häufig (nach so) verwendeten Nomina auf, wodurch allgemeine Begriffe bevorzugt werden können. Es existieren aber auch Verwendungen des pränominalen so mit sehr spezifischen Nomina: (10) 2 der Orlock Kids haben so Backenbärte bekommen (DECOW: https://bit.ly/3RX3mBM ) Der Grund, warum die in Tabellen 1 und 2 gezeigten Treffer allgemeinere Begriffe betreffen, liegt offensichtlich in der Häufigkeit der entsprechenden Lemmata begründet (Backenbart ist allgemein ein selteneres Wort als alle Wörter in den Tabellenübersichten). Bei Tabelle 2 fällt semantisch auf, dass es sich bei allen Nomina um nicht-zählbare Nomina handelt, deren meiste Kandidaten man zu den Kollektiva (auch: Sammelnamen) zählt. In der gesamten Belegsammlung finden sich jedoch auch Massennomina (auch: Stoffsubstantive, mass nouns; wir haben sie mit so Hartwachs geölt (https://bit.ly/3cKkBbe )) und andere semantische Klassen, welche die gemeinsame Eigenschaft haben, dass die Lexeme im Singular ohne Determinierer auftreten können, im Gegensatz zu den zählbaren Nomina (auch: count nouns).10 Für einige der Belege in Tabelle 2 gilt, dass so getilgt werden kann, ohne dass der Satz ungrammatisch wird (wer auf [so] Schwachsinn wie Jamba reinfällt ...), bei anderen wird der Satz durch die Tilgung ungrammatisch (✶Meiner Meinung nach verliert man mit so Kram seine Glaubwürdigkeit). Der Grund für die Weglassbarkeit liegt nicht am Nomen, sondern an dem Verweiskontext: In (19.7) bleibt der kataphorische Verweis von so zu der Vergleichskonstituente zum Kopfnomen (Schwachsinn) erhalten, auch wenn so wegfällt. In (19.2) geht der anaphorische Bezug (zum Präkontext) verloren, wenn so wegfällt, weil die NP Kram sich liest wie die diskursneue NP Kram in (11) (s. u.). Anders ausgedrückt: Für alle Nomina unter den Belegen gilt, dass sie in bestimmten Kontexten ohne Determinierer stehen können. Auch für das Wort Kram existieren Kontexte, in denen es undeterminiert steht: (11) (...) warum Geld ausgeben für Kram, der nicht satt macht? (deWaC: https://bit.ly/3Vokqn9 ) → warum Geld ausgeben für so Kram, der nicht satt macht? (derselbe Korpusbeleg, so hinzugefügt)
10 Für eine Übersicht über entsprechende semantische Nomenklassen vgl. z. B. Eisenberg (2004: 158–161) oder Helbig & Buscha (2001: 205–206).
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
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Die Lizensierung des pränominalen so erfolgt also über das Merkmal, dass das Nomen in dem gegebenen Kontext nicht determiniert werden muss. Umgekehrt gilt: Nomina, die im Singular einen Determinierer erfordern (✶Ø Baum), können im Singular auch nicht durch so begleitet werden (✶so Baum). Für pluralische Nomina hingegen finden sich Belege über alle Bedeutungsklassen hinweg (vgl. hierzu ggf. noch einmal Tabelle 1 zu den frequentesten Pluralnomen, die von so begleitet werden – unter den Belegen finden sich auch konkrete „count nouns“, die bei den Singularbelegen nicht auftreten). Da Nomina im Plural generell nicht (overt) determiniert werden müssen, ist die Verwendung des pränominalen so in den Pluralkontexten nicht weiter verwunderlich und belegt eine klare Lizensierungsregel für die Verwendung von so ohne weiteren Artikelbestandteil: Sofern ein Nomen keinen Artikel benötigt, also undeterminiert stehen kann, kann es von so pränominal begleitet werden. In allen anderen Fällen (sofern ein Artikel obligatorisch ist), ist dies nicht der Fall. In diesen Fällen muss so mit einem indefiniten Artikel oder klitisierten Artikelflexiv auftreten (ein oder ’n, aber auch flektierte Formen von manch und einig sind möglich, ebenso wie etwas – vgl. so ein Baum, so’n Baum, so mancher Baum, so einige Bäume, so etwas Großartiges). Somit können zwei Sachverhalte geschlussfolgert werden: 1. Das pränominale so ist kein eigenständiges Artikelwort, sondern ein Prädeterminativ bzw. Determinativmodifikator, das/der an einen indefiniten Artikelkopf adjungiert. Dies gilt auch für die unflektierten Bestandteile solch (ein) und manch (ein) sowie ähnlich für all, das mit definiten Köpfen (das, diese usw.) zusammengeht. 2. Das alleinige Vorkommen von so bei Nomen, die keinen Artikel benötigen, passt genau zu diesem Status, denn nicht determinierte Singulare oder Plurale sind per se indefinit (wenn auch nicht overt markiert). Syntaktische Modelle, die einen Nulldeterminierer bzw. einen einheitlichen Aufbau der nominalen Struktur mit stets einer D°- und einer N°-Position annehmen, können diese Zusammenhänge einheitlich darstellen, weil das pränominale so ohne weiteren Determiniererbestandteil anstatt an einen Kopf wie ein an einen leeren Kopf adjungieren kann.11 Eine wichtige theoretische Schlussfolgerung aus der Beobachtung, dass Determiniererköpfe modifiziert werden können und die kompositionelle Einheit aus Kopf 11 Hier soll ausdrücklich eingeräumt werden, dass Darstellungen wie Abbildung 3, welche Elemente aufzeigen, die im dargestellten Fall nicht vorhanden sind, zur Beschreibung der verwendeten sprachlichen Struktur hölzern und ggf. nicht mehr zeitgemäß sind. Hier wird das Modell zum Aufzeigen der generell grammatisch verfügbaren Strukturpositionen verwendet, die – dies und nur dies zeigt das Auslassungssymbol – nicht immer besetzt sein müssen. Eine oberflächenbasiertere, semantischere Beschreibung folgt in Abschnitt 5.
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und Nichtkopf dann das Nomen determiniert, ist, dass die D-Position in der nominalen Struktur phrasal sein muss. Strukturen wie so ein (Mensch), so manche (Menschen) oder auch all(e) diese (Menschen) sind ansonsten syntaktisch nicht angemessen beschreibbar. Die Abbildungen 2 und 3 illustrieren den ausgeführten Analysevorschlag für das pränominale so ein + N und so Ø + N, beschrieben nach dem in Müller (2022) dargestellten Phrasenbauschema für Determinierer und Nomina (vgl. auch Abbildung 1).
Abbildung 2: Schematische Darstellung der Phrase so ein Typ gemäß Müller (2022).
Abbildung 3: Schematische Darstellung der
Phrase so Typen gemäß Müller (2022).
Terminologisch und phrasenstrukturell unterbreiten Zifonun et al. (1997: 1938) einen Vorschlag zur Beschreibung von so ein, welcher zu diesen Darstellungen passt: Der Erstbestandteil so wird als modifizierender Zusatz zum unbestimmten Artikel ein analysiert und als Determinativmodifikator zum Hauptbestandteil bezeichnet. In den Abbildungen 2 und 3 ist der Terminus Determinativmodifikator durch „D-Mod“ und der Hauptbestandteil durch „D°“ gekennzeichnet. Im Folgenden wird diese rein phrasenstrukturelle Beschreibung um entsprechende semantische und diskursgrammatische Analysen erweitert.
3 Bedeutungs- und diskursgrammatischer Beitrag von so in so ein + N, so‘n + N und so Ø + N Der semantische Beitrag des pränominalen so wird im Wesentlichen mit den Merkmalen beschrieben, welche Determinierern zukommen. Es handelt sich u. a. um Definitheit, Spezifizität, Referenzialität, Quantifikation und einige weitere informationsstrukturell relevante Größen.12 Um den Bedeutungsbeitrag von so zu erfassen, 12 Die Definitionen der verschiedenen Begriffe fallen unterschiedlich aus und sind mitunter nicht klar abgegrenzt. Definitheit kann unter verschiedenen grammatischen Perspektiven – vor
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
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werden im Folgenden nominale Strukturen hinsichtlich der Merkmale 1. referenzielle Spezifizität, 2. kategoriale Spezifizität, 3. Deiktizität und 4. Phorizität analysiert. Unter referenzieller Spezifizität wird hier die Eigenschaft der gesamten NP verstanden, auf eine bestimmte Menge an Entitäten zu referieren (bspw. Diese zwei Typen dort kommen mir bekannt vor)13. Referenzielle Spezifizität entsteht dadurch, dass ein Referent im sprachlichen oder außersprachlichen Kontext gegeben ist. Unter kategorialer Spezifizität wird in Anlehnung an Hole & Klumpp (2000) die Eigenschaft der NP verstanden, innerhalb einer allgemeinen Bedeutungsklasse – nämlich genau die durch das Nomen der NP ausgedrückte – auf eine spezifische Klasse zu referieren (bspw. die restriktive Lesart von rote Bälle, gegenüber Bälle). Unter Deixis wird die Eigenschaft von pronominalen Ausdrücken (die syntaktisch häufig auch als Determinierer verwendet werden können) verstanden, „zeigend“ auf die durch ein Nomen referenzierten Denotate zu verweisen (bspw. Diese zwei Typen kommen mir bekannt vor, gegenüber Zwei Typen kamen mir bekannt vor; zur detaillierten Begriffsbestimmung vgl. Kameyama 2007: 582–588). Phorik (in den konkreten Ausprägungsmöglichkeiten der Ana- und Kataphorik) wird als eine Verweiseigenschaft interpretiert, die von der Eigenschaft Deixis zu unterscheiden ist (für eine Diskussion zur Unterscheidung der beiden Begriffe vgl. Blühdorn 1995: 132–136), und zwar bezeichnet Phorik die Eigenschaft eines Ausdrucks, innerhalb des Textes die Beziehung mit einem vorangegangenen oder nachfolgenden koreferenten Ausdruck herzustellen. Ein Ausdruck kann somit deiktisch, aber nicht phorisch sein (vgl. z. B. den Satz Dieser Tanz, der in allen sozialen Medien vorgeführt wird, … – der Artikel dieser ist deiktisch, aber nicht phorisch (sofern der Diskursreferent Tanz neu eingeführt wird); das Relativpronomen ist kataphorisch, aber nicht deiktisch); natürlich können Ausdrücke auch deiktisch und phorisch oder weder deiktisch noch phorisch sein. Die nachfolgend dargestellten Korpusbelege resultieren aus 500 zufällig gezogenen, als positive Treffer verifizierten Korpusbelegen mit pränominalem so. Hierbei werden Vorkommen von so direkt vor dem Bezugsnomen (so Typen) als allem hinsichtlich semantischer, informationsstruktureller und syntaktischer Aspekte – definiert werden. Ein häufiges Defizit bei linguistischen Beiträgen zur Definitheit oder Indefinitheit ist deshalb, „dass oft nicht oder nur ungenügend zwischen lexikalischer, syntaktischer und semantischer Definitheit unterschieden wird“ (Sturm 2011: 133). Verschiedene Aspekte von Definitheit werden sprachübergreifend in Lyons (1999) besprochen (zur Definition von Definitheit vgl. v. a. S. 253–281). Von Heusingers Arbeiten (vgl. z. B. von Heusinger 1996, 1997 und 2012) illustrieren, dass verschiedene Merkmale, die unter Definitheit zusammengefasst oder mit Definitheit assoziiert werden, voneinander unabhängig ausgeprägt sein können. Aus diesen Gründen verzichtet die Analyse in diesem Beitrag auf den Terminus der Definitheit, sondern versucht, die mit ihm verbundenen Merkmale zu isolieren und getrennt zu analysieren. 13 Man kann hier auch von direkter Referenzialität sprechen, vgl. v. Heusinger (2012: 425).
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auch Vorkommen in Verbindung mit dem unbestimmten Artikel (so ein Typ) und mit klitisiertem‘n (so‘n Typ oder so‘ne Typen) berücksichtigt. Durch diese Analyse wird herausgearbeitet, ob diese verschiedenen so-Vorkommen bestimmte semantische Typen präferieren oder ob die Beziehung zwischen den Formvarianten und verschiedenen semantischen Funktionen frei bzw. arbiträr ist. Schauen wir zunächst auf Korpusbelege, in denen so gemeinsam mit dem unbestimmten Artikel ein auftritt. Bei der Analyse der Belege soll vor allem bestimmt werden, welchen Bedeutungsbeitrag so zum Gesamtgefüge beisteuert. Dies wird u. a. durch den Vergleich von Verwendungen von so ein gegenüber Verwendungen mit weggelassenem so erzielt. (12) So ein Bild hast du vielleicht schon mal in einem Rezeptbuch gesehen (...) (deWaC: https://bit.ly/3EzdpKb ) 14 (13) So einen Roboter wollte ich bauen, (...) (deWaC: https://bit.ly/3yxKqTi )15 Die satzinitialen Nominalphrasen in (12) und (13) sind referenziell unspezifisch, weil durch die Ausdrücke keine bestimmte nominale Entität referiert wird (jedes Bild mit den beschriebenen Merkmalen ist ein gültiger Vertreter; der Roboter, der gebaut werden soll, ist noch nicht existent). Die Ausdrücke sind aber kategorial spezifisch, weil es sich jeweils um eine bestimmte Subklasse der durch das Nomen ausgedrückten Klasse handelt (die durch das jeweilige Nomen ausgedrückte Klasse wird weiter eingeschränkt). Bei So ein Bild in (12) und So einen Roboter in (13) handelt es sich außerdem um anaphorische Ausdrücke, bei denen so auf einen im Prätext erwähnten Referenten verweist. Die komplexe Bedeutung, paraphrasierbar mit ein Bild wie dieses (hast du vielleicht schon mal in einem Rezeptbuch gesehen) bzw. einen Roboter wie diesen (wollte ich bauen), besitzen eine durch so ausgelöste deiktische Komponente.16 Durch den jeweiligen Gesamtausdruck wird eine Unterklasse von Bild bzw. Roboter spezifiziert, aber nicht NP-intern wie durch
14 Kontext des Forenbeitrags: Das ist das Foto eines perfekten Eisbechers. Das macht so richtig Appetit, oder? So ein Bild hast du vielleicht schon mal in einem Rezeptbuch gesehen. 15 Kontext des Forenbeitrags: Als ich etwa eine Woche später in der Computerzeitschrift c‘t einen Artikel über einen Wettbewerb las, bei dem es darum gehen sollte, einen kleinen, autonomen Roboter zu bauen, der möglichst schnell an einer Linie entlangfährt, war die Sache beschlossen: So einen Roboter wollte ich bauen, (…) 16 Dass die Verknüpfung mit der Bezugskomponente nicht nur (ana)phorisch ist, lässt sich dadurch zeigen, dass Paraphrasen mit (unbetontem) Personalpronomen nicht möglich sind: Ein Bild wie ✶es hast du vielleicht schonmal in einem Rezeptbuch gesehen.
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(restriktiv interpretierte) Adjektive, sondern über den anaphorischen, deiktischen Verweis zum vorerwähnten Referenten. Für (12) und (13) gelten also folgende Merkmalsauprägungen: Tabelle 3: Merkmalsausprägungen in den so-NPn in (12) und (13). referenziell spezifisch kategorial spezifisch deiktisch phorisch
– + + +
Die Merkmale „kategorial spezifisch“ und „deiktisch“ werden unmittelbar durch so ausgedrückt, was man an den folgenden Daten sehen kann: Lässt man das satzinitiale so in (12) weg, ergibt sich der Satz in (14). (14) Ein Bild hast du vielleicht schon mal in einem Rezeptbuch gesehen. In (14) wird wie in (12) mittels des Determinierers ein an der Nominalphrase referenzielle Unspezifizität ausgedrückt (es wird nicht spezifiziert, um welchen Referenten es sich handelt). In (14) kann die Art des Bildes aber nicht spezifiziert werden bzw. kann kein Bezug zur Vergleichsgröße (das Foto eines Eisbechers) hergestellt werden – im Gegensatz zu (12), wo der Bezug eindeutig ist. (Für die satzinitiale so-NP in (13) ergibt sich ein analoges Bild, wenn man so weglässt.) Es ergibt sich also für Fälle wie (14), in denen das pränominale so weggelassen wird, folgende Merkmalsstruktur (vgl. Tabelle 4): Tabelle 4: Merkmalsausprägungen in der satzinitialen NP in (14) ohne so – im Vergleich zu Fällen wie (12) und (13) mit so. referenziell spezifisch kategorial spezifisch deiktisch phorisch
– – – –
So-NPn mit der Merkmalsausprägung wie in Tabelle 3 – Belege (12) und (13) – müssen nicht immer anaphorisch, sondern können auch kataphorisch sein wie in (15): (15) So ein Sender wie VIVA wird ja nicht betrieben, um das Gleichgewicht in der Musiklandschaft zu bewahren (...) (deWaC: https://bit.ly/3TagYuA )
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Es gibt darüber hinaus aufschlussreiche Fälle von so+ein+N, in denen die Spezifizierung durch so schwerer zu erfassen ist; vgl. (16). (16) So ein Maulwurf hat das ganze Jahr über genug zu tun.17 (deWaC: https://bit.ly/3rOvEnw ) Es scheint zunächst, als hätte die satzinitiale NP in (16) sowohl mit als auch ohne so eine generische Lesart: Die Äußerung qualifiziert Maulwürfe im Allgemeinen und ist gar nicht referenziell. Die Äußerung bezieht sich nicht auf eine spezifische Art von Maulwurf, ob mit oder ohne so. Somit wäre der Bedeutungsbeitrag von so gleich Null und die Konstruktionen mit so und ohne so als freie Varianten aufzufassen. Dagegen spricht aber die Interaktion von so mit dem Kontext: Das so in (16) bindet die Äußerung stark an das zuvor Gesagte. Ohne linken Kontext fehlt dem Verweiswort so der suggerierte Kontext, wohingegen dieselbe Äußerung ohne so keinen Kontext erfordert. Im gegebenen Fall kann man so ein Maulwurf mit ein Maulwurf wie denjenigen, den ihn hier beschreibe paraphrasieren. Da die Vorkommen von der Maulwurf bzw. er in den vorangegangenen Äußerungen alle generisch zu interpretieren sind, ergibt sich auch für so ein Maulwurf in (16) eine generische Lesart. Berücksichtigt man dies, kann man auch für die satzinitiale NP in Beleg (16) die Merkmale „referenziell unspezifisch“, „kategorial spezifisch“, „deiktisch“ und „phorisch“ annehmen (gemäß Tabelle 3). Diese Merkmalsausprägung, wenn es auch nicht die einzig mögliche ist, kann als die prototypische Funktion von so ein angesehen werden. Wenden wir uns nun dem Bedeutungsbeitrag von so zu, wenn es nicht gemeinsam mit dem unbestimmten Artikel ein auftritt. Vgl. hierzu zunächst die Belege (17) und (18). (17) So Dinge müssen natürlich schriftlich festgehalten werden.18 (deWaC: https://bit.ly/3EcSg8H )
17 Kontext des Forenbeitrags: Der Maulwurf ist ein großartiger Tunnelbauer . Alle Wege in seinem Revier zusammen sind gut und gern einen halben Kilometer lang . (...) Der Maulwurf lockert die Erde mit seinen kräftigen Vorderfüßen , schiebt sie weg und wirft sie mit scharrenden Füßen hinter sich . Ist die Erde locker genug , bohrt er sich drehend und wühlend in das Erdreich hinein . Die lose Erde in den Gängen drückt er mit seinem ganzen Körper rundum fest an die Wände . So ein Maulwurf hat das ganze Jahr über genug zu tun . Er bringt alle Wege in Ordnung (...) 18 Kontext des Forenbeitrags: Der Anwalt haftet auch – vorausgesetzt, Du kannst nachweisen, dass er z. B. Deine AGB abgesegnet hat, die dann doch nicht geltendem Recht entsprachen und zu einer Abmahnung führten ( ohne, dass zwischendurch das entsprechende Gesetz geändert wurde). So Dinge müssen natürlich schriftlich festgehalten werden.
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(18) Der Kläger hatte laut dem Gericht seine Personalmitarbeiterin nach einem Streit mit den Worten „So Frauen wie dich hatte ich schon hunderte“ beschimpft. (deWaC: https://bit.ly/3ytylyn ) (17) und (18) als Beispiele für Vorkommen des pränominalen so ohne weiteres determinierendes Element zeigen dieselbe Systematik wie die Vorkommen von so+ein+N: Das pränominale Element so markiert das folgende Nomen als kategorial spezifisch und verweist in (17) anaphorisch auf im Text vorerwähnte Zusammenhänge, in (18) kataphorisch auf den entsprechenden spezifizierenden Ausdruck (wie dich). Während in (17) durch ein Weglassen von so die Spezifizierung der durch das Nomen ausgedrückten Klasse verloren geht und die Äußerung kontextuell unangemessen wird (# Dinge müssen natürlich schriftlich festgehalten werden), bleibt in (18) die Spezifizierung trotz Weglassen von so erhalten (Frauen wie dich hatte ich schon hunderte), weil der spezifizierende Ausdruck NP-intern ist bzw. unmittelbar folgt. Durch so wird hier lediglich links-peripher bereits auf die Spezifizierung verwiesen. Auch die Fälle von so+N in (17) und (18) lassen sich also mit den in Tabelle 3 angegebenen Merkmalen (referenziell unspezifisch, kategorial spezifisch, deiktisch und phorisch) beschreiben. Ein subtiler Unterschied zwischen so+Ø+N und Ø+N ergibt sich in Fällen wie (19) und (20): (19) So Hitzeläufe liegen mir eben.19 (deWaC: https://bit.ly/3RVltbc ) (20) So Nasenduschen stelle ich mir irgendwie eklig vor... (deWaC: https://bit.ly/3fZaZKR ) Sowohl in (19) als auch in (20) kann so weggelassen werden, ohne dass die Äußerung im Kontext unangemessen wird. Es handelt sich wie in (16) um generische Verwendungen der jeweiligen Nomina, indem die durch das Nomen ausgedrückte Klasse qualifiziert wird. Durch das pränominale so wird jedoch die Anbindung an den vorangegangenen Text explizit gemacht; man könnte so ersetzen durch Ausdrücke wie Hitzeläufe, wie ich sie hier geschildert habe bzw. Nasenduschen, über die hier gesprochen wird.
19 Kontext des Forenbeitrags: Am 15.06.2002 fand der LGT-Alpin-Marathon in mittlerweile dritter Auflage statt . (...) Schon am Abend zuvor (...) war klar , dass es ein heisser Tag werden würde . Der Wetterbericht kündigte bis 32°C an . (...) Schon 10 Minuten nach dem Zieleinlauf (...) kann ich auf der vorläufigen Ergebnisliste sehen , dass ich trotz einer um 5 Minuten langsameren Zeit als letztes Jahr überraschenderweise 20. geworden bin . So Hitzeläufe liegen mir eben.
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Auch für (19) und (20) gelten somit die Merkmale „referenziell unspezifisch“, „kategorial spezifisch“ „deiktisch“ und „phorisch“, wie sie bislang für alle so-Konstruktionen mit overt oder covert indefinit markierter Nominalphrase galten. Anhand der bisher ausgewerteten Belege lässt sich der Bedeutungsbeitrag von so im Zusammenspiel mit ein und keinem weiteren Artikelwort homogen beschreiben. so bewirkt in allen bislang gesehenen Fällen eine kategoriale Spezifizierung der NP über einen Verweis zu einer im Kontext vorhandenen Vergleichsgröße. Dies gilt für einen Großteil der extrahierten so-Belege, aber nicht für sämtliche. Vergleiche hierzu zunächst (21) und (22). (21) Ich hab vor ein paar Tagen das erste Mal Pokis (...) mit Zitrone-Pfeffergeschmack gegessen und so Keksdinger, die mit einer Masse, die nach grünem Tee schmeckt, übergossen sind. (deWaC: https://bit.ly/3CN454a ) (22) Am besten zieht man die Samen einzeln auf der Fensterbank vor (in so Joghurtbechern oder kleinen Blumentöpfen) bis sie so zehn bis 15 cm hoch sind. (deWaC: https://bit.ly/3yxk18f ) Im Gegensatz zu allen bislang illustrierten Fällen, in denen so als Spezifizierungsausdruck verwendet wird, ist so in den Belegen (21) und (22) nicht phorisch oder deiktisch, d. h., es lässt sich im Kontext kein Ausdruck finden, der den Bedeutungsgehalt von so liefert. In (21) und (22) bewirkt das pränominale so keine kategoriale Spezifizierung, sondern gewissermaßen das Gegenteil, nämlich eine Unterspezifizierung, indem es die durch das Nomen ausgedrückte Klasse als vage markiert. In (21) ist sich die Schreiberin oder der Schreiber anscheinend unsicher, ob die Klasse „Keks“ angemessen für die Beschreibung der Süßigkeit ist. In (22) möchte sich die Person nicht auf die Klasse „Joghurtbecher“ festlegen, sondern als Beispiel für eine Klasse von Gefäßen anführen, die verwendet werden können. So lässt sich in beiden Fällen mit etwas wie paraphrasieren. Diese Verwendung von so wird in Umbach & Ebert (2009) als Heckenausdruck (hedging expression) beschrieben, welcher als Partikel vor quantifizierenden Phrasen (Beispiel aus Umbach & Ebert 2009: 10: Marie kam so um drei), qualifizierenden Adjektiven (Beispiel aus Umbach & Ebert 2009: 10: Na ja, so kubistische [Bilder wurden in der Galerie ausgestellt]) und eben als pränominales Element mit dem unbestimmten Artikel oder ohne ihn auftreten kann (Beispiel aus Umbach & Ebert 2009: 10: Ich möchte so Klammern haben). Umbach & Ebert (2009) zeigen klar, dass die Hecken-Lesart strukturell jeweils nur eine von (mindestens) zwei Lesarten ist, dass also bspw. die Verwendung von so in Ich möchte so Klammern haben je nach Kontext ein Vagheitsausdruck (Beispiel aus Umbach & Ebert 2009: 12: Ich möchte so Klammern [man kann sie zurückklappen]) oder aber
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ein Spezifikationsausdruck (Beispiel aus Umbach & Ebert 2009: 12: Ich möchte so Klammern [wie die im Büro]) sein kann. Wie in allen Fällen des pränominalen so ist es auch in dieser Lesart grammatisch fakultativ, aber für die Markierung der Vagheitslesart notwendig. Durch ein Eliminieren von so in (21) und (22) geht die Unterspezifizierung verloren und die durch das Nomen ausgedrückte Klasse wird für beide Gesprächsteilnehmer verbindlich. Neben der deiktischen, kategorial spezifizierenden Lesart des pränominalen so existiert also eine nicht-deiktische, vagheitsmarkierende Lesart, wobei diese beiden Varianten strukturell ambig sind, aber kontextgemäß (wie die aufgeführten Belege zeigen) aufgelöst werden können. Die Lesart von so+Ø+N in (21) und (22) entspricht also einer gewöhnlichen indefinit markierten NP, so fügt aber der nominalen Kategorie eine gewisse Unsicherheit bzw. Vagheit hinzu. Die entsprechende Merkmalsausprägung ist in Tabelle 5 zusammengefasst, wobei die vagheitsmarkierte nominale Klasse mit einem doppelten „--“ markiert ist. Tabelle 5: Merkmalsausprägungen in den so-NPn in (21) und (22). referenziell spezifisch kategorial spezifisch deiktisch phorisch
– – – –
Eine dritte Verwendungsweise (von insgesamt vier anhand der Korpusdaten identifizierten Lesarten) entspricht Beispiel (23). (23) Hab dann auch noch so Milkaherzschoki bekommen. (deWaC: https://bit.ly/3CPzdjH ) Auch wenn kontextuell sowohl die Spezifizitätslesart als auch die Vagheitslesart konstruierbar wären, unterscheidet sich die Verwendung in (23) dadurch, dass das Nomen (Milkaherzschoki) durch so weder spezifiziert bzw. mit einem vorangegangenen Referenten verknüpft noch vagheitsmarkiert (es scheint widersprüchlich, den morphologisch stark spezifizierten Ausdruck zusätzlich als vage zu markieren) wird. Eher handelt es sich um die in Heusinger (2012: 420–424) beschriebene Variante – dort dargestellt als Einführung eines neuen, indefiniten Diskursreferenten mittels demonstrativen Artikels. Alternative, quasi synonyme Ausdrücke für diese Verwendung sind die Demonstrativartikel dieser, solcher oder so’n (vgl.: Hab dann auch noch diese/solche/so‘ne Milkaherzschoki bekommen). Dies bewirkt, dass so hier im Unter-
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schied zu den anderen bisher vorgestellten Lesarten getilgt werden kann, ohne dass sich die Lesart ändert: Der Satz Hab dann auch noch Milkaherzschoki bekommen entspricht praktisch der Verwendung mit so; evtl. wird durch die Verwendung von so signalisiert, dass der eingeführte Diskursreferent den Gesprächsteilnehmern oder in der Allgemeinheit bekannt ist, was durch die Variante mit dem Artikelwort dieser ebenso suggeriert wird. Heusinger (2012) argumentiert im Wesentlichen, dass diese Verwendung der demonstrativen Artikel, die als indefinite Verwendung klassifiziert wird, die Diskursprominenz der jeweiligen Diskursreferenten anhebt. In jedem Fall ist diese Verwendungsvariante von so+N, solch+N usw. gegenüber den anderen bereits vorgestellten Lesarten insofern eine besondere, als dass hier so, solch usw. keinen Beitrag zur Semantik der Nominalphrase leisten, sondern allenfalls entweder eine sekundäre Information (Bekanntheit bzw. Zugänglichkeit des Diskursreferenten) signalisieren oder die Salienz des Diskursreferenten erhöhen. Die Merkmalsverteilung für diese Lesart ist in Tabelle 6 angegeben. Tabelle 6: Merkmalsausprägungen für die so-NP in (23). referenziell spezifisch kategorial spezifisch deiktisch phorisch
– – +20 –
Die letzte und seltenste in den Korpusbelegen gefundene Lesart des pränominalen so in den Konstruktionen so+N, so+ein+N und so‘n+N wird in den Belegen (24) und (25) illustriert. (24) Warum war er bloß so ein Idiot, dieser Offizier? (deWaC: https://bit.ly/3Mmi1p3 ) (25) Dass ihr immer noch Bock habt auf diese Diskussion mit soooooooooooooooooooooonem Bart (deWaC: https://bit.ly/3RYxkp4 ) In den Belegen (24) und (25) zeigt sich eine intensivierende Bedeutung von so. Es ist dieselbe Funktion, die so als Intensivierungspartikel vor Adjektiven besitzt (vgl. Zifonun 1997: 56 oder Hirschmann 2015: 95–96). In dieser Verwendung kann so mit Ausdrücken wie von besonderer Ausprägung paraphrasiert werden, wobei graduierbare Eigenschaften der durch das Nomen bezeichneten Entität intensiviert 20 Interpretiert gemäß Heusinger (2012) als situationsdeiktisch mit dem Ziel, die durch das Nomen bezeichnete Klasse als bekannt bzw. diskursprominent zu markieren.
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werden (Hans ist so ein Student kann bedeuten, dass der betroffenen Person Eigenschaften, die man Studierenden häufig zuschreibt, wie, wenig Geld zu besitzen, relativ spät aufzustehen oder häufig zu feiern, in besonderem Maße zugeschrieben werden). Wie bei der Vagheitsbedeutung besitzt so hier keine (text-)deiktische Funktion oder spezifizierende Semantik, sondern markiert die Eigenschaften der Bezugskonstituente als – quasi im Gegensatz zu der Vagheitsmarkierung – in besonderem Maße ausgeprägt. Solche verstärkenden Lesarten finden sich in den vorliegenden Korpusdaten so gut wie nie in der Struktur so+N. Ein einziger Beleg wurde dem FOLK-Korpus entnommen: (26) unsere sind so rutschig das sin das sin so mistdinger das is unglaublich (FOLK Sprechereignis E_00197_SE_01: https://cutt.ly/WC4nCWe ) Was die Ausprägung der semantisch-diskurslinguistischen Merkmale angeht, so ergibt sich für diesen intensivierenden Typen eine neue Merkmalsmatrix (vgl. Tabelle 7). Tabelle 7: Merkmalsausprägungen für die so-NPn in (24), (25) und (26). referenziell spezifisch kategorial spezifisch deiktisch phorisch
– + +–21 –
Die kategoriale Spezifizität wird als positiv ausgeprägt analysiert, weil die Intensivierung der NP-Merkmale die durch das Nomen ausgedrückte Kategorie spezifiziert (so ein Idiot in (24) ist eine bestimmte Art von Idiot).
4 Variationslinguistische Analyse der Varianten 4.1 Dimensionen der Variation Die vorangegangenen Betrachtungen haben gezeigt, dass so und „verwandte“ Ausdrücke im pränominalen Kontext in verschiedenen informationsstrukturellen Konfigurationen und mit unterschiedlicher Konstruktionsbedeutung auftreten
21 M. E. sowohl deiktisch (z. B. mit Handgeste am Kinn bei (25)) als auch ohne Zeigesemantik interpretierbar.
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können. Insgesamt ergibt sich hier ein breites Spektrum an Variationsmöglichkeiten, die es sich lohnt zu systematisieren und mit verschiedenen Begrifflichkeiten zu differenzieren. Lexikalische Variation Das unflektierte solch und das unflektierbare so bilden in der Verbindung mit ein bzw. dem klitisierten Bestandteil ‘n Varianten, bei denen zunächst schwerlich ein semantischer (sondern allenfalls ein stilistischer bzw. registermäßiger) Unterschied auszumachen ist (so ein Zufall – so’n Zufall – solch ein Zufall – solche Zufälle – so Zufälle). Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird theoretisch und empirisch überprüft, inwieweit diese Varianten tatsächlich arbiträr verwendet werden. Hierbei wird ersichtlich, dass die Varianten selbst in Kontexten, in denen sie grundsätzlich allesamt Verwendung finden, nicht zufällig, sondern relativ vorhersehbar gewählt werden. Ein erster theoretischer Schritt auf dem Weg dahin, soll eine Einordnung der besagten Formen darstellen, die gleichzeitig die syntaktischen Verwendungskontexte für die jeweiligen Varianten darstellt und somit gleichzeitig die Verwandtschaft der Varianten untereinander verdeutlicht. Hierzu wird das Konzept des Konstruktionsnetzwerks verwendet. Die allgemeinste Konstruktion in einem Netzwerk, das die Formvarianten so mit Nulldeterminierer, dem Indefinitartikel ein bzw. dem enklitischen ‘n sowie anderen Determinierern abbildet, kann wie folgt dargestellt werden. [Prädetunflekt] [Det] [N] (K1: zweifache Determination von Nomina) In dieses Schema lassen sich sämtliche Fälle einordnen, in denen ein Nomen zweifach determiniert wird. Die erste Position wird von einem Prädeterminativ (Prädet) besetzt. Dieser Position ist inhärent, dass die eingesetzte Form unflektiert ist. An zweiter Position folgt ein Determinierer und schließlich ein Nomen. Dieser Konstruktion lassen sich die folgenden Fälle und viele weitere Kombinationen zuordnen: [all] [der/die/das] [N], [manch] [ein/eine] [N], [solch] [ein/eine] [N], [so] [ein/eine] [N], [solch] [ein/eine] [N],… (Realisierungen für K1) In diesem Schema lassen sich aber vor allem die grammatisch bereits genauer verortete Struktur [so + Ø + N] und ihre Varianten einordnen. Hier lassen sich jeweils bestimmte Restriktionen feststellen, die auf die allgemeine Konstruktion wirken, und sie lassen sich mittels Konstruktionsbeschreibung gut darstellen:
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[so] [Ø] [NBARE/PL] (Verwendung von so mit folgendem Nomen) Die Verwendung von so mit direkt folgendem Nomen lässt sich in die übergeordnete Konstruktion einordnen, indem explizit gemacht wird, dass die folgende Position leer gelassen wird und das Nomen der Restriktion beikommen muss, entweder ein „bare noun“ oder ein Pluralnomen zu sein. Anstelle des Nulldeterminierers kann – und das rechtfertigt der Annahme einer allgemeinen Konstruktion, von der sich die verschiedenen spezifischeren Konstruktionen ableiten – ein gewöhnlicher voller Determinierer stehen. Die Restriktion ist allerdings, dass dieser indefinit ist. [so] [DetINDEF] [N] (K2: allgemeine Konstruktion für so in der Konstruktion K1) [so] [ein] [N], [so] [mancher] [N], [so] [einiger] [N], [so] [allerlei] [N], … (konkrete Realisierungen von K2) Wenn so’n als Kombination aus Prädeterminativ und Determinierer analysiert wird, passt diese Variante ebenso in die Reihe der vorgenannten Realisierungen. Anderenfalls (wenn so’n als einfacher Determinierer analysiert wird) kann die Form dem Rahmen K1 nicht zugeordnet werden. Die Verwendung des pränominalen solch passt nur zur zweifachen Determinierung, wenn solch zusammen mit ein unflektiert auftritt. [solch] [ein] [N] (solch mit ein als Realisierung von K1) Alle Vorkommen des flektierten solch (z. B. solche Probleme) stehen im Netzwerk außerhalb von K1. Hierbei handelt es sich um eine einfachere Konstruktion, die analog zu einem NP-Aufbau wie diese Probleme (einfach determinierte Nominalstruktur) ist. Dieser Unterschied scheint mitverantwortlich für verschiedene informationsstrukturelle Neigungen von so und solch zu sein (siehe 4.2). Von der lexikalischen zur syntaktischen Variation Der zuvor dargestellte Unterschied zwischen der Verwendung von so (ohne weiteren Determinativbestandteil) und dem flektierten solch ist nicht nur ein lexikalischer, sondern so besetzt die syntaktisch die Position vor D°, während das flektierte solch D° selbst besetzt. Weiterhin könnten Stellungsvariationen diskutiert werden, die bei den Bestandteilen solch und ein möglich sind: ein solcher Zufall – solch ein Zufall. In den folgenden Betrachtungen wird diese untersuchenswerte Variation aus Ökonomiegründen ausgespart.
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Semantische Variation Für die Struktur [so + Ø + N] wurden vier verschiedene semantische Typen (klassenspezifizierend, vagheitsmarkierend, diskursinitiierend und intensivierend) unterschieden, die teilweise mit informationsstrukturellen Varianten interagieren. An einigen Stellen wurde ersichtlich, dass die lexikalisch-syntaktischen Varianten von [so + Ø + N] bestimmte dieser Typen genauso abbilden können. Tabelle 8 zeigt eine Zusammenfassung der beobachteten Bedeutungstypen und belegt, dass im Prinzip jeder Typ von jeder lexikalisch-syntaktischen Variante realisiert werden kann. Tabelle 8: Belege für die verschiedenen Bedeutungstypen (horizontale Achse) bei den unterschiedlichen Formvarianten zu so+N (vertikale Achse). deiktischspezifizierend
vagheitsmarkierend
demonstrativdiskursinitial
intensivierend
so+Ø+N
Höre so Sachen eher weniger (...) (DECOW)
Am besten zieht man die Samen einzeln auf der Fensterbank vor ( in so Joghurtbechern oder kleinen Blumentöpfen ) (..) (deWaC)
Hab dann auch noch so Milkaherzschoki bekommen. (deWaC)
unsere sind so rutschig das sin das sin so mistdinger das is unglaublich (FOLK)
so+ein+N
Bei so einem Film macht es großen Spaß, ins Kino zu gehen (deWaC)
Glaube schon, ist so ein Höhlentroll oder sowas (DECOW)
Man muss zu ihm hin und sich so einen Zettel abholen, auf den natürlich auch mit keinem Wort oder Schild hingewiesen wird. (DECOW)
(…) weil ich so eine Angst habe, dass die beiden sich jetzt auch noch bekämpfen (DECOW)
so‘n+N
Und wenn ich an son Schwachsinn wie Raucherausweise in der Schule denke (…) (DECOW)
Wenn ich meine Haare länger habe dann sehe ich aus wie son Mondgesicht oder so. Also halt son Wuschelkopf. (DECOW)
Bei dem gerät, wo man son gurt um die hüfte geschnallt bekommt und dann gegen den gummi rennen muss (DECOW)
Dieser Mann ist so‘n Arsch! (DECOW)
In manchen Liedern spielen die Gitarristen manchmal solche Obertöne oder so ähnlich ... (DECOW)
Da gab es solche sprechenden Geschenktüten . Also welche, die , wenn man sie öffnet, einen netten Spruch sagen (…) (DECOW)
Das waren solche Idioten, ich weiß nicht, was denen das bringt (…) (DECOW)
solchflekt+N Man kann solche Sachen dann auch in den nächsten Büchern wiederfinden (…) (DECOW)
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Phonetisch-akzentstrukturelle Variation Die genannten vier Lesarten (deiktisch-spezifizierend, vagheitsmarkierend, diskursinitiierend und intensivierend) sind hinsichtlich ihrer syntaktischen Struktur ambig, lassen sich aber ggf. akzentstrukturell auflösen. Vgl. hierzu das Beispiel Peter, das war so’n Störenfried. Dieser Satz ist nach jeder der vier semantischen Kategorien interpretierbar. Ist im Präkontext von störenden Personen die Rede, auf die mittels so’n referiert wird (koreferenzieller Typ), so ist zu erwarten, dass der Satzakzent auf war oder das liegt (und somit der Fokus des Satzes auf der Satzbedeutung oder auf dem Subjekt). Wird die Information, dass Peter ein Störenfried sei, eingeführt (diskursinitiierende Lesart), so ist zu erwarten, dass die erste Silbe von Störenfried den Hauptakzent trägt. Handelt es sich um die intensivierende Lesart, so bewegt sich der Hauptakzent auf so’n. Lediglich die vagheitsmarkierende Variante, bei der erwartbar ist, dass der Hauptakzent auch auf Störenfried liegt, ist anhand der Akzentstruktur nicht trennscharf von der diskursinitiierenden Lesart zu unterscheiden. Wo im Folgenden nötig und möglich, werden Akzentstrukturen mitberücksichtigt. Phonetische Variation vs. lexikalische Variation bei so ein und so’n Viele würden den Unterschied zwischen so ein Zufall und so’n Zufall als phonetische Variation beschreiben, bei der die Verbindung der beiden Vollformen so und ein als zusammengezogene Variante (Kontraktion) im mündlichen Sprachgebrauch interpretiert wird. Dies ist nach Hole & Klumpp (2000) pauschal nicht haltbar, da die kontrahierte Form als voll grammatikalisierte Form beschrieben wird, die Pluralkontexte zulässt, während ein nur singularisch verwendbar ist (so’ne Probleme aber ✶so eine Probleme). Somit wäre die Wahl von so’n gegenüber so ein oder solch ein als lexikalische Wahl zu interpretieren. Flexionsgrammatisch bedingte Variation Bei der Variante [so + Ø + N] haben wir im Singular die klare Restriktionsregel beobachtet, dass lediglich „bare nouns“ (semantische Klassen von Nomina, die kein Artikelwort erfordern) in diese Struktur eingehen können. Bei allen anderen Nomina muss eine alternative Struktur (mit so’n, so ein, solch ein) gewählt werden. Umgekehrt gilt, dass die Varianten so ein und solch ein rein singularisch auftreten. Darüber hinaus erscheint das flektierte solch in Singularkontexten fragwürdig zu sein (solche Menschen kommen immer wieder her, aber ?Solcher Mensch kommt immer wieder her). Es ist anzunehmen, dass Kasuskontexte, die mit einer morphologischen Markierung einhergehen, flektierte Varianten anziehen, und dass die unflektierten Varianten eher in unmarkierten Kontexten auftreten.
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Informationsstrukturelle Variation Die empirischen Belege zum pränominalen so haben insgesamt eine starke Heterogenität hinsichtlich der Verweiswirkung von so gezeigt: Wir haben anaphorische und kataphorische Verwendungen gesehen, aber auch Fälle, in der so keine textverknüpfende Funktion besitzt. Eines der Hauptziele der empirischen Untersuchung des nachfolgenden Abschnitts 4.2 ist, herauszuarbeiten, ob und ggf. inwiefern bestimmte Informationsstrukturbeziehungen von bestimmten lexikalisch-syntaktischen Varianten bevorzugt werden. Registerbedingte Variation Dass die Variante [so + Ø + N] gegenüber [solch + N] in vielen sprachlichen Situationen nicht austauschbar sind, liegt auf der Hand. In konzeptionell schriftlichen Kontexten, z. B. akademischen Arbeiten, wäre die Variante Solche Zusammenhänge lassen schlussfolgern… erwartbar, nicht aber die Variante So Zusammenhänge lassen schlussfolgern… Die bislang analysierten Sprachdaten haben gezeigt, dass das pränominale so alles andere als auf den medial mündlichen Sprachgebrauch beschränkt ist, ganz bestimmt aber auf den konzeptionell mündlichen Bereich. Regionalsprachliche Variation (?) Wie eingangs erwähnt, scheint die Annahme zu bestehen, einige der Varianten seien spezifisch für bestimmte Dialekte. Introspektiv wurde mir in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen teilweise rückgespiegelt, die Variante [so + Ø + N] könne dem norddeutschen Sprachraum zugeordnet werden. Daten aus dem FOLK-Korpus, in welchem auch diverse Sprecherinnen und Sprecher aus dem mittel- bis oberdeutschen Sprachraum diese Variante verwenden, widersprechen dem allerdings grundlegend. Das Spektrum an Variationsmöglichkeiten ist also enorm. Die Wechselwirkungen zwischen den Variationsebenen und den einzelnen Varianten sind aber intuitiv nur teilweise benennbar und wurden bislang auch nur dort benannt, wo es sich um harte grammatische Restriktionen handelt. Darüber hinaus scheinen die möglichen Form- und Merkmalskombinationen fast zu umfangreich, um sie allesamt darzustellen. In Abschnitt 4.2 wird angestrebt, die für die Verteilung der verschiedenen lexikalisch-syntaktischen Varianten relevantesten Merkmale herauszuarbeiten und somit die Wahl bestimmter Varianten in bestimmten Kontexten möglichst gut vorhersagen zu können.
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
209
4.2 Korpusanalyse: Verwendung und Verteilung der Varianten und Variablen In den folgenden Untersuchungen soll die Verwendung der lexikalischen Varianten [so + Ø + N], [so’n + N], [so + ein + N], [solch + ein + N] und [solch + N] in Abhängigkeit von wesentlichen Kontextfaktoren ermittelt werden, um zu überprüfen, inwieweit die Varianten austauschbar oder aber vorhersehbar verwendet werden. Die Datengrundlage hierbei ist je nach Forschungsanliegen verschieden; es werden sowohl sehr große deutschsprachige Internetdatensammlungen (medial schriftlich, konzeptionell vorwiegend mündliche Texttypen) wie die bereits eingeführten Korpora deWaC und DECOW verwendet als auch medial mündliche Korpora (mit transkribierter Spontansprache) wie die (ebenso bereits angeführten) Korpora FOLK. Diese sehr großen, aber sehr allgemein annotierten Datensammlungen eignen sich dafür, Belege für bestimmte Konstruktionen zu finden und grob die Wahrscheinlichkeit bestimmter Konstruktionen in den entsprechenden sprachlichen Kontexten zu bemessen.22 Für eine zuverlässige Bemessung grammatischer und sprachkontextueller Abhängigkeiten eigenen sich diese Datensammlungen nicht. Deshalb wurden verschiedene manuell kontrollierte und weitergehend annotierte Korpora erstellt, die zwar deutlich kleiner als die großen Quellen sind, die aber hinsichtlich bestimmter Forschungsfragen Antworten liefern können. Diese zusätzlichen Quellen werden entsprechend erläutert. Eine erste Annäherung – Häufigkeitsrelationen der verschiedenen Formvarianten in verschiedenen Korpora Um einen ersten Eindruck über Häufigkeitsrelationen und die Abhängigkeit der mehr oder weniger markiert anmutenden Formen zu erhalten, wurden verschiedene große Korpora auf die entsprechenden Verwendungen hin untersucht. Die Übersicht in Tabelle 9 zeigt diese Quellen auf.
22 Konstruktionen, die in einem Milliarden-Token-Korpus nicht vorkommen, können zwar niemals als vollständig unmöglich bzw. faktisch ungrammatisch nachgewiesen werden, sie können aber als mindestens sehr ungebräuchlich bzw. unwahrscheinlich ausgewiesen werden. Entsprechend frequentere Konstruktionen können mit Blick auf die Gesamtdatenmenge praktisch stufenlos als selten, allgemein gebräuchlich usw. eingestuft werden. Die Möglichkeiten und Grenzen korpuslinguistischer Studien als methodisches Verfahren sind vielseitig diskutiert, seit die Methode Einzug in die empirische Forschung erhalten hat. Mit dem Aufkommen extrem großer Datenmengen muss allerdings die Pauschalkritik, Korpora böten keinerlei negative Evidenz, zumindest relativiert werden. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch die knappe Darstellung in Hirschmann (2019: 4–9).
folgt weiter unten
https://korpling.org/ annis3/
http://agd.idsmannheim.de/folk.shtml
https://dgd.idsmannheim.de/
gesprochen
Online-Quelle
Such-system
Medialität
Persönliche Interviews mit Lehrenden zu allgemeinen Bildungsfragen ca. 100.000 transkribierte Wörter
Spontansprachliche Dialoge, verschiedene Impulse
ca. 3.000.000 transkribierte Wörter
Kurzbeschreibung
Größe in Anzahl der Wortformen
konzeptionelle von links nach rechts abnehmend Mündlichkeit
Interviews
FOLK
ca. 1.200.000 transkribierte Wörter
Vortrags- und Lehrsprache im wissenschaftlichen Kontext
https://dgd.idsmannheim.de/
https://gewiss.unileipzig.de/
GeWiss
ca. 70.000.000 Wörter
Deutschsprachige Internetkommunikation mit hohem Anteil an Mündlichkeitsphänomenen
geschrieben
www.webcorpora.org/
https://rolandschaefer. net/2014/08/02/cow-webcorpus-initiative/
DECOW16B_ Quasispontan
ca. 175.000.000 Wörter
Deutschsprachige Internetforentexte
www.webcorpora.org/
https://rolandschaefer. net/2014/08/02/cow-webcorpus-initiative/
DECOW16A_Forum
Tabelle 9: Übersicht über die im Anschluss ausgewerteten Korpora. Die linken drei Korpora beinhalten gesprochene, die zwei rechten Korpora geschriebene Sprache. Die konzeptionelle Mündlichkeit ist jeweils von links nach rechts abnehmend.
210 Hagen Hirschmann
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
211
Die in Tabelle 9 aufgeführten Korpusressourcen werden auf die relativen Häufigkeiten der lexikalisch-syntaktischen Varianten so‘n, so, so ein, solch, ein solch und solch ein – jeweils mit anschließendem Nomen – hin ausgewertet. Die absoluten Frequenzen werden jeweils auf 1000 nominale Instanzen hin normalisiert. Die der Zählung zugrunde liegende Annahme ist, dass die umgangssprachlich erwartbaren Formen des pränominalen so‘n und so in Richtung (konzeptioneller sowie medialer) Schriftlichkeit abnehmen und die drei übrigen (standardsprachlichen) Varianten entsprechend zunehmen. Da die beiden Varianten ein solch und solch ein allgemein sehr viel seltener sind als die anderen vier Formen, werden hierfür getrennte Gegenüberstellungen bereitgestellt (die Relationen wären sonst schwerlich erkennbar). Vgl. die Ergebnisse in Abbildung 4. und 5.
Abbildung 4: Gegenüberstellung der pränominalen Formen so‘n, so, so ein und solch in den abgebildeten Korpusdaten. Die Zahlen sind auf 1000 nominale Einheiten normalisiert.
Diese Ergebnisse zeigen interessante Tendenzen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Jede der untersuchten Varianten tritt in allen herangezogenen Korpusdaten auf, allein mit der Ausnahme von solch ein, welches in dem kleinsten Korpus (Interviews) nicht nachweisbar ist. Die normalisierten Relationen erscheinen grundsätzlich selten (der frequenteste Wert von 16,7 Vorkommen pro 1000 nominalen Einheiten bei so’n im FOLK-Korpus erscheint an sich relativ klein). Dies ist allerdings auch dem Umstand geschuldet, dass zur Kontrolle positiver Treffer bzw. zur Vermeidung fehlerhafter Treffer nur bestimmte, prototypische Vorkommen der Varianten gesucht wurden, so vor allem nur Fälle ohne pränominales
212
Hagen Hirschmann
Abbildung 5: Gegenüberstellung der pränominalen Formen ein solch und solch ein in den abgebildeten Korpusdaten. Die Zahlen sind auf 1000 nominale Einheiten normalisiert.
Adjektiv. Umso wichtiger sind deshalb die Relationen, die aufgrund der Gleichbehandlung der verschiedenen Datenquellen valide sind. Die angenommene relative Abnahme der kolloquialen Varianten so’n und so mit zunehmender Schriftlichkeit kann als bestätigt angesehen werden. Interessanterweise scheint der Sprung von der medialen Mündlichkeit zur medialen Schriftlichkeit bei der Form so’n nicht ausschlaggebend zu sein (die relative Häufigkeit ist im medial mündlichen GeWiss-Korpus größer als im medial schriftlichen DECOW-Korpus mit quasispontanen Sprachdaten). In Abbildung 4 ist weiterhin bemerkenswert, dass klare Effekte der verschiedenen Varietäten bzw. Register nur bei so’n und so ersichtlich und vor allem bei dem „gewöhnlichen“ Gebrauch von solch nicht erkennbar sind. Die Relationen bei so ein (gegenüber so’n und so) lassen schließen, dass nicht so als Prädeterminativ an sich einen Gebrauchseffekt hervorruft, sondern tatsächlich nur bei den intuitiv als markierte Varianten bewerteten Formen so’n und so mit folgendem Nomen. Es muss aber noch einmal ausdrücklich betont werden, dass diese beiden der medialen Mündlichkeit zugesprochenen Formen aber dennoch zuverlässig in nicht normierter Schriftsprache verwendet werden: In den medial schriftlichen Korpusdaten der DECOW-Subkorpora finden sich Tausende Belege für das pränominale so und so’n, die zwar gegenüber anderen Artikelwörtern selten sind, die jedoch keinesfalls ein dunkles Rauschen darstellen. Zum Vergleich: Die Wortform Rauschen tritt mit 914 Treffern in dem untersuchten DECOW16A_Forum-Korpus deutlich seltener auf als die Kombination von so mit direkt folgendem Nomen wie z. B. in dem Beleg so Plastikkram, eine Struktur mit
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
213
gut 1.300 Belegen innerhalb desselben Datensamples. Die Relationen zwischen so’n und so gegenüber dem standardsprachlichen solch in der quasispontansprachlichen DECOW-Partition deutet in dieselbe Richtung. Diese Verhältnisse wären nicht möglich ohne eine relevante Funktion der kolloquialen Varianten, die in den nachfolgenden Untersuchungen beleuchtet wird. Auswertung eines manuell kontrollierten Korpus zur Untersuchung differenzierter Gebrauchsunterschiede Um auszuschließen, dass es sich bei der Verwendung der verschiedenen Lexeme um individuelle Präferenzen handelt, wurden bereits transkribierte, öffentlich zugängliche Interviewtexte gesammelt, korpuslinguistisch weiterverarbeitet und ausgewertet. In diesen Daten verwenden einzelne Individuen tendenziell jedes der einzelnen Lexeme so, so’n, so ein und solch, so dass interindividuelle Präferenzen beim Gebrauch der Formen relativiert werden. In den Interviewtexten werden Lehrerinnen und Lehrer, Pflegeangestellte sowie Erzieherinnen und Erzieher zu Fördermaßnahmen und den Bedingungen in ihren Einrichtungen befragt; für ein Beispiel vgl. https://bit.ly/3C3BkP7 . Es handelt sich weder um besonders förmliche und geplante noch um besonders informelle Sprache. Durch die Datenerhebung wurden 11 frei erhältliche, bereits transkribierte, mehr oder weniger orthographisch normalisierte Interviewtexte von verschiedenen Universitäts- und Bildungsservern weiterverarbeitet, wobei die Daten nach den zu untersuchenden Determiniererlexemen annotiert wurden, indem die Grundform und die Phorizität des Determinierers manuell spezifiziert wurden. Insgesamt entstand so ein Korpus mit knapp 100.000 Wortformen (100.880 Token, 88.194 Wortformen, 7.642 Determinierer und 300 Instanzen der hier im Fokus stehenden Determinierer). Das Korpus wurde in das Korpussuchprogramm ANNIS (http://corpus-tools. org/annis/ , Krause & Zeldes 2016) eingelesen und damit ausgewertet. Ein Beispiel für die gewonnenen Daten im Suchinterface ANNIS ist in Abbildung 6 dargestellt.
Abbildung 6: Textbeispiel aus dem Interviewkorpus mit relevanten Annotationen. Die Suchanfrage bezieht sich auf Vorkommen des pränominalen so unmittelbar vor einem Nomen. Das Vorkommen des pränominalen so (Annotationsebene: „so_Lemma“) ist als kataphorisch (Annotationsebene: „Verweisrichtung“) gekennzeichnet.
214
Hagen Hirschmann
Anhand dieser Daten werden nun die grammatischen Abhängigkeiten herausgearbeitet, die die Wahl der einzelnen lexikalisch-syntaktischen Varianten maßgeblich beeinflussen. Der Fokus der Auswertung liegt dabei auf den vier Varianten so, solch, so’n und so ein und orientiert sich an konkreten Forschungsfragen. Frage 1: Inwieweit beeinflusst der Numerus des determinierten Nomens die Wahl der Varianten so‘n, so ein und solch im Interviewkorpus? Bei der Form so ein liegt auf der Hand, dass sie absolut spezifisch für Singularkontexte ist. Bei dem pränominalen so wurde aufgrund der Notwendigkeit einer „bare noun“-Restriktion im Singular die gegenteilige Tendenz aufgezeigt. Bei so’n wird ein vollständiges Flexionsparadigma angenommen (vor allem in Hole & Klumpp 2000), aber tatsächliche Gebrauchspräferenzen wurden noch nicht herausgearbeitet. Dasselbe gilt für das flektierte solch, welches prinzipiell singularisch verwendet werden kann, was aber teilweise sehr gestelzt anmutet. Somit ist die Frage interessant, wie jeweils die tatsächlichen Gebrauchspräferenzen ausgeprägt sind. Tabelle 10 zeigt die quantitative Auswertung des Auftretens der einzelnen Lexeme, zusätzlich getrennt nach ihrem Numerus. Tabelle 10: Frequenzauswertung für die Numerusvorkommen der vier kontrastierten Lemmata so, solch, so‘n und so ein in Determiniererfunktion im Interviewkorpus. Absolute Vorkommen mit gerundeten prozentualen Werten in Klammern. Prozentangaben bei Singular und Plural gemessen an der Gesamtanzahl pro Lexem, bei der Gesamtangabe selbst gemessen an der Summe aller vier Lexeme. Lexem
Anzahl mit Singular-NP
Anzahl mit Plural-NP
Anzahl gesamt
3 (4 %)
72 (96 %)
75 (25,3 %)
solch
1 (2 %)
56 (98 %)
57 (19,3 %)
so‘n so ein
95 (90 %) 59 (100 %)
10 (10 %) /
105 (35,5 %) 59 (20,0 %)
so
Was die allgemeine Verwendung der unterschiedlichen Lexeme angeht (rechte Spalte in Tabelle 10), so ist ersichtlich, dass die einzelnen Lexeme nicht drastisch unterschiedlich häufig verwendet werden, wobei so’n dennoch relativ hervorsticht und deutlich die häufigste Form darstellt. Erstaunlich ist, dass alle Formen eine klare Präferenz für eine Numerusausprägung besitzen, obwohl dies nur bei so (aus den in Abschnitt 2 erläuterten Gründen) und bei so ein (das keinen Plural besitzt) auf der Hand liegt. Bei solch ist zwar nicht zu erwarten, dass es häufig als singularischer Determinierer verwendet wird,23 doch auch als Adjektiv hinter einem Deter-
23 Der einzige Beleg im Korpus hierfür ist „…, wie man solches Handwerkszeug vermittelt“.
215
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
minierer tritt es nur einmal im Korpus auf.24 Bei so’n ist umgekehrt erstaunlich, dass es nur sehr selten in Pluralkontexten verwendet wird. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass anstelle des pluralischen so’n gerade auf so zurückgegriffen wird, welches ja die logische Pluralform von so ein und auch dem enklitischen so’n ist. Unter dieser Annahme muss jedoch geklärt werden, warum Sprecherinnen und Sprecher bei der Determinierung von Pluralnomen zwar meistens auf so, aber in seltenen Fällen auf so’n zurückgreifen. Zusammengefasst fungiert in den untersuchten Daten der Numerus als Filter für die Verwendung von so und solch (Pluralkontexte) gegenüber so’n und so ein (Singularkontexte). Somit zeigt die Tabelle 10 auch, dass sich das Variationsphänomen um die Grundformen so, solch, so’n und so ein auf die Variation zwischen solch und so in Pluralkontexten fokussiert: Im Singular ist die wesentliche Variation die zwischen der komplexen Form so ein und der zusammengezogenen Form so’n, was als phonetisches Phänomen ohne semantische Auswirkungen angesehen werden kann, wohingegen die Variation im Plural zwischen so und solch deutlich wahrscheinlicher mit verschiedenen Lesarten oder grammatischen Funktionen einhergeht. Frage 2: Inwieweit korreliert die phorische Struktur mit dem Gebrauch der vier verschiedenen Lexeme? In Abschnitt 3 wurde zusätzlich zu den Numerusrestriktionen der einzelnen Formvarianten festgestellt, dass das pränominale so und seine Varianten phorisch oder nicht phorisch verwendet werden können (was unter anderem die entstehende Lesart der Gesamtstruktur beeinflusst). Beim den phorischen Verwendungen wurden sowohl anaphorische als auch kataphorische Typen beobachtet. Tabelle 11 liefert eine Auswertung dieser drei Verwendungsmöglichkeiten bei den unterschiedlichen Lexemen. Tabelle 11: Auswertung der Textdeiktizität bei den vier kontrastierten Lemmata so, solch, so‘n und so ein in Determiniererfunktion im Interviewkorpus. Absolute Vorkommen mit gerundeten prozentualen Werten in Klammern. Prozentangaben gemessen an allen Vorkommen des jeweiligen Lexems.
so solch so‘n so ein
anaphorisch
kataphorisch
nicht textdeiktisch
4 (5,3 %) 47 (82,5 %) 18 (17,5 %) 12 (20,3 %)
32 (42,7 %) 6 (10,5 %) 4 (3,9 %) 2 (3,3 %)
39 (52,0 %) 4 (7,0 %) 81 (78,6 %) 45 (76,3 %)
24 „… wie kann ich denen anhand eines solchen Konzeptes ein fundiertes Feedback geben“.
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Hagen Hirschmann
Zur Erläuterung der drei möglichen Kategorien in Tabelle 11 sei erwähnt, dass durch den Determinierer ausgelöste anaphorische Textbezüge solche sind, in denen ein im Präkontext vorerwähnter Diskursreferent durch den Determinierer wiederaufgenommen wird; vgl. hierzu die Korpusbelege (27) und (28). In kataphorischen Textbezügen hingegen liegt eine eindeutige Verknüpfung mit einem spezifizierenden Vergleichselement im Folgekontext vor; vgl. hierzu die Korpusbelege (29) und (30). Nicht textdeiktische Vorkommen sind solche, in denen nicht vorerwähnte Diskursreferenten mit der Vagheitslesart, der intensivierenden Lesart oder der demonstrativ diskursinitiierenden Lesart (siehe Abschn. 3); vgl. hierzu die Korpusbelege (31) und (32). (27) (…) da hab ich oft keine Zeit mehr für solche Sachen. [Bezug: Fortbildungen, wiss. Literatur] (28) (…) aber wenn man 25 Jahre im Dienst is, muss man auch solche Tage mal überwinden können (…) (29) Es gibt natürlich auch so Leute, die sagen: „Ach, morgen bin ich bestimmt nicht mehr da“. (30) Ich hatte das eigentlich in so Momenten wo die Leute gar nicht da waren, (…) (31) (...) mit ständig verstopften Toiletten die äh sich ergießen im Raum, das sind eben so äußerliche Bedingungen. (32) (…) und dann kamen so kleine Einschübe von Klarheit, (…) Tabelle 11 zeigt, dass zwar alle der durch die Phorizität bedingten Grundfunktionen bei den unterschiedlichen Lexemen auftreten, dass es aber auch klare Tendenzen für die verschiedenen Formen gibt: Während bei so‘n und so ein eindeutig die nicht-deiktische Verwendung überwiegt, wird solch als anaphorischer Determinierer bevorzugt; lediglich bei so finden sich ungefähr zum gleichen Ausmaß zwei Funktionen, und zwar die kataphorische und die nicht textdeiktische. Was die Vorhersagbarkeit der Verwendung der einzelnen Lexeme angeht, so scheint eine eindeutige Tendenz zu sein, dass im Fall eines textdeiktischen Bezugs so für kataphorische und solch für anaphorische Bezüge angeht, die im Übrigen häufig damit einherzugehen scheinen, dass die durch so determinierten nominalen Entitäten Diskurs-neu sind und die durch solch determinierten Diskurs-gegeben. Um den Zusammenhang, dass so im Fall textdeiktischen Bezugs kataphorisch und solch anaphorisch verwendet wird, statistisch zu prüfen, wird auf die
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
217
in Tabelle 11 beschriebenen Merkmale „anaphorisch“ und „kataphorisch“ bei so und solch jeweils ein Zweistichproben-t-Test angewendet, bei dem die Variation der Vorkommen in den elf einzelnen Interviews (die intertextuelle Variation also) in die Berechnung miteinfließt. Das Ergebnis des Zweistichproben-t-Tests („Welch Two Sample t-test“, berechnet in RStudio, www.rstudio.com/ ) für den anaphorischen Gebrauch von so und solch (die ersten beiden links oberen Zellen in Tabelle 11) ist t = −5.874, df = 10.834, p-value = 0.0001138 Die anaphorische Verwendung von so und solch in den verwendeten Korpusdaten unterscheidet sich gemäß dem Zweistichproben-t-Test somit signifikant. Das Ergebnis des Zweistichproben-t-Tests für den kataphorischen Gebrauch von so und solch (die oberen beiden mittleren Zellen in Tabelle 11) ist t = 2.9443, df = 11.765, p-value = 0.01251 Die kataphorische Verwendung von so und solch in den verwendeten Korpusdaten unterscheidet sich gemäß dem Zweistichproben-t-Test also ebenso signifikant. In den folgenden Betrachtungen sollen durch das Nomen bedingte Effekte ausgeschlossen und zugleich eine größere Datenmenge untersucht werden, als das stark kontrollierte Interviewkorpus bietet. Dies wird dadurch erzielt, dass die häufigsten Vorkommen von Nomina, determiniert durch das pränominale so und durch solch, im Interviewkorpus ermittelt werden. Für das häufigste im Interviewkorpus ermittelte Nomen, das sowohl von so als auch solch determiniert wird, wird dann seine Verwendung mit so und solch im sehr viel größeren deWaC-Korpus annotiert und ausgewertet. Sucht man im kleinen Interviewkorpus auf die durch so vs. durch solch determinierten Nomina, so finden sich für so 59 verschiedene Nomina, für solch 32 verschiedene Nomina. In beiden Fällen gibt es wenige Nomina, die öfter determiniert werden, und eine überwiegende Anzahl von Einmalvorkommen (Hapax Legomena), also insgesamt eine Zipf’sche Datenverteilung. Diese Zusammenhänge sind in Tabelle 12 dargestellt. Da die Form Sachen sowohl bei so als auch bei solch im Interview-Korpus die häufigste Form ist, werden aus dem deWaC-Korpus zufällig jeweils 100 Sätze mit Aufeinanderfolgen des Lemmas solch und der Wortform Sachen bzw. des Lemmas so und der Wortform Sachen gezogen. Es werden mithilfe manueller Korrektur nur Fälle berücksichtigt, in denen so und solch auch wirklich determinierend und phorisch verwendet werden. In jedem Satz wird der Determinierer auf seine Ver-
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Hagen Hirschmann
Tabelle 12: Die jeweils fünf frequentesten Nomina bei so und solch im Interview-Korpus. Nomina mit so Sachen Situationen Kleinigkeiten Leute Schmerzmedikamente
Anzahl 13 4 2 2 2
Nomina mit solch Sachen Dinge Leute Arbeiten Ideen
Anzahl 19 4 4 1 1
weisrichtung (anaphorisch oder kataphorisch), die gesamte NP zusätzlich auf den Informationsstatus (Diskurs-gegeben vs. Diskurs-neu25) annotiert. Die Auswertung der Verweisrichtung von so vs. solch zeigt ein klares Ergebnis: Abbildung 7 stellt zunächst die Verteilung der Verweisrichtung (anaphorische vs. kataphorische Verweisrichtung)26 für so und solch dar, Abbildung 8 den Informationsstatus der durch so bzw. solch determinierten NP. Es ist klar zu erkennen, dass die meisten Verwendungen von so mit einer kataphorischen Verweisrichtung bzw. -funktion erfolgen, während die meisten Verwendungen von solch mit einer anaphorischen Verweisrichtung einhergehen (ein Erklärungsansatz hierfür wird im Folgeabschnitt 5 ausgeführt). Exemplarische Belege für diese eindeutige Tendenz liefern die Belege (33) und (34). (33) Während ich alle 2–3 Wochen eine neue Familienpackung Cappuccino angeschleppt bringe, schlürft mein Büromitinsasse neben mir seinen seltsamen Malzkaffe. Da sind dann so Sachen drin wie Gerste, Roggen und Feigen. (Typisches Beispiel für kataphorische Verwendung bei so aus deWaC, https:// bit.ly/3EcWHAn ) (34) Wahrscheinlich reagierst du aber nicht auf die Fasern, sondern die verwendeten ( unbekannten ) Farbstoffe. Als Allergiker mit Asthma bin ich bei solchen Sachen immer sehr vorsichtig. (Typisches Beispiel für anaphorische Verwendung bei solch aus deWaC, https://bit.ly/3M5tOrR )
25 Dies wurde dadurch operationalisiert, dass nur explizit im Präkontext genannte Diskursreferenten als gegeben interpretiert wurden. 26 Durch die Bedeutung des Lexems Sache ist bedingt, dass in den untersuchten Korpusdaten ausschließlich anaphorische und kataphorische Bezüge und keine nicht textdeiktischen Vorkommen von so und solch vorliegen.
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100
4
100
90
90
80
80
70
70
60 50
96
50
40
40
30
30
20
20
10 0
anaphorisch
81 93
18
10
12 so
7
60
88
solch kataphorisch
Abbildung 7: Verteilung von anaphorischen und kataphorischen Bezügen von so und solch bei ihrer Determinierung der Form Sachen.
0
219
so
solch neu
gegeben
Abbildung 8: Verteilung von gegebenem und neuem Diskursstatus der durch so und solch determinierten NP mit dem nominalen Kopf Sachen.
Mit der kataphorischen Präferenz bei so und der anaphorischen Präferenz bei solch geht einher, dass so vor allem neu eingeführte Diskursreferenten determiniert, während solch vor allem bereits eingeführte Dinge und Sachverhalte wiederaufgreift. In beiden Verweisrichtungen handelt es sich meistens um die vergleichende Lesart von so und solch, so dass es sich bei der anaphorischen Verknüpfung in aller Regel nicht um die direkte Wiederaufnahme eines Referenten handelt und bei der kataphorischen Verknüpfung in der Regel nicht um die präzise Benennung neuer Referenten, sondern jeweils um Ähnlichkeitsklassen bzw. um als vage markierte nominale Klassen. Umso mehr fällt bei dieser semantischen Analogie ins Gewicht, dass sich die Verweisrichtungen von so und solch klar unterscheiden. Dass es sich um ein graduelles, tendenzielles Phänomen handelt, zeigen die wenigen Gegenbelege.27
27 Vgl. exemplarisch: Mein Vater findet so Sachen auch blöd (deWaC, https://bit.ly/3ydKS9c ; es handelt sich um bereits eingeführtes rechtsextremes Gedankengut, somit ist so anaphorisch und in gegebenem Kontext anknüpfend gebraucht) vs. Allerdings sollte man solche Sachen wie LNB-Tilt nicht korrigieren (deWaC, https://bit.ly/3SSRpxV ; es handelt sich um eine im Text nicht vorerwähnte Fehlstellung von Satellitenschüsseln, somit ist solch hier kataphorisch und im Kontext einer neu eingeführten NP gebraucht).
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5 Weiterführende Interpretation der Ergebnisse: Variation mit System Als Resümee zu der Verwendung der Determinierer so, solch, so ein und so’n im konzeptionell Mündlichen sind im Folgenden die wichtigsten Abhängigkeiten zwischen diesen Formen sowie grammatischen und informationsstrukturellen Faktoren aufgelistet: – Bei Singularnomen werden fast immer so ein bzw. das klitisierte Pendant so’n verwendet.28 Mit Blick auf so ohne weiteren Artikelbestandteil ist dies erwartbar, weil im Singular nur im Fall von Massennomina bzw. Kollektiva eine Verwendung von so lizensiert ist. Bei solch liegt zwar nicht dieselbe grammatische Beschränkung vor, aber es ist mit Singularnomen in den meisten Fällen nur mit dem unbestimmten Artikel – und dann adjektivisch (ein solcher Fehler) – gebräuchlich. Diese Variante ist jedoch in den medial mündlichen sowie den medial schriftlich, aber konzeptionell mündlichen Daten relativ selten (vgl. die Frequenzunterschiede in Abbildung 4 und 5). – Bei Pluralnomen werden fast immer so oder solch verwendet. Die Entscheidung hängt in erster Linie von der Verweisrichtung des Elements ab: Solch wird im Fall eines phorischen Gebrauchs vor allem anaphorisch, so kataphorisch verwendet. Die nicht phorischen Verwendungen gehen einher mit den drei Bedeutungstypen der vagheitsmarkierten, der intensivierten sowie der deiktisch-diskursinitiierenden Lesart. (Zu einer Erklärung bzw. weiteren Einordnung dieser Lesarten siehe unten in diesem Abschnitt.) – Das prinzipiell pluralfähige so’n wird bei Pluralnomen sehr selten verwendet, obwohl hier durch das voll ausgeprägte Flexionsparadigma keine Beschränkung auf Singularkontexte besteht. Überraschenderweise ist die Nullvariante so jedoch die Standardvariante in Pluralkontexten. Dies könnte daran liegen, dass das klitisierte ’n bei so’n im Plural funktional nicht notwendig bzw. redundant ist und deshalb die Variante mit Nullartikel „so Ø“ bevorzugt wird. Die im vorangegangenen Abschnitt 4 analysierten Daten haben fast immer starke Abhängigkeiten zwischen bestimmten Formvarianten, bestimmten grammatischinformationsstrukturellen Merkmalen und bestimmten assoziierten Konstruktio-
28 Die Variation zwischen diesen beiden Varianten wird in diesem Beitrag nicht weiter behandelt, lässt sich aber sicher auch mit Blick auf verschiedene phonologische Kontexte und Lesartunterschiede systematisieren. Wegen der phonologischen Verwandtschaft der der beiden Varianten erscheint diese Alternation allerdings auch etwas weniger erklärungsbedürftig als die Variation zwischen den Formen, an denen so vs. solch beteiligt sind.
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
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nen bzw. Konstruktionsteilen (auch: Kollostruktion, vgl. Stefanowitsch & Gries 2003) aufgezeigt. Die wichtigsten dieser Konstruktionen werden nachfolgend beschrieben. Ebenso wird angestrebt, die Verwandtschaft verschiedener Konstruktionen aufzuzeigen und dies in Form von Konstruktionsnetzwerken formal zu beschreiben. Typische Kollostruktionen und eine Erklärung für die pränominale Verwendung von so gegenüber der Variante solch Während solch ein für den nominalen Bereich typisches bzw. spezifisches Lexem ist,29 ist das Auftreten des primär deiktisch-adverbiellen Lexems so in der linken Peripherie der Nominaldomäne erklärungsbedürftig. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die Vorhersage aus der theoretischen Fachliteratur, dass maßgeblich so’n (als anderen flektierbaren Indefinitartikeln gleichwertiges Wort) die Funktion von solch übernimmt bzw. dass so trotz seiner Unflektierbarkeit gegenüber der logisch gesehen grammatisch „komfortableren“ Variante solch bevorzugt wird. In den diversen Belegen zu diesem Gebrauch von so war zu sehen, dass das Wort mit einer dem Bezugsnomen nachfolgenden Vergleichsphrase, eingeleitet mit wie, einhergeht. Dies ist in verschiedenen Publikationen zum pränominalen so ein beachtet worden, und hervorgehoben wurden bereits verschiedene semantische Aspekte, die zum einen die Besonderheit von so unter anderen deiktischen Ausdrücken als Universaloperator ausmachen und zum anderen genau diese Vielseitigkeit von so erklären (verwiesen sei hier vor allem auf die Beiträge König & Umbach 2018, Umbach & Gust 2014 sowie Lenerz & Lohnstein 2005). Zusammengefasst kann als gesichert angenommen werden, dass so in den syntaktischen Umgebungen der Verbal-, der Adjektiv- und der Nominaldomäne eine einheitliche Funktion aufweist und analoge Konstruktionen eingeht. Es kann nämlich in diesen Domänen als Auslöser einer Vergleichskonstruktion beobachtet werden, die wie folgt belegt und semantisch beschrieben werden kann. (35) Du selber hast doch gesagt, Vista wäre nicht [so schlecht wie sein Ruf] (so mit Vergleichskonstruktion in der Adjektivdomäne; DECOW: https://bit.ly/3RtFqpD , Klammermarkierung eingefügt)
29 Einzig die Verwendung in Richtung Adjektivposition (bei einem solchen Vorschlag sieht analog zu adjektivischen Verwendungen wie bei einem guten Vorschlag aus) ist beachtenswert an solch und führt zu einer Verwirrung, aufgrund der das flektierte solch manchmal als Adjektiv eingestuft wird. De facto kann es aber an mehreren NP-Positionen (unflektiert als Prädeterminativ, stark flektiert an der Artikelposition und bei vorangehendem flektierten Artikel schwach flektiert an der Adjektivposition) auftreten. Vgl. zu der daraus erwachsenen problematischen Einordnung auch Zifonun et al. (1997: 1936–1938).
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(36) der neue [funktioniert so wie er soll] (so mit Vergleichskonstruktion in der Verbaldomäne; DECOW: https://bit.ly/3V1kQzB , Klammermarkierung eingefügt) (37) nur [so Gestalten wie Thiesen] finde ich unerträglich. (so mit Vergleichskonstruktion in der Nominaldomäne; DECOW: https://bit.ly/3SVAkTY , Klammermarkierung eingefügt) (35)–(37) zeigen relativ äquivalente Konstruktionen, die mit der Verwendung von so einhergehen, wobei man sich in der theoretischen Forschung einig ist, dass (35) der Prototyp der Vergleichskonstruktion mit so und wie ist. Die Beschreibung der Vergleichskonstruktionen in den anderen beiden Domänen wird natürlich mit dem Prototyp in (35) zusammengebracht, allerdings häufig als semantisch jeweils unterschiedlich eingeordnet. Vor allem wird häufig darauf hingewiesen, so gehe in den verschiedenen Kontexten, in denen es eingebettet werden kann, verschiedene Bedeutungen ein und modifiziere auf dreierlei Weise: als Modifikator der Art und Weise („manner“), als Modifikator der Qualität und als Modifikator der Intensität („degree“); vgl. für diese Dreiteilung z. B. König (2017). Hier soll nicht infrage gestellt werden, dass diese Modifikationstypen sinnvolle Beschreibungskategorien sind. Was das Modifikationspotenzial unmittelbar von so angeht, gelange ich jedoch zur Auffassung, dass es in allen syntaktischen Umgebungen dieselbe Modifikationsbedeutung – eine intensitätsmodifizierende – besitzt. Dies soll durch die nachfolgenden Konstruktionsbeschreibungen verdeutlicht werden. Schauen wir zunächst auf den Adjektivkontext, dann auf den verbalen und zuletzt auf den nominalen. (35a) Vista (wäre nicht) ([NP] o. [S]) KOMPARANDUM] sein Ruf [NP] o. [S] [VGL-K.Basis]
so [so] [VGL-Auslöser]
schlecht [A] [VGL-Aspekt]
wie [wie] [VGL-ÄQU]
Die beiden Zeilen unter dem wiederholten Beleg (35) geben eine formale (mittlere Zeile) und eine semantische (untere Zeile) Beschreibung der prototypischen Vergleichskonstruktion in der Adjektivdomäne wider. Die formale Repräsentation sieht so und wie als feste Konstruktionsbestandteile vor, ein Adjektiv zur Spezifizierung des Vergleichsaspekts (s. u.) und eine Nominalphrase (wie im Beleg), wobei diese Stelle in der Konstruktion auch durch Sätze realisiert werden kann (z. B. Vista wäre nicht so schlecht, wie alle behaupten). Das Subjekt des Satzes, welches ebenfalls nominal, aber auch satzförmig ergänzt werden kann, wurde in Klammern
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gesetzt, weil sich die so-wie-Vergleichskonstruktion streng genommen nicht über den Ausdruck erstreckt, über welchen der gesamte Satz prädiziert. Das Subjekt der Vergleichskonstruktion unterzuordnen, deren Kopf syntaktisch der Adjektivkopf sein muss, widerspricht auch der Annahme, dass es sich um einen Vergleich in der Adjektivdomäne handelt. Die gewählten Kürzel in der untersten Zeile stehen für die einzelnen Begrifflichkeiten zur semantischen Auflösung der Struktur und orientieren sich dabei an der in Thurmair (2001: 1) eingeführten Terminologie: Das Komparandum ist dasjenige Element, welches verglichen wird (dies geschieht im angegebenen Beispiel über die durch das Kopulaverb sein realisierte Prädikation). Der Vergleichsauslöser so erscheint in dem gegebenen Beispiel nahezu obligatorisch. Ein Weglassen ist aber nicht per se ungrammatisch: Vista ist schlecht wie sein Ruf ist unproblematisch, der Vergleichsauslöser – besser: Vergleichsmarker – bewirkt lediglich, dass „der Verweis auf die zum Vergleich heranzuziehenden Eigenschaften expliziter ist“ (Thurmair 2001: 168). Interessanterweise wird in den alternativen Konstruktionen (s. u.) regelmäßig der Vergleichsaspekt ausgelassen; ebenso kann das Gefüge aus Äquivalenzsetzung („VGL-ÄQU“) und Komparationsbasis („VGL-K.Basis“) wegfallen. Die Interpretation der Konstruktion ist also in mehrerlei Hinsicht variabel. Der Vergleichsaspekt stellt die Größe dar, über die Komparandum und die Komparationsbasis („VGL-K.Basis“ in der dargestellten Analyse; auch: „Komparans“) verglichen werden (auch: „Tertium Komparationis“). „VGL-ÄQU“ in der Analyse unter dem wiederholten Beleg (35) steht für „Äquivalenzsetzung“. Thurmair (2001) gelingt es vortrefflich, im Wesentlichen mit dieser Terminologie sehr umfassend die im Deutschen existierenden Vergleichskonstruktionen zu fassen. Hierbei berücksichtigt sie auch die pränominale [so + Ø + N]-, die [so’n + N]- sowie die [solch + N]-Konstruktion. Den entsprechenden Einordnungen ist im Wesentlichen zuzustimmen. Im vorliegenden Beitrag erfolgt(e) zusätzlich eine detailliertere syntaktische Einordnung des pränominalen so sowie eine detailliertere Beschreibung der Alternation zwischen den Varianten, die der in Thurmair (2001) und anderweitig existierenden Annahme widerspricht, die Varianten [so + Ø + N], [so’n + N] sowie [solch + N] seien als freie oder stilistisch bedingte Varianten einzuordnen. Vergleiche mit so… wie… in der Verbaldomäne lassen sich weniger intuitiv erschließen als der Prototyp mit adjektivischem Vergleichsaspekt, vor allem weil der Skopus des Komparandums intuitiv schwer zu bemessen ist. In (36a) ist allerdings die gesamte Verbalstruktur des Trägersatzes inklusive Subjekt zum Komparandum zu zählen. (36a) der neue funktioniert so wie er soll ( [NP] o. [S] ) [so] ([A]) [wie] [NP] o. [S] [KOMPARANDUM] [VGL-Auslöser] [VGL-Aspekt] [VGL-ÄQU] [VGL-K.Basis]
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Bei so-Vergleichen in der Verbaldomäne ist der Vergleichsaspekt häufig ausgespart, kann aber immer expliziert werden – in (36) z. B. durch gut, reibungslos, einwandfrei, …; es muss in jedem Fall ein Adjektiv sein, und so ist bei einer Auslassung des Vergleichsaspekts auch zu erwarten, dass von der Rezipientin oder dem Rezipienten Merkmale (also sprachlich-formal Adjektive) ergänzt werden. Vorne im Satz ist dieselbe Klammer zu erkennen wie im vorangegangenen Beispiel, was verdeutlichen soll, dass auch hier die eigentliche Vergleichskonstruktion nicht das Prädikat und das Subjekt umfasst. Um zu wissen, welche Elemente an der Subjekt- und Prädikatsposition stehen können, benötigt man keinerlei Wissen über die Vergleichsstruktur, die sich, sofern adjektivisch komplettiert, wieder vom Adjektiv als hierarchisch höchstem Kopf über den Adjektivgraduierer so und die Vergleichsgröße (den Äquivalenzoperator wie sowie die nominale oder sententiale Komparationsbasis) erstreckt. Somit entspricht die Vergleichskonstruktion in der Verbaldomäne absolut der Konstruktion in der sog. Adjektivdomäne. Die Zusammenhänge müssen folgendermaßen ausgedrückt werden: Die Vergleichskonstruktion ist immer adjektivisch, wobei der Adjektivkopf elidiert werden kann, allerdings zum Verständnis der Gesamtstruktur ergänzt werden muss. Die Vergleichskonstruktion als Ganzes kann mit exakt derselben Konstruktionsstruktur schlichtweg in verschiedene Satzkontexte eingebettet werden, so auch in eine pränominale Position. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass die Einbettung der Vergleichskonstruktion in die Nominaldomäne eine ähnliche Informationsverdichtung nach sich zieht wie viele andere Nominalstrukturen, die die sprachliche Komplexität enorm erhöhen. Vgl. hierzu zunächst die Subjekt-NP in der wahrscheinlich höchste Turm auf dieser Erde steht in Dubai. Semantisch entflechtet, wäre die Struktur mit etwas zu paraphrasieren wie Es existiert ein Turm, der wahrscheinlich der höchste auf dieser Erde ist, und dieser steht in Dubai. Die Struktur in (37) – so Gestalten wie Thiesen finde ich unerträglich – lässt sich auf eine ähnliche Weise entflechten und in exakt dasselbe Vergleichsmuster einordnen wie in den vorigen Fällen: (37a)
(Paraphrase der Vergleichsstruktur im Originalbeleg (37)) Wenn Gestalten (=Menschen) so (möglich wäre: nervig) ( [NP] o. [S] ) [so] ([A]) [KOMPARANDUM] [VGL-Auslöser] [VGL-Aspekt] wie Thiesen sind, finde ich sie unerträglich [wie] [NP] o. [S] [VGL-ÄQU] [VGL-K.Basis]
Übertragen auf die verdichtete Struktur, ergibt sich folgende Oberflächenkonstruktion des pränominalen so:
Das pränominale so und seine lexikalischen Varianten
(37b)
so [so] [VGL-Auslöser] Thiesen [NP] o. [S] [VGL-K.Basis]
Gestalten ([A]) [N] [VGL-Aspekt] [KOMPARANDUM] finde ich unerträglich.
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wie [wie] [VGL-ÄQU]
Auch bzw. gerade hier sieht man die Notwendigkeit, die syntaktische Trägerstruktur, in der die Vergleichskonstruktion eingebettet ist, aus der eigentlichen Vergleichskonstruktion herauszunehmen. So ist das Konstruktionsverständnis auch in Fällen einer anaphorischen Verweisrichtung von so problemlos möglich. Vergleiche hierzu das Beispiel (38). (38)
[Ich war auch eine Zeitlang die böse Rabenmutter!]P1 Ich fürchte, so (schreckliche) Phasen (wie) [so] ([A]) [N] [VGL-Auslöser] [VGL-Aspekt] [KOMPARANDUM] (wie) (diese)KOREF-P1 ([wie]) [NP] o. [S] [VGL-ÄQU] [VGL-K.Basis] muss man durchmachen. (DECOW16A, https://bit.ly/3e5enmE )
Belege dafür, dass die Komparationsbasis auch in der adnominalen Struktur adsentential sein kann, finden sich viele. Vergleiche z. B. (39). (39) Und zwar nicht so Sachen wie daß man auf einer Laute/Trommel spielen kann... (DECOW: https://bit.ly/3SRcbhx ) Die Tatsache, dass, wie eingehend beobachtet, das pränominale so mit starker Tendenz kataphorisch vorkommt, die Variante solch jedoch anaphorisch verwendet wird, spricht dafür, dass solch typischerweise mit keiner Vergleichskonstruktion wie so einhergeht, sondern wie bspw. die deiktische Alternative dieser einfach direkt den Koreferenzbezug mit dem entsprechend aktiven Antezedens herstellt. (Im Fall des pränominalen so muss der Koreferenzausdruck an der Position der Komparationsbasis overt stehen oder von der Rezipientin bzw. dem Rezipienten entsprechend vervollständigt werden.) Die entsprechende Konstruktion lässt sich wie in (38b) (abgewandelte Variante) modellieren.
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(38b) [Ich war auch eine Zeitlang die böse Rabenmutter!]P1 Ich fürchte, solche/diese Phasen muss man durchmachen [Demonstrativartikel]koref-p1 [N] [ Koreferenzausdruck ]
6 Zusammenfassung und Fazit In diesem Beitrag wurde die pränominale Verwendung von so wie in so Wohnwägen gemäß Beleg (1) im einführenden Abschnitt 1 unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet: Zunächst wurde gezeigt, dass die Konstruktion in medial mündlicher und schriftlicher Sprache auftritt (Abschnitt 1), dann wurde herausgearbeitet, dass für die Verwendung dieser Konstruktion dieselben flexionsmorphologischen und semantischen Beschränkungen gelten wie für Nomina ohne Determinierer und dass das pränominale so nicht als Determinierer, sondern als eine der eigentlichen Determiniererposition vorangestellte Einheit beschrieben werden kann, auch wenn diese Position nicht besetzt ist (Abschnitt 2). Anschließend wurden anhand verschiedener semantisch-informationsstruktureller Merkmale vier voneinander unterscheidbare Lesarten des pränominalen so herausgearbeitet (Abschnitt 3). Das pränominale so ist teils durch das flektierbare solch, die voll flektierbare Verbindung so’n sowie durch die nur singularisch auftretende Verbindung so ein ersetzbar und scheint zunächst für viele Verwendungen semantisch vergleichbar zu sein. Vor diesem Hintergrund wurden in Abschnitt 4 gebrauchsbasierte Differenzen zwischen diesen Formen geprüft. Es wurde ermittelt, dass die Verwendung der einzelnen Formen in Abhängigkeit von grammatischen und außergrammatischen Merkmalen relativ vorhersagbar ist: Der optimale Kontext für das pränominale so ist ein konzeptionell mündliches Register, ein bare-noun- oder Pluralkontext und ein kataphorischer Bezug zu einer wie-Konstruktion, durch die ein Diskursreferent neu eingeführt wird (vgl. z. B. Meine ältere Schwester hat mit uns immer so Scherze gemacht wie … als eine prototypische Verwendung). In Abschnitt 5 wurde schließlich ein Ansatz erarbeitet, die Vorkommen des pränominalen so, des präadjektivischen so und des adverbialen so funktional einheitlich zu beschreiben und somit eine Motivation für die Grammatikalisierung des pränominalen so zu liefern. Auch wenn im vorliegenden Beitrag keine sprachhistorischen Daten besprochen wurden, sondern rein synchron argumentiert wurde, ist historisch offensichtlich, dass die Varianten so und solch historisch eng verwandt sind und gerade die Betrachtung der Wandelprozesse dieser Formen in verschiedenen syntaktischen Umgebungen und im Zusammenspiel mit und ohne weiterem indefiniten Artikel-
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bestandteil sehr aufschlussreich sind. So wäre bspw. auch zu diskutieren, inwieweit die hier vorgestellten Analysen zu Beiträgen wie Ágel (2010) passt, in dem die Ursachen für das Verschwinden von so als Relativpartikel gegenüber der einst konkurrierenden Variante wo beleuchtet werden. In diversen Randbemerkungen (so auch bei Thurmair 2001: 168) zur Alternation von so und solch wird vorausgesetzt, so sei eine umgangssprachliche Variante zur Vollform solch. Sowohl die empirischen Daten dieser Untersuchung im vorangegangenen Abschnitt 4 als auch die theoretischen Einordnungen in diesem Beitrag führen zu der alternativen Annahme, dass sich mit dem pränominalen Gebrauch von so eine Variante grammatikalisiert hat, die funktional differenzierend verwendet wird und nicht nur eine stilistische Alternation darstellt. Mehr noch: so und solch unterscheiden sich semantisch grundlegend dahingehend, dass lediglich das flektierte solch pronominal und somit als koreferenter Ausdruck verwendet werden kann (solche habe ich schon lange nicht gesehen, aber ✶so habe ich schon lange nicht gesehen). Wie in Abschnitt 2 dargelegt wurde, kann so die Position des Determinativkopfes bzw. Artikels nicht einnehmen, was das stark flektierte solch typischerweise tut. Dass beide Ausdrücke zusammen mit Nomen koreferent mit Antezedenzien sein können, liegt an verschiedenen Merkmalen: so geht eine Vergleichskonstruktion mit overtem oder covertem Äquivalenzaspekt und zumeist coverter Komparationsbasis ein, über die die Verknüpfung mit dem Antezedens mittelbar erfolgt, solch geht mit dem Bezugsnomen unmittelbar eine Koreferenzrelation zum Antezedens ein. Dies erklärt auch, warum solch in erster Linie anaphorisch und das pränominale so in erster Linie kataphorisch wirkt.
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Daten zum Beitrag Die verwendeten Daten des Interviewkorpus (im ANNIS-Format) sowie das für den Zweistichproben-t-Test verwendete R-Script können unter der Webadresse https://hu.berlin/so-als-determinierer heruntergeladen werden.
Onlineressourcen ANNIS-Korpussuchinterface der Humboldt-Universität zu Berlin, mit einer Instanz des für diesen Beitrag erhobenen Interviewkorpus sowie des BeMaTaC-Korpus: https://corpus-tools.org/annis/ BeMaTaC-Korpus: https://hu.berlin/bematac
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Elena Smirnova
Satzklammer im Deutschen: eine Konstruktion? 1 Einleitung Die Satzklammerkonstruktion (auch Verbalrahmenkonstruktion, Satzklammer, verbale Klammer oder Satzrahmen genannt) gilt als ein grundlegendes Strukturierungsmittel des deutschen Satzes. Abhängig vom Satztyp und von der Struktur des Prädikats können verschiedene sprachliche Elemente an der Bildung der Klammer beteiligt sein. So erscheint im Hauptsatz das finite Verb als zweitplatzierte Konstituente (=V2) und bildet somit die sogenannte linke Satzklammer. Die nicht-finiten Teile des Prädikats, wie z. B. trennbare Verbpartikeln (1b), Partizipien (1a), Infinitive (1c) oder beides (1d), erscheinen in der satzfinalen Position und bilden die sogenannte rechte Satzklammer. Auf diese Weise rahmen die beiden Teile des Verbalprädikats den Rest des Satzes ein. (1) a. b. c. d.
Der Vogel hat den Wurm aufgefressen. Der Vogel frisst den Wurm auf. Der Vogel will den Wurm auffressen. Der Vogel soll den Wurm aufgefressen haben.
Im klassischen topologischen Modell des deutschen Satzes (Stellungsfeldermodell, vgl. Drach 1937, Höhle 1986, Wöllstein-Leisten 2010, Ágel 2017) unterteilt die Satzklammerkonstruktion den Rest des Satzes in mehrere topologische Felder, wie in Tabelle 1 vereinfacht dargestellt. Die Position vor der linken Klammer wird als Vorfeld bezeichnet, die Position nach der rechten Klammer ist das Nachfeld und die Position zwischen den Klammern ist das Mittelfeld. Tabelle 1: Das topologische Modell des deutschen (Haupt)satzes.
a b c
vorfeld
linke satzklammer
mittelfeld
rechte satzklammer
Der Vogel Der Vogel Gestern
hat will hat
den Wurm den Wurm der Vogel dem Wurm
aufgefressen. auffressen aufgefressen
nachfeld
ohne zu zögern
Bekanntlich besteht in Bezug auf die Stellung des Finitums eine Asymmetrie zwischen Hauptsätzen und Nebensätzen. Generative Ansätze gehen im Allgemeinen https://doi.org/10.1515/9783111334042-007
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davon aus, dass die Basiswortstellung im Deutschen verbfinal ist, was der kanonischen Wortstellung des Nebensatzes entspricht, und dass die Wortstellung im Hauptsatz davon abgeleitet ist (vgl. Grewendorf 1998, 2002). Das Erscheinen des finiten Verbs in der zweiten Position des Hauptsatzes wird als Ergebnis einer Bewegungsoperation gesehen, bei der das finite Verb in die linke Peripherie des Satzes verschoben wird. Da in der Regel nur eine nonverbale Konstituente vor dem finiten Verb, d. h. im Vorfeld, stehen darf, ist das Deutsche in Bezug auf die Wortstellung in Hauptsätzen eine V2-Sprache.1 Diese syntaktischen Regularitäten bestehen höchstwahrscheinlich seit den frühesten Stadien des Deutschen (vgl. Axel 2007). Was die Satzklammerkonstruktion anbelangt, so ist sie bereits in der althochdeutschen Zeit nachgewiesen, etablierte sich allerdings zu einer festen Regel erst im 18. Jahrhundert: „Zwar wird die Zunahme der Klammerbildung bereits fürs Frnhd. angenommen, doch ist der typisch deutsche Satzklammerstil erst im 17./18. Jh. auf seinen Höhepunkt gelangt“ (Ágel 2000: 1874). Es existieren zahlreiche Studien zu dem Phänomen der Extraposition, d. h. dem Auftreten nicht-satzwertiger Konstituenten im Nachfeld bzw. rechts von der rechten Satzklammer (vgl. z. B. Beneš 1968, Admoni 1972, Ebert 1980, Wills 1985, Sapp 2011, 2014; Hinterhölzl 2010, Ágel 2017). Beobachtete Varianz in der Auftretenshäufigkeit, nämlich die sinkende Anzahl von Extrapositionen, und in Bezug auf den syntaktischen Status von extraponierten Konstituenten, nämlich die wachsende Präferenz für die Extraposition von Nicht-Komplementen, werden hierbei als Beleg für die Grammatikalisierung und Konventionalisierung der Klammerkonstruktion selbst interpretiert. Dass sich die bisherige generative Forschungstradition dabei überwiegend auf den Nebensatz konzentriert, hat mehrere Gründe. Aus theoretischer Sicht begründet das die oben erwähnte starke Annahme der grundlegenden Verbfinalstellung: Da die Hauptsatzverbstellung eine abgeleitete Variante darstellt, wird die Aufmerksamkeit zentral der Basiswortstellung geschenkt. Aus praktischer Sicht spielt sicherlich auch die empirische Tatsache eine Rolle, dass alle Verben, einschließlich des finiten Verbs, in der finalen Position des Nebensatzes erscheinen und so die Extraposition leicht identifiziert werden kann. So wird ein Hauptsatz mit einem einfachen Prädikat wie betrachten wie in (2a) immer mehrdeutig sein im Hinblick auf die (virtuelle) Position der rechten Satzklammer und damit auch im Hinblick auf eine mögliche Extraposition. In einem Nebensatz wie (2c) hingegen kann die Extraposition von Konstituenten leichter von Fällen ohne Extraposition wie (2b) unterschieden werden. Es liegt daher auf der Hand, dass es
1 Das Vorfeld kann unter Umständen auch mehr als nur eine Konstituente bzw. Phrase beherbergen, vgl. vor allem Müller 2003, 2005 in Bezug auf das Phänomen der sogenannten mehrfachen Vorfeldbesetzung.
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sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Erwägungen sicherer ist, die Extraposition im Nebensatz empirisch zu untersuchen, bei dem alle verbalen Teile in der Endstellung auftreten (sollen). (2) a. Der Vogel betrachtete den Wurm durch die Lupe. b. ... dass der Vogel den Wurm durch die Lupe betrachtete. c. ... dass der Vogel den Wurm betrachtete durch die Lupe. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf den deutschen Hauptsatz. Es geht hier vor allem um die Frage, ob die Satzklammer des Deutschen als eine eigenständige Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik betrachtet werden kann. Die bisherige Forschung liefert bereits eine beträchtliche Menge wertvoller Daten und Interpretationen. Allerdings wirft der Status der Satzklammer immer noch sehr viele Fragen auf, die unbeantwortet bleiben, vgl. z. B.: Trotz der zahlreichen Einzeluntersuchungen zur Satzklammer haben wir immer noch kein klares, empirisch und methodologisch abgesichertes Bild von deren Geschichte. [...] Wohl kein anderer Bereich der Syntaxgeschichte würde so viel methodologische Sorgfalt erfordern wie die Untersuchung der Satzklammer. Und wohl kein anderer Bereich ist durch einen so niedrigen Grad der methodologischen Reflexion gekennzeichnet wie dieser. (Ágel 2000: 1873) Die Fragen nach Herkunft und Gründen der Durchsetzung des Satzrahmens [...] bleiben soweit ungeklärt. (Betten 1987: 134)
Dieser Beitrag macht einen ersten Schritt in Richtung der von Ágel (2000) geforderten „methodologische[n] Sorgfalt“ und trägt in einer systematischen und reflektierten Art und Weise die Ergebnisse von drei eigenen Korpusstudien zusammen, die sich jeweils mit einem anderen Konstruktionstyp in jeweils einem anderen diachronen Zeitraum befassen. Ein allgemeineres Ziel des Beitrags ist, die Diskussion über den kognitiven Status syntaktischer Phänomene anzustoßen, die sich einer konstruktionstheoretischen Modellierung oft entziehen. Einerseits treten sie in vielen verschiedenen Formen auf, was es schwierig macht, ihre formalen und strukturellen Merkmale zu bestimmen. Andererseits scheinen sie keinen speziellen semantischen und/oder funktionalen Wert zu haben.
2 Satzklammer: eine Konstruktion? Die deutsche Satzklammer wurde bisher überwiegend im Rahmen von zwei theoretischen Ansätzen beschrieben: der generativen Syntax einerseits und dem topologischen Modell (Stellungsfeldermodell) andererseits. Im topologischen Modell
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Elena Smirnova
wird die Existenz der Satzklammer nahezu axiomatisch angenommen, und die Satzklammer bildet die Basis für weitere theoretische Konzepte wie Vorfeld, Mittelfeld und Nachfeld (siehe Tabelle 1 weiter oben). Im generativen Ansatz wird die Klammer dagegen als Epiphänomen betrachtet. Normalerweise wird hier die Ebene der CP genutzt, um die Ableitung der V2-Wortstellung aus der grundlegenden OV-Wortstellung zu modellieren (vgl. z. B. Grewendorf 2002). Der funktionale Kopf von CP, die höchste Ebene des Satzes, die sich in der linken Anfangsposition befindet, wird in Nebensätzen von Subjunktionen und in Matrix- oder Hauptsätzen von finiten Verben eingenommen. Auf diese Weise entspricht die Position von C in der Phrasenstruktur in etwa der linken Satzklammer in der topologischen Struktur; und die satzfinale Position von V in der Phrasenstruktur entspricht der rechten Satzklammer im topologischen Modell. An dieser Stelle ist wichtig hervorzuheben, dass beide Ansätze die Klammer als zentrales Organisationsprinzip des deutschen Satzes akzeptieren. In diesem Sinne wird der Satzklammerkonstruktion meist eine rein strukturierende Funktion ohne einen konzeptuellen bzw. semantischen Wert zugeschrieben, vgl. z. B.: [B]estimmte Bestandteile eines Satzes [werden] so von zwei Grenzsignalen umschlossen, dass der Hörer/Leser aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, dass der betreffende Bestandteil erst beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint. (Ronneberger-Sibold 2010: 87)
Die so abstrakt gefasste grenzsignalisierende Funktion der Klammerkonstruktion kann auf diverse sprachliche Strukturen angewendet werden. Im verbalen Bereich führt dies häufig dazu, dass viele nicht-kanonische Klammerkonstruktionen wie z. B. Kopulakonstruktionen mit ihren unterschiedlichen Prädikativelementen als klammerbildend angesehen werden. So wird auch für die Nominalphrase des Deutschen eine Klammerkonstruktion, die sogenannte Nominalklammer, angenommen (vgl. Ronneberger-Sibold 2010). Dies zeigt, dass die Funktion als „Grenzsignal“ zu abstrakt und zu wenig restriktiv ist, um produktiv auf sprachliche Strukturen übertragen zu werden. Für den gebrauchsbasierten kognitiv-funktionalen Ansatz ist diese sehr generelle Auffassung von Form und Funktion der Klammer unbefriedigend. Denn die Fragen, die sich in einer kognitiven und/oder konstruktivistischen gebrauchsbasierten Perspektive stellen, sind anders gelagert. Was ist die Semantik/Funktion und die kognitive Motivation der Satzklammerkonstruktion(en)? Und: Warum werden bislang so viele Klammerkonstruktionen auf die gleiche Art und Weise erfasst, wenn sie doch durch so unterschiedliche sprachliche Elemente konstituiert werden? Bittner (2010) argumentiert zum Beispiel explizit gegen die Ansicht, dass die Klammer eine rein strukturelle Funktion der Grenzsignalisierung hat. Stattdessen schlägt sie vor, die Satzklammerstruktur als ein Nebenprodukt der sprachspezifi-
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schen Realisierung zweier teilweise widersprüchlicher Maximen der Informationsstruktur zu sehen: die Markierung der Assertion durch die V2-Wortstellung einerseits und die Thema-Rhema-Struktur durch die OV-Wortstellung andererseits. Bittner (2010) nimmt an, dass die Satzklammer für sich genommen keine Funktion trägt: Die Klammerstruktur des Deutschen muss daher als Epiphänomen der syntaktischen Realisierung informationsstruktureller Maximen eingeordnet werden. Sie erfüllt keine eigenständige Funktion. Man kann lediglich annehmen, dass diese Strukturfestlegungen nach ihrem Erwerb mit bestimmten Präsuppositionen, d. h. Erwartungen hinsichtlich der syntaktischen Struktur von Äußerungen verbunden werden. (Bittner 2010: 243)
Becker (2016) vertritt eine ähnliche Position und räumt der Satzklammer im Deutschen keine eigenständige Funktion ein. Eine informationsstrukturelle Erklärung wie in Bittner (2010) lehnt er dagegen aufgrund ihres universellen Charakters ab: Eine solche Erklärung könne nicht der Tatsache Rechnung tragen, dass andere Sprachen, die durchaus den gleichen informationsstrukturellen Prinzipien folgen, keine Satzklammer entwickelt haben. Stattdessen schlägt er vor, die Klammer als ein Zusammenwirken von zwei rein formalen Eigenschaften des Deutschen zu sehen: Funktionale Köpfe stehen links, während lexikalische Köpfe rechts erscheinen. Daraus ergebe sich, dass finite und infinite Verben an unterschiedlichen Stellen im Satz auftauchen, aber auch, dass die Verbpartikeln am rechten Rand des Satzes auftreten. Diese Auffassung ist allerdings nicht ohne Probleme. So kann zum Beispiel die Position der postnominalen Attribute damit nicht korrekt erfasst werden. Und in Bezug auf die komplexen Prädikate wie bspw. schwimmen gehen stellt sich zusätzlich die Frage, wie der Unterschied zwischen funktionalen und lexikalischen Köpfen zu ziehen wäre. Eine radikale Richtung wird von Pafel (2009) vertreten. Er schlägt in seinem Aufsatz „Zur linearen Syntax des deutschen Satzes“ ein Modell vor, das gänzlich ohne die Annahme einer Satzklammer auskommt. Sein topologisches Modell weist in vielen Hinsichten die Nähe zu konstruktionsgrammatischen Ansätzen auf, unter anderem dadurch, dass die zentralen Wortstellungsregularitäten des Deutschen im Sinne der topologischen Schemata mit offenen Slots begriffen werden. Zur Klammer sagt er: „Die Annahme eines topologischen Slots „linke Satzklammer“ hat sich nicht bewährt […]. Damit ist nun auch die Idee der Satzklammer topologisch nicht zu rechtfertigen“ (Pafel 2009: 47). In diesem Beitrag wird für eine differenziertere Sicht plädiert. Aus gebrauchs- und konstruktionstheoretischer Perspektive wird die Hypothese aufgestellt, es handle sich nicht um eine Satzklammerkonstruktion, sondern um eine Generalisierung über mehrere Konstruktionen bzw. Konstruktionstypen, die selbst keinen Konstruktionsstatus hat. Die dieser Regel oder Generalisierung folgenden Konstruktionstypen unterscheiden sich voneinander zum Teil sehr stark in Bezug auf ihre forma-
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len und funktional-semantischen Eigenschaften sowie in Bezug auf ihre diachrone Entwicklung. Sie ähneln sich aber auch in einer sehr abstrakten Funktion, den verbalen Kern des Satzes zu konstituieren. Dieser – zugegebenermaßen noch sehr abstrakt formulierten – Hypothese wird im vorliegenden Beitrag genauer nachgegangen. Besonderes Augenmerk wird dabei einerseits auf unterschiedliche Konstruktionstypen gelegt, die für sich allein jeweils problemlos konstruktionsgrammatisch als Form-Bedeutungs-Paare aufgefasst werden können, andererseits auf die Wortstellungsregularitäten dieser Konstruktionen – eben die Tendenz zur Klammer –, welche sich aber nicht oder zumindest nicht direkt aus den Eigenschaften dieser Konstruktionstypen selbst ergeben. Die Idee der Existenz verschiedener Konstruktionstypen ist nicht völlig neu. Zu den formalen Realisierungen der Klammerkonstruktion, d. h. [V2FIN_V] im Hauptsatz und [COMP_V] im Nebensatz, gab es in der Literatur immer wieder kritische Stimmen, insbesondere im Hinblick auf die Diachronie, vgl. z. B.: [...] die zwei Unterarten der Satzklammer [haben sich] nicht ganz gleich entwickelt. (Ebert 1986: 105) Der vollständige Rahmen im Hauptsatz scheint auf allen Etappen des Neuhochdeutschen weniger folgerichtig durchgeführt zu sein als die Endstellung des Verbs im Nebensatz. (Ebert 1986: 112)
So stellt Robinson (1997) bei der Untersuchung des althochdeutschen Isidor fest, dass 32,3% der Hauptsätze und 28,8% der Nebensätze eine Extraposition aufweisen. Näf (1979) kommt in seiner Untersuchung der Texte Notkers zu einem ähnlichen Ergebnis. Nach Fleischer & Schallert (2011: 160) kommt Extraposition im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen in 43–47% der Hauptsätze und 26–34% der Nebensätze vor. Diese quantitativen Unterschiede deuten bereits daraufhin, dass die Satzklammer in verschiedenen Satztypen nicht die gleichen Regelmäßigkeiten aufweist. Näher betrachtet werden in diesem Beitrag die „klammernden“ Konstruktionen im Hauptsatz, nämlich die analytischen und komplexen Verbformen (Abschnitt 3.1), die verbonominalen Konstruktionen bzw. Funktionsverbgefüge (Abschnitt 3.2) und die komplexen Prädikate mit partikelähnlichen Elementen (Abschnitt 3.3).
3 Korpusstudien Um die im vorigen Abschnitt dargelegte Idee zum Vorhandensein einer Konstruktionsfamilie zu untermauern, ist eine umfassende empirische Untersuchung der syntaktischen Strukturen notwendig, die verschiedene Parameter wie etwa
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einzelne historische Perioden, Dialektgebiete, Textsorten, Autoren, soziolinguistische Faktoren und vieles mehr berücksichtigen müsste. Im vorliegenden Beitrag werden drei Studien präsentiert, die einige dieser Parameter herausgreifen und näher betrachten.
3.1 Komplexe Verbformen Als typische Realisierungsform der Satzklammerkonstruktion gelten analytische Verbformen. Es ist allgemein bekannt, dass sich einige Verbalperiphrasen seit den frühesten bezeugten Stadien des Deutschen grammatikalisiert haben, darunter die Perfektkonstruktionen mit haben und sein, die Passivkonstruktionen mit werden und sein, später auch die Futurkonstruktion mit werden sowie die analytische Konjunktivkonstruktion mit würde. Die Grammatikalisierung verbaler Periphrasen in wird diesem Zusammenhang als eine notwendige Bedingung für die Etablierung der Satzklammerkonstruktion erwähnt, vgl. z. B.: Für die Prosasyntax ist letztlich vor allem die Position der einzelnen verbalen Teile von Bedeutung, denn das für den deutschen Satzbau typische Phänomen der Satzklammer wird erst durch das Vorhandensein analytischer Verbformen ermöglicht. (Betten 1987: 102)
Sollten die analytischen Verbformen tatsächlich eine zentrale diachrone Motivation für die Satzklammer darstellen, wäre damit eine erste Annäherung an die Bestimmung der Klammerfunktion gegeben. Diese würde sich nämlich direkt aus der Funktion der analytischen Verbformen ergeben und bestünde darin, die grammatischen und die lexikalischen Informationen eines Prädikats an zwei unterschiedlichen Stellen im Satz zu markieren, die maximal voneinander entfernt sind: Während die grammatischen Informationen im Auxiliar und somit in der linkten Klammer kodiert werden, erscheinen die lexikalischen Informationen im Vollverb bzw. in der rechten Klammer. Was die Form angeht, so bleibt eine Frage offen. Dass die analytischen Verbformen aus mindestens zwei Elementen bestehen, ist eine triviale Tatsache. Dass diese Elemente einen Rahmen bilden, indem das eine am linken Rand des Satzes bzw. in der zweiten Position, und das andere am Ende des Satzes auftreten, ist allerdings eine Tatsache, die einer Erklärung bedarf. In anderen Worten: Warum erscheinen die Teile der analytischen Verbalform nicht in Kontaktstellung, sondern in Distanzstellung? Eine mögliche Motivation könnte die Diachronie der Perfektkonstruktion mit haben liefern. In der Grammatikalisierungsliteratur wird davon ausgegangen, dass das Perfekt aus der Reanalyse einer Struktur hervorgegangen ist, in der das adjektivische Partizip Perfekt sich auf das Objekt des Verbs haben bezog. Dies kann mit folgenden heute noch existierenden Strukturen veranschaulicht werden, wo das
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Partizip gekühlt eine solche sekundäre Prädikation (3a) oder ein Teil der Perfektform darstellt (3b). (3) Sie haben die Getränke gekühlt. a. Sie habenVV die Getränke gekühltAdj => [die Getränke gekühlt]NP b. Sie habenAUX die Getränke gekühltVV => [haben gekühlt]V Sollte die Grammatikalisierung der analytischen Verbalkonstruktionen die Etablierung der Satzklammerkonstruktion tatsächlich beeinflusst haben, so könnte angenommen werden, dass dies vor allem unter dem Einfluss der Perfektkonstruktion mit haben geschah. Diese Konstruktion hatte aufgrund ihrer syntaktischen Struktur wie in (3a) eine Distanzstellung, was für andere analytischen Formen mit sein oder werden, welche aus der Kopulakonstruktion hervorgegangen sind, nicht der Fall gewesen ist. So kommt also nur die Perfektkonstruktion als Vorbild für die Distanzstellung und später für die Entwicklung der Satzklammer auch bei anderen analytischen Verbformen in Frage. Smirnova (2021) ist dieser Hypothese in einer Korpusuntersuchung der Daten aus dem Frühneuhochdeutschen nachgegangen (Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch ReF.UP; Demske 2019).2 Für die Analyse wurden alle finiten Formen der Hilfsverben haben und sein sowie des Modalverbs wollen extrahiert, die mit einem weiteren Verb im Satz potentiell in Klammerstellung erscheinen können. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die untersuchten Daten. Die Grammatikalisierung der Perfektkonstruktion mit haben war bereits im Althochdeutschen recht weit fortgeschritten, und das Hilfsverb sein grammatikalisierte sich erst später als Perfektauxiliar (vgl. Gillmann 2016). Modalverben sind im Vergleich zu den Auxiliaren haben und sein noch schwächer grammatikalisiert; sie haben ihre lexikalischen Merkmale stärker beibehalten. Wenn die Klammer tatsächlich ihren wesentlichen Ursprung in der haben-Konstruktion hat, sollte sich Folgendes in den Daten zeigen: Die analytischen Verbalformen mit haben sollten die am stärksten ausgeprägte Satzklammer zeigen, diejenigen mit sein weniger ausgeprägt, und diejenigen mit Modalverben am schwächsten. Dies lässt sich durch die Extrapositionsrate operationalisieren. Es wäre also zu erwarten, dass die Extrapositionsrate in Kontexten mit dem Modalverb wollen am höchsten ist, in Kontexten mit dem grammatikalisierten Hilfsverb sein niedriger und in Kontexten mit dem stark grammatikalisierten Perfekauxiliar haben am geringsten. Tabelle 3 zeigt die quantitativen Ergebnisse in Bezug auf die Extraposition.
2 https://talar.sfb833.uni-tuebingen.de/erdora/cmdi/DATENZENTRUM/fnhd.UP und https://www.unipotsdam.de/de/guvdds/referenzkorpus-fruehneuhochdeutsch-baumbankup/korpusstruktur
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Tabelle 2: Datenset nach Dialekt- und Zeitraum (N = 4021). dialektraum
zeitraum 1350–1400 1400–1450 1450–1500 1500–1550 1550–1600 1600–1650
Ostmitteldeutsch (Omd.)
152
62
142
122
344
93
Ostoberdeutsch (Oobd.)
54
123
128
132
349
215
Westmitteldeutsch (Wmd.)
46
253
174
205
220
135
Westoberdeutsch (Wobd.)
230
216
123
106
94
303
Tabelle 3: Extrapositionsrate bei unterschiedlichen finiten Verben. Vfin_V
ohne Extraposition
mit Extraposition
haben sein wollen
1509 (82,8%) 810 (77,4%) 948 (82,3%)
312 (17,1%) 237 (22,6%) 205 (17,8%)
Wie man sieht, ist die Extrapositionsrate bei haben mit 17,1% zwar die niedrigste, doch sie unterscheidet sich kaum von derjenigen des Verbs wollen (17,8%). Das Auxiliar sein hat mit 22,6% die höchste Extrapositionsrate. Wenn die gleichen Daten auf die einzelnen Zeiträume aufgeteilt werden, ergibt sich das Bild in Abbildung 1. Wie Abbildung 1 zeigt, besteht eine generelle Tendenz zum Abbau der Extraposition, was die Idee stützt, dass die Klammer sich im Laufe der frühneuhochdeutschen Zeit immer stärker etabliert. Doch sieht man hier auch, dass haben nicht unbedingt dasjenige Verb ist, dass durchgehend niedrigere Extrapositionsraten aufweist; in den meisten Perioden ist das nämlich das Verb wollen. Sein ist das Verb mit den höchsten Extrapositionsraten, und das in fast allen Zeiträumen. Die Hypothese zum Einfluss des haben-Perfekts auf die Entwicklung der Klammerstellung wird also durch die analysierten Daten nicht gestützt. Es ist zwar so, dass das analytische Perfekt mit haben eine ausgeprägte Klammerstellung aufweist, und es könnte angenommen werden, dass das analytische Perfekt mit sein diesem Muster folgt (s. Abbildung 1). Doch der Vergleich mit dem Modalverb wollen zeigt, dass die Klammerstellung bei diesem Verb kaum von der Perfektkonstruktion mit haben beeinflusst sein könnte, denn wollen weist gleichzeitig mit haben die für die Klammer charakteristische Distanzstellung auf. Zusätzliche Evidenz gegen die
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0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 1350-1400 1400-1450 1450-1500 1500-1550 1550-1600 1600-1650 HABEN
SEIN
WOLLEN
Abbildung 1: Extrapositionsrate nach Zeiträumen.
Hypothese bilden die Verben mit trennbaren Verbpartikeln, die im Frühneuhochdeutschen eine ähnlich niedrige Extrapositionsrate aufweisen (Smirnova 2021).3 Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden, dass die analytischen Verbformen und die komplexen Prädikate mit Modalverben für sich genommen Konstruktionen im konstruktionsgrammatischen Sinne sind. Sie stellen Form-Bedeutungspaare dar, mit jeweils ihren eigenen formalen und semantischen Charakteristiken. Beide Konstruktionstypen, d. h. [VAUX_VVPART2] und [VMOD_VVINF], weisen aber auch gewisse strukturelle Parallelen zueinander auf, sodass sie auf einer höheren Ebene der Abstraktion im konstruktionalen Netzwerk zu einem abstrakteren Schema zusammengefasst werden könnten, nämlich [VFIN_VV], vgl. Abbildung 2. Dass die einzelnen Konstruktionstypen die gleichen Stellungsregularitäten aufweisen, nämlich die Klammerstellung der verbalen Teile, könnte als eine strukturelle Eigenschaft modelliert werden, die vom abstrakten Schema aus auf alle weiteren untenstehenden Knoten vererbt wird. Auch wenn die genauen Gründe für diese Distanz- oder Klammerstellung noch nicht vollständig geklärt sind, kann sie aus synchroner Sicht durchaus als ein gemeinsames Merkmal der komplexen Verbformen festgehalten werden, die untereinander in einem konstruktionalen Netzwerk verbunden sind.
3 An dieser Stelle kann noch hinzugefügt werden, dass eine umfassende qualitative und quantitative Analyse eines Textes aus dem Frühneuhochdeutschen (Karrenritter, Westmitteldeutsch, 1400–1450) ergab, dass die Verbalkomplexe mit Partikelverben eine Extrapositionsrate von 18% aufweisen und dabei den Verballkomplexen mit Modalverben (18,5%) nahestehen.
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[VFIN_VV]
[haben_VV
]
[VAUX_VV
]
[VMOD_VVINF]
[sein_VV
]
[wollen_VVINF]
[sollen_VVINF]
Abbildung 2: Komplexe Prädikate im konstruktionalen Netzwerk, eine mögliche Darstellung.
Dennoch ist es wichtig zu erwähnen, dass die Klammerstellung nicht, wie die oben präsentierten Daten zeigen, auf die Eigenschaft einer Konstruktion zurückgeführt werden kann. Diese Regularität scheint seit den frühesten Perioden des Deutschen unabhängig von den einzelnen verbalen Konstruktionen zu bestehen. Weiter unten und anhand weiterer Konstruktionstypen wird daher dagegen argumentiert, ein konstruktionales Schema wie in Abbildung 2 mit solch abstrakten Eigenschaften wie Stellungsregularität im Satz anzunehmen. Stattdessen wird vorgeschlagen, von einer eher lose organisierten Konstruktionsfamilie von Verbalkonstruktionen auszugehen.
3.2 Verbonominale Konstruktionen In diesem Abschnitt wir ein Konstruktionstyp diskutiert, der zwar mit den verbalen Konstruktionen aus dem letzten Abschnitt gewisse Ähnlichkeiten aufweist, doch einen eigenständigen Konstruktionstyp darstellt. Es handelt sich dabei um verbonominale Konstruktionen oder um sogenannte Funktionsverbgefüge. Smirnova & Stöber (2022) beschäftigen sich in einer Korpusstudie mit den Strukturen mit dem Verb kommen und der zu-Präpositionalphrase mit dem Ziel, deren Entwicklung in Bezug auf die Dichotomie Grammatikalisierung – Lexikalisierung einzuordnen. Die Studie basiert auf Korpusdaten aus dem DTA-Korpus4, die den Zeitraum zwischen 1600 und 1900 abdecken. Alle Sätze mit dem Verb kommen und einer Präpositionalphrase mit zu wurden aus dem Korpus extrahiert, was nicht nur Fälle von Funktionsverbgefügen, sondern alle Strukturen mit diesem syntaktischen Muster erfasste. Das gesamte Datenset besteht aus 26997 Belegen,
4 www.deutschestextarchiv.de oder https://www.dwds.de/d/korpora/dtak
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darunter Belege mit deverbalen Nominalisierungen auf -ung, wie in (4), die uns im Weiteren interessieren: (4) ... im östlichen Teile der Stadt, der als Frankenviertel immer mehr zur Geltung kam. [von Lehnert, 1891] Im Folgenden wird ein Teilkorpus mit ung-Nominalisierungen ausgewertet, um der Frage nach den Wortstellungsregularitäten in solchen Strukturen genauer nachzugehen. Aus dem Originaldatenset wurden dafür 3158 Belege mit der Struktur wie in (5) ausgewählt und kodiert hinsichtlich der Position der zu-Präpositionalphrase im Satz. Hierbei sind zwei Variablen relevant: rechts und andere. rechts bezeichnet die Position am rechten Rand des Satzes bzw. in der finalen Position eines Satzes. Das bedeutet für den Hauptsatz, dass die Präpositionalphrase die letzte Phrase des Satzes darstellt und keine weitere Konstituente auf sie folgt, wie in (5) und (6). Man könnte hierfür auch die Bezeichnung „rechte Satzklammer“ erwägen, doch diese terminologische Entscheidung birgt ihre Probleme. Zum einen wird in der Forschung noch diskutiert, ob die nominalen Teile von Funktionsverbgefügen tatsächlich in die rechte Satzklammer gehören. Zum anderen, was im vorliegenden Kontext noch wichtiger erscheint, sind nicht alle Korpusbelege der Klasse der Funktionsverbgefüge zuzuordnen, denn es finden sich darunter Strukturen, deren Status nicht eindeutig bestimmt werden kann, vgl. z. B. (6). Daher wird hier die theorieneutrale Bezeichnung rechts vorgezogen. (5) Erst gestern schüttelte ich mich und kam wieder zur Besinnung. [Börne, 1833] (6) Entschiedene Parteifragen sind noch gar nicht zur Beratung gekommen. [Zeitung, 1848] Abbildung 3 zeigt die relative Verteilung dieser Variable (rechts und andere) in den untersuchten Daten über die einzelnen Zeiträume. Wie aus Abbildung 3 ersichtlich, dominiert eindeutig die finale bzw. die rechte Stellung der Präpositionalphrase mit zu in den Daten (dunkelgrau); sie ist bereits im ersten Zeitraum 1600–1649 in mehr als 90% der Fälle nachgewiesen. Auffallend ist, dass die vier häufigsten Substantive mit 1341 Tokens mehr als ein Drittel aller Belege ausmachen. Es handelt sich dabei um die Nominalisierungen Anwendung, Geltung, Erscheinung und Verwendung. Für die Präpositionalphrasen mit diesen vier Substantiven ist die Stellung rechts besonders dominant, wie Tabelle 4 zeigt.
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1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 1600–1649 1650–1699 1700–1749 1750–1799 1800–1849 1850–1899 RECHTS
ANDERE
Abbildung 3: Satzinterne Position des Elements [zu_Nung]. Tabelle 4: Rechte Position des Elements [zu_Nung] bei vier häufigsten Substantiven. substantiv
gesamt
davon rechts
Anwendung Geltung Erscheinung Verwendung
654 386 161 140
641 (98%) 383 (99%) 158 (98%) 138 (98,6%)
Man sieht aber auch, dass die Daten eine gewisse Varianz aufweisen und dass im 18. Jahrhundert weniger Belege mit der Präpositionalphrase in der rechten Position zu finden sind, vgl. (7)–(10). (7)
Ich komme also zur Beschreibung selbst der versprochenen zweien MaulwurfsFallen. [Reichard, 1765]
(8)
§ 182. Wir kommen zur Fortpflanzung der Gewächse, deren mannigfaltige Arten sich im ganzen doch auf drei Hauptwege zurückbringen lassen [Blumenbach, 1788]
(9)
So kam die Sache endlich zur Beratschlagung am Reichstage, wo am 23. Oct. 1775. ein Reichsgutachten abgefasst wurde [Pütter, 1787]
(10) Solche Gesetze kommen zur Anwendung bei allen im Gebiete dieses Gesetzgebers befindlichen Sachen… [Savigny, 1849]
244
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Individuell können diese von der Mehrheit abweichenden Positionierungen relativ leicht motiviert werden: Zum einen liegt das an der Zusammensetzung des Korpus, nämlich an der erhöhten Präsenz von Wissenschafts- und Gebrauchstexten, die oft die Strukturen wie in (7) oder (8) aufweisen. Zum anderen können informationsstrukturelle Gründe dahinter vermutet werden. Darüber hinaus spielt der Umstand eine Rolle, ob die Struktur eine typische verbonominale Konstruktion aufweist oder nicht. Insgesamt ist die empirische Evidenz eindeutig: Die Präpositionalphrase mit zu in Konstruktionen mit kommen zeigt eine starke Tendenz für das Vorkommen am rechten Rand des Satzes. Je frequenter und konventionalisierter eine Konstruktion, wie Tabelle 4 zeigt, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Präpositionalphrase bzw. das nominale Element der Konstruktion rechts im Satz platziert wird. Doch auch bei weniger oder nicht-frequenten Strukturen stellt die finale Position der Präpositionalphrase die präferierte Stellungsvariante dar, wie aus Abbildung 3 ersichtlich. Diese Stellungsregularität könnte man nun dahingehend interpretieren, dass eine verbonominale Konstruktion ihre beiden Elemente – das finite (Funktions) verb einerseits und das nominale Element andererseits – nach dem Klammerprinzip anordnen. Während das finite Verb die übliche linke Position im Hauptsatz einnimmt, bildet das nominale Element die rechte Klammer. Wie lässt sich das im konstruktionalen Netzwerk implementieren? Eine Option wäre, die verbonominalen Konstruktionen und die analytischen Verbformen, die im letzten Abschnitt diskutiert wurden, als zwei verwandte Konstruktionstypen unter einem gemeinsamen abstrakten Schema, das man auch „Satzklammer“ nennen könnte, zu modellieren (vgl. Abbildung 4, Option [1]). In diesem Schema ist das finite Verb [VFIN] verbunden mit einem weiteren Element. Dieses Element [XVERBAL] wird auf den unteren Ebenen der Abstraktion entweder als Vollverb spezifiziert, was eine analytische Verbform oder ein Modalverbkomplex ergibt, oder als nominales Element einer verbonominalen Konstruktion wie z. B. zur Anwendung kommen oder Anwendung finden. Diese Modellierungsoption ist allerdings nicht ohne Probleme: Das wichtigste Problem ist die fehlende gemeinsame Semantik bzw. Funktion der schematischen Konstruktion, denn die Grundlage für die Annahme eines derart abstrakten Schemas ist ausschließlich auf der Formseite gegeben, nämlich durch die Distantoder Satzklammerstellung der Elemente. Für die Funktion könnte man von der allgemeinen Idee ausgehen, dass die grammatischen Informationen in der linken Klammer und die lexikalischen Informationen in der rechten Klammer kodiert werden, doch dieses Merkmal ist sehr abstrakt und eignet sich kaum für die Rechtfertigung eines konstruktionalen Schemas. Auch übergeneralisiert das Schema zu stark durch die Annahme eines sehr allgemein definierten X-Elements, das eben-
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[1]
[VFIN_XVERBAL]
[VFIN_VV]
[2]
[VFIN_(P)NVERBAL]
[VAUX_VV]
[VM_VV]
[VFIN_PNVERBAL]
[VFIN_NVERBAL]
haben_VVPP
wollen_VVINF
kommen_zuNung
finden_NDEVERBAL
Abbildung 4: Komplexe Prädikate und verbonominale Konstruktionen im konstruktionalen Netzwerk, zwei mögliche Darstellungen.
falls sehr abstrakt formuliert ist. Zudem lässt sich die psychologische Realität eines derartigen Schemas kaum nachweisen. Darüber hinaus fasst das Schema zusammen mit konventionalisierten Funktionsverbgefügen auch relativ freie syntaktische Verbindungen mit zu-Präpositionalphrasen wie in (6) oben; diese haben aber (noch) keinen gesicherten Konstruktionsstatus in der Sprache. Eine andere Option wäre, eine horizontale analogische Verbindung zwischen den beiden Konstruktionstypen anzunehmen (Option [2] in Abbildung 4), ohne ein höheres Schema anzusetzen. Doch auch die Annahme einer horizontalen Relation würde Fragen nach der psychologischen Realität sowie nach dem Status der erfassten Verbindungen mit zu-Präpositionalphrasen aufwerfen. Auch aus theoretischer Sicht werden die beiden Optionen in der aktuellen konstruktionsgrammatischen Forschung intensiv und kontrovers diskutiert (s. einen Überblick in Smirnova & Sommerer 2020). Es kann an dieser Stelle Folgendes festgehalten werden: Die Tendenz zur Klammerstellung ist bei den untersuchten Strukturen mit kommen sehr stark. Mit der Zeit bzw. mit der fortschreitenden Konventionalisierung einer Struktur steigt diese Tendenz weiter, auch wenn die Klammer von Anfang an die präferierte Stellung darstellt. Die Klammerstellung scheint also etwas zu sein, woran sich Sprecherinnen und Sprecher durchaus orientieren, auch wenn in der syntaktischen Struktur mit Präpositionalphrasen nicht unbedingt eine Regel bzw. eine Notwendigkeit besteht, diese Phrase am Ende eines Satzes zu haben, wie die Beispiele (7)– (10) belegen. Verglichen mit den Verbkomplexen, die im Abschnitt 3.2 betrachtet wurden, ist es allerdings weniger evident, die verbonominalen Konstruktionen sowie deren diachrone Quellstrukturen unter ein gemeinsames abstraktes konst-
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ruktionales Schema zusammenzufassen, das die Klammerstellung ihrer Elemente erfassen könnte. Keine der beiden Modellierungsoptionen aus Abbildung 4 scheint also wirklich zufriedenstellend. Im nächsten Abschnitt wird ein weiterer Konstruktionstypus besprochen, der die Annahme einer abstrakten Konstruktion noch unwahrscheinlicher erscheinen lässt und somit den Konstruktionsstatus der Satzklammer in Frage stellt.
3.3 Verbkonstruktionen mit partikelähnlichen Elementen In diesem Abschnitt stehen weitere syntaktische Konstruktionen aus dem verbalen Bereich der deutschen Grammatik im Fokus, nämlich Konstruktionen mit partikelähnlichen Elementen. Konkret geht es um die komplexen morphologischen Einheiten aus hin/her und Präpositionen auf und unter, vgl. (11). Diese Elemente werden in der Literatur bislang mehreren unterschiedlichen Wortarten zugeschlagen (vgl. Krause 1998, Olsen 1996, Diedrichsen 2017) und oft abhängig vom jeweiligen syntaktischen Kontext als Adverbien (12), Postpositionen (13), (Teile von) Zirkumpositionen (14) oder als Verbpartikeln bzw. Verbzusätze (15) behandelt. (11) hinauf, herauf, hinunter, herunter (12) Und höher hinauf geht es immer. [Meißner, 1950] (13) Die Nachbarin aber mit strähnigem Haar stürzte an die Treppe vor und rief das Treppenhaus herunter: … [Neue deutsche Literatur, 1953] (14) Hersbach begleitet den Chef zum Wagen hinunter. [Horster, 1950] (15) Die Nähe Buzzattis ist hier zu spüren, eine Grenzsituation beschwört für eine sinnlose Lage ein sinnloses Ende herauf. [Die Zeit, 1970] Smirnova & Mortelmans (2022) schauen sich in einer Korpusstudie syntaktische Verbindungen mit diesen Elementen an. Ohne hier auf die Einzelheiten der oben erwähnten Klassifikationen und deren Probleme genauer einzugehen, kann an dieser Stelle erwähnt werden, dass Smirnova & Mortelmans (2022) für eine Erfassung der betroffenen Strukturen als einer Familie von mehreren Konstruktionstypen plädieren, die sich auf einer Skala zwischen schematischen produktiven Konstruktionen und lexikalisch spezifizierten Konstruktionen positionieren. Die Letzteren decken sich mehr oder weniger mit der traditionellen Klassifikation als
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Verbpartikel bzw. Verbzusatz, die Ersteren umfassen die Kategorien Adverb und Adposition in einer einheitlichen Weise. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Stellungsregularitäten solcher Strukturen, die im Rahmen dieses Beitrags besonders interessieren. Tabelle 5 fasst das zugrundeliegende Korpus (= Stichprobe) zusammen, das sich aus den Daten des DWDS-Kernkorpus5 zusammensetzt6. Tabelle 5: In Smirnova & Mortelmans (2022) analysierte Daten (N=1737). hinauf herauf hinunter herunter Kernkorpus Stichprobe
3461 500
237 237
2546 500
2217 500
Auch hier sind, wie im letzten Abschnitt zu verbonominalen Konstruktionen, zwei Variablen relevant: rechts und andere, die nach dem gleichen Muster annotiert wurden (vgl. Abschnitt 3.2). Die Variable rechts wird vergeben, wenn das betreffende Element am Ende des Satzes wie in (13)–(15) oder unmittelbar vor dem infiniten Verb (16) steht. Auch hier wird die Bezeichnung rechts also zunächst weitgehend theorieneutral verwendet. (16) Sie haben sie später, in der Nacht, noch einmal im Rollstuhl zum See herunter gefahren. [Hermann, 1998] Abbildung 5 zeigt die relative Verteilung der Positionen rechts und andere in den analysierten Daten. Wie aus Abbildung 5 ersichtlich, dominiert insgesamt die satzfinale Stellung der hin/her-Elemente, wobei die Bildungen mit her stärker zur rechten Position neigen als diejenigen mit hin.7 In über 80% aller herauf/herunter-Verwendungen
5 https://www.dwds.de/d/korpora/kern 6 Keine zusammengeschriebenen Formen wie z. B. heraufbeschwören oder hinaufgegangen sind im Datenset vorhanden. Bei diesen Formen liegt die Interpretation im Sinne der Verbpartikel nahe. Solche Formen wurden durch eine separate Korpussuche erfasst und werden in diesem Beitrag nicht direkt berücksichtigt. 7 Diese Diskrepanz ist interessant und bedarf noch einer eingehenden Untersuchung. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass her-Elemente mehr Lexikalisierungen aufweisen und häufiger als Verbpartikeln von Verben auftreten, die keine weiteren direktionalen Präpositionalphrasen regieren, zum Beispiel etw. heraufbeschwören, etw. heraufsetzen, etw. herunterleiern. Diese Idee muss aber noch anhand von einer größeren Menge von Daten überprüft werden.
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Elena Smirnova
1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 herauf
herunter RECHTS
hinauf
hinunter
ANDERE
Abbildung 5: Satzinterne Position des hin/her-Elements.
stehen diese in der satzfinalen Position; dies ist bei hinauf/hinunter in über 66% der Fall. Interessant ist die Beobachtung, dass die Positionen rechts und andere nicht unbedingt mit der einen oder der anderen von den oben präsentierten Wortartklassifikationen einhergehen, sondern zum Teil bei gleichen Vollverben und ähnlichen syntaktischen Strukturen vorliegen, wie die Beispiele in (17)–(20) belegen. (17) Ich sah hinauf zu Mamas Gesicht… [Kurz, 1999] (18) Robert lachte und sah zu der Katze hinauf [Kant, 1965] (19) Einmal kam sie mit einem langen, flauschigen Kopftuch herunter zum Frühstücksappell. [Neue deutsche Literatur, 1953] (20) Nach Tisch und Kaffee liest Fritz aus den ‚Lebensläufen‘, dann kommt Lotte zu mir herunter… [Wittmann, 1991] Die nicht-finale Position stellt also durchaus eine Option in den Daten dar, vor allem wenn hin/her-Elemente mit einer Präpositionalphrase mit zu verbunden sind. Die präferierte Stellung bleibt aber auch in solchen syntaktischen Kontexten die finale Position des hin/her-Elements. Interessant an solchen und ähnlichen Strukturen ist, dass sie aus der Perspektive der Phrasen- oder Konstituentenanalyse eine syntaktische Ambiguität aufweisen: In Beispielen (19)–(20) kann herunter bspw. entweder als Teil des lexikalischen Verbs herunterkommen, also als Verbpartikel gelesen werden, vgl. (21a), oder als Teil einer Zirkumposition zu_N_herunter, vgl. (21b).
Satzklammer im Deutschen: eine Konstruktion?
(21)
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a. [[kommen + herunter]V [zu_N]PP]VP b. [[kommen]V [zu_N_herunter]PP]VP
Diese syntaktische Ambiguität geht allerdings mit keiner semantischen Differenz einher; die beiden syntaktischen Varianten in (21) sind denotationsgleich. Rein strukturell gesehen besteht also kein Grund, der einen oder der anderen Stellung im Satz Vorzug zu geben. Und doch: Was wir auch in diesem Fall beobachten, ist eine stark ausgeprägte Tendenz zur Endstellung der hin/her-Elemente. Ähnlich wie im letzten Abschnitt könnten zwei Optionen in Betracht gezogen werden, vgl. Abbildung 6. [1]
[VFIN_XVERBA]
VFIN_an
[VFIN_PTK]
[2]
[VFIN_hin/her-P]
VFIN_zu
VFIN_hinunter
VFIN_herauf.
Abbildung 6: Strukturen mit hin/her-P und Partikelverben im konstruktionalen Netzwerk, zwei mögliche Darstellungen.
Einerseits könnte wieder ein Schema auf einer hohen Abstraktionsebene im Netzwerk angenommen werden, das die Klammerstellung der einzelnen Elemente erfasst und pauschal als „Satzklammer“ bezeichnet werden kann. Dies ist in Abbildung 6 in der Option [1] dargestellt, ähnlich wie in Abbildung 4 weitern oben. Zu beachten ist an dieser Stelle allerdings, dass – neben den hier betrachteten Konstruktionen mit hin/her-Elementen und den Partikelverben [VFIN_PTK], die ihnen auf der gleichen Ebene der Abstraktion in Abbildung 6 gegenüberstellt werden, – auch die Hilfsverbkonstruktionen, die Modalverbkonstruktionen sowie die verbonominalen Konstruktionen im gleichen Netzwerk unter das gleiche Schema subsummiert werden (müssten). Und das macht die Annahme des abstrakten Schemas [VFIN_XVERBAL] im konstruktionalen Netzwerk hochproblematisch, wie oben bereits erwähnt. Letzthin würde dies aus theoretischer Sicht mehreren Grundannahmen der Konstruktionsgrammatik widersprechen, vor allem weil das Schema aufgrund seiner Abstraktheit kaum Informationen beinhalten würde, die auf alle weiter unten stehende Konstruktionstypen vererbt werden könnten; außerdem würde das Schema zu stark übergeneralisieren.
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Elena Smirnova
Andererseits, und in diesem Fall scheint es näher an der linguistischen Realität zu sein, kann eine horizontale analogische Relation (Option [2] in Abbildung 6) angenommen werden. Diese horizontale Relation bringt zum Ausdruck, dass die syntaktischen Strukturen mit hin/her-Elementen eine Ähnlichkeitsbeziehung zu Partikelverbkonstruktionen aufweisen und aufgrund dieser Ähnlichkeitsbeziehung ein ähnliches syntaktisches Verhalten an den Tag legen. Aus gebrauchsbasierter Sicht geht es letztlich um Beziehungen, welche Sprecherinnen und Sprecher herstellen. Die Modellierung der Stellungsregularitäten von hin/her-Elementen im Sinne einer horizontalen Relation im Netzwerk hat gegenüber der Annahme eines sehr abstrakten Schemas mehrere Vorteile. Zum einen wird kein direkter Zusammenhang zu den komplexen Verben und zu den verbonominalen Konstruktionen stipuliert, der aufgrund der fehlenden Form-Funktion-Übereinstimmung problematisch erscheint, wie oben erwähnt. Zum anderen werden die Strukturen mit hin/ her-Elementen keinem Schema „untergeordnet“, von dem sie ihre Eigenschaften erben (müssten), was wiederum die vorhandene Varianz in der Wortstellung dieser Strukturen zulassen würde. Die horizontale Relation bzw. die analogische Verbindung zu den Partikelverbkonstruktionen ist im Gegensatz zu einem Schema nicht absolut – sie instanziiert nicht, sondern kann lediglich als Motivation für eine bestimmte Wortstellung fungieren. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass die Klammerstellung in den hier untersuchten Strukturen weitgehend unabhängig von den möglichen in Frage kommenden Interpretationen von hin/her-Elementen als Adverb, Adposition oder Verbpartikel dominiert, d. h. die Endstellung impliziert nicht unbedingt eine bestimmte grammatische Interpretation. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die Stellung der hin/her-Elemente im Satz einer Regel folgt, die unabhängig von der grammatischen Klasse dieser Elemente gilt und auf der Ebene des Satzes operiert. Die traditionellen grammatischen Klassen der Elemente korrespondieren allerdings mit unterschiedlichen Konstruktionstypen: So entspricht z. B. herauf als Teil der lexikalisch spezifischen Konstruktion wie heraufziehen oder herausbeschwören der traditionellen Interpretation als Verbpartikel; in einer schematischen Konstruktion mit der Semantik der zielgerichteten Bewegung ist herauf eine Adposition. Die Klammerstellung der Elemente scheint also nicht in den Konstruktionen selbst festgeschrieben zu sein, sondern existiert als eine Regel bzw. ein Muster außerhalb von betreffenden Konstruktionen. Gebrauchsbasiert würde das bedeuten, dass die Sprecherinnen und Sprecher ihr Wissen über die Stellung der Elemente nicht mit dem Wissen über Konstruktionen selbst assoziieren, sondern auf eine andere Art und Weise verarbeiten. Dieser Gedanke wird weiter unten noch aufgegriffen. Die Tendenz zur Klammerstellung bei den untersuchten Strukturen mit hin/ her-Elementen ist stark. Unabhängig vom morphosyntaktischen Status dieser Elemente selbst und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Konstruktionstyp stellt
Satzklammer im Deutschen: eine Konstruktion?
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die Klammerstellung die präferierte Stellung dar. Ähnlich wie bei den Verbkomplexen (vgl. Abschnitt 3.2) und verbonominalen Konstruktionen (vgl. Abschnitt 3.3), ist die Klammerstellung nicht durch die Annahme eines abstrakten konstruktionalen Schemas ‚Satzklammer‘ zu motivieren.
4 Schlussüberlegungen Am Anfang dieses Beitrags wurde die Frage gestellt, ob die Satzklammer des Deutschen als eine eigenständige Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik betrachtet werden kann. Die Ergebnisse der präsentierten Korpusuntersuchungen sowie die darauf aufbauenden Interpretationen und Schlussfolgerungen legen eine negative Antwort auf diese Frage nahe. Während im Abschnitt (3.1) zu verbalen Komplexen mit Hilfs- und Modalverben die jeweiligen Konstruktionstypen sich noch relativ unkompliziert unter ein abstraktes Schema [VFIN_VV] subsumieren lassen, wird es bei der Hinzunahme weiterer Konstruktionstypen immer schwieriger. Für die verbonominalen Konstruktionen mit kommen und Präpositionalphrasen erscheint die Annahme eines sehr abstrakten Schemas [VFIN_XVERBAL] problematisch. Für die syntaktischen Strukturen mit hin/her-Elementen (Abschnitt 3.3) ist es am wenigsten gerechtfertigt, ein abstraktes Schema [VFIN_XVERBAL] anzunehmen. Hier zeigt sich vor allem, dass die Analogiebeziehung zu Partikelverben deutlich stärker ist als eine Assoziation mit einem abstrakten „Satzklammer“-Schema sowie mit den anderen hier betrachteten verbalen Konstruktionen. Was im Rahmen der hier vorgestellten Korpusstudien noch wichtiger erscheint, ist die Beobachtung, dass die Tendenz zur Klammerstellung nicht unbedingt einem bestimmten Konstruktionstyp zugeschrieben werden kann. In Abschnitt 3.2 wurde beobachtet, dass auch freie syntaktische Verbindungen aus kommen und zu-Präpositionalphrasen generell dazu neigen, die Präpositionalphrase am Ende des Satzes zu positionieren. Auch in Abschnitt 3.3 wurde gezeigt, dass die finale Stellung der hin/her-Elemente unabhängig von ihrem morphosyntaktischen Status dominiert. Das führt zu einer weiteren Frage der Stellungsregularitäten im deutschen Satz, die sich unabhängig von dem Phänomen der Satzklammer stellt: Wenn die Klammerstellung unabhängig von Konstruktionstypen existiert, was ist ihr Status? Greifen hier möglicherweise andere Mechanismen, die nicht im Sinne einer Konstruktion bzw. eines abstrakten Schemas modelliert werden können? Und welchen Status haben solche Mechanismen bzw. Regeln in der Konstruktionsgrammatik, die das gesamte Wissen um die Sprache im „Wissen um Konstruktionen einer Sprache“ sehen will? Das sind Fragen, die dringend einer eingehenden Diskussion im konst-
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Elena Smirnova
ruktionsgrammatischen Paradigma bedürfen, denn sie betreffen weit mehr grammatische Phänomene als nur die Satzklammer. Für das hier behandelte Phänomen der Satzklammer bedeutet das, dass die Klammerstellung nicht zwingend dem konstruktionalen Status einer syntaktischen Verbindung geschuldet ist, sondern dass die Klammer- bzw. Distanzstellung unabhängig von den Konstruktionen existiert und somit außerhalb von Konstruktionen modelliert werden müsste. Ein möglicher Lösungsweg, der in diesem Beitrag vorgezeichnet wurde, ist die Annahme von lokalen Analogien bzw. von horizontalen Beziehungen zwischen Konstruktionen auf einer relativ niedrigen Ebene der Abstraktion, die die Klammerstellung in benachbarten oder ähnlichen Strukturen motivieren (können). Diese horizontalen Beziehungen führen nicht notwendigerweise zur Bildung eines Schemas auf einer höheren Ebene der Abstraktion, sondern erfassen partielle Form-Funktions-Überlappungen zwischen Konstruktionen. Diese lokalen Analogien existieren nicht völlig unabhängig voneinander, sondern bilden selbst ein Netzwerk aus Verbindungen. Sie können allerdings Konstruktionen mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken miteinander verbinden. Die Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache verfügen also nicht nur über das Wissen über Konstruktionen, sondern auch über das Wissen über die Verbindungen zwischen Konstruktionen. Das Netzwerk von horizontalen Verbindungen kann allerdings nicht in einem konstruktionalen Format modelliert werden, da nicht Konstruktionen, sondern individuelle Merkmale von Konstruktionen die Grundlage dafür bilden. Solche grammatischen Regelhaftigkeiten und Musterhaftigkeiten operieren bei der sprachlichen Tätigkeit gleichzeitig mit Konstruktionen und konstruktionalen Schemata, ohne selbst Knoten im konstruktionalen Netzwerk zu sein. Und die Satzklammer des Deutschen scheint mir ein gutes Beispiel für ein derartiges Netzwerk von horizontalen analogischen Relationen zu sein, das den Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen durchaus als eine Regel im traditionellen Sinne erscheint.
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Dániel Czicza
Zu Ellipsen und grammatischen Operationen in der Konstruktionsgrammatik 1 Einleitung Gegenstand der vorliegenden Überlegungen sind Strukturen folgender Art: (1) Peter verehrte Madonna und haßte Michael Jackson. (GDS 1997: 574) (2) A: Wer sagt das? B: Ich. (GDS 1997: 572) (3) Alles grau in grau (GDS 1997: 440) (4) Heute frische Brezeln (GDS 1997: 86 und Zifonun 2017: 50) (5) Her mit dem Geld! (Jacobs 2008: 15) Die kursivierten Einheiten in (1)–(5) repräsentieren Beispieltypen, die in der linguistischen Forschung mit dem Label Ellipse versehen werden. In einer sehr allgemeinen Form kann man Ellipsen zunächst als Auslassungen in nicht normativem Sinn erfassen (Dudengrammatik 2016: 905). Dabei gilt für (1)–(2), dass die jeweilige Auslassung stark kontextabhängig ist, wobei unter Kontext hier der laufende Text zu verstehen ist. So heißt es mit Bezug auf (1), dass im kursivierten Teil Peter (das Subjekt zu verehrte), und mit Bezug auf (2), dass sagen + das (Prädikat und Akkusativobjekt im A-Teil) ausgelassen werden. Während die Auslassung in (1) auf der Koordination durch und basiert, stellt die elliptische Struktur in (2) die Reaktion auf eine Frage in einer Frage-Antwort-Sequenz dar. Wenn von Auslassung die Rede ist, so ist damit im Sinn der Kontextabhängigkeit gleichzeitig gemeint, dass die ‚fehlenden‘ Ausdrücke aus dem vorangehenden Textteil ‚geholt‘ und somit in der elliptischen Sequenz mitverstanden werden. Oder, von dem vorangehenden Textteil aus gesehen: Die Gültigkeit bestimmter Satzkomponenten bleibt für nachfolgende (bspw. koordinierte) Strukturen erhalten (Ágel 2017: 133). Die Beispiele (1)–(2) sollen im Folgenden kontextkontrollierte Ellipse (Klein 1993) bzw. – synonym dazu – Analepse (GDS 1997: 569) genannt werden. (1) stellt dabei den Subtyp Koordinationsellipse und (2) den Subtyp Adjazenzellipse dar. (3)–(5) sollen hier für Ellipsentypen stehen, die grundsätzlich nicht auf das Vorangehende in einem Text/Gespräch https://doi.org/10.1515/9783111334042-008
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Dániel Czicza
angewiesen sind, wenn man ihre propositionale Struktur und die damit zusammenhängende Illokution verstehen möchte. Bei diesen spielt (vor allem grammatischsemantisches) Strukturwissen eine zentrale Rolle (Hennig 2011: 252, 254), sodass sie im Folgenden Strukturellipse genannt werden. Innerhalb dieser Gruppe wird der Subtyp (3) als interne Prädikation, der Subtyp (4) als Existenzialsatz (Behr & Quintin 1996) und der Subtyp (5) als verbloses Direktivum (Jacobs 2008) bezeichnet. Die linguistische Forschung zum „Themen- und Formenkreis der Ellipse“ (Zifonun 2017: 38), so auch zu Analepsen und Strukturellipsen, ist grundsätzlich geprägt von der Differenzierung zwischen Vorgängen/Prozeduren und Produkten. Erstere sind vor allem Thema psycholinguistischer Forschung, die sich auf das Produzieren und Verarbeiten von Ellipsen konzentriert, während Äußerungsprodukte bzw. deren Beschreibung i. d. R. im Mittelpunkt grammatischer Theoriebildung stehen (Hennig 2013: 1). In beiden Bereichen kann von einer Vielfalt der möglichen theoretischen Herangehensweisen gesprochen werden, und es gibt auch Versuche, die grammatische und die psycholinguistische Sicht miteinander zu versöhnen bzw. gegenseitig fruchtbar zu machen (vgl. den von Mathilde Hennig herausgegebenen Sammelband zu Ellipsen, 2013). Was die grammatiktheoretische Perspektive angeht, so konfligieren dabei generell kompositional-struktural und funktional-semantisch geprägte Analysen (Zifonun 2017: 38), wobei die grundsätzliche Ausrichtung der jeweiligen Grammatiktheorie den Umgang mit den entsprechenden Phänomenen in hohem Maße beeinflusst (Hennig 2013 und Craenenbroeck & Temmerman 2019). Der vorliegende Text unternimmt den Versuch, einen Beitrag zur grammatischen Analyse von Ellipsen zu leisten, indem kontextkontrollierte Ellipsen und Strukturellipsen konstruktionsgrammatisch verortet und interpretiert werden. In diesem Zusammenhang soll vor allem die Frage nach ihrem eventuellen Konstruktionsstatus im Mittelpunkt stehen. Wie sich zeigen wird, werden die beiden markanten Vertreter der Ellipsenwelt (Analepse und Strukturellipse) diesbezüglich unterschiedlich bewertet. Da der Phänomenbereich in beiden Hauptklassen eine Menge unterschiedlicher Formate und Typen umfasst (zu einem Überblick vgl. Hennig 2013: 447–448), kann die vorgelegte Analyse nur exemplarisch erfolgen und erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch soll sie der Bedingung der Generalisierbarkeit theoretischer Annahmen insofern gerecht werden, als die beiden Hauptklassen (Analepse und Strukturellipse) genauer untersucht werden, die m. E. zwei entgegengesetzte Eckpunkte des Spektrums möglicher Ellipsen darstellen und somit in analytischer Perspektive, so auch in der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung aus meiner Sicht besondere Aufmerksamkeit verdienen. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Abschnitt 2 widmet sich dem tendenziell beobachtbaren Versuch, konstruktionsgrammatische Überlegungen auf Kategorien
Zu Ellipsen und grammatischen Operationen in der Konstruktionsgrammatik
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und Regeln, beides klassische Bereiche grammatischer Theoriebildung, auszuweiten. Dabei soll zunächst das Phänomen der Wortstellung kurz thematisiert werden. Dies kann damit begründet werden, dass der Umgang mit Wortstellung unter konstruktionsgrammatischer Perspektive im Grunde mit den gleichen Problemen behaftet ist wie die im vorliegenden Beitrag fokussierten Ellipsen. Nach den kritisch ausgerichteten Überlegungen in Abschnitt 2 soll im darauffolgenden dritten Abschnitt ein Vorschlag unterbreitet werden, der von der Idee ausgeht, Zeichen und damit Konstruktionen sowie Verfahren/Operationen zu unterscheiden (Welke 2020). Dieser Schritt bildet die Grundlage für die konstruktionsgrammatische Einordnung der im vorliegenden Text besprochenen beiden Ellipsenhaupttypen, der Analepse und der Strukturellipse, hinsichtlich der Instantiierung von Konstruktionen (3.1 sowie 3.2). Darauf aufbauend sollen diese Typen den beiden Polen Operation/Verfahren (Analepse) bzw. Konstruktion (Strukturellipse) zugeordnet werden. Vor diesem Hintergrund wird in Abschnitt 4 die vorgeschlagene konstruktionsgrammatische Kurztypologie durch Hinweise auf Musterhaftigkeit ergänzt. Der Beitrag wird schließlich durch eine Zusammenfassung, Abschnitt 5, abgeschlossen.
2 Ausbau von Konstruktionsgrammatik In einer verkürzten Form ließe sich die Entwicklung der Konstruktionsgrammatik derart beschreiben, dass zunächst der Weg von klassischen Idiomen (Phraseologismen, aber auch andere Mehrworteinheiten) zu abstrakten syntaktisch-semantischen Strukturformaten geebnet wird (Argumentstrukturkonstruktionen, Goldberg 1995), um dann den zu erfassenden Phänomenbereich hinsichtlich linguistischer Ebenen sowohl nach unten (construction morphology, Booij 2010) wie auch nach oben (Konstruktionen in textlinguistischem Sinn in Östman 2005, vgl. auch Czicza 2015) zu erweitern. Damit wird das Ziel verfolgt, möglichst exhaustiv alle möglichen Dimensionen der Systemlinguistik konstruktionsgrammatisch zu gestalten. Aktuell lässt sich zudem eine etwas anders gelagerte Erweiterung konstruktionsgrammatischer Analysen im Bereich abstrakter und schematischer Konstruktionen beobachten. Es handelt sich dabei bspw. um (verbale) Kategorisierungen im Zusammenhang mit Paradigmen im traditionell-grammatischen Sinn (Diewald 2020)1 oder um Wortstellungsphänomene (Goldberg 2006: 166–183). Diese Versuche thematisieren grammatische Phänomene, die man traditionell-grammatisch der Sphäre von Kate1 Diewald (2020) postuliert sogenannte Hyperkonstruktionen, durch die Paradigmen (so bspw. Tempus in unterschiedlichen Sprachstufen des Deutschen, vgl. Diewald 2020: 303–306) in konstruktionsgrammatischem Rahmen erfasst werden können.
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Dániel Czicza
gorien und Regeln zuordnet. Vor allem mit Bezug auf den letzteren Aspekt stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit verschiedene Ausprägungen von Linearisierung (so bspw. Verbstellungstypen des Deutschen) Konstruktionsstatus besitzen, und wenn ja, wie genau dabei Form- und Inhaltsseite auszubuchstabieren sind. Es gibt grundsätzlich zwei Antworten auf die Frage nach der Konstruktionshaftigkeit von Wortstellungsregularitäten: Entweder werden Konstruktionen ohne Bedeutung postuliert (Fillmore 2008, Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012) oder aber es wird zeichentheoretisch argumentiert und dementsprechend eine Art Bedeutung angesetzt (Goldberg 2006: 166–183, vgl. auch Welke 2019: 298–299). Da die Wahl zwischen diesen beiden Optionen wegen der Rolle der Semantik relevant zu sein scheint, soll hier dieser Aspekt betont werden. Auch die allgemein akzeptierte und oft zitierte Definition von Konstruktionen, die hier zugrunde gelegt werden soll, deutet auf die wesentliche Rolle von Semantik hin: C is a construction iffdef C is a form-meaning pair < Fi, Sj > such that some aspect of Fi, or some aspect of Sj is not strictly predictable from Cʼs component parts or from previously established constructions. (Goldberg 1995: 4)2
Der Umgang mit Semantik soll zunächst im Zusammenhang mit dem Worstellungsproblem kurz angesprochen werden. Von dort führt der Weg zu den für den vorliegenden Text einschlägigen Ellipsen.
2.1 Wortstellung in der Konstruktionsgrammatik Welke (2019: 298–299) nimmt schematische Konstruktionen an, die Verbstellungstypen des Deutschen repräsentieren. Demnach gibt es Verberst-, Verbzweit- und Verbletzt-Konstruktionen (Welke 2019: 299, Beispiele in Welke 2019: 298). Diese sind allesamt dem Hauptkonstruktionsknoten Argumentkonstruktion untergeordnet, sind also hinsichtlich der Abstrahierung mögliche Subtypen von dieser. Die Semantik wird dabei derart mit in das jeweilige Konstruktionsformat eingebracht, dass die Form (Verbstellung) mit Illokution verbunden wird. Diese vertritt die Bedeutungsseite. Im Grunde ist diese Art von Ausbuchstabierung der Form- und der Inhaltsseite die klassische Kopplung von Verbstellung an Satzmodi im Deutschen. Da Welke mit Bezug auf die gleichzeitige Realisierung unterschiedlicher Konstruktionen sowie auf ihre Interaktion miteinander wesentliche Kritikpunkte anführt
2 Die Erweiterung der Definition um die Rolle von Gebrauchsfrequenz und damit im Zusammenhang um transparente, kompositionale „patterns“ (Goldberg 2006: 5) ändert nichts an diesem Umstand.
Zu Ellipsen und grammatischen Operationen in der Konstruktionsgrammatik
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(Welke 2020: 413–414), lässt sich analog dazu auch hier fragen, wie sich solche Verbstellungskonstruktionen (bei ihrer Realisierung) zu anderen schematischen oder nicht schematischen Konstruktionen verhalten.3 Gehören bspw. entsprechende Partikeln (Typ: denn) mit in die – typischerweise in Entscheidungsfragesätzen realisierte – Verberst-Konstruktion oder müssen sie parallel, in Form einer anderen Konstruktion, aktiviert werden? Ein anderer möglicher Kritikpunkt bezieht sich auf die Konstanz in der Erfassung der Bedeutungsseite: Bei der Verbletzt-Konstruktion steht Nebensatz, d. h. ein syntaktisches Merkmal, wohingegen bei den beiden anderen Verbstellungskonstruktionen illokutionsbezogene Begriffe untergebracht werden. Van de Velde (2019) untersucht Verbstellungstypen des Niederländischen und bettet seine Überlegungen, wie Welke (2019: 298–299), in einen konstruktionsgrammatischen Rahmen ein. Er kontextualisiert Wortstellung einerseits derart, dass er den Versuch unternimmt, sie zu Paradigmen in Beziehung zu setzen („syntactic paradigm“, Velde 2019: 149). Diewald merkt dazu kritisch an: The oppositions of the placement of the finite verb (V1, V2, and V-final) would need a larger format, i. e. some constructional conception of a “finite clause” as a paradigm (which defines the function/meaning of the category “finite clause” and which specifies that the three members of the paradigm constitute a closed set of distinctive constructions, represented by defined combinations of positional and functional information). […] Taking this into account, Figure 1 [die Abbildung zu Verbstellungstypen, D.C.] provides just a kind of visual mnemonic of possible syntactic positions finite verbs may occur in. […] The distinct syntactic positions of the finite verb, on the other hand, and their functions on the clause level, do not seem to qualify as paradigmatic oppositions within the domain of the finite verb itself (i. e. as constructions connected by horizontal links below the node of the finite verb. (Diewald 2020: 299–300)
Andererseits verbindet van de Velde die angesprochenen Verbstellungstypen auch mit einer Bedeutungsseite, indem er – ähnlich wie Welke (2019) – Illokution mit ins Spiel bringt: Er nimmt im Falle von V1 Nicht-Assertivität an: The finite verb can occur in other positions as well, however, and these positions have a syntactic meaning: initial verbs (V1) occur in polarity questions, conditionals and imperatives. These contexts can be unified under “non-assertive” meaning. (Velde 2019: 149–150)
Der Ausdruck „syntactic meaning“ im obigen Zitat weist hier aus meiner Sicht auf die Problematik bereits hin, nämlich auf die Schwierigkeit, Bedeutung in solchen Fällen konkret anzugeben. Bezüglich der Verbletzt-Konstruktion wird dann einer-
3 Mit schematisch und nicht-schematisch wird hier an die Typologie in Croft (2002: 17) angeknüpft, nach der dem Grammatik-Lexik-Kontinuum entlang „schematic“ und „specific“ bzw. „atomic“ und „complex“ Konstruktionen angenommen werden.
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seits auf Subordination hingewiesen, andererseits wird auch dieser Verbstellungstyp semantisch „aufgeladen“, indem von „backgrounding“ (van de Velde 2019: 150) die Rede ist. Dies wirft weitere Fragen (unterschiedlicher Natur) auf: Wie verhält sich diese Feststellung zu unterschiedlichen Backgrounding-Typen, wenn man Subordinierung semantisch in dieser Art und Weise ausbuchstabiert? Es handelt sich hier um eine schematische Konstruktion mit der Formseite Letztstellung des Finitums und der Inhaltsseite Backgrounding. Eine solche Konstruktion setzt ein Satzgefüge mit Matrixsatz und untergeordnetem Nebensatz voraus, was gleichzeitig bedeutet, dass zwei Propositionen miteinander verbunden werden. Unter satzsemantischer Perspektive können drei Arten einer solchen Verbindung angenommen werden: Einbettung, Zusatz und Verknüpfung (Polenz 2008). Gewissermaßen „intuitiv“ ließe sich das Konzept von Backgrounding mit Zusatz (Beispiel: Attributsatz, Polenz 2008: 248, 258) und Verknüpfung (Beispiel: Adverbialsatz, Polenz 2008: 265– 267) in einen Zusammenhang bringen, nicht aber mit Einbettung, bei der es um die Füllung von Argumentstellen zu Prädikaten geht. Valenziell gesprochen bedeutet dies, dass Komplemente m. E. nicht als Backgrounding einzustufen sind, wohl aber auch in Nebensatzform erscheinen können. Würde das nun bedeuten, dass Komplementsätze mit Verbletzt eine andere Konstruktion bilden als Supplementsätze mit Verbletzt? Wenn ja, auf welcher Ebene wären die Differenzen zu erfassen und welche Folgen hätte dies mit Bezug auf die parallele Realisierung und die Interaktion von (unterschiedlichen) Konstruktionen (Welke 2020: 413–414)? Goldberg (2006: 166–183) widmet sich einem anderen, d. h. teilweise spezifischeren, Wortstellungsphänomen, nämlich der sogenannten Subject-Auxiliary-Inversion, die im Englischen in unterschiedlichen Kontexten begegnet, vgl. u. a.: (6) Did she go? (7) Had she gone, they would be here by now. Im Sinne ihrer konstruktionsgrammatischen Auffassung nimmt Goldberg nach semantisch-pragmatischen Überlegungen eine funktionale Klasse von SubjectAuxiliary-Konstruktionen an, die – analog zu der Darstellung von ditransitiven Konstruktionen in Goldberg (1995) – um eine zentrale Mutterkonstruktion geordnet sind (Goldberg 2006: 177). Diese Hauptkonstruktion, von der die anderen über Vererbung wesentliche Merkmale weitergereicht bekommen, verfügt über folgende Bedeutungsmerkmale: nonpositive, nonpredicate focus, nonassertive, dependent, non-declarative. Damit ist hier wieder eine Mischung aus illokutionsbezogenen und syntaktischen Merkmalen gegeben, ergänzt durch informationsstrukturelle Angaben. Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes merken zu diesem Vorgehen zudem an: „[T]he value of stating a potentially vague generalization at a higher level is
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of dubious value unless independently motivated […]“ (Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012: 327). Außerdem weisen sie darauf hin, dass es nicht notwendig ist, alle Konstruktionen mit Semantik auszustatten: Several constructions are not associated with frames of their own, but rather specify arrangements of parts of sentences in ways not normally licensed by the core clause-building constructions. Shared_completion (commonly called right-node raising), Gapping, Aux-Initial clauses, and several others are of this type. While many or most such constructions assign information-structural roles (topic, focus, etc.) to their constituent parts, such notions are distinct from ordinary semantic import. (Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012: 332)
Dies steht freilich in einem Widerspruch zu Konstruktionen im Sinne der klassischen Definition von Goldberg. Es macht jedoch auf die Problematik aufmerksam, die sich aus der Bestimmung der Bedeutungsseite von schematischen Konstruktionen der oben kurz erläuterten Art ergibt. Da der Konflikt zwischen den (aus meiner Sicht in problematischer Art und Weise angesetzten) beiden Auffassungen, Konstruktion mit Bedeutung (Goldberg 1995, 2006) vs. Konstruktion ohne Bedeutung (Fillmore 2008; Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012), auch für die für den vorliegenden Beitrag relevanten Ellipsen gilt, wird er im folgenden Abschnitt, der Ellipsen in der Konstruktionsgrammatik zum Thema hat, wiederaufgenommen.
2.2 Ellipsen in der Konstruktionsgrammatik Die Konstruktionsgrammatik scheint sich – aus Gründen wie wir sie in 2.1 beobachten konnten – auch mit dem Phänomen Ellipse schwerzutun. Während Fillmore (2008) sowie Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes (2012) bspw. die Ellipsenart Gapping noch grundsätzlich als einen Typ für syntaktisch autonome, „bedeutungslose“ Konstruktionen anführen, so postulieren u. a. Heine (2011) und Goldberg & Perek (2019) Ellipsen-Konstruktionen als Form-Bedeutungs-Paare ganz im Sinne der klassischen Definition von Konstruktionen.4 Heine (2011, Bauer & Hoffmann 2020) bleibt dabei im Bereich „eingefrorener“, konventionalisierter Ellipsen und thematisiert ihre Beziehungen zu Vollformen. Diese Ellipsenformen sind relevant, da sie (teilweise) genau den Bereich abstecken, der im vorliegenden Text mit Strukturellipse erfasst wird (Abschnitt 1). Goldberg & Perek (2019) sprechen auch analeptische Strukturen an – der andere in der Einleitung angesprochene Haupttyp – und machen dabei einen sowohl „psychologisch“ als auch „semantisch“ genannten „Pointer“4 Gapping ist eine Unterart der Analepse, bei der der Verbalkomplex (oder Teile davon) sowie die Verbklammer von der Auslassung betroffen sind, vgl.: Peter hat Kaffee gekocht und Hans Tee (Zifonun 2017: 41), wo im koordinierten zweiten Konjunkt hat und gekocht nicht realisiert sind.
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Mechanismus im Sinn eines funktionalen gemeinsamen Nenners ausfindig (Goldberg & Perek 2019: 190, 195). Das für Fillmore asemantische Gapping ist hier eine Gapping-Konstruktion mit Formseite und einer „argument cluster conjunction“ zur Verknüpfung von Propositionen auf der Funktionsseite (wohlgemerkt: nicht Bedeutungsseite). Im Folgenden sollen wichtige konstruktionsgrammatische Überlegungen aus der Fachliteratur herangezogen werden, um den Umgang mit Ellipsen kurz darzustellen. Es wird sich zeigen, dass das theoretische Problem ähnlich gelagert ist wie bei der Wortstellung (Abschnitt 2.1). Heine untersucht Ellipsen, die nicht auf Koordination aufbauen, also im Sinne der in 1 angenommenen Unterscheidung nicht analeptisch zu deuten sind. Es sind Beispiele situativer Ellipsen der folgenden Art (Heine 2011: 56): (8)
Would you like some coffee?
(9)
You like some coffee?
(10) Like some coffee? (11) Some coffee? (12) Coffee? (8)–(12) repräsentieren unterschiedlich komplexe Formate zum Ausdruck der gleichen Intention in gleichen Situationen. Einerseits geht es Heine darum, die angeführten Strukturen konstruktionsgrammatisch zu beschreiben, andererseits stellt sie das Verhältnis zwischen den einzelnen Varianten in den Mittelpunkt. Zunächst werden die Beispiele als Varianten einer schematischen Konstruktion etabliert. Diese sogenannte Mutter-Konstruktion (Heine 2011: 64) bekommt das Label „yes/ no interrogative construction“ (Heine 2011: 74) und wird durch folgende Konstruktionsformel abgebildet: [S (OPERATOR) (NPSubj) [(VP(finite) V) (NPObj)?]] Indem man einzelne Elemente der Mutter-Konstruktion (Auxiliar, Pronomen, Vollverb und schließlich Adjektiv) streicht, erhält man Varianten, d. h. Töchter, der übergeordneten Konstruktion, die wesentliche Merkmale von dieser weitergereicht bekommen. Die pragmatische Funktion von Would you like [NP]? – wie in (8) – besteht dabei darin, dass der Sprecher dem Adressaten den im direkten Objekt ausgedrückten Gegenstand anbietet. Die kürzere Variante in (12) mit der NP alleine in der Konstruktion ([NP]?) kann zwar die pragmatische Komponente von der (im
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entsprechenden Netzwerk) übergeordneten Mutter-Konstruktion vererbt bekommen. Sie kann aber gleichzeitig als eigenständige Konstruktion erfasst werden, indem dem Umstand Rechnung getragen wird, dass sie a) unter Höflichkeitsaspekt (im Gegensatz zu den verbal ausgebauten Konstruktionsvarianten) unmarkiert ist und b) bezüglich möglicher Kollokationen in der Objektstelle auf Speisen und Getränke beschränkt bleibt (Heine 2011: 73–74). Bauer & Hoffmann (2020: 247) analysieren das Verhältnis zwischen den Formaten It turns out und Turns out, gefolgt von unterschiedlichen Komplementausdrücken. (13) und (14) zeigen durch that eingeleitete satzförmige Subjektkomplemente, (15) und (16) repräsentieren Prädikativkomplemente: (13) It turns out that the victim was an adult male, crossing the street against a red light when a driver going westbound on 7th street struck him. (14) Turns out that the Chinese use a lot of paper. (15) It turns out to be very, very bad. (16) Turns out not to be true. Im Mittelpunkt stehen dabei die beiden Annahmen, dass die it-haltigen, längeren Varianten wie (13) und (15) komplexere Komplementierungen bevorzugen und dass sich die beiden Formate semantisch (d. h. mit Bezug auf das Vorkommen emotiver Ausdrücke in ihrem Kontext) unterschiedlich verhalten. Die Korpusanalysen bestätigen im Grunde die Annahmen und lassen die Postulierung von zwei eigenständigen Konstruktionen zu. Die kürzere Form soll dabei durch partielle Realisierung der Vollform in der Konversation entstehen und, unterstützt durch Gebrauchsfrequenz, nachfolgendem Entrenchment unterliegen. Leider werden die Ergebnisse aus meiner Sicht dadurch relativiert, dass bei der Frage nach der Komplementierung anaphorisches it – wie in (15) und (16) – bzw. kataphorisches (d. h. Korrelat-) it – wie in (13) und (14) – anscheinend nicht auseinandergehalten werden, wobei dies mit Bezug auf den Hintergrund des it-losen Formates eine wichtige Rolle spielt. Handelt es sich um anaphorisches it wie in (15), so ist sein Fehlen in (16) ein Fall von uneigentlicher Verbspitzenstellung im Sinne Auers (1993), während das Ausbleiben des Korrelat-it in (14) als eigentliche Verbspitzenstellung zu werten ist (Auer 1993). Da die that-clause beim Korrelat-it ein Subjektkomplement ist, der to-Infinitiv beim anaphorischen it aber – analog etwa zu der Komplexbildung bei deutschem halbmodalem scheinen – eher in Richtung Verbalkomplexbildung (mit very, very bad als Prädikativum) geht, repräsentieren (13) und (15) zwei, grundsätzlich separat zu analysierende Konstruktionen, zu denen mit (14) bzw. (16) jeweils kürzere Varianten ohne it gehören.
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Goldberg & Perek (2018: 197) gehen auch auf Ellipsen ein, die nicht auf vorher Verbalisiertes zurückgreifen, also nicht strikt kontextabhängig und damit nicht zu den Analepsen zu rechnen sind. Sie verweisen auf Heines Arbeit (2018: 198) und analysieren zudem Beispiele wie folgt: (17) Elise, Casey. (18) Down with Materialism […] (vgl. dazu auch (5) in Abschnitt 1) In (17) haben wir es mit einem Format zu tun, das genutzt wird, wenn jemand jemandem anderen durch einen Dritten vorgestellt wird. Die Anordnung der entsprechenden NP in der Äußerung in dieser Situation ist fest, die erstgenannte NP kodiert dabei die Person, der die andere Person gerade vorgestellt wird. Beispiel (18) ist analog zu verblosen Direktiva im Deutschen (Jacobs 2008, Behr & Quintin 1996: 66), die einen direktiven Ausdruck enthalten. Beide Beispiele gehören zu dem Typus, der im vorliegenden Text Strukturellipse genannt wird. Die beiden Autoren thematisieren neben den Strukturellipsen auch kontextkontrollierte (analeptische) Strukturen als Gapping-Strukturen wie in (19): (19) The more I touched her and she me, the more I was reminded of Basya. (Goldberg & Perek 2018: 194, vgl. auch das Beispiel in Fußnote 4) Es wird ein gemeinsamer semantischer Nenner für solche Strukturen etabliert, die dann als „a psychological function that ‘points’ to previous linguistic material“ (Goldberg & Perek 2019: 190) bestimmt wird. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Pointer-Mechanismus. Dies ist der semantische Kern der entsprechenden Gapping-Konstruktion (Goldberg & Perek 2019: 195): Gapping (argument clister conjunction) construction Register: formal Form: overtly expressed: [P(X, Y, Z✶)], [ [Xʼ, Yʼ]] Function: P(X, Y, Z✶) P(Xʼfocus, Yʼfocus, Zʼ✶) Xʼ ≠ X; Yʼ ≠ Y ; Zʼ ≈ Z Determine second use of P using Pointer function to a recently uttered simple or compound verb including tense, aspect, and voice. X, Y, Z: arguments or adjuncts. Underlining is used to indicate form as opposed to interpretation. Boldface indicates lexical stress (here, on Xʼ and Yʼ). Constituents are indicated by brackets. ✶ : 0 or more.
Abbildung 1: Gapping-Konstruktion nach Goldberg & Perek (2019: 195).
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten konstruktionsgrammatischen Arbeiten i. d. R. Ellipsen thematisieren, die hier zu den Strukturellipsen gezählt werden können und an die nicht-kompositionale formale, semantische und pragmatische Merkmale zu koppeln sind. Die Analepsen spielen hingegen kaum eine Rolle. Werden sie angesprochen, wie es in Goldberg & Perek (2019) der Fall ist, so bekommen sie eine Bedeutungsseite zugeschrieben, die jedoch als eine Art psychologische Funktion bezeichnet wird. Wie wir oben bei der Wortstellung gesehen haben (Abschnitt 2.1), ist dieser Zugang durchaus kritisch zu betrachten. So gehen Fillmore (2008) und Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes (2012) davon aus, dass Analepsen – analog zu Wortstellungskonstruktionen – asemantisch zu fassen sind. Mit Bezug auf Gapping und andere Ellipsenarten heißt es: Some constructions are purely organizational, and have no lexical components beyond conjunctions or words that can function as conjunctions. Those referred to as Gapping and Right Node Raising (RNR) omit phrases whose meaning is shared against elements that are in focal contrast. (Fillmore 2008: 63) Aside from phrase-building and argument linking, these constructions as such do not contribute meanings of their own. Their function is to provide the contexts in which the syntactic and semantic expectations of their constituents are satisfied. […] They have interpretation principles involving the reconstruction process, to be sure, but if they have ‘meanings’ as such, they are at the level of information structure and focus. (Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012: 326–327)
Gapping als eine schematische Konstruktion ohne Bedeutung sieht in diesem theoretischen Rahmen (Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012: 332) wie folgt aus: {Gapping [Before ] [Middle ] [After ] ([conj ]) [Before ] [After ]} Das Funktionieren bzw. die Realisierung einer solchen Konstruktion kann somit wie folgt beschrieben werden: Gapping licenses a coordination structure in which some verbal element in the first conjunct is omitted from subsequent conjuncts, which are parsed and interpreted exactly as though the middle part of the first conjunct were between its BEFORE and AFTER elements (with some modifications required for anaphora, negation, etc., as in she had hardly enamoured herself with the locals, nor had they enamoured themselves with her [Hervorhebungen im Original, D.C.]) (Fillmore, Lee-Goldman & Rhodes 2012: 333).
Vor dem Hintergrund der bisher geführten Diskussion soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass weder die Lösung mit bedeutungslosen Konstruktionen (Fillmore) noch der zeichenbasierte Ansatz mit einer abstrakten, aber gleichzeitig vage bestimmten Bedeutungsseite (Goldberg) adäquat sind. Stattdessen wird zu zeigen sein, dass der Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen Zeichen und Ver-
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fahren (Coseriu 2007) und damit im Zusammenhang die Annahme von Operationen (im Sinne von Verfahren) in Anlehnung an Welke (2020) zielführend sind, wenn es gilt, die Differenzen zwischen Analepsen und Strukturellipsen konstruktionsgrammatisch zu interpretieren. Dieser Schritt erlaubt es uns, die beiden Ellipsenhaupttypen konstruktionsgrammatisch analytisch klar zu unterscheiden. Der Rückgriff auf Zeichen und Verfahren/Operationen soll dabei auf einer allgemeineren Ebene auch das generelle Problem lösen, das oben angesprochen wurde: Bedeutungslose Konstruktionen fügen sich nicht in das allgemein akzeptierte Bild über Konstruktionen (die eben nicht asemantisch sein sollen) und verwischen zudem die sinnvolle Unterscheidung von Konstruktion und Muster, das im Sinne eines allgemeineren Begriffs nicht nur in Verbindung mit Semantik gedeutet werden kann (vgl. Stein & Stumpf 2019 sowie Brommer 2018, vgl. weiter unten). Nimmt man andererseits vage Typen von Bedeutungen an, wie es in Goldberg & Perek sowie teilweise Welke (2019) der Fall ist, so läuft damit aus meiner Sicht der zeichenbasiert bestimmte Konstruktionsbegriff leer. Zudem besteht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Zeichen und Verfahren/Operation (Coseriu 2007) unberücksichtigt gelassen wird, was wiederum aus grammatischer Sicht problematisch ist (Welke 2020). Angesichts dieser Problemlage soll im Folgenden auf Zeichen und Verfahren/Operationen und die Rolle vor allem Letzterer eingegangen werden, um die hier interessierenden Ellipsentypen entsprechend sortieren zu können.
3 Zeichen/Konstruktionen und Verfahren/ Operationen Mit Welke (2020) liegt ein Beitrag zum kritischen Umgang mit Phänomenen der in Abschnitt 2 besprochenen Art vor. Zentraler Baustein seines Vorgehens ist der Begriff der Operation. Er argumentiert, dass der problematische Umgang mit Bedeutung (vgl. Abschnitt 2) vor allem daraus resultiert, dass grammatische Operationen nicht berücksichtigt bzw. in die Bedeutungsseite von Konstruktionen integriert werden. Dies dürfte zwar dem programmatischen konstruktionsgrammatischen Motto „itʼs constructions all the way down“ (Goldberg 2006: 18) entsprechen, lässt aber m. E. gleichzeitig den Konstruktionsbegriff leerlaufen. Mit der Annahme von Operationen gelingt es Welke, konstruktionsgrammatische Erkenntnisse in traditionelle Grammatikauffassungen zu integrieren und – umgekehrt – Theoreme traditioneller Grammatiken in konstruktionsgrammatische Beschreibungen einzufügen. Im Folgenden geht es mir darum, die Idee der Operationen kurz darzustellen und damit im Zusammenhang die Differenz zwischen Zeichen/Konstruktion und Verfahren/Operation im Sinne von Coseriu (2007) hervorzuheben. Dieser Schritt soll dann
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dazu führen, dass die beiden hier zu analysierenden Ellipsenhaupttypen konstruktionsgrammatisch entsprechend verortet werden können.
3.1 Grundlegendes Welke (2020) geht auf die Behandlung des konstruktionellen Aufbaus von Sätzen durch Boas (2013) ein und kritisiert dabei den Umgang mit der parallelen Aktivierung mehrerer Konstruktionen in einem gegebenen Satz. Er weist darauf hin, dass die Interaktion zwischen Konstruktionen alles andere als naheliegend ist. Es handelt sich dabei um den Satz What did Michael send Miriam? Boas (2013: 240) nimmt dazu einen konstruktionellen Aufbau entlang folgenden Konstruktionen an: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
what, did, Michael, send, Miriam VP-construction NP-construction Subject-Auxiliary Inversion construction Wh-construction Ditransitive construction
Vor allem stellt sich dabei zunächst die Frage, ob diese Konstruktionen genau in dieser Reihenfolge, nacheinander, instantiiert werden und ob dabei evtl. die eine in die andere eingebettet wird (Welke 2020: 413–414). Generell lassen sich zwei wesentliche Kritikpunkte ausmachen: Die Verwischung der Grenze zwischen Wörtern und Konstruktionen und der Umgang mit Wortstellung im Sinne von Konstruktionen (vgl. dazu Abschnitt 2.1). Welke stellt fest, dass Wortstellungsvariation, so bspw. die Subject-Auxiliary-Inversion notwendigerweise zu dem Begriff der Transformation führt, die allerdings eher damit zu tun hat, was im Allgemeinen als Regel erfasst wird. Damit im Zusammenhang stellt er fest: Es handelt sich in der Grammatik um weit mehr als um eine (parallele) Aktivierung (einer Vielzahl) unterschiedlicher Konstruktionen. Notwendig bleiben Operationen über je einzelnen (schematischen) Konstruktionen, und diese lassen sich nicht durch die parallele Aktivierung unterschiedlicher Konstruktionen ersetzen. (Welke 2020: 417)
Davon ausgehend ließe sich der Status von Grammatik im konstruktionsgrammatischen Rahmen wie folgt bestimmen: Grammatik und Sprache sollten jedoch in irgendeiner Weise mit Einheiten und Operationen über diesen Einheiten zu tun haben. Wenn nun nicht Wörter und Operationen über Wörtern die unabdingbaren Pole von dem sind, was man Grammatik nennen kann, dann sollten Konstruktionen und Operationen über Konstruktionen die Pole von Grammatik sein. (Welke 2020: 399)
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Diese Überlegungen Welkes erinnern an die althergebrachte Unterscheidung von Zeichen und Verfahren, bei der es darum geht, Zeichen im Sinne von Formen und Inhalten von Regeln/Operationen zu trennen und dementsprechend zwei Eckpfeiler sprachlicher Kompetenz anzunehmen. Konstruktionsgrammatisch gesprochen: Grammatik beginnt da, wo es um Operationen über Einheiten der Grammatik (Wörtern, Morphemen, funktionalen Kategorien) oder wie in der Konstruktionsgrammatik über Konstruktionen geht. Die Operationen über Konstruktionen setzen bei vollschematischen Konstruktionen ein. Teilschematische Konstruktionen müssen ebenfalls grammatisch-syntaktisch bearbeitet werden. Idiomatische Token-Konstruktionen und überhaupt vom Regulären abweichende Konstruktionen müssen in ihrem Entstehen aus schematischen Konstruktionen erklärt werden, und sie müssen in übergeordnete schematische Konstruktionen eingebaut werden oder mit ihnen fusioniert können. Zu Recht wird in der Konstruktionsgrammatik betont, dass auch idiomatisierte Token-Konstruktionen, teilschematische Konstruktionen und überhaupt Konstruktionen, die durch Projektionsgrammatiken nicht erreicht werden, Gegenstand der Grammatik und der grammatischen Analyse sein müssen. Nur hat es den Anschein, dass sich die Schwerpunkte zu sehr verschieben. Richtig ist, dass in Projektionsgrammatiken idealisiert wird und die Existenz des Kontinuums ausgeblendet wird. Dennoch existieren die Pole. Ohne Grammatik, d. h. ohne geregelte Operationen über Zeichen, gäbe es keine Sprache. Und Idiomatisierungen sind Idiomatisierungen von ursprünglich Kompositionalem und Geregeltem. (Welke 2020: 400)
Beschäftigt man sich mit Operationen, dann ist dabei auch an syntaktische Regeln zu denken. „Allerdings treten an die Stelle von invariant gefassten Regeln der Competence-Grammatik soziale prototypentheoretisch gefasste Regeln.“ (2020: 400) Auch Transformationen im traditionellen Sinn gehören dazu: Das heißt, irgendeine Art von Transformation scheint unverzichtbar. Das ist dann aber gleichzeitig auch eine spezifische Operation der Reihenfolgeänderung und nicht nur eine allgemeine Operation der parallelen Aktivierung von Konstruktionen. Es geht also um Grammatik im durchaus traditionellen Sinne. (Welke 2020: 416)
Welke (2020: 418) erstellt eine Liste möglicher Operationen, darunter die Instantiierung von Konstruktionen durch Verben. Etwas vereinfacht und alltäglich formuliert geht es bei der Anerkennung von Operationen vor allem darum, zu berücksichtigen, dass man einerseits „gemachte“ Zeichen vorliegen hat, mit denen dann andererseits grammatisch etwas gemacht, d. h. über denen operiert wird. Dieser Gedankengang ist konform mit der traditionellen Unterscheidung zwischen Zeichen und Verfahren (Coseriu 2007). Coseriu (2007: 241) geht auf zwei zentrale und einander teilweise entgegengesetzte Herangehen an die Frage nach dem Gehalt sprachlichen Wissens ein. Er diskutiert dabei die Ansicht Chomskys und die Saussures. Während Chomsky insofern dynamisch denkt, als er Regeln als Hauptcharakteristikum von Sprache ausweist, so sind für Saussure eher Zeichen zentral. Chomsky geht von
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Sätzen aus, die generiert werden, während Saussure den Fokus auf Zeichen, d. h. das Inventar an Formen und Inhalten, legt. Coseriu fasst das wie folgt zusammen: Wir müssen also festhalten, daß der Gehalt der sprachlichen Kompetenz weder auf bloße Zeichen noch auf bloße Operationen reduziert werden kann, sondern daß es beides gibt, Zeichen und Operationen. Die Zeichen, die im Sprechen neu gebildet werden, beruhen auf Operationen bzw. Verfahren, und diese setzen etwas voraus, mit dem operiert werden kann, nämlich die lexikalischen Einheiten, die nicht mehr zur Grammatik gehören. (Coseriu 2007: 245)
Coseriu macht damit auf den Unterschied zwischen Zeichen und Verfahren sowie den Konnex zwischen ihnen aufmerksam und genau diese Differenzierung ist für konstruktionsgrammatisch geprägte Theorien entscheidend, denn diese inkorporieren – zumindest scheint es tendenziell der Fall zu sein – Verfahren in Zeichen, sodass am Ende bestimmte Arten von Zeichen (in diesem Fall vor allem: schematische Konstruktionen) Verfahren innehaben, sprich das Verfahren zu einer Komponente des Zeichens selbst wird. Dieser Umgang mit Verfahren ist in erster Linie dann zu beobachten, wenn über Argumentstrukturkonstruktionen hinausgehend andere Arten schematischer Konstruktionen in Betracht gezogen werden, so bspw. Wortstellungsregularitäten, aber auch Ellipsen. Die in Abschnitt 2 angesprochenen Problempunkte lassen sich vor diesem Hintergrund wie folgt auf den Punkt bringen: Nimmt man bei Wortstellungsregularitäten und -variation sowie bei Ellipsen in einer generellen Form automatisch Konstruktionen mit einer generalisierten Bedeutung an, so führt man Verfahren in Zeicheninhalte und Zeichenformen ein, was im Lichte der Kritik Welkes (2020) zu problematischen Analyseergebnissen führt. Etwa abgeschwächt werden kann diese Diagnose dadurch, dass bei den hier interessierenden Ellipsen die Strukturellipsen eine Ausnahme bilden. Es sind genau diese Ellipsen, die sinnvoll als Zeichen gefasst werden können, während Analepsen unter Rückgriff auf Verfahren zu analysieren sind. Dies ist der Gegenstand des nächsten Abschnitts.
3.2 Ellipsentypen und +/-operative Instantiierung Bevor die konstruktionsgrammatische Einordnung der beiden Ellipsentypen Analepse und Strukturellipse erfolgt, soll der Begriff des Verfahrens bzw. der Operation modifiziert bzw. angepasst werden, und zwar in Anlehnung an den Umgang mit dem Merkmal operativ in der funktionalen Pragmatik (Ehlich 2007, Redder 2007). Aus meiner Sicht lohnt sich dieser Schritt vor allem deshalb, weil diese Erweiterung dazu beiträgt, den einen Haupttyp von Ellipsen, die Analepsen, adäquat zu erfassen. Der Begriff operativ wird in der funktionalen Pragmatik im Sinne einer Prozedur verwendet und zu sprachlichen Handlungen in Beziehung gesetzt. In
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diesem Zusammenhang können unterschiedliche sprachliche Ausdrücke unterschiedliche Prozeduren, darunter auch die operative, repräsentieren bzw. realisieren. So dienen Personalpronomina der 1. und 2. Person, aber auch Adverbien wie hier und dort der zeigenden, also deiktischen, Prozedur. Entsprechend der Idee der Prozeduren können einzelne Wörter auch als Repräsentanten von Wortarten auf prototypische Weise mit Prozeduren korreliert werden. So sind u. a. Konjunktionen, aber auch Personalpronomina der dritten Person, d. h. Anaphern, operativ zu verstehen (Redder 2007: 139). Operativ im Sinne einer Prozedur heißt dabei: Operative Mittel realisieren insofern im weiten Sinne eine Wissenssynchronisierung zwischen Sprecher und Hörer und arbeiten, operieren, immer über anderen sprachlichen Mitteln […] (Redder 2007: 133) Mittels der operativen Prozedur bearbeitet der Sprecher kommunikativ das für die Kommunikation erforderliche ihm und dem Hörer gemeinsame Wissen, indem er auf bestehende Gemeinsamkeiten Bezug nimmt […] (Ehlich 2007: 1–2)
Vergleicht man nun Anaphern mit Analepsen, so fällt auf, dass sie beide auf der operativen Prozedur aufbauen. Wie bei Anaphern ein (grammatisch, semantisch und inferentiell gesteuertes) „Zurückspulen“ im Text erfolgt, d. h. bereits Verbalisiertes aktiviert wird, so steht auch bei der Analepse im Mittelpunkt, dass auf Vorangehendes zurückgegriffen wird, um die „Lücke“ im elliptischen Teil zu schließen. An dieser Stelle soll Beispiel (1) aus Abschnitt 1 als (20) wiederaufgenommen und durch den Gapping-Beleg aus Fußnote 4 – hier: (21) – sowie ein drittes, neues Beispiel, (22), ergänzt werden: (20) Peter verehrte Madonna und haßte Michael Jackson. (GDS 1997: 574) (21) Peter hat Kaffee gekocht und Hans Tee. (Zifonun 2017: 41) (22) Peter verehrte Madonna und er haßte Michael Jackson. In (20) wird Peter im haßte-Teil reaktiviert. Um zu wissen, wer Michael Jackson hasst, wird auf Peter im verehrte-Teil zurückgegriffen. In (21) sind hat und gekocht im Hans-Tee-Segment (als Verbalkomplex) elliptisch. Um zu wissen, was Hans mit dem Tee macht, geht man in den ersten Teil zurück. Im Falle von (22) kann man sagen, dass die Deutung der Anapher er vor dem Hintergrund des im ersten Teil realisierten Peter erfolgt, d. h. er nimmt Peter wieder auf. Dies ist der von Goldberg & Perek (2019) als Pointer-Mechanismus bezeichnete Vorgang, den sie als Bedeutung in die Inhaltsseite ihrer Gapping-Konstruktion aufnehmen. Es ist aber nicht notwendig, die operative Prozedur als Bedeutung zu erfassen. Zudem ist es nicht notwendig, bedeutungslose Konstruktionen anzunehmen, die für diese operative Prozedur
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zuständig sind. In den ellipsenbezogen einschlägigen Beispielen (20) und (21) wird zunächst eine schematische Konstruktion, d. h. eine (transitive) Argumentkonstruktion, realisiert, deren Bestandteile mehrfach benutzt werden. Dies führt dazu, dass in den jeweiligen zweiten Konjunkten (nach dem und) eine partielle Realisierung von Argumentkonstruktionen erfolgt. Es findet eine analeptische Operation/ ein analeptisches Verfahren statt, d. h. es wird über den genannten Konstruktionen (analeptisch) operiert. Die analeptische Operation hat dabei zwei Seiten: Einerseits bedeutet sie, dass die nicht-elliptische Argumentkonstruktion als Vorlage benutzt wird, indem ihre Konstruktionskomponenten für die Deutung des elliptischen Teils wiederverwendet werden. Andererseits kann man diese Operation auch aus der Perspektive des elliptischen Konjunkts sehen und sagen, dass dort eine Argumentkonstruktion analeptisch realisiert wird. Dabei ist die Analepse selbst (wenn man sie als Phänomen produktorientiert betrachtet) weder eine bedeutungslose Konstruktion noch eine mit einer Bedeutungsseite, genannt Pointer-Mechanismus. Analepse ist eine Operation, die über Konstruktionen „läuft“. Greift man nun auf die Überlegungen zu Operationen in Welke (2020) zurück, so lässt sich der Gedankengang zur operativen Prozedur in Beziehung zu Instantiierung bei Welke (2020: 418) setzen. Für Welke ist Instantiierung selbst eine Operation, aber wenn man von den hier angestellten Überlegungen ausgeht, so ist es möglich, das erweiterte, funktional-pragmatisch motivierte Verständnis des Begriffes operativ zugrunde zu legen und von operativer Instantiierung von Konstruktionen zu sprechen. Im Sinne von Welke (2020: 418) geht es hier also um die Instantiierung der entsprechenden, d. h. durch die jeweiligen Konjunkte vertretenen Argumentstrukturkonstruktionen auf operativer Basis. Entscheidend ist dabei, dass die operative Instantiierung bei der Analepse entweder durch den Konstruktionsmarker, d. h. das Verb, oder aber durch die Argumente vonstatten gehen kann. So wird in (21) die Konstruktion im zweiten Konjunkt alleine durch Argumente (Hans und Tee) instantiiert, in (20) durch den jeweiligen Konstruktionsträger (haßte) und ein Argument (Michael Jackson). Die Elemente, durch die die Instantiierung in einem ersten Schritt erfolgt, sind dabei real. Die jeweils „fehlenden“ Elemente (in (21) der Konstruktionsträger, in (20) das Subjektargument) werden aus dem ersten, vollständigen realen Konjunkt „geholt“ und sind im zweiten Konjunkt „nur“ vorgestellt, d. h. virtuell. Den Begriff der Virtualität übernehme ich dabei von Ágel (2017: 131). Er nennt Koordinationsellipsen bzw. Analepsen virtuelle Sätze (Ágel 2017: 130–133). Der Kerngedanke dabei ist, dass Glieder in koordinierten Strukturen mit elliptischen Einheiten im zweiten Konjunkt, d. h. im Falle der Analepse, sich auf mehr als ein Konjunkt beziehen, aber eben nur in einem der vorhandenen Konjunkte real stehen. Im anderen Teil sind sie virtuell. Ein wichtiges Merkmal der Analepse auf operativer Basis ist also aus konstruktionsgrammatischer Sicht, dass auch Argumente die jeweilige Argumentkonstruktion ohne realen Konstruktionsträger – wie es in (21) der Fall ist – instan-
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tiieren können. Schneider (2014) macht diesbezüglich darauf aufmerksam, dass die jeweiligen Ausdrücke für Argumentrollen indexikalisch sind. So fassen Sprecher das Auftreten von Ausdrücken, die zu bestimmten syntaktischen Kategorien gehören, als Symptome, Anzeichen, Indizien für das Vorliegen einer bestimmten Konstruktion auf: Eine Nominalphrase im Nominativ am Anfang einer Äußerung lässt sich beispielsweise als Indiz dafür deuten, dass ein finites Verb folgen wird etc. (Schneider 2014: 369)
Der koordinativ verknüpfende Junktor und ist dabei funktional-pragmatisch auch operativ und setzt ein Signal der Fortsetzung. In (21) folgen darauf die NP Hans und Tee, die indexikalisch auf die virtuelle Wiederholung der Nominativ-Akkusativ-Konstruktion aus dem ersten Konjunkt verweisen. Dies ist ein Fall der indexikalischen Instantiierung der entsprechenden Argumentkonstruktion durch ihre Argumente. Der verbale Konstruktionsmarker ist nur virtuell vorhanden. Möglich sind auch Analepsen, in denen nur der Konstruktionsträger, nicht aber die Argumente real vorkommen, vgl.: (23) Gestern habe ich ein Buch gekauft und heute verkauft. Damit hat man unterschiedliche Typen der operativen Instantiierung, je nachdem, ob nur Konstruktionsträger, nur Argumente oder beide real vorhanden (und die anderen virtuell) sind: (20): Konstruktionsträger und ein Argument real, ein Argument virtuell (21): Konstruktionsträger virtuell und beide Argumente real (indexikalisch) (23): Konstruktionsträger (Vollverb) real, beide Argumente virtuell, Auxiliar virtuell Wie zu sehen ist, werden hier Argumentkonstruktionen kombinatorisch, d. h. real und virtuell, instantiiert. Die virtuelle Komponente ist dabei operativer Natur. Es gibt für diese Art kombinatorischer Instantiierung, aber vor allem mit Bezug auf das virtuelle Moment, Voraussetzungen. Im Falle von Analepse ist diese Voraussetzung für die Instantiierung der (auch) virtuellen realisierten Konstruktion im Sinn einer semantischen Wohlgeformtheitsbedingung zu formulieren:
Abbildung 2: Semantische Wohlgeformtheitsbedingung für Analepsen nach Zifonun (2017: 44).
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Eine solche Bedingung besagt im Falle zweistelliger Argumentkonstruktionen – wie sie es in (20), (21) und (23) sind –, dass hinsichtlich der Argumente Agens und Patiens zwischen den beiden Konjunkten Parallelität herrschen muss. Hinzu kommt die Parallelität mit Bezug auf den Konstruktionsmarker, d. h. den Valenzträger. Die beiden Prädikate müssen „valenzidentisch“ sein (Zifonun 2017: 44). Analepse als eine Art operative Instantiierung hat demnach eine semantische Basis, was aber nicht bedeutet, dass Analepse eine Konstruktion wäre. Die semantische Basis bezieht sich auf Merkmale der miteinander verknüpften Argumentkonstruktionen (als Konjunkte) und deren Korrespondenz. Anders ist die Situation bei der Strukturellipse, zu der die einschlägigen Beispiele aus der Einleitung an dieser Stelle – neu nummeriert – wiederaufgenommen werden: (24) Alles grau in grau (GDS 1997: 440) (25) Heute frische Brezeln (GDS 1997: 86 und Zifonun 2017: 50) (26) Her mit dem Geld! (Jacobs 2008: 15) Bei solchen Ellipsen ist der Umstand entscheidend, dass sie nicht primär strukturell-kontextabhängig sind (Klein 1993), d. h. sie funktionieren nicht auf operativer Basis im Sinne der funktionalen Pragmatik. Das bedeutet auch, dass sie im Sinn der obigen Überlegungen von Analepsen unterschieden werden müssen, was zu einem anderen konstruktionellen Status dieses Ellipsentyps führt. Wie Hennig (2011) ausführt, gilt für solche Ellipsen, dass bei ihnen Inferenzen eine zentrale Rolle spielen. Unter Inferenz ist dabei im Wesentlichen die Suche nach dem Sinn des Gesagten (Hennig 2011: 244) zu verstehen. Dieser Sinn ergibt sich i. d. R. durch eine Kopplung solcher Ausdrücke an spezifische Textsorten und/oder Situationen. Der Grund für ihre Etikettierung mit dem Label Struktur ist dabei vor allem darauf zurückzuführen, dass sie feste syntaktische Formate darstellen (Behr & Quintin 1996, Hennig 2011, Jacobs 2008). Obwohl sie nicht operativ im funktional-pragmatischen Sinn zu erklären sind, ist der Rückgriff auf den Instantiierungsbegriff Welkes (2019) möglich, denn diese Ellipsen lassen sich auch mit vollständigen Propositionen mit Prädikat-Argument-Struktur und damit auch mit Argumentkonstruktionen verbinden (Zifonun 2017: 47–48). Nur, diese Verbindung erfolgt nicht auf operativer Basis, es stellt also keine operative Instantiierung dar. Die Kopplung an Argumentkonstruktionen ist in diesem Fall so zu verstehen, dass abstrakte Konstruktionsmuster erkennbar sind und inferiert werden, nicht aber reale, in einem vorhandenen Konjunkt vorhandene. Abstrakte Konstruktionsmuster sind in Anlehnung an Welke (2020: 390, 393) als von lexikalischem Material „befreite“
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(Welke 2020: 390) Konstruktionen zu fassen. Bei Strukturellipsen werden sie durch die aktuellen elliptischen Ausdrücke auf der Basis von Ähnlichkeiten (Analogien) indiziert. Beim Verständnis solcher Ellipsen handelt es sich somit um eine vertikale Beziehung zwischen vorgestellten, abstrakten Konstruktionsmustern und aktuellen, realisierten sprachlichen Produkten. Im Gegensatz dazu kann man bei Analepsen von einer sich durch den Textfluss ergebenden, horizontalen Beziehung zwischen einem aktuellen ersten Vorlagen- und einem aktuellen zweiten (elliptischen) Konjunkt sprechen. Die Argumentkonstruktionen, die bei der Analepse in aktueller, realer Form die Vorlage für die elliptischen Konjunkte bilden, sind bei den Strukturellipsen selbst virtuell und vorgestellt, aber nicht geäußert. Auch der Konstruktionsträger ist virtuell („verblose Sätze“, Behr & Quintin 1996). Die Virtualität ist dabei nicht operativ zu begründen, weil sie nicht auf dem Kontext, sondern auf einem vorgestellten Muster aufbaut, das aus den gegebenen Konstruktionsbestandteilen rekonstruierbar ist. In (24) ist dieses Muster eine Prädikativkonstruktion (vgl. das Label interne Prädikation in Behr & Quintin 1996 und Hennig 2011), in (25) eine Existenzialkonstruktion und in (26) eine Direktivkonstruktion (Jacobs 2008) (caused motion im Sinn von Goldberg 1995). Die virtuellen Konstruktionsträger (Verben) sind stereotyp zu verstehen (Zifonun 2017: 48). Mit Bezug auf die übliche Differenzierung zwischen Konstruktion und (realisiertem) Konstrukt ließe sich sagen, dass bei Strukturellipsen ein Type im Sinne eines Konstruktionsmusters inferiert, bei Analepsen hingegen ein Token (Konstrukt als erstes Konjunkt) kontextuell genutzt wird. Analog hierzu kann man davon sprechen, dass die Virtualität bei Strukturellipsen konstruktionsbasiert und bei Analepsen konstruktbasiert ist. Zusammenfassend sieht das wie folgt aus: (A) Analepse:
Instantiierung +operativ, Vorlage = reales Konstrukt
(S) Strukturellipse:
Instantiierung -operativ, Vorlage = virtuelle Konstruktion mit virtuellem Konstruktionsträger
Den Unterschied zwischen (S) und (A) kann man anhand eines Beispielpaares, das auf den in (24) abgebildeten Typus anspielt, veranschaulichen: (27) Geruch von abgestandener Leere. Eine Staubschicht auf dem Porzellan des gedeckten Tisches. Die Fenster seltsam blind. (Behr & Quintin 1996: 67, Hennig 2011: 252) (28) Die Tische waren schön bedeckt und die Fenster seltsam blind.
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Beispiel (28) zeigt die Entkopplung des einschlägigen Segments die Fenster seltsam blind vom jeweiligen Text und Stil (GDS 1997: 433–434), der in (27) vorliegt, was dazu führt, dass sein Status anders zu bewerten ist. In (27) ist es im Sinn der obigen Differenzierung (S), in (28) jedoch (A).
4 Konstruktionsstatus und Musterhaftigkeit Zum Schluss soll ausgehend von den Überlegungen in 3.2 der Konstruktionsstatus der beiden hier behandelten Ellipsentypen bestimmt und damit im Zusammenhang auf ihre (unterschiedliche) Musterhaftigkeit eingegangen werden. In 3.2 hieß es, Analepsen bauen auf einer Operation auf, und zwar derart, dass die Instantiierung der elliptischen Konstruktion durch ein real vorhandenes Konstrukt, d. h. kontextkontrolliert, gesteuert wird. In Strukturellipsen hingegen liegt eine nicht operativ zu bestimmende Instantiierung einer Konstruktion vor, bei der auf virtuelle Konstruktionen im Sinne von Mustern Bezug genommen wird. Werden diese Erkenntnisse nun mit dem Wissen über Zeichen/Konstruktionen und Verfahren/ Operationen (3.1) verbunden, so lässt sich sagen, dass wir es im Falle der Analepse mit einem Verfahren zu tun haben, es wird also über Zeichen/Konstruktionen im funktional-pragmatischen Sinn operiert. Daraus folgt, dass die produktorientierte Bezeichnung Analepse kein Zeichen und somit auch keine Konstruktion (weder mit noch ohne Bedeutung, vgl. dazu Abschnitt 2.2) ist, sondern nur auf den Umstand abhebt, dass ein analeptisches Verfahren über miteinander verknüpften Konstruktionen stattfindet. Schaut man auf Strukturellipsen, so kann man sagen, dass dort keine ähnliche operative Instantiierung erfolgt und somit auch nicht von einem (funktional-pragmatisch zu deutenden) Verfahren die Rede sein kann. Die Annahme einer Instantiierung ist zwar möglich, sie ist aber modellbezogen, wobei das entsprechende Modell selbst virtuell und damit zu inferieren ist. In diesem Fall sind die vorliegenden elliptischen Strukturen, d. h. auch die Bezeichnung Strukturellipse, als Konstruktionen, also als Zeichen zu werten. Es ergibt sich folgendes Bild: (A) Verfahren (S) Konstruktion Diese Sicht wird durch die Erkenntnisse aus der einschlägigen konstruktionsgrammatischen Literatur gestützt, indem dort auf nicht-kompositionale Eigenschaften von Strukturellipsen hingewiesen wird (Heine 2011, Goldberg & Perek 2019, Bauer & Hoffmann 2020). Diese können durch situations- und textsortenbezogene Hin-
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weise (GDS 1997: 433) sowie durch die Berücksichtigung vielfach vorliegender fester Strukturformate (Hennig 2011) und Vorgeformtheit (Stein & Stumpf 2019: 17) ergänzt werden. Die entsprechenden Konstruktionslabels können unter Rückgriff auf das in 3.2 Gesagte in einer vereinfachten Form wie folgt aussehen: (24) [NP + NP prädikativ] (25) [(Adv) NP existenzial] (26) [Adv mit direktiv] (Jacobs 2008: 16) Was Musterhaftigkeit angeht, so lassen sich beide Ellipsentypen mit diesem Konzept verknüpfen. Um zunächst ein allgemeines Konzept von Muster zu gewinnen, soll die Bestimmung von Mustern durch Brommer (2018) angeführt werden: Unter „Muster“ werden rekurrente, für den untersuchten Sprachausschnitt signifikante und typische Wörter und Verbindungen mehrerer Wörter gefasst, die aufgrund dieser Eigenschaften auf analytischer Ebene als vorbildlich im doppelten Sinne (im Sinne einer Vorlage und im Sinne eines Vorbildes) angesehen werden können. Muster sind damit gleichermaßen konkrete, wahrnehmbare wie auch abstrakte, virtuelle Entitäten. (Brommer 2018: 56)
Brommer weist dabei Rekurrenz, Signifikanz und Typik als relevante Merkmale von Musterhaftigkeit aus. Mit Rekurrenz ist eine bestimmte Vorkommenshäufigkeit in einem gegebenen Korpus gemeint. Signifikanz wie auch Typik weisen auf den wichtigen Umstand hin, dass Muster immer mit Bezug auf einen konkreten Sprachausschnitt als solche ausgewiesen werden können und sollten. Sie sind also signifikant im Sinne von Repräsentativität und somit typisch für den jeweiligen Sprachausschnitt (Brommer 2018: 55–56). Ergänzt werden kann diese Sicht durch die Bestimmung durch Bubenhofer (2009), nach der Zeichen und Zeichenkombinationen insofern zu Mustern werden können, als sie als Vorlage für andere Zeichen und Zeichenkombinationen dienen. Wie in 2.2 darauf hingewiesen wurde, muss dabei berücksichtigt werden, dass die Differenzierung zwischen den angenommenen Typen zu einer jeweils unterschiedlichen Deutung von Musterhaftigkeit insgesamt führt. Damit im Zusammenhang kann bei Analepsen von verfahrensbezogener/operativ begründeter Musterhaftigkeit die Rede sein, bei Strukturellipsen von konstruktions-/zeichenbezogener Musterhaftigkeit. Während bei Ersterer von dem Wie der Musterhaftigkeit gesprochen werden kann, so scheint bei Letzterer eher die Annahme eines Was der Musterhaftigkeit zentral zu sein. M.a.W.: Bei Analepsen liegt der Fokus auf der Art und Weise, wie musterhaft (im Sinn des oben Gesagten: rekurrent, signifikant und typisch) über Konstruktionen operiert wird, während im Falle der Strukturellipsen
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die Formate selbst als musterhaft gelten können und in diesem Sinn Konstruktionsmuster bilden. Das heißt auch, die oben auf (24)–(26) bezogenen Konstruktionslabels/-formate können – da sie teil- bzw. voll schematisch sind – als musterbildend für andere Fälle angesehen werden. Dementsprechend können ihre Slots lexikalisch variabel gefüllt werden, wenn auch dabei Beschränkungen zu berücksichtigen sind. Versucht man hingegen zu erfassen, in welchem Sinn Analepsen musterhaft sein können, so ist dabei vor allem an Wohlgeformtheitsbedingungen im Zusammenhang mit dem Verfahren selbst zu denken. Diese Wohlgeformtheitsbedingungen werden u. a. in der Dudengrammatik ausführlich beschrieben (Dudengrammatik 2016: 909–912, vgl. auch GDS 1997: 573–583), sie beziehen sich in erster Linie auf die Felderstruktur sowie auf die Möglichkeiten der Analepse mit Bezug auf unterschiedliche Komplemente und notwendige Korrespondenzen hinsichtlich ihrer (grammatischen) Gestaltung. Interessant ist dabei, dass diese Bedingungen und damit die konkrete Ausprägung der Musterhaftigkeit im verfahrensbezogenen Sinn historisch veränderlich sind (Hennig 2013a). Zusammenfassend lässt sich mit Brommer (2018: 54–56) Folgendes festhalten: Für Konstruktionen gelten bei ihrer Musterhaftigkeit Zeichenrekurrenz, -signifikanz und -typik, während im Falle von Verfahren Verfahrensrekurrenz, -signifikanz und -typik anzunehmen sind.
5 Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wurde der Versuch unternommen, zwei markante Typen von Ellipsen, Analepsen und Strukturellipsen, konstruktionsgrammatisch zu verorten. Damit war die Annahme verbunden, dass die Konstruktionsgrammatik bzw. ihre Fundamente dazu beitragen, zwischen funktional unterschiedlichen Phänomenen im Bereich der Ellipse klar zu differenzieren. Die traditionelle Grammatik nennt beide hier behandelten Phänomene Ellipse, und zwar i. d. R. unter Rückgriff auf die Tatsache, dass systematisch Ausdrücke ausgelassen werden (Dudengrammatik 2016: 905). Umgekehrt ist es möglich, konstruktionsgrammatische Überlegungen in Anlehnung an traditionell-grammatische Theoreme zu präzisieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Der im vorliegenden Text präsentierte Ansatz hat zu zwei, konstruktionsgrammatisch unterschiedlich einzustufenden Ellipsentypen geführt. Demnach sind Analepsen nicht als Konstruktionen zu werten, sondern sie können unter Berücksichtigung der Differenz zwischen Zeichen und Verfahren dem letzteren Pol zugewiesen werden. Im Gegensatz dazu lassen sich Strukturellipsen als Konstruktionen betrachten. Sie verweisen auf Konstruktionsmuster und können selbst zu Konstruktionsmustern werden. Die Unterscheidung von Verfahren und Konstruktion manifestiert sich auch in wesentlichen Merkmalen beider
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Typen. Der vorgelegte Beschreibungsansatz kann aus meiner Sicht in zwei Richtungen weiterentwickelt und ausdifferenziert werden, was sicherlich auch Modifizierungen und Präzisierungen zur Folge haben kann. So ist es sinnvoll, Untertypen in beiden Haupttypen detailliert zu untersuchen, damit die hier erstellte Grundtypologie entsprechend angepasst wird und eventuelle Wechselbeziehungen zwischen den Grundtypen sichtbar gemacht werden können. Damit im Zusammenhang kann die Differenzierung der beiden Haupttypen auch durch die Untersuchung synchroner und diachroner Korpora erfolgen, was eine weitere Feindifferenzierung ermöglicht.
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Musterbasiertheit und Idiomatizität in Fragekonstruktionen: Eine empirische Studie zum Spracherwerb des Deutschen 1 Einleitung Eine Reihe von Studien zum Englischen hat sich der Rolle fester Mehrworteinheiten und teilschematischer Konstruktionen, sogenannter frame-and-slot patterns, sowie der Rolle des sprachlichen Inputs im Erwerb von Fragekonstruktionen gewidmet (u. a. Rowland & Pine 2000, 2003; Rowland et al. 2003; Cameron-Faulkner et al. 2003; Dąbrowska & Lieven 2005; Rowland 2007). Fragekonstruktionen eignen sich besonders gut, um den Erwerb konstruktioneller Muster im konstruktionsgrammatischen Sinne zu untersuchen: Zum einen handelt es sich um geradezu paradigmatische Beispiele von Form-Bedeutungs-Paaren, da die Fragesemantik nicht auf lexikalischer Ebene, sondern durch syntaktische Mittel wie Inversion zum Ausdruck gebracht wird; zum anderen lassen sich gerade W-Fragekonstruktionen zumeist auf teilschematische Konstruktionen des Typs [Wer ist X], [Was ist X] zurückführen, die auch im Spracherwerb des Deutschen eine zentrale Rolle spielen dürften. Bislang gibt es allerdings fürs Deutsche nur wenige empirische Fallstudien, die eine gebrauchsbasierte Perspektive einnehmen (vgl. jedoch Steinkrauss 2009, 2017). Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, diese Lücke zu füllen, indem er sich der Frage widmet, wie die zentrale Struktur von W-Fragen erworben wird. Im Unterschied zu Ansätzen, die eine klassische Trennung zwischen Lexikon und Grammatik voraussetzen (vgl. u. a. Felix 1980; Weissenborn et al. 1991; vgl. auch Kauschke 2012), argumentieren wir für einen konstruktionsbasierten Ansatz, der mit Tomasello (2003) davon ausgeht, dass Kinder im Input Muster erkennen, die dann die Grundlage für den Erwerb immer komplexerer Konstruktionen bilden. Unter Mustererkennung ist dabei zunächst in einem allgemeinen kognitionswissenschaftlichen Sinn die Identifikation von Gleichheits- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Stimuli zu verstehen, die nicht auf sprachliche Stimuli beschränkt sein muss (vgl. Evans & Green 2006: 139). Auf Grundlage von Daten aus drei longitudinalen Spracherwerbskorpora werden wir zum einen zeigen, dass Fragekonstruktionen im frühkindlichen Sprachgebrauch – und vermutlich auch darüber hinaus – ein besonders hohes Maß an Musterhaftigkeit aufweisen. Zum anderen werden wir die auf Grundlage einer induktiv-quantitativen Methode herausgearbeiteten Muster näher untersuchen und der Frage nachgehen, inwiefern ihre Entwicklung über den Erwerbszeitraum hinweg https://doi.org/10.1515/9783111334042-009
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die Hypothese eines item-basierten Spracherwerbs, also eines Spracherwerbs, der um konkrete sprachliche Einheiten herum organisiert ist, stützt. Ein Aspekt, den wir dabei ebenfalls in den Blick nehmen werden, ist die für den Spracherwerb allgemein sehr relevante Frage, wie der Output der Kinder durch den Input beeinflusst wird, den sie von anderen, insbesondere von ihren unmittelbaren Bezugspersonen, bekommen (vgl. Behrens 2006). Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes geben wir zunächst einen kurzen Forschungsüberblick über den Erwerb von W-Fragekonstruktionen, insbesondere zum Deutschen. Anschließend stellen wir unsere Datenbasis sowie unser methodisches Vorgehen genauer vor. Nachdem in einem ersten Überblick das Vorkommen und die Typen von W-Fragekonstruktionen quantitativ erfasst werden, erfolgt ein Vergleich der Verteilung der Wortarten- bzw. Part-of-Speech-Kategorien (POS) des Inputs und Outputs der Kinder. Hiermit soll ein erster Zugang zur Musterhaftigkeit von W-Fragekonstruktionen erlangt werden. Daran anschließend nutzen wir die Traceback-Methode, die sich insbesondere in Studien zum englischen Spracherwerb vielfach bewährt hat, um Musterhaftigkeit induktiv aus den Korpusdaten abzuleiten. Schließlich werden hierbei erfasste sprachliche Muster qualitativ ausgehend von einer gebrauchsbasierten Spracherwerbsperspektive analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchungen zusammengeführt, indem ihre Aussage zur Musterhaftigkeit von W-Fragekonstruktionen und deren Bedeutung für den Spracherwerb diskutiert werden.
2 W-Fragen im Erstspracherwerb Ähnlich wie die bisherige Forschung zu Fragekonstruktionen im englischen Erstspracherwerb konzentrieren wir uns in diesem Aufsatz auf W-Fragen. Beim Fragetyp der W-Fragen handelt es sich um sogenannte Ergänzungsfragen, die einen Gegensatz zum Satztyp der Entscheidungsfrage bilden. Die Antwort auf eine Ergänzungsfrage enthält die Nennung eines Satzteils, der eine fehlende Information liefert wie beispielsweise die Angabe einer Person oder Sache. W-Fragen liefern elementare Informationen und haben somit eine hohe kommunikative Relevanz, insbesondere für Kinder (vgl. Koch 2019: 109 f.). Die folgenden Funktionen von Fragen sind bereits in frühen Studien zum Spracherwerb festgestellt worden (vgl. Gretsch 2000: 155 f.): – Erzeugen von Aufmerksamkeit (Smith 1933) – Verlangen nach einem konkreten Gegenstand (Stern & Stern 1928/1975: 213) – Freude an verbaler Interaktion und am sozialen Kontakt (Lewis 1983: 153) – Einfordern der Bewertung eigener Generalisierungsversuche (Hollingworth 1927)
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Es lassen sich vor allem drei Faktoren als treibende Kraft des Erwerbs von Fragekonstruktionen bestimmen: erstens das Schließen von Wissenslücken, zweitens die Wunscherfüllung, drittens sprachspielerische Aspekte (vgl. Tracy 1994: 1; Gretsch 2000: 156). Die zentrale Bedeutung von Fragen für den Spracherwerb ist damit unverkennbar. Insbesondere für Kinder im Vorschulalter spielen W-Fragen eine entscheidende Rolle: Sie sind das Mittel, mit dem sich Kinder fortwährend Wissen über ihr Lebensumfeld und die Welt aneignen (vgl. Herrmann 2014: 19). Doch im Gegensatz zu Erwachsenen, die für gewöhnlich weder mit der Äußerung von W-Fragen noch mit deren Verständnis und Beantwortung Probleme haben, müssen Kinder diese Strukturen erst erwerben (vgl. Salomo, Lieven & Tomasello 2012). Doch wie genau funktioniert dieser Erwerbsprozess? Die Untersuchung von W-Fragekonstruktionen im kindlichen Sprachgebrauch hat eine lange Tradition (Davis 1932; Smith 1933).1 So berichtet bereits Smith (1933) in seiner Studie zu englischsprachigen Kindern im Alter von 1;52 bis 6;0 Jahren, dass Fragen 16 % ihrer Äußerungen ausmachen. Die häufigsten wh-Fragen der Kinder waren dabei what- und where-Fragen. Hinsichtlich des Entwicklungsverlaufs zeigt sich, dass die Anzahl sowie der prozentuale Anteil der Fragen an der Gesamtzahl der Äußerungen bis zum Alter von 4;0 Jahren mit jedem halben Jahr zunimmt. Nach dem Alter von 4;0 Jahren nimmt beides ab. Zirka die Hälfte der untersuchten Kinder verwendet im Alter von 2;0 Jahren Fragekonstruktionen. Dieser Anteil steigt mit jedem Jahr bis zum Alter von 5;0 Jahren auf 95 % an. Weiterhin zeigt sich, dass fast die Hälfte der von Zweijährigen gestellten Fragen durch ein wh-Fragewort eingeleitet wird. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die Studien von Ingram (1971) sowie Newport, Gleitman & Gleitman (1977). Im Deutschen beginnen W-Fragen für gewöhnlich mit einem Interrogativpronomen, gefolgt von einem finiten Verb (Voll- oder Modalverb oder Auxilar) und einem Subjekt (oder Objekt) (s. 1a). Die syntaktische Abfolge unterscheidet sich damit von der Wortstellung im Hauptsatz (s. 1b) sowie von Entscheidungsfragen, in denen das Verb an erster Stelle steht, gefolgt von Subjekt und Objekt bzw. einer Präpositionalphrase (s. 1c). Im Gegensatz zum Englischen zeichnet sich das Deutsche bei W-Fragen durch eine höhere Variation in den Verbtypen und -formen aus, die dem Interrogativpronomen folgen können. Hieraus resultiert eine höhere Type-Frequenz für Verben.
1 Studien zur Rezeption unterschiedlicher Fragekonstruktionen finden sich deutlich weniger (siehe jedoch u. a. Ervin-Tripp 1970; Tyack & Ingram 1977; Herrmann 2014; Casillas et al. 2016; Moradlou et al. 2021). 2 Das Alter der Kinder wird im Format Jahre;Monate oder Jahre;Monate.Tage angegeben. 1;5 bedeutet somit, dass das Kind 1 Jahr und 5 Monate alt ist.
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(1) a. Was is(t) das für ein Tier? (Merit, 2;01.10) b. Das is(t) eine Mamahose. (Merit, 2;01.18) c. Hab(e) ich etwas kaputt gereißt [: gerissen]? (Merit, 2;00.21) Die Muster in (1a) und (1b) zeigen die für das deutsche typische Verbzweitstellung, bei der das Vorfeld von einer Konstituente besetzt ist. Im Falle von (1a) handelt es sich dabei um das Interrogativpronomen. Die Verb-Zweitposition gilt dabei als unmarkierter Fall des Interrogativmusters. Daneben existieren auch sogenannte Echofragen wie Er bleibt wie lange in München? Bei diesen Formen sprechen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon, dass das Interrogativpronomen an seiner ursprünglichen Position realisiert wird. Es wird in situ belassen (vgl. Wunderlich 1986)3. Der Erwerb von W-Fragen wurde im Deutschen in einer Reihe von Studien untersucht (Wode 1976; Felix 1980; Mills 1985; Tracy 1994; Clahsen et al. 1995; Penke 2001; Herrmann 2005, 2014; Schweser et al. 2012). Als Datengrundlage dienten sowohl Spontansprachkorpora als auch gezielte Elizitierungen. Dabei zeigte sich etwa in der Untersuchung von Mills (1985: 230) eine Tendenz zur Erwerbsreihenfolge der Interrogativpronomen. So verwenden Kinder ihren Daten zufolge im Deutschen zuerst die Fragewörter wo und was, gefolgt von wer, wie, warum und wann. Vor der Verwendung der Interrogativpronomen scheinen Kinder eine Phase zu durchlaufen, in der W-Fragen ohne Fragewörter gebildet werden (vgl. Clahsen, Kursawe & Penke 1995; Penke 2001: 355; Tracy 2008: 89; Schmerse, Lieven & Tomasello 2013; s. auch Phase I in den nachfolgend beschriebenen Entwicklungsschritten). Schwerpunkt der bisherigen Untersuchungen war vor allem die Frage nach den syntaktischen Erwerbsschritten, die Kinder durchlaufen müssen, um die Strukturen von W-Fragen erfolgreich zu produzieren. Einen Meilenstein bildet hierbei die Untersuchung von Tracy (1994), in der longitudinale Daten eines Jungen, Valle, analysiert wurden. Dabei nimmt sie vier zentrale Entwicklungsschritte für den Erwerb von W-Fragen an (vgl. Tracy 2011: 412–413): I. Die erste Phase, in der Valle 1;11 Jahre alt ist, wird von Tracy (2011: 412) als eine Art Vorläuferphase zum Erwerb von Fragekonstruktionen beschrieben. Der Status der Äußerung als Informations- oder auch Entscheidungsfrage kann nur mithilfe des Kontexts erschlossen werden. Interrogativpronomen werden in dieser Phase noch nicht realisiert, teilweise jedoch eine steigende Intonation. Weiterhin merkt Tracy (2011: 412) an, dass über die Position des Verbs aufgrund der Kürze der Fragekonstruktionen keine Aussage getroffen werden kann. Als Beispiele führt sie Äußerungen an wie der mann macht/ ‚Was macht
3 Zum Erwerb von Echofragen s. Reis (2016: 226–229).
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der Mann‘ (/ steht für ansteigende Intonation) oder Ist das? ‚Was ist das‘ (Tracy 1994: 21). II. In der zweiten Phase (ab 2;0) treten W-Fragen mit Verb-Letztstellung auf, teilweise jedoch noch ohne Interrogativpronomen. Allerdings findet sich im Untersuchungszeitraum auch schon ein Beleg für eine W-Frage in Verb-Zweitposition. Tracy (2011: 413) belegt dies u. a. mit den folgenden Beispielen: wo das haus mit dem feuer ist?, die jetza hingehn?, wie geht das auf?. III. In Phase drei, die nur einen Monat umfasst (2;3), treten W-Fragen sowohl in Verb-Letzt- als auch in Verb-Zweitposition auf wie etwa in was der gerne will? oder was will der denn? (Tracy 2011: 413). IV. Schließlich festigt Valle mit 2;4 Jahren das für W-Fragen typische Interrogativmuster mit Verb-Zweitposition. Tracy (1994) geht in ihrem Ansatz eines schrittweisen Erwerbs der W-Fragekonstruktion im Deutschen von der Grundannahme aus, dass Wörter aus einem mentalen Lexikon in eine abstrakte syntaktische Struktur eingebettet werden. Dabei können je nach Satztyp Bewegungen der sprachlichen Elemente nötig sein. Dies trifft im Falle der deutschen W-Frage zu. Ein solches Verständnis wird in generativen Ansätzen vertreten, die maßgeblich die Forschung zum Erwerb der Fragekonstruktionen im Deutschen bestimmt haben (s. die oben zitierten Studien). Innerhalb generativer Theorien (u. a. Chomsky 1981, 1995, 2005) werden Sprachen in [+wh]-Sprachen wie etwa das Deutsche oder Englische und [−wh]-Sprachen wie etwa das Chinesische, Koreanische oder Japanische unterschieden. [+wh]-Sprachen zeichnen sich dadurch aus, dass eine overte Bewegung des Interrogativpronomens (W-Element) obligatorisch ist, wohingegen dieses in [−wh]-Sprachen in seiner Ausgangsposition verbleibt (vgl. Grewendorf 2002). Demnach besteht die Erwerbsaufgabe von Kindern aus generativer Sicht darin herauszufinden, welche der beiden festgelegten Möglichkeiten [+wh] oder [−wh] für ihre Sprache zutrifft (vgl. Herrmann 2014: 54). Für das Deutsche wird somit angenommen, dass W-Fragen syntaktischen Bewegungen zugrunde liegen, die Kinder im Verlauf des Syntaxerwerbs realisieren müssen. Hierbei sind zwei Bewegungsoperationen nötig, die über das W-Kriterium und den W-Parameter geregelt werden (vgl. u. a. Roeper & Weissenborn 1990; Rizzi 1990, 1996; Cook & Newson 1996; Haider 2010): Die des Interrogativpronomens (W-Element) an die erste Position der Äußerung sowie die des Verbs nach C0. Aus diesen sogenannten overten Bewegungen resultiert eine Änderung der Äußerungsabfolge. Solche Bewegungen werden nach dem Ökonomieprinzip des Minimalistischen Programms (MP) (vgl. Chomsky 1995; Grewendorf 2002) später erworben, da sie fehleranfälliger sind und höhere Verarbeitungskosten erfordern (für Details vgl. Herrmann 2014: 34–38). Für das Deutsche ließe sich
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demnach eine Phase vermuten, in der das W-Element in situ, also in seiner Ausgangsposition realisiert wird (Paula hat was getrunken?). Die bisherigen Ergebnisse generativer Forschung zeigen für das Deutsche, dass Kinder bereits ab der Mitte ihres dritten Lebensjahres in der Lage sind, die W-Elemente sowie das Verb overt zu bewegen und dass Verstöße nur äußerst selten vorkommen (Wode 1976; Felix 1980; Tracy 1994; Clahsen et al. 1996; Guasti 2002; Herrmann 2005; Schmerse et al. 2012). Darüber hinaus merkt Herrmann (2014: 72) an, dass sich im Sinne des MP keine Hinweise für einen ökonomiegesteuerten Erwerbsprozess finden lassen.4 So zeigen die Daten keine [−wh]-Strukturen und nur vereinzelt fehlende Verbbewegungen (vgl. auch Guasti 2002 für weitere [+wh]-Sprachen). Eine Präferenz koverter Bewegungen mittels der syntaktischen Operation merge anstelle overter Bewegungen (move 𝛼), wie es im MP vorgeschlagen wird (vgl. Platzack 1996 zur Initial Hypothesis of Syntax), scheint für die W-Fragekonstruktion des Deutschen nicht zuzutreffen. Stattdessen müssten Kinder, die Deutsch als Erstsprache erwerben, aus generativer Sicht bereits in der frühen Phase des Spracherwerbs die korrekten Parameterwerte setzen, um die komplexen overten Bewegungsoperationen durchzuführen. Die Frage danach, wie dies erfolgt, wird über sogenannte Trigger-Effekte erklärt. So schlagen Roeper und Weissenborn (1990) vor, dass Kinder anhand der eindeutigen Nebensatzstruktur erkennen, dass overte Bewegungen im Deutschen möglich sind. Dies führt zirka im Alter von 2;6 Jahren zur Fixierung des W-Parameters (vgl. Roeper & Weissenborn 1990: 157). Dies widerspricht allerdings Ergebnissen von Herrmann (2014). In ihrer experimentellen Studie konnte sie für den ungestörten Spracherwerb zeigen, dass bereits Kinder im Alter von 1;8 bis 1;10 Jahren sensitiv auf die Wohlgeformtheit von W-Fragen reagieren. Dies galt sowohl für die Position des Interrogativpronomens als auch für die Verbstellung. Herrmann (2014: 278–279) schlussfolgert daraus, dass Kinder, bereits bevor sie selbst aktiv W-Fragen produzieren, die für das Deutsche geltenden Bewegungsoperationen verinnerlicht haben. Ausschlagend hierfür ist ihrer Meinung nach der sprachliche Input (vgl. Hermann 2014: 88).5 Diese frühe 4 Wie Herrmann (2014: 64–90) zeigt, spricht auch die allgemeine Datenlage zu [+wh]- und [−wh]-Sprachen gegen die Annahme eines universellen Default-Wertes eines W-Parameters für den Spracherwerb. Dass Ökonomieprinzipien generell Einfluss auf Spracherwerbsprozesse haben können – insbesondere bei einer auffälligen Sprachentwicklung –, soll hier allerdings nicht in Abrede gestellt werden. 5 Die zentrale Bedeutung des Inputs wird auch anhand der Analyse sogenannter optionaler [+wh]-Sprachen sichtbar, die beide Muster – overte und koverte Bewegung des Interrogativpronomens – zulassen. Ein Beispiel hierfür ist das Portugiesische. In einer Untersuchung von Spontansprachdaten brasilianisch-portugiesischer Kinder zeigten sich beim Erwerb von W-Fragen divergierende Muster (vgl. Grolla 2009). Dies hing von der Region ab, in der die Kinder aufwuchsen. So bildeten Kinder, die aus der Bahia Region stammten W-Fragen mit koverter Bewegung des Interro-
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Sensitivität deckt sich auch mit den Befunden der oben zitierten Studien: In allen Studien finden sich bereits deutlich früher als gegen Mitte des dritten Lebensjahres zielsprachlich korrekte Realisierungen von W-Fragen. Betrachtet man Daten aus dem Leo- sowie Koch-Korpus aus der Kindersprachdatenbank CHILDES (zu den Korpora s. Kapitel 4), finden sich diese bereits um den 2. Geburtstag: (2) a. Mama, wo bis(t) du? (Leo, 2;00.08) b. Wo is(t) Auto? (Marieke, 2;02.22) c. Was hat die da (a)m Mund? (Merit, 2;00.21) Noch deutlich früher, nämlich im Alter von 1;4 Jahren, datieren Stern & Stern (1928: 88) den Beginn vollständiger W-Fragen mit dem Interrogativpronomen wo. Als bemerkenswert wird hier auf die nahezu regelmäßige Realisierung des Artikels (der/de) hingewiesen: (3) a. b. c. d.
Wo isn der Papa? Wo isn de Puppe? Wo isn der Baubau? Wo isn de Butte (Semmel)?
(Günther, 1;4) (Günther, 1;4) (Günther, 1;4) (Günther, 1;4)
Clahsen et al. (1995) sehen insbesondere Formen wie (2a,b) und (3) als einzelne, holistisch abgespeicherte Fragekonstruktionen, die nicht syntaktisch generiert werden, sondern zunächst ganzheitlich aus dem mentalen Lexikon abgerufen werden. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einzelne Ausnahmen, wie ein genauerer Blick in die Daten zeigt. So verwendet Merit im Alter von 2;00.21 Jahren innerhalb eines Datenerhebungszeitpunktes (04-NOV-2013) 45 zielsprachliche W-Fragen. In Mariekes erster Aufnahme (02-NOV-2013) im Alter von 2;02.22 Jahren finden sich immerhin noch 8 Realisierungen. In den vier sich anschließenden Erhebungszeitpunkten Mariekes (03–06-NOV-2013) schwankt dieser Wert zwischen 7 und 11. Aus der dargelegten Forschungslage lässt sich schlussfolgern, dass Kinder einen Großteil ihrer W-Fragen bereits deutlich vor Mitte des dritten Lebensjahres korrekt bilden. Insbesondere die Position des Interrogativpronomens wird dabei zielsprachlich realisiert. Auch die Verb-Zweitposition scheint in vielen Fällen bereits korrekt.
gativpronomens, wie sie zu 80 % im Input vorkamen. Anders verhält es sich mit Kindern aus der Region São Paulo. Diese präferierten eine Bildung von W-Fragen mit overter Bewegung, wie sie in 91 % des Sprachangebots vorlagen (vgl. Grolla 2009: 7; Herrmann 2014: 85–86).
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Statt der Annahme zweier komplexer Bewegungsoperationen, die Kinder laut generativen Überlegungen im Deutschen durchführen müssen, wollen wir für einen alternativen Erklärungsansatz argumentieren. Dieser rückt deutlich stärker die Rolle des Inputs in den Fokus – der durchaus auch in generativen Erklärungen eine Rolle spielt – und zeigt, dass W-Fragen über eine hohe Musterhaftigkeit verfügen, die es Kindern erleichtert, diese Strukturen relativ schnell und fehlerfrei zu erwerben. Anstatt also zwei Erwerbsprozesse annehmen zu müssen, einen holistischen, der W-Fragen im frühen Erwerb als ganzheitliche Chunks ansieht, und einen produktiven, bei dem W-Fragen mithilfe von abstrakten Bewegungsoperationen realisiert werden, wollen wir den ersten Weg weiterdenken und zeigen, dass zusätzliche Annahmen überflüssig sind. Um Evidenz für diese Perspektive zu gewinnen, stützen wir uns im Folgenden auch auf eine induktive Methode zur Mustererkennung, die im Rahmen gebrauchsbasierter Ansätze entwickelt wurde. Zuvor jedoch soll auf theoretischer Ebene skizziert werden, wie gebrauchsbasierte Ansätze den Erwerb von Fragekonstruktionen erklären.
3 Der Erwerb von W-Fragen aus gebrauchsbasierter Perspektive Gebrauchsbasierte Ansätze gehen davon aus, dass Sprache mithilfe grundlegender kognitiver Mechanismen erworben wird, die auch in anderen Domänen eine Rolle spielen. Hierzu zählen insbesondere das Erkennen von Intentionen Anderer (intention reading) sowie die Fähigkeit der Mustererkennung (pattern finding) (vgl. u. a. Tomasello 2003: 3–4, 21–31; Tomasello 2009: 69). Durch das Erkennen von Ähnlichkeiten und das Herausfiltern wiederkehrender Elemente bilden Kinder Kategorien und sammeln so ein großes Maß an abstraktem Wissen über die ihnen begegnenden Äußerungen. Diese Fähigkeit ist demnach für das Gelingen des Spracherwerbs zentral. Allerdings sind sprachliche Muster im frühkindlichen Erwerbsprozess item-basiert, d. h., sprachliches Wissen wird um konkrete Wörter und Phrasen organisiert (vgl. MacWhinney 2014: 36). Genauer gesagt nehmen gebrauchsbasierte Ansätze an, dass Kinder Sprache sowohl durch das Erlernen fest zusammengehöriger lexikalischer Einheiten, sogenannter Chunks (wie z. B. Wo ist Mama?), als auch durch das Ableiten sprachlicher Schemata mit Leerstellen, sogenannter frame-and-slot patterns, erwerben. Diese entstehen, wenn ähnliche Äußerungen wie etwa Ich will Saft!, Ich will Eis!, Ich will Schoki! mit wiederkehrenden Wahrnehmungs- oder Handlungsmustern verknüpft werden und somit in einem Schematisierungsprozess zusammengefasst werden können (vgl. Koch 2019: 139–140). Auf diese Weise entsteht das Schema [Ich will X!], das neben den
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beiden lexikalisch spezifischen Elementen (Ich und will) über eine Leerstelle (X) verfügt. Für unterschiedliche Sprachen konnte gezeigt werden, dass Kinder wiederkehrende lexikalisch feste Einheiten und teilschematische Konstruktionen mit Leerstellen kombinieren, um neue sprachliche Äußerungen zu produzieren (vgl. u. a. Lieven et al. 2009; Koch 2019; Koch et al. 2020a). So ließen sich etwa für das X im Schema [Ich will X!] Wörter (sog. Füllwerte) einsetzen, mit denen das Kind nach weiteren spezifischen Objekten verlangt (Ich will Teddy!, Ich will Mama!, Ich will das!). Der Erwerb sprachlicher Strukturen erfolgt somit individuell um spezifisch lexikalische Einheiten herum. Die hierbei realisierten syntaktischen Muster werden allerdings noch nicht als global erworbenes grammatisches Wissen angesehen, sondern zeichnen sich durch eine begrenzte Anzahl wiederkehrender Muster aus. Dies deutet darauf hin, dass Kinder zunächst Wörter und feste Wortkombinationen (Chunks) lernen, bevor sie immer komplexere Muster aus ihrer sprachlichen Erfahrung abstrahieren und so allmählich ein Inventar von Konstruktionen aufbauen, ohne dass ein angeborener Spracherwerbsmechanismus erforderlich ist (u. a. Tomasello 2003; Lieven et al. 2003, 2009; Vogt & Lieven 2010; Ambridge & Lieven 2011; Koch 2019). Erst im weiteren Verlauf des Spracherwerbs kommt es zur Etablierung abstrakterer Konstruktionen, zu denen etwa Relativsätze gehören (vgl. Diessel & Tomasello 2005). Jedoch zeigt sich auch hierbei noch eine enge Verbindung zu bereits erworbenen Konstruktionen (für eine detaillierte Übersicht über den Verlauf des Erstspracherwerbs aus gebrauchsbasierter Perspektive s. Koch 2019: 98–144). In Bezug auf die Untersuchung von wh-Fragen konnten Dąbrowska (2000) sowie Dąbrowska & Lieven (2005) für englischsprachige Kinder zeigen, dass diese Konstruktionen zunächst als feste Phrasen oder auch Chunks, wie What’s this oder in Form von teilschematischen WH+VP-Konstruktionen wie Where is X erworben werden. Dies lässt sich anhand eines Beispiels aus Dąbrowska (2000) verdeutlichen: So entwickelt sich das lexikalisch fixierte Muster [What’s Mommy doing] eines Kindes im Alter von 2;0 Jahren schrittweise im Verlauf eines Jahres hin zu einer abstrakteren [What is NP V(-ing)]-Konstruktion. Damit lässt sich die Entwicklung von einer item-basierten, spezifischen Konstruktion hin zu einer abstrakten Konstruktion durch die gesammelte sprachliche Erfahrung des Kindes erklären. Demnach sind Kinder von Beginn an dazu in der Lage, aus der Sprache, die sie hören, Regelmäßigkeiten verschiedener Art herauszufiltern und diese zu kategorisieren. Je mehr wh-Fragen Kinder also hören, desto mehr variieren die verschiedenen Teile der Fragekonstruktionen, z. B. die wh-Pronomen und die Verbformen. Diese Variation ist jedoch, insbesondere im Englischen, begrenzt. So ist die Anzahl der wh-Pronomen und Auxiliare limitiert, und darüber hinaus gibt es im Englischen nur wenige verschiedene Flexionsformen von Auxiliaren. Weiterhin weisen
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die wh-Pronomen und Auxiliare eine feste Reihenfolge auf. Wh-Pronomen stehen immer an erster Stelle, Auxiliare an zweiter Stelle und so weiter. Damit ist die Zahl möglicher WH+AUX-Kombinationen deutlich beschränkt (vgl. Steinkrauss 2017). Kinder sind dazu in der Lage, in diesen unterschiedlichen Kombinationen Muster zu erkennen, die sie nutzen, um für einzelne Positionen innerhalb von Konstruktionen abstraktere Kategorien zu bilden. Diese sogenannten Slots oder Leerstellen lassen sich mithilfe linguistischer Termini wie beispielsweise NP (Nominalphrase) in der Fragekonstruktion What+is+NP+V-Konstruktion beschreiben. Im Laufe der sprachlichen Entwicklung erkennen Kinder, dass sie beispielsweise in den NP-Slot eine Vielzahl unterschiedlicher Wörter oder Phrasen einsetzen können. Auf diese Weise lösen sich die zunächst item-basierten Fragekonstruktionen immer mehr von den spezifischen Fragestrukturen, denen Kinder im Input begegnen (vgl. Dabrowska & Lieven 2005). Zu Beginn des Spracherwerbs sind Kinder demnach konservative Lerner, die sich stark am Input orientieren und anfänglich auf item-basierte, teilschematische Konstruktionen und Chunks zurückgreifen. Dies zeigt sich auch, wenn man typische Fehler bei der Bildung von Fragekonstruktionen von Kindern betrachtet. So konnte Rowland (2007) in einer Untersuchung von zehn Englisch lernenden Kindern im Alter von 2;0 bis 5;0 Jahren zeigen, dass deren gesamte Fragekonstruktionen (Entscheidungs- sowie Ergänzungsfragen) mit do-Auxiliaren eine höhere Fehlerquote aufwiesen als solche mit Modalverben, die als Auxiliare fungieren. Bei wh-Fragen hingegen waren die Fehlerquoten mit Modalverben oder dem do-Auxiliar gleich hoch. Interessant ist darüber hinaus, dass die Fehlerquote mit Modalverben bei den wh-Fragen signifikant höher lag als bei den Entscheidungsfragen. Dies war bei dem Auxiliar do nicht der Fall. Rowland (2007: 128) schlussfolgert daraus, dass Entscheidungs- und Ergänzungsfragen deutliche strukturelle Unterschiede aufweisen. Die Fehler sind demnach auf eine komplexe Interaktion zwischen Fragetyp und Auxiliar zurückzuführen. Wie von gebrauchsbasierten Ansätzen vorhergesagt, war die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder korrekte Fragen stellten, signifikant höher, wenn sie hierzu auf teilschematische Muster zurückgreifen konnten, die sie zuvor gelernt hatten oder die mit hoher Frequenz im Input vorkamen (vgl. Rowland 2007: 128). Rowland (2007: 129–130) sieht demnach einen direkten Zusammenhang zwischen der Fehlerquote bei Kinderfragen und der Geschwindigkeit, mit der Kinder bestimmte lexikalisch gebundene Fragetypen wie what can X? lernen, sowie der Häufigkeit, mit der sie diese im Input hören. Dies steht im Einklang mit der gebrauchsbasierten Annahme, dass eine beträchtliche Anzahl korrekter Fragen von Kindern auf fest verankerten teilschematischen Mustern basiert und Fehler tendenziell häufiger auftreten, wenn solche Muster (noch) nicht verfügbar sind (s. auch Johnson 1983; Rowland & Pine 2000).
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Der sprachliche Input, den Kinder erhalten, spielt demnach in gebrauchsbasierten Ansätzen eine Schlüsselrolle, da er die Grundlage bildet, auf der sprachliches Wissen erworben wird. Kinder sind demnach dazu in der Lage, ihrer Umgebungssprache und den sprachlichen Interaktionen, die sie erleben, Informationen zu entnehmen, die den Spracherwerb ermöglichen. Darüber hinaus hat die Forschung gezeigt, dass die an das Kind gerichtete Sprache durch eine Reihe von Eigenschaften wie lexikalische Restriktivität und bestimmte Frequenzverteilungsmuster gekennzeichnet ist, die sie besonders gut für die Abstraktion von Konstruktionsmustern geeignet machen (Cameron-Faulkner et al. 2003; Ambridge et al. 2009; Bannard & Lieven 2009; Stoll et al. 2009; Christiansen & Chater 2016). Hinsichtlich des Erwerbs von wh-Fragen konnten Cameron-Faulkner et al. (2003) in einer Analyse von kindgerichteter Sprache zeigen, dass diese hochgradig formelhaft ist. So ließen sich etwa 80 % der wh-Fragen der zwölf englischsprachigen Mütter auf 31 Konstruktionsmuster wie Where’s X zurückführen. Somit wurden von allen Müttern immer wieder dieselben Zwei-Wort-Anfänge verwendet, um wh-Fragen zu bilden, was zumindest teilweise auf die begrenzte Anzahl von wh-Wörtern und Auxiliaren im Englischen zurückzuführen ist. Insbesondere das wh-Fragewort what spielte dabei eine zentrale Rolle, da es in über der Hälfte aller Fragekonstruktionen verwendet wurde. Die am häufigsten gebrauchten Konstruktionsmuster der wh-Fragen enthielten darüber hinaus das Hilfsverb is, typischerweise in der kontrahierten ’s-Form. What’s, where’s und who’s traten somit zu fast einem Drittel am Beginn aller wh-Fragekonstruktionen auf (vgl. Cameron-Faulkner et al. 2003: 855). Auch Rowland et al. (2003) sehen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Erwerb von Fragekonstruktionen und dem Input, den Kinder erhalten (vgl. auch Rowland & Pine 2000). In einer Untersuchung von über 300 Stunden authentischer Sprachdaten von zwölf Kindern im Alter von 2;0 bis 3;0 Jahren und deren Müttern wurden die Rolle sprachlicher Komplexität (nach Bloom et al. 1982) sowie Häufigkeitsverteilungen des Inputs für den Erwerb von wh-Fragen analysiert. Dabei zeigte sich, dass die Reihenfolge des Erwerbs erfolgreich aus der Häufigkeit des Auftretens bestimmter wh-Wörter und Verben im Input der Kinder vorhergesagt werden konnte. Syntaktische und semantische Komplexität hingegen sagten den Erwerb nicht zuverlässig hervor, wenn die Input-Häufigkeit berücksichtigt wurde.6 Damit räumen Rowland et al. (2003) relativen Input-Häufigkeiten 6 Die zentrale Aussage des Ansatzes von Bloom et al. (1982) ist, dass der Erwerb von wh-Fragen durch die syntaktische und semantische Komplexität der Konzepte bestimmt wird, die durch die wh-Wörter und die zu erwerbenden Verben kodiert werden. Deshalb geht der Ansatz davon aus, dass die ersten wh-Fragen, die auftreten, sog. wh-Identitätsfragen sind. Hierbei handelt es sich um Fragen, die nach der Identität von Dingen oder Orten fragen. Weiterhin wird erwartet, dass diese mit denen von Bloom et al. (1982: 1086) als relativ einfach bezeichneten wh-Pronomina what und
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bestimmter wh-Wort+Verb-Kombinationen einen entscheidenden Beitrag im Erwerbsprozess ein. Für das Deutsche liegen unseres Wissens bisher nur wenige Studien zum Erwerb von (W)-Fragen aus gebrauchsbasierter Perspektive vor, darunter die Fallstudie von Steinkrauss (2009) zum Leo-Korpus7, in der er die Entwicklung von W-Fragen über einen Zeitraum von 2;0 bis 3;0 Jahren analysierte. Hier konnte gezeigt werden, dass es bei Leo im Vergleich zu Englisch lernenden Kindern schneller zur Etablierung einer abstrakten W+V-Konstruktion kommt. In der Untersuchung stand die Frage im Mittelpunkt, wie und wann Kinder abstraktes grammatisches Wissen erwerben. Dabei spielte der Input eine entscheidende Rolle. In einer detaillierten Frequenzanalyse bestätigte Steinkrauss (2017) Ergebnisse früherer Untersuchungen, dass Input und Output hinsichtlich struktureller Ähnlichkeiten signifikant korrelieren. Bezüglich einer spezifischen Ebene lexikalisch fester W-Fragen konnte darüber hinaus festgestellt werden, dass deren Verwendungshäufigkeiten zunächst stark an den Kontext gebunden sind (vgl. Steinkrauss 2017: 138–139). In der vorliegenden Studie liegt der Fokus der Untersuchung darauf, inwiefern sich deutsche W-Fragekonstruktionen durch eine Musterhaftigkeit auszeichnen, die es Kindern erleichtert, diese zu erwerben. Dabei soll untersucht werden, ob die W-Fragen der Kinder selbst Muster aufweisen, die für einen item-basierten Erwerbsprozess sprechen. Aus gebrauchsbasierter Perspektive erwarten wir, dass sich der Großteil der W-Fragekonstruktionen als typische frame-and-slot patterns beschreiben lassen, die sich durch wiederkehrende fixierte lexikalische Elemente und freie Leerstellen auszeichnen.
und where sowie vor allem mit der Kopula gebildet werden. Später sollen die wh-Pronomina, zu denen dann auch who gehört, mit einer größeren Vielfalt von Vollverben auftreten (z. B. where has he gone?, what are you doing?). Es wird jedoch erwartet, dass sich die Formen vor allem auf die von Bloom et al. (1982) als Pro-Verben bezeichneten Verben wie do und go beschränken (weitere Bezeichnungen innerhalb der Spracherwerbsforschung sind light verbs, general-purpose verbs, generic verbs und pathbreaking verbs). Diese sog. Pro-Verben sind dem Ansatz von Bloom et al. zufolge leichter zu erlernen als andere Verben, weil sie weniger semantisch spezifisch sind und in einer größeren Anzahl von Kontexten vorkommen können. 7 Beim Leo-Korpus (vgl. Behrens 2006 für Details) handelt es sich um ein dichtes longitudinales Korpus, das den Spracherwerb eines monolingual deutschsprachigen Jungen im Alter von 1;11 bis 4;11 Jahren abdeckt.
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4 Fallstudie 4.1 Korpora Der vorliegenden Studie liegen drei Korpora deutschsprachiger Kinder im Alter zwischen 2;0 und 2;6 Jahren zugrunde (Koch 2021b).8 Bei den Kindern handelt es sich um zwei monolingual aufwachsende Mädchen, Marieke und Merit, sowie um einen Jungen, Simon. Die drei Kinder stammen aus einer mittelgroßen Stadt im östlichen Teil Nordrhein-Westfalens in Deutschland und wuchsen in Akademikerhaushalten auf, in dem mindestens ein Elternteil einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss besaß. Merit war zum Zeitpunkt der Aufnahmen Einzelkind. Marieke hatte einen vierjährigen Bruder, Simon eine vierjährige Schwester. Alle drei Kinder besuchten im Zeitraum der Aufnahmen Betreuungseinrichtungen außerhalb des Elternhauses. Die Datenerhebung jedes Korpus erfolgte über einen Zeitraum von sieben Wochen, in denen wöchentlich fünf einstündige Aufnahmen in typischen Spielinteraktionen stattfanden. Jedes Korpus umfasst somit 35 Stunden an Sprachmaterial. Lieven et al. (2003: 336) sowie Tomasello & Stahl (2004: 102, 105) merken an, dass die gängige Aufnahmedauer für Korpora der Spracherwerbsforschung zwischen dreißig und sechzig Minuten alle ein bis zwei Wochen liegt. Geht man davon aus, dass ein Kind etwa acht bis zehn Stunden pro Tag wach ist und in dieser Zeit sprachliche Strukturen produziert sowie rezipiert, kommt man auf einen Umfang von circa 70 Stunden Sprachmaterial pro Woche (vgl. Lieven et al. 2003: 336; Rowland et al. 2008: 2). Die meisten bestehenden Kindersprachkorpora umfassen somit in etwa 1 % bis 1,5 % der sprachlichen Entwicklung. Die der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Daten bilden somit 7 % bis 10 % der Äußerungen des Beobachtungszeitraums ab. Während der Aufnahmen war bei allen drei Kindern die Mutter die primäre Bezugsperson. Sowohl die Geschwister als auch die Väter nahmen an einigen der Aufnahmen teil. Im Falle des Merit-Korpus wurden vier der Aufnahmen allein vom Vater durchgeführt. Neben dem sprachlichen Input im Familienkreis sowie den Betreuungseinrichtungen spielte weiterer, indirekter Input in Form von TV oder Handy-Apps bei allen Kindern eine untergeordnete Rolle. Alle Aufnahmen fanden im Haus der Familien statt und wurden mithilfe des TASCAM DR-100MKII Rekorders durchgeführt und im SONIC CHAT-Format transkribiert (MacWhinney 2021).
8 Die Daten sind frei auf der Kindersprachdatenbank CHILDES verfügbar. Dort sowie in Koch (2019: 162–164) finden sich detaillierte Informationen zu den Korpora: https://childes.talkbank. org/access/German/Password/Koch.html
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Merit ist für ihr Alter mit einer mittleren Äußerungslänge (mean length of utterance, kurz MLU)9 von 4,241 – also der durchschnittlichen Wortanzahl pro Äußerung – bereits weit fortgeschritten in ihrem Spracherwerb. Mariekes MLUWert ist bei 2,329, der von Simon bei 1,685. Ihre Äußerungen sind demnach noch nicht ganz so komplex. Alle Kinder wurden im Vorfeld der Datenerhebung mit einem Sprachentwicklungstest für Zweijährige (SETK-2; Grimm 2000) getestet, um eine Sprachentwicklungsstörung auszuschließen. Dabei wurde die Produktion und Rezeption von Wörtern und Sätzen in vier Untertests geprüft. Alle drei Kinder übertrafen den DAWAKRIT-Wert ihrer Altersgruppe und lagen damit im Normbereich. Tabelle 1 gibt eine detaillierte Übersicht über die verwendeten Korpora. Tabelle 1: Korpusübersicht.
Aufnahmezeitraum Äußerungen gesamt Äußerungen Bezugspersonen Äußerungen Kind Wortanzahl gesamt Wortanzahl Bezugspersonen
Marieke
Merit
Simon
2;02.22 – 2;04.10 46.108 27.500 18.608 164.475 121.135
2;00.21 – 2;02.07 31.783 20.878 10.905 177.506 131.258
2;04.23 – 2;06.18 32.711 23.614 9.097 143.651 128.322
43.340
46.248
15.329
4.807 3.542
6.155 4.522
4.216 2.428
2.329 1.686
4.241 2.776
1.685 1.020
Wortanzahl Kind MLU Bezugspersonen Standardabweichung MLU Bezugspersonen MLU Kind Standardabweichung MLU Kind
4.2 Methodisches Vorgehen Im Rahmen gebrauchsbasierter Studien zum Erstspracherwerb ist in den vergangenen Jahrzehnten ein breites Repertoire an Methoden entstanden, die sich zum Ziel setzen, Muster in Spracherwerbsdaten zu erkennen, und zwar sowohl in den Äußerungen der Kinder als auch in kindgerichteter Sprache. Die Ergebnisse, die mit
9 Hierbei handelt es sich um ein quantitatives Messverfahren (Brown 1973), welches sich in Wörtern und Morphemen berechnen lässt. Behrens (2006: 11) folgend, ist die MLU der Kinder für die vorliegende Studie in Wörtern berechnet worden.
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Hilfe dieser Methoden erzielt wurden, haben zahlreiche Annahmen des gebrauchsbasierten Ansatzes untermauert bzw. präzisiert. So haben Studien zum Input, den Kinder erhalten, gezeigt, dass kindgerichtete Sprache in hohem Maße repetitiv und musterhaft ist (vgl. z. B. Cameron-Faulkner et al. 2003; s. Kapitel 3), was maßgeblich zur Lernbarkeit von Sprache beiträgt – ganz im Sinne der Hypothese von Christiansen & Chater (2008), dass die Struktur menschlicher Sprachen dafür optimiert ist, von Kindern gelernt zu werden. Aus konstruktionsgrammatischer Sicht ist freilich anzumerken, dass diese Methoden immer nur die Form-, nicht die Bedeutungsseite sprachlicher Muster erfassen können. In unserer Untersuchung haben wir in einem ersten Schritt sämtliche Vorkommnisse von W-Fragen im Input und Output der drei Kinder extrahiert, um dann deren Komplexität genauer zu analysieren.10 Hieran anschließend wurde eine induktive Methode zur Analyse angewendet, die im Rahmen gebrauchsbasierter Forschung zum Erstspracherwerb entwickelt wurde, nämlich die Traceback-Methode (vgl. Koch et al. 2020; Hartmann et al. 2021). Ihre Grundidee besteht darin, die Äußerungen eines Kindes aus einem kleinen Korpusausschnitt auf Muster zurückzuführen, die sich im restlichen Korpus finden, was, wie im Folgenden zu erörtern sein wird, auch als ein Ansatz zur Messung der Formelhaftigkeit kindlicher Äußerungen verstanden werden kann. Die Ergebnisse der Traceback-Methode dienten als Ausgangspunkt für eine qualitative Analyse der sprachlichen Muster, die sich in den W-Fragekonstruktionen der drei Kinder finden lassen.
4.2.1 Vorkommen und Aufbau von W-Fragen im Input und Output Wie Tabelle 2 zeigt, verwenden alle drei Kinder im Untersuchungszeitraum W-Fragen. Allerdings treten diese mit unterschiedlicher Häufigkeit auf. Während Marieke 1211 W-Fragen äußert, sind es bei Merit 791 und bei Simon 47. Auch hinsichtlich der Komplexität unterscheiden sich die W-Fragen der drei Kinder. Wie bereits angeführt, stellt eine Möglichkeit zur Erfassung von Komplexität die sogenannte Mean Length of Utterance (MLU) dar, also die durchschnittliche Wortanzahl pro Äußerung (s. auch Fußnote 9). Zwar ist die Äußerungslänge als alleiniger Indikator für Komplexität problematisch, und sie sollte idealerweise mit weiteren Parametern ergänzt werden, aber gerade im frühkindlichen Spracherwerb kann davon ausgegangen werden, dass die MLU einen geeigneten Gradmesser für die Komplexität von Äußerungen darstellt (während ansonsten eine geringe Äußerungslänge durchaus auch auf „Verdichtung“ hinweisen kann und keineswegs
10 Die Analysen wurden mithilfe der CLAN-Programme COMBO sowie FREQ durchgeführt.
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auf ein geringes Maß an Komplexität hindeuten muss). Mit einer MLU von 4.461 bildet Merit die längsten W-Fragekonstruktionen, während Simons W-Fragen mit einem Wert von 1.711 die geringste Komplexität aufweisen. Auffällig ist in diesem Kontext, dass die MLU von W-Fragen bei allen Kindern über der jeweiligen Gesamt-MLU liegt (s. Tabelle 1). W-Fragen scheinen im frühen Spracherwerb komplexer zu sein, als die übrigen Äußerungen. Im Hinblick auf den Input lässt sich feststellen, dass W-Fragen frequent verwendet werden und sie sich in ihrer Komplexität gemessen an der MLU nicht gravierend von den übrigen Äußerungen unterscheiden. Tabelle 2: Vorkommen von W-Fragekonstruktionen in den Korpora.
Marieke Bezugspersonen Merit Bezugspersonen Simon Bezugspersonen
Häufigkeit von W-Fragen
MLU von W-Fragen
Standardabweichung
1211 1553 791 2773 47 2078
3.220 5.169 4.461 5.91 1.711 5.193
1.600 2.572 1.740 3.18 1.088 2.151
Weiterhin zeigen sich auch Unterschiede in der Verwendung unterschiedlicher Typen von W-Fragen. Während Merit ihre W-Fragen mit insgesamt 15 verschiedenen Interrogativpronomen konstruiert, verwendet Marieke 7 und Simon 5 unterschiedliche Typen. Wie bereits Wode (1973: 284–285) festgestellt hat, zeigen unterschiedliche Kinder individuelle Präferenzen für bestimmte W-Fragetypen. Wie allerdings anhand von Tabelle 3 deutlich wird, zeigt sich bei allen drei Kindern eine klare Präferenz für wo- und was-Fragen. Auch dies deckt sich mit den Studien von Wode (1973) und Mills (1985). Damit scheinen wo- und was-Fragen den Einstieg in die W-Fragen zu ebnen. Prozentual gesehen, stellen diese den mit Abstand größten Anteil an W-Fragekonstruktionen dar. Bei Marieke und Merit sind es jeweils 87 % und bei Simon 85 %. Schließlich wurden in Anlehnung an Behrens (2006) und aufbauend auf Rubinski (2019), der diese Analyse für die Daten des Merit-Korpus durchführte, die Wortartenkategorien, die in den W-Frageäußerungen der drei Kinder sowie ihrer Bezugspersonen belegt sind, bestimmt, was – ungeachtet der Tatsache, dass dieses Darstellungsformat keine Zuordnung der Wortarten zu einzelnen konkreten Mustern erlaubt – einen Vergleich zwischen dem Input der Bezugspersonen und dem Sprachgebrauch
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Tabelle 3: Typen und Häufigkeiten von W-Fragen. Interrogativpronomen Marieke wo was wie warum wer welches welche wen wem welchen wieso wann wohin woran worauf
660 395 83 47 19 2 5 0 0 0 0 0 0 0 0
Merit
Simon
371 317 30 7 42 4 7 5 3 2 2 1 1 1 1
35 5 0 2 4 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0
der einzelnen Kinder ermöglicht.11 Abbildung 1 zeigt jeweils das prozentuale Vorkommen der einzelnen Kategorien im Verlauf der Erhebungszeitpunkte. Hinsichtlich des Inputs zeigt sich bei allen drei Kindern ein relativ konstantes Verteilungsmuster. Dies spricht für eine hohe Musterhaftigkeit von W-Fragen. Die Verteilung innerhalb der W-Fragen der drei Kinder ist etwas variabler, zeigt jedoch immer noch ein relativ konstantes Muster. Auffällig ist allerdings der höhere Anteil der Kopula im Vergleich zu den Bezugspersonen. Marieke verwendet prozentual gesehen etwa dreimal so häufig die Kopula, Merit doppelt so häufig und Simon 1,5-mal.12 Diese Beobachtung greifen wir in Kapitel 4.2.3 erneut auf.
11 Aufgrund des sehr detaillierten morphosyntaktischen Taggings der Daten, das mithilfe des CLAN-Programms MOR vorgenommen wurde, ist im Sinne einer besseren Übersicht und Aussagekraft eine Bündelung bestimmter Kategorien in Anlehnung an Behrens (2006) vorgenommen worden (s. Abbildung 1). Dies war insbesondere für den Input nötig, da die MOR-Grammatik für das Deutsche, die im Rahmen der Dissertation von Koch (2019: 165–170) entwickelt wurde (https:// talkbank.org/morgrams/ ), 37 verschiedene Kategorien berücksichtigt. Auf Grundlage dieser Kategorien erfolgt eine automatisierte syntaktische und morphologische Annotation der Wörter. Exemplarisch sieht das für den Satz müssen wir das Jahresblatt wechseln? wie folgt aus: %mor: mod|müssen-PRES&13p pro:per|wir det|das&n&sg&nom&acc n|Jahresblatt&n&sg&nom&acc vinf|wechseln-INF ? 12 Auf die gesamten Daten gesehen (d. h. nicht nach Alter aufgeschlüsselt), machen Kopulaverben bei Marieke im Durchschnitt 20,2 % der Daten aus (Input: 6,09 %), bei Merit 11,6 % (Input: 5,36 %), bei Simon 6,69 % (Input: 4,67 %).
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Die Ergebnisse der ersten Analyse deuten somit auf eine hohe Musterhaftigkeit (zunächst in einem rein formalen Sinne, ohne dass es sich zwangsläufig um Konstruktionen im Sinn der Konstruktionsgrammatik handeln muss) in den W-Fragekonstruktionen der Kinder, aber auch ihrer Bezugspersonen hin. Sehr deutlich zeigt sich, dass die drei Kinder unterschiedlich produktiv mit ihren W-Fragen umgehen. Wo- und was-Fragen stellen den bei weitem größten Anteil dar. Auffällig ist vor allem das frequente Auftreten der Kopula ist in den W-Fragen der Kinder. Dies lässt vermuten, dass sich die W-Fragekonstruktionen im frühen Spracherwerb durch eine chunkartige Verbindung des Interrogativpronomens und der Kopula auszeichnet. Ob dies für die Ausbildung von frame-and-slot pattern spricht, soll im weiteren Verlauf analysiert werden. Hierzu werden die Daten in einem nächsten Schritt induktiv mithilfe der sogenannten Traceback-Methode analysiert.
4.2.2 Traceback Ungefähr seit der Jahrtausendwende stützen sich zahlreiche korpusbasierte Studien zum Spracherwerb auf unterschiedliche Varianten der Traceback-Methode, deren wesentliche Grundidee beispielsweise in Lieven et al. (1997) vorweggenommen wurde und die erstmals in Lieven et al. (2003) systematisch eingesetzt und in Dąbrowska & Lieven (2005) präzisiert wurde (vgl. Hartmann et al. 2021). Eine Anwendung auf das Deutsche fand erstmals in Koch (2019) statt. Die Traceback-Methode wurde ursprünglich zur empirischen Überprüfung der gebrauchsbasierten Grundhypothese entwickelt, dass der Erstspracherwerb item-basiert ist, also von konkreten sprachlichen Einheiten ausgeht, ohne dass man eine angeborene Universalgrammatik annehmen müsste. Um zu zeigen, dass sich die Äußerungen von Kindern auf ein begrenztes Inventar von Chunks und frame-and-slot patterns zurückführen lassen, wird ein longitudinales Spracherwerbskorpus in zwei Teile geteilt: Der zumeist kleinere Teil, der in der Regel aus dem Transkript der letzten 1 bis 2 Aufnahmesitzungen besteht, dient als sogenanntes Testkorpus. Die darin enthaltenen Äußerungen des Kindes werden Zieläußerungen genannt. Ziel der Traceback-Methode ist es nun, diese Zieläußerungen auf Muster zurückzuführen, die sich im restlichen Korpus – dem Hauptkorpus (main corpus) – finden. Dafür wird zunächst nach unmittelbaren Übereinstimmungen gesucht. Angenommen, die Zieläußerung lautet wo ist es? (Simon, 2;06.16), so sucht der Algorithmus zunächst nach einer Äußerung im Hauptkorpus, die mit der Zieläußerung identisch ist. Wird diese gefunden, so gilt die Zieläußerung als erfolgreich abgeleitet, und es wird davon ausgegangen, dass das Kind diese Mehrworteinheit als festen Chunks verfügbar hat. Wird sie nicht gefunden, so
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Abbildung 1: Verteilung der Wortarten in W-Fragekonstruktionen bei den untersuchten Kindern (links) sowie ihren Bezugspersonen (rechts).
wird stattdessen nach teilschematischen Mustern gesucht. Beispielsweise findet sich für die Äußerung wo kommt der hin (Simon, 2;06.17) keine identische Äußerung im Hauptkorpus. Doch scheint es plausibel anzunehmen, dass man die Äußerung auf
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ein Muster wie z. B. [Wo ACTION] oder [Wo kommt REF hin] zurückführen kann.13 Da man aber für jede beliebige Äußerung eine ganze Reihe möglicher teilschematischer Muster postulieren könnte, arbeitet die Traceback-Methode mit sogenannten Operationen, die ein systematisches Vorgehen bei der Herausarbeitung von frame-and-slot patterns sicherstellen. Konkret wird in der Regel – so auch in unserer Studie – mit drei Operationen gearbeitet: SUPERIMPOSE, SUBSTITUTE und ADD. Im Fall von SUPERIMPOSE lässt sich die Äußerung aus zwei Bestandteilen (component units) herleiten, die sich lexikalisch überlappen. (a) illustriert dies am Beispiel der Zieläußerung wo ist noch ein Würfel? (Marieke, 2;04.10). Aus mehreren partiellen Matches im Hauptkorpus wird das teilschematische Muster [Wo ist noch ein REF] abgeleitet. Anschließend wird überprüft, ob auch der Füllwert, in unserem Beispiel also ein Würfel, im Hauptkorpus belegt ist. Tatsächlich findet sich hier mehrfach die Nominalphrase (NP) ein Würfel, sodass diese als component unit gilt. Dass sich die lexikalisch festen Bestandteile des postulierten Schemas und des Füllwerts der Leerstelle überschneiden, stellt den Unterschied zur ansonsten identischen Operation SUBSTITUTE dar. Diese wird in (b) anhand der Zieläußerung können wir das nochmal spielen? (Marieke,2;04.09) dargestellt. (a) SUPERIMPOSE Zieläußerung: Partielle Matches im Hauptkorpus:
Füllwert der Leerstelle im Schema: (b) SUBSTITUTE Zieläußerung: Partielle Matches im Hauptkorpus:
Füllwert der Leerstelle im Schema:
wo ist noch ein Würfel? wo ist noch ein Loch? wo ist noch ein Kind? etc. → Schema: [Wo ist noch ein REF] ein Würfel (im Hauptkorpus belegt)
können wir das nochmal spielen? dann können wir das hier draufstellen können wir das als Gitterbett nehmen etc. → Schema: [können wir das PROCESS] nochmal spielen (im Hauptkorpus belegt)
13 In Traceback-Studien ist es üblich, für die Leerstellen in teilschematischen Mustern semantische Restriktionen anzunehmen, weshalb hier semantische Kategorien statt z. B. Wortarten- oder Phrasenkategorien angegeben sind.
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Bei der Operation ADD schließlich findet eine einfache Juxtaposition zweier component units statt. Da diese Operation potentiell sehr breit angewendet werden kann und daher zu unplausiblen Derivationen führen kann (vgl. Dąbrowska & Lieven 2005: 439), ist die Anwendung dieser Operation in den meisten TracebackStudien stark restringiert. Es können nur solche component units mit ADD hinzugefügt werden, die sowohl vor als auch nach der benachbarten component unit auftreten können. Die Anwendung der Operation ADD ist somit weitgehend auf Vokative wie Mama und Adverbiale wie jetzt, dann etc. beschränkt (vgl. Hartmann et al. 2021: 234). (c) illustriert die Operation ADD am Beispiel der Zieläußerung oder das hier, Moritz? (Marieke 2;04.10). (c)
ADD Zieläußerung: Partielle Matches im Hauptkorpus:
oder das hier Moritz? oder das hier? Moritz
Für die vorliegende Untersuchung wurden die Ergebnisse der Traceback-Studie von Koch (2019) mit einer Traceback-Studie verglichen, die ausschließlich die W-Fragekonstruktionen als Zieläußerungen einbezieht. In beiden Fällen dienten die Transkripte der letzten beiden Aufnahmesitzungen als Testkorpus, während das restliche Korpus – inklusive der Äußerungen der Bezugspersonen – als Hauptkorpus herangezogen wurde. Der Schwellenwert, ab wann eine Äußerung als erfolgreich abgeleitet gilt, wurde – anknüpfend an Dąbrowska & Lieven (2005), Dąbrowska (2014) sowie Koch et al. (2020a,b) – variiert. In vielen Traceback-Studien wird ein Schwellenwert von 2 angenommen, d. h. jedes frame-and-slot pattern muss mindestens zweimal belegt sein, um als kognitiv verankert (entrenched) und damit als mögliche component unit zu gelten. Für die vorliegende Studie wurden die Ergebnisse für die Schwellenwerte von 1 bis 5 errechnet, wobei diese Schwellenwerte sowohl für feste Chunks als auch für frame-and-slot patterns gelten. Bei Ersteren gehen viele Traceback-Studien davon aus, dass schon das einmalige Auftreten im Hauptkorpus als Beleg dafür gelten kann, dass das Kind die Mehrworteinheit als festen Chunk verfügbar hat; wir wählen hier eine konservativere Operationalisierung und wenden die Schwellenwerte auf lexikalisch spezifische Mehrworteinheiten wie auch auf teilschematische Muster an. Abbildung 2 zeigt den Anteil an erfolgreich abgeleiteten Zieläußerungen, wenn jeder feste Chunk bzw. jedes teilschematische Muster mindestens einmal, zweimal, dreimal, viermal oder fünfmal belegt sein muss. Bevor wir uns der Interpretation der Ergebnisse zuwenden, soll zunächst eine kritische Würdigung der Traceback-Methode sowie der Aussagekraft ihrer Ergebnisse erfolgen. In der Vergangenheit wurde die Traceback-Methode etwa von
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Kol et al. (2014) dafür kritisiert, dass sie zu unrestringiert sei und daher teilweise unplausible Ergebnisse hervorbringe (zur kritischen Diskussion dieser Einwände vgl. Koch 2019, Koch et al. 2020a und Hartmann et al. 2021). Auch operiert die Traceback-Methode, wie viele andere Methoden der Mustererkennung, ausschließlich auf der formalen Ebene und kann daher beispielsweise Aspekte wie Homonymie und Polysemie nicht berücksichtigen. Tatsächlich verlangen die Traceback-Ergebnisse eine differenzierte Betrachtung, und es wäre verfehlt, die identifizierten Muster als kognitiv reale bzw. realistische Einheiten zu betrachten, wie auch etwa Lieven et al. (2003) einräumen. Allerdings eignet sich die Traceback-Methode – insbesondere auch in Verbindung mit anderen Herangehensweisen – gut, um den relativ hohen Anteil formelhaft-idiomatischer Sprache in Spracherwerbsdaten aufzuzeigen. Es liegt nahe, dass der Traceback-Erfolg umso geringer ist, je kreativer und produktiver ein Kind mit Sprache umgeht – daher fällt der Anteil erfolgreicher Tracebacks bei älteren im Vergleich zu jüngeren Kindern auch durchweg geringer aus (vgl. u. a. Dąbrowska & Lieven 2005, die verschiedene Zeitschnitte eines longitudinalen Korpus miteinander vergleichen). Der Anteil an erfolgreichen Tracebacks, der in den einschlägigen Studien vor allem als Beleg dafür herangezogen wurde, dass ein sehr großer Anteil der kindersprachlichen Daten auf vorher bereits belegtes Material zurückgeführt werden kann, kann mithin auch als ein Maß der Formelhaftigkeit herangezogen werden. Er dient als Indikator, mit dessen Hilfe sich individuelle Unterschiede zwischen Kindern dahingehend untersuchen lassen, inwieweit sie sich feststehender Muster bedienen. Gerade aus dieser Perspektive können sich der Vergleich zwischen den drei Kindern einerseits und der Vergleich zwischen W-Fragekonstruktionen und dem Gesamtinventar der Zieläußerungen andererseits als aufschlussreich erweisen. Diesem wollen wir uns nun im Folgenden widmen. Erwartungsgemäß liegt der prozentuale Anteil erfolgreicher Tracebacks bei den Fragekonstruktionen bei allen drei Kindern höher als beim Gesamtinventar der Zieläußerungen, wie Abbildung 2 zeigt. Insbesondere die W-Fragekonstruktionen bei Simon fallen hier auf, die auch bei einem Schwellenwert von vier noch zu 100 % erfolgreich auf Grundlage fester Chunks und teilschematischer Konstruktionen des Hauptkorpus konstruiert werden können. Dies ist teilweise wohl auch der geringeren Grundgesamtheit geschuldet, kann aber auch als weiterer Beleg für den hohen Grad an Formelhaftigkeit gewertet werden, den W-Fragen aufweisen. Vor allem bei Merit lassen sich im Vergleich zu den anderen zwei Kindern interessante Unterschiede feststellen. Diese individuellen Unterschiede betreffen nicht nur die Differenz zwischen der Zahl erfolgreicher Tracebacks im Vergleich von W-Fragekonstruktionen zum Gesamtinventar der Zieläußerungen, sondern auch den Anteil erfolgreicher Tracebacks insgesamt: Während sich bei Merit in der am wenigsten stark restringierten Operationalisierung (mit einem Schwellenwert von
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1) nur etwa 75 % aller Zieläußerungen erfolgreich ins Hauptkorpus zurückverfolgen lassen, liegt der Wert etwa bei Simon mit 93 % deutlich höher. Auffällig ist auch, dass der Anteil erfolgreicher Tracebacks bezogen auf das Gesamtinventar der Zieläußerungen bei Merit stärker zurückgeht, wenn man den Schwellenwert erhöht, während die meisten W-Fragekonstruktionen nach wie vor erfolgreich zurückverfolgt werden können – ein weiteres Indiz für das hohe Maß an Formelhaftigkeit, das Fragekonstruktionen aufweisen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei Merits W-Fragen nicht um einfachere Strukturen handelt. Wie bereits angeführt, stellt eine Möglichkeit, die Komplexität von Äußerungen zu erfassen, die MLU dar. Diese weicht im Falle der W-Fragekonstruktionen des Testkorpus (4.100, SD = 0.907) im Vergleich zu den sonstigen Äußerungen Merits des gesamten Korpus (4.241, SD = 2.776) sowie den übrigen Zieläußerungen im Testkorpus (4.961, SD = 1410) nicht stark ab. Die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern wurden bereits in Koch et al. (2020a,b) diskutiert: Die Kinder sind sprachlich in unterschiedlichem Maß fortgeschritten, was sich auch in den Differenzen zwischen ihren MLU-Werten zeigt (s. Tabelle 1). Während etwa Merit längere und komplexere Äußerungen tätigt, bleiben Simons Äußerungen insgesamt stark formelhaft. Vor allem bei Merit scheint diese Formelhaftigkeit, wie unsere Auswertung zeigt, stärker auf W-Fragekonstruktionen beschränkt zu sein.
Abbildung 2: Anteil erfolgreicher Tracebacks für W-Fragekonstruktionen sowie für alle Äußerungen im Testkorpus.
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Die Ergebnisse weisen somit auf eine starke Musterhaftigkeit von W-Fragen hin. Ausgehend von einem gebrauchsbasierten Ansatz lassen sich die Muster, die den W-Fragen zugrundeliegend, mithilfe der Traceback-Methode als Chunks und frame-and-slot patterns fassen. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass lediglich ein kleiner Teil der W-Fragen, nämlich die der jeweiligen Testkorpora, im Fokus der Analyse stehen. Die Frage, die sich deshalb stellt, ist, ob sich weitere frame-and-slot patterns in den Korpora der Kinder zeigen und ob diese tatsächlich hochfrequent vorkommen. Dies soll im letzten Schritt analysiert werden.
4.2.3 Frame-and-slot patterns in deutschen W-Fragen Die Ergebnisse der Traceback-Analyse haben gezeigt, dass ein Großteil der Fragekonstruktionen der Testkorpora mithilfe sogenannter frame-and-slot patterns, die aus dem sprachlichen Input der Kinder sowie aus deren eigenem Output abgeleitet wurden, konstruiert werden konnten. Wie erläutert wurde, stellt das Traceback-Verfahren eine Möglichkeit dar, Muster in Sprache zu erkennen. Allerdings geschah dies auf der Grundlage eines zuvor definierten Testkorpus aus den jeweils zuletzt geäußerten Fragekonstruktionen der Kinder. Um zu untersuchen, ob die hier festgestellte Musterhaftigkeit nicht nur für die Äußerungen des Testkorpus gilt, sondern repräsentativ für die W-Fragekonstruktionen der Kinder generell ist, sind die fünf frequentesten W-Fragetypen (wo, was, wie, wer und warum) gezielt nach frame-andslot patterns analysiert worden.14 Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Analysen absteigend nach den Häufigkeiten der W-Fragekonstruktionen dargestellt.
Wo-Fragekonstruktionen Zunächst lässt sich feststellen, dass wo-Fragekonstruktionen bei allen drei Kindern am häufigsten auftreten (Marieke N = 660; Merit N=371; Simon N = 35; s. Kapitel 4.2.1, Tabelle 3). Insbesondere bei Simon liegt der Großteil dieser Fragen als Einwortfragekonstruktionen vor (N = 28; 80 %). Auch Marieke äußert eine Reihe von wo-Fragen, die lediglich aus dem Interrogativpronomen bestehen (N = 31; 4,7 %). Bei Merit spielen Einwortäußerungen mit dem Fragepronomen wo fast keine Rolle mehr (N = 5; 1,3 %). Weiterhin zeigt die Analyse den Einfluss des Kontextes auf die Bildung fester Chunks im Falle der Marieke-Daten. So produzierte sie beim Puzzeln häufig die Äußerungen wo kommt das hin? (N = 19; 2,9 %) sowie wo ist das? (N = 67; 10 %).
14 Die Analysen wurden mit COMBO-Befehlen des CLAN-Programms durchgeführt.
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Letztere steht in enger Verbindung mit der mit großem Abstand am frequentesten verwendeten wo-Fragekonstruktion: [Wo ist X?]. Im Falle von Marieke machte diese Konstruktion zirka 70 % (N=465) ihrer wo-Fragen aus, bei Merit waren es 51 % (N=189). Wie bereits erläutert wurde, werden diese W-Fragen aus gebrauchsbasierter Perspektive als teilschematische Konstruktion angesehen, bei der ein lexikalisierter Abschnitt, der sich durch die feste Verbindung des Fragepronomens wo mit der Kopula ist auszeichnet, durch eine Leerstelle X ergänzt wird. Hierbei handelt es sich um einen Platzhalter für unterschiedlich komplexe Nominalphrasen, wie anhand der folgenden Beispiele aus dem Marieke-Korpus deutlich wird: (4) a. b. c. d.
Wo is(t) Katze? Wo is(t) die? Wo is(t) mein Glas? Wo is(t) das nächste Blatt?
(Marieke, 2;02.23) (Marieke, 2;03.26) (Marieke, 2;02.23) (Marieke, 2;03.28)
Sowohl Marieke als auch Merit zeigen bei der Befüllung der Leerstelle eine hohe Produktivität. Neben einfachen Substantiven und Pronomen (4a,b) finden sich auch komplexere Formen der Nominalphrase (4c,d). Darüber hinaus lassen sich auch Belege ungrammatischer Äußerungen finden, in denen eine fehlerhafte Subjekt-Verb-Kongruenz vorliegt (5). Dies spricht dafür, dass Marieke auch hierbei auf ihr produktives Muster [Wo ist X?] zurückgreift und dieses somit übergeneralisiert und nicht etwa die Wörter einzeln in eine abstrakte syntaktische Struktur einsetzt (wie etwa W-PRO VFIN OBJ oder, in einer generativen Betrachtung, die W-Phrase in die satzinitiale Position, den CP-Spezifikator, bewegt und dann das Verb von V0 über I0 nach C0): (5) a. Wo is(t) die Kinder? (Marieke, 2;03.15) b. Wo is(t) die Autos? (Marieke, 2;03.20) c. Wo is(t) die Schweine? (Marieke, 2;03.22) Die Pluralform der Kopula sind tritt dabei durchaus im Korpus auf. In Verbindung mit dem Interrogativpronomen wo äußert Marieke sie jedoch das erste Mal erst im Alter von 2;04.01 Jahren (wo sind die Kinder). Allerdings verwendet sie auch noch danach das [Wo ist X?]-Muster in Kombination mit NPs im Plural (beispielsweise: wo ist meine Spieler, 2;04.10). Weiterhin lassen sich auch Erweiterungen der [Wo ist X?]-Konstruktion feststellen, indem das Muster um eine Partikel ergänzt wird. Am produktivsten ist dabei die Variante [Wo ist noch NP?]. Wo-Fragekonstruktionen mit anderen Verben traten im Untersuchungszeitraum bei allen Kindern lediglich sehr vereinzelt auf.
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Was-Fragekonstruktionen Was-Fragen stellen die zweithäufigsten W-Fragen in den untersuchten Korpora dar (Marieke: N = 395; Merit: N = 317; Simon: N = 5). Einwortfrageäußerungen spielen vor allem bei Marieke eine große Rolle, indem sie etwa die Hälfte aller was-Fragen ausmachen (N = 199; 50,4 %). Weiterhin lassen sich bei Marieke eine Reihe fester Wortkombinationen mit dem Interrogativpronomen belegen, die auf die Ausbildung von Chunks hindeuten: Mama weißt du was? (N = 10; 2,5 %), Was noch? (N = 9; 2,3 %), Was das? (N = 13; 3,3 %). Am auffälligsten ist hier allerdings erneut die Verbindung des Interrogativpronomens was mit der Kopulaform ist, die zu dem Chunk was ist das? (N = 115; 29 %) führt. Interessanterweise zeigt sich dies auch in den Merit-Daten (N = 53; 16,7 %). Erneut lassen sich auch hier einige Modifikationen feststellen wie beispielsweise bei Marieke was ist das hier? (N = 32; 8,1%), was ist da drunter? (N = 27; 6,8 %), was ist da drin? (N = 10; 2,5 %). Die Ausbildung eines Musters [was ist X?] mit einem produktiven NP-Slot zeigt sich bei Marieke allerdings lediglich vereinzelt (N = 9; 2,3 %). Im Fall von Merit lässt sich ein solches frame-and-slot pattern identifizieren, allerdings nicht mit der Kopula, sondern in Verbindung mit dem Verb macht [was macht X?] (N = 50; 15,8 %), wie anhand der folgenden Beispiele ersichtlich wird: (6) a. Was macht der Flip? (Merit, 2;00.21) b. Was macht der? (Merit, 2;00.21) c. Was macht unser Kürbisgesicht? (Merit, 2;01.08) Erneut fungiert die Leerstelle dabei als Platzhalter für eine NP. Darüber hinaus zeigen sich auch hier Modifikationen des Musters durch Einwortkonstruktionen, die mit dem Muster fusionieren: [was macht X da/denn/hier/da drin/da oben/gerade?]. Wie-, wer- und warum-Fragekonstruktionen Die drei weiteren Fragetypen kommen deutlich seltener in den Korpora der drei Kinder vor. Aus diesem Grund werden die wichtigsten Ergebnisse hier gesammelt dargestellt. Teilweise zeigen sich auch hier die oben beschriebenen Tendenzen. So verwendet Marieke sowohl mit dem Fragepronomen warum (N = 26; 55,3 %) als auch wer (N = 8; 42,2 %) am häufigsten Einwortfragekonstruktionen. Mit dem Fragepronomen wie lassen sich in ihren Daten die Chunks wie bitte (N = 22; 26,5 %) und wie geht das? (N = 46; 55,4 %) identifizieren. Insbesondre letzterer verdeutlicht noch einmal die Rolle des Spielkontextes, in dem eine Vielzahl der Aufnahmen stattfanden. Frame-and-slot pattern deuten sich bei Merit zum einen in Verbindung mit dem Fragepronomen wie und dem Verb heißt an [wie heißt X?] (N = 12; 40 %), zum anderen mit dem Partikelverb sieht…aus [wie sieht X aus?] (N = 9; 30 %). Des Weite-
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ren lässt sich bei beiden Kindern das frame-and-slot pattern [wer ist X?] beobachten (Marieke: N = 8; 42%; Merit: N = 14; 33 %). In allen Varianten dient die Leerstelle X erneut als Platzhalter für eine NP.
5 Diskussion: Musterhaftigkeit von W-Fragekonstruktionen Aus der Kombination quantitativer und qualitativer Herangehensweisen in den vorangegangenen Abschnitten lassen sich einige Schlussfolgerungen für die Rolle sprachlicher Muster im Erwerb von W-Fragekonstruktionen ableiten. Erstens zeigt sich – im Einklang mit den Annahmen des gebrauchsbasierten Paradigmas – , dass sprachliche Muster im frühkindlichen Erwerbsprozess item-basiert sind, d. h. sprachliches Wissen wird um konkrete Wörter und Phrasen organisiert (vgl. MacWhinney 2014: 36). Dies zeigt sich zum einen in den konkreten „Bausteinen“ (component units), die durch die Traceback-Methode identifiziert werden, zum anderen in den qualitativen Einzelanalysen, die auf die zentrale Rolle einzelner feststehender Muster hindeuten. Gerade das Kopulaverb sein fungiert dabei häufig als Dreh- und Angelpunkt der fraglichen Muster (pivot im Sinne von Tomasello 1992, 2003, der für die ersten Schritte im Spracherwerb von sogenannten pivot schemas ausgeht).15 Bei Merit zeigt sich zudem das Verb machen als weiterer „Fixpunkt“. Dass Merit hier ein breiteres Repertoire aufweist, stimmt mit dem Befund überein, dass sie insgesamt weiter vorangeschritten ist in ihrem Spracherwerb. Dass wir sowohl bei den einzelnen Kindern als auch interindividuell feste Muster erkennen können, spricht für die Annahme von frame-and-slot-Konstruktionen statt abstrakter Bewegungen wie etwa move alpha, wie sie in generativen Theorien angenommen werden. Die Daten stützen also in hohem Maße die gebrauchsbasierte Theorie einer item-basiert Entwicklung. Dabei sind nicht nur die frühen pivot schemas, sondern auch die Entwicklungen in höheren Altersstufen mit den Voraussagen des gebrauchsbasierten Ansatzes kompatibel. So zeigen sich beispielsweise neben einer
15 Dass gerade Verben in der Regel als pivots dienen, ist auch vor dem Hintergrund der Debatte um sogenannte projektionistische vs. konstruktionistische Ansätze interessant (vgl. z. B. Jacobs 2009; Herbst 2011; Stefanowitsch 2011). Inzwischen wurde oft darauf hingewiesen, dass beide Ansätze durchaus als kompatibel gesehen werden können. Eine Methode wie Traceback stellt selbstverständlich eher die konstruktionistische Perspektive in den Vordergrund, die sprachliche Muster als Dreh- und Angelpunkt sprachlichen Wissens sieht; das schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass auch Aspekte wie Valenz, die im projektionistischen Ansatz im Mittelpunkt stehen, im sprachlichen Wissen auch von L1-Lernerinnen und -Lernern eine zentrale Rolle spielen.
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formelhaften Verknüpfung der Interrogativpronomen was und wo mit der Kopula ist mit einer variablen Leerstelle auch Weiterentwicklungen dieser Grundmuster, die sich aus gebrauchsbasierter Sicht als Schematisierungsprozesse erklären lassen. Eine wichtige Rolle scheinen dabei auch die spezifischen sprachlichen Kontexte zu spielen, in denen Sprache erworben wird. Dies zeigt sich insbesondere in der Verwendung von Chunks, die oft mit konkreten Spieltätigkeiten verbunden sind. Wie in Kapitel 3 erläutert wurde, haben eine Vielzahl an Korpusstudien gezeigt, dass der sprachliche Input, den Kinder erhalten, von zahlreichen Wiederholungen durch ihre Bezugspersonen geprägt ist. Diese Wiederholungen scheinen auch das Sprachenlernen in bedeutendem Maße zu unterstützen. So werden beispielsweise Wörter, die häufiger gehört werden, von Kleinkindern tendenziell früher produziert (vgl. u. a. Braginsky et al. 2016). Allerdings erfolgt der Spracherwerb nicht nur auf der Grundlage reiner Wiederholungen. Eine gewisse Variation zwischen den Äußerungen ist notwendig, um den Erwerb einer vollständig produktiven Grammatik zu unterstützen. Wenn einzelne Wörter oder Morpheme wiederholt werden, aber in unterschiedliche lexikalische und syntaktische Kontexte eingebettet sind, hat das Kind mehr Informationen darüber, wie diese Formen verwendet und kombiniert werden können (vgl. Bannard & Matthews 2008). Matthews & Bannard (2010) konnten zeigen, dass durch ein Auftreten solcher Sequenzen mit einiger Variation, die Bildung produktiver morpho-syntaktischer Slots bedingt wird. Dieser Prozess wird zudem erleichtert, wenn die Füllwerte der einzelnen Leerstellen kohärente Kategorien bilden. In Bezug auf die W-Fragen des Deutschen zeigte sich dies in der Herausbildung eines NP-Slots, in dem unterschiedlich komplexe NPs eingesetzt wurden. Kinder sind demnach für statistische Regelmäßigkeiten in ihrer Sprache empfänglich, die für das Erlernen syntaktischer Strukturen von Bedeutung sein könnten. Dies lässt sich mit einem Beispiel aus Cordes (2014: 78) verdeutlichen: Wenn die Wortfolge throw the bottle 118-mal im Input vorkommt und throw the ball und throw the teddy jeweils nur einmal, ist es unwahrscheinlich, dass Kinder ein Muster mit einem produktiven Slot (throw the X) bilden. Die Vorhersagbarkeit der Belegung einzelner Slots ist in diesem Fall extrem hoch. Anders sieht es aus, wenn sie jede Äußerung 40 Mal hören. Hier hat sich die Variabilität in der Besetzung der Slotposition deutlich erhöht. Korpusanalysen bestätigen, dass diese partiellen Wiederholungen häufig in Clustern auftreten, die Lester et al. (2022) als Variationssätze bezeichnen (s. auch Küntay & Slobin 1996). Unserer Ansicht nach stellen W-Fragekonstruktionen des Deutschen Prototypen solcher Variationssätze dar. Feste wiederkehrende lexikalische Rahmen ermöglichen es den Kindern einerseits, Hinweise über die formalen und funktionalen Eigenschaften dieser wiederkehrenden Elemente zu sammeln und sich andererseits durch diesen Rahmen die morphologische und syntaktische Variabilität des Slots zu erschließen.
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Die Vorstellung, dass Sprecher bestimmte feste Wortsequenzen speichern und verwenden, wird von allen Modellen der Syntax anerkannt und ist nicht nur für gebrauchsbasierte Theorien relevant. Allerdings unterscheiden sich die Theorien darin deutlich, wie solche Phrasen erklärt werden. Frühe generative Theorien betrachteten diese als eine Erweiterung des Lexikons. Im Hinblick auf die W-Fragen entspricht dies der Vorstellung einzelner, holistisch abgespeicherter Einheiten, die nicht syntaktisch generiert werden, sondern zunächst ganzheitlich aus dem mentalen Lexikon abgerufen werden (s. Kapitel 2; vgl. Clahsen et al. 1995). Durch jahrelange intensive empirische Forschung kann jedoch mittlerweile als gesichert gelten, dass die Bedeutung häufig wiederkehrender Phrasen, die nicht das Ergebnis völlig abstrakter generativer Prozesse zu sein scheinen, viel größer ist, als zuvor angenommen wurde (vgl. Jackendoff 1995, 2002; Culicover & Jackendoff 2005). Die Erklärung dafür, dass Kinder musterbasierte und sehr spezifische Repräsentationen ihrer W-Fragen haben, scheint in besonderem Maße mit Verteilungshäufigkeiten im sprachlichen Input zusammenzuhängen. Diese Tatsache lässt sich am plausibelsten im Kontext eines gebrauchsbasierten Ansatzes erklären, bei dem nicht von Wörtern und ihren Projektionen, sondern von Mustern (teilschematischen Konstruktionen) ausgegangen wird. Unabhängig davon, ob wir davon ausgehen, dass der Endpunkt sprachlichen Lernens zu vollständig abstrakten Konstruktionen führt, etwa im Sinne von Goldbergs (1995: 3–4) Argumentstruktur-Konstruktionen, sprechen die vorliegenden Ergebnisse der Analyse von W-Fragen für die Annahme eines Modells grammatischer Kompetenz, das zunächst maßgeblich durch konstruktionsgebundenes lexikalisches Wissen geprägt ist. Kinder sind demnach in dieser frühen Phase des Spracherwerbs konservative Lerner, die Äußerungen aus dem Input übernehmen und schrittweise, durch das Entdecken von Ähnlichkeiten und Herausfiltern wiederkehrender Elemente abstraktere sprachliche Kategorien bilden (vgl. Tomasello 2003; Koch 2021a: 12–13).
6 Fazit In diesem Aufsatz haben wir die Rolle von Musterhaftigkeit im frühkindlichen Erstspracherwerb von W-Fragekonstruktionen untersucht. Durch die Kombination explorativer quantitativer Methoden mit qualitativen Detailanalysen auf Grundlage longitudinaler Spracherwerbskorpora von drei verschiedenen Kindern konnten wir zeigen, dass W-Fragekonstruktionen geradezu als Prototyp musterhafter Konstruktionen gesehen werden können. Ein gebrauchsbasierter Ansatz geht davon aus, dass solche musterhaften Konstruktionen, die sich häufig auf die Kombination von Chunks mit frame-and-slot patterns zurückführen lassen, im
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Erstspracherwerb eine zentrale Rolle spielen. Mithilfe der in der gebrauchsbasierten Spracherwerbsforschung vielfach erprobten Traceback-Methode konnten wir zeigen, dass sich W-Fragekonstruktionen in einem Teilkorpus insgesamt häufiger auf Präzedenzkonstruktionen in den vorangegangenen Daten zurückführen lassen als sonstige Äußerungen, was für einen besonders hohen Grad an Formel- bzw. Musterhaftigkeit spricht. Die qualitative Analyse einzelner W-Fragekonstruktionen hat gezeigt, wie einzelne Muster – insbesondere solche, die aus einem W-Fragewort und einem Kopulaverb bestehen – allmählich produktiv werden. Die dort diskutierten teilschematischen Konstruktionen lassen sich auch mit den zu Beginn von Abschnitt 2 erwähnten Funktionen in Verbindung bringen, die in der Literatur für frühkindliche Fragekonstruktionen herausgearbeitet wurden, etwa dem Verlangen nach konkreten Gegenständen (Wo ist X), die Freude an sozialer Interaktion (Was macht X) oder – im weitesten Sinne – das Einfordern der Bewertung eigener Generalisierungsversuche (Was ist X). Insgesamt liefert die Studie somit weitere Evidenz für die Grundannahmen des gebrauchsbasierten Paradigmas, ohne dass sie freilich in der Lage wäre, die zahlreichen offenen Fragen, die der frühkindliche Spracherwerb nach wie vor mit sich bringt, auch nur im Ansatz erschöpfend zu beantworten. So muss die Frage offenbleiben, in welchem Maße die hier identifizierten Muster kognitiv plausibel sind. Zusätzliche Methoden der Mustererkennung wie McCauley & Christiansens (2017, 2019) chunk-based learner könnten in zukünftigen Studien dazu beitragen, ein differenzierteres Bild der sprachlichen Muster zu gewinnen, die im Erwerb von W-Fragen und anderen Konstruktionen eine Rolle spielen (s. Koch et al. 2022 zur Anwendung der Methode im kindlichen code-mixing). Weiterhin ist zu bedenken, dass alle hier untersuchten Kinder in einem ähnlichen Umfeld aufgewachsen sind. Für zukünftige Studien – und das gilt bei weitem nicht nur für Studien zum Erwerb von Fragekonstruktionen, sondern für die Spracherwerbsforschung im Allgemeinen – wäre dringend eine differenziertere Datenbasis wünschenswert, die auch Kinder beispielsweise mit nicht-akademischem Hintergrund berücksichtigt. Ein erster Schritt in Richtung einer Diversifizierung von Spracherwerbsdaten wird derzeit mit dem Einbezug bilingual aufwachsender Kinder vollzogen (vgl. etwa das deutsch-türkische Mats-Korpus, das Bestandteil von Koch 2021b ist). Dass feste sprachliche Muster und teilschematische Konstruktionen auch in diesen Daten im Erwerb von W-Fragen eine zentrale Rolle spielen, kann ohne Weiteres angenommen werden; welche Muster genau aber sich zeigen und in welchem Maße sich individuelle Unterschiede feststellen lassen, sollte in zukünftigen Studien genauer untersucht werden.
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Danksagung: Wir danken den Herausgebern dieses Sammelbands für hilfreiche Anmerkungen zu einer ersten Version dieses Aufsatzes.
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Sabine De Knop & Fabio Mollica
Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht 1 Einführung Seit einigen Jahren hat sich die Konstruktionsgrammatik (KxG) als fruchtbares Beschreibungsmodell nicht nur für theoretische Untersuchungen, sondern auch für angewandte Bereiche wie das Erlernen von Fremdsprachen etabliert (siehe etwa den Band von Boas (2022), De Knop & Gilquin (2016) oder das Sonderheft von Ellis & Cadierno (2009))1. Die KxG bietet einen allumfassenden Rahmen, um sogenannte Konstruktionen, d. h. linguistische Form-Bedeutungseinheiten unterschiedlicher Komplexitätsgrade und Abstraktionsebenen zu beschreiben. Eine Konstruktion, die unabhängig vom linguistischen Ansatz in der wissenschaftlichen Literatur großes Interesse findet, ist die ‚DitransitivKonstruktion‘ wie etwa in Er schenkt seiner Mutter eine Rose (siehe u. a. Goldberg 1992, 1995 und 2006; Gropen, Pinker, Hollander, Goldberg & Wilson 1989; Levin 1993; Rappaport Hovav & Levin 2008). Wie von Proost (2014: 20) beobachtet, betreffen die meisten Studien zur Ditransitiv-Konstruktion die englische Sprache. Die bekannteste Studie für die deutsche Sprache ist die umfassende Monografie über Dative von Wegener (1985), die sich u. a. ausführlich – wenn auch nicht aus konstruktionsgrammatischer Sicht – mit den möglichen in der deutschen Ditransitiv-Konstruktion vorkommenden Verben auseinandersetzt. Auch bei Rauth (2020), Welke (2011 und 2019) oder Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997) finden sich Ausführungen zu dieser Konstruktion im Deutschen. Allerdings sind all diese Studien eher theoretischer Natur und behandeln nicht die Perspektive des Fremdsprachenunterrichts; Ausnahmen sind lediglich wenige Untersuchungen, wie etwa die zu den sogenannten Doppelobjekt-Konstruktionen im Niederländischen und Deutschen von Baten & De Cuypere (2014) oder diejenige von De Cuypere, De Koster & Baten (2014), die sich mit der Reihenfolge der beiden Objekte befasst und analysiert, ob russische Lernende die präferierte Reihenfolge Thema-Rezipient ins Englische übertragen. Jedoch stellen empirische Untersuchungen, die das Erlernen von Konstruktionen im DaF-Unterricht erforschen, noch ein Forschungsdesiderat dar. Unser Beitrag nimmt sich daher vor, die deutsche Ditransitiv-Konstruktion
1 Der vorliegende Beitrag ist das Ergebnis der gemeinsamen Diskussion. Sabine De Knop hat die Abschnitte 1, 2, 3.1 und 5.1, Fabio Mollica die Abschnitte 3.2, 3.3, 4, 5.2 und 6 verfasst. Wir bedanken uns bei den Herausgebern Klaus Welke, Marc Felfe und Dagobert Höllein für die Einladung, einen Beitrag für diesen Band zu verfassen und für ihre Kommentare und Anregungen. Unser Dank gilt auch Eugenio Verra und Manfred Müller für die Unterstützung bei der Bewertung der Daten. https://doi.org/10.1515/9783111334042-010
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aus der Perspektive des Fremdsprachenunterrichts zu betrachten und anhand einer empirischen Studie die Schwierigkeiten italophoner DaF-Lernender näher zu untersuchen. In der deutschen Ditransitiv-Konstruktion, die eine Transfersemantik zum Ausdruck bringt, kommen prototypische Verben wie geben oder schenken vor, die in Verbindung mit einem agentivischen Subjekt, einem indirekten Objekt (Dativobjekt) für den signifikativ-semantischen2 Rezipienten (vgl. Ágel 2017: 532–533; Höllein 2019: 198–199) und einem direkten Objekt (Akkusativobjekt) für das Thema auftreten.3 Es liegt auf der Hand, dass mit prototypischen Verben und ihrem Gebrauch in dieser Konstruktion Studierende weniger Probleme aufweisen. Aber daneben gibt es einige Verben mit ähnlicher Semantik wie etwa lehren oder wissen lassen, die mit einem Doppelakkusativ auftreten und andere wie erwähnen, fragen oder antworten, die trotz Transfersemantik in unterschiedlichen Konstruktionen vorkommen. Dies ist für Lernende oft problematisch und kann zu Übergeneralisierungen (siehe auch Goldberg 2019: 112) führen, vor allem, wenn nicht-ditransitive Verben wie z. B. lehren oder erwähnen in der Muttersprache ditransitiv gebraucht werden (wie die italienischen Entsprechungen insegnare bzw. menzionare). Ausgehend von einer Sammlung ditransitiver Verben und einer Reihe von Verben mit ditransitiver Semantik jedoch ohne ditransitive Argumentstruktur (vgl. hierzu Stefanowitsch 2011), die aus dem elektronischen Valenzwörterbuch deutscher Verben (E-VALBU, Zugriff am 28.03.22)4 entnommen wurden, haben wir zwei Test-Typen entwickelt, mit denen deutlich werden soll, worin genau die Probleme für italophone Lernende bestehen. Im ersten Test bekommen die Lernenden eine willkürliche Reihe von Satzkonstituenten, mit denen sie korrekte Sätze bilden sollen. Dabei sind Verben enthalten, die sowohl ditransitiv gebraucht werden, als auch Verben mit einer lediglich ditransitiven Semantik, die aber im Italienischen eine ditransitive Struktur aufweisen. Im zweiten Test geht es darum, beide Objekte pronominal richtig zu realisieren. Beide Tests machen deutlich, dass ein rein konstruktionistischer Ansatz nicht ausreicht, (i) um den idiosynkratischen Gebrauch der deutschen Verben zu erklären, denn es ist nicht vorhersehbar, in welchen Konstruktionen Verben, die einen Transfer ausdrücken, vorkommen. Aus der DaF-Perspektive ist es demnach notwendig, auf das Valenzkonzept zurückzugreifen, um solche Idiosynkrasien didaktisch adäquat zu erklären.
2 Im Folgenden wird in Anlehnung an Welke (2011) und (2019) zwischen denotativ- und signifikativ-semantischen Rollen unterschieden (vgl. hierzu auch Felfe 2020 und Mollica 2014). 3 Im Folgenden werden auch die Termini ‚indirektes‘ und ‚direktes Objekt‘ verwendet, um den Kontrast zum Italienischen zu verdeutlichen. 4 https://grammis.ids-mannheim.de/verbvalenz .
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(ii) Weiter kann die korrekte Reihenfolge beider Objekte auch nicht mithilfe des Beschreibungsinventars der KxG erklärt werden. Daher ist die Entwicklung entsprechender didaktischer Methoden unbedingt erforderlich. Dies gilt ganz besonders, wenn die Objekte pronominal realisiert werden, denn ihre Abfolge weicht grundsätzlich vom Italienischen ab. Unser Beitrag geht daher auch der Frage nach, wie eine adäquate Unterrichtsmethode aussehen soll, um das Erlernen der Idiosynkrasien der deutschen Ditransitiv-Konstruktion zu fördern. Wir plädieren für einen Ansatz, der sowohl eine konstruktionsgrammatische als auch eine valenzorientierte Beschreibung integriert und der auf Priming-Übungen (siehe Busso, Perek & Lenci 2021; De Knop & Mollica 2022; Ellis, Römer & Brook O’Donnell 2016: 40; Hartsuiker, Pickering & Veltkamp 2004; Herbst 2011, 2014; Loebell & Bock 2003) basiert. Die Reihenfolge der Konstituenten (Dativ- vs. Akkusativobjekt / nominal vs. pronominal) beruht auf der Musterhaftigkeit der Konstruktionen. Mit zwei Posttests konnten wir den Erfolg der Priming-Methode mit den italophonen Lernenden bestätigen. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Im folgenden Abschnitt 2 wird die Ditransitiv-Konstruktion in einem konstruktionistischen Ansatz zuerst allgemein kurz beschrieben. Dabei wird besonders auf die möglichen Verben in der Ditransitiv-Argumentstruktur fokussiert und vor allem auf solche, die trotz Transfer-Semantik nicht die für die deutsche Sprache typischen Dativ- und Akkusativobjekte aufweisen. Abschnitt 3 wählt eine kontrastive Perspektive, indem auf die Unterschiede Deutsch-Italienisch eingegangen wird. Die konkrete Studie mit den beiden Pretests, die die Lernschwierigkeiten der Ditransitiv-Konstruktion veranschaulichen, wird in Abschnitt 4 besprochen. Abschnitt 5 stellt die Unterrichtsmethode basierend auf ‚structural priming‘ dar. Dabei werden die Vorteile dieser Methode anhand zweier Posttests, die bei derselben Lernenden-Gruppe durchgeführt werden, deutlich. Der abschließende Abschnitt 6 fasst die aus der Studie gewonnenen Erkenntnisse in einem Fazit noch einmal zusammen.
2 Definition und Eigenschaften von Ditransitiv-Konstruktionen Die Ditransitiv-Konstruktion ist in der wissenschaftlichen Literatur zur Konstruktionsgrammatik5 (Goldberg 1992, 1995 & 2006; Proost 2014) als Form-Bedeutungspaar mit zwei Objekten definiert worden (nämlich einem indirekten und einem
5 Im Folgenden lehnen wir uns an Goldbergs (1995) Modell an.
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direkten Objekt), sie verfügt über die Form [V Subj Obj1 Obj2] und drückt die abstrakte Bedeutung X CAUSES Y TO RECEIVE Z (‚X MACHT (VERURSACHT), DASS Y Z BEKOMMT‘) aus: CAUSE-RECEIVE (Goldberg 1995: 49) Beide Objekte kodieren die thematischen Rollen des Rezipienten (indirektes Objekt) und des Themas (direktes Objekt) und drücken die Semantik eines Transfers zwischen einem Agens und einem Rezipienten aus (Goldberg 1992: 58–64. Wichtig ist dabei für Goldberg (1995: 143–146), dass das Subjekt willentlich (englisch „volitional“) ist und dass der Transfer beabsichtigt ist. Dies ist in folgendem Beispiel, (1) Peter schenkt seiner Mutter eine Rose, gewährleistet. Auch muss das indirekte Objekt als Rezipient immer belebt und bereit sein, das im direkten Objekt kodierte Thema zu empfangen. Dies erklärt, warum folgendes Beispiel (2) ✶Bill threw the coma victim a blanket (Goldberg 1995: 146; ‚Bill warf dem Koma-Opfer eine Decke zu‘) nicht akzeptabel ist. Deutsch als Kasus-markierte Sprache schreibt den beiden Objekten verschiedene Kasus zu. Das indirekte Objekt, das den Rezipienten zum Ausdruck bringt, steht im Dativ (Dativobjekt), während das direkte Objekt für das Thema im Akkusativ (Akkusativobjekt) realisiert wird, etwa (3) Maria schenkt ihrem Bruder [Dativ] ein Buch [Akkusativ]. Bei prototypischem, unmarkiertem Gebrauch und nominaler Realisierung geht das Dativ- dem Akkusativobjekt voraus. Wir werden unten (siehe Abschnitt 3) auch sehen, dass jedoch in einigen Fällen das Akkusativ- vor dem Dativobjekt stehen kann. Nach Goldberg (1995: 31–39) haben Konstruktionen mehrere miteinander verbundene Bedeutungen, sie sind also polysem. Diese verwandten Bedeutungen sind prototypisch strukturiert und gruppieren sich um eine Grundbedeutung (basic sense) (Smirnova & Mortelmans 2010: 146 –148).6 Goldberg (1995 und 2006) unterscheidet zwischen unterschiedlichen Instanziierungen der Ditransitiv-Konstruktion je nachdem, ob ein wirklicher Transfer zum Ausdruck gebracht wird oder nicht. Die Ditransitiv-Konstruktion sieht in ihrer Grundbedeutung wie mit einem Verb des Gebens ein Agens, einen Rezipienten und ein Patiens vor und setzt einen gelungenen Akt des Gebens (Smirnova & Mortelmans 2010: 147) voraus: (4) Peter gives his sister a book. Wie Goldberg (1995: 32) aber bemerkt, gibt es viele von dieser konkreten Ausgangsbedeutung divergierende ditransitive Strukturen, bei denen 6 Welke (2011) weist darauf hin, dass Goldbergs Prototypenkonzept dynamisch ist, weil die Autorin von einer konkreten Konstruktionsbedeutung und nicht von einer abstrakten Bedeutung ausgeht. „Die allgemeine Konstruktionsbedeutung ist keine Abstraktion aus den einzelnen Konstruktionsbedeutungen, sondern eine Familie ähnlicher Konstruktionsbedeutungen.“ (Welke 2011: 175).
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nicht notwendigerweise impliziert wird, dass das Patiens dem Rezipienten erfolgreich übergeben wird. Dies betrifft den Satz (5) The mother bakes her daughter a nice cake. In diesem letzten Beispiel ist es nicht sicher, ob der Rezipient (her daughter) den Kuchen tatsächlich bekommen wird. Jedoch ist die Handlung des Backens eine „necessary precondition“ (Goldberg 1995: 65) für den Transfer. Ähnliches gilt für Instanziierungenen mit Verben des Versprechens; wenn man sagt (6) Der Freund verspricht seiner Freundin ein neues Fahrrad, impliziert dies nicht, dass das Subjekt (der Freund) seiner Freundin tatsächlich ein neues Fahrrad gegeben hat. Hier wird – so Goldberg – lediglich die Absicht (bzw. das Versprechen, das auch ein leeres sein kann und keine ernsthafte Absicht implizieren muss) des Subjekts ausgedrückt. Eine weitere Klasse von Verben, die nach Goldberg auch zur Ditransitiv-Konstruktion gehört, sind die Verben des Erlaubens und der Ablehnung.7 Die Prädikate der ersten Klasse (erlauben, gewähren) implizieren lediglich, dass das Agens den Transfer ermöglicht, aber nicht, dass es ihn notwendigerweise verursacht (Goldberg 1995: 32). Ausdrücke mit Verben des Ablehnens (ablehnen, verweigern, usw.) stehen in einer antonymischen Relation zu dem Konzept eines gelungenen Aktes des Gebens, das prinzipiell möglich ist, aber vom Agens verhindert wird. All diese verwandten Instanziierungen sind mit der prototypischen Konstruktion durch eine Vererbungsbeziehung (inheritance relation) verbunden, von der sie die syntaktische Form erben, während die Bedeutung von der zentralen Struktur geringfügig abweicht. Aufgrund dieser semantischen Unterschiede innerhalb der Ditransitiv-Konstruktion wird dieser Konstruktionstyp von Goldberg (1995: 33) als „category of related meanings“ angesehen. Folglich kann die Ditransitiv-Konstruktion als ein Fall von „constructional polysemy“ betrachtet werden: „the same form is paired with different but related senses“ (Goldberg 1995: 33). Symanczyk Joppe, Külpmann & Neuhaus (2020: 15) sprechen von einer metaphorischen Erweiterung, die zu „konstruktionellen Varianten“ führen kann.8 Demzufolge hat „man es bei […] der Ditransitiv-Konstruktion nicht mit einer einzigen Konstruktion zu tun, sondern mit einem Netzwerk verschiedener verwandter Konstruktionen mit ähnlichen, aber nicht identischen Bedeutungen“ (Symanczyk Joppe, Külpmann & Neuhaus 2020: 16). Ein Vorteil der KxG besteht genau darin, konstruktionelle Varianten, die
7 Eine mögliche Lösung bietet Welkes Konzept der signifikativ-semantischen Rollen (Welke 2011, 2019), die im Gegensatz zu den denotativ-semantischen immer an eine bestimmte formale Realisierung gebunden sind. Auf diese Weise bliebe die Bedeutung der Ditransitiv-Konstruktion intakt, weshalb nicht mehrere Bedeutungen – so wie bei Goldberg – postuliert werden müssten. 8 Auch Engelberg et al. (2011) nehmen im Gegensatz zu Goldberg an, dass Konstruktionen mehrere Varianten in sich vereinigen können. Um Argumentstrukturkonstruktionen besser zu erfassen, sei es – so die Autoren – angemessener, von „Familienähnlichkeiten“ statt von Polysemie zu reden.
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durch metaphorische Erweiterung entstehen, als motiviertes Netzwerk zu erfassen. Im Deutschen gibt es auch eine Reihe von Verben, die eine ditransitive Semantik aufweisen, aber mit zwei Akkusativobjekten gebraucht werden. Es sind etwa die Verben lehren, abhören, abfragen, abprüfen: „Es handelt sich meist um Vorgänge aus dem Unterricht bezeichnende Verben, die Abraham deshalb ‚didaktische Verben‘ genannt hat (1983: 51–53)“ (Wegener 1985: 182). In diesem Fall reicht ein rein konstruktionistischer Ansatz nicht aus, um den Gebrauch mit einem Doppelakkusativ zu erklären, es muss vielmehr das Valenzkonzept herangezogen werden, um die spezifischen Eigenschaften und Gebrauchsbedingungen dieser Verben in dieser Konstruktion zu erklären.9 In seiner Studie zu den Verben mit einem doppelten Akkusativ hat Lang (2007: 3) jedoch festgestellt, dass diese Verben im Sprachgebrauch immer wieder mit einem Dativobjekt für den Rezipienten auftreten. Dies beweist, dass sie eine ditransitive bzw. Transfer-Semantik vermitteln, obwohl sie sich syntaktisch anders verhalten. Lang (2007) definiert einige syntaktische und semantische Kriterien, die den Gebrauch eines doppelten Akkusativs motivieren (siehe auch Plank 1987). Zu den syntaktischen Kriterien zählt die Reihenfolge der Argumente bei der Passivierung (vgl. hierzu auch Duden 2016: 944). In Anlehnung an Wahrig (2003: 514) sieht Lang (2007: 5) die Notwendigkeit, zwischen Aktiv- und Passivsätzen zu unterscheiden. Im Aktivsatz ist die Tendenz zu beobachten, zwei Akkusative zu gebrauchen, während im Passiv auch Varianten mit Dativobjekt möglich sind10. Dies illustriert Lang (2007: 5) anhand folgender Beispielsätze mit dem Verb lehren. (7) Der Katechismus wird die Kinder gelehrt. (Voranstellung des Subjekts) (8) Den Kindern wird der Katechismus gelehrt. (Nachstellung des Subjekts) (9) ? Der Katechismus wird den Kindern gelehrt. Zu den semantischen Kriterien zählt z. B. – wie schon von Wegener (1985: 183) angemerkt – die [+Belebtheit] des Dativobjekts, um stattdessen einen Akkusativ zu gebrauchen. Weiter wird von Lang (2007) beobachtet, dass nicht alle Verben, die 9 Höllein (2019: 82 ff) schlägt eher vor, von einem „Nischen-Transit“ auszugehen. Unter signifikativ-semantischen Nischen sind Bedeutungsgruppen aus Verb, Präposition und Kasus (Höllein 2019: 72 f ) zu verstehen. „Sie indizieren Nischenbedeutungen […] dadurch, dass P[räpositional]O[bjekte] und deren Bedeutungen, die im Umfeld gewisser Verben zu erwarten sind, also zu deren Valenz gehören, in einigen Fällen produktiv im Umfeld von Verben auftreten.“ (Höllein 2020: 84). 10 Siehe auch https://grammis.ids-mannheim.de/verbs/view/400717/3 .
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mit doppeltem Akkusativ vorkommen, gleich systematisch mit zwei Akkusativen gebraucht werden. So treten die Verben abfragen und abhören auch mit zwei Akkusativen auf, allerdings sind in den Korpora auch häufig Belege mit dem Valenzmuster [Subjekt, Dativ-, Akkusativobjekt] zu finden. Dies ist nach Lang (2007: 5) auch vor allem in Passivsätzen zu beobachten: Ist der Akkusativ der Person Subjekt des Passivsatzes, bleibt der Akkusativ der Sache erhalten (7). Ist der Akkusativ der Sache Subjekt des Passivsatzes, muss hingegen die Person im Dativ stehen (8). Im Vergleich zu ‚lehren‘ ist hier der Dativ sogar erforderlich. (5) Der Pfarrer fragt die Kinder den Katechismus ab. (6) Der Pfarrer fragt den Kindern den Katechismus ab. (7) Die Kinder werden den Katechismus abgefragt. (8) Der Katechismus wird den Kindern abgefragt.
Das Verb fragen dagegen11, das auch mit einem doppelten Akkusativ belegt wird, behält sowohl im Aktiv- als auch im Passivsatz die beiden Akkusative, wenn der Akkusativ der ‚Sache‘ pronominal ist (Lang 2007: 5): (10) Der Pfarrer fragt die Kinder etwas. (Lang 2007: 5) (11) Die Kinder werden etwas gefragt. (Lang 2007: 5) Werden beide Objekte nominal realisiert, muss ein Präpositionalobjekt statt des Akkusativobjekts auftreten: (12a) Sie fragen den Passanten nach dem Weg. (12b) ✶Sie fragen den Passanten den Weg. Auch kosten kann in Verbindung mit einem Dativobjekt vorkommen, wenn dieses Verb im übertragenen Sinne verwendet wird (Duden 2016: 944), wobei hier Lang (2007: 6) eine Präferenz für den doppelten Akkusativ feststellt, wie im folgenden Beispiel (13) Diese Arbeit hat mich viel Kraft gekostet. Es wird deutlich, dass die verschiedenen Verben, die mit einem doppelten Akkusativ auftreten, auf einem Muster-Kontinuum liegen, da sie einzeln mehr oder weniger strikt mit dem doppelten Akkusativ oder mit dem Muster [Subjekt, Dativ-, Akkusa11 Für das entsprechende englische Verb to ask sieht Goldberg (1992: 404) die Motivation für dessen Gebrauch in der Ditransitiv-Konstruktion in der so genannten ‚conduit‘-Metapher.
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tivobjekt] vorkommen können. So lässt lehren beide Optionen zu, bei abfragen und abhören gibt es auch beide Möglichkeiten, allerdings ist im Passivsatz lediglich das Dativobjekt möglich, wenn die Subjektposition von dem Akkusativobjekt für die ‚Sache‘ besetzt wird. Mit fragen können nur dann zwei Akkusativobjekte gebraucht werden, wenn der Akkusativ der ‚Sache‘ pronominal ist. Bei kosten hängt dies stark von der Bedeutung ab. Zu betonen ist jedoch, dass diese Gebrauchsmöglichkeiten eher Tendenzen entsprechen. Auch widersprechen sich zum Teil die Grammatiken, wobei sie kaum konkrete Gebrauchshinweise angeben: In Erinnerung an Duden, dass bei ‚lehren‘ eine starke Tendenz zu Dativ-Akkusativ-Konstruktionen bestehe (vgl. Duden4 1995: 665), und an Wahrig, dass diese Konstruktionen zwar umgangssprachlich häufig, aber standardsprachlich nicht korrekt seien (vgl. Wahrig 2003: 515 f ), stellt sich die Frage, was „starke Tendenz“ heißt und wie häufig „häufig“ ist. (Lang 2007: 12)
Mit seiner Korpusuntersuchung von 3678 Belegen mit dem Verb lehren kann Lang (2007) schon einige Gebrauchstendenzen aufzeigen. Von den gesammelten Belegen werden 428 (= 12 %) mit einem doppelten Akkusativ gebraucht, während die alternative Kombination [Dativ-, Akkusativobjekt] in 216 (= 6 %) Belegen zu finden war12. Dies zeigt eine Tendenz, das Verb lehren häufiger mit einem doppelten Akkusativ zu gebrauchen; diese Tatsache müsste auch im DaF-Unterricht berücksichtigt werden. Es stellt sich jedoch die Frage, wie italophone Lernende der deutschen Sprache mit den Verben mit einem doppelten Akkusativ umgehen. Wir gehen davon aus, dass sie durch die Verwendung der Äquivalente in der Muttersprache beeinflusst sind und eher die Kombination [Dativ-, Akkusativobjekt] realisieren. Bevor wir die Ergebnisse der Tests besprechen, möchten wir jedoch in einer kontrastiven Analyse auf die spezifischen Eigenarten des Italienischen (der Muttersprache der Studierenden) eingehen, denn beim Erlernen der deutschen Sprache ist ein negativer Transfer nicht zu unterschätzen: Okkuriert ein Verb der Muttersprache in Verbindung mit einem bestimmten Valenzmuster, ist es naheliegend, dass Lernende die bereits bekannte syntaktische Struktur auch in die Fremdsprache übertragen.
12 Die übrigbleibenden Belege instanziieren andere Strukturen, etwa eine Struktur mit einem Nebensatz nach dem Verb lehren, kein Objekt, etc. Für ergänzende Daten verweisen wir hier auf Lang (2007).
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3 Die Ditransitiv-Konstruktion aus didaktischer und kontrastiver Sicht (Deutsch-Italienisch) 3.1 Realisierung der Ditransitiv-Konstruktion im Deutschen Die deutsche Sprache zeichnet sich durch eine ausgeprägte Flexibilität in der Reihenfolge der die Ditransitiv-Konstruktion bildenden Konstituenten aus (vgl. u. a. Malchukov, Haspelmath & Comrie (2007), Müller (1999) oder Sauermann & Höhle (2018)). Dabei sind aus fremdsprachendidaktischer Sicht vor allem folgende Aspekte zu beachten: a) die unmarkierte Reihenfolge des direkten und des indirekten Objekts, die informationsstrukturell neutral ist 13; b) die nominale vs. pronominale Realisierung beider Objekte; c) zusätzliche Faktoren, die eine Abweichung der unmarkierten, üblicheren Reihenfolge bewirken können. Im DaF-Unterricht erweisen sich vor allem die Aspekte unter a) und b) als relevant, denn ihre Nicht-Beachtung führt zu unkorrekten Sätzen. Bei „unmarkierter Reihenfolge“ (Lenerz 1977) und nominaler Realisierung stehen beide Objekte im Mittelfeld, wobei das Subjekt das Vorfeld besetzt. In diesem Fall geht das indirekte Objekt im Dativ dem direkten Objekt im Akkusativ voran, wie etwa in: (14) Der Weihnachtsmann schenkt den Kindern [indirektes Objekt]
Schokolade. [direktes Objekt]
Die alternative Reihenfolge [direktes Objekt, indirektes Objekt] ist unter bestimmten Bedingungen auch möglich. Dabei können Kriterien wie die Definitheit des Objektes eine entscheidende Rolle spielen. So weisen Malchukov et al. (2007) darauf hin, dass diese alternative Reihenfolge aus informationsstrukturellen Gründen „normal“ (2007: 13) ist, wenn das direkte Objekt ein Thema mit einem definiten Artikel instanziiert und der Rezipient unbestimmt ist. Dies illustrieren sie mit folgendem Beispiel (15) Ich gab
den Apfel einem Kind. (Malchukov et al. 2007: 13) [direktes Objekt] [indirektes Objekt]
13 In unserer empirischen Untersuchung wird lediglich die unmarkierte Abfolge der Elemente sowohl bei nominaler als auch bei pronominaler Füllung berücksichtigt, da sie für den DaF-Unterricht am relevantesten ist.
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In Anlehnung an zahlreiche Studien listen Sauermann & Höhle (2018: 1) noch weitere Faktoren auf, die die Variation in der Reihenfolge der Objekte motivieren können (vgl. auch Jäschke & Plag 2016). Nicht nur spielt die Definitheit eine Rolle, sondern auch i) ii)
die Länge der Nominalphrase (Lenerz 1977), der Belebtheitsgrad (Müller 1999), und
iii)
die Informationsstruktur wie bei der Thema-Rhema-Gliederung (Lenerz 1977):
In general, these factors predict a preference for placing definite before indefinite, animate before inanimate, [...] given before new, or non-focused before focused constituents. (Sauermann & Höhle 2018: 1)
An dieser Stelle können solche Kriterien nicht einzeln und detailliert diskutiert werden; für einen Überblick vgl. Sauermann & Höhle (2018). Wie bereits erwähnt, ist die Reihenfolge des direkten und indirekten Objekts auch davon abhängig, ob die Objekte nominal oder pronominal realisiert sind (siehe auch Kempen & Harbusch 2005 oder Haspelmath 2004 und 2007). Allgemein gilt, dass ein pronominales Objekt vor einem nominalen Objekt steht, unabhängig davon, ob es sich um ein Dativ- oder Akkusativobjekt handelt, wie in folgenden Beispielen zu sehen ist. (16)
a. Der Weihnachtsmann schenkt dem kleinen Jungen ein Spielzeugauto. [indirektes Objekt] [direktes Objekt] b. Der Weihnachtsmann schenkt es dem kleinen Jungen. [direktes Objekt] [indirektes Objekt] c. Der Weihnachtsmann schenkt ihm ein Spielzeugauto. [indirektes Objekt] [direktes Objekt]
Dies lässt sich anhand der Thema-Rhema-Gliederung erklären, da das pronominale Objekt nur Thema, d. h. das Bekannte, worüber gesprochen wird, sein kann und das nominale Objekt die neue Information über das Thema bringt. Sind beide Objekte pronominal, so steht das Akkusativobjekt bei unmarkierter Reihenfolge vor dem Dativobjekt: (16) d. Der Weihnachtsmann schenkt es [direktes Objekt]
ihm. [indirektes Objekt]
Ist das direkte Objekt ein Demonstrativpronomen, so folgt es auf das Dativobjekt, wie etwa in
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(16) e. Der Weihnachtsmann schenkt ihm das. [indirektes Objekt] [direktes Objekt, Demonstrativpro] Die unterschiedliche Realisierung der Ditransitiv-Konstruktion im Deutschen kann sich für italophone Lernende vor allem im Hinblick auf die unmarkierte Stellung bei nominaler bzw. pronominaler Füllung der Objekte als schwierig erweisen, da die Reihenfolge der Elemente in der italienischen Konstruktion genau umgekehrt erfolgt. Im nächsten Abschnitt wollen wir kurz darauf eingehen, wie die Ditransitiv-Konstruktion im Italienischen realisiert wird.
3.2 Realisierung der Ditransitiv-Konstruktion im Italienischen Im Italienischen sieht die unmarkierte Stellung genau die entgegengesetzte Reihenfolge vom Deutschen vor (vgl. Haspelmath 2007: 5), wobei – genauso wie im Deutschen – ähnliche Faktoren die Abfolge der Objekte beeinflussen können. Nominal wird das direkte Objekt i. d. R. dem indirekten vorangestellt, wobei pronominal das indirekte vor dem direkten Objekt steht. (17)
a. Maria dà
una rosa a sua madre. [direktes Objekt] [indirektes Objekt] (‚Maria gibt ihrer Mutter eine Rose.‘) b. Maria gliela dà. [indirektes Objekt, direktes Objekt] (‚Maria gibt sie ihr.‘)
Wenn nur ein Objekt pronominal realisiert wird und das Pronomen unbetont ist, wird es unmittelbar vor das finite Verb gesetzt. Betonte Pronomina folgen dem Verb. Vgl. le vs. a lei ‚ihr‘ in den nächsten zwei Beispielen: (17)
c. Maria
le [indirektes Objekt] (‚Maria gibt ihr eine Rose.‘) d. Maria la [direktes Objekt] (‚Maria gibt sie ihr.‘)
dà
una rosa. [direktes Objekt]
dà
a lei [indirektes Objekt]
Das System der Personalpronomina im Italienischen verfügt über zwei Arten von Pronomina: betonte (pronomi tonici) und unbetonte Pronomina (pronomi atoni)
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(vgl. hierzu Serianni 2005). Im Folgenden wird das Pronominalsystem des direkten und indirekten Objektes kurz vorgestellt. In der Funktion direktes Objekt kommen folgende betonte Pronomina vor (siehe Tabelle 1): Tabelle 1: Betonte italienische Personalpronomina als direktes Objekt. I.Sing
II.Sing
III.Sing
I.Plural
II.Plural
III.Plural
me
te
lui/lei
noi
voi
loro
Betonte Pronomina tragen einen eigenen Akzent und können auch alleine vorkommen: (18) Vedo lui oggi – non Maria. (‚Ich sehe ihn heute – nicht Maria.‘) (19) Tu? (‚Du?‘) Betonte Pronomina in der Funktion indirektes Objekt sind (siehe Tabelle 2): Tabelle 2: Betonte italienische Personalpronomina als indirektes Objekt. I.Sing
II.Sing
III.Sing
I.Plural
II.Plural
III.Plural
a me
a te
a lui/lei
a noi
a voi
a loro
(20) Marco ha regalato un libro a me. (‚Marco hat mir ein Buch geschenkt.‘) (21) Do un libro a lei. (‚Ich gebe ihr ein Buch.‘) Unbetonte Pronomina tragen dagegen keinen eigenen Akzent und stützen sich immer auf das Verb, das ihnen folgt oder ihnen vorangeht. In der Funktion des indirekten Objekts haben sie folgende Formen (siehe Tabelle 3): Tabelle 3: unbetonte italienische Personalpronomina als indirektes Objekt. I.Sing
II.Sing
III.Sing
I.Plural
II.Plural
III.Plural
mi
ti
gli/le ci (neutrales Personalpronomen)
ci
vi
gli/loro auch: ci
(22) Pietro gli parla. (‚Pietro spricht mit ihm.‘)
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(23) Pietro le telefona. (‚Pietro ruft sie an.‘) Sie erscheinen in der Form des direkten Objektes wie folgt (siehe Tabelle 4): Tabelle 4: Unbetonte italienische Personalpronomina als direktes Objekt. I.Sing
II.Sing
III.Sing
I.Plural
II.Plural
III.Plural
mi
ti
lo/la
ci
vi
li/le
(24) Pietro la vede. (‚Pietro sieht sie.‘) (25) Pietro lo vede. (‚Pietro sieht ihn.‘) Im Italienischen können unbetonte Pronomina miteinander kombiniert werden. Diese zusammengesetzten Pronomina kommen oft in der Ditransitiv-Konstruktion vor, wie Tabelle 5 zeigt: Tabelle 5: Unbetonte italienische Personalpronomina (kombiniert). I.Sing
II.Sing
me lo/la/li/le te lo/la/li/le
III.Sing
I.Plural
II.Plural
III.Plural
glielo/gliela/ glieli/gliele/gliene
ce lo/la/li/le
ve lo/la/li/le
se lo/la/li/le
(26) Pietro dà un libro a Maria. (‚Pietro gibt Maria ein Buch‘) (27) Pietro glielo dà. (‚Pietro gibt es ihr‘) Aufgrund der Unterschiede in der Reihenfolge der Objekte zwischen dem Deutschen und dem Italienischen stellt sich die Frage, ob es bei der Produktion von Instanziierungen der Ditransitiv-Konstruktion durch die italophonen Lernenden Transfereffekte gibt, die dazu führen, dass die italienische Reihenfolge in den deutschen Konstruktionen einfach übernommen wird. Dies wollen wir im Folgenden untersuchen.
3.3 Transfer- und Lernschwierigkeiten Wie von Roche & Suner (2015: 292) schon betont, entstehen die Schwierigkeiten beim Erlernen einer Fremdsprache durch die unterschiedlichen konzeptuellen und linguistischen Systeme der Mutter- und der Fremdsprache (hier: MS und FS;
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siehe auch Römer, Ellis & O’Donnell 2014). So etwa behauptet Goldberg (2019: 112), dass Erwachsene, die Englisch als FS lernen, bei der Wahl zwischen einer Konstruktion mit indirektem Objekt oder einem Präpositionalobjekt eine Tendenz aufweisen, aufgrund ihrer MS zu übergeneralisieren (2019: 112). Dies ist z. B. der Fall bei dem Beispiel Explain me this14, das als Ditransitiv-Konstruktion instanziiert wird, obwohl das Verb explain eigentlich mit Präpositionalphrase zu gebrauchen ist, nämlich Explain this to me. Dies hat mit „transfer effects“ zu tun, also mit der Aktivierung von Vorwissen aus einer Sprache – meistens aus der MS –, das in eine FS bewusst oder unbewusst übertragen wird (siehe auch dazu Jarvis (2010) und Jarvis & Pavlenko (2008)). Die Forschung im Bereich Fremdsprachenerwerb hat in der Tat gezeigt, dass Lernende durch ihre MS stark beeinflusst werden und dass sie sogar die Tendenz haben, die Frequenz einer bestimmten Konstruktion aus ihrer MS in die FS zu übertragen (siehe etwa Selinker 1969, zitiert in Jarvis & Pavlenko 2007: 183). Dies betrifft etwa die Reihenfolge der Argumente, wie von Isurin (2005) in ihrer kontrastiven Studie Russisch-Englisch illustriert wurde. Einige empirische Studien befassen sich auch mit Dativ-Konstruktionen: Baten & De Cuypere (2014) haben den konzeptuellen Transfer der Dativ-Alternierung zwischen Konstruktionen mit einem Präpositionalobjekt und solchen mit einem indirekten und direkten Objekt bei niederländischen DaF-Lernenden untersucht. De Cuypere, De Coster & Baten (2014) befassen sich mit der Reihenfolge der beiden Objekte und analysieren, ob russische Lernende die präferierte Reihenfolge Thema-Rezipient ins Englische übertragen. Empirische Untersuchungen bei italophonen DaF-Lernenden liegen noch nicht vor. Wie zu sehen sein wird, geht es bei unserer empirischen Untersuchung der Ditransitiv-Konstruktion vor allem um negativen Transfer: Italophone Lernende übertragen oft die Reihenfolge bzw. die Valenz der MS in die deutsche Sprache und begehen dabei Fehler. Während sich die meisten der oben erwähnten Studien in Anlehnung an Bresnan (2007) auf „grammaticality judgment tests“ beziehen, geht unsere Studie einen anderen Weg, denn wir wollen die Lernenden in actu beobachten, indem sie konkret deutsche Sätze bilden. Im nächsten Abschnitt wird dies ausführlich diskutiert.
14 So lautet Goldbergs Buchtitel (2019), mit dem die Autorin auf die Übergeneralisierung beim Gebrauch von Konstruktionen aufmerksam machen möchte.
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4 Empirische Studie zu den Lernschwierigkeiten Um die Schwierigkeiten für italophone Studierende beim Erlernen der Ditransitiv-Konstruktion zu erfassen, haben wir zuerst eine Liste ditransitiver Verben mit Hilfe des elektronischen Valenzwörterbuchs deutscher Verben (E-VALBU, Zugriff am 28.03.22) erstellt. Ausgehend von dieser Liste sind zwei Testtypen und eine Konstruktions- und Priming-basierte Lernmethode konzipiert worden, die in drei unterschiedlichen Phasen durchgeführt worden sind15: i) Pretest (Teil 1 + Teil 2): in der ersten Phrase, um das Vorwissen der Lernenden zu prüfen, ii) Posttest 1 (Teil 1 + Teil 2): gleich nach der von uns entwickelten Lernmethode, iii) (Langzeit-)Posttest 2 (Teil 1 + Teil 2): vier Wochen nach Posttest 1. Bei den Testpersonen handelt es sich um 51 italophone DaF-Studierende des Studiengangs Mediazione Linguistica e Culturale der Università degli Studi di Milano; sie sind im dritten Semester und ihre Sprachkenntnisse liegen zwischen B1 und B2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER). Alle Tests sind auf die Moodle-Plattform der Universität Mailand hochgeladen und die Studierenden sind lediglich gebeten worden, die Tests durchzuführen. Die Lösungen der Tests sowie die Ergebnisse sind erst nach der dritten Phase bekannt gegeben worden, um die Validität der Studie sicherzustellen. Alle Tests enthalten einen Wortschatz, der den Studierenden vertraut sein dürfte; bei für schwierig gehaltenen Lexemen ist die italienische Übersetzung in Klammern angegeben worden, um – auch in diesem Fall – das Resultat der Untersuchung nicht zu beeinflussen. Der erste Test, der Pretest, zielt darauf ab, die Vorkenntnisse der DaF-Studierenden vor dem für sie konzipierten konstruktionsgrammatisch orientierten und Priming-basierten Unterricht zu überprüfen. Alle Lernenden haben die DitransitivKonstruktion nach einer traditionellen Methode schon gelernt, so wie sie in den gängigen Lehrwerken zu finden ist.16 Beide Testtypen (Teil 1 und 2) sind in allen drei Phrasen ähnlich konzipiert worden, das heißt, sie weisen eine ähnliche Struktur auf und enthalten z. T. Sätze mit denselben Verben bzw. mit derselben Argumentstruktur. Bei Teil 1 der Tests (siehe Anhang 1) geht es darum, aus den angegebenen Wörtern einen korrekten Satz zu bilden. Die zu kombinierenden Elemente sind 15 Alle Tests sind im Anhang zu sehen. 16 Die Studierenden lernen im Rahmen der Sprachpraxis Deutsch anhand der Lehrbücher DaF kompakt A1-B2 vom Klett Verlag. An dieser Stelle können wir jedoch nicht auf die traditionelle Methode eingehen, da es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.
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kursiv geschrieben; um die Bildung der unmarkierten Reihenfolge zu fördern, sind die Sätze mit einem Kontext versehen, wie etwa in17: (28) Peter und seine Schwester sind beim Kaffeetrinken: erzählen – er – seine Schwester – eine spannende Geschichte. Dabei sind Verben enthalten, die sowohl ditransitiv gebraucht werden, wie hier in Beispiel (28) als auch Verben, die lediglich eine ditransitive Semantik jedoch keine ditransitive Argumentstruktur aufweisen, etwa diagnostizieren, fragen oder lehren: (29) Wir sind im einem Spanischkurs in Rom: lehren – der Dozent – die spanische Sprache – die Italiener. Aus kontrastiver Sicht sind diese Verben wie diagnostizieren, fragen oder lehren insofern interessant, als ihre Entsprechungen im Italienischen (diagnisticare, domandare/chiedere und insegnare) mit der Ditransitiv-Konstruktion fusionieren. Dies bedeutet, dass die Gefahr eines negativen Transfers hier relativ groß sein dürfte. Insgesamt enthält der 1. Teil des Pretests (und der beiden Posttests) 10 Sätze. Anzumerken ist jedoch, dass in dieser ersten Phase die unmarkierte Reihenfolge (nominales Dativobjekt vor dem nominalen Akkusativobjekt) angegeben wird: (30) Es ist kalt und windig: anziehen – der Vater – das Kind – eine Mütze (31) In der Mailänder U-Bahn: fragen – der Tourist – der Kontrolleur – der Weg (32) Der Student macht sein Auslandssemester in Berlin: schreiben – er – seine Familie – eine Mail. Die Hauptergebnisse des 1. Teils vom Pretest sind in Tabelle 6 zusammengefasst. Es sind noch weitere Fehler festzustellen als in der Tabelle angegeben, wie etwa das falsche Genus, kein -n im Dativ Plural, der falsche Numerus usw. Da diese Fehler wenig mit der Argumentstruktur oder der Reihenfolge der Objekte zu tun haben, werden sie in der Tabelle nicht mit aufgelistet.
17 All unsere Belege sind an die gängigen Wörterbücher und Lehrbücher angelehnt; um den kognitiven Aufwand zu minimieren, wird der Kontext auf das Wesentliche reduziert.
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Tabelle 6: Pretest-Ergebnisse – Teil 1. 51 Teilnehmende, 10 Sätze insgesamt 504 gültige Antworten
Anzahl der Antworten
Frequenz
285
56,5 %
97 19 48 35 84 31
19,2 % 3,8 % 9,5 % 6,9 % 16,7 % 6,2 %
richtige Antworten Fehler – falsche Argumentstruktur – falsche Objektreihenfolge – falsche Endung beim Dativobjekt – falsche Endung beim Akkusativobjekt – falsche Präposition – lehren mit Dativ- und Akkusativobjekt18
Bei manchen Sätzen können auch mehrere gleichzeitig okkurierende Fehler beobachtet werden, wie etwa falsche Argumentstruktur, falscher Kasus beim Akkusativobjekt und Fehler bei der Verwendung der Präposition, wie in folgendem Beispiel (33)
Der Tourist fragt dem Kontrolleur den Weg.
✶
Mehr als die Hälfte der Antworten sind richtig (56,5 %). Die meisten Fehler betreffen: – eine falsche Argumentstruktur vor allem in Verbindung mit den Verben fragen und diagnostizieren, bei denen die Interferenz-Gefahr sehr groß ist. Denn beide Verben werden jeweils in 82 % bzw. 88 % der Fälle mit einer Ditransitiv-Konstruktion so wie im Italienischen realisiert, oder – das falsche Selegieren einer Präposition, vor allem mit dem Verb fragen (16,7 %). Wie zu erwarten ist, sind die meisten Fehler bei den Kasus (Akkusativendung anstatt Dativendung oder umgekehrt) zu finden (9,5 % und 6,9 %), wie etwa: ✶Der Vater anzieht das Kind eine Mütze, ✶Maria hat ihrem Bruder den Fotos ihrer letzten Reise gezeigt, usw. In 5,2 % der Fälle wird das Flexionsmorphem -n bzw. -en bei Nomina im Plural nicht aktualisiert (✶Sie schickt ihren Enkelkinder einen Paket oder ✶ Der Dozent lehrt den Italiener die spanische Sprache). Das Verb lehren wird – wie seine italienische Entsprechung ‚insegnare‘ – von 61% der Studierenden ditransitiv gebraucht.
18 Obwohl die Realisierung dieser Argumentstruktur – wie bereits gesehen – trotz Abweichung von der Norm akzeptiert wird, wird sie im Folgenden mitberücksichtigt, da sie als Indiz für mögliche Interferenzfehler dient (siehe unten).
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Der 2. Teil bezieht sich auf den pronominalen Ausdruck der beiden Objekte. Die Lernenden haben 10 ditransitive Sätze bekommen, bei denen die durch Kursivschrift gekennzeichneten Elemente (d. h. die beiden Objekte im Dativ und Akkusativ) pronominal zu realisieren sind (siehe Anhang 1), etwa: (34) Die Mutter hat ihrem Sohn die neue Playstation geschenkt. (35) Der Dozent lehrt die Studenten die deutsche Sprache. Diese Aufgabe hat den Studierenden mehr Schwierigkeiten bereitet, was in der folgenden Tabelle 7 dargestellt wird, vor allem ist die falsche Pronomina-Reihenfolge mit 25,9 % auffällig: Tabelle 7: Ergebnisse des Pretests – Teil 2. 51 Teilnehmende, 10 Sätze Insgesamt 479 gültige Antworten
Anzahl der Antworten
Frequenz
251
52,4 %
124 19 24 6
25,9 % 4,0 % 5,0 % 1,3 %
richtige Konstruktion mit Pronomina Fehler – falsche Objekt-Reihenfolge – diskontinuierliche Objekt-Reihenfolge – falsche Endung beim Dativobjekt – falsche Endung Akkusativobjekt
Gelegentlich werden einige Beispiele von diskontinuierlicher Objekt-Abfolge (4,0 %) beobachtet, wie etwa in (36)
Großmütter erzählen ihnen gerne ihm.
✶
Wie beim 1. Teil des Pretests können auch weitere Fehler ermittelt werden, wie etwa falsches Genus, falscher Numerus oder die Instanziierung einer nicht von der Norm vorgesehenen Präpositionalphrase, wie in folgendem Beispiel: (37)
Grossmuetter erzählen gerne es ihnen von sie.
✶
Da diese Fehlertypen weniger vertreten sind und nicht unmittelbar mit der pronominalen Realisierung der beiden Objekte zu tun haben, werden sie hier – wie für Teil 1 – nicht diskutiert. Zusammenfassend kann behauptet werden, dass beide Tests auf einige Schwierigkeiten der italophonen DaF-Lernenden hinweisen. Probleme bereiten insbesondere folgende Aspekte:
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– –
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die korrekte Reihenfolge beider Objekte, die Valenz bzw. Argumentstruktur einiger deutscher Verben, die sich anders verhalten als die italienischen.19
Es handelt sich jedoch um Aspekte, die nicht rein konstruktionistisch behandelt werden können, oder für die ein rein konstruktionistischer Ansatz keine adäquate Erklärung bietet. In dieser Hinsicht stößt die KxG sowohl aus theoretischer bzw. deskriptiver als auch didaktischer Sicht an ihre Grenzen, denn: 1) Goldbergs konstruktionistisches Modell fokussiert einerseits nicht die Abfolge der Objekte im unmarkierten Satz, die für italophone DaF-Lernende eine große Hürde darstellen; 2) die Existenz abstrakter Konstruktionen – so wie es in der KxG postuliert wird – kann andererseits zu Verallgemeinerungen führen, die jedoch de facto nicht uneingeschränkt Gültigkeit besitzen (vgl. u. a. Herbst 2011: 354 und Stefanowitsch 2011: 380). Es könnte z. B. suggeriert werden, dass die Fusionierung eines beliebigen semantisch kompatiblen Verbs mit der ditransitiven Konstruktion akzeptable Sätze ergibt, was jedoch nicht immer der Fall ist. Z. B. weist das deutsche Verb fragen zwar eine Transfersemantik auf, ist jedoch – im Gegensatz zu seinen italienischen Äquivalenten domandare/chiedere – nicht mit der ditransitiven Konstruktion kombinierbar. Ähnliches gilt auch bei it. diagnosticare und dt. diagnostizieren: Während das Verb im Italienischen einen ditransitiven Gebrauch vorsieht, braucht sein deutsches Äquivalent einen Präpositionalanschluss, um die Rolle des Themas zum Ausdruck zu bringen (vgl. Mollica & Kuhn 2013). Um das Idiosynkratrische jedes Lexems zu berücksichtigen, ist Goldbergs Ansatz nach Herbst (2011) durch das sogenannte „Valenzrealisierungsprinzip“ zu erweitern. Dieses Prinzip sieht nicht nur punktuelle Informationen über die formalen Eigenschaften der Ergänzungen vor, sondern es sichert auch, dass nur diejenigen formalen Realisierungen einer Argumentstruktur aktualisiert werden können, die den valenziellen Eigenschaften eines bestimmten Valenzträgers Rechnung tragen (Herbst 2011: 355; siehe auch Herbst 2014). Es liegt auf der Hand, dass Herbsts Valenzrealisierungsprinzip – vor allem bei morphosyntaktisch komplexen Sprachen wie Deutsch – eine wichtige Rolle in der Fremdsprachendidaktik spielen kann. Wenn einerseits die Verkopplung der ditransitiven Syntax verbunden mit
19 Auffällig sind auch die Schwierigkeiten mit der korrekten morphosyntaktischen Kasus-Realisierung. Dieser Aspekt wird hier außer Acht gelassen, da der Beitrag auf die Reihenfolge der Objekte und die Argumentstruktur fokussiert.
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einer Transfersemantik gewisse Verallgemeinerungen schafft, die in der Fremdsprachendidaktik sicher von Nutzen sein können, ermöglicht es andererseits erst das Valenzkonzept, den Besonderheiten einzelner Verben bzw. Konstruktionen Rechnung zu tragen. Die Bewusstmachung solcher Valenz-Idiosynkrasien ist vor allem da notwendig, wo wesentliche Unterschiede zwischen MS und FS vorliegen.
5 Didaktische Methode 5.1 Strukturelles Priming Obwohl die KxG nicht ausreicht, um alle Idiosynkrasien zu erklären, bietet dieser Ansatz trotzdem einen echten Nutzen für den Fremdsprachenunterricht. Rostila (2012) weist in seiner Studie darauf hin: Indem Sprachbenutzer die schematischen Teile von Konstruktionen [...] mit unterschiedlichem Material besetzen, können sie produktiv immer neue Strukturen erzeugen. Eine zentrale These der KxG besteht eben darin, dass schematische Konstruktionen dieser Art produktive Erscheinungen in der Sprache erfassen und dadurch Regeln ersetzen können, so dass zur Beschreibung von Produktivität kein weiteres Beschreibungsmittel angenommen werden muss. (Rostila 2012: 219)
Wie gezeigt wurde, gilt dies auch für die Ditransitiv-Konstruktion, die auf abstrakter Ebene ein spezifisches Schema aufweist: ein Verb, ein Subjekt, ein direktes und ein indirektes Objekt. Prototypischerweise wird diese Konstruktion im Deutschen mit der Reihenfolge der Objekte im Mittelfeld [indirektes Objekt, direktes Objekt] instanziiert. In der pronominalen Form ist die Reihenfolge genau umgekehrt. Die Idee schematischer Strukturen findet sich auch in psycholinguistischen Lehrmethoden wieder, die auf strukturellem Priming basieren. Im Folgenden präsentieren wir die von uns konzipierte Lehrmethode, die sich an diese Konzeption anlehnt. In der psycholinguistischen Fachliteratur hat sich in jüngster Zeit eine Methode, die auf den Prinzipien des syntaktischen oder strukturellen Primings beruht, als positiv für den Lernprozess fremder Konstruktionen erwiesen (vgl. u. a. Branigan & Pickering 2017; Hartsuiker et al. 2004; Loebell & Bock 2003; Scheepers & Corley 2000). Die Grundannahme dieser Vorgehensweise ist, dass „Sprecher dazu neigen, die gerade angetroffene Struktur zu wiederholen“ (Gries 2005: 365; Übersetzung durch Autoren). Das bedeutet, dass Lernende, die zum ersten Mal einen Satz mit einer bestimmten Struktur lesen oder hören, in den unmittelbaren Folgesätzen mit großer Wahrscheinlichkeit dieselbe Struktur wiederverwenden oder wiederholen. Die Priming-Methode basiert demnach auf der Wiederholung von Strukturen (Loebell & Bock 2003) sowie auf Gedächtnisprozessen (Bernolet & Hartsuiker 2018)
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und entspricht in diesem Sinne den Frequenzannahmen der KxG, wobei ähnliche Strukturen mit unterschiedlichem lexikalischem Material gefüllt werden (Diessel (2019) definiert dies als Filler-Slot-Relationen). Genauer gesagt, und […] contrary to syntactic acquisition in L1, L2 acquisition in late learners begins with the learning of lexical representations without firm connections to abstract syntactic information. These item-specific lexical representations become more abstract with increasing proficiency, with abstraction taking place across words within the L2, and eventually also between languages. […] [A]cross the learning trajectory, L2 representations become more and more integrated with existing L1 representations. (Bernolet & Hartsuiker 2018: 211)
Diese Methode erweist sich in den Experimenten von Loebell & Bock (2003) als erfolgreich, da sie Priming-Effekte zwischen alternativen Formen englischer ‚Dative‘ und ihren deutschen Äquivalenten finden. Im Gegensatz dazu untersuchen Hartsuiker et al. (2004) Priming-Effekte bei aktiven vs. passiven Alternationen. Sie verwenden für ihre Experimente ebenfalls Bildbeschreibungsaufgaben, konzentrieren sich aber auf das Sprachenpaar Spanisch und Englisch und das sprachliche Phänomen von Aktiv- vs. Passivsätzen mit oder ohne Objekt. Ihr Experiment umfasst englische Beschreibungen von Bildern durch Spanisch-Sprecher. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Passivsätze im Englischen von den Lernenden häufiger verwendet werden, wenn sie auf einen spanischen Passivsatz folgen. In Anlehnung an diese Studien haben wir eine Unterrichtseinheit (60 Minuten) zur Förderung des Lernprozesses der Ditransitiv-Konstruktion bei unseren italophonen Studierenden entwickelt. Diese Methode ist bei denselben Studierenden erprobt worden, die am Pretest teilgenommen haben. Am Anfang der Unterrichtseinheit hat der Dozierende eine Art Aufwärmphase veranstaltet, bei der zuerst alle deutschen Pronomina im Akkusativ und Dativ wiederholt worden sind. Danach sind mit einer Powerpoint-Präsentation prototypische ditransitive Sätze mithilfe farbiger Markierung20 und mit illustrierendem Bild gezeigt worden (siehe Anhang 2)21: (38) Zu Weihnachten schenkt sie ihren Großeltern ein schönes Buch22.
20 Das indirekte Objekt wird stets mit Grün und das direkte mit Blau markiert. Das Flexionsmorphem -n bzw. -en bei Nomina im Plural wird rot markiert. Für die anderen Komplemente wurden weitere Farben verwendet. Die Beispiele im Anhang 3 sind in schwarz-weiß wiedergegeben. 21 Bei der Methode des strukturellen Primings werden keine metalinguistischen Erklärungen durch die Dozierenden gegeben, es geht lediglich um eine unbewusste Beeinflussung der Lernenden durch eine visuelle Wahrnehmung von Strukturen. 22 Da wir die Farben in diesem Beitrag nicht reproduzieren können, haben wir uns hier für eine alternative Darstellung entschieden, die wie folgt aussieht: die roten Endungen sind fett dargestellt, die Dativobjekte in grün sind hier unterstrichen und die ursprünglich in blau markierten Akkusativobjekte sind in diesem Beitrag kursiv geschrieben.
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(39) Sie zeigte ihren Freunden die neue Wohnung. Direkt danach ist ein Posttest mit ähnlichen Sätzen wie im Pretest durchgeführt worden (siehe Anhang 4). Es wurden jedoch auch Sätze präsentiert, bei denen trotz ditransitiver Semantik eine andere syntaktische Struktur vorliegt wie bei Konstruktionen mit bitten um, diagnostizieren, fragen nach, lehren usw. Wie oben erwähnt, handelt es sich hier um Verben, deren Entsprechungen im Italienischen ditransitiv verwendet werden; ihre Thematisierung ist daher im DaF-Unterricht von großer Relevanz. Folgende Tabelle 8 zeigt die Ergebnisse des direkten Posttests (Teil 1) gegenüber dem Pretest (Teil 1). Tabelle 8: Ergebnisse des direkten Posttests (Teil 1) gegenüber dem Pretest. 51 Teilnehmende, 10 Sätze Prozentzahl der richtigen Antworten Prozentzahl der Fehler – falsche Argumentstruktur – falsche Objekt-Reihenfolge – falscher Kasus beim Dativobjekt – falscher Kasus beim Akkusativobjekt – falsche Präposition – lehren mit Dativ- und Akkusativobjekt
Frequenz Pretest (Teil 1)
Frequenz Posttest (Teil 1)
56,5 %
68,6 %
19,2 % 3,8 % 9,5 % 6,9 % 16,7 % 6,2 %
6,3 % 3,0 %23 6,5 % 5,5 % 4,9 % 0,2 %
Der Posttest (Teil 1) zeigt eine gewisse Verbesserung (68,6 %) gegenüber dem Pretest (56,5 %). Mit einem t-Test konnte die Verbesserung auch statistisch bestätigt werden. Bei einem Mittelwert des Pretests von 5,58 und einem Mittelwert von 6,82 beim direkten Posttest (mit einem Freiheitsgrad von 50) ist der p-Wert 0.001, was auf eine Signifikanz hindeutet. Wie der Tabelle auch zu entnehmen ist, ging die Zahl der Fehler auch zurück. Dies bedeutet, dass die Studierenden nur durch das Zeigen von Beispielsätzen mit den Objekten in verschiedenen Farben positiv beeinflusst worden sind und weniger Fehler bei der Produktion der DitransitivKonstruktion begangen haben. Auch der Gebrauch nicht-ditransitiver Verben wie fragen und diagnostizieren fällt in dieser Phase besser aus (siehe Tabelle 9):
23 Im Gegensatz zum Pretest wird beim Posttest (und später auch beim Langzeit-Posttest) eine gemischte Abfolge der Objekte präsentiert.
Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht
339
Tabelle 9: Ergebnisse des direkten Posttests (Teil 1) gegenüber dem Pretest mit nicht-ditransitiven Verben. 51 Teilnehmende, 10 Sätze richtige Konstruktion mit nichtditransitiven Verben – fragen nach – diagnostizieren etw. bei jdm.
Frequenz Pretest (Teil 1)
Frequenz Posttest (Teil 1)
15 % 8%
63 % 37 %
Das Verb lehren wird im Posttest von 96 % der Studierenden mit zwei Akkusativobjekten realisiert (im Pretest waren es 15 %). Dies weist folglich auf eine positive Wirkung der didaktischen Methode hin, die auch auf Idiosynkrasien der Valenzträger fokussiert, um die potenzielle Interferenzgefahr zu verringern. Der zweite Teil der Unterrichtseinheit besteht aus einer weiteren Powerpoint-Präsentation mit kurzen prototypischen ditransitiven Beispielen, bei denen der nominalen die pronominale Reihenfolge durch die graphische Unterstützung mit Pfeilen gegenübergestellt wird (siehe Anhang 3 und Beispiele hier unten). Auch in diesem Fall sind die Beispiele mit entsprechendem Bild versehen. (40) Ich gebe meiner Schwester die Blume. Ich gebe
sie
ihr.
(41) Peter hat mir den teuersten Ring versprochen. Peter hat
ihn
mir versprochen.
Direkt danach ist Teil 2 des Posttests durchgeführt worden (siehe Anhang 4), bei dem die nominalen Objekte durch Pronomina zu ersetzen sind. Folgende Tabelle 10 listet die Ergebnisse des 2. Teils des direkten Posttests gegenüber dem Pretest. Aufgrund der Frequenzen kann schon festgestellt werden, dass die Verbesserung zwischen dem 2. Teil des Pretests und dem des direkten Posttests noch größer ist als bei Teil 1. Die statistische Auswertung mit einem t-Test bestätigt diesen Forstschritt mit einer sehr hohen Signifikanz des p-Werts von 2,02E-09 bei einem Mittelwert des Pretests von 4,92 und einem Mittelwert von 8,29 beim Posttest (mit Freiheitsgrad von 50). Wir gehen davon aus, dass die visuelle Darstellung der Objekt-Reihenfolge mit Pfeilen eine größere unterstützende Wirkung auf das Verinnerlichen der richtigen Struktur hat. Dies führt offensichtlich auch zu einem deutlichen Rückgang der Fehler, wie der Tabelle zu entnehmen ist.
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Sabine De Knop & Fabio Mollica
Tabelle 10: Ergebnisse des direkten Posttests (Teil 2) gegenüber dem Pretest. 51 Teilnehmende, 10 Sätze richtige Konstruktion mit Pronomina Fehler – falsche Objekt-Reihenfolge – diskontinuierliche Objekt-Reihenfolge – falscher Kasus beim Dativobjekt – falscher Kasus beim Akkusativobjekt – lehren mit Dativ- und Akkusativobjekt
Frequenz Pretest (Teil 2)
Frequenz Posttest (Teil 2)
52,4 %
85,1 %
25,9 % 4,0 % 5,0 % 1,3 % 7,7 %
1,4 % 1,4 % 2,0 % 0,6 % 0,0 %
Trotz der auf den ersten Blick attestierten Verbesserung bei den beiden Teilen des unmittelbar durchgeführten Posttests sollten die Ergebnisse mit etwas Vorsicht behandelt werden. Da der Posttest direkt nach der (visuellen) Darstellung der unterschiedlichen Strukturen durchgeführt wurde, kann man nicht sicher sein, dass die Studierenden das Wissen über die Ditransitiv-Konstruktion aktiv integriert haben und sich in Zukunft daran erinnern werden – und mehr noch, dass sie in einigen Monaten Instanziierungen der Ditransitiv-Konstruktion korrekt bilden und verwenden werden. Daher hat sich ein Langzeit-Posttest nach vier Wochen als notwendig erwiesen, um aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten. Darauf gehen wir im folgenden Abschnitt etwas näher ein.
5.2 Langzeit-Posttest Der Langzeit-Posttest fand ohne Vorankündigung und ohne weitere Erklärungen vier Wochen nach dem direkten Posttest statt, und zwar mit denselben Studierenden. Er besteht genau wie der Pretest und der direkte Posttest aus zwei Teilen, die eine ähnliche Struktur wie der Pretest und der direkte Posttest aufweisen (siehe Anhang 5). Tabelle 11 fasst die Ergebnisse von Teil 1 im Vergleich mit den Ergebnissen des Pretests zusammen. Tabelle 11: Ergebnisse des Teils 1 vom Langzeit-Posttest im Vergleich mit Teil 1 vom Pretest. 51 Teilnehmende, 10 Sätze richtige Antworten Fehler – falsche Argumentstruktur – falsche Objekt-Reihenfolge
Frequenz Pretest (Teil 1)
Frequenz Langzeit-Posttest (Teil 1)
56,5 %
59,3 %
19,2 % 3,8 %
12,0 % 9,0 %
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Tabelle 11 (fortgesetzt) 51 Teilnehmende, 10 Sätze – falscher Kasus beim Dativobjekt – falscher Kasus beim Akkusativobjekt – falsche Präposition – lehren mit Dativ- und Akkusativobjekt
Frequenz Pretest (Teil 1)
Frequenz Langzeit-Posttest (Teil 1)
9,5 % 6,9 % 16,7 % 6,2 %
6,8 % 2,8 % 9,2 % 4,0 %
Wie aus den Zahlen der Tabelle deutlich wird, ist die Verbesserung der Korrektheit der Konstruktionen zwischen dem Pretest (56,5 %) und dem Langzeit-Posttest (59,3 %) nicht wesentlich, was statistisch bestätigt wird. Bei einem Mittelwert von 5,59 beim Pretest, einem Mittelwert von 5,82 beim Langzeit-Posttest und einem Freiheitsgrad von 50, entspricht der p-Wert 0,611, d. h. einem nicht-signifikanten Wert. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass mehr Fehler bei der Objekt-Reihenfolge gemacht worden sind als im Pretest. Dies ergibt sich wahrscheinlich aus der Tatsache, dass die Objekte in den Pretest-Sätzen schon vorweg in der richtigen Reihenfolge präsentiert worden waren. Was den Gebrauch nicht-ditransitiver Verben wie fragen und diagnostizieren angeht, lässt sich eine deutliche Verbesserung feststellen, wie die Tabelle 12 zeigt: Tabelle 12: Ergebnisse des Langzeit-Posttests (Teil 1) gegenüber dem Pretest mit nicht-ditransitiven Verben. 51 Teilnehmende, 10 Sätze richtige Konstruktion mit nichtditransitiven Verben – fragen nach – diagnostizieren etw. bei jdm.
Frequenz Pretest (Teil 1)
Frequenz Langzeit-Posttest (Teil 1)
15 % 8%
55 % 49 %
Teil 2 vom Langzeit-Posttest bringt erfreulichere Ergebnisse hervor, da die Umwandlung der nominalen Objekte in Pronomina zu einem hohen Prozentsatz an korrekten Antworten geführt hat (77,7 %), wie in folgender Tabelle zu sehen ist:
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Sabine De Knop & Fabio Mollica
Tabelle 13: Ergebnisse des Teils 2 vom Langzeit-Posttest im Vergleich mit Teil 2 vom Pretest. 51 Teilnehmende, 10 Sätze richtige Konstruktion mit Pronomina Fehler – falsche Objekt-Reihenfolge – diskontinuierliche Objekt-Reihenfolge – falscher Kasus beim Dativobjekt – falscher Kasus beim Akkusativobjekt – lehren mit Dativ- und Akkusativobjekt
Frequenz Pretest (Teil 2)
Frequenz Langzeit-Posttest (Teil 2)
52,4 %
77,7 %
25,9 % 4,0 % 5,0 % 1,3 % 7,7 %
9,3 % 3,4 % 5,3 % 0,2 % 0,4 %
Verglichen mit dem Wert des Pretests, bedeutet dies eine wesentliche Verbesserung: Bei einem Pretest-Mittelwert von 4,92, einem Langzeit-Posttest-Mittelwert von 7,70 und einem Freiheitsgrad von 50 ist der p-Wert von 1,44E-06 hoch-signifikant. D. h., dass die Methode des strukturellen Primings mit der visuellen Darstellung bei den Lernenden mittelfristig doch sehr gute Ergebnisse erzielt.
6 Fazit und Perspektiven In unserem Beitrag haben wir uns mit der Ditransitiv-Konstruktion aus didaktischer und kontrastiver Sicht auseinandergesetzt; den theoretischen Rahmen unserer Untersuchung stellt die KxG dar, denn die Idee einer schematischen Konstruktion, die über eine bestimmte Form (V, Subjekt, Akkusativ- und Dativobjekt) und eine bestimmte Funktion (Transfersemantik) verfügt, kann eine praktische Anwendung im Fremdsprachenunterricht finden.24 Es wurden jedoch auch die Grenzen eines rein konstruktionistischen Ansatzes gezeigt. Für einen effektiveren DaFUnterricht ist es u. E. wichtig, die Grundprinzipien der KxG mit einer valenzorientierten Beschreibung und einer Priming-basierten Methode zu ergänzen. Auf diese Weise können einerseits Übergeneralisierungen vermieden werden und andererseits wird die Abfolge der Objekte im unmarkierten Satz berücksichtigt. Diese zwei Aspekte haben sich in unserer empirischen Studie als relevant erwiesen. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei der Ditransitiv-Konstruktion um eine hochkomplexe Erscheinung des Deutschen, bei der drei unterschiedliche
24 Aus Platzgründen konnten wir auf das Lexikon-Grammatik-Kontinuum an dieser Stelle nicht eingehen; für eine empirische Studie über die idiomatischen Instanziierungen der DitransitivKonstruktion im DaF-Unterricht vgl. De Knop & Mollica (2016).
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Ebenen berücksichtigt werden müssen, die alle eine Hürde für italophone DaF-Lernende darstellen: – Die korrekte Abfolge beider Objekte, die sowohl nominal als auch pronominal im Italienischen genau umgekehrt als im Deutschen funktioniert. – Die Valenz bzw. Argumentstruktur einiger deutscher Verben, die mit anderen Konstruktionen als im Italienischen fusionieren und die leicht zu Interferenzfehlern führen können. – Die korrekte morphosyntaktische Kasus-Realisierung; auf diesen Aspekt konnten wir in unserer Analyse nicht detailliert eingehen, wobei die Tests auch deutliche Ergebnisse zeigen.25 Die von uns entwickelte Priming-basierte Methode hat einen gewissen Erfolg vor allem bei der Abfolge der Objekte erzielt. Wie die Ergebnisse des Langzeit-Posttests zeigen (siehe Tabelle 11 und 13), liegt die Anzahl der Fehler mit nominaler und pronominaler Realisierung jeweils bei 9 % und 9,3 %.26 Wahrscheinlich hat auch die von uns konzipierte Darstellung mit Pfeilen dazu beigetragen, dass sich Lernende die Divergenzen bei der unterschiedlichen Objekt-Realisierung besser eingeprägt haben. Die Vorzüge der Priming-basierten didaktischen Methode liegen auf der Hand: Durch das Wiederholen eines vorgegebenen Musters können Lernende einer Fremdsprache genau diejenigen Strukturen memorieren, die von ihrer MS abweichen; dabei rückt die Rolle der Lehrenden als Erklärenden in den Hintergrund und Lernende müssen selbst auf der Basis eines visuellen Stimulus zu Verallgemeinerungen bzw. Regeln kommen; es handelt sich um ein induktives Lernverfahren. Mehr Schwierigkeiten bereitet dagegen die Argumentstruktur einiger Verben wie bitten um, diagnostizieren, fragen nach, oder lehren, die in der MS der Lernenden eine unterschiedliche Valenz aufweisen. Beim Pretest liegt die Fehlerquote bei 19,2 %27; diese wird im direkten Posttest zwar auf 6,3 % verringert, beim LangzeitPosttest steigt sie jedoch wieder auf 12,0 %. Dies bedeutet, dass die Einführung des Valenzrealisierungsprinzips (Herbst 2011, 2014) allein nicht ausreicht, um bei den Lernenden die intralingualen Divergenzen der Argumentstrukturen langfristig zu verankern. In diesem Bereich scheint die Interferenz der MS eine dominante Rolle zu spielen; daher sind wahrscheinlich noch zusätzliche Übungen über einen größeren Zeitraum notwendig, um den negativen Transfer erfolgreich und auf Dauer zu bekämpfen.
25 Die Fehlerquote macht jedoch deutlich, dass auch in dieser Hinsicht ein Bedarf an effektiveren Lernstrategien besteht. 26 Im Pretest macht die Fehlerquote bei pronominaler Füllung fast 26% aus. 27 Dieser Prozentsatz bezieht sich allerdings auf alle 10 Sätze.
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Sabine De Knop & Fabio Mollica
Anhang 1 Pretest Teil 1 Scrivete una frase con le parole elencate in corsivo, facendo attenzione al caso! 1
Es ist kalt und windig: anziehen – der Vater – das Kind – eine Mütze
2
Wir sind im einem Spanischkurs in Rom: lehren – der Dozent – die spanische Sprache – die Italiener
3
Peter und seine Schwester sind beim Kaffeetrinken: erzählen – er – seine Schwester – eine spannende Geschichte
4
In der Mailänder U-Bahn: fragen – der Tourist – der Kontrolleur – der Weg
5
Der Student macht sein Auslandssemester in Berlin: schreiben – er – seine Familie – eine Mail
6
Beim Arzt: diagnostizieren – der Arzt – meine Schwester – eine schlimme Krankheit
7
Der Weihnachtsmann existiert nicht: sagen – die Mutter – das Kind – die Wahrheit
8
Maria war im Sommer an der Ostsee: zeigen – Maria – ihr Bruder – die Fotos ihrer letzten Reise
9
Das Kind hat Geburtstag: versprechen – die Mutter – das Kind – ein neues Fahrrad
10
Zu Weihnachten sind die Großeltern nicht zu Hause: schicken – sie – ihre Enkelkinder – ein Paket
Pretest Teil 2 Sostituite le parole in corsivo con dei pronomi 1
Die Firma hat dem Kunden die Ware nicht geliefert.
2
Der Dozent gibt der Studentin das Buch.
3
Ich hatte meinem Freund mein Telefon geliehen, jetzt kommt er nicht zurück.
4
Der Museumsdirektor zeigte den Besuchern die neuen Gemälde.
5
Teilst Du deiner Mutter die gute Nachricht mit?
6
Der Dozent lehrt die Studenten die deutsche Sprache.
7
Großmütter erzählen kleinen Kindern gerne das Märchen von Schneewittchen.
8
Hat der Arzt dem Patienten dieses Medikament verschrieben?
9
Die Mutter hat ihrem Sohn die neue Playstation geschenkt.
10
Der Dieb hatte der Rentnerin die Brieftasche gestohlen.
Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht
Anhang 2 Vorlesung zum Priming 1.
Zu Weihnachten schenkt sie ihren Großeltern ein schönes Buch.
2.
Die Touristen fragen die Männer nach dem Weg.
3.
Sie schreibt ihren Eltern eine Mail jeden Tag.
4.
Meine Großmutter lehrte mich das Kochen.
5.
Sie sagte dem Professor die Wahrheit.
6.
Sie diagnostizierten bei ihm Krebs.
7.
Sie zeigte ihren Freunden die neue Wohnung.
8.
Sie bittet ihren Vater um Hilfe.
9.
Sie schickte ihm ein Paket zum Geburtstag.
345
346
10.
Sabine De Knop & Fabio Mollica
Dieses Geschenk hat mich viel gekostet.
Anhang 3 Vorlesung zum Priming 1. Ich gebe meinem Vater das Buch. Ich gebe
es
ihm.
2. Ich gebe meiner Schwester die Blume. Ich gebe
sie
ihr.
3. Ich gebe meinen Freunden den Brief. Ich gebe ihn ihnen. 4. Maria zeigt ihren Kindern das alte Fotoalbum. Maria zeigt es ihnen. 5. Die Eltern kauften ihrer Tochter das kleine Auto. Die Eltern kauften es ihr. 6. Peter hat mir den teuersten Ring versprochen. Peter hat
ihn
mir versprochen.
Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht
347
Anhang 4 Direkter Posttest Teil 1 Scrivete una frase con le parole elencate in corsivo, facendo attenzione al caso! 1
Hanna war im Krankenhaus mit ihrer Großmutter: diagnostizieren – die Ärzte – ihre Großmutter – eine schlimme Krankheit
2
Peter ist sehr romantisch: schreiben – er – Gedichte – seine Freundin
3
Maria hat morgen Geburtstag: schenken – sie – einen Rock (= una gonna) – ihre Großeltern
4
Ich konnte nicht reiten: lehren – Markus – das Reiten – ich
5
Ich habe lange von Marias Eltern nicht gehört, gestern habe ich aber Maria in Supermarkt getroffen: fragen – ich – sie – ihre Eltern
6
Ich brauche deine Hilfe: bitte – ich – du – Gefallen
7
Das kleine Kind hat ein Geschenkt bekommen: zeigen – er – das neue Fahrrad – seine Freunde
8
Ich liebe diesen Ring: kosten – ich – er – wenig
9
Ich bin im Urlaub auf Sardinien: schicken – ich – meine – Freunde – eine Postkarte
10
Es ist Nacht: erzählen – die Großmutter – ein Märchen – Kind
Direkter Posttest Teil 2 Sostituite le parole in corsivo con dei pronomi 1
Die Mutter nähte (= cucire) ihrer Tochter das Hochzeitskleid. Die Mutter nähte ………………….. …………………….
2
Der Hausbesitzer vermietete dem jungen Paar die neue Wohnung. Der Hausbesitzer vermietete ………………….. …………………….
3
Die Großmutter backte (= cuocere al forno) ihren Enkeln den Geburtstagskuchen. Die Großmutter backte ………………….. …………………….
4
Der Englischlehrer gibt den Schülern immer sehr viele Hausaufgaben. Der Englischlehrer gibt ………………….. …………………………….
5
Sie hatte ihren Eltern all ihre Sorgen anvertraut (=confidare). Sie hatte ………………. ……………………. anvertraut.
6
Die Bank hat der Stadt das Geld geliehen (= prestare). Die Bank hat ……………. ………….. geliehen.
7
Er reichte (= dare) den Gästen die Hand. Er reichte ……………… ……………
8
Ich schicke dir bald das Formular. Ich schicke ……….. ………………
348
Sabine De Knop & Fabio Mollica
9
Der junge Mann kochte seiner Freundin den leckeren Kaffee. Der junge Mann kochte ………………….. …………………….
10
Kannst Du unseren Kindern eine leckere Pizza besorgen (= procurare)? Kannst Du ……………………….. ………………………... besorgen?
Anhang 5 Langzeit-Posttest Teil 1 Scrivete una frase con le parole elencate in corsivo, facendo attenzione alla valenza del verbo (in particolare al caso) e all’ordine dei complementi nella frase! 1
Ich weiß nicht wo Markus wohnt: ich – Markus – Adresse – fragen
2
Maria ist im Urlaub: Sie – ihre Kinder – eine E-Mail – jeden Tag – schreiben
3
Der Dozent – Regeln der deutschen Sprache – Studenten– lehren
4
Morgen haben meine Kinder Geburtstag: Ich – ein Buch – meine Kinder – schenken
5
Ich brauche seine Hilfe: Ich – er – Hilfe – bitten
6
Die Wahrheit ist zu traurig: ich – meine Freunde – eine Lüge erzählen
7
Die Tests sind klar: Die Ärzte – mein Bruder – eine schlimme Krankheit – diagnostizieren
8
Ich – meine Schwester – die Wahrheit – immer – sagen
9
Beim Abschied: Ich – mein Opa – ein Kuss – geben
10
Nächste Woche haben meine Eltern Geburtstag: Ich – eine Geburtstagskarte – meine Eltern – schreiben
Langzeit-Posttest Teil 2 Sostituite le parole in corsivo con dei pronomi 1
Die Großmutter erzählt den Enkelkindern jede Nacht ein neues Märchen.
2
Der Dozent hat der Studentin das Buch geliehen.
3
Ich schenke meiner Mutter eine Rose zum Geburtstag.
4
Ich will meinen Eltern die ganze Wahrheit sagen.
5
Die Großmutter backte (= cuocere al forno) ihren Enkeln den Geburtstagskuchen.
6
Der Dozent lehrt die Studenten die deutsche Sprache.
Die Ditransitiv-Konstruktion im DaF-Unterricht
7
Der Arzt verschreibt dem Patienten ein Medikament.
8
Die Ehefrau hat ihrem Mann ein tolles Buch geschenkt.
9
Sie schickt ihrem Freund jeden Tag Liebesbriefe.
10
Diebe haben meiner Mutter das neue Fahrrad gestohlen.
349
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Berit Balzer
Metaphorische Nominalkomposita als abwertende Personenbezeichnungen 1 Einleitung Das Deutsche dürfte in der Tat eine kompositionsfreudigere als manch andere moderne Fremdsprache sein1. Diese sprachökonomische Tendenz betrifft ganz besonders Nominalkomposita aus den Bereichen der Technik, der Wirtschaft und des Sports und bezieht in steigendem Maße und wie selbstverständlich Fremdwörter mit ein2. Dabei nimmt die Gruppe der zusammengeschriebenen Komposita, also solchen ohne Bindestrich, einen heute kaum quantifizierbaren Großteil ein. Weil bei der Komposition der Übergang zwischen Lexik und Grammatik oft nur schwer abzustecken ist, steht zu vermuten, dass wir es im Falle von Univerbierungen mit hybriden Gebilden zu tun haben, deren lexikalischer Zusammenrückung ein morphosyntaktischer Bezug zugrunde liegt. Das Phänomen der Zusammenrückung von selbstständigen Nomina lässt sich auch in anderen modernen Fremdsprachen beobachten, jedoch in geringerem Ausmaß. Dies ist zum Teil einer weniger strikten Orthographie geschuldet, zumal im Englischen und Französischen häufig Bindestrich- oder Getrenntschreibung vorliegt. Doch auch wenn für die anderen untersuchten Sprachen der Kompositionsbegriff ausgeweitet wird, soll die deutsche Zusammenschreibung der Nominalkomposita als Ausgangspunkt dienen. Innerhalb dieses produktiven deutschen Wortbildungsmusters stellt die Kategorie der metaphorisierenden Personenbezeichnungen eine auffällige Sondererscheinung dar, die sich über die Sprachgrenzen hinweg ebenfalls gut nachvollziehen lässt und in der die Subgruppe der abwertenden Titulierungen definitiv die Oberhand gewinnt (z. B. Lackaffe/nutcase/chupatintas/jeanfoutre3). Der vorliegende Beitrag versucht der Frage nachzugehen, welchen kognitiven Mechanismus ein Sprecher in Bewegung setzt, der es ihm erlaubt, derartige bedeutungsspezialisierende Muster zu produzieren und sie erfolgreich zu kommunizieren. Metapher und Metonymie spielen hier
1 Vgl. Gaeta & Schlecker (2012). 2 Vgl. Geislerová (o.D.) und González de León (2013). Beide Untersuchungen beziehen sich auf die Pressesprache. Zu dieser Tendenz im Wirtschaftsdeutsch vgl. Dittmann & Zitzke (2000). 3 [N.d.Ü.] Lackaffe lacquer.ape ‚flash Harry/petimetre/gommeux‘; nutcase nuss.kasten ‚Spinner/ chiflado/dingue‘; chupatintas lutsch-3SG.tinte-PL ‚Bürohengst/pen-pusher/gratte-papier‘; jeanfoutre Hans.machen-INF ‚Nichtsnutz/good-for-nothing/haragán‘. https://doi.org/10.1515/9783111334042-011
354
Berit Balzer
eine ausschlaggebende Rolle, die in der Folge näher untersucht werden soll. Diesbezüglich liegt zunächst die Vermutung nahe, dass Sprache sich u. a. mittels rhetorischer Rekurse in die Idiomatizität katapultiert4. Bei abwertenden Nominalkomposita haben wir es mit der semantischen Umdeutung zumindest einer seiner Bestandteile zu tun, bei der die sprachspezifische Konnotation dessen idiomatischen Charakter belegt. Und unter Idiom versteht DUDEN (www.duden.de/idiom) in seiner zweiten Bedeutung eine „eigentümliche Wortprägung, Wortverbindung oder syntaktische Fügung, deren Gesamtbedeutung sich nicht aus den Einzelbedeutungen der Wörter ableiten lässt (z. B. Angsthase5 = sehr ängstlicher Mensch)“. Das im DUDEN angeführte Beispiel Angsthase ist definitiv ein Beleg für ein Nominalkompositum, das mit der Intention geäußert wird, eine Person zu kritisieren, bloßzustellen oder abzuwerten. Die beiden Einzelteile des neuen Lexems lassen sich, wie bei allen Komposita, nicht einfach attributiv addieren (also: Hase, der Angst hat), sondern im Falle von Angsthase wird ein Vergleich zwischen einem ängstlichen Menschen und einem extrem scheuen Tier angestellt, allerdings ohne explizites Simile – eine typische Strategie bei der Erstellung von Metaphern. Und eine Metapher ist (ebenfalls nach DUDEN [www.duden.de/metapher] ) eine bildliche Übertragung, „ohne dass ein direkter Vergleich die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem verdeutlicht“. Oder, um mit Lakoff & Johnson (2003: 5) zu sprechen: „understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“. Zur Durchführung dieser Studie wurde ein Korpus zusammengestellt, das verschiedene Aspekte dieses Konstruktionsmusters veranschaulichen soll.
2 Schreibweise der substantivischen Komposita in den untersuchten Sprachen Zum einen sollten Nominalkomposita – zumindest für das Deutsche und nach Möglichkeit in den anderen untersuchten Sprachen – differenziert von Zusammensetzungen mit Bindestrichschreibung betrachtet werden6. In der französischen 4 Die Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache (2001: 109) weist darauf hin, dass „Phraseologismus als Oberbegriff verwendet und Idiom auf eine Teilmenge von Konstruktionen mit einem Mindestmaß an semantischer Umdeutung bezogen wird“. Eine präzisere Bezeichnung für das Deutsche ist die der Phraseolexeme, die sich (laut www.grammis.ids-mannheim.de ) definieren lassen als „immergleiche etablierte Wortverbindungen. Sie sind wie Phrasen polylexikal, das heißt, sie bestehen aus mehr als einem Wort. Wie Wörter bezeichnen sie einen einzigen Begriff“. 5 [N.d.Ü.] Angsthase fear.hare ‚scaredy-cat / gallina / froussard‘. 6 https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch/artikel/bindestrich : „Der Bindestrich kann zur Hervorhebung einzelner Bestandteile in Zusammensetzungen und Ableitungen verwendet werden, die normalerweise in einem Wort geschrieben werden. Der Bindestrich muss gesetzt
Metaphorische Nominalkomposita als abwertende Personenbezeichnungen
355
Rechtschreibreform vom Dezember 1990 findet man Information dazu unter den Stichwörtern ‚soudure‘ bzw. ‚suppression du trait d’union‘7. Was das Englische betrifft, so scheint die Bindestrichschreibung weniger reglementiert8. Im Spanischen wird diese Schreibung klar nach syntagmatisch-semantischen Beziehungen untergliedert9. Zum anderen gehen in den modernen Fremdsprachen die Wege in Bezug auf die Getrenntschreibung ebenfalls auseinander10. Wo auf Deutsch prinzipiell zwei oder mehr Substantive oder Adjektive ein Kompositum bilden können (z. B. Wildschweinpastete), existiert jedoch eine Bedeutungsunterscheidung bei Mengenangaben (z. B. ein Kopfsalat – ein Kopf Salat; ein Weinglas – ein Glas Wein), wobei im Gegensatz zu anderen Sprachen keine Präposition steht [a head of lettuce; a glass of wine; un verre de vin; una cabeza de ajo; una copa de vino]). Auch sollte in Bezug auf das Deutsche beachtet werden, dass zusammengeschriebene Substantivierungen beispielsweise bei Funktionsverben, nicht jedoch bei Phraseolexemen stattfinden. In dieser Hinsicht differenziert Elsen (2017: 146) klar zwischen (phraseologischen) Wortgruppenlexemen oder Nominationsstereotypen (z. B. der lachende Dritte, der Große Teich) und Kollokationen (z. B. eingefleischter Junggeselle, Zähne putzen) sowie substantivierte Funktionsverbgefüge (z. B. Zurkenntnisnahme, Instandsetzung). Allerdings teilen Mehrwortgruppen wie Hans Guckindieluft oder Springinsfeld mit Phraseolexemen die Eigenschaft, dass die Summe ihrer Einzelglieder nicht per se ihre Bedeutung vermittelt. Ein kurioser Fall ist in dieser
werden: bei Aneinanderreihungen und Zusammensetzungen mit Wortgruppen; bei Zusammensetzungen mit Buchstaben, Ziffern oder Abkürzungen. Darüber hinaus markiert er, als sogenannter Ergänzungsstrich, bei der Zusammenfassung mehrerer Wörter das Ersparen von Wortteilen“. 7 Vgl. Nouvelle orthographe (http://www.aidenet.eu/nouveau01.htm ): „...la composition avec trait d’union est en concurrence, d’une part, avec la composition par soudure ou agglutination (exemples: portemanteau, betterave), d’autre part, avec le figement d’expressions dont les termes sont autonomes dans la graphie (exemples: pomme de terre, compte rendu)“. 8 „The English language is always evolving, and when words become used more frequently, they are often eventually written as one word. When the Internet first began, for example, we talked about going on-line. Now that this is a daily experience for most of us, the spelling online has become commonly accepted.“ (https://www.grammarly.com/blog/open-and-closed-compound-words/ ). Vgl. auch Dybiec, Katharina (2014) sowie Steinmetz & Kipfer (2006: 192), wo es heißt: „Compound nouns usually begin life as two single-syllable words separated by a space, then are joined by a hyphen, and finally coalesce into one word, thus: boy friend, boy-friend, boyfriend; loan word, loan-word, loanword. There is a span of time in which all three forms may coexist uneasily“. 9 Diccionario panhispánico de dudas: https://www.rae.es/dpd/guion . Vgl. auch Tenorio (2005: 383). Zur Benennung dieses Wortbildungsphänomens im Spanischen vgl. auch Pérez Vizgaray & Bautista Rodríguez (2020: passim). 10 Piirainen (2012: 35): „Figurative compounds (compounds proper and juxtaposed compounds) are, naturally, found to a larger extent in synthetic than in analytic languages, due to the different word formation rules of these language types“.
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Berit Balzer
Hinsicht das Kräutchen Rühr-mich-nicht-an, das im Spanischen als mírame y no me toques eine Nebenbedeutung hat. Außer der für impatiens noli tangere dient es nämlich als Bezeichnung für eine hypersensible Person. Was die Mehrwortgruppen betrifft, so befinden wir uns hier in einem Kapitel jener Phraseologieforschung, deren Restriktion der Polylexikalität zumindest für das Deutsche infrage gestellt werden sollte, zumal eine relativ arbiträre Rechtschreibregelung diktiert, was als ein Wort oder als mehrere aufgefasst werden darf. Die vorherrschende Bindestrich oder Getrenntschreibung in zwei anderen Sprachen belegt dies wohl zur Genüge (z. B. Haarspalter/hair-splitter/coupeur de cheveux en quatre11/tiquismiquis12) und sollte den Status abwertender Personenbezeichnungen eventuell als der Phraseologie zugehörig oder zumindest als ein interessantes Forschungsgebiet sehen. Im Englischen existiert generell keine akribische Trennung, was die Wortgrenze zwischen den Lexemen bei Komposita (compound words) betrifft13. So findet man z. B. dinner table neben bookstore und ice cream neben sunflower14. In einigen Fällen ist die Betonung des Partizips Präsens ausschlaggebend für Getrennt- oder Bindestrichschreibung (z. B. sleeping-car vs. sleeping cat). Bei mehr als zwei Komponenten muss auf Englisch immer mindestens ein Bindestrich stehen (z. B. longterm solution; mother-in-law). Diese relative Permissivität wirkt sich auch auf die Schreibweise von englischen Lehnwörtern im Deutschen aus (z. B. small talk oder Smalltalk, Shoppingcenter oder Shopping-Center)15. Im Französischen koexistieren ebenfalls z. B. eau de Cologne und eau-de-vie (Schnaps); choucroute (Sauerkraut) und chou-fleur (Blumenkohl); hautbois (Oboe) und haut-bar (Adlerfisch) oder millefeuille (Blätterteig) und mille-pattes (Tausendfüßler) ziemlich uneinheitlich nebeneinander. Zumindest für das Deutsche reduziert sich meine Auswahl jedoch strikt, wie schon erwähnt, auf zusammengeschriebene Nominalkomposita.
11 Für das französische Beispiel liegt keine Wortbildung, sondern eine Fügung nach einem syntaktischen Muster vor. 12 Zu semantisch verdunkelten Sprachrelikten aus früheren Epochen wie tiquismiquis (in der Phraseologie unter dem Begriff cranberry words laufend), vgl. Holzinger (2018). 13 Die Stadien der Lexikalisierung im Englischen werden von Ungerer & Schmid (1998) eingehend beschrieben. Ich habe für meine Gegenüberstellung vorzugsweise closed compounds gewählt. 14 Matulová (2010: 38): „Ein Kompositum kann in drei verschiedenen Formen vorkommen: zusammengeschrieben (engl. solid) – a flowerpot, mit einem Bindestrich (engl. hyphenated) – a flower-pot und getrennt geschrieben (engl. open) – a flower pot. [...] Dieses Beispiel zeigt, dass eine Zusammensetzung sogar in allen drei Formen vorkommen kann“. Vgl. hierzu auch Dybiec (2014: passim). Von der Bindestrichschreibung im Deutschen waren bis 1900 laut Kopf (2017: 185) 37,5 % aller N+N-Komposita betroffen. Heute dient der Bindestrich „weiterhin der Markierung und Wortkörperschonung sonstiger atypischer Strukturen“ (Kopf 2017: 202). 15 Vgl. dazu auch Dittmann & Zitzke (2000).
Metaphorische Nominalkomposita als abwertende Personenbezeichnungen
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3 Abgrenzung des Studienobjekts Da es sich bei diesen Gebilden nicht um eine simple Reihung handelt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Komponenten zueinander. Was den metaphorischen Charakter der Items in meinem Korpus betrifft, so habe ich für diese Studie nicht-bildhafte und nicht-abwertende, also rein denotative Personenbeschreibungen (z. B. Rotschopf, redhead, pelirroja) bewusst ausgeklammert und mich auf Formationen mit exophorisch gebrauchtem Kopf beschränkt (z. B. Brummbär, sorehead, cascarrabias), die konnotativ als leichte bis starke Invektive gelten können. Aus pragmatischer Sicht rangieren die einzelnen Items meines Korpus also zwischen humorvoller Kritik und krasser Schmährede. Ich begrenze somit meine Untersuchung auf bestimmte Konzepte, bei denen die expressive Sprecherintention besonders klar zutage tritt16. Insofern kamen bei meiner Auswahl der Lemmata die folgenden Markierungen in Betracht, wie man sie in lexikographischen Sammlungen finden kann: Dt.: abfällige Bemerkungen, negatives Werturteil, üble Nachrede, Affront, Invektive, Schimpfwort, Herabsetzung, Beleidigung, Schmähung, Kränkung. Engl.: slander, tagging, name-calling, swear word, abusive language, defamation, calumny, insult, affront, outrage, offense. Sp.: comentario despectivo, insulto, calumnia, ofensa, injuria, agravio, dicterio, improperio, denuesto, afrenta, baldón, vituperio, ultraje, vejación. Fr.: jugement défavorable, offense, affront, insulte, outrage, blessure, atteinte morale, gros mot, diffamation, dévalorisation.
Diese einigermaßen homogene stilistische Subklasse der Personenbezeichnungen, die sich als Teil der diaphasischen Markierung bei der individuellen Rede (stylistic label, marque stylistique, marcación connotativa) ergibt, wird in den verschiedenen Wörterbüchern als „umgangssprachlich abwertend“; „informal“; „coloquial“; „populaire, familier“ markiert und folgendermaßen definiert: Dt.: DUDEN: abwertend: geringschätzig, herabwürdigend. https://www.interglot.es/diccionario/ de/es/searchq = abwertend: das Ansehen oder die Bedeutung (durch Äußerungen) vermindernd. Engl.: https://en.wiktionary.org/wiki/despective : despective (linguistics) A disparaging/derogatory word or form of a word; a word or form indicative of the speaker’s tendency to look down on the referent. Merriam–Webster: The stylistic labels disparaging, offensive, obscene, and
16 Ausgegrenzt wurden des Weiteren rassistische, sexistische und homophobe Personenbezeichnungen.
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vulgar are used for those words or senses that in common use are intended to hurt or shock or that are likely to give offense even when they are used without such an intent. Sp.: DRAE: despreciativo, despectivo, peyorativo, grosero, injurioso: Que manifiesta idea de menosprecio. https://www.diccionarios.com/diccionario/espanol/despectivo : Se aplica al término, palabra o significado que incluye la idea de menosprecio. Fr.: https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/péjoratif , dépréciatif: Se dit d’un terme ou d’un affixe qui tend à déprécier ou à dénigrer la personne, l’objet ou la notion auxquels il s’applique. (Certains suffixes comme -ard [chauffard], -asse [fadasse], -aud [lourdaud] ont une valeur péjorative.)
An diese Definitionen habe ich mich gehalten. Nun drängt sich uns Sprachwissenschaftlern die Frage auf, was für ein Beweggrund einen Sprecher dazu verleitet, sein Gegenüber direkt mit abwertenden Etiketten zu titulieren oder auf diese Art über eine dritte, abwesende Person hinter deren Rücken zu reden. Die psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen verunglimpfender Urteile, die immens sein können, werden von Petric (2019: 1) wie folgt eingeschätzt: Defamation killed more people than the sword. Defamation of character is a powerful weapon against a person, especially if the slanderer is a skilled manipulator. Slander creates a false image about the victim in the society. Defamation is especially dangerous if the slanderer is envious of the victim.
In Foren, Blogs, Chats und weiteren sozialen Netzwerken kann heute praktisch jeder einen Shitstorm gegen Individuen oder Gruppen lostreten. Wie wir leider wissen, dürfen Hasstiraden und Aufrufe zur Gewalt vom Algorithmus der jeweiligen Plattform nicht immer zensiert werden, was zunehmend legale Probleme aufwirft. Am 28.6.2021 erklärte Justizministerin Christine Lambrecht im Bundestag: „Wer sich gerichtlich gegen Hasspostings wehren will, kann ab jetzt die dafür benötigten Daten wie den Namen des Hetzers deutlich leichter von den Plattformen heraus verlangen.“ Ob dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz inzwischen Früchte getragen hat, ist noch nicht ausreichend bekannt. Aber das Problem wurde zumindest angegangen. Dabei ist die Bewertung anderer Personen offensichtlich dem homo sapiens als besondere Fertigkeit vorbehalten. Die Gründe für dieses Verhalten sind vielfältig17. Es kann aus einem Minderwertigkeitsgefühl, aus mangelnder Selbstsicherheit, Neid, Antipathie, fehlender Empathie, Frust, Enttäuschung, Wut, Schuldzuschreibung oder aus einem Gruppendruck heraus entstehen. Mussner (2015) erklärt diesbezüglich Folgendes in ihrer Online-Präsentation zu ihrer vergleichenden Studie Deutsch, Französisch und Italienisch:
17 Vgl. Stojić & Brala (2019).
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Menschen scheinen auf dieser von unzähligen Tier- und Pflanzenarten bewohnten Erde das Bewertungsmonopol zu besitzen, denn nur sie teilen alles, was ihnen auf Erden bekannt ist, in kognitive und sprachliche Kategorien ein und versuchen zu begreifen und zu bewerten.
Insbesondere sind es die negativen Werturteile über andere mit dem Ziel der Verleumdung und Herabwürdigung unseres Gegenübers, die aufgrund ihrer oft blumigen Bildhaftigkeit eine distinktive Gruppe bilden und die ich im Folgenden genauer unter die Lupe nehmen möchte. Es geht mir darum, diese Gebilde zu identifizieren, damit einerseits Lerner und Übersetzer keinen stilistischen Missgriff begehen. Es geht mir aber ebenso um eine Bewusstmachung, damit wir uns mit solcherlei Werturteilen über andere, also mit Hassrede (hate speech) in der Öffentlichkeit, zurückhalten und sie nach Möglichkeit bewusst unterbinden.
4 Korpusauswertung Bei der Auswahl des Korpus wurden bestimmte formale Kriterien beachtet, und zwar müssen in meiner sprachvergleichenden Studie alle Items dieselbe Bedingung erfüllen, die schon Belentschikow (1993: 129) für den deutsch-russischen Vergleich aufzeigte: Kriterien zur Identifizierung von Komposita und damit übergeordnete t. c. [tertia comparationis] zur Ausgrenzung des Vergleichsobjekts sind: das Vorhandensein von mindestens zwei autosemantischen Stämmen im Wort, die Flexion am Wortende (grammatische Geformtheit) und die einheitliche Hauptbetonung der jeweiligen Benennung.
Für meine Zwecke sollte in erster Linie das tertium comparationis syntagmatisch und semantisch gleichgeartet sein. Weiterhin muss der Kopf des Kompositums als Metapher gelten (z. B. Geizkragen gegenüber Hemdkragen), also exophorischer Art sein. In den wenigsten Fällen handelt es sich daher um sogenannte Bahuvrihi (z. B. Kleingeist, loudmouth, hunchback18), d. h. eine Wortzusammensetzung aus zwei Elementen, bei denen das erste eine spezifische Eigenschaft des zweiten benennt. Zum anderen ergibt der sogenannte ‚Armstrong‘-Subtyp19 (‚with strong arms‘) nur im Spanischen bestenfalls einige wenige Adjektive (barbilampiño, carirredondo, culibaja, manirro-
18 [N.d.Ü.] loud laut ADJ.mouth Mund NSG ‚Großmaul‘; hunch Buckel NSG.back Rücken NSG ‚Buckliger‘. 19 čermák (1997: 15) bezeichnet diesen Typ als ‚reversed bahuvrihi‘. Vgl. auch Uhlich (1997) zum indogermanischen Ursprung der Bahuvrihi.
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to, patizambo20) sowie die vulgärsprachlichen Substantive pichafloja oder pichafría21, aber selten reine Nomina (das deutsche Naseweis dürfte hier eine – allerdings metaphorisierte – Ausnahme sein). Bei den Items des von mir zusammengestellten Korpus handelt es sich somit immer um Komposita mit exozentrischem Kopf 22. Nicht aufgenommen wurden dementsprechend Fügungen vom Typ Spaßverderber (‚jemand, der anderen den Spaß an einem Vergnügen verdirbt‘) oder lawbreaker (‚a person who breaks the law‘), da es sich hier um relativ durchsichtige verbale Metaphern handelt. Und weil z. B. Sportkanone, crackerjack und buscavidas positive Wertungen bezeichnen23, wurden diese Lexeme ebenfalls verworfen, genauso wie Sündenbock, mastermind (Drahtzieher) oder guardaespaldas (Leibwächter), weil sie nicht unbedingt als abfällige Beurteilungen, sondern eher faktisch beschreibend gebraucht werden. Weggelassen wurden außerdem solche abwertenden Personenbezeichnungen, die zwar die vorangegangenen Bedingungen (Komposita mit exophorisch gebrauchtem Kopf24) erfüllen, jedoch aus graphematischen Gründen mit Bindestrich geschrieben werden wie dumb-bell (Dummkopf), smart-ass (Besserwisser), smarty-pants (Naseweis), oder show-off (Großkotz). Nicht mit aufgenommen wurden weiterhin Gebilde wie fat cat (Abzocker) oder cara de pan (Schwabbelbacke), da sie weiterhin getrennt geschrieben werden. Auch das vermeintliche Schmähwort pissenlit (Löwenzahn, klingt wie Bettnässer) im Französischen, das trotz seines bildhaften Charakters lediglich eine Pflanze bezeichnet, die allerdings diuretische Eigenschaften besitzt, ist in meinem Korpus nicht vertreten. Und das spanische Schimpfwort mequetrefe (Hansdampf) ist nur scheinbar ein Kompositum, denn es leitet sich wahrscheinlich aus dem Arabischen muhatrif oder mugatrif (arrogant) her25. Ebenso habe ich die vermutlich lautmalerischen chisgarabís (Naseweis) oder zascandil (Luftikus) beiseitegelassen, die trotz ihrer Mehrsilbigkeit keine Komposita ausmachen, wie eine genauere Untersuchung ihrer Etymologie ergeben hat. Verworfen wurden auch papamoscas (Fliegenschnäpper) oder maritornes (Bauerntrampel), die spezifische historische Figuren bezeichnen und heute primär nicht als Invektive gebraucht werden. 20 [N.d.Ü.] barba NSG F Bart.lampiño ADJM schütter ‚Milchbart‘; cara NSG F Gesicht.redondo ADJM rund ‚Mondgesicht‘; culo NSG M Arsch.baja ADJF niedrig ‚Hängearsch‘; mano NSG F Hand.roto ADJPP zerbrochen ‚Verschwender‘; pata NSG F Fuß/Bein.zambo AJDM krumm ‚Hinkebein‘. 21 [N.d.Ü.] picha NSG F Schwanz.floja oder fría ADJ F schlapp/kalt ‚Schlappschwanz‘. 22 Zu endozentrischen N+N-Zusammensetzungen vgl. Rößler (2017). 23 [N.d.Ü.] crackerjack: cracker NSG Kracher.jack NSG Jakob ‚Spitzenkanone‘; buscavidas: suche 3SG.vidas NPLF Leben ‚Draufgänger, Lebenskünstler‘. 24 Donalies (2003: 55) zieht die Bezeichnung ‚syntaktischer und semantischer Kern‘ dem ausschließlich syntaktischen Kopf-Begriff vor. 25 Heutige Bedeutung: „Persona entrometida, bulliciosa y de poco juicio“. Corominas (2008: IV) vermutet die Etymologie aus dem Portugiesischen meco+trefo, was aber nicht bewiesen scheint.
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Die jeweiligen Korpora in vier Sprachen wurden mithilfe der manuellen Durchsicht von gedruckten Wörterbüchern sowie der digitalisierten Suche in Online-Werken zusammengestellt. Die Auswertung der gefundenen Daten erfolgte zunächst nach dem Kriterium der syntagmatischen Beziehung zwischen den Elementen und in einem zweiten Schritt nach demjenigen ihrer dokumentierten Bedeutung. Schließlich habe ich die Art der Bildspender und die pragmatischen Kontexte, in denen solche Äußerungen erwartbar sind, genauer untersucht. Jedes Kompositum wurde nur einmal zugeordnet, d. h. ich habe Doppelnennungen vermieden. Daher sind die semantischen Gruppen nicht immer komplett. Weil sich die Grenzen zwischen den Bedeutungskategorien manchmal verwischen oder überschneiden, dürfte die eine oder andere Zuordnung als fragwürdig gelten. Wenn, nummerisch gesehen, die Bezeichnungen für weibliche Personen seltener erscheinen als die für männliche, so liegt dies allein am Sprachgebrauch und nicht an meiner Auswahl.
5 Syntagmatische Eigenschaften Da sich dieser Teil meiner Studie auf rein morphologische Aspekte bezieht, habe ich nur bei den satzartigen Mehrwortlexemen sowie für einige wenige der spanischen V+N-Kombinationen eine Interlinearübersetzung vorgegeben. Die in derselben syntagmatischen oder semantischen Gruppe alphabetisch geordneten Items sollen keineswegs als Entsprechungen oder gar als Übersetzungen für einander gelten. Ebenso ist das in Klammern erscheinende deutsche Gegenstück für das fremdsprachliche Kompositum nicht zwingend auch ein Kompositum.
5.1 N+N Die Zusammensetzung erfolgt in dieser Gruppe mithilfe zweier selbständiger Nomen, die im heutigen Deutsch entweder mit oder ohne Fuge stehen26. Dieser Besonderheit des Deutschen habe ich keine weitere Bedeutung für diese Studie beigemessen. Bei zwei englischen Beispielen (fusspot und screwball27) ist die Zuordnung allerdings
26 Kopf (2017: 187) präsentiert in ihrer Statistik, dass 61,3 % aller N+N-Komposita im Gegenwartsdeutsch keinerlei Fuge aufweisen, während für den Rest die s-Fuge mit 24,7% überwiegt. Da ich mit meinem Korpus keine Exhaustivität anstrebe, kann ich diese Proportion für abwertende Personenbezeichnungen nicht nachvollziehen. 27 [N.d.Ü.] fuss aufregen, Aufregung.pot NSG Topf ‚Umstandskrämer‘; screw schrauben/Schraube. ball NSG Ball ‚Spinner‘.
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fragwürdig, weil ihr erstes Element ein Nomen oder ein Verb sein kann. Für die Art der syntagmatischen Verschmelzung N+N gibt es im Gegenzug kaum Beispiele auf Spanisch und gar keins auf Französisch, zumindest nicht für gros mots: Dt.: Bauerntrampel, Galgenstrick, Giftzwerg, Griesgram, Hungerhaken, Jammerlappen, Kraftprotz, Krawattenmuffel, Milchbart, Miststück, Morgenmuffel, Quatschtüte, Stimmungskanone, Tagedieb, Ulknudel, Venusfalle, Windbeutel, Windei. Engl.: buzzkill (Spaßverderber), crosspatch (Sauertopf), curmudgeon (Griesgram), fruitcake (Spinner), fussbudget (Tüftler), gasbag (Schwafler), hayseed (Hinterwäldler), lunkhead (Schwachkopf), milksop (Milchbart), screwball (Wirrkopf), scumbag (Drecksack), tomfool (Dumpfbacke), windbag (Schwätzer). Sp.: bocachancla (Plappermaul), chuloputas (Zuhälter), perroflautas (Schnorrer).
5.1.1 N+N agentis Das Grundwort ist ein sogenanntes nomen agentis, also ein mit dem er-Morphem suffigiertes Nomen, das für das Deutsche ein Maskulinum ergibt, im Englischen geschlechtsneutral bleibt (in vielen Fällen ist Zusammen und Getrenntschreibung belegt) und für romanische Sprachen als Ableitungsmorphem nicht existiert. Das Bestimmungswort ist jeweils ein Nomen. Dt.: Bauernfänger, Drahtzieher, Drückeberger, Erbsenzähler, Glücksritter, Halsabschneider, Hosenscheißer, Kneipenhocker, Korinthenkacker, Paragrafenreiter, Pfennigfuchser, Schaumschläger, Schürzenjäger, Spaßverderber, Speichellecker, Sprücheklopfer, Traumtänzer, Umstandskräme, Wichtigtuer. Engl.: barnstormer (Tausendsassa), bellyacher (Meckerfritze), bloodsucker (Blutsauger), bootlicker (Speichellecker), carpetbagger (Schwindler), clodhopper (Bauerntrampel), cockblocker / cock-blocker (Tourvermassler), cockteaser (Anmacherin, Schnepfe), daydreamer (Tagträumer), eavesdropper (Lauscher), headbanger (Bumskopf), hellraiser / hell-raiser (Radaubruder), hoodwinker (Trickbetrüger), hornswoggler (Schummler), ladykiller / lady-killer (Schwerenöter), moneygrubber / money-grubber (Raffzahn), motherfucker (Scheißkerl), nitpicker (Erbsenzähler), panhandler (Schnorrer), ringleader (Rädelsführer), rubbernecker (Gaffer), storyteller (Lügenbold), swashbuckler (Säbelrassler), trainspotter (Pufferküsser), troublemaker (Unruhestifter), troubleshooter (Problemlöser), whippersnapper (Wichtigtuer).
5.2 A+N Bezeichnenderweise sind Adjektive bei der Komposition im Deutschen und Englischen recht produktiv (bei slowpoke (Lahmarsch) ist der Status [V oder N] des Grundwortes wiederum fraglich); nicht jedoch im Spanischen, wo nur wenige, und
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darüber hinaus nicht autochtone Beispiele vorliegen. Zum anderen wurde hier eher das umgekehrte ‚Armstrong‘-Phänomen entdeckt, nämlich N+A (z. B. mozalbete [Halbstarker]): Dt.: Blödmann, Flachnase, Grünschnabel, Obermotz, Sauertopf, Schlappschwanz, Schlaumeier, Tollpatsch. Engl.: bigwig (Obermacker), deadbeat (Faulpelz), dimwit (Schwachmat), greenhorn (Grünschnabel), oddball (Querkopf), roughneck (Raufbold), slowcoach (Lahmarsch), sorehead (beleidigte Leberwurst), sourpuss (Miesepeter), thickhead (Dummbeutel). Sp.: casquivano (Windbeutel), gilipollas / gilipuertas (aus caló: jili=cándido) (Arschloch), malasombra (Scheusal), petimetre (eigentl. frz. ‚petit maître‘) (Salonlöwe).
5.2.1 A+N agentis Besonders auffällig in dieser Gruppe ist die variable Schreibweise der englischen Items, was wiederum den schwankenden Status als Ein- oder Mehrwortkombinationen belegen dürfte: Dt.: Eigenbrötler, Kleinkrämer, Klugscheißer, Klugschwätzer, Miesmacher, Spätzünder, Warmduscher. Engl.: brownnoser (Arschkriecher), highroller / high-roller / high roller (Großkotz), late bloomer (Spätzünder), latecomer (Nachzügler).
5.3 V+N Verben als Bestimmungswort bilden zumindest in drei Sprachen eine ausgesprochen produktive Gruppe, die im Spanischen definitiv noch ausgeprägter ist und gegenwärtig viele Neologismen hervorbringt. Für das Englische existiert hier zumindest eine Umkehrung (N+V) in mollycoddle (Weichei), die in ihrer Etymologie so belegt ist. Auffällig ist, wie gesagt, der Reichtum an Ergebnissen für das Spanische und die Nullproduktivität im Französischen für abwertende Personenbezeichnungen (mangetout [Zuckererbsen, Allesfresser] würde bestenfalls den Mehrwortgruppen zuzurechnen sein, weil tout kein Nomen ist): Dt.: Hampelmann, Jammerlappen, Klammeraffe, Knalltüte, Kotzbrocken, Plaudertasche, Raufbold, Schlafmütze, Schlitzohr, Stinkstiefel, Waschlappen. Engl.: blabbermouth (Plappermaul), chatterbox (Quasselstrippe), crackpot (Spinner), crybaby (Heulsuse), daredevil (Draufgänger), dipstick (Idiot), killjoy (Spaßkiller), lickspittle (Speichel-
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lecker), scatterbrain (Wirrkopf), screwball (Spinner), spendthrift (Prasser), spoilsport (Spielverderber), turncoat (Wendehals), worrywart (Schwarzseher). Sp.: abrazafarolas (wörtl.: Laternenumarmer=Schmeichler), arrastracueros (Emporkömmling), asaltacunas (Wiegenräuber, Hühnchen-Habicht), bebecharcos (wörtl.: Pfützensäufer), buscapleitos (Winkeladvokat), cagalindes (Grenzkacker), calientabraguetas (Schwanzfopperin), cantamañanas (Schaumschläger), cazafortunas (Glücksjäger), cazarrecompensas (Kopfgeldjäger), cierrabares (Kneipenhocker), chupacirios (Frömmler), engañabobos (Bauernfänger), esbaratabailes (Spaßverderber), escornacabras (wörtl.: Ziegenenthorner), giraesquinas (wörtl.: Eckenwender), huelegateras (Spürnase), lamecharcos (Pfützenlecker), lameplatos (Tellerlecker), mascachapas (Blechbeißer), matarife (Totschläger), meapilas (Betschwester), metemuertos (Naseweis), metepatas (Tollpatsch), pagafantas (Kumpeltyp), perdonavidas (Maulheld), picaflor (Schürzenjäger), pinchaúvas (Lumpenkerl), rascatripas (Saitenzupfer, Klimperfritze), sacacuartos (Halsabschneider), sacacuero (Verleumder), sacadinero (Bauernfänger), sacamicas (Arschkriecher), sacaperras (Nepper), soplagaitas (Blödmann), soplapollas (Schwanzlutscher), sujetavelas (Armleuchter), tragaleguas (Kilometerfresser), tragasantos, tuercebotas (Niete), trotaconventos (Kupplerin), vendehúmos (Großmaul), zampabollos, zampatortas (Vielfraß).
5.4 Phrasen und satzartige Mehrwortgruppen Die Einträge in dieser Gruppe funktionieren, syntaktisch gesehen, zwar als Substantive, setzen sich jedoch aus Lexemen recht unterschiedlicher Wortklassen zusammen28. Ihr Gebrauch ist häufig ein prädikativer mit dem Verb ‚sein‘. Weggelassen habe ich hier solche Mehrwortgruppen, die zwar alle oben genannten Bedingungen erfüllen, jedoch definitiv in ihrer Grundform Adjektive sind (neunmalklug, siebengescheit; high-brow [hochgestochen], lackluster [glanzlos], over-the-top [überdreht]). Einige dieser Phrasen werden im Englischen und Französischen weiterhin mit Bindestrich geschrieben, gehören aber m. E. in dieselbe Kategorie wie die entsprechenden deutschen und spanischen Wortbildungen, nämlich in die der idiomatischen Mehrwortgruppen29. Häufig handelt es sich dabei um einen verkürzten oder sogar verballhornten Aussagesatz, bei dem die syntaktische Struktur erhalten bleibt: Dt.: Dreikäsehoch, Gernegroß, Habenichts, Möchtegern, Neunmalklug, Nichtsnutz, Nimmersatt, (Kräutchen) Rührmichnichtan, Springinsfeld, Stehaufmännchen, Taugenichts, Tunichtgut. Engl.: dryasdust (wörtl: trocken wie Staub=Langeweiler), dropout (wörtl.: Herausfaller= Aussteiger), go-getter (wörtl.: Geh-Holer=Draufgänger), good-for-nothing (wörtl.: gut für nichts=Taugenichts), happy-go-lucky (wörtl.: glücklich geh erfolgreich=Leichtfuß), havenot
28 Braun (1997: 59) klassifiziert dieses Phänomen unter der Bezeichnung ‚Zusammenrückungen‘. 29 Zur Distribution und Okkurrenz unikaler Elemente in der Phraseologie, vgl. Holzinger (2018: 200–201).
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(Habenichts), jack-of-all-trades (wörtl.: Jakob von allen Gewerben=Hans-Dampf-in-allen-Gassen), Johnny-come-lately (wörtl.: Johnny komm spät=Nachzügler), layabout (wörtl.: Herumlieger=Bärenhäuter), know-it-all (wörtl.: weiß es alles=Besserwisser), ne’er-do-well (wörtl.: nie tu gut=Tunichtgut), pick-me-up (wörtl.: heb mich hoch=Muntermacher), pushover (Umfaller, Schwächling), roustabout (wörtl.: scheuch herum=Raufbold), scallywag (wörtl.: Lumpenwitzbold=Lausbub), stick-in-the-mud (wörtl.: steck im Schlamm=Ewiggestriger), tearaway (wörtl: reiß los=Wirbelwind), yesman (wörtl. Jamann=Jasager). Sp.: chiquilicuatre (wörtl.: klein vier=Gernegroß, Fatzke), correveidile (wörtl.: renn, geh und sag es ihm=Klatschmaul), donnadie (Don Nadie) (wörtl.: Herr Niemand=Niemand), hazmerreír (wörtl: bring mich zum Lachen=Witzfigur), mandamás (wörtl.: befiehlt am meisten=Zampano, Platzhirsch), malnacido (wörtl.: schlecht geboren=Missgeburt), metomentodo (wörtl.: ich stecke mich in alles hinein=Wichtigtuer), parlaembalde (wörtl.: redet umsonst=Schwätzer), sabelotodo (wörtl.: weiß es alles=Naseweis), sangredehorchata (wörtl.: Blut aus Erdmandelmilch=Weichei), sinvergüenza (wörtl.: ohne Scham=Frechdachs), tragalotodo (wörtl.: schluckt es alles=Vielfraß), vivalavirgen (wörtl.: Es lebe die Jungfrau=Hallodri, Windhund). Frz.: marie-couche-toi-là (wörtl.: Marie leg dich dort hin=Flittchen), propre-à-rien (Taugenichts), vanupied oder va-nu-pieds (wörtl.: geht barfuß=Landstreicher)
Die syntagmatischen Beziehungen zwischen den einzelnen Konstituenten geben alleine jedoch noch keine ausreichende Erklärung zur kommunikativen Durchschlagskraft des neu geprägten Kompositums oder zu dem, was man in Anlehnung an Lakoff & Johnson (1980) als ‚felicitous embodiment‘ bezeichnen könnte. Wie kommt also diese gelungene Verkörperung oder Bildhaftigkeit zustande? Wie genau generiert sich die neue Bedeutung und was macht sie für den Empfänger akzeptabel oder gar schmackhaft und reproduzierbar? Erst über eine genauere Untersuchung der Semantik sollten diesbezügliche Rückschlüsse gezogen werden.
6 Kognitive Eigenschaften Wie der Titel meines Beitrags ankündigt, konstruiert sich die Bedeutung bei dieser Art von Komposita entweder über einen metaphorischen Vergleich, eine Metonymie oder über einen sogenannten ‚semantic leap‘, also einen Bedeutungssprung durch Assoziation oder Analogie30. Das heißt, es besteht eine semantische Zweideutigkeit bei mindestens einem der Einzelelemente. Und Ambiguität ist bekanntlich sowohl sprachlich als auch emotional reizvoll, weil sie Mögliches erschließt. Als
30 Vgl. hierzu Coulson (2001: 162): „…metaphoric language is the manifestation of conceptual structure organized by a cross-domain mapping: a systematic set of correspondences between the source and the target that result from mapping frames or cognitive models across domains.“
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rhetorisches Mittel ködert sie gewissermaßen den Hörer / Empfänger der verbalen Botschaft mit ihrer Optionalität. Ungeachtet ihrer syntagmatischen Beziehungen können sowohl das Grundwort als auch das Bestimmungswort aus einem der folgenden hyperonymen Wortfelder stammen und über dieses den Zielbereich (target domain) der Metapher beschreiben. Für die fremdsprachlichen Einträge werden wörtliche Übersetzungen gegeben, um das grundlegende Bild zu verdeutlichen, sowie mögliche pragmatische Entsprechungen für das Deutsche. Obwohl eine exakte Zuordnung manchmal schwerfällt, lassen sich die Lemmata doch grob in den folgenden onomasiologischen Gruppen verorten:
6.1 Aussehen oder Erscheinungsbild Zur Beschreibung von Äußerlichkeiten scheinen sich bildhafte Vergleiche besonders gut zu eignen. Bemerkenswert ist, dass in vielen Fällen kein bestimmter Körperteil genannt wird, sondern das Gesamtbild der betreffenden Person abwertend evoziert wird. In einigen Fällen (creampuff, showboat31) wird ein an sich positives Bild durch Ironie in sein Gegenteil verkehrt: Dt.: Arschgesicht, Bohnenstange, Brillenschlange, Fettkloß, Glubschauge, Krawattenständer, Milchgesicht, Mondgesicht, Quadratarsch, Spargeltarzan, Spinatwachtel. Engl.: beanpole (Bohnenstange), beefcake (wörtl.: Rindfleischkuchen=Muskelprotz), butthead (wörtl.: Pokopf=Ohrfeigengesicht), lardass (Fettarsch), muscleman (wörtl.: Muskelmann=Muskelpaket), shitface (wörtl.: Scheißgesicht=Hackfressse). Sp.: bocabuzón (Briefkastenmaul), caracaballo (Pferdegesicht), caraculo (Arschgesicht), cabezaalberca (wörtl.: Kopf [wie ein] Tümpel=Wasserkopf), cabezabuque (wörtl.: Kopf [wie ein] Schiff=Wasserkopf), comestacas (wörtl.: frisst Stangen=Bohnenstange), cuerpoescombro (wörtl.: Körper [wie aus] Trümmern=Schreckschraube), descuelganidos (wörtl: hebt Nester aus=Lulatsch), milhombres (wörtl.: tausend Männer=Dreikäsehoch), patachula (Hinkebein), pisaverde (wörtl.: tritt auf das Grüne=Stutzer).
6.2 Dummheit, Schwerfälligkeit, Begriffsstutzigkeit Auch Werturteile über die intellektuelle Fähigkeit des Gegenübers werden als besonders verletzend empfunden, weil der/die Betreffende sich in Bezug auf sein/ ihr geistiges Vermögen gekränkt fühlen muss. Für das Spanische habe ich badula-
31 [N.d.Ü.] cream NSG Sahne.puff NSG Bausch ‚Weichei‘; show NSG Schau.boat NSG Schiff ‚Angeber‘.
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que und pazguato ausgeklammert32, und zwar aufgrund ihres zweifelhaften Status als Komposita. Diese Liste ist keineswegs exhaustiv, sondern stellt nur eine winzige Kostprobe eines umfangreichen Beleidigungspotenzials in den drei Sprachen dar. Auch in dieser Gruppe ist erneut die Abwesenheit von Items aus dem Französischen auffällig33: Dt.: Einfaltspinsel, Mondkalb, Trampeltier, Vollidiot, Vollpfosten, Volltrottel. Engl.: blockhead (Holzkopf), halfwit (wörtl.: Halbverstand=Trottel), hammerhead (wörtl.: Hammerkopf=Armleuchter), knuckledragger (wörtl.: Knöchelschleifer=Primitivling), lazybones (wörtl.: faule Knochen=Faulpelz), nincompoop (Verballhornung von Nicodemus=Hornochse), ninnyhammer (wörtl.: Dusselhammer=Hohlbirne), nitwit (wörtl.: Nissenverstand=Dämlack), numbskull (wörtl.: Taubschädel=Depp), saphead (Schwachkopf), throttlebottom (wörtl.: Drosselhintern=Sesselfurzer). Sp.: mamacallos (wörtl.: saugt Schwielen=Depp), papamoscas (wörtl.: futtert Fliegen=Trottel), papanatas (wörtl.: futtert Sahne=Trottel), papatoste (wörtl.: futtert schnell=Trottel), pelamanillas (wörtl.: schält Klinken=Dummerjahn).
6.3 gesellschaftlicher Umgang, Indiskretion Was die Wahrnehmung durch andere betrifft, so sind Überheblichkeit, Klatsch, üble Nachrede und Rufmord nicht gesellschaftsfähig und werden verbal zensiert. Aber auch jegliches Außenseitertum wird gerne stigmatisiert: Dt.: Besserwisser, Habenichts, Lästerschwein, Mauerblümchen, Obermotz, Scherzkeks, Schlaumeier. Engl.: backbiter (wörtl.: Zurückbeißer=Lästermaul), busybody (wörtl.: betriebsamer Körper=Wichtigtuer), rumormonger (Gerüchteverbreiter), slowpoke (wörtl.: Langsamstocherer=Trantüte), tattletale (wörtl.: Tratschgeschichte=Quasseltante), telltale (Petze), troublemaker (Unruhestifter), wallflower (Mauerblümchen), windbag (Windbeutel), wisecracker (Witzbold), whippersnapper (wörtl.: Peitscher-Schnapper=Jungspund). Sp.: aguafiestas (wörtl.: verwässert Feste=Spaßverderber), buscapleitos (wörtl.: sucht Streit=Raufbold), buscarruidos (wörtl.: sucht Lärm=Streithammel), caradura (wörtl.: Gesicht hart=Frechdachs), lengualarga (wörtl.: Zunge lang=Klatschmaul), matasiete (wörtl.: tötet sieben=Prahlhans), perdonavidas (wörtl.: vergibt [vielen ihr] Leben=Maulheld), pisacharcos (wörtl.: tritt in Pfützen=Tollpatsch).
32 [N.d.Ü.] badulaque (Döskopp); pazguato (Tölpel). 33 Diese Tatsache ist möglicherweise einer strikteren Strafverfolgung in früheren Zeiten geschuldet. Vgl. Bernaudeau (2008).
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6.4 Temperament, Charaktereigenschaften In dieser Gruppe funktionieren die Bezeichnungen je nach Sprecherintention manchmal als ironisch-positive, aber meist als negative Wertungen. Dt.: Draufgänger, Duckmäuser, Faulpelz, Haudegen, Lahmarsch, Radfahrer, Raffzahn, Schmutzfink, Trotzkopf, Wagehals. Engl.: butthooker (wörtl.: Hinternhakler=Schnorrer), chawbacon (wörtl.: kau Speck=Hinterwäldler), cheapskate (wörtl.: billig Schliddern=Geizhals), chowderhead (wörtl.: Suppenkopf=Hornochse), chucklehead (wörtl.: Kicherkopf=Schwachkopf), deadbeat (wörtl.: totgeschlagen=Versager), doormat (wörtl.: Türmatte=Fußabtreter), gainsayer (wörtl.: Widersprechender=Leugner), lamebrain (wörtl.: Lahmhirn=Depp), landlubber (Verballhormung von landlover [Landliebhaber]=Landratte), scapegallows (wörtl.: entflieh den Galgen=Galgenvogel), slyboots (wörtl.: schlaue Stiefel=Schlauberger), spendthrift (Prasser), swingebuckler (wörtl.: mächtig Schnaller=Schaumschläger). Sp.: allanabarrancos (wörtl.: ebnet Schluchten=Allerweltskerl), cagaprisas (wörtl.: scheißt Eile=Dampfmacher), cascarrabias (Wörtl.: knackt Wutanfälle=Brummbär, Miesepeter), cuentachiles (wörtl.: zählt Chilischoten=Erbsenzähler), cuentagarbanzos (wörtl.: zählt Kichererbsen=Korinthenkacker), ganapán (wörtl.: verdient [sich das] Brot=Grobian), jarramantas (wörtl.: verputzt Decken=Schlingel), pisapedales (wörtl.: tritt [auf die] Pedale=Bleifuß), pollopera (wörtl.: Hühnchenbirne=Zieraffe), tragaldabas (wörtl.: verschlingt Türklopfer=Fresssack), vendepatria (wörtl.: verkauft [sein] Vaterland=Nestbeschmutzer). Franz.: boutentrain (boute-en-train) [wörtl.: stützt im Zug=Stimmungskanone], risquetout (risque-tout) [wörtl.: riskiert alles=Wagehals].
6.5 Berufsbezeichnungen In den folgenden Fällen wird die Ausübung der beruflichen Tätigkeit anderer abfällig beurteilt: Dt.: Baulöwe, Bordsteinschwalbe, Börsenhai, Kurpfuscher, Marktschreier, Quacksalber, Rechtsverdreher, Seelenklempner, Sesselpupser, Tintenfuchs, Tintenkleckser, Winkeladvokat. Engl.: headshrinker (wörtl.: Kopfschrumpfer=Seelenklempner), mountebank (aus Ital.: montimbanco [Bankbesteiger] =Quacksalber), penpusher (wörtl.: Federdrücker=Schreiberling), pettifogger (aus Frz./Dt. petit Fugger=Rechtsverdreher), sawbones (Knochensäger), slopseller (Konfektionswarenhändler), streetwalker (wörtl. Straßenwanderer=Strichmädchen). Sp.: cagatintas (wörtl.: leckt Tinte=Tintenkleckser), matasanos (wörtl.: tötet Gesunde=Quacksalber), mercachifle (wörtl.: handelt mit Pfeifen=Hausierer), metemuertos (wörtl.: bringt Tote herein=Kulissenschieber), picapleitos (wörtl.: sticht Streitigkeiten=Winkeladvokat), rapabar-
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bas (Bartscherer), sacamuelas (Zahnklempner), trotacalles (wörtl.: trottet die Straßen [entlang]=Straßenmädchen). Franz.: croquemort (croque-mort, croque-morts) [Bestatter].
Die vorangegangenen fünf Gruppen beschreiben das pragmatische Ziel, welches durch die Metapher angestrebt wird, nämlich eine abfällige Aussage über eine Person in Bezug auf ihr Äußeres, ihren Charakter, ihr Benehmen oder ihren sozialen Umgang zu machen – alles Bereiche, für die das Verletzungspotenzial besonders hoch zu sein scheint. Kehren wir nun den Blickwinkel um und untersuchen genauer, aus welchen Bereichen die Metaphern, die für ihre Konstruktion maßgeblich sind, am häufigsten entnommen werden.
7 Bildspender Der jeweilige – mehr oder minder plastische – Bildspender (oder Herkunftsbereich [source domain] der Metapher) kann entweder als Kopf oder als Dependens funktionieren. Von besonderem Interesse bei einer sprachvergleichenden Studie dürfte sein, wie häufig dabei aus bestimmten Wortfeldern als Quelle geschöpft wird, weil wir Menschen zwar unser kognitives Wissen und Erfahrungen mit anderen Lebewesen teilen, dieses Wissen aber auch meist kulturübergreifend verbalisieren. Diese Tatsache wird von Beibei (2016: 446) folgendermaßen eingeschätzt: Das metaphorische konzeptuelle System entspringt den menschlichen Wahrnehmungen und ist in der sozialen Kultur verwurzelt. Da die menschlichen kognitiven Aktivitäten auf den alltäglichen körperlichen Wahrnehmungserlebnissen beruhen und demzufolge Menschen unterschiedlicher Kulturen das gleiche körperliche Wahrnehmungserlebnis haben können, existieren in unserem alltäglichen Leben universelle konzeptuelle Metaphern.
Was unserer Erfahrungswelt am nächsten liegt, wird offensichtlich in den verschiedenen Kulturen – nicht immer, aber meistens34 – auf ähnliche Weise ausgedrückt. In meinem Sprachvergleich ist die Okkurrenz von Metaphern aus bestimmten vom Sprecher räumlich-visuell erfassbaren Wortfeldern besonders bemerkenswert.
34 In einigen orientalischen Kulturen wird die Zukunft nicht als vor uns liegend begriffen, sondern als in unserem Rücken liegend, da wir sie nicht sehen können, während das Wissen über die Vergangenheit erkennbar vor unseren Augen liegt. Vgl. Chen (2014).
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7.1 Tiervergleiche Der animalische Bildspender – als zweite Konstituente, doch nicht ausschließlich – ist im Deutschen und Englischen besonders produktiv. Durch die animalisierende Metapher wird in der Regel die Ausdruckskraft verstärkt. Szczęk (2018: 177) weist darauf hin, es gebe… ‚neue‘ tierische Gattungsamen als Personenschimpfwörter, z. B.: Dreckschwein, Sauhund, Angsthase, Lustmolch, Papiertiger, Hornochse, Mondkalb, Schafskopf, Meckerziege, Riesenross, bei denen durch den Zusatz von bestimmten Komponenten entweder eine Präzisierung oder Hyperbolisierung der Bedeutung erfolgt.
Daraus resultiert ein besonders bildliches ‚embodiment‘, definiert als ‚the representation or expression of something in a tangible or visible form‘. Aus dem genannten Grund liegen vielfältige Tiervergleiche in meiner Gegenüberstellung auch in den anderen Sprachen vor: Dt.: Blindschleiche, Brummbär, Dreckspatz, Finanzhai, Galgenvogel, Hasenherz, Hasenfuß, Himmelhund, Hurenbock, Lackaffe, Lästerschwein, Mistfink, Nachteule, Neidhammel, Rabenmutter, Rindviech, Salonlöwe, Saukerl, Schluckspecht, Schmutzfink, Schnapsdrossel, Schweinigel, Spaßvogel, Stänkerbock, Trampeltier, Windhund, Zimtzicke. Engl.: bedbug (Bettwanze), birdbrain (Spatzenhirn), bugbear (wörtl.: Störbär=Schreckgespenst), copycat (wörtl.: Kopierkatze=Trittbrettfahrer), dogsbody (wörtl.: Hundekörper=Handlanger), fishwife (wörtl.: Fischfrau=Rohrspatz), fleabag (Flohsack), jackass (Esel), jailbird (wörtl.: Gefängnisvogel=Knastbruder), jitterbug (wörtl.: Zitterwanze=Zappelphilipp), lapdog (wörtl.: Schoßhund=Pantoffelheld), litterbug (wörtl.: Abfallwanze=Dreckspatz), ratbag (wörtl.: Rattenbeutel=Scheißkerl). Sp.: calzamonas (wörtl.: zieh Äffinnen Schuhe an=Hurensohn), mojigato (wörtl.: macht die Katze nass=prüder Mensch), pelagatos (wörtl.: schält Katzen=armer Schlucker), pintamonas (wörtl.: malt Äffinnen=schlechter Maler), vendeburras (wörtl.: verkauft Eselinnen=Schaumschläger).
Die anthropomorphe Umkehrung, also die Zuschreibung von menschlichen Fehlern und Mängeln an Tiere, erweist sich in einigen der obigen Beispiele als gewisse Überheblichkeit eines selbstgefälligen Kritikus, die unserer Fauna keineswegs gerecht werden dürfte.
7.2 Körperteile Desgleichen sind Konnotate aus dem engsten Umfeld unserer Wahrnehmung – wie etwa Körperteile – bei der Bildung von abwertenden Personenbezeichnungen in
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den untersuchten Sprachen sehr ergiebig35, denn sie stehen meist metonymisch für die ganze Person36. Hier erweist sich die Frage, ob das Körperteil Erst- oder Zweitglied ist, als unerheblich: Dt.: Dickkopf, Dumpfbacke, Halsabschneider, Hitzkopf, Hohlkopf, Labermaul, Leichtfuß, Maulheld, Pappnase, Raffzahn, Rotznase, Schlitzohr, Schreihals, Schwachkopf. Engl.: airhead (wörtl.: Luftkopf=Volltrottel), arsehole / asshole (Arschloch), blackleg (wörtl.: Schwarzbein=Falschspìeler), bonehead (wörtl.: Knochenkopf=Knallkopf), butterfingers (wörtl.: Butterfinger=Tollpatsch), cutthroat (Halsabschneider), egghead (wörtl.: Eierkopf=Schlaumeier), fathead (wörtl. Fettkopf=Schafskopf), headbanger (wörtl.: Kopfknaller=Vollidiot), hothead (Hitzkopf), knucklehead (wörtl.: Knöchelkopf=Holzkopf), loudmouth (wörtl.: Lautmund=Großmaul), meathead (wörtl.: Fleischkopf=Schwachkopf), roughneck (wörtl.: Rauhnacken=Rauhbein), thickhead (wörtl.: Dickkopf=Dumpfbacke). Sp.: boquimuelle (wörtl.: Mundmole=Naivling), comecocos (wörtl.: frisst Birnen=Schönschwätzer), cortapescuezos (wörtl.: schneidet Gurgeln=Halsabschneider), metepatas (wörtl.: tut Pfoten hinein=Tollpatsch), tocapelotas (wörtl.: betatscht die Eier=Nervensäge).
7.3 Eigennamen und Verwandtschaftsbeziehungen Die deonymische Verwendung von Eigennamen und Verwandtschaftsgraden37 scheint wiederum eine Besonderheit des Deutschen zu sein38, wobei die Zweitelemente als reihenbildend gelten dürften: Betbruder, Betschwester, Faselhans, Hanswurst, Hamsterbruder, Heulsuse, Meckerfritze, Kaffeetante, Klatschbase, Klatschtante, Kraftmeier, Nörgelpeter, Pflaumenaugust, Prahlhans, Radaubruder, Saufbruder, Suppenkaspar, Transuse, Trödelheini, Trödelliese, Werbeheini, Wurzelsepp, Zappelphilipp, Zechbruder.
Dies wären, grob gesehen, die produktivsten Bildspender in meinem Korpus, wobei solche aus dem Bereich alltäglicher Gegenstände (Möbel, Kleidungsstücke, Nahrungsmittel usw.) ebenfalls eine Reihe von Prägungen liefern.
35 Vgl. Mellado (1999). 36 Vgl. Lakoff & Johnson (1980: 37). 37 Braun (1997: 15) listet zwar Bruder/Schwester separat auf, nicht jedoch andere Verwandtschaftsverhältnisse. 38 Vgl. Sánchez Hernández (2012: 165) sowie (2009: passim).
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8 Pragmatische Kontexte Wie schon erwähnt, ist in Hinblick auf mein Korpus die Sprechersituation, d. h. ob die kritisierte Person zugegen oder abwesend ist, keineswegs belanglos. Auch spielt das gesellschaftliche Verhältnis zwischen den Akteuren eine entscheidende Rolle. Ob man jemandem ‚Du Arschkriecher‘ ins Gesicht sagt oder diesen Kommentar über ihn in seiner Abwesenheit loslässt, kann mehr oder minder gravierende Folgen nach sich ziehen; desgleichen wohl im Englischen im Falle von ‚arse-licker‘: Es ist nicht dasselbe, über jemanden zu sagen ‚She’s an arse-licker‘, was die Wahrnehmung dieser Person in der Gesellschaft erheblich beeinträchtigen dürfte, als die Betreffende direkt als solche zu bezeichnen: ‚You’re a real arse licker‘, denn dies kann für das Selbstimage enorm schädigend sein. Ebenso würde auf Spanisch der Adressat von ‚Menudo lameculos que eres‘39 definitiv beleidigt reagieren. Das abfällige Urteil ‚Este es un lameculos como no hay otro‘40 würde in hohem Grad seinem sozialen Ruf schädigen, nicht jedoch direkte physische Gewaltanwendung durch den Beleidigten nach sich ziehen. Stojic & Brala (2019: 73–74) sehen dieses Gewaltpotenzial folgendermaßen: Über Personen werden Rückschlüsse auf nicht direkt beobachtbare Merkmale geschlossen und die Wahrnehmung der Personen wird durch kulturelle Erfahrungshaltungen beeinflusst [...] Somit entstehen Stereotypisierungen. Dabei geht es nicht mehr um die Bezeichnung eines Individuums, sondern um die Abwertung des Individuums durch Klassifizierung. Zu berücksichtigen ist, dass Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehungen zwischen den Gegenständen manchmal erst über die Metapher selbst konstruiert werden [...]. Es entsteht ein reziproker Effekt: Durch die stetige Verwendung als Metapher laden sich die Bezeichnungen emotional-pejorativ auf.
In der heutigen Zeit nehmen Beleidigungen und Hassreden im Netz immer mehr Überhand. Das heißt, die Zielperson ist zwar nicht physisch anwesend, aber das Schädigungspotenzial ist aufgrund der raschen digitalen Verbreitung solcher Aussagen immens und misst sich nicht zuletzt an der Anzahl der Follower und der Likes, die sie bekommen. Damit üble Nachrede geahndet werden kann, muss sie nach § 185 StGB „gegenüber dem Ehrträger selbst“ erfolgen. Und diese Bedingung ist im Netz bisher nicht gegeben oder zumindest interpretierbar, d. h. unsere Gesetze hinken der Realität hinterher. Wie wir gesehen haben, dürfte die Seltenheit abwertender Personenbezeichnungen als mots composés an der historischen französischen Rechtsprechung liegen: Was nicht gedruckt werden durfte, ließ sich nicht so leicht verbreiten und unter die Leute bringen.
39 [N.d.Ü.: Was für ein Arschkriecher du bist!] 40 [N.d.Ü.: Das ist ein Arschkriecher wie es keinen zweiten gibt (wie er im Buche steht).]
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9 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen Die Gemeinsamkeiten werden aus den obenstehenden Tabellen ersichtlich. Französisch scheint eine wenig kompositionsfreudige Sprache zu sein, zumindest, was mein Studienobjekt betrifft. Ein fundamentaler Unterschied zum Spanischen – das, wie wir gesehen haben, ebenfalls recht produktiv in den Nominalkomposita ist – liegt in der Möglichkeit dieser Sprache, eine abwertende Bedeutung besonders häufig über Suffixe zu transportieren41. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, wären da: -ón/-ona: bobalicón (Dummerjahn), bribón (Schlitzohr), dormilón (Langschläfer), fanfarrón (Prahlhans), gritón (Schreihals), gruñón (Miesepeter), huevón (Blödmann), llorona (Heulsuse), tragón (Fresssack); -ejo/-eja/-ajo/-aja: pendejo (Trottel), pequeñajo (Winzling, Knirps); -ota: cabezota (Querschädel); -aco/-aca: pajarraco (hässlicher Vogel), bellaco (Schuft); -azo/aza: calzonazos (Pantoffelheld), pelmazo (Quälgeist). Auch das Französische als zweite untersuchte romanische Sprache greift für Invektive in hohem Maße auf Pejorativsuffixe zurück: connard (Arschloch), vantard (Angeber), écrivassier (Vielschreiber), marâtre (Rabenmutter), souillon (Schmutzfink), lourdaud (Trampel)42. Im Deutschen kann das Suffix -ling ebenfalls eine pejorative Konnotation transportieren: Feigling, Fiesling, Schönling, Schreiberling usw. Im Englischen existiert diese reihenbildende Möglichkeit mit -monger (Händler) als zweiter Konstituente (newsmonger [Klatschmaul], rumourmonger [Gerüchtekoch], scaremonger, [Panikmacher], warmonger [Kriegstreiber]). Weiterhin wäre zu beachten, dass zumindest im Deutschen die Erstkomponenten Dreck(s)-, Mist-, Sau- und Scheiß- eventuell als augmentative Präfixoide anzusehen wären, da sie ja ebenfalls reihenbildend sind und nicht nur Okkasionalismen erzeugen. Auch die schon erwähnten Suffixoide, die von Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen gebildet werden, üben eher eine reihenbildende Funktion aus.
10 Fazit aus konstruktionsgrammatischer Sicht Was für ein mentaler Mechanismus liegt also zugrunde, der die Sprecher verschiedener moderner Fremdsprachen dazu verleitet, derartige Begriffe neu zu prägen und in Umlauf zu bringen? Schönefeld (2007: 3) präzisiert, was mit Konstruktion
41 https://www.ejemplos.co/sustantivos-despectivos . Vgl. auch Sławomirski (1985). 42 Vgl. Mora & Lécrivain (2003) zur Semantik der pejorativen Suffixe im Spanischen und Französischen.
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gemeint ist, nämlich: „In a broader sense, and without any theoretical predilections, the term construction can […] be understood to stand for all linguistic units larger than a word“. Bei den Komposita, die „larger than a [single] word“ sind, ist diese Bedingung zweifellos gegeben, auch wenn ihr Wortstatus an sich von einigen Phraseologen angefochten wird, die auf dem Merkmal der Polylexikalität als grundlegend für Phraseologismen beharren. Zur Art der freien Konstituenten erklärt Schönefeld (2007: 7) weiterhin: […] grammatical constructions can consist of free and bound constituents. This leads to a further subdivision into morphological and syntactic constructions, with the former extending the notion of construction to morpheme combinations (i. e. morphologically complex words), and the latter – consisting of free constituents only – subsuming compound words, phrases and clauses / sentences.
Aber nach welchen Kriterien kombiniert ein Sprecher die freien Konstituenten zu einem Kompositum? Eine analogische Vorgehensweise für das Deutsche in Bezug auf Adjektiv+Nomen-Komposita wird von Boiji (2017: 10) bestätigt: Interestingly, it has been shown that the choice between AN compound and AN phrase in German for a new concept depends on the family of related expressions. For instance, since there are many AN compounds with Milch ‚milk‘ as their head, a new AN expression for a new kind of milk will most probably be a compound (Schlücker & Plag 2011). This shows that new AN expressions are made on analogy to constituent families, the sets of existing AN compounds or phrases that share a constituent.
Wenn für den exophorischen Verweis das Wissen zwischen Sprecher und Hörer / Leser geteilt wird, wie kann der Empfänger die Interpretation des exophorisch gebrauchten Kopfes – das ‚target domain‘ – bewerkstelligen, also den ‚semantic leap‘ vollziehen? Auffällig ist hierbei, dass das V+N-Muster in den drei untersuchten Fremdsprachen ausgesprochen häufig vorkommt. Es besteht offensichtlich ein freier Platz (eine Leerstelle oder sogenannter ‚slot‘) für metaphorische und metonymische Vergleiche43 mit verbalem Erstelement. Demnach sind solche Komposita durchweg teilmotiviert oder idiomatisch und generieren sich vermutlich nach einem bestimmten Muster (ich gebe die jeweilige direkte Entsprechung in Klammern an, egal ob es sich um getrenntgeschriebene oder Bindestrichvarianten oder gar um Lexeme mit Pejorativsuffix handelt):
43 Vgl. auch Barcelona (2003 und 2008). Lakoff & Johnson (1980: 147–155) ziehen den Begriff ‚similarities‘ demjenigen der ‚comparisons‘ vor.
Metaphorische Nominalkomposita als abwertende Personenbezeichnungen
Metapher
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Sprache
Beleg
Deutsch
Schlafmütze (sleepy head, dormilón)
Metonymie
Motivation der Gesamtbedeutung
X
Teil der Nachtbekleidung, übertragen auf die Person.
Englisch
crybaby (llorón / llorona)
X
schrei.baby ‚Heulsuse‘ jemand, der die ganze Zeit heult, so wie es Babys tun.
Spanisch
picaflor (womanizer)
X
pickt.blüten ‚Schürzenjäger‘ jd., der wankelmütig ist wie ein Kolibri und von Blüte zu Blüte fliegt.
Deutsch
Trampeltier (clumsy clot, patán)
X
Jemand, der sich ungeschickt und unbeholfen benimmt wie diese Art von Kamel.
Englisch
scatterbrain (cabeza de chorlito)
X
verstreu.hirn ‚Wirrkopf‘ jemand, der ein Hirn besitzt, das wie in Teile zerlegt erscheint.
Spanisch
chupatintas (pen-pusher)
X
leckt.tinten ‚Bürohengst‘ jemand, der eine Schreib-kraft von geringer Kategorie ist und dessen Aktivität darin besteht, einen Teil des Tages Tinte zu lecken.
Aus dieser kurzen Tabelle dürfte unschwer ersichtlich werden, dass es zwar in den meisten Fällen semantische Entsprechungen in den anderen Sprachen gibt, dass diese jedoch häufig ein anderes Wortbildungsmuster aufweisen. Eine gleichgeartete bildhafte Motivation liegt im folgenden Fall über das Verb vor: Sprache
Beleg
Deutsch
Metapher
Metonymie
Motivation der Gesamtbedeutung
Speichellecker, Arschkriecher
x
Person, die durch Unterwürfigkeit jds. Wohlwollen zu erlangen sucht
Englisch
arse licker
x
arsch.lecker jd., der eines anderen Gunst erheischt
Spanisch
chupamedias
x
leckt.strümpfe schmeichlerische, unterwürfige Person
Französisch
lèche-cul
x
leckt.arsch unterwürfige Person
In einer älteren Studie zu Nominalkomposita im kolumbianischen Spanisch kommt Montes Giraldo (1968: 32) zu dem interessanten Schluss: Funcionalmente, el compuesto es siempre motivado y por ello altamente expresivo: cuando se refiere a personas, las caracterizaciones que conforma saltan a la vista, se imponen con fuerza por la imagen generalmente vívida e inequívoca que presentan. (Von seiner Funktion her ist ein Kompositum immer motiviert und daher höchst ausdrucksstark: Wenn es Perso-
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nen bezeichnet, tritt deren Charakterisierung besonders stark hervor, ihr meist lebendiges und unmissverständliches Bild drängt sich auf. N.d.Ü.)
Gerade die Anschaulichkeit des Produktes, das aus der Verschmelzung von Einzellexemen entsteht, scheint somit die kommunikative Durchschlagskraft dieser Struktur zu fördern und sollte unbedingt in zukünftigen Studien zu diesem Thema berücksichtigt werden. Es geht nicht zuletzt darum, herauszufinden, wie ein Sprecher in der Lage ist, Metaphern zu dekodieren und, umgekehrt, mentale Bilder in Sprache zu übertragen, also den ‚mental leap‘ zu vollziehen. Die Expressivität der Metapher oder der Metonymie, die der exophorische gebrauchte Kopf suggeriert, legt eine genauere Untersuchung des Metaphorisierungsprozesses nahe. Wie kommen Metaphern beim Sprecher überhaupt zustande? Wie schlägt er die Brücke zwischen ‚source‘ und ‚target‘? Fauconnier & Turner (2002: 162) definieren die Entstehung der metaphorischen Sprache wie folgt: metaphoric language is the manifestation of conceptual structure organized by a cross-domain mapping: a systematic set of correspondences between the source and target that result from mapping frames or cognitive models across domains.
Indessen weist Skirl (2010: 24) darauf hin, dass Metaphern in der Komposition bisher gewissermaßen als Stiefkinder behandelt wurden, obwohl doch gerade sie eine der sprachlichen Problematiken auf perfekte Weise aufzeigen: Anhand von Kompositummetaphern lässt sich exemplarisch zeigen, dass solche okkasionellen Wortbildungsprodukte als Phänomen der Semantik-Pragmatik-Schnittstelle zu beschreiben sind, da bei ihrer Interpretation semantisches Wissen mit pragmatisch-kommunikativem Wissen verknüpft werden muss.
Dieses begriffliche Konstrukt, diese Verknüpfung – oder ‚cross-domain mapping‘ –, sollte in der Tat genauer betrachtet werden, denn es markiert die Schnittstelle zwischen musterbasierter Grammatik (Kompositionsmuster) und mustergültiger Übertragung und Abwandlung der formal kodierten Bedeutung. Auch Benczes (2011: 247) bemängelt diese Vernachlässigung des metaphorischen Aspekts in der Bedeutung bestimmter Komposita und schlägt dafür die Methode des ‚blending‘ vor: Blending is especially successful in explaining the semantics of compounds whose meaning is based upon the creative manipulation of metaphor, and which have often been neglected in traditional analyses on the grounds that they are non-transparent, semantically unanalyzable linguistic phenomena.
Das Blending-Prinzip wurde von Fauconnier & Turner (2002: 162) ebenfalls beschrieben, und zwar als auf unserer sinnlichen Wahrnehmung beruhend:
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all learning and all thinking consist of blends of metaphors based on simple bodily experiences. These blends are then themselves blended together into an increasingly rich structure that makes up our mental functioning in modern society.
Und Forceville (2004: 2) kommentiert in seiner Besprechung zu Fauconnier & Turner noch einmal eingehend die Ergebnisse des Blending-Prozesses: „The result of the blend is an ‚emergent structure‘, yielding meaning that did not exist as such in either of the input spaces independently“. Ein weiterer Schritt, der unternommen werden sollte, besteht eventuell darin, die Items nach dem Grad ihres Beleidigungspotenzials zu ordnen, denn auch innerhalb der Markierungen ‚derb‘ oder ‚vulgär‘ gibt es kontextuelle Stufen und Schranken, die es ratsam ist, nicht zu durchbrechen. Insofern unterschreibe ich voll und ganz die Aussage von Stojic & Brala (2019: 75): Pejoration ist ein Beleg dafür, dass lexikalische Abwertung nicht nur etwas ist, was wir mit Worten tun, sondern etwas, das ein Bild von uns selbst offenbart. Diese Wörter haben eine beleidigende Kraft, über die sich schon vor der Verwendung in einem konkreten Kontext konsensfähige Aussagen treffen lassen.
Und um den Missbrauch solcher Konstrukte z. B. im Netz zu vermeiden, sollten Daten dieser Art in den Algorithmus eingegeben werden, damit sie in Zukunft eventuell als ethisch fragwürdig oder gar als zensurbedürftig markiert werden können. Ob ein/e Sprecher/in durch die Bloßstellung anderer ein fragwürdiges Selbstbild offenbart oder ob er / sie lediglich einen kreativen Umgang mit dem Wortschatz pflegt, hängt stark von der kommunikativen Situation ab, in der personenabwertende Nominalkomposita gebraucht werden. Die modernen Medien garantierten bisher eine gewisse Anonymität für Sender von Hasstiraden, wodurch wiederum eine Reihe von Prinzipien der Sprechakttheorie wie Zurückhaltung und Höflichkeit außer Kraft gesetzt wurden. Gut vorstellbar hingegen ist ein fiktionaler Gebrauch von derartigen Titulierungen, mittels dessen bestimmte Figuren charakterisiert werden können. Auch ihr Vorkommen in fiktiven Dialogen darf m. E. keiner Zensur unterliegen, denn sie sind ein plastischer Bestandteil unserer verbalen Ausdruckskraft.
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Thomas Brooks
Von Fehlern und Figuren. Zum grammatischen Eigensinn literarischer Sprache am Beispiel von Thomas Bernhards Die Billigesser 1 Einleitung Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, woher es kommt, dass der zeitgenössische Grammatikdiskurs blind ist für den grammatischen Eigensinn literarischer Sprache. Der erste Abschnitt liefert einen skizzenhaften historischen Überblick zum Verhältnis von Philologie und Grammatik – von der ‚Geburt‘ der Grammatik als einer Hilfswissenschaft der Philologie bis zu ihrer Etablierung als einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin, die von ihren Ursprüngen nichts mehr wissen will. Was der Grammatik im Zuge dieses Prozesses abhandenkommt, ist die Kategorie des Texts: Der grammatische Blick erfasst nicht, was jenseits des Satzes als höchster syntaktischer Einheit liegt. Welche epistemischen Folgekosten sich daraus ergeben, wird im zweiten Abschnitt anhand eines prominenten Beispiels demonstriert: Macheiner (1991). Wie sich zeigt, gelingt es selbst dieser Autorin nicht, die sprachwissenschaftliche deformation professionelle der Fixiertheit auf den einzelnen Satz abzulegen. Der Text kommt nicht in den Blick, und nicht in den Blick kommt damit auch, was sich nur in Rückbindung auf das Textganze erschließt: das Vexierbild von Fehler und Figur, von vitium und virtus. Der dritte Abschnitt zeigt am Beispiel von Thomas Bernhards Die Billigesser, wie eine solche Rückbindung grammatischer Phänomene an das Textganze aussehen könnte. Konkret geht es um das auffällig häufige Vorkommen einer Tempusform in diesem Text, die sonst überaus rar ist: das doppelte Plusquamperfekt. Wer die Fragen, die dieser textprägende Tempusgebrauch aufwirft, beantworten will, kann das, so meine conclusio, nur unter Bezugnahme auf das Gesamt diese Erzähltexts.
2 Grammatik und Text Dass die Grammatik ihre Wurzeln in der Philologie hat, ja, dass Grammatik treiben und Philologie treiben ursprünglich ein- und dieselbe Tätigkeit meinten, ist bekannt. Die Entflechtung der beiden Disziplinen, welche in der Etablierung einer ganz und gar autonomen „sprachlichen Institution“ (Stockhammer 2014) namens https://doi.org/10.1515/9783111334042-012
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Grammatik resultiert, lässt sich, mit etwas Mut zur Vereinfachung, als Prozess in drei Etappen beschreiben. Der Übergang von grammatischen Annotationen zu grammatischen Texten, von Phase eins zu Phase zwei also, vollzieht sich bereits in der Antike und wird von Stockhammer folgendermaßen dargestellt: Idealtypisch kann man sich die Entstehung von grammatischen Abhandlungen so vorstellen, dass aus klein geschriebenen Kommentaren zu einem groß geschriebenen kommentierten Text […] ihrerseits ein groß geschriebener Text wird, in dem nun umgekehrt die Stellen aus dem vormals kommentierten Text in kleiner Schrift zitiert werden. Die Exempla wären zunächst also Ausgangsbeispiele, aus denen induktive Schlussfolgerungen abgeleitet werden, und wandeln sich erst im Verlauf der Zeit zu Belegbeispielen, mit denen eine allgemeine Regel veranschaulicht werden soll. (Stockhammer 2014: 487)
In einer dritten Phase, deren Beginn spätestens auf die Mitte des letzten Jahrhunderts zu datieren sein dürfte, nabelt sich die Grammatik schließlich ganz von der Literatur ab, welche von nun an nicht einmal mehr die Funktion einer Spenderin von Belegbeispielen innehat. Letztere werden nicht mehr ge-, sondern nur noch erfunden. Dazu braucht es nichts weiter als die Kompetenz der Grammatikerin qua native speaker, welche es ihr ermöglicht, beliebig viele Beispielsätze, richtige wie falsche, zu konstruieren und als grammatisch richtig oder falsch (*) zu klassifizieren. Der Weg (des Fortschritts?) von einer induktiven zu einer deduktiven Grammatik führt also gleichzeitig von Arma virumque cano zu *Karl bäckt Kuchen einen bzw. Colorless green ideas sleep furiously. Gewiss, die Reaktion auf den radikal introspektiven Mentalismus Chomsky’scher Prägung blieb nicht aus, und mit dem Aufkommen stärker gebrauchsbasiert konzipierter Grammatiktheorien wie der Konstruktionsgrammatik haben die gefundenen Exempla gegenüber den erfundenen zweifellos wieder aufgeholt. Literatur und Grammatik haben damit aber keineswegs wieder zusammengefunden, im Gegenteil: Literatur genießt in solchen statistisch unterfütterten Modellen genau so wenig eine privilegierte Position, wie sie eine solche in rationalistischen Modellen hatte. Literarische Texte mögen zwar zuweilen einfließen in den empirischen Datenstrom, warum auch nicht, aber unterm (buchstäblichen) Strich schlägt ein Beleg aus Büchner ebenso mit 1 zu Buche wie ein Beleg aus der Bild. Von den drei Verfahren, mit denen in der römisch-griechischen Antike die Richtigkeit eines sprachlichen Ausdrucks begründet werden konnte: analogischer Schluss, Verweis auf eine auctoritas, Verweis auf die consuetudo, bleibt so nur mehr die consuetudo, der allgemeine Gebrauch also, übrig. Es ist sicherlich nicht zuletzt der – wissenschaftsgeschichtlich wohl unvermeidlichen, nur eben mit erheblichen epistemischen Folgekosten verbundenen – Fixierung der Grammatik auf den kotext- wie kontextlosen Satz geschuldet, wenn „dem Grammatiker der Text als Kategorie verlorengegangen“ ist (Stetter 1997: 185),
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und mit dem Text überhaupt, natürlich erst recht der literarische Text. Aber liegen nicht, um nur zwei besonders prominente Beispiele herauszugreifen, mit Weinrichs Textgrammatik der Deutschen Sprache (1997) und Ágels Grammatischer Textanalyse (2017) zwei umfangreiche Arbeiten vor, in denen sich die Grammatik wieder ihrer verlorengegangenen Kategorie entsinnt? Und erweisen sich nicht bei näherer Betrachtung die Mehrzahl der in diesen Arbeiten analysierten Texte – Kleist, Döblin, Kronauer, Th. Mann u.v. a. bei Weinrich, Böll, Kleist, Th. Mann, Schnitzler u.v. a. bei Ágel – als literarische? Das ist nun zwar einerseits erfreulich, wäre da andererseits nicht der Haken, dass in beiden Arbeiten Literatur und Grammatik eher zusammengezwungen als zusammen gedacht wirken, wobei dem literarischen Text bloß die Aufgabe zuzufallen scheint, dem Grammatiker ein Feld zu liefern, auf dem er vorexerzieren kann, was er im theoretischen Teil ohnehin schon ausgeführt hatte. Der literarische Text wird dabei zum bloßen Anschauungsmaterial, was denn auch einen befremdend nivellierenden Effekt zeitigt: Um ihre Eigentümlichkeit gebracht, wirken die Texte eigentümlich austauschbar. Man kann diesen Arbeiten – bei allen ihren unbestreitbaren Meriten – dementsprechend nicht die Kritik ersparen, die Stetter (1997: 185) stark pauschalisierend, im Kern aber richtig sehend, an die (relativ) junge Disziplin der Textlinguistik in toto richtet: Sie behandelt satzübergreifende Phänomene, ‚Textualität‘ erzeugende Elemente generalisierend, nicht individuell, sie ist nicht am Text, sondern an Text interessiert – eine Art Reparaturunternehmen, dessen Logik unschwer zu durchschauen ist, nämlich als Folgeerscheinung der Beschränkung auf den Satz.
3 Judith Macheiner: Das grammatische Varieté In der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Reihe Die Andere Bibliothek erscheint 1991 mit Macheiners Grammatischem Varieté einer der bemerkenswertesten Versuche, Grammatik und Literatur wieder zusammenzuführen. Dem Buch als Motto vorangestellt ist ein Satz von Enzensberger, der Hoffnungen auf ein adäquates Problembewusstsein hinsichtlich der Spezifizität literarischer Texte weckt: „Denn immer ist der Text, wenn er etwas taugt, der Forschung und ihrer Methode voraus.“ (Macheiner 1991: 6). Andererseits lässt der Untertitel des Buchs – „Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze [meine Hervorhebung, T.B.] zu bilden“ – bereits erahnen, dass womöglich auch diese Arbeit an jener Textblindheit laboriert, die aus der Beschränkung der Grammatiktradition auf die Einheit „Satz“ resultiert. Wenn es sich dennoch lohnt, einen ausführlicheren Blick auf Macheiners Buch zu werfen, dann deshalb, weil sich an den darin zu beobachtenden Argumentationsschemata geradezu idealtypisch demonstrieren lässt, wie und warum
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die grammatisch-linguistische Methode sozusagen systematisch am Thema vorbeiredet, sobald sie es mit dem Sprachspiel Literatur zu tun bekommt. Die Autorin Judith Macheiner „kommt“ nämlich von der Linguistik: Unter ihrem eigentlichen Namen, Monica Doherty, hat sie 1985 eine gewichtige Monographie zur Epistemischen Bedeutung vorgelegt. Während diese jedoch in einem akademischen Verlag erscheint und sich ausschließlich an einen Adressatenkreis „vom Fach“ wendet, will das Grammatische Varieté eine breitere Leserschaft ansprechen. In einer ersten Annäherung könnte man das Grammatische Varieté als eine überaus gelungene Einführung in die Grammatik der deutschen Sprache klassifizieren, die sich von ihren akademischen Nahverwandten allerdings in zumindest dreierlei Hinsicht unterscheidet: durch einen prononciert un-akademischen Duktus; durch den weitgehenden Verzicht auf so unverzichtbare linguistische Darstellungsmittel wie Tabelle und Diagramm; sowie durch die Tatsache, dass das Gros der Beispiele, mit denen gearbeitet und an denen veranschaulicht wird, nicht er-, sondern gefunden ist, und zwar in literarischen Texten von Benjamin, Bernhard, Brecht, Bloch, Broch u.v. a. Sieht man freilich genauer hin, dann zeigt sich schnell, dass das Grammatische Varieté zwar auch, aber eben nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich eine Einführung in die Grammatik sein will. Der Vermittlung grammatischer Grundkenntnisse kommt darin nämlich, recht betrachtet, lediglich propädeutische Funktion zu. In Wirklichkeit geht es Macheiner um etwas Anderes: Das eigentliche Ziel ihres Unternehmens besteht darin, von den „großen Meistern [Meisterinnen gibt es in ihrem Korpus tatsächlich keine, T.B.] der deutschen Sprache“ (14) zu lernen, wie sich virtuos nutzen lässt, was die Autorin den „grammatischen Spielraum“ (7) nennt. Zur sprachlichen Meisterschaft bringt man es nicht durch eine noch so strikte Befolgung grammatischer Regeln – eine „virtuose“ Befolgung von Regeln erschiene ja geradezu als contradictio in adiecto – sondern durch den kreativen Umgang mit eben diesen Regeln. Das Sprachspiel Literatur spielt sich somit zum Gutteil in diesem grammatischen Spielraum ab, von dem freilich vorerst ungeklärt bleibt, ob dies nun ein Spielraum ist, den die Grammatik eröffnet, oder eher einer, den sie gleichsam übriglässt. Das ist zweifellos ein vielversprechender Ansatz, aber in der Umsetzung ihres Programms unterläuft die Autorin dieses so gründlich, dass man im Fortgang der Lektüre zusehends den Eindruck bekommt, der eingangs postulierte grammatische Spielraum, um dessen literarische Vermessung es doch eigentlich gehen sollte, existiere in Wahrheit gar nicht. Dieser Eindruck ergibt sich zwingend aus Macheiners Umgang mit ihren literarischen Beispielsätzen. Das Verfahren ist dabei im Wesentlichen immer das gleiche: Es wird, wie in anderen Grammatiken auch, verschoben und ersetzt, passiviert und pronominalisiert, modalisiert und nominalisiert, und das solange, bis sich jedes Mal unabweislich die Erkenntnis einstellt, dass sämtli-
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che alternativen Varianten schlechter sind als das Original. Schlechter, nicht falsch. Die Kunst der Meister besteht nämlich Macheiners Darstellung zufolge eigentlich darin, mehrere Regelsysteme miteinander abzugleichen, von denen nur eines, das der Grammatik, richtige Sätze von falschen trennt. Eine Ebene über der Grammatik angesiedelt ist die der informationellen Hierarchie, auf der Faktoren wie bekannt/ unbekannt, wichtig/weniger wichtig, u.ä. berücksichtigt werden müssen. Noch ein Stockwerk höher treten einige wenige „übergeordnete Stilprinzipien“ (152) in Kraft: das „Stilprinzip der Sprachökonomie“ (167) etwa, oder jenes der „Klarheit“ (177). Da auf jeder dieser Ebenen mehrere Faktoren wirksam sind, müssen diese jeweils für sich miteinander verrechnet werden, ehe dann noch zwischen den einzelnen Ebenen die nötigen Abgleichungen vorzunehmen sind. Die Kunst, Sätze zu bilden, erscheint damit als die Kunst, komplizierte Rechenaufgaben zu lösen, weshalb es sicher auch kein Zufall ist, wenn Macheiner an mehreren Stellen das Bild vom „innere[n] Computer“ (214) bemüht. So wie aber eine Rechenaufgabe immer nur eine Lösung hat, so erweist sich auch nach allen möglichen daran vorgenommenen Permutationen der Satz des Meisters stets als der eine Satz, bei dem man ankommen muss, hat man nur alle Faktoren korrekt miteinander verrechnet. Wie dieses Verfahren konkret aussieht, sei kurz am folgenden Satz von Walter Benjamin und Macheiners Analyse desselben exemplifiziert: Denn was ist dieser Besitz anderes als eine Unordnung, in der Gewohnheit sich so heimisch machte, daß sie als Ordnung erscheinen kann. (zitiert nach Macheiner 1991: 235–236)
Macheiner geht es in ihrem Kommentar vornehmlich um „die Verwendung des Präteritums im Relativsatz“, scheine diese doch „allen unseren bisherigen Überlegungen zu widersprechen“. Eine Seite vorher war nämlich dem Perfekt und nicht dem Präteritum die Funktion eines „zeitliche[n] Bilderrahmen[s] zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (Macheiner 1991: 234) zugesprochen worden, weshalb im Benjamin-Beispiel aufgrund der Präsens-Prädikate im Haupt- und „daß“-Satz eigentlich gemacht hat im Relativsatz zu erwarten sei. Dennoch ist laut Macheiner das Präteritum die optimale Wahl und sie begründet dies mit der „referenzielle[n] Mehrdeutigkeit des Pronomens aus dem „daß“-Satz“ (Macheiner 1991: 236). Ein Perfekt im Relativsatz würde ihr zufolge nämlich unsere Neigung verstärken, „das näherstehende Nomen“ als Bezugsgröße zu identifizieren, was in diesem Fall dazu führen würde, „sie“ auf „Gewohnheit“ zu beziehen statt richtig auf „Unordnung“. Die Maxime der referenziellen Eindeutigkeit „sticht“ hier also gewissermaßen die Tempussemantik. Der Frage, ob Macheiner damit eine wirklich plausible Analyse des Benjamin-Satzes liefert oder nicht, muss an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, denn es ist weniger die Triftigkeit ihrer Argumente im einzelnen Fall, sondern vielmehr das generelle Schema ihrer Argumentation, welches hier
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von Interesse ist. Und in diesem Schema scheint für Kreativität kein Platz vorgesehen zu sein. Das literarische Material, mit dem die Autorin arbeitet, wird gerade nicht als das Produkt eines dialektischen Wechselspiels von Phantasie und Kalkül (vgl. Schneider 1999) in den Blick genommen; in der Perspektive des Grammatischen Varietés erscheint schlicht und einfach alles als kalkuliert bzw. kalkulierbar. Der „grammatische Spielraum“ bleibt dabei notgedrungen auf der Strecke. Das Grammatische Varieté vereint, wie sich herausstellt, zwei Textsorten in sich: eine hoch reflektierte, bis heute in ihrer Qualität unübertroffene Einführung in die Grammatik und eine mehr oder weniger unreflektierte Stillehre. Durch Macheiners mechanistische Perspektive stellt sich im Übrigen auch bei ihr der oben erwähnte nivellierende Effekt ein: Bloch, Broch, Brecht et al verschwimmen beim Lesen mehr und mehr zum Bild, besser: Ton(fall), eines einzigen Autors. Idiosynkrasien bleiben konsequent ausgeblendet und können schon deswegen gar nicht erst in den Blick kommen, weil ihnen ohne Bezugnahme auf den je spezifischen Text schlicht nicht beizukommen ist, der je spezifische Text aber etwas ist, das sich dem linguistischen Zugriff hartnäckig zu entziehen scheint. Denn während die Philologie „alles an das Verständnis des Individuellen am gegebenen Text, am betreffenden Autor oder seiner Epoche setzt“, geht „die Linguistik aufs Allgemeine“ (Stetter 1997: 222). Der blinde Fleck Macheiners ist also nichts anderes als der blinde Fleck ihrer wissenschaftlichen Disziplin: Was nicht aus Allgemeinem abgeleitet oder auf Allgemeines zurückgeführt werden kann, wird ignoriert. Der dafür zu zahlende Preis ist allerdings hoch: Der „grammatische Spielraum“ bleibt unvermessen. Im Folgenden soll an einem Text aus Macheiners Korpus, Thomas Bernhards Erzählung Die Billigesser, gezeigt werden, wie ein Autor den bei Macheiner bloß postulierten, nie aber demonstrierten Spielraum konkret zu nutzen versteht. Eine möglichst präzise Beschreibung des Spiels ist Sache der Linguistik; zu einem Verständnis des Spiels kann aber nur gelangen, wer das Sprachspiel Literatur ernst nimmt und nicht vor lauter Sätzen den Text aus den Augen verliert.
4 Doppelplusquamperfekt-Formen in Bernhards Die Billigesser: Erzählen im Auge Gottes Zu den interessantesten Briefen in der Korrespondenz Thomas Bernhards mit seinem Verleger Siegfried Unseld gehören jene, in denen der Verleger seinem Autor Korrekturvorschläge zu den jeweils in Produktion befindlichen Texten macht. Zu der Erzählung Gehen schreibt Unseld am 15. Juli 1971:
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Bei der Korrektur sollten Sie auch noch einmal die verwandten Superlative bedenken. Es gehört zum Duktus der Sprache und dem des Textes, daß er über das Ziel hinausschießt. Ein Zeichen für mich sind dafür die verwandten Superlative. Ich habe hier große Schwierigkeiten, für mich gibt es total, aber keine „totalste“ Weise; für mich gibt es eine vollkommene Untätigkeit, aber keine „vollkommenste“ Untätigkeit; schlimm wird es dann für mich, wenn an einer Stelle von „epochemachendsten Gedanken“ die Rede ist. Epochemachend läßt sich in dieser Weise nicht mehr steigern, eher noch könnte man sagen: „epochalste Gedanken“, aber die Steigerung des Verbs „machen“ in dieser Verbindung ist grammatikalisch nicht stimmig. (Bernhard/Unseld 2009, 229)
Es ist nicht ohne Komik, wie Unseld hier den Übertreibungskünstler Bernhard zu zähmen versucht. Zwar räumt er zunächst ein, dass Bernhards Text nun einmal darauf angelegt sei, über das Ziel hinauszuschießen; er beharrt dann aber doch auf seiner Meinung, dass man es auch mit dem Übertreiben übertreiben könne – indem man etwa Superlative bildet, die „grammatikalisch nicht stimmig“ sind. Dass gerade ein solcherart gebildeter Superlativ die Kunst der Übertreibung am besten oder, mit Bernhard zu sprechen, am „bestmöglichsten“ (Bernhard & Unseld 2009: 345) zum Ausdruck bringen könnte, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. Am Ende setzt sich dann aber doch der Eigensinn des Autors gegen die grammatischen Bedenken des Verlegers durch: Die von Unseld beanstandeten Superlative finden sich allesamt wieder im veröffentlichten Text (cf. Bernhard 1971: 14, 21, 27) Was hier virulent wird, ist die immer schon höchst problematische Grenzziehung zwischen Fehler und Figur, zwischen vitium und virtus, mit der, wie Stockhammer darlegt, gleichzeitig auch die Grenzziehung zwischen zwei antiken Diskursdomänen, der Grammatik und der Rhetorik, verbunden war. Bernhards grammatisch zweifelhafte Superlative weisen im Übrigen eine interessante strukturelle Ähnlichkeit mit dem Beispiel auf, an dem der römische Grammatiker Varro, in De lingua latina, zu zeigen versuchte, inwiefern Dichter den Regeln der Grammatik „nicht ebenso uneingeschränkt“ unterworfen seien wie die übrigen „Mitglieder einer Sprachgemeinschaft“ (Stockhammer 2014: 45). Dem Dichter nämlich, so Varro, stehe es frei, nach dem Muster amo/amor ein Passiv auch zu vivo, also vivor, zu bilden, obwohl eine solche Passivierung gegen die etablierte Beschränkung der Konstruktion auf eine Teilklasse der Verben (die transitiven) verstößt. Mit Bildungen wie vivor oder totalst wird jeweils ein bereits vorhandenes Muster gewaltsam verallgemeinert und ausgereizt. Auch zu Bernhards Die Billigesser hat sich ein Brief Unselds an seinen Autor mit rund einem Dutzend Korrekturvorschlägen erhalten (cf. Bernhard & Unseld 2009: 572–574). Die meisten davon betreffen bloße Flüchtigkeitsfehler. Zwei der Korrekturen beziehen sich auf ein und denselben Typ von Konstruktion: Bei Bernhard wird jeweils auf etw. vergessen, was Unseld einmal damit kommentiert, „‚darauf‘ ist zwar logisch möglich, aber irgendwie ungenau“ (573). Für die andere inkriminierte
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Passage schlägt Unseld vor, vergessen (auf) durch verzichten (auf) zu ersetzen. (574) Mit letzterem Vorschlag konnte sich der Verleger dann auch überraschenderweise durchsetzen; die andere Stelle – mit gleich doppelt gebrauchtem vergessen auf – blieb hingegen unverändert: Ich hatte dazu nur denken müssen, daß er schon so lange Zeit, schon so viele Jahre immer nur sich selbst zuliebe alles getan hatte, also war er auch, entgegen meiner Behauptung, nur sich selbst zuliebe jetzt mit mir in das Auge Gottes hereingegangen und er hatte sich tatsächlich auf einmal so verhalten, als habe er vergessen, daß er mich und nicht ich ihn aufgefordert hatte, in das Auge Gottes zu gehen, aber ich durfte naturgemäß auch nicht glauben, daß er darauf vergessen hatte, denn er hatte naturgemäß nicht darauf vergessen gehabt. (Bernhard, Die Billigesser, S. 74)
Was Unseld entweder nicht wusste oder in einer Mischung aus Takt und Taktik zu thematisieren unterließ, ist die Tatsache, dass es sich bei vergessen (auf) schlicht und einfach um einen Austriazismus handelt, der schon von Karl Kraus, obwohl bzw. weil Österreicher, als fehlerhaftes Deutsch beanstandet wurde. (vgl. Kraus 1987 [1903]: 17) Doch die sprachgeographischen Schwierigkeiten, die es einem deutschen Verleger und seinem österreichischen Autor mitunter bereitet, sich einig darin zu werden, wie es nun jeweils richtig heißt, stellen ein eigenes Thema dar, welches hier nicht vertieft werden kann. Stattdessen soll im Folgenden eine in den Billigessern hochfrequente Form näher in den Blick genommen werden, auf die Unseld in seinem Brief nicht eingeht, obwohl die letzte Zeile der eben zitierten und von Unseld inkriminierten Passage schon einen ersten Beleg liefert: das doppelte Plusquamperfekt in „hatte naturgemäß nicht darauf vergessen gehabt“ statt zu erwartendem „hatte naturgemäß nicht darauf vergessen“. Obwohl das Plusquamperfekt II keineswegs eine jüngere Erscheinung in der deutschen Sprachgeschichte darstellt – nach Thieroff (1992: 208) ist die Existenz dieser Form wie die des Perfekt II (habe vergessen gehabt) sogar „seit über vierhundert Jahren dokumentiert“ – und obwohl es im Unterschied zum Perfekt II auch nicht als regiolektal beschränkte oder umgangssprachlich markierte Form aus dem Bereich einer Grammatik der Schriftsprache hinausgedrängt werden kann, wurde es dennoch die längste Zeit von der Grammatikschreibung entweder ganz ignoriert oder nur am äußersten Rande erwähnt. Die oft und zurecht kritisierte Orientierung am Tempussystem des Lateinischen und der dadurch bedingte verzerrte Blick auf die Tempora des Deutschen mögen dazu das ihrige beigetragen haben. Wenn sich die Situation in neueren Grammatiken und Arbeiten zum deutschen Tempussystem etwas gebessert hat, so ist das sicher auch auf eine durch einschlägige Untersuchungen wie Eroms (1984) oder Litvinov & Radčenko (1998) geschärfte Wahrnehmung des Phänomenbereichs zurückzuführen. Bezeichnenderweise wird in so gut wie allen neueren Einlassungen zu diesem Thema der immer gleiche Beleg ange-
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führt, der, wenn ich richtig sehe, zum ersten Mal in Eroms (1984: 346) auftaucht. Der Beleg könnte literarischer nicht sein, stammt er doch aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre: In dem Augenblick fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefasst und in den Arm gebissen.
An diesem Zitat, das sich seit Eroms (1984) u. a. in Thieroff (1992), in den neueren Auflagen der Duden-Grammatik (2006, 2009, 2016), in Eisenberg (2013) sowie in der bis dato ausführlichsten Monographie zum Tempus im Deutschen, Welke (2005), findet, wird nun einerseits allgemein demonstriert, dass das Plusquamperfekt II die Bedeutung einer „Vorvorvergangenheit“ bzw. „einer weiteren Vorzeitigkeit“ (Eisenberg 2013: 107) hat. Eisenberg (2013: 107) schlägt dafür die Formel vor: „E vor R2 & R2 vor R1 & R1 vor S“.1 Andererseits wird aus dem Goethe-Satz der Schluss gezogen, dass eine Verwendung des Plusquamperfekt II mitunter quasi erzwungen sein kann. Die Konstruktion füllt eine Lücke im System, weshalb ihr „eine marginale Nische in der Standardsprache“ (Welke 2005, 291) nicht vorenthalten werden könne. Für die Beliebtheit des Belegs gibt es allerdings neben seiner Anschaulichkeit auch noch einen viel handfesteren Grund: Belege für Plusquamperfekt II sind überaus rar. So erklärt etwa Welke seinen Verzicht auf eine ausführlichere Darstellung der Doppelperfekt-Formen damit, dass „Belege unverhältnismäßig schwieriger zu finden“ (ibid.) seien als bei anderen Tempora; im Anschluss an das obligate Zitat aus dem Wilhelm Meister heißt es lapidar: „Eine Überprüfung in Digitale Bibliothek, Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka ergibt keinen weiteren Beleg.“ (ibid.) Nun ergibt aber eine Überprüfung von Bernhards Die Billigesser, einem Text im Umfang einer Novelle, nicht weniger als zweiundfünfzig Belege. Diese extrem überdurchschnittliche Häufigkeit im Gebrauch einer sonst so selten anzutreffenden Konstruktion verlangt, naturgemäß, nach einer Erklärung. Man könnte die Suche nach einer solchen mit der Frage beginnen, ob nicht vielleicht die zeitliche Architektur der Erzählung dafür verantwortlich ist, dass das Plusquamperfekt II mit solch erstaunlicher Regelmäßigkeit aus seinem Nischendasein geholt wird. In bestimmten Kontexten, das zeigt ja das Goethe-Beispiel, kann die Wahl dieser Form geradezu obligatorisch erscheinen. Die Frage muss demnach lauten: Könnte es sein, dass die Erzähltechnik der Billigesser laufend solche sehr speziellen Kontexte produziert? Auf den ersten Blick sieht dieser Ansatz erfolgversprechend aus, denn in der Tat kennzeichnet Die Billigesser eine ebenso intrikate wie ungewöhnliche zeitliche Struktur. Von einem Plot wird man bei dieser Erzählung (wie bei so vielen anderen Erzähltexten Bernhards auch) schwerlich sprechen können. Dieses weit-
1 Ereignis-, Referenz- und Sprechzeit.
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gehende Fehlen einer sukzessiv entwickelten Handlung wird in den Billigessern jedoch dadurch konterkariert, dass es gleich mehrere dramatische Wendungen gibt, durch welche die Zeit der Erzählung jeweils in ein davor und ein danach geteilt wird. Freilich werden auch diese schicksalsentscheidenden Peripetien nicht eigentlich erzählt; vielmehr wird auf sie nur immer wieder rekurriert. Wer immer wieder auf diese Momente zurückkommt, das ist in erster Linie der Protagonist der Erzählung, das kranke Genie Koller, und in zweiter Linie der namenlose Erzähler, der seit seiner Schulzeit mit Koller befreundet bzw. bekannt ist und diese Zeilen „allein zu dem Zweck [schreibt], mir die kollerschen Mitteilungen noch einmal klar zu machen, mich also seiner Erinnerungen noch einmal zu erinnern, was mir jetzt zeitlich und tatsächlich ungestört möglich ist“ (Die Billigesser, S. 40–41)2 Jene alles entscheidenden Momente betreffen also stets das Leben Kollers; sie sind es, die ihm die für sein obsessiv verfolgtes Projekt einer Physiognomik notwendigen Vorbedingungen schaffen. Der erste dieser Momente ist der, in dem Koller im Türkenschanzpark vom Hund des Glasindustriellen Weller gebissen wird, was den Verlust eines Beins zur Folge hat. An diesem einunddreißigsten Oktober hat die Krönung meines Lebens stattgefunden, sagte er einmal zu mir. Eine höhere Auszeichnung, als diese Krönung seiner Existenz durch den wellerschen Hund im Türkenschanzpark habe er sich nicht erhoffen dürfen. (Die Billigesser, S. 56)
Die nächste biographische Wendung ereignet sich, als Koller sich nach seiner Entlassung aus dem Wilhelminenspital auf Krücken in die WÖK (Wiener Öffentliche Küche) begibt und sich erstmals an den Tisch der Billigesser setzt, mit denen er jahrelang die Gewohnheit teilen wird, stets das billigste Essen zu essen, und die ihm für ein Kapitel seiner Physiognomik mit dem Titel Die Billigesser die entscheidende Inspiration liefern werden. Die Idee zu den Billigessern als einem notwendigen Teil seiner Physiognomik kommt Koller aber erst im dritten alles entscheidenden Augenblick, als er nämlich bei seinem täglichen Spaziergang nicht wie sonst zur alten Esche, sondern zur alten Eiche geht: Er hätte wie in den vergangenen Tagen ganz automatisch zur alten Esche und nicht zur alten Eiche gehen können, aber er sei aufeinmal nicht zur alten Esche gegangen, sondern zur alten Eiche, denn wenn er, so Koller, an dem in Frage stehenden Tage zur alten Eiche gegangen wäre, wäre er möglicherweise nicht auf die Billigesser gekommen, sondern auf etwas ganz anderes, wie er in jedem Falle, hätte er einen anderen Weg als den, den er an diesem Tage eingeschlagen habe, und zwar zur alten Eiche und nicht zur alten Esche, auf ein anderes,
2 Vor dem Hintergrund der für Bernhard‘sche Prosatexte so charakteristischen Dominanz des Referats und der entsprechend hohen Frequenz von Referatskonjunktiven erscheinen die 52 Belege für Plusquamperfekt II insofern noch einmal bemerkenswerter, als ausschließlich indikativische Formen in diese Zählung aufgenommen wurden.
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möglicherweise sogar entgegengesetztes Thema gekommen wäre, auf ein vollkommen anderes, so er, als das, auf das er gekommen sei, weil er diesen und keinen anderen Weg eingeschlagen habe und also sei er an diesem in Frage stehenden Tage auf die Billigesser gekommen, weil er zur alten Eiche und nicht zur alten Esche gegangen sei. (S. 12)
Der Wunsch Kollers, dem Erzähler seine Billigesser vorzutragen, führt schließlich zu einem Treffen im Stammlokal des Erzählers, im Zuge dessen Koller jedoch nur ein Proömium seiner Arbeit liefert, indem er die Billigesser – Einzig, Goldschmidt, Grill und Weninger – der Reihe nach vorstellt. Der eigentliche Vortrag wird vertagt. Koller sagt, er werde den Erzähler verständigen, „wenn der Zeitpunkt gekommen sei, mir im Wertheimsteinpark Die Billigesser vorzutragen“: Er war aber nicht mehr dazu gekommen, denn noch denselben Abend war er einer schweren Kopfverletzung wegen, die er sich bei dem Sturz über sein Kunstbein im Stiegenhaus in der Krottenbacherstraße zugezogen hatte, in die Universitätsklinik eingeliefert worden in totaler Bewußtlosigkeit, wie ich von seinen Ärzten erfahren habe, aus welcher er nicht mehr zu retten gewesen war. Die Billigesser waren verloren gewesen wie so viele Geistesprodukte, von welchen uns ihre Erfinder gesprochen haben. (Die Billigesser, S. 149–150)
Die eigentümliche temporale Bauart des Texts, dessen Erzähler bzw. Protagonist immer wieder auf zeitlich ferner (der wellersche Biss) oder näher (der Gang zur alten Esche statt zur alten Buche) liegende Schlüsselmomente im Leben Kollers rekurrieren, kann sicher den einen oder anderen Beleg für Plusquamperfekt II als ausreichend motiviert und dementsprechend grammatisch akzeptabel erscheinen lassen. Umgekehrt gibt es freilich zahlreiche Belege, auf die eine solche Erklärung nicht recht passen will. Manchmal scheint es Bernhard geradezu darauf anzulegen, die Konstruktion so zu gebrauchen, dass sich jeder Gedanke an eine zeitreferenzielle Logik von vornherein verbietet: Vor diesem Ereignis [dem Hundebiss, T.B.] hatte er mich, der ich mit ihm in dieselbe Schule in der Gymnasiumstraße gegangen war, immer abgestoßen gehabt, nach diesem Ereignis hatte er mich immer angezogen gehabt, während er von mir abgestoßen gewesen war. (Bernhard, Billigesser, S. 48; Hervorhebungen so im Original!) Nachdem ich mein Essen bestellt hatte […], hatte er sich erholt gehabt […]. (Bernhard, Billigesser, S. 92)
Von den beiden Plusquamperfekt-II-Belegen im ersten der zitierten Textausschnitte erscheint allenfalls jener, der sich auf die Zeit vor dem Ereignis bezieht, zeitreferenziell gerechtfertigt, keinesfalls aber der Beleg, der sich auf die Zeit nach dem Ereignis bezieht. Auch der Beleg im zweiten Textausschnitt verstößt geradezu ostentativ gegen die Gebrauchsbedingungen des deutschen Tempussystems. Solch ein – nennen wir ihn: emphatischer – Gebrauch des Plusquamperfekt II ist durch keine wie immer gearteten deiktischen Rechnungen zu decken. Bernhard lenkt
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in Passagen wie diesen unsere Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst und macht dabei seine idiosynkratische Verwendung der Tempora als das kenntlich, was sie letztlich ist: ein Stilmittel, das diesem Text sein unverwechselbares Gepräge gibt. Einer Stilistik vom Zuschnitt des Grammatischen Varietés müssen Sätze wie die zuletzt zitierten unerklärlich bleiben, verletzen solche Sätze doch sämtliche Prinzipien und Maximen, deren Befolgung nach Macheiner gerade das „Geheimnis der „schönen“ Sätze“ (1991: 7) ausmacht. So verstößt das doppelte Plusquamperfekt mit seinem mindestens dreiteiligen Verbalkomplex ganz offensichtlich gegen das Ökonomieprinzip. Wenn Macheiner manchmal dem analytischen Tempus gegenüber dem synthetischen Tempus den Vorzug gibt – und damit ausnahmsweise der längeren Form gegenüber der kürzeren –, dann mit der Begründung, dass die analytische Variante in Kernsätzen durch Klammerbildung SOV-Stellung mit sich bringt, was der Grundwortstellung des Deutschen entspreche. Auf das Plusquamperfekt II ist diese Argumentation jedoch nicht anwendbar, da ja schon mit dem einfachen Plusquamperfekt das Vollverb ans Satzende gerückt würde. Ebenso wenig scheint sich Bernhard an die Macheiner’sche Maxime der referenziellen Eindeutigkeit zu kehren; der emphatische Gebrauch des doppelten Plusquamperfekts führt eher zu referenzieller Konfusion beim Leser als zu einer klar nachvollziehbaren Differenzierung verschiedener zeitlicher Ebenen. Somit kann aus der Perspektive des Grammatischen Varietés eine solche Verwendung des doppelten Plusquamperfekts eigentlich nicht anders denn als vitium erscheinen, weshalb entsprechende Sätze auch gar nicht erst zitiert werden. Aber ist denn der Satz überhaupt die ausschlaggebende Kategorie? Schließlich hat Bernhard mit den Billigessern einen literarischen Text geschrieben und nicht eine Serie „schöner“ Sätze. Mag, was auf der Ebene des Satzes wie ein vitium wirkt, auf der Ebene des Texts nicht als virtus sich erweisen? Um den Blick freizubekommen für den Eigen-Sinn des Plusquamperfekt II in den Billigessern, ist es zunächst nötig, Gebrauch und Frequenz der übrigen Tempora in Betracht zu ziehen. Hier zeigt sich nun, dass nicht nur das doppelte, sondern auch das einfache Plusquamperfekt extrem häufig Verwendung findet. Nimmt man nun noch die ebenfalls sehr häufigen Perfekt-Formen hinzu und hält die erstaunlich seltenen Belege für Präteritum und Präsens dagegen, so lässt sich konstatieren, dass wir es bei den Billigessern mit einem ganz überwiegend in Perfekt-Tempora gestalteten Text zu tun haben. Die Tatsache, dass die Schlüsselereignisse im Leben Kollers immer nur aufgerufen, nie aber erzählt werden, hängt eng mit diesem ungewöhnlichen Tempusprofil zusammen. Durch das allen drei Perfekt-Tempora gemeinsame Merkmal „Abgeschlossenheit“ wird die Leserin permanent auf Distanz zum Geschehen gehalten. Die extreme Häufung der Perfekt-Formen bewirkt den genau gegenteiligen Effekt zu jenem, auf den mit der Verwendung des szenischen (dramatischen) Präsens in Erzähltexten abgezielt
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wird: Wo das szenische Präsens Unmittelbarkeit suggeriert und uns gleichsam in die Szene holen soll, sorgen die Perfekt-Tempora der Billigesser dafür, dass wir von den abgeschlossenen Ereignissen ausgeschlossen bleiben (müssen). Dieser retrospektiven Abgeschlossenheit entspricht nun im Text eine komplementäre prospektive Abgeschlossenheit, dem Es-war-immer-schon-gewesen ein Es-wirdimmer-schon-gewesen-sein. In der Gedankenwelt Kollers ist nämlich alles immer schon vorherbestimmt: Was immer passiert, es passiert „ganz und gar mathematisch genau und folgerichtig“ (S. 58). So wird etwa an mehreren Stellen (S. 14–15, 38, 57, 80, 88) der Begriff des Zufalls ins Spiel gebracht und jedes Mal wird die Möglichkeit eines solchen kategorisch verneint: So gesehen sei es auch für die Billigesser kein Zufall gewesen, daß er sich an dem Tag, an welchem er aus dem Wilhelminenspital entlassen gewesen war, an ihren Tisch gesetzt habe. (S. 38) [D]enn da, wie er immer sagte, der Zufall auszuschließen ist, mußte der wellersche Hundebiß schon bevor er tatsächlich ausgeführt worden war, in dem kollerschen Konzept seinen Platz gehabt haben. (S. 80)
Auch der Erzähler glaubt nicht an Zufälle: Es scheint auch mir kein Zufall gewesen zu sein, daß ich ihn ausgerechnet in der Apotheke in der Hasenauerstraße kennengelernt hatte, ein Umstand, von welchem er überzeugt gewesen war, daß es sich um das Entgegengesetzte eines Zufalls, also um einen genau vorausberechneten Zeit- und Treffpunkt unserer Existenzen gehandelt habe. (S. 57)
Mit weiteren insistierend verwendeten Ausdrücken wie „von vornherein“ oder „von (allem) Anfang an“ (vgl. z. B. S. 37, 57, 77, 96, 98, 99, 100, 119, 141) wird die Vorstellung einer durch und durch prädeterminierten Existenz noch zusätzlich verstärkt. So, retrospektiv und prospektiv in die Zange genommen, wird Zeit – die Lebenszeit Kollers, die Zeit der Erzählung – zu einer Reihe ausdehnungsloser Augenblicke komprimiert. Eigentlich gibt es in diesem Text nur zwei Zeiteinheiten bzw. -ebenen: den Zeit-Punkt und die Ewigkeit. Koller sieht sein Leben sub specie aeternitatis und auch der Erzähler nimmt diese Perspektive ein, wenn auch aus einem Grund, den man erst auf der letzten Seite erfährt: Koller ist zur Zeit der Niederschrift nicht mehr am Leben. Es ist diese textbestimmende Dichotomie von Zeit-Punkt und Ewigkeit, die die szenische Entfaltung einer Handlung sowohl „von vornherein“ als auch im nach hinein unterbindet. Reizwörter wie „urplötzlich“, „jetzt“, „aufeinmal“ oder „sofort“ – fallweise auch noch durch Kursivierung hervorgehoben (cf. z. B. S. 63, 148) – wirken in dieser Textwelt wie Sprachsplitter aus einer Kleist-Novelle und verfehlen mit parodistischer Ironie souverän ihren vermeintlichen Zweck, die Erzeugung von Spannung. Für suspense ist zwischen Ewigkeit
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und Zeit-Punkt sozusagen kein Platz vorgesehen. Vermittelt wird zwischen diesen temporalen Extremen einzig durch die Leitmetapher des Auges: Auf der einen Seite kreist der Text permanent um „Augenblicke“, ein Begriff, der als Substantiv Dutzende Male und daneben auch sporadisch als Adjektiv und Adverb („augenblicklich“) vorkommt. Auf der anderen Seite findet das finale Treffen zwischen dem Erzähler und dem seit seiner Kindheit „augenleidenden“ Koller nirgendwo anders statt als, ausgerechnet, im Auge Gottes – keine Erfindung Bernhards, sondern ein Gasthaus, das es tatsächlich unter diesem Namen gab. Diese Beobachtungen ergeben natürlich noch keine Interpretation des Texts, sondern können allenfalls als Proömium zu einer solchen betrachtet werden. Auf eine ausführlichere Ausdeutung der Billigesser kann hier aber umso leichter verzichtet werden, als bereits zur Genüge dargetan sein sollte, dass das grammatische explanandum, i. e. die hochfrequente Verwendung des Plusquamperfekt II, nur mit Blick auf das Textganze und nicht auf der Ebene des einzelnen Satzes eine befriedigende Erklärung finden kann. Mit den Billigessern ist Bernhard das Kunststück gelungen, eine Erzählung zu schreiben, die fast ganz ohne Erzählen auskommt – Erzählen im Auge Gottes. Für diese Erzählung von der Unmöglichkeit des Erzählens, für diese Anti-Erzählung wählt Bernhard ein ebenso ungewöhnliches wie der Textwelt angemessenes Tempusprofil, das nicht nur literarischen Konventionen zuwiderläuft, sondern darüber hinaus die Grenzen des grammatisch Möglichen spielerisch ausweitet.
5 Schluss Der eingangs beschriebene Prozess der Abnabelung der Grammatik von der Diskursdomäne der Philologie war und ist zweifellos eine wissenschaftsgeschichtliche Notwendigkeit. Dass dieser Prozess irreversibel ist, steht außer Frage und ist auch gar nicht zu bedauern. Sehr wohl bedauern mag man jedoch, dass sich diese Entwicklung mit einer solchen Gründlichkeit und Radikalität vollzog, dass die beiden Disziplinen einander im Laufe der Zeit immer weniger und am Ende gar nichts zu sagen hatten. Unter ein und demselben institutionellen Dach namens Germanistik macht die Linguistin ihre Sache und der Literaturwissenschaftler die seine, and never the twain shall meet – außer bei der Institutskonferenz oder der Weihnachtsfeier. Dieses Desinteresse am interdisziplinären Dialog ist so normal, dass es selten überhaupt als Problem wahrgenommen wird. Zu einem dringlichen Problem wird dieses unverbundene Nebeneinander der Diskurse allerdings, sobald man den Blick nicht auf die Universität, sondern auf die Schule richtet, denn ein unverbundenes Nebeneinander der im Deutschunterricht zu vermittelnden
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Wissensbestände und Kompetenzen stellt mit Sicherheit keinen befriedigenden Zustand dar. Solch ein unverbundenes Nebeneinander kann beispielsweise im Extremfall den Anschein von performativen Widersprüchen auf Seiten des Lehrers erwecken: Heute korrigiert die Lehrerin noch mit Rotstift einen Fehler in der Schularbeit eines Schülers; morgen schon versucht dieselbe Lehrerin, ihre Klasse für einen Text zu begeistern, der genau dieselben sprachlichen Formen aufweist, die anderntags beanstandet wurden, nun aber zum besonderen Reiz des Texts beitragen sollen. Es ist dieses Vexierbild von Fehler und Figur, von vitium und virtus, welches gewissermaßen die Grundspannung eines Fachs wie Deutsch ausmacht. Ob diese Spannung eine lähmende oder eine produktive ist, ist nicht von vornherein entschieden. Um sie zu einer produktiven werden zu lassen, erscheint es mir vor allem notwendig, dieses zutiefst problematische Nächstverhältnis von Fehler und Figur anzusprechen, auszuleuchten und immer wieder aufs Neue zu reflektieren, wozu sich naturgemäß kein anderer Gegenstand so exzellent eignet wie die Literatur. Es ist jedoch nicht einzusehen, weshalb der Lehrer diese Reflexionsarbeit ganz auf sich allein gestellt leisten sollte, erst recht nicht, wenn man in Betracht zieht, welche enorme Bedeutung der Lehrerinnen-Ausbildung an den meisten germanistischen Instituten zukommt. Fast möchte man daher von einer gewissen Bringschuld seitens der Sprachwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler sprechen, sich zumindest sporadisch für die Dauer einer Untersuchung schlicht als Germanistinnen zu begreifen, um damit auch den eigenen Kopf temporär jener Grundspannung auszusetzen, welche erforderlich ist, wenn man der vom Lehrer zu leistenden Reflexionsarbeit zu- bzw. vorzuarbeiten möchte. Tritt man von der Linguistik kommend an diese Aufgabe heran, so scheint mir die wichtigste Voraussetzung für eine erkenntnisfördernde Diskussion dann erfüllt zu sein, wenn das Sprachspiel Literatur wirklich ernst genommen wird, d. h. wenn die Grammatikerin ihrem literarischen Untersuchungsgegenstand nicht nur Interesse an, sondern darüber hinaus auch Interesse am Text entgegenbringt.
Literatur Thomas Bernhard (1988 [1980]): Die Billigesser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Thomas Bernhard (1971): Gehen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Thomas Bernhard & Siegfried Unseld (2009): Der Briefwechsel. Hrsg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber & Julia Ketterer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Ágel, Vilmos (2017): Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder. Berlin, Boston: De Gruyter.
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Register Abgeschlossenheit 54–56, 62, 65–70, 392–393 Ableitungskette 122, 152 Adverbial 76, 94, 126–127, 131, 149 Agens siehe Rollen Akkusativobjekt VIII–IX, 101, 103, 110–111, 120–121, 130, 136–138, 148, 153–154, 318–320, 322–326, 332–333, 339 – doppeltes Akkusativobjekt 318, 322–324 Allostruction/Allostruktion 14–15, 20 Alternantenproblem siehe Grundvalenz Alternanz versus Variation 174–175 Analepse 255–257, 265–266, 269–277 Analogie 33, 37–38, 252, 365, 372 Analytische Verbkonstruktion siehe Verbalperiphrase Äquivalenzoperator 224 Argument 27, 39, 75, 77–78, 81–86, 93, 98–106, 140–141, 143–144 – implizites Argument 161–163 Argumentkonstruktion 27, 39, 75, 77, 81–88, 93, 98–106, 109, 116–117, 119–124, 126–128, 131, 151, 159–161, 175, 271–273 Argumentrolle 86, 109, 272 Argumentstruktur siehe Argumentkonstruktion Attributiv 28, 39–45, 69, 139–140 Außersprachliche Bedeutung siehe Denotative Semantik Autonome Kodierung 82–83, 149, 175, 177–178
Construal 4–5 Constructeme 14–15 Core-Frame-Element 127–128 DaF-Unterricht 317–318, 324–325 Dativ-Akkusativ-Alternanz 136–139, 146–147 Dativalternation 2, 5–7, 9, 12–13, 17–19, 147–148 Dativobjekt VIII, 110, 124–125, 141–144, 173–174, 318, 320, 322–324, 326, 342 Definitheit 138, 194–195, 325–326 Deiktizität 195, 197–203 Denotative Semantik VIII–XI, 10–11, 22, 126, 148–149 Determinativmodifikaktor siehe Prädeterminativ Determiniererphrase (vs. Nominalphrase) 188–189, 193–194 Didaktische Verben 322 Direktivum 110, 159, 170, 256 Diskursmarker 184 Ditransitivkonstruktion 10, 17, 103, 161–166 domain 13, 365–366, 369, 374, 376 Doppelperfekt 38–39, 389 Doppelplusquamperfekt 388, 391–394
Bahuvrihi 359 Bedeutungsorientierte Konstruktionsgrammatik (B-KxG) 13–17 Bedeutungstheorie 128–129 bekommen-Passiv 37, 57, 144, 163 Beleidigung 357, 367, 377 Beteiligtheit (Komplementkriterium) 126, 141 Betroffener siehe Rollen Bezeichnungstheorie 128 Bildhaftigkeit 359, 365–366 Bildspender 369–371
Eigenschaft (Bedeutung) 41, 50–65, 68–71 Einheitenkategorisierung 123, 125 Einzelsprache VIII, X, 113–114, 116, 150–151 Ellipse 255–256 – Adjazenzellipse 255–257 – kontextkontrollierte Ellipse 255–256, 264 – Koordinationsellipse 255, 271 – situative Ellipse 169, 262 – Strukturellipse 255–256, 264–266, 269, 273–277 Embodiment 365, 370 Ergänzung 78–81, 105–106 Erwartbarkeit (Komplementkriterium) 110 Existenzialsatz 256 Extraposition 232–233, 236, 238–240
Chunking/Chunks 288–290, 301–302, 306, 309–310 Coercion siehe Koerzion
Fakultative Ergänzung 80–81, 104, 111 Fokusmarker (so) 184 Force dynamics 92
https://doi.org/10.1515/9783111334042-013
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Register
Formorientierte Konstruktionsgrammatik (F-KxG) 7–8, 10, 12–13 Frame 10, 127–128 Frame-and-slot patterns 281, 288, 292, 298, 300–301, 304, 306–307 Frame-Semantik IX, 6–7, 22, 114–115, 126–129 Frequenz 111–113, 119, 165, 192, 209–213, 220, 263, 283, 290–292, 330, 337, 392 Funktionsverbgefüge siehe verbnominale Konstruktion Fusion von Konstruktionen V–VI, 58, 101, 104–105, 109, 161–162, 165, 177, 306, 332, 335 Gapping 261–262, 264–265, 270 Gebrauchsbasiertheit VI, 2–3, 7–8, 250–25 Gebrauchsbasierter Spracherwerb 281–282, 288–292, 294–295, 298, 304, 307–310 Generizität 198–199 Getrenntschreibung (Komposita) 353–356 Gradpartikel (so) 183–184, 187 Grammatik – Rhetorik 387 Grammatik-Lexik-Kontinuum 32 Grammatikalisierung VII, 37, 47, 56, 83–84, 87, 163, 179, 207, 226–227, 232, 237–238, 241 Grundvalenz 110–116 – Alternantenproblem 120–121 – Empirieproblem 116–117, 119, 121–123 – Lesartenproblem 121–123 Handlungsgegenstand siehe Rollen Handlungskonstruktion VIII, 130, 151, 154, 157, 175 Handlungsträger siehe Rollen Hassrede 359, 373 Hauptbedeutung 111, 122 Heckenausdruck 186, 200 Holistisch VI, 22, 30, 33, 86, 105, 287–288, 309 Homonymie VII–VIII, 7–9, 31, 34–37, 47, 54, 57, 89, 302 Horizontale Beziehung (im Konstruktionsnetzwerk) 19–22 Hyperonym-Konstruktion VII, 37–39, 57, 366 Hyponym-Konstruktion VII, 37-39, 57, 70, 95, 103
Idiomatisierung V–VI, 30, 40, 98, 119, 132, 158, 175, 177, 257, 268, 281, 302, 342, 354, 364 Illokution 256, 258–260 Imperfektiv 28, 42–45, 52, 59–67, 70–71, 92, 155 Implementierung VI–VII, 28, 34, 40, 43, 54, 61 Implikatur VII, 28, 30–36, 51, 54–59, 61–65, 69–71, 136, 149–159, 167, 179 Indefinitartikel 185, 204, 221 Indirektes Objekt 5, 6, 9–10, 16, 320, 325–328, 336 Induktionsproblem 116 Inferenz 166, 273–275 Instantiierung V, XI, 27, 30, 34, 36, 44, 56, 257, 268 Intensivierer (so) 187 Interne Prädikation 256, 274 Interrogativpronomen 283–287, 296–298, 304–306, 308 Invarianztheorie 33, 42 Isomorphie 35–37 Kasusalternanz 145 Kasusrahmen 27 Kasussynkretismus 146, 179 Kataphorik 195 Kategorisierung 8, 123–125, 188, 257 Kausalkonstruktion 76, 97 Klammerkonstruktion 231–238 Kindgerichtete Sprache (child-directed speech) 291, 294–295 Koerzion V, 82, 103, 115, 120, 130–131, 142–143, 177 Kollektivum 192, 220 Kollokation 263, 355 Kommunikationsmaximen 28 Komparandum 222–225 Komparans siehe Komparationsbasis Komparationsbasis 223–227 Komplement 38, 78–81, 87, 98, 100, 104–105, 112, 115, 120, 126, 131, 178, 188, 260, 263, 277 Komplementkanon 126 Kompositionalität V, 28–32 Konjunkt 261, 271–274 Konstrukt 29, 274 Konstruktikon V–VI, X, 1, 11, 17, 115–116, 119, 159, 165
Register
Konstruktionsbedeutung 10, 30, 39–40, 42, 48, 52–56, 69–71, 82, 86, 103, 203, 320 Konstruktionsmarker 271–273 Konstruktionsmuster V–VII, 5, 27, 38, 62, 159, 273–274, 277, 291, 354 Konstruktionsträger 271–274 Konstruktionsvererbung 27–28, 37, 47, 56–57 Konstruktivistisch 113, 234 Konzeptuelle Anreicherung 157, 159, 166–170 Koordination 122, 253, 262 Kopf 27, 39, 98, 102, 151, 184-185, 188–194, 223–224, 227, 234–235, 357–360, 369, 374 Kopula-Konstruktion 28, 52, 68, 151, 234, 238 Koreferenz 207, 225–227 Korpuslinguistik 111, 114, 145, 185, 209, 213 Korpusproblem 116 Leerstelle 127, 288–290, 308 Lernschwierigkeiten 319, 329, 331 Lesartenproblem siehe Grundvalenz Material siehe Rollen Medial 184, 187, 208–212, 226 Mediales Verb 77, 79–81, 98, 101 Mehrworteinheit 257, 281, 301 Mehrwortgruppe 355–356, 363–364 Mehrwortlexem 189, 361 Metapher 34, 179, 353–354, 359–360, 366, 369–372, 375–376, 394 Metonymie 94, 96, 353, 365, 371, 374–376 MLU (mean length of utterance) 294–296 Modalwort 183 Modifikator 44, 52, 56, 58, 68, 75–77, 81–82, 102–106, 127, 178, 183–184, 187, 193–194, 222 Modifikatorkonstruktion 126–127 Modular 30 Monodimensional 126 Multidimensional 114, 126 Mündlichkeit 210, 212 Nachzustand 42–44, 50–51, 54–58, 61–62, 69–70, 171, 173, 176, 188 Niederländisch 5–6, 12, 17–19, 259, 317, 330 No-Synonymy-Prinzip VII–VIII, X, 4–7, 10–13, 29, 34, 36, 151 Nominalisierungsverbgefüge 101
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Nominalkompositum 354 Nominalphrase 187–189, 196–197, 200, 204, 222, 234, 272, 290, 300, 305, 326 Nominationsstereotyp 355 Norm VI, 15, 22, 333–334 Nulldeterminierer 193, 204, 205 Obligatorik (Komplementkriterium) 80–82, 101, 103–104 111, 114, 139, 142–143, 155, 161, 193, 223, 285, 389 Onomasiologie 8, 21, 23, 40, 150, 366 Operative Prozedur 270 Part-of-Speech-Kategorien (POS) 282 Partikelverbkonstruktion 250 Partizip II 28, 34, 40-52, 54–62, 64–72 Partizipantenrolle 110, 119 Passiv 2, 4, 11, 28–29, 35, 37–38, 44–45, 47, 54, 57, 63–64, 66–67, 70, 85–86, 99–100, 123–124, 144, 155, 163, 237, 322–324, 337, 387 Patiens siehe Rollen Perfekt-Effekt 59, 66 Perfektiv 28, 42, 61 Perfektkonstruktion 237–239 Personenbezeichnung 353, 356–357, 360, 370 Perspektive 124–125 Perspektivrolle 97, 100, 123–124 Pertinenzakkusativ 138, 161, 174 Pertinenzdativ 138–139, 146–147, 157, 160, 164, 172–174 Pivot schemas 307 Phorizität 195, 213, 216 Phraseolexem 354–355 Pointer-Mechanismus 264, 270–271 Polylexikalität 356, 374 Polysemie VIII, 7, 31, 34–36, 50, 89, 147, 302, 321 Possessor 140, 147, 149, 167–177 Prädeterminativ (so) 189, 193, 204–205, 212, 221 Prädikat VI, VIII, XI, 37, 51, 76–106, 116–117, 123–124, 148–150, 154, 161, 169–172, 175–178, 224, 231–245, 255–256, 260, 272–274, 321, 364, 385 Prädikativ XI, 28, 34, 37–56, 59–71, 77, 82, 101, 104, 234, 263, 274, 276, 364 Prädikatsdynamik 104 Prädikatsposition 98, 100–105, 224
400
Register
Prädikatsrolle 123–124, 130 Pragmatik XI, 11, 22, 49–54, 151, 175–176, 269, 273, 376 Präpositionalobjekt (PO) 11, 84, 87,–89, 118, 120–121, 126, 154, 159, 323, 330 Produktivität 29, 57, 65, 69, 83, 87, 160, 305, 336, 364 Projektion V–VI, 27, 36, 115, 127 Projektionsstufe 100 Prototypik IX, 5, 28–29, 32–33, 114
Radiale Kategorie 33 Referenzialität 194–195 Referenzkorpus 76, 98, 122, 135, 163, 238 Regel V–VIII, XI, XIV, 6, 27, 32, 34–36, 49, 79, 89, 193, 207, 232, 235–236, 250, 257–258, 267–268, 289, 308, 343, 356, 384–385, 387, 389 Resultativkonstruktion 47, 104 Rhetorik 387 Rolle – denotativ-semantisch IX–X, 92, 100, 126, 321 – framespezifisch 100 – signifikativ-semantisch siehe signifikative Semantik Rollen – Agens 13, 18, 33, 85, 145, 149, 153–160, 170, 176, 272, 320, 321 – Betroffener VIII–IX, 157, 159, 172–173, 177 – Handlungsgegenstand VIII–IX, 91, 117–118, 130, 151, 154, 157, 175 – Handlungsträger VIII, 91, 117–118, 130, 154, 157 – Material 117, 123 – Patiens XII, 100, 135, 147–149, 153–162, 173–176, 272, 320–321 – Vorgangsträger 85, 91–92, 141, 144, 155, 160, 162, 170
Satzklammer siehe Klammerkonstruktion Schematisierungsprozess 288, 308 Schriftlichkeit 57, 211, 212 sein-Perfekt 37–38, 44–45, 47, 56–59 Semantische Rolle siehe Rolle Semasiologie V, VIII, 21, 34, 36, 150, 154, 166 Signifikative Semantik IX–X, 12, 89, 90, 92, 99, 113, 117, 122, 126, 136, 143, 149, 151–157, 160, 162, 166, 168, 171–172, 174–175, 318, 312, 322 Singular XII, 124, 187–193, 207, 214–215, 220, 226 Singulariatantum 124 Situation 128, 136, 145, 148, 150–152, 168, 171, 174 slot 281, 288, 290, 292, 298, 300–301, 304, 306–309, 337, 374 source 161 Spezifizität 81, 194–195, 197, 201, 203, 383 Sprachgefühl 111–112, 146 Sprachsystem 10–11, 115, 117, 119 Sprachwandel 28, 36, 113, 177 Sprecherintention 357, 368 Stelligkeit 34, 86, 100 Stil 204, 223, 227, 232, 275, 357, 359, 385–386, 392 Strukturelles Priming 336 Subject-Auxiliary-Inversion 260, 267 Subjekt VIII, XI, 37–38, 40, 46, 49–50, 82, 84–86, 90, 92, 100, 104, 113, 117–118, 126, 130, 135, 140–141, 145–146, 151–152, 165, 169, 207, 222–224, 255, 263, 271, 283, 305, 318, 320–325, 342 Suffix 65, 67, 358, 373–374 Suffixoid 373 Superlativ 387 Supplement 78–79, 112, 114, 126, 128, 131, 260 Synchron X–XI, 3, 12, 22, 37, 40, 47, 97, 114, 226, 240, 278 Synonymie VIII, 4, 7, 11, 12, 13, 34, 76 Szenario 82, 86, 90–95, 100, 103–104, 150, 152, 167, 170–171
Sachverhalt VIII, 4, 61, 78–82, 87, 91–92, 103, 113, 126, 141, 144, 147, 150–179, 219 Salienz 202 Sammelname siehe Kollektivum Satzadverb 183 Satzglied 105, 117, 139–140, 154, 168, 172–174
target 21, 365–366, 374, 376 Tätigkeitskonstruktion 90–92, 155, 161, 165 Tätigkeitsträger siehe Rollen Teilschematische Konstruktionen 268, 281, 289,–290, 305, 310 Tertium Komparationis siehe Komparans
Quantifikation 194
Register
Token-Konstruktion VI–VII, 5, 7–8, 27–29, 32, 35–39, 47, 57–60, 67, 71, 135–136, 151, 268 Traceback(-Methode) 282, 295, 298, 300–307, 310 Transformat 4, 6, 9, 124, 140, 267–268 Transformation 4, 6, 9, 140, 267, 268 Transitiv XIII, 1–23, 28–29, 38–71, 77–92, 100–103, 121–125, 131, 136–165, 260, 267, 271, 317–343, 387 Type-Konstruktion VII, 29 Überblendung von Konstruktionen 136, 376–377 Umszenierung 119–120 Vagheit XII, 12,–13, 32, 121, 187, 200–203, 206–207, 216, 219–220, 260, 265–266 Valenz(theorie) VII, XI–XII, 27, 34, 75, 77–78, 80, 82, 88, 98, 101–104, 109–132, 135–179, 260, 273, 307, 318–319, 322, 330, 335 Valenzdimensionen 126 Valenzerweiterung 112, 141, 159–163, 176 Valenzkonstruktion 112 Valenzmuster 21, 111, 165, 323 Valenzpotenz 113 Valenzrealisierung 113, 117, 335, 343 Valenzreduktion 111, 120 Valenzträger 82, 103, 173, 273, 335 Valenzwörterbuch 79–80, 89, 115, 132, 318, 331 Variation XII–XIII, 4, 14, 16, 183, 186, 203–208, 215, 217, 220, 267, 269, 283, 289, 308, 326
401
Verb XI, XIV, 5, 7, 14–15, 21, 27, 29, 33–71, 75–106, 109–132, 135–179, 231–244, 247, 250, 259, 264, 268, 271–272, 274, 283–287, 291–292, 305–307, 317–339, 341, 362–364, 375, 387 Verbalperiphrase 237 Verbloses Direktivum 177, 256, 264 Verbnominale Konstruktion 236, 241, 244–245, 247, 249–251 Verbstellungstyp 258–260 Vererbung V, VII, 27–28, 37–38, 44–45, 47, 56–57, 60, 69, 81, 86, 260, 321 Vergleichsaspekt 222–224 Vergleichsauslöser 223 Vergleichskonstruktion 221–227 Vertikale Beziehung (im Konstruktionsnetzwerk) 19–20, 274 virtus – vitium 381, 387, 392, 395 Vorgangskonstruktion 38, 90–93, 155, 160–161 Vorgangspassiv (werden-Passiv) 28–29, 39, 46,–47, 57, 66–61, 99–100, 123, 144 Vorgangsträger siehe Rollen Wandel VI–VIII, 28, 34, 36, 55, 113–114, 117, 177, 226 Wortbildungsmuster 353, 375 Wortgrenze 356 Wortstellung 392 Zeichen VI, XII, 8, 10–12, 30–36, 87, 89, 129, 151, 257, 265–269, 275–277, 387 Zusammenschreibung 353 Zustandspassiv 27–71, 90, 124, 128 Zwei-Ebenen-Semantik VII, 49