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German Pages 266 [267] Year 2008
Timo-Peter Ertz Regel und Witz
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 88
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Regel und Witz Wittgensteinsche Perspektiven auf Mathematik, Sprache und Moral von
Timo-Peter Ertz
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020855-9 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Für Erika und Rudolf Ertz
Danksagung Vieles verdankt die vorliegende Arbeit anderen Personen als dem Autor selbst. Allen voran möchte ich Prof. Dr. Anselm W. Müller danken, der mich in seinem Denken immer fasziniert und, wie ich hoffe, auch ein wenig geprägt hat. Ohne seine Anregungen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Zudem hat er die Dissertation als Erstgutachter betreut. Prof. (apl.) Dr. Christian Bermes hat die Arbeit als Zweitgutachter begleitet; ihm verdanke ich den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema Witz. Dr. Peter M. S. Hacker hat meine Auseinandersetzung mit Wittgenstein während meines Studiums in Oxford gelenkt und durch vielfältige Anregung gefördert. Beiden danke ich sehr herzlich. Detaillierte inhaltliche Kritik habe ich vor allem von Andreas Krebs und Markus Kohl erhalten, die beide, in unterschiedlicher Weise, die Arbeit maßgeblich beeinflusst haben – freilich nicht immer in ihrem Sinne. Bevor die vorliegende Arbeit 2007 an der Universität Trier als Dissertation eingereicht wurde, haben Na Young Shin und Jens Hergert sie gelesen und zur Verständlichkeit des Textes beigetragen. Susanne Lenzner unterzog das Manuskript einer gründlichen Schlusskorrektur. Allen danke ich sehr herzlich. Der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Landesgraduiertenförderung des Landes Rheinland-Pfalz möchte ich für die finanzielle Unterstützung während meines Studiums und der Promotion danken. Schließlich und vor allem danke ich Julia Hettenhausen, die bei vielen Fragen die erste war, die der Antwort eine Richtung gab. Hamburg, Oktober 2008
Inhaltsverzeichnis Einleitung ..............................................................................................................................3
I Regel und Witz in Wittgensteins Spätphilosophie I. Konstitution durch Regeln? ...........................................................................................5 § 1. Rawls: Two Concepts of Rules ........................................................................5 a. Summary View.................................................................................................5 b. Practice Conception........................................................................................6 c. Inwiefern lässt sich eine Praxis begründen? ...............................................7 § 2. Searle: regulative und konstitutive Regeln .....................................................9 II. Was heißt es, einer Regel zu folgen? ........................................................................ 12 § 1. Regel und Regelanwendung ........................................................................... 12 § 2. Regelfolgen: Deuten und Verstehen ............................................................ 13 a. Das ›Regelparadox‹ ...................................................................................... 14 b. Deuten und Meinen ..................................................................................... 16 c. Regelausdruck und Regelanwendung ....................................................... 18 d. Kripke zur Rolle der Sprachgemeinschaft ............................................... 20 § 3. Regeln und Mechanismen .............................................................................. 22 a. Die kausale und die funktionale Beschreibung eines Mechanismus ............................................................ 23 b. Die ›Kreuzung‹ der kausalen und funktionalen Beschreibung eines Mechanismus ............................................................ 24 c. Regelfolgen als Fähigkeit ............................................................................ 26 d. Abrichtung, Fähigkeit und Disposition .................................................... 28 § 4. Individuum und Gemeinschaft ..................................................................... 31 a. Maßstab und Übereinstimmung ................................................................ 32 b. Spontane Reaktionen und ihre Verfeinerung .......................................... 33 c. Wittgenstein über die Rolle der Sprachgemeinschaft ............................ 35 III. Aspektsehen ............................................................................................................... 39 § 1. Sehen und ›Sehen als‹ ...................................................................................... 40 § 2. Aspektsehen und Bedeutungserleben .......................................................... 42
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Inhaltsverzeichnis
a. Die Verbindung von Sehen und ›Sehen als‹ ............................................ 43 b. Die Verbindung von Aspektsehen und Bedeutungserleben ................ 44 § 3. Zwischenfazit .................................................................................................... 48 IV. Der Witz in Wittgensteins Spätphilosophie .......................................................... 50 § 1. Vom grammatischen Witz zum Witz der Grammatik ............................. 51 § 2. Wesentliche und unwesentliche Regeln ...................................................... 52 § 3. Physiognomie und Charakter ........................................................................ 54 § 4. Wann verliert ein Spiel seinen Witz? ........................................................... 58 a. Wie kann eine Praxis überhaupt ihren Witz verlieren? ......................... 59 b. Implizieren veränderte Naturtatsachen veränderte Begriffe? .............. 61 § 5. Die positive Bestimmung des Witzes .......................................................... 62 a. Was heißt es, ein Spiel zu erklären? .......................................................... 63 b. Die Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Praxis von ihrer Funktion .................................................................... 65 c. Das Spiel und seine Wirkung ..................................................................... 66 d. Die Teleologie der Praxis – Analogien zur Teleologie der Lebensform .............................................. 67 e. Die Realisierung des Witzes: Kompetenz und Charakter ..................... 69 § 6. Zusammenfassung ........................................................................................... 71
II Zur Anwendung der Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Mathematik I. Regel und Witz der Mathematik ................................................................................ 75 § 1. Einleitung ........................................................................................................... 75 § 2. Der mathematische Satz als Regel ................................................................ 76 § 3. Mathematik als Praxis ..................................................................................... 78 § 4. Essenz und Existenz ....................................................................................... 80 a. Beschreibung oder Definition? .................................................................. 81 b. Der mathematische Satz als sprachliches Ausdrucksmittel .................. 84 c. Mathematisches Wissen als Wissen-Wie? ................................................ 85 d. Das mathematische ›Muss‹ ......................................................................... 87 e. Vom Experiment zum Begriff ................................................................... 89 § 5. Zur teleologischen Beziehung zwischen Mathematik und Empirie ............................................................................... 91 II. Was ist ein mathematischer Beweis? ........................................................................ 93 § 1. Was ist eine mathematische Vermutung? ................................................... 94 § 2. Mathematische Allgemeinheit ....................................................................... 96
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§ 3. Bewiesene und unbewiesene mathematische Sätze .................................. 99 § 4. Mathematische Falsifikation? ...................................................................... 102 § 5. Versteht man einen mathematischen Satz nur, wenn man den Beweis des Satzes kennt? ................................................. 103 a. Vergewisserungs- und Sinngebungsbeweis ........................................... 104 b. Lehren aus dem mathematischen Beweis? ............................................ 106 c. Zwischen Vergewisserung und Sinngebung .......................................... 111 III. Mathematische Begriffsbildung ............................................................................ 113 § 1. Begriffsbildung ............................................................................................... 113 § 2. Begriffsänderung ............................................................................................ 118 § 3. Begriffsanwendung ........................................................................................ 120 § 4. Begriffsbildung, -änderung und -anwendung in der Mathematik .......................................................................................... 123 IV. Satz und Bild ............................................................................................................. 127 § 1. Begriffsbildung vs. Gewissheit .................................................................... 128 § 2. Der Beweis als Gestalt? ................................................................................ 131 § 3. Zusammenfassung ......................................................................................... 134
III Zur Anwendung der Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Sprache I. Regel und Witz der Sprache...................................................................................... 139 § 1. Einleitung ......................................................................................................... 139 § 2. Die Sprache: eine Praxis? ............................................................................. 141 a. Regeln sprachlicher Praxen ...................................................................... 144 b. Die funktionale Einbettung sprachlicher Regeln ................................. 145 § 3. Funktionen der Sprache ............................................................................... 148 § 4. Zwischen Funktionalismus und Autonomismus Die Kontextabhängigkeit der Bedeutung ................................................. 150 a. Arten und Stufen von Verständnis und Sinn ........................................ 151 b. Bedeutung und Anwendung .................................................................... 152 § 5. Teleologische Strukturen der Sprache ....................................................... 155 § 6. Evidenz-Bezüge als Regeln? ........................................................................ 156 § 7. Zum dreifachen Telos der Behauptung .................................................... 157 II. Was heißt ›Zweifeln‹? ................................................................................................ 160 § 1. Merkmale des Zweifels ................................................................................. 161 § 2. Zweifeln: Disposition oder Fähigkeit?
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Zur Teleologie des Zweifels ................................................................................ 164 § 3. Evidentielle und nicht-evidentielle Unsicherheit .................................... 165 § 4. Der Zweifel ist nicht durch Regeln begrenzt ........................................... 168 § 5. Begriffliche Grenzen des Irrtums und Zweifels...................................... 169 § 6. Der müßige Zweifel....................................................................................... 170 § 7. Zweifel und Rationalität – Zum Witz des Zweifels ............................... 172 a. Die Rationalität evidentieller Unsicherheit ............................................ 174 b. Die Rationalität nicht-evidentieller Unsicherheit ................................. 176 III. Was heißt ›Wissen‹? ................................................................................................. 178 § 1. Wissen: eine Fähigkeit? ................................................................................. 178 § 2. »Ich weiß…« als Äußerung?......................................................................... 182 a. »Ich weiß…« und »Ich sehe…« ............................................................... 183 b. Die Kreuzung von Wissen und Gewissheit .......................................... 184 § 3. Wissen und Behaupten ................................................................................. 186 IV. Mooresche Sätze ...................................................................................................... 188 § 1. Mooresche Sätze zwischen evidentieller und nicht-evidentieller Sicherheit ............................................................... 188 § 2. Zur Charakterisierung Moorescher Sätze ................................................. 189 § 3. Sinn und Funktion Moorescher Sätze ....................................................... 196 a. Allgemeingültige Mooresche Sätze und ihre Einbettung in ein Nest von Sätzen ......................................................... 197 b. Sprachspielbezogene allgemeingültige Mooresche Sätze .................... 199 c. Mooresche Sätze als Witze? ..................................................................... 201 d. Kontextrelative Mooresche Sätze als versuchte Artikulation adverbialer Sicherheit ................................. 203 § 4. Zusammenfassung ......................................................................................... 205
IV Zur Anwendung der Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Moral I. Regel und Witz der Moral ......................................................................................... 209 § 1. Einleitung ......................................................................................................... 209 § 2. Normative Strukturen der Moral ................................................................ 210 § 3. Fehldeutungen normativer Strukturen der Moral ................................... 212 § 4. Funktionalistische Ethik ............................................................................... 213 § 5. Autonomistische Ethik ................................................................................. 216 § 6. Normative Doppelstrukturen: Regelsystem vs. Praxis .......................... 216 § 7. Zum Gegenstand moralischer Urteile ....................................................... 218
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a. Gibt es moralisch schlechte Handlungen? ............................................ 219 b. Handlung vs. Handeln .............................................................................. 219 § 8. Ist die Moral eine Praxis? ............................................................................. 221 a. Gibt es konstitutive Regeln der Moral? .................................................. 224 b. Begründung und funktionale Einbettung .............................................. 225 c. Inwiefern sind positive Wirkungen der Moral wesentlich? ................ 227 d. Inwiefern erreicht nur die Tugend das Telos der Moral? ................... 230 § 9. Einheit der Tugenden? .................................................................................. 232 § 10. Zusammenfassung ....................................................................................... 236 Fazit und Ausblick .......................................................................................................... 238 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 241 Register ............................................................................................................................. 247
Einleitung Der Begriff der Regel hat die analytische Philosophie in den letzten Jahrzehnten stark beschäftigt. Das hat mindestens zwei Gründe: Erstens haben Rawls, Searle und eine Vielzahl weiterer Autoren die konstitutive Bedeutung von Regeln für Institutionen und Praxen hervorgehoben.1 Zweitens zeigt eine unüberschaubare Menge von Publikationen, wie sich durch Kripkes einflussreiches Buch Wittgenstein on rules and private language2 die Wittgenstein-Rezeption auf das Problem des Regelfolgens konzentriert hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nicht, den unterschiedlichen Diskussionen um den Begriff der Regel im Detail nachzugehen. Vielmehr soll ein für den gesamten Regeldiskurs charakteristisches Versäumnis aufgezeigt werden: Weder die Analyse konstitutiver Regeln noch die des Regelfolgens berücksichtigt den Witz, d. h. die Pointe einer Regel oder eines Regelsystems. Philosophen unterscheiden häufig mindestens zwei Arten von Regeln; terminologisch hat sich dabei Searles Benennung von regulativen und konstitutiven Regeln weitgehend durchgesetzt. Besonders die sogenannten konstitutiven Regeln, die sowohl sinn- als auch gegenstandskonstitutiv sein sollen, werden in der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht. Die Implikationen einer konstitutiv-regelbasierten Praxiskonzeption sind weitreichend: Wenn Praxen (wie etwa Mathematik, Sprache und Moral) durch Regeln konstituiert werden, sollte sich das Wesen dieser Praxen anhand konstitutiver Regeln bestimmen lassen. Diese Sichtweise übersieht aber, dass eine Praxis nicht nur Regeln hat, sondern auch einen Witz. Ein Regelsystem kann letztlich nur unter Berücksichtigung seiner funktionalen Einbettung in das menschliche Leben eine Praxis _____________ 1 Vgl. J. Searle: How to derive ›ought‹ from ›is‹. In: The Philosophical Review, Vol. 73, No. 1. (Jan., 1964), S. 43−58. Vgl. auch: J. Searle: Speech Acts. Cambridge 1969 und J. Rawls: Two concepts of rules. In: The Philosophical Review, Vol. 64, No. 1 (Jan., 1955), S. 3−32. Weitere Analysen finden sich u.a. in M. Black: Models and Metaphors. New York 1962; H.L.A. Hart: The concept of law. Oxford 1997; J. Raz: Practical Reasons and Norms. Princeton 1990; G.H. von Wright: Explanation and Understanding. London 1971. 2 S. Kripke: Wittgenstein on rules and private language. Oxford 1982.
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Einleitung
konstituieren; diese Einbettung bestimmt wesentlich die Pointe bzw. den Witz der Praxis. In der vorliegenden Untersuchung soll daher gezeigt werden, inwiefern der Witz erstens konstitutiv für eine Praxis ist, zweitens, inwiefern er das Telos einer Praxis darstellt, und drittens, warum eine Praxis trotz ihrer teleologischen Struktur nicht durch ihr Telos begründet werden kann. Vor diesem Hintergrund werden in den Teilen II-IV konkrete Praxen (Mathematik, Sprache und Moral) unter den Gesichtspunkten Regel und Witz beschrieben. Mit Ausnahme von Teil IV konzentriere ich mich dabei im Wesentlichen auf Wittgensteins Werk. Gleichwohl soll, jenseits exegetischer Fragen, allgemein gezeigt werden, dass und wie die Beschreibungsformen Regel und Witz dazu beitragen, menschliche Praxen und Institutionen besser zu verstehen und adäquat zu beschreiben. Eine kurze Darstellung des Grundgedankens der Arbeit mag den Einstieg in die Lektüre erleichtern: In der Mathematik lassen sich falsche Rechnungen nicht mit der Erwünschtheit des Ergebnisses rechtfertigen; Sprache lässt sich nicht durch ihre Wirkungen erklären; und in der Moral ist schlechtes Handeln im Allgemeinen nicht durch das Eintreten günstiger Folgen zu rechtfertigen. Die Mathematik, die Sprache und die Moral sind in diesem Sinne begründungs-autonom, d. h., sie sind hinsichtlich ihrer Rechtfertigung oder Begründung keinen Zwecken verpflichtet. Doch trotz dieser Begründungs-Autonomie erhalten die genannten Praxen nur durch ihre funktionale Einbettung ins menschliche Leben einen praxisspezifischen Sinn: ein Zeichensystem, ähnlich unserer Mathematik, das nur als Tapetenmuster verwendet wird, ist keine Mathematik. Die Produktion von Lauten und die Verwendung von Zeichen (wie regelhaft auch immer) ist keine Sprache, wenn die Zeichenverwendung keine außersprachliche Funktion hat. Und schließlich konstituieren Regeln, die nicht zum menschlichen Gedeihen beitragen sollen, keine Moral. Obwohl die Funktion der konstitutiven Regeln nicht zur Begründung der jeweiligen Praxis herangezogen werden kann, bestimmt die funktionale Einbettung den Witz einer Praxis, und das heißt auch: ihren Sinn. Eine Praxis ist insofern begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom; und aus diesem Grund lässt sich eine Praxis nur unter Berücksichtigung von Regel und Witz adäquat beschreiben. Beginnen werde ich im Folgenden mit einer kurzen kritischen Würdigung der Arbeiten Rawls‘ und Searles. Während in der Auseinandersetzung mit Rawls vor allem die Begründungs-Autonomie einer Praxis hervorgehoben wird, konzentriert sich die Darstellung der Searleschen Position auf den Aspekt der funktionalen Einbettung einer Praxis.
I Regel und Witz in Wittgensteins Spätphilosophie
I. Konstitution durch Regeln? § 1. Rawls: Two Concepts of Rules Rawls geht in seiner Analyse des Regelbegriffs von dem Befund aus, dass sich eine Handlung innerhalb einer Praxis, die er als ein System von Regeln auffasst,1 nicht in gleicher Weise rechtfertigen lasse wie die Praxis selbst. Er verdeutlicht dies am Beispiel der Strafe: Wenn A eine Bank überfällt, ist das im Allgemeinen ein Grund, A zu bestrafen. Dahingegen liegen die Gründe, warum man überhaupt straft und warum es die Institution der Strafe gibt, wohl eher im Schutz der Gesellschaft oder in der abschreckenden Wirkung der Strafe.2 Während sich die Institution der Strafe durch Zwecke rechtfertigen lässt, sind diese Zwecke für die Rechtfertigung einer Handlung innerhalb der Institution irrelevant: A wird nicht bestraft, um abzuschrecken, sondern weil er gestohlen hat. Die Verschiedenheit der Rechtfertigungen führt Rawls in seiner Analyse auf zwei Arten von Regeln zurück: Dabei unterscheidet er zwischen summary view und practice conception. a. Summary View Ein Beispiel, an dem sich die summary view illustrieren lässt, ist die Regel »Weiche Eier kocht man drei Minuten«.3 Der Sinn dieser Regel besteht darin, dass ihre Befolgung üblicherweise ein zufrieden stellendes Ergebnis (nämlich weiche Eier) hervorbringt. Daher kann man Kritik an der Nichtbeachtung dieser Regel mit dem Hinweis auf das noch ausstehende Ergebnis zurückweisen. Anders gesagt: Wegen der wesentlichen Er_____________ 1 Rawls, 1955, S. 24: »In a practice there are rules setting up offices, specifying certain forms of action appropriate to various offices, establishing penalties for the breach of the rules, and so on.« S. 25: »To engage in a practice, to perform those actions specified by a practice, means to follow the appropriate rules.« S. 26: »[…] rules are pictured as defining a practice.« 2 Vgl. Rawls, 1955, S. 5. Ob das wirklich gute Begründungen sind, kann nun dahingestellt bleiben, da es hier nur auf die Art der Rechtfertigung ankommen soll. 3 Ich entlehne das Beispiel aus Wittgensteins BT, 236.
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Regel und Witz in Wittgensteins Spätphilosophie
gebnisorientierung dieser Regel ist es möglich, eine Wirkung als Grund anzugeben.4 Regeln im Sinne der summary view definieren daher keine Handlung: weiche Eier zu kochen, bedeutet nicht, sie drei Minuten in heißes Wasser zu legen. Sowohl die Handlungen, die zum gewünschten Ergebnis führen, als auch das Ergebnis selbst lassen sich ohne Bezugnahme auf die Regel »Weiche Eier kocht man drei Minuten« beschreiben. Aus diesem Grund sind die Handlungen im Fall der summary view den Regeln logisch vorgeordnet (»logically prior«5) und die Regeln sind wesentlich durch Erfahrungs- und Wahrscheinlichkeitswerte begründet. b. Practice Conception Regeln, die eine Handlung definieren, fallen bei Rawls unter die practice conception; diese Regeln haben logischen Vorrang vor den Handlungen. Handlungen gemäß den Regeln der practice conception zu vollziehen, heißt laut Rawls nichts anderes als bestimmten Regeln zu folgen. Wittgenstein nimmt die von Rawls getroffene Unterscheidung von summary view und practice conception teilweise vorweg, wenn er schreibt: Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich; und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil ich den Begriff ›Kochen‹ durch den Zweck des Kochens definiert denke, dagegen den Begriff ›Sprache‹ nicht durch den Zweck der Sprache. Wer sich beim Kochen nach andern als den richtigen Regeln richtet kocht schlecht; aber wer sich nach andern Regeln als denen des Schachs richtet, spielt ein anderes Spiel […]. Wenn ich dem Holzblock eine bestimmte Form geben will, so ist der Hieb der richtige, der diese Form erzeugt. Ich nenne aber nicht das Argument das richtige, das die gewünschten Folgen hat. (Pragmatism.) Vielmehr nenne ich die Rechnung falsch, obwohl die Handlungen, die dem Resultat entsprungen sind, zum gewünschten Ende geführt haben.6
Das Beispiel des Rechnens kann Rawls‘ practice conception veranschaulichen: Da die Rechenregeln einen eigenen Handlungsbereich konstituieren, besteht das Handeln in diesem Bereich wesentlich im Befolgen von Regeln, und daher ist die Befolgung der Regeln im Sinne der practice conception nicht in gleicher Weise zweckorientiert wie die Befolgung der Regeln der summary view. _____________ 4 Vgl. dazu auch BT, 235 und PG, 185. 5 Rawls, 1955, S. 22. 6 PG, 184f.
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c. Inwiefern lässt sich eine Praxis begründen? Rawls geht davon aus, dass sich eine Handlung innerhalb einer Praxis nicht in gleicher Weise begründen lasse wie die Praxis selbst. Dieser Unterschied werde häufig übersehen, weil Philosophen dazu tendierten, alle Regeln im Sinne der summary view aufzufassen.7 Im Fall der summary view ist der Zweck der Handlung zugleich der Zweck der Regeleinführung und Regelbefolgung. In der practice conception gibt es hingegen zwei Zwecke: einerseits den Zweck der Institution und andererseits den Zweck der Handlungen innerhalb der Institution. Das Beispiel der Strafe kann diesen Punkt verdeutlichen: A wird eingesperrt, weil er eine Straftat begangen hat. Der Zweck dieser Institution ist es, so wollen wir annehmen, andere vor weiteren Verbrechen zu schützen. Die Rechtfertigung einer Handlung innerhalb der Institution Strafe (das Einsperren As aufgrund seines Verbrechens) ist hier zu unterscheiden von der Rechtfertigung der Institution selbst (das Bestrafen zum Schutz der Allgemeinheit). Rawls scheint allerdings zu übersehen, dass es für eine Institution (zumindest wenn man sie im Sinne der practice conception auffasst) keine rein zweckrationale Begründung geben kann. Es ist diesen Regeln in gewisser Weise wesentlich, zwecklos zu sein. Nehmen wir zur Verdeutlichung an, die erwähnte Kochregel für weiche Eier wäre eine Institution im Sinne der practice conception. Man würde also sagen, weiche Eier zu kochen heißt, sie drei Minuten in siedendes Wasser zu legen. Rawls zufolge könnten wir die Institution ›weiche Eier kochen‹ dann dadurch rechtfertigen, dass sie im Allgemeinen weiche Eier garantiert; eine Handlung innerhalb der Institution ›weiche Eier kochen‹ wäre allerdings nicht mehr durch den Hinweis auf das Ergebnis zu rechtfertigen, sondern nur noch durch die Regel »Weiche Eier kocht man drei Minuten«. Wenn aber unser eigentliches Interesse darin liegt, Eier einer bestimmten Konsistenz zu erhalten, und wenn wir die kausale Verbindung zwischen der Konsistenz des Eies und der Dauer des Kochens kennen, wozu brauchen wir dann noch eine Institution im Sinne der practice conception? Soweit ich sehe, brauchen wir sie dann gar nicht: Der klar(!) bestimmbare Zweck untergräbt den Sinn der Regeln der practice conception. Das gilt auch für das Beispiel der Strafe: Wenn es eine zweck-orientierte Begründung der Institution8 Strafe gäbe, müsste diese Begründung auch für die Rechtfertigung des Handelns innerhalb der Institution unmittelbar von Bedeutung sein. Man könnte dann in jedem Fall fragen, inwie_____________ 7 Vgl. Rawls, 1955, S. 29f. 8 ›Institution‹ meint hier: Regelsystem im Sinne der practice conception.
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fern die Bestrafung des Delinquenten tatsächlich den Zweck der Abschreckung oder den des Schutzes Unschuldiger erfüllt. Damit soll nicht gesagt sein, dass die genannten Funktionen überhaupt keine Rolle für die Institution der Strafe spielen – sie können nur nicht als Begründung der Strafe dienen. Rawls fasst die Institution Strafe als practice conception auf.9 Ob das richtig ist, muss hier nicht näher geprüft werden, denn wenn es sich um Regeln im Sinne der practice conception handelt, lassen die Regeln sich durch Zwecke nicht begründen und die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung einer Handlung innerhalb der Praxis und der Rechtfertigung der Praxis selbst ist hinfällig. Sollte die Strafe aber keine Praxis sein, dann sind die Bestrafungsregeln Regeln im Sinne der summary view und die Begründung einer Handlung innerhalb der Institution und die Begründung der Institution selbst liegen auf derselben Ebene. Wie immer man die Institution der Strafe begründet, diese Begründung wird stets auch die Rechtfertigung dafür sein müssen, warum im Einzelfall bestraft wird. Denn auf die Frage, warum man A einsperrt, wenn er eine Bank ausraubt, kann man nun nicht antworten: Das nennt man eben ›Bestrafen‹. Vielmehr wird man nachweisen müssen, inwiefern das Einsperren As tatsächlich seinen Zweck (z. B. den Schutz Unschuldiger) erfüllt. Vielleicht hat A das Geld nur aufgrund einer finanziellen Notlage geraubt und ein Lottogewinn hat dieses Problem längst gelöst. Obwohl A also keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt, ist der Lottogewinn im Allgemeinen kein Entlassungsgrund. A bleibt im Gefängnis, weil er eine Bank überfallen hat – und zwar unabhängig von den Zwecken der Gefängnisstrafe. Ein analoges Beispiel mag diesen Punkt noch stärker konturieren: Eine falsche mathematische Rechnung ist nicht dadurch zu rechtfertigen, dass sie irgendwelchen Zwecken in besonders guter Weise dient. Gleichwohl hat die Institution des Rechnens unterschiedliche Funktionen: Man berechnet etwa »Dampfkessel und überläßt ihre Wandstärke nicht dem Zufall«.10 Man tut das, obwohl es eine bloße Erfahrungstatsache ist, dass Kessel, die gemäß einer bestimmten Technik berechnet wurden, seltener explodieren als solche, deren Stärke bloß geschätzt wurde. Eine Kesselexplosion kann eine richtige Rechnung aber nicht nachträglich falsifizieren – gerade so, wie das Halten des Kessels die Rechnung nicht rechtfertigt oder begründet. Gleichwohl rechnet man, damit der Kessel halten möge. Man rechnet also um eines Zieles willen, ohne dieses Ziel zum Kriterium der Richtigkeit zu machen. _____________ 9 Vgl. Rawls, 1955, S. 31. 10 PU, 466.
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Der Witz des Rechnens besteht unter anderem darin, dass Kessel, die richtig (d. h. gemäß den Regeln der Mathematik) berechnet wurden, im Allgemeinen besser halten als solche, die falsch berechnet wurden. Das Kriterium der Richtigkeit ist allerdings nicht das Halten des Kessels, und daher hat der Zweck des Rechnens keine begründende Funktion für die Institution des Rechnens. Zwar spielen die Regeln der practice conception eine Rolle in unserem Leben. Aber sie können nicht durch einen Zweck gerechtfertigt werden. Daher ist eine Praxis begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom, d. h., die funktionale Einbettung begründet keine Praxis, sondern bestimmt ihren Sinn.11
§ 2. Searle: regulative und konstitutive Regeln Searle, der zwischen regulativen und konstitutiven Regeln unterscheidet, findet den Ausgangspunkt seiner Differenzierung in der Feststellung, dass manche Tatsachen die Existenz einer Institution voraussetzen. Anscombe12 folgend nennt er z. B. die Tatsache, dass jemand ein grün gefärbtes Stück Papier in der Hand hält, ein »brute fact«, die Tatsache, dass er damit unter Umständen fünf Dollar besitzt, ein »institutional fact«13. Das Stück Papier ist nur unter der Voraussetzung der Institution Geld eine Banknote. Unter ›Institution‹ versteht Searle dabei ein System konstitutiver Regeln.14 Diese Regeln grenzt er gegen regulative Regeln ab. »Regulative rules regulate activities whose existence is independent of the rules; constitutive rules constitute (and also regulate) forms of activity whose existence is logically dependent on the rules.«15 Searle be_____________ 11 Interessant ist Wittgensteins Kommentar zu diesem Beispiel: »Aber so, wie [der Mensch] alles eher täte, als die Hand ins Feuer stecken, das ihn früher gebrannt hat, so wird er alles eher tun, als den Kessel nicht berechnen« (PU, 466). Verhaltensweisen werden oftmals mit völliger Sicherheit ausgeführt, ohne dass es dabei einer Induktionsbasis bedürfte. Diese Verhaltensweisen sind insofern auch keiner Begründung (im Sinne einer Vergewisserung) zugänglich. Dennoch bestimmt der Kontext des jeweiligen Handlungsmusters den Sinn desselben. Zum Thema Gewissheit vgl. insb. Teil III, ›Mooresche Sätze‹. 12 G.E.M. Anscombe: On brute facts. In: Analysis, Vol. 18, No. 3 (1958), S. 69െ72. 13 Searle, 1964, S. 55. Vgl. auch Searle, 1969, S. 50ff., sowie J. Searle: The construction of social reality. New York and London 1995, S. 27െ29. 14 Vgl. Searle, 1969, S. 51. 15 Searle, 1969, S. 55. Eine Formel zur Bestimmung konstitutiver Regeln findet Searle im Ausdruck »X counts as Y in context C«. Vgl. Searle, 1995, S. 28.
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tont, wie Rawls, die logische Abhängigkeit bestimmter Handlungen von konstitutiven Regeln. Den Unterschied von regulativen und konstitutiven Regeln illustriert er am Beispiel des Spiels: »The rules of football or chess, for example, do not merely regulate playing football or chess, but as it were create the very possibility of playing such games.«16 Searle zufolge bedeutet Schach zu spielen, konstitutiven Regeln zu folgen, da diese Regeln das Spiel definieren. Konstitutive Regeln sind zweifelsohne wichtige Elemente einer Praxis. Dennoch ist es fraglich, ob durch die Regeln das Wesentliche einer Praxis hinreichend erfasst werden kann, da ein Regelsystem nicht seinen eigenen Witz oder Sinn konstituieren kann. Konzentrieren wir uns zur Verdeutlichung auf ein Beispiel: Was Fußball ist, wird man vielleicht auf folgende Weise erklären: Fußball ist ein Ballspiel. Zwei Mannschaften zu je elf Spielern spielen gegeneinander. Der Ball darf mit allen Körperteilen, außer mit den Händen und Armen, berührt werden. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball in das Tor des Gegners zu schießen und Gegentore zu verhindern. Gewonnen hat, wer die meisten Tore erzielt. – In dieser Darstellung übersieht man leicht, dass Regeln zwar ein Spiel als Fußball (im Gegensatz zu Handball, Schach, etc.) konstituieren können, dass sie aber nicht Fußball als Spiel (im Gegensatz zu einem Ritus) definieren können. Die Regeln konstituieren ein Spiel, niemals jedoch das Spiel.17 Wie wäre es z. B., wenn dieses ›Spiel‹ nur einmal im Jahr gespielt würde und zwar gerade zur Sommersonnenwende. Man bringt die Spieler ein Jahr lang im sogenannten Spielerseminar unter, wo sie sich läutern sollen. Wer einmal an diesem Spiel teilgenommen hat, muss den Zölibat befolgen. Während des Spiels herrscht bei den Zuschauern angespannte Stille, allein sich zu räuspern ist verpönt. Es spielt immer Schwarz gegen Weiß. Wenn Schwarz gewinnt, opfert man die Hälfte des Getreides, wenn Weiß gewinnt, die Hälfte des Viehs. Zudem werden die Gewinner ihr Leben lang gepriesen, die Verlierer aber versklavt. Kommt es zum Unentschieden, werden die Spieler selbst geopfert. Die erlaubten und nicht erlaubten Verhaltensweisen, d. h. die konstitutiven Regeln im Sinne Searles, können im Fußballspiel und im Fußballritus identisch sein. Und dennoch würde man im letzten Fall nicht von einem Spiel sprechen. Man könnte diesem Beispiel entgegenhalten, dass die konstitutiven Regeln schlicht zu eng gefasst wurden. Als es darum ging zu bestimmen, _____________ 16 Searle, 1969, S. 35. 17 Vgl. dazu H. Schwyzer: Rules and practices. In: The Philosophical Review. Vol. 78, No. 4 (1969), S. 451െ467. Vgl. auch WWK, 124: »Durch Erlaubnis und Verbot kann ich immer nur ein Spiel bestimmen, aber nie das Spiel.«
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welche Regeln das Fußballspiel konstituieren, wurde ja auch festgelegt, dass Fußball ein Spiel ist. In diesem Sinne äußert sich Searle: When I say that playing, e.g. chess, consists in acting in accordance with the rules, I intend to include far more than just those rules that state the possible moves of the pieces. One could be following those rules and still not be playing chess, if for example the moves were made as part of a religious ceremony, or if the moves of chess were incorporated into some larger, more complex, game. In the notion of »acting in accordance with the rules«, I intend to include the rules that make clear the ›aim of the game‹.18
Ein Ziel des Fußballs ist das Erzielen von Toren; dieses Ziel ist durch die konstitutiven Regeln vorgegeben. Jedoch reicht dieses Ziel ja nicht aus, um das Spiel vom Ritus zu unterscheiden, da dieses Ziel ja auch im Ritus verfolgt wird. Ein anderes Ziel des Spiels ist die Unterhaltung. Dieses Telos scheint eher dazu geeignet, zwischen Spiel und Ritus zu unterscheiden. Schließlich sind die Konsequenzen des Fußballritus wohl zu ernst, um der bloßen Unterhaltung zu dienen. – Tatsächlich ist die Unterhaltung konstitutiv für das Spiel, allerdings nicht als Regel; es ist keine konstitutive Regel des Spiels, unterhaltsam zu sein (schließlich gibt es auch langweilige Spielpartien), und dennoch bestimmt die Funktion der Unterhaltung den Sinn des Spiels. Daher kann es nicht dasselbe sein, den konstitutiven Regeln eines Spiels zu folgen und ein Spiel zu spielen. Wenn man hier überhaupt von einer Regel sprechen will, dann von einer teleologischen: Das Spiel soll (im Gegensatz zum Ritus) unterhaltsam sein. Dieses Telos kann ein Spiel (d. h. eine Partie) verfehlen, ohne seinen Status als Spiel zu verlieren – dennoch hat das Telos eine konstitutive Funktion. Diesen Punkt werde ich in Kapitel IV. (»Der Witz in Wittgensteins Spätphilosophie«) eingehend diskutieren. Kurz zusammengefasst: In einer Praxis gibt es wesentliche und unwesentliche Regeln. Diese Gewichtung der Regeln ist von konstitutiver Bedeutung für die jeweilige Praxis. Was eine wesentliche Regel ist, kann aber nicht wiederum durch Regeln bestimmt sein, da man bei diesen Regeln erneut fragen könnte, ob sie denn wesentlich sind, etc. Also muss die Wesentlichkeit einer Regel durch etwas anderes als durch Regeln bestimmt werden. Wenn die Wesentlichkeit einer Regel konstitutiv für eine Praxis ist, kann eine Praxis demnach nicht allein durch Regeln konstituiert werden.
_____________ 18 Searle, 1969, S. 34, (Fußnote).
II. Was heißt es, einer Regel zu folgen? § 1. Regel und Regelanwendung Lehrt man jemanden Schach, nennt man ihm im Allgemeinen die Regeln des Spiels – diese Regeln soll er anwenden. Man erklärt die Regeln an einigen Beispielen, bis er sie schließlich verstanden hat. Die Beispiele sind hier anscheinend bloß von illustrativer Bedeutung. Diese Beschreibung verführt leicht zu einer Fehlinterpretation des Regelfolgens: dass nämlich aus der Kenntnis der Regel ihre Anwendung gleichsam fließt und dass daher Regel und Regelanwendung in einer externen, bloß kausalen Beziehung zueinander stehen. Diese Interpretation ist jedoch im Hinblick auf das logische Verhältnis von Regel und Regelanwendung irreführend. Die Kenntnis der Regeln zeigt sich in nichts anderem als in der richtigen Anwendung. Regel und Regelanwendung sind daher logisch aufeinander bezogen, und das Bild, dass die Anwendung sozusagen aus der Regel fließt, charakterisiert nicht das logische Verhältnis von Regel und Regelanwendung. Das Bild drückt eher das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aus: Man zweifelt oftmals nicht daran, die Regeln zu beherrschen. Wittgenstein meint, man könne nur so »den Vorgang, einer Regel folgen, beschreiben, daß man in anderer Weise beschreibt, was wir dabei tun«1; und in den Philosophischen Untersuchungen fordert er: »Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.«2 Wie ist diese Aufforderung zu verstehen – in welcher Weise soll man beschreiben? Wittgenstein selbst scheint seiner Forderung zu widersprechen: ›Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.‹ D. h.: willst du den Gebrauch des Worts ›Bedeutung‹ verstehen, so sieh nach, was man ›Erklärung der Bedeutung‹ nennt.3
Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich leicht durch einen Hinweis auf die unterschiedlichen Formen des Erklärens auflösen: Wenn Wittgenstein alle Erklärung durch Beschreibung ersetzt wissen will, ist das vor _____________ 1 BGM, 416, (meine Hervorhebung). 2 PU, 109. 3 PU, 560, (meine Hervorhebung).
Was heißt es, einer Regel zu folgen?
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allem eine Abgrenzung zur wissenschaftlichen Methode des Suchens nach Ursachen und Gründen. Wenn er hingegen von der »Erklärung der Bedeutung« spricht, hat diese Erklärung nichts Hypothetisches, sondern lehrt die Bedeutung eines Wortes. Wenn man im Schach auf einen Spielzug verweist, um z. B. die Rochade zu erklären, fordert man dazu auf, eine Situation als Maßstab für analoge Situationen aufzufassen. Man könnte sagen: Insofern ein Satz beschreibt, ist die Wirklichkeit Maßstab für den Satz und insofern er erklärt, ist der Satz Maßstab für die Wirklichkeit. Dabei ist es aber kein Zufall, dass bestimmte Sätze sowohl beschreibend als auch erklärend sein können. Eine Regel (z. B. die Reihe der natürlichen Zahlen) wird entweder durch Beispiele (1, 2, 3, etc.) oder durch einen Regelausdruck (z. B. »n+1«) erklärt. Wenn dieser Regelausdruck wiederum erklärt werden soll, geschieht dies durch Beispiele – das zentrale Element einer Erklärung ist daher letztlich das Beispiel und das erklärende Beispiel ist ein konkreter Fall mit paradigmatischer Funktion. Betrachten wir zur Verdeutlichung nochmals die Rochade: Der Hinweis auf einen Spielzug kann ein Teil einer Spielbeschreibung sein, er kann aber auch als paradigmatisches Beispiel zur Spielerklärung dienen. Wenn Wittgenstein meint, man müsse in bestimmter Weise beschreiben, was es bedeutet, einer Regel zu folgen, so bezieht sich das auf eine beispielhafte Beschreibung, die die Funktion einer Erklärung haben kann.
§ 2. Regelfolgen: Deuten und Verstehen Nehmen wir an, A möchte einem Wegweiser folgen. Um dem Schild zu folgen, muss er es zumindest wahrnehmen;4 doch wie soll er auf den _____________ 4 D. Bloor: Wittgenstein. Rules and Institutions. London 1997, scheint zu weit zu gehen, wenn er fordert, man müsse, um einer Regel zu folgen, die Befolgung beabsichtigen und an das Folgen denken. Er schreibt: »A rule is followed if, and only if, the actors bring about the conformity of their behaviour with the rule by intending to follow it.«, S. 44. Wenig später heißt es: »Thinking you are following a rule is a necessary condition for following a rule.«, S. 51. Bloor stützt sich insbesondere auf folgende Stelle in Wittgensteins BGM, 422: »Man folgt der Regel ›mechanisch‹. Man vergleicht sich also mit einem Mechanismus. ›Mechanisch‹, das heißt: ohne zu denken. Aber ganz ohne zu denken? Ohne nachzudenken.« Durch den Hinweis, dass man Regeln nicht mechanisch folgt, macht Wittgenstein in erster Linie darauf aufmerksam, dass ein Wegweiser nicht Ursache sondern Grund unseres Verhaltens ist: Wenn ein Wegweiser bloß eine kausale Wirkung auf unser Verhalten hätte, unterläge man diesem Einfluss ähnlich wie der Gravitation der Erde. Und
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Regel und Witz in Wittgensteins Spätphilosophie
Wegweiser reagieren? Welchen Grund hat er, in Richtung der Pfeilspitze zu gehen und nicht etwa in die Richtung des Stumpfes? Welchen Grund hat er, sich für die eine Deutung des Schildes zu entscheiden und nicht vielmehr für eine andere? Häufig wird von einer Entscheidung überhaupt nicht die Rede sein können, da einem die Frage nach einer Deutungsmöglichkeit gar nicht in den Sinn kommt. Natürlich gibt es Fälle, in denen man einen Regelausdruck deuten muss, und »deuten« heißt, ein Muster anzuwenden, das die Bedeutung des Ausdrucks erklärt. Wenn man beispielsweise auf einen Wegweiser stößt und nicht weiß, ob man in die Richtung des Stumpfes oder in die Richtung der Spitze gehen soll, kann man dies in einer Anleitung nachlesen. Diese Anleitung muss man aber verstehen, und wenn man sie nicht versteht, sondern mit Hilfe eines anderen Musters erneut deuten muss, muss man eben dieses Muster verstehen. Daher ist das Deuten in gewisser Weise ein Gegenbegriff zum Verstehen: wenn man deuten muss, hat man eben noch nicht verstanden. Das Deuten ist eine Handlung, die das Verständnis hervorbringt. Jedoch setzt das Deuten selbst wiederum das Verständnis der verwendeten Muster voraus – und daher muss es ein Verstehen geben, das nicht das Resultat einer Deutung ist.5 Aus diesem Grund kann der Begriff des Deutens nicht leisten, was er vielleicht prima facie verspricht – nämlich eine adäquate Beschreibung dessen, was es heißt, einer Regel zu folgen. In Wittgensteins Worten: »Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht.«6 Wenn man ein Zeichen deutet, so verlangt dies die Zuhilfenahme eines Musters, dieses Muster muss aber verstanden werden. a. Das ›Regelparadox‹ Doch selbst wenn die Grundlage des Regelfolgens nicht in einem Deuten bestehen kann, bleibt auch für das Verstehen ein Problem: Nehmen _____________ ebenso wenig wie man den Gesetzen der Gravitation folgt, wenn man sich vom Fünf-Meter-Brett ins Wasser stürzt, würde man einem Schild folgen, wenn es lediglich kausal auf unser Verhalten einwirkte. Doch dass der Wegweiser nicht nur Ursache, sondern auch Grund unseres Verhaltens ist, bedeutet nicht, dass man an diesen Grund denken muss. 5 Vgl. PU, 201. 6 PU, 198.
Was heißt es, einer Regel zu folgen?
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wir an, jemand sei n-mal einem Wegweiser gefolgt, und beim n+1-Mal geht er in die Richtung des Pfeilstumpfes. Man weist ihn auf seinen Fehler hin und fordert ihn auf, dem Schild so zu folgen, wie er es immer getan hat. Doch wie, wenn er antwortet, er habe schon immer so gehandelt; nämlich gemäß der Regel: gehe n-mal in die Richtung der Pfeilspitze und ab dem n+1-Mal in die des Pfeilstumpfes? Die Frage ist: Wie lässt sich mit einer endlichen Anzahl von Regelanwendungen die weitere Anwendung der Regel rechtfertigen? Besonders Kripke7 hat dieses Problem forciert. Er sieht in Wittgenstein den Vertreter eines neuen Skeptizismus und bezieht sich in seiner Deutung auf folgende Textstelle: »Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei.«8 Kripke verdeutlicht seinen Punkt am Beispiel der Addition: Man lernt das Addieren durch eine endliche Anzahl von Beispielrechnungen. Ein Ziel des Unterrichts ist es, eine Regel zu vermitteln, die gewährleisten soll, dass der Schüler beliebig viele Rechnungen selbständig vollziehen kann.9 Weil das Rechnen aber an Beispielen gelehrt wird, folgt, dass es Rechnungen gibt, die der Lernende bisher noch nicht gerechnet hat. Nehmen wir an, der Schüler habe bisher nur mit Zahlen 2, sondern nur für 2pn finden wird, wenn man nur lange genug sucht. Untersuchen wir zur Verdeutlichung nochmals das Tangram: Abb. 2 zeigt die Lösung für die Konstruktion eines Quadrats. Natürlich sagt das Bild nichts darüber aus, ob sich die Teile des Spiels faktisch so zusammenfügen lassen; selbst wenn irgendwelche verrückten Gründe das Zusammenlegen der Teile faktisch verunmöglichten, wäre das Bild mathematisch von Interesse. Interessant ist die Lösung in Abb. 2, weil sie eine begriffliche Beziehung zwischen einem Quadrat und den Regeln des Tangrams herstellt. In ähnlicher Weise hat auch ein Mathematiker am Ende eines Beweises wohl vor allem ein gleichsam ästhetisches, auf die Form bezogenes Interesse an seinem Beweis – und zwar unabhängig von irgendwelchen außer-mathematischen Anwendungsmöglichkeiten des Beweises. Gleichwohl ist der Mathematik ihre Einbettung in außermathematische Schlüsse wesentlich. Das Spiel Tangram wäre auch bloß auf einem Blatt Papier, d. h. ohne die Möglichkeit des Zusammenlegens der Teile, denkbar. Aber: Insofern die Mathematik eben nicht nur ein Spiel mit Zeichen ist, hängt der Sinn ihrer Begriffsbildung von der Möglichkeit der außer-mathematischen Anwendung ab. Allerdings ist selbst im Fall des Tangrams nicht klar, inwiefern unser Interesse an bestimmten Lösungen nicht doch auch von Fakten bestimmt wird, die jenseits des Spiels liegen. Denn wie wäre es etwa, wenn wir keinen Begriff vom Zusammenlegen von Teilen hätten? Der Sinn des Bildes in Abb. 2 wäre dann unklar.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
§ 4. Mathematische Falsifikation? Der naturwissenschaftliche Beweis belegt die Wahrheit oder Falschheit von Hypothesen: Die These, dass es in der Tiefsee kein Leben gibt, wird z. B. durch entsprechendes Bildmaterial nfalsifiziert. Ebenso wird Fermats n Vermutung, 22 +1 sei prim, durch 22 +1=4294967297=641×6700417 anscheinend falsifiziert. Dagegen wurde Fermats Satz, dass es keine ganzzahlige Lösung für an+bn=cn für n>2 gibt, von Wiles bewiesen. Die Ansicht, dass der mathematische Beweis nicht den Sinn, sondern den Wahrheitswert eines mathematischen Satzes bestimmt, erscheint unter anderem deshalb so plausibel, weiln ein unbewiesener mathematischer Satz anscheinend falsifizierbar ist: 22 +1=4294967297=641×6700417 ist n keine Primzahl und die Vermutung, 22 +1 sei immer prim, daher falsch.12 Was heißt es aber, einen mathematischen Satz durch ein Gegenbeispiel zu falsifizieren? Da der mathematische Satz überhaupt nichts beschreibt, beschreibt er natürlich auch keine Allgemeinheit. Und wenn er keine Allgemeinheit beschreibt, kann er auch nicht durch einen Einzelfall falsifiziert werden. Die Falsifikation eines mathematischen Satzes muss daher von gänzlich anderer Art sein als die Falsifikation eines naturwissenschaftlichen Satzes. Daher meint Wittgenstein: Der besondere Fall widerlegt den allgemeinen Satz von innen heraus nicht auf externe Weise. Er wendet sich gegen den internen Beweis des Satzes und widerlegt ihn nicht wie die Existenz eines einäugigen Menschen den Satz »alle Menschen haben zwei Augen« widerlegt.13
Der Vergleich mit einer naturwissenschaftlichen Behauptung ist hier durchaus instruktiv: Wenn jemand annimmt, dass alle Menschen zwei Augen haben, so wird diese Annahme durch die Existenz eines einäugin 14 Wird »22 +1 ist eine Primzahl« nicht in gleigen Menschen falsifiziert. n cher Weise durch 22 +1=4294967297=641×6700417 falsifiziert? Und 2n zeigt diese ›Falsifikation‹ nicht, dass der Satz »2 +1 ist eine Primzahl« n aussagt, 22 +1=4294967297=641×6700417 könne es nicht geben? _____________ 12 Vgl. zu diesem Beispiel: A. Ambrose: Self-Contradictory Suppositions. In: Dies.: Essays in Analysis. London 1966, S. 26. 13 Ms 106, 113. 14 Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wurde vor dem Hintergrund der Analysen M. Thompsons dargestellt, inwiefern Sätze wie »Menschen haben zwei Augen« als teleologische Sätze aufzufassen sind. Hier soll es nun aber um die empirische Behauptung gehen, dass alle Menschen zwei Augen haben.
Was ist ein mathematischer Beweis?
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n
Der Sinn des Satzes »22 +1 ist eine Primzahl« ist aber (wie auch der unbewiesene Satz, es gebe keine größte Primzahl) noch unterbestimmt. Die mathematische Falsifikation muss daher in erster Linie eine Sinnbestimmung leisten. Bemühen wir zur Verdeutlichung wiederum zuerst das Tangram: Wie kann die Vermutung, dass im Tangram kein Quadrat konstruierbar ist, falsifiziert werden? Beispielsweise durch Abb. 2: Das Bild zeigt, dass sich aus den Teilen des Tangrams ein Quadrat bilden lässt. Aber: Das Bild zeigt auch, wie sich ein Quadrat bilden lässt – und dies ließ sich vorher ja nicht beschreiben. Die Annahme, dass sich kein Quadrat konstruieren lässt, wird also einerseits durch die Konstruktion des Quadrats falsifiziert – denn schließlich ist Abb. 2 ja nichts anderes als das Bild eines Quadrats. Andererseits ist der Begriff der Konstruktion eines Quadrats ohne Beweis noch unterbestimmt, da sich ja nicht erklären lässt, wie eine solche Konstruktion aussehen könnte. 2n Ähnlich verhält es sich im Fall von 2 +1. Wenn der Sinn des Satzes: n »für alle n gilt: 22 +1 ist eine Primzahl«, unklar ist, dann wird ein Gegenbeispiel natürlich nichts falsifizieren. Aber kann nicht wenigstens die n Behauptung, dass 22 +1 eine Primzahl ist, als falsifiziert gelten? Wien im Fall des Tangrams könnte man sagen: Ja und nein! Ja, insofern 22n+1 keine Primzahl ist. Nein, insofern es einer Erklärung bedarf, wie 22 +1 keine Primzahl ist.
§ 5. Versteht man einen mathematischen Satz nur, wenn man den Beweis des Satzes kennt? Wenn der mathematische Beweis den Sinn und nicht den Wahrheitswert eines Satzes bestimmt, dürfte nur derjenige den mathematischen Satz verstehen, der auch den Beweis des Satzes kennt. Das scheint prima facie kaum plausibel. Denn erstens lernen Kinder in der Schule (und zwar nicht nur in der Grundschule) zu rechnen, ohne dass man sie mit mathematischen Beweisen belasten würde, und zweitens verwendet man Rechnungen und Formeln sehr häufig, ohne sich auch nur im Geringsten um deren Beweise zu kümmern. Der Sinn des mathematischen Satzes scheint daher, ähnlich wie der Sinn des naturwissenschaftlichen Satzes, von seinem Beweis unabhängig. Betrachten wir, um hier etwas klarer zu sehen, wieder das Tangram und nehmen wir an, jemand konstruiere vor unseren Augen ein Quadrat wie in Abb. 2, doch bevor wir sehen, wie die Figur zusammengesetzt ist, zerstört er das Bild wieder. Wir wissen dann, dass sich ein Quadrat konstruieren lässt, ohne aber zu wissen wie. Allerdings besteht der Sinn des Tangrams, im Gegensatz zum Geschicklichkeitsspiel, im Auffinden einer
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
neuen Beschreibung und nicht im faktischen Hinlegen der Holzfiguren. Wenn man weiß, dass es eine Konstruktion gibt, ohne aber zu wissen, wie sie aussieht, dann ist das gerade so, wie wenn man weiß, dass es eine Erklärung gibt, ohne aber zu wissen, wie sie lautet. – Ich weiß z. B., dass ›constipação‹ ein portugiesisches Wort ist, obwohl ich im Moment nicht sagen kann, was es bedeutet; ich weiß, dass es ein Substantiv ist und dass es irgendetwas mit Krankheit zu tun hat. Anwenden kann ich das Wort aber nicht. Man versteht ein Wort nicht, wenn man weiß, dass es eine Erklärung gibt, sondern nur, wenn man weiß, wie die Erklärung15 lautet. a. Vergewisserungs- und Sinngebungsbeweis Es gibt Beweise, die vor allem der Vergewisserung dienen. Naturwissenschaftliche Beweise sind im Allgemeinen von dieser Art – sie versichern der Wahrheit bestimmter Thesen. Damit sie das können, muss der Sinn der These allerdings bestimmt sein. Anders gesagt: Naturwissenschaftliche Beweise versichern uns nicht des Sinns einer Beschreibung, sondern der Existenz dessen, was durch den Satz beschrieben wird. Nehmen wir an, es gäbe Menschen, die ausschließlich mit Rechenmaschinen rechnen würden; sie würden die Ergebnisse dieser Maschinen aber so verwenden, wie wir die Ergebnisse unserer Rechnungen. Von der Rechentechnik selbst wissen sie aber nichts:16 Sie geben 234×437 in die Maschine ein und erhalten 102258. Die Rechenmaschinen – d. h. die im Verborgenen ablaufenden Prozesse – können dem Satz 234×437= 102258 nicht seinen Sinn geben. Gleichwohl kann die Maschine die Funktion der Vergewisserung erfüllen: jemand könnte vermuten, die Maschine werde die Aufgabe 234×437 mit 102258 beantworten, und die Maschine würde ihm seine Vermutung wohl bestätigen. Wenn der mathematische Beweis und auch die Rechnung aber nicht nur der Vergewisserung dienen, sondern den Sinn eines mathematischen Satzes bestimmen, dann können die ›mathematischen Sätze‹ dieser Menschen nicht den gleichen Sinn haben wie die unsrigen. D. h., ihre Anwendung der mathematischen Sätze muss in irgendeiner Weise von der unsrigen abweichen. Denn wenn der Beweis den Sinn eines mathematischen Satzes bestimmt, dann muss der Beweis auch von unmittelbarer Relevanz für die Anwendung des jeweiligen Satzes sein. _____________ 15 ›Erklärung‹ heißt hier natürlich nicht ›Definition‹. Auch das Nennen von Beispielen kann hinreichend sein. 16 Vgl. BGM, 258.
Was ist ein mathematischer Beweis?
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Betrachten wir nochmals das Tangram. Nehmen wir an, es gäbe eine Maschine, die aus den Teilen des Tangrams die gewünschte Figur bildet – z. B. ein Quadrat wie in Abb. 7a. a)
b)
Abb. 7
Dass dieses Quadrat nach dem Vorbild von Abb. 7b hergestellt wurde, wissen sie nicht. Was fehlt diesen Menschen im Vergleich zu uns? Ist Abb. 7b nur das mechanische Innenleben von Abb. 7a? Wenn dem so wäre, fehlte diesen Menschen bloß eine Art von Wissen um die Mechanik der Figur. Doch offenbar fehlen diesen Menschen im Vergleich zu uns auch Begriffe: Mit Abb. 7b schlagen wir eine begriffliche Brücke zwischen Abb. 7a, d. h. einem Quadrat, und den Regeln des Tangrams: Ein Quadrat ist so zusammengesetzt. Aber was ist die Relevanz dieser begrifflichen Verbindung? Dass wir, erstens, über diese Art der Zusammenstellung sprechen können und, zweitens, dass wir die Teile auch ohne die Maschine zusammensetzen können. Aber könnte man nicht festlegen, dass es die Funktion der Maschine sei, aus den sieben Teilen des Tangrams ein Quadrat zu machen? Und insofern man nun das Ergebnis als Kriterium des richtigen Ablaufs betrachtet und von einer defekten Maschine sprechen kann, hat man ebenfalls einen neuen Begriff angenommen. Der neue Begriff ist allerdings der Begriff eines Mechanismus. Wir hingegen ändern den Begriff des Quadrats. Aber tun diese Menschen das nicht auch, wenn sie sagen: »Ein Quadrat ist etwas, was diese Maschine aus den sieben Teilen des Tangrams herstellt«? Später werde ich versuchen, einen Unterschied zwischen der Gewissheit (z. B., dass die Maschine ein Quadrat bildet) und der Begriffsbildung (z. B., dass ein Quadrat aus den Teilen des Tangrams gebildet werden kann) hervorzuheben. Doch unabhängig davon dürfte klar sein, dass, selbst wenn sie den Begriff des Quadrats ändern, ihre Begriffsänderung eine andere ist als die unsrige. Denn von der Zusammenstellung des Quadrats aus den sieben Teilen des Tangrams können sie noch nicht einmal sprechen. Ebenso verhält es sich beim Rechnen: Natürlich können die Menschen mit den Rechenmaschinen lernen, die Ergebnisse der Maschine so zu verwenden, wie wir die Ergebnisse unserer Rechnungen. Gleichwohl fehlen ihnen Begriffe. Damit der Beweis (oder auch die Rechnung)
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
den Sinn eines Satzes bestimmen kann, muss er die Anwendung des zu beweisenden Satzes, bzw. die Rolle, die der Satz in unserer Sprache spielt, bestimmen. Doch inwiefern wird das durch den Beweis gewährleistet? Nehmen wir an, die Menschen mit den Rechenmaschinen hätten keine Übersicht über zwei und zwei, sie hätten sozusagen kein Auge dafür,17 dass zwei Äpfel und zwei weitere Äpfel vier Äpfel ergeben – gerade so, wie wir im Allgemeinen kein Auge dafür haben, dass 17 Äpfel und 26 Äpfel 43 Äpfel ergeben: Wir müssen erst zählen. Ihr Beweis des Satzes 2+2=4 sieht dann vielleicht so aus wie unser Beweis von 17+26=43. Es ist hier wichtig zu sehen, dass der Unterschied zwischen unserer Verwendung des mathematischen Satzes 17+26=43 und der Verwendung desselben Satzes bei diesen Menschen kein Unterschied hinsichtlich der Gewissheit sein muss. Auch diese Menschen können den Satz, den die Maschine ausgibt, als unbedingten Maßstab verwenden. Gleichwohl fehlen ihnen Begriffe, die wir haben. Aber wozu brauchen wir diese Begriffe? Ist es nicht einfach so, dass wir ohne Maschine auskommen, wo diese Menschen eine Maschine benötigen? Das ist einerseits richtig – andererseits können wir von Dingen sprechen, für die diese Menschen keinen sprachlichen Ausdruck haben. b. Lehren aus dem mathematischen Beweis? Doch auch unabhängig vom Problem der Rechenmaschinen interessieren wir uns, sobald wir das Ergebnis einer Aufgabe errechnet haben, häufig nur noch für das Ergebnis. Beinahe so, als sei die Art des Hervorbringens für uns nicht interessanter als das Innenleben eines Mechanismus. Das Gleiche gilt für den mathematischen Beweis: Wichtig erscheint, dass der Satz bewiesen ist, nicht, wie er bewiesen wurde. Wittgenstein selbst ringt mit der Frage, inwieweit der mathematische Satz sich von seinem Beweis emanzipieren kann. Du ziehst aus dem Beweis eine Lehre. Wenn du aus dem Beweis eine Lehre ziehst, so muß ihr Sinn unabhängig sein vom Beweis; denn sonst hätte sie nie vom Beweis getrennt werden können. Ähnlich kann ich die Konstruktionslinien in einer Zeichnung wegziehen und das Übrige stehen lassen.
_____________ 17 D. h. sie identifizieren zwei Gegenstände nicht spontan und kriterienlos.
Was ist ein mathematischer Beweis?
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Es ist also als bestimmte der Beweis den Sinn das bewiesenen Satzes nicht; und doch wieder als bestimmte er ihn.18
Welche Lehre ziehen wir aus einem mathematischen Beweis, bzw. aus einer Rechnung? Was lernen wir z. B. aus Euklids Beweis, dass es keine größte Primzahl gibt? Doch wohl: Dass es keine größte Primzahl gibt. Aber da das nicht heißen kann, dass wir einer Essenz eine Existenz zuordnen, sollte man eher sagen: Der Beweis zeigt, wie es keine größte Primzahl gibt und wie der Satz »Es gibt keine größte Primzahl« zu verstehen ist. Wir gewinnen einen neuen Begriff. Aber was heißt es, aus diesem Begriff eine Lehre zu ziehen? Ich möchte sagen
dies Bild zeigt mir, wie 3×3 9 ergibt. Ist das nun ganz falsch? Denke dir den Beweis (3×3=9) von drei Personen gesprochen. A zählt von 1 bis 9; B immer von 1–3, und C langsam von 1–3. Könnte das nicht Einen dazu bringen, daß er sagte: »Ja, so muß also 3×3 immer 9 ergeben!«? Oder einfach: »Ja, 3×3 ist 9.« – Nicht aber als wäre hier das »ist« zeitlich, oder als meinte es, daß hier 3×3 9 ergeben habe, während es sonst nicht 9 ergibt; sondern nur, es sei jener Vorgang ein Bild, eine Vorlage und der Satz nicht so sehr ein Satz, der beschreibt, was hier geschehen ist, sondern eine Lehre die ich aus dem Gesehenen ziehe, eine Regel die ich mir zu eigen mache. Der Vorgang aber rechtfertigt die Regel indem er sie mit andern Regeln in ein System einreiht und auf ihre Anwendung deutet. Du ziehst aus dem Beweis eine Lehre. Der Beweis ist dazu da, daß er Dich etwas lehre. Der Beweis ist ja dazu da, daß er Dich etwas lehrt. Und was er Dich lehrt, spricht der Satz aus, oder zeigt der Satz an, der bewiesen wurde.19
Die Lehre, die gezogen wird, ist also nicht, dass hier und jetzt 3×3 9 ergibt, und die Lehre besteht auch nicht darin, dass 3×3 immer 9 ergibt – zumindest nicht, insofern der Satz beschreibend gemeint ist. Die Lehre, die wir ziehen, ist eine Regel. Was heißt es nun, eine Lehre aus dem Beweis zu ziehen? Ich denke, mit ›Lehre‹ meint Wittgenstein hier soviel _____________ 18 BGM, 312. Vgl. auch: Ms 127, 235f. 19 Ms 127 Page 234f. Interpunktion unverändert übernommen.
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wie ›Moral‹ – in dem Sinne, in dem wir von der Moral einer Geschichte sprechen. Oder auch wie man sagt: »Das soll mir eine Lehre sein!«. Betrachten wir, bevor wir auf den mathematischen Beweis zu sprechen kommen, zwei nicht-mathematische Beispiele und nehmen wir an, mein Vertrauen in Peter sei dadurch zerstört worden, dass er ein mündlich geschlossenes Abkommen nicht eingehalten hat. Mein Schluss könnte lauten: »Das ist mir eine Lehre; in Zukunft werde ich mich in solchen Belangen durch einen schriftlichen Vertrag absichern.« (Ich könnte aber natürlich auch keine Lehre daraus ziehen und den Fall als Ausnahme betrachten oder es generell in Kauf nehmen, dass mein Vertrauen unter Umständen ausgenutzt wird, etc.) Worin besteht nun die gezogene Lehre? Offenbar nicht in der Feststellung irgendwelcher Tatsachen, etwa in der Tatsache, dass Peter mich betrogen hat. Ist die Lehre dann vielleicht, dass Felix mich ebenfalls betrügen könnte? Aber das wusste ich doch schon vorher – genauso wie ich wusste, dass Peter mich betrügen könnte. Ist die Lehre dann vielleicht, dass Felix mich ohne schriftlichen Vertrag betrügen wird? Ist die Lehre also gleichsam eine Vorhersage? Nein, denn ich könnte immer noch fest davon überzeugt sein, dass Felix mich nicht betrügen wird, so wie ich fest daran glaubte, dass Peter mich nicht betrügen würde. Besteht die Lehre dann vielleicht in der Erkenntnis eines allgemeinen Gesetzes? Etwa: Ohne die Möglichkeit rechtlicher Konsequenzen ist die Versuchung selbst für den besten Freund zu groß. Ein solches Gesetz könnte in der Tat einen Grund geben, obige Lehre zu ziehen; es wird aber nicht durch die Lehre geäußert. Die Allgemeinheit der Lehre ist nicht die Allgemeinheit eines naturwissenschaftlichen Gesetzes, sondern besteht darin, dass ich mein Verhalten und Denken umstelle, und zwar so, dass ich mich künftig in entsprechenden Situationen immer vertraglich absichere. Die Lehre verändert gleichsam mein Denken: Mir sind nun Dinge wichtig, die ich früher nicht beachtete. Die Allgemeinheit dieser Lehre liegt nicht in der Allgemeinheit, die hier ausgesprochen wird, sondern in der allgemeinen Anwendung einer bestimmten Betrachtungsweise.20 Wenn die Analogie zum _____________ 20 Zur Verdeutlichung dieses Unterschieds ein Beispiel: (Vgl. LFM, 43f.) Angenommen, man beschreibt die Bewegung der Planeten um die Sonne als Kreisbahnen mit Abweichung. Die Aussage: »Alle Planeten bewegen sich…«, sagt dann eine Allgemeinheit aus, d. h., es wird eine Allgemeinheit beschrieben. Behauptet man hingegen, dass sich alle Körper in Kreisbahnen (mit Abweichungen) bewegen, dann hat dieses ›alle‹ nicht die Funktion einer Beschreibung. Vielmehr legt man sich auf eine Betrachtungsweise fest und die Allgemeinheit dieser Betrachtungsweise verdankt sich ihrer allgemeinen Anwendung.
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mathematischen Beweis trägt, so sollten zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens sollte sich die Lehre auch unabhängig von der erfahrenen Enttäuschung sinnvoll äußern lassen. Zweitens sollte der Sinn der Lehre dennoch nicht völlig unabhängig von der genannten Enttäuschung sein. Bevor ich diese beiden Punkte genauer untersuche, möchte ich ein weiteres nicht-mathematisches Beispiel vorstellen: Der Esel und der Schoßhund Ein Herr hatte einen Schoßhund, dem er sehr gewogen war und der beständig mutwillig um ihm herumlärmte und tausend Sprünge und Possen machte, die ungemein wohl aufgenommen wurden. Dieses sah ein Esel in dem Hause, der sich einbildete, daß er zu schlecht gehalten würde, und wollte ebendiesen lustigen Weg einschlagen, sich die Gunst seines Herrn zu erwerben; allein man gab ihm durch einen guten Knittel gar bald zu verstehen, wie sehr das Spielen des einen von dem Spielen des anderen unterschieden war. LEHRE: Leute, die sich nach Exempeln richten, sollten den Nachdruck und das Ansehen ihrer Vorgänger genau erwägen; denn was einem Menschen ansteht, das kann an einem andern, unter veränderten Umständen, unerträglich sein.21
Die hier gezogene Lehre stellt ebenfalls keine Tatsachen fest – oder zumindest nicht nur. Und sie äußert auch kein allgemeines Gesetz. Wie verhält sich die Lehre zur erzählten Fabel? Die hier gezogene Lehre könnte man doch sicherlich auch ohne Kenntnis der Fabel verstehen. D. h., zum Verständnis dieser Lehre bedarf es nicht der Fabel – und umgekehrt. Die Lehre ist keine Erklärung der Fabel, sie ist nicht gleichsam eine Übersetzung in einen anderen Ausdruck. Gleichwohl handelt es sich hier um eine Lehre dieser Fabel. Ist die Fabel dann vielleicht eine Exemplifizierung eines allgemeinen Gesetzes, das durch die Lehre formuliert wird? Dass dies nicht der Fall ist, lässt sich allein daran ersehen, dass die Lehre der Fabel folgt und ihr nicht voransteht. D. h., die Lehre ›folgt‹ aus der Fabel und nicht umgekehrt. Ist die Lehre dann vielleicht das Ergebnis eines Induktionsschlusses? Auch das nicht, denn es ist gar nicht zu ersehen, inwiefern die Allgemeinheit der Lehre überhaupt mit dem in der Fabel geschilderten Einzelfall zusammenhängen sollte. Gleichwohl bestimmt die Lehre in gewisser Weise den Sinn der Fabel – sie zeigt eine mögliche Deutung und stellt die Fabel so in ein gewisses Licht: Sie zeigt, wie die Fabel aufgefasst werden kann. Schließlich könnte jemand die Fabel ja auch als nüchterne Beschreibung betrachten: Der Esel will sich einschmeicheln, verhält sich wie ein Schoßhund und wird geprügelt – Ende. Wenn es eine Analogie zum mathematischen _____________ 21 Pape, W. (Hg.): Äsopische Fabeln. Zürich 1987, S. 31.
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Beweis gibt, dann sollte zwischen Lehre und Fabel eine interne Relation bestehen. Die Lehre lässt uns die Fabel in bestimmter Weise auffassen – nämlich nicht als Tatsachenbericht, sondern als ein Lehrstück. Verdeutlichen wir uns auch diesen Punkt wiederum am Beispiel des Tangrams: Oben haben wir gesehen, inwiefern auch eine Maschine aus den Einzelteilen des Spiels ein Quadrat bilden kann. Das Ergebnis könnte etwa wie Abb. 7a aussehen. Sowohl Abb. 7a als auch Abb. 7b stellen ein Quadrat dar. Gleichwohl lässt uns Abb. 7b das Quadrat in einem neuen Licht sehen. Wir sagen: Ein Quadrat besteht also aus diesen Formen, bzw. Gestalten. Aber worin besteht die Lehre? Darin, dass ich sage: So will (kann) ich ein Quadrat ansehen und so will ich die Einzelteile ansehen. Wir sehen die Teile vor dem Hintergrund des Quadrats neu und das Quadrat vor dem Hintergrund der Teile. Betrachten wir ein geometrisches Beispiel: Abb. 8b könnte man (ähnlich wie die von Wittgenstein erwähnte Konstruktion ohne Konstruktionslinien) als die Lehre aus Abb. 8a auffassen. a)
b)
Abb. 8 22
Die Halbierung der Strecke in Abb. 8b ist unabhängig von Abb. 8a. Allerdings kann man Abb. 8a im Lichte von Abb. 8b sehen und umgekehrt. Insofern Abb. 8b (abgesehen von den Konstruktionslinien) identisch ist mit Abb. 8a, kann man sich sicher sein, dass die horizontale Linie in der Mitte geschnitten wird; Messungen können dies bestätigen. Aber natürlich beweist Abb. 8b nichts. Die Lehre ist, dass man eine Strecke mit Zirkel und Lineal halbieren kann. Und ›halbieren‹ heißt nun z. B.: halbieren gemäß der Methode des Messens. Aber: Abb. 8a ändert unseren Begriff der Halbierung. Doch damit dies möglich ist, muss man in Abb. 8a sozusagen auch Abb. 8b sehen. _____________ 22 Die horizontale Strecke ist die zu teilende. Ausgehend von den Enden der horizontalen Linie wird mit dem Zirkel ober- und unterhalb der horizontalen Linie ein Schnittpunkt erzeugt. Die (vertikale) Verbindung der Schnittpunkte schneidet die horizontale Strecke in der Mitte.
Was ist ein mathematischer Beweis?
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c. Zwischen Vergewisserung und Sinngebung Nach den bisherigen Ausführungen besteht die Funktion des mathematischen Beweises nicht darin, eine Vermutung als wahr zu erweisen. Wenn vor dem Beweis nicht klar ist, was zu beweisen ist, ist es unsinnig, nach dem Beweis »Quod erat demonstrandum« zu sagen. Der Beweis bestimmt nicht die Existenz des Vermuteten, sondern dessen Essenz. Wenn der Beweis aber den Sinn eines mathematischen Satzes bestimmt, folgt, dass man den mathematischen Satz in gewisser Hinsicht nicht ohne die Kenntnis seines Beweises verstehen kann. D. h., derjenige, der Euklids Beweis kennt, hat ein anderes Verständnis des bewiesenen Satzes als derjenige, dem der Beweis fremd ist. Dies mag trotz der bisherigen Ausführungen seltsam erscheinen. Denn Beweise haben im Allgemeinen die Funktion, uns einer Sache zu vergewissern: Wir beweisen etwas, um uns dann auf das Bewiesene zu verlassen. Und so scheint es ja auch in der Mathematik zu sein: Wer Euklids Beweis einmal nachvollzogen hat, wird sagen, es gebe keine größte Primzahl – selbst dann, wenn er sich an den genauen Beweis nicht mehr erinnern kann. D. h., man zieht aus dem Beweis eine Lehre, die in gewisser Hinsicht unabhängig vom Beweis ist. Inwiefern ist das nun kein Widerspruch zur Behauptung, der Beweis bestimme den Sinn eines mathematischen Satzes? Erinnern wir uns, dass oben nicht behauptet wurde, der unbewiesene Satz sei völlig unklar, bzw. unbestimmt. Vielmehr sollte gezeigt werden, inwiefern der Satz unterbestimmt ist. D. h., wir können zwar nicht vollständig beschreiben, nach was wir bei der Suche nach einem Beweis eigentlich suchen, gleichwohl gibt es Analogien zu anderen Sätzen und Beweisen.23 Es sind ja gerade diese Analogien, die die Begriffsänderung durch den Beweis verdecken, weil sie uns, sobald wir einen Beweis gefunden haben, sagen lassen: »Genau das (diesen Beweis) habe ich gesucht« – obwohl man dieses ›Das‹ doch gar nicht beschreiben konnte. Insoweit Euklids Beweis den Begriff der Primzahl verändert, kann er tatsächlich nicht zugleich vergewissern. Und demjenigen, der nur weiß, dass es einen Beweis gibt, geht hier das Verständnis des Satzes ab. Insofern der Satz aber durch Analogien gestützt wird, d. h. insofern er nicht unbestimmt ist, kann der Beweis aber auch eine Vergewisserungsfunktion erfüllen. Die Frage ist nur, wessen er uns vergewissert. Welche Lehre können wir aus einem Beweis ziehen? Sowohl derjenige, der weiß, wie Euklids Beweis lautet, als auch derjenige, der nur weiß, dass es diesen Beweis gibt, werden sagen, es sei _____________ 23 Vgl. dazu die Suche nach einer Lösung im Tangram.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
zwecklos, nach einer größten Primzahl zu suchen – diese Lehre ist unabhängig von der Sinnbestimmung durch den Beweis. Dennoch steht diese Lehre für denjenigen, der nur weiß, dass es einen Beweis gibt, gleichsam auf schwachen Beinen. Denn auch wenn er noch so überzeugt ist, dass er mit der Behauptung, es gebe keine größte Primzahl, auf der sicheren Seite stehe, ist der Sinn dessen, was er glaubt, unterbestimmt. Nichtsdestotrotz kann die Kenntnis, dass es einen Beweis gibt, im Rahmen dieser Unterbestimmtheit vergewissern. Betrachten wir hier eine Analogie zum Tangram: Nehmen wir an, wir hätten gesehen, dass sich eine bestimmte Figur (z. B. ein Quadrat) aus den Einzelfiguren bilden lasse – die genaue Anordnung haben wir allerdings vergessen. In diesem Fall könnten wir also sicher sein, dass sich die Figur soundso zusammensetzen lasse. Dennoch sollte man nicht übersehen, dass man dieses ›Soundso‹ nur über Analogien beschreiben kann; d. h., der Sinn dessen, wovon wir überzeugt sind, ist in diesem Punkt unterbestimmt. Gleichwohl kann der Beweis (von dem wir nur wissen, dass es ihn gibt) im Rahmen dieser Unterbestimmtheit vergewissern. Man wird vielleicht sagen: es muss gehen – selbst dann, wenn man schon eine Zeitlang vergebens nach der Lösung gesucht hat. Dieses ›Muss‹ ist allerdings kein Ausdruck einer Begriffsbestimmung, sondern einer Gewissheit. Der mathematische Beweis ist also einerseits eine Begriffsbestimmung, andererseits vermittelt er eine Gewissheit jenseits dieser Begriffsbestimmung – diese Gewissheit (und das, was man auf diese Gewissheit bauen kann) ist gleichsam die Lehre, die wir aus dem Beweis ziehen können. Der mathematische Beweis sollte daher eigentlich nicht mit den Worten: »Was zu beweisen war«, schließen, sondern eher mit dem Ausruf: »Das sei mir eine Lehre!«.
III. Mathematische Begriffsbildung Im Fall eines Geschicklichkeitsspiels lässt sich das Ziel des Spiels vollständig beschreiben, und die faktische Lösung der Aufgabe fällt unter den jeweiligen Begriff der Lösung – es wird gleichsam der Essenz eine Existenz zugeordnet, begrifflich kommt hier aber nichts Neues ins Spiel. Anders im Tangram: Weil sich hier nicht zwischen Essenz und Existenz unterscheiden lässt, kann das Finden einer Lösung nicht darin bestehen, dass einer Essenz eine Existenz zugeordnet würde. Vielmehr wird die Essenz selbst verändert. Man sucht nach einer Erklärung, die man ›Lösung der Aufgabe‹ nennt – sobald man sie gefunden hat. Die neue Lösung bildet und verändert daher Begriffe. Um hier klarer zu sehen, soll der Unterschied zwischen Begriffsanwendung, -änderung und -bildung schärfer konturiert werden. Im Folgenden möchte ich daher eine Art der Begriffsbildung (§ 1.) und eine Art der Begriffsänderung (§ 2.) vorstellen und schließlich der Begriffsanwendung (§ 3.) gegenüberstellen. Daran anschließend werde ich versuchen zu zeigen, dass in einem mathematischen Beweis im Allgemeinen sowohl Begriffsanwendungen als auch -bildungen und -änderungen von Bedeutung sind (§ 4.).
§ 1. Begriffsbildung Neue Worte lassen sich auf unterschiedliche Weise in eine Sprache einführen: Man kann einen neuen Ausdruck bilden, indem man z. B. ein Buch fortan ›Plonk‹ nennt. Dadurch hat man allerdings nicht mehr getan, als einen Ausdruck durch einen anderen zu ersetzen – begrifflich gibt es hier nichts Neues. Es lassen sich aber auch Dinge benennen, die noch keinen Namen haben, etwa das Farbmuster rot-weiß-grün – nennen wir es ›Zwirf‹. Nun gibt es für Zwirf zwar kein anderes Wort, gleichwohl kommt auch hier begrifflich nichts Neues ins Spiel, da sich der neue Ausdruck unmittelbar in andere, bereits etablierte Ausdrücke übersetzen lässt. Neue Ausdrücke lassen sich aber auch so einführen, dass sie ins nicht-sprachliche Handeln eingebettet werden und daher nicht durch
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andere Ausdrücke (oder Kombinationen solcher Ausdrücke) ersetzbar sind. In seiner Kritik am sogenannten Augustinischen Bild der Sprache macht Wittgenstein darauf aufmerksam, dass man leicht dazu neigt, jede Sprache im Sinne einer Fremdsprache zu deuten, d. h., als würden vorhandene Zeichen und Ausdrücke immer nur in andere Zeichen transformiert.1 Dabei übersieht man allerdings die sinnbestimmende Anwendung der jeweiligen Ausdrücke. Wenn Wittgenstein von der mathematischen Begriffsbildung spricht, so ist diese im letztgenannten Sinne zu verstehen: Man erlernt die Mathematik nicht wie eine Fremdsprache, also nicht als Übersetzung der natürlichen Sprache in mathematische Symbole. Die Mathematik ist sozusagen eine Erweiterung der Muttersprache. Sie lehrt nicht nur neue Ausdrücke, sondern vermittelt neue Begriffe, die sich nicht wiederum in andere Ausdrücke übersetzen lassen. Daher meint Wittgenstein: Eine neue Rechentechnik soll uns ja eben ein neues Bild liefern, eine neue Ausdrucksweise; und wir können nichts Absurderes tun, als dieses neue Schema, diese neue Art von Gerüst, vermittels der alten Ausdrücke beschreiben zu wollen.2
Wer eine neue Ausdrucksweise durch alte Ausdrücke beschreiben will, fasst den neuen Ausdruck wohl so auf, wie die Festlegung ›Zwirf‹ für ›rot-weiß-grünes Farbmuster‹. Doch das wirklich Neue an der neuen Ausdrucksweise ist, dass es eben keine anderen Ausdrücke gibt, in die sich der neue Ausdruck transformieren lässt. Wer die Bedeutung des neuen Ausdrucks erklären will, wird nicht primär auf andere Ausdrücke zurückgreifen können, sondern die Verwendung und den Gebrauch des Ausdrucks beschreiben müssen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel mathematischer Begriffsbildung aus Wittgensteins Lectures on the Foundations of Mathematics: There is a kind of misunderstanding which has a certain charm: »The line cuts the circle but in imaginary points.« This has a certain charm, now only for schoolboys and not for those whose whole work is mathematical. »Cut« has the ordinary meaning: But we prove that a line always cuts a circle – even when it doesn‘t. Here we use the word »cut« in a way it was not used before. We call both »cutting« – and add a certain clause: »cutting in
_____________ 1 Vgl. PU, 32. 2 BGM, 138.
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Mathematische Begriffsbildung
imaginary points, as well as real points«. Such a clause stresses a likeness. – This is an example of the assimilation to each other of two expressions.3
Als paradigmatisches Beispiel einer Linie, die einen Kreis schneidet, kann folgendes Bild dienen: . Dieses Bild zeigt natürlich nicht, dass eine Gerade einen Kreis immer schneidet – nämlich in imaginären Punkten. Gleichwohl können wir diesen Schluss ziehen; es mag eine ganze Reihe von Gründen geben, eine solche Festsetzung vorzunehmen, doch weder das Bild noch die Begriffe Kreis, Linie und Schnitt legen uns auf eine solche Bestimmung fest. Wie könnte man jemanden davon überzeugen, dass sich die Figuren in diesem Bild in gewisser Weise schneiden – obwohl sie sich doch ganz offenbar nicht schneiden? Vielleicht durch folgenden ›Beweis‹: a)
b)
c)
Abb. 9
Dieser ›Beweis‹ zeigt, wie sich Kreis und Gerade schneiden – und zwar in imaginären Punkten; das Bild betont die Ähnlichkeit zwischen dem Schneiden und dem Nicht-Schneiden – es assimiliert die beiden Fälle und schafft so einen neuen Begriff. Abb. 9a zeigt einen Fall des NichtSchneidens, Abb. 9c einen Fall des Schneidens; und Abb. 9b schlägt gleichsam eine Brücke zwischen Abb. 9a und Abb. 9c, indem es den Fall des Schneidens und den des Nicht-Schneidens assimiliert: es ähnelt die beiden Fälle einander an und gibt der neuen Verwendung des Begriffs imaginäres Schneiden einen Sinn: wir sprechen nun von einem Schneiden, wo bisher eigentlich kein Schneiden vorlag. Auch von Abb. 9a sagen wir nun, die Gerade schneide den Kreis – und zwar in imaginären Punkten. Abb. 9b beseitigt eine »Blindheit«, d. h., sie lässt uns etwas sehen, was wir vorher nicht sahen; das Bild zeigt einen neuen Aspekt und daher sieht man nun das gleiche Bild auf andere Weise. Nun könnte man denken, dass die Ähnlichkeit der beiden Fälle in den Bildern angelegt sein müsse – wie sonst sollte man die Ähnlichkeit sehen können? Man kann durchaus sagen, dass die Möglichkeit dieser Assimilierung in den Figuren angelegt ist, allerdings nicht als Tatsache. _____________ 3 LFM, 16.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
Vielmehr wird dieser Übergang möglich vor einem bestimmten begrifflichen Hintergrund. Es ist denkbar, dass jemand in Abb. 9b lediglich einen Kreis sieht, der von einer durchgezogenen Linie passiert und von einer gestrichelten Linie geschnitten wird. Für ihn gäbe es hier kein imaginäres Schneiden. Wie muss man das Bild sehen, damit es als Erklärung des ›imaginären Schneidens‹ dienen kann? Die durchgezogene und die gestrichelte Linie müssen als ortsverändert, aber gleichwohl identisch gesehen werden. Wenn man Abb. 9b als Erklärung des imaginären Schneidens auffasst, dann sieht man die beiden Linien in gewisser Weise als eine einzige und insofern sieht man gleichsam die Anwendung des Begriffs ›imaginäres Schneiden‹ in Abb. 9b.4 Damit man das Bild in der beschriebenen Weise sehen kann, müssen daher bestimmte Begriffe im Hintergrund stehen, z. B. die Identität eines Dinges bei Ortsveränderung. Nur vor diesem begrifflichen Hintergrund lässt sich der neue Begriff bilden und das Bild ist gleichsam das Bild eines Experiments, bzw. das Bild eines Vorgangs. Da sich die Assimilierung der Figuren nicht in Fakten gründet, ist sie weder richtig noch falsch, sondern interessant oder uninteressant, witzig oder witzlos oder auch originell oder absurd oder dergleichen mehr. Denken wir hier nochmals an den oben erwähnten Dirigentenhammer: Sollten wir auf Menschen treffen, die mit einem Hammer dirigieren, wird das wohl einen seltsamen Eindruck auf uns machen. Wir könnten aber auch sagen: Diese Musik klingt tatsächlich so, als müsste sie mit einem Hammer dirigiert werden; der gemeine Taktstock würde bei dieser Musik wie alberner Firlefanz wirken. – Und so auch hier: Nur vor dem Hintergrund der Ortsveränderung erhält der neue Begriff seinen Sinn. Gäbe es Menschen, für die die Vorstellung, eine Gerade, bzw. einen Kreis zu verschieben eine Absurdität wäre, so könnten sie mit der Begriffsbildung in Abb. 9 wohl nichts anfangen. Für die mathematische Begriffsbildung sind daher (und soweit ich sehe, gilt dies ganz allgemein) mindestens drei Dinge wesentlich: Erstens ist das Zeichen das Bild einer Bewegung oder eines Vorgangs. Zweitens identifiziert man das Bild kriterienlos. Drittens ist die Anwendung des Bildes an Bedingungen geknüpft, die jenseits der Begriffsbildung liegen. Betrachten wir zur Verdeutlichung wiederum einen Mechanismus:5 _____________ 4 Später werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern dieses Sehen eine Bedingung der mathematischen Begriffsbildung ist. 5 Vgl. dazu BGM, 434. LFM, 195.
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Abb. 10
Man kann Abb. 10 als das Bild eines Kolbens auffassen. Dazu muss man das Bild allerdings als Bild eines Prozesses sehen, denn natürlich könnte man es auch als bloße Kombination von Strichen auffassen. Was heißt es aber, das Bild als Bild eines Prozesses zu sehen – schließlich ist das Bild selbst ja völlig statisch. Das Entscheidende ist, dass man das Bild nicht als Gegenstand auffasst, sondern als Erklärung, die man verbal vielleicht folgendermaßen ausdrücken könnte: »Die Scheibe links ist in der Mitte gelagert und rotiert, die Verbindung zum Kolben ist starr aber beweglich mit Scheibe und Kolben verbunden. Durch die Drehung der Scheibe wird der Kolben hin und her bewegt.« Damit das Bild aber selbst eine Erklärung sein kann, muss es übersichtlich sein.6 Denn nehmen wir an, Abb. 10 wäre etliche Meter breit und man stünde unmittelbar vor diesem Bild. Es wäre dann nicht mehr selbst eine Erklärung, sondern man könnte allenfalls versuchen zu zeigen, dass Abb. 10 und das großformatige Bild sich lediglich im Hinblick auf ihre Größe unterscheiden. Dadurch wäre die überdimensionierte Abbildung allerdings nicht selbst eine Erklärung, sondern ein Gegenstand, der unter eine Beschreibung (nämlich Abb. 10) subsumierbar ist. Man müsste dann eine Technik anwenden, um zu zeigen, dass das große Bild und Abb. 10 identisch sind. Dahingegen identifiziert man Abb. 10, sofern man sie als Erklärung auffasst, kriterienlos. Ob einem das Bild aber überhaupt etwas sagt, hängt von Dingen jenseits des Bildes ab. Verdeutlichen wir uns auch das wieder am Beispiel des Mechanismus: Sollte man ein Gerät finden, dessen Funktion man nicht kennt, kann man die Funktion dieses Geräts nicht an dessen Verhalten ablesen, da die Funktionsbeschreibung das Kriterium des richtigen Verhaltens ist. Es mag aber gute Gründe geben, gerade das beobachtete Verhalten als Funktion zu bestimmen, und ein Grund wäre etwa die Nützlichkeit des Verhaltens.
_____________ 6 Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
§ 2. Begriffsänderung Kommen wir nun zu einem Beispiel der Begriffsänderung. Bereits vor Euklid kannte man Techniken zur Halbierung einer Strecke: etwa die Messung einer Strecke und die anschließende Division durch zwei. Euklid entwickelte seinerzeit eine neue Technik.7 Ausgehend von den beiden Enden der zu halbierenden Strecke schlägt man nach oben und unten einen Bogen mit beliebigem Radius. Die Verbindung der Schnittpunkte schneidet die Strecke in der Mitte.
Abb. 11
Ist das nun eine Technik zum Erreichen eines vorgegebenen Ziels – nämlich der Halbierung der Strecke? Ja und Nein! Ja, insofern man nach Anwendung dieser Konstruktionsmethode feststellen kann, ob die Strecke gemäß der Methode des Messens in der Mitte geschnitten wird. Nein, insofern die Konstruktionsmethode ein neues Kriterium der Halbierung, bzw. Mitte liefert. Denn wenn die Ergebnisse der Messung von denen der Konstruktion abweichen, falsifiziert das nicht den Beweis. Vielmehr sucht man nach einem Fehler in der Messung oder nach einer Ungenauigkeit in der Konstruktion. Euklid hat durch seine Technik der Halbierung den Begriff der Mitte, bzw. der Halbierung einer Strecke geändert, weil er eben nicht nur eine Technik zur Erreichung eines vorgegebenen Zieles liefert, sondern die neue Technik zugleich ein neues Kriterium der Mitte, bzw. Halbierung einer Strecke ist. Hierbei ist aber zu beachten, dass die alten und neuen Kriterien nicht übereinstimmen müssen. Jedoch besteht der Witz des neuen Kriteriums darin, dass es mit den alten Kriterien übereinstimmt, und insofern hat Euklid keinen völlig neuen Begriff geschaffen, sondern den bereits existierenden Begriff der Mitte verändert oder erweitert. Doch wie gesagt: Der ganze Witz, von einer Halbierung zu sprechen, liegt darin, dass die neue Technik _____________ 7 Vgl. zu diesem Beispiel: LFM, 53f.
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(Euklids Konstruktion) und die alte Technik (z. B. die Messung der Teile) im Allgemeinen übereinstimmen – dies bestimmt die Einheit des Begriffs der Halbierung der Strecke. Die Bestimmung der Gleichseitigkeit war vor Euklid an die Methode des Messens gebunden. Nun gibt es ein neues Kriterium der Gleichseitigkeit unabhängig vom Messen.8 Euklids Verfahren ist daher begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom. Es ist begründungs-autonom, insofern sich sein Verfahren nicht durch die bereits etablierten Verfahren (z. B. das Messen) begründen lässt. Dies ist deshalb nicht möglich, weil das neue Verfahren gleichberechtigt neben den alten steht. Das neue Verfahren ist allerdings nicht sinn-autonom, da der Sinn, von einer Halbierung zu sprechen, davon abhängt, dass das neue und die alten Kriterien im Allgemeinen übereinstimmen, und das neue Kriterium erhält daher sein Licht von der bereits etablierten Praxis. Betrachten wir als ein weiteres geometrisches Beispiel die Konstruktion eines Polygons. Welcher Begriff wird verändert, wenn man z. B. die Konstruktion eines Pentagons findet? Offenbar der des Pentagons. Das Pentagon ist als gleichseitiges, gleichwinkliges Fünfeck definiert. Nun können wir aber sagen: Ein Pentagon ist das, was so konstruiert wird. Oder anders: Der Begriff der Gleichseitigkeit war vorher an die Methode des Messens gebunden. Doch nun, nachdem man eine neue Konstruktion gefunden hat, kann man sagen: Gleichseitig nach der Methode dieser Konstruktion. Wenn man von der gefundenen Lösung behauptet, sie sei genau das, was man gesucht hat, lässt dies den begriffsverändernden Charakter des Beweises leicht übersehen. Denn wie kann das Gefundene identisch mit dem Gesuchten sein, wenn sich das Gesuchte erst beschreiben lässt, nachdem es gefunden wurde? Was die neue und die alte Lösung verbindet, sind nicht nur Regeln, sondern ihr Witz und die allgemeine Übereinstimmung der alten und neuen Kriterien. Betrachten wir zur Verdeutlichung wiederum das Tangram: Was verbindet das Quadrat in Abb. 2 mit einer analogen Lösung derselben Aufgabe? Dass man beide Figuren aus den sieben Teilen gemäß der Spielregel konstruieren kann, und dass man, nachdem man die Lösung gefunden hat, in beiden Fällen von einer Zusammensetzung aus den sieben Einzelteilen sprechen kann. Aber: Wenn zwei Beweise denselben Satz beweisen, so kann man sich allerdings Umstände denken, in denen die ganze diese Beweise verbindende Umgebung weg-
_____________ 8 Natürlich sind auch noch andere Kriterien denkbar, wie z. B. das Übereinanderlegen der Enden.
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fiele, so daß sie allein und nackt dastünden, und kein Grund vorhanden wäre, zu sagen, sie hätten eine gemeinsame Pointe, sie bewiesen denselben Satz. Man muß sich nur denken, daß die Beweise ohne den sie beide umhüllenden und verbindenden Organismus der Anwendungen, sozusagen nackt und bloß dastünden. (Wie zwei Knochen aus dem umgebenden mannigfachen Zusammenhang des Organismus gelöst; in dem allein wir gewohnt sind, an sie zu denken.)9
Wir könnten uns die Welt so vorstellen, dass die beiden Lösungen nicht den gleichen Witz hätten. Die Zusammenlegung bestimmter Teile könnte z. B. tabuisiert sein, da sie ein heiliges Symbol darstellen. Die beiden Lösungen sind für uns gleichartig, sie müssten es aber nicht sein. Oder anders gesagt: Die Gründe dafür, dass man einen Begriff oder ein neues Kriterium annimmt, liegen außerhalb der Mathematik. Daher meint Wittgenstein: Bedenken wir, daß es nicht genug ist, daß sich zwei Beweise im selben Satzzeichen treffen! Denn wie wissen wir, daß dies Zeichen beidemale dasselbe sagt? Dies muß aus anderen Zusammenhängen hervorgehen.10
§ 3. Begriffsanwendung Wie lassen sich Anwendung, Änderung und Bildung eines Begriffs generell unterscheiden? Die besondere Brisanz dieses Problems ergibt sich unter anderem durch Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen: Denn nach Wittgensteins Regelfolgen-Argumentation sollten wir gar nicht unterscheiden zwischen, einerseits, dem Begriff selbst und, andererseits, der fallweisen Anwendung des Begriffs; wir sollten vielmehr auf die konkreten Akte der Anwendung-des-Begriffs als unzertrennte Ganzheiten schauen. So gesehen, erscheint jedoch jeder neue Anwendungsfall als ein zur Gänze neuer Fall und nicht etwa nur als neuer Anwendungsfall des alten, schon vorweg gegebenen Begriffs.11
Jeder Fall der Begriffsanwendung erscheint hier zugleich als Begriffsbildung. ›Anwendung‹ heißt allerdings: Anwendung eines bestimmten Begriffs; und dieser Begriff muss existieren, damit er angewendet werden _____________ 9 BGM, 368f. 10 BGM, 191f. 11 F. Mühlhölzer: Regelfolgen und die Identität von Begriffen. In: U. Baltzer, G. Schönrich (Hg.): Institutionen und Regelfolgen. Paderborn 2002, S. 137−156. Hier S. 138.
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kann. Ähnliches gilt für die Begriffsänderung: Zur Begriffsänderung bedarf es der Begriffsidentität.12 Aber welche Kriterien bestimmen die Identität eines Begriffs, bzw. einer Praxis? Betrachten wir z. B. die konstitutiven Regeln des Schachs: Ändert man die Regeln des Spiels und führt so eine Variante des Schachs ein (also kein neues Spiel), dann muss sich das Spiel als Schach identifizieren lassen. Man wird vielleicht sagen, es komme darauf an, welche Regeln geändert werden. Doch wie entscheidet man, welche Regeln wesentlich sind und welche nicht? Lässt sich dies wiederum anhand von Regeln entscheiden? Wohl kaum, denn wie sollte man entscheiden, ob diese Regeln wesentlich sind? Man mag im Schach eine ganze Reihe von Regeln ändern, ohne den Charakter des Spiels wesentlich abzuwandeln. Es mag aber auch eine einzige Regeländerung das Spiel völlig deformieren. Die Regeln können daher nur bedingt als Identitätskriterium des Spiels dienen. Wittgenstein meint, die Identität des Spiels sei unmittelbar an den Witz des Spiels gebunden.13 Was aber nennen wir ›denselben Witz‹? Wie verhält es sich z. B. mit dem Übergang von den natürlichen zu den ganzen Zahlen? War das eine Änderung des Zahlbegriffs oder aber eine Anwendung des Ausdrucks auf Fälle, an die man vorher einfach nicht gedacht hatte? Oder denken wir an unser Beispiel des ›imaginären Schneidens‹. Warum sollte man nicht sagen, dass hier der Begriff des Schneidens in einer Weise angewendet wird, an die man vorher nicht dachte? Man könnte sagen: Der Beweis liefert einen Hintergrund, vor dem die Änderung so natürlich ist, dass sie wie eine Anwendung erscheint. Der Schritt von der Anwendung zur Änderung und auch zur Bildung eines Begriffs besteht im Herstellen einer Übersicht, in der Beseitigung einer Blindheit. Denn obwohl die Regeln des Tangrams, um diesen Fall wieder aufzugreifen, vorgeben, was man darf und was man nicht darf, sagen sie nicht, was man tun muss, um z. B. ein Quadrat zu bilden. Die Änderung kommt dadurch zustande, dass Regelsysteme miteinander verbunden werden – man bildet eine neue Analogie (im Tangram z. B. zwischen dem Begriff des Quadrats und den Regeln des Spiels). Warum _____________ 12 Im ersten Teil habe ich dargestellt, inwiefern es neben der Funktion eines Wortes (oder auch eines Mechanismus) eine funktionsunabhängige Identifikation des Wortes als Bedeutungsträger geben muss, damit ein Wort überhaupt eine Funktion haben kann. 13 Ms 152, 69: »Der Begriff des gleichen Spiels. Und, damit unmittelbar verbunden, des Witzes eines Spiels der Pointe [sic!].«
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neu? – Weil sie sich vorher nicht beschreiben ließ; der Beweis gibt uns ja ein neues sprachliches Ausdrucksmittel. Ist es nicht denkbar, dass Menschen, die man das Zählen lehrt, ohne zu zögern auch von negativen Zahlen sprechen? Und wie lässt sich nun entscheiden, ob dies eine Änderung oder eine Anwendung des Begriffs der Zahl ist? Es geht hier letztlich um die Verwendung bestimmter Zeichen, z. B. » –3«. Aber für dieses Zeichen (nämlich das Minuszeichen) gibt es im Hinblick auf die natürlichen Zahlen ja noch keine Anwendung. Die Schreibweise 2 – 5 = –3 ist ja nur verständlich vor dem Hintergrund einer Anwendung, beispielsweise auf Haben und Soll. Allerdings ist ja auch das Zeichen »23437« verschieden von allen anderen Zahlzeichen. Warum also sollte das Minuszeichen einen qualitativen Sprung mit sich bringen? Weil es hier noch kein »Usw.« gibt. Wenn man die Anweisung gibt: »Zeichne ein Sechseck, Fünfeck, Viereck, usw.«, dann wird es mindestens bis zum Dreieck eine große Übereinstimmung bezüglich der Reaktionen geben. Doch warum erscheint der Kreis nicht als natürliche Fortsetzung der Figurenreihe in Abb. 12?
Abb. 12
Etwa weil er eine andere Figur ist? Aber das Dreieck ist doch auch eine andere Figur als das Quadrat. Das ›Usw.‹ scheint hier einfach bedeutungslos. Unter der Vorgabe 1=blau, 2=rot, 3=weiß, etc., werden die meisten Menschen die Frage 4=? vermutlich sehr unterschiedlich beantworten – und zudem wohl mit einem Gefühl der Willkürlichkeit. Die Reihe 1=A, 2=B, 3=C werden die meisten Menschen unseres Kulturkreises allerdings mit großer Übereinstimmung fortzuführen wissen. Und sollte es doch Abweichungen geben, werden sich diese im Allgemeinen korrigieren lassen. Soll man nun sagen: »Der Beweis stellt Übereinstimmung her.«? Nein, eher umgekehrt: Wenn es keine Übereinstimmung gibt, dann auch keinen Beweis. Man könnte sagen: Der Beweis verleiht dem ›Usw.‹ einen Sinn – und das heißt: Nach dem Beweis gibt es eine große Übereinstimmung hinsichtlich der Anwendung des jeweiligen Zeichens und der Beweis liefert ein paradigmatisches Beispiel dieser Anwendung.
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§ 4. Begriffsbildung, -änderung und -anwendung in der Mathematik In einem mathematischen Beweis kommen Begriffsanwendungen, -änderungen, und -bildungen im Allgemeinen zusammen. Betrachten wir zur Verdeutlichung wieder zuerst das Tangram: Wer nach der Lösung einer Aufgabe in diesem Spiel sucht, wird bestimmte Regeln anwenden: Er verwendet die vorgegebenen Teile, zerschneidet sie nicht, überlappt die Teile nicht und versucht, je nach Aufgabe, z. B. ein Quadrat zu formen. Diese Regeln werden durch das Finden einer Lösung offenkundig nicht geändert. Warum ist dies ein Fall von Regelanwendung? Weil sich an jedem Punkt sagen lässt, ob sein Verhalten den Regeln entspricht oder nicht. In diesem Sinne lässt sich die gefundene Lösung (z. B. ein Quadrat) aus den vorgegebenen Regeln ableiten. Die Lösung ändert allerdings unseren Begriff des Quadrats, weil sie zeigt, dass und wie ein Quadrat aus den Teilen dieses Spiels besteht. – Wir haben nun ein neues Kriterium dafür, dass etwas ein Quadrat ist. Nämlich: Quadratisch ist etwas, wenn es so zusammengesetzt wurde. Aber warum ändert dann nicht auch Abb. 13b unseren Begriff des Quadrats? a)
b)
Abb. 13
Schließlich besteht das Quadrat doch offensichtlich aus diesen beiden Teilen. Aber aus welchen Teilen? Die beiden Teile in Abb. 13b lassen sich ja nicht ohne weiteres beschreiben, geschweige denn eigenständig identifizieren. Das Interessante an Abb. 13a ist, dass die Einzelteile sozusagen ein Eigenleben haben. Sie gehören zu einem System von Regeln – nämlich zu den Regeln des Tangrams. Die Konstruktion in Abb. 13a schlägt eine Brücke zwischen dem Begriff des Quadrats und den Regeln des Spiels. Daher gibt die Beschreibung der Anordnung der Teile in Abb. 13a nun also ein neues Kriterium dafür, dass etwas ein Quadrat ist. Abb. 13b hingegen beweist deshalb nichts, weil sie keine Brücke zwischen Regeln bzw. Regelsystemen schlägt. Allerdings könnte man auch den beiden Teilfiguren in Abb. 13b Namen geben. Nennen wir die obere Figur »Zwirf«, die untere »Plonk«.
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Dann besteht ein Rechteck also aus einem Zwirf und einem Plonk. Ist dieser Fall nun nicht doch vergleichbar mit der Zusammensetzung des Quadrats in Abb. 13a? Nehmen wir an, es gäbe Menschen, die Zwirf und Plonk spontan und kriterienlos identifizieren könnten. Wenn man diesen Menschen Abb. 13b zeigen würde, könnten sie tatsächlich mit Verwunderung reagieren. Doch warum sind wir nicht ebenso verwundert, dass ein Rechteck aus Zwirf und Plonk besteht? Weil die beiden Figuren für uns eben kein Eigenleben haben: Wir können die beiden Figuren nicht spontan identifizieren, sondern benötigen ein Muster. Im Fall der Abb. 13a wurde betont, dass man, nachdem die Konstruktion gefunden wurde, über diese Art der Zusammenstellung sprechen kann. Nun könnte man allerdings sagen, dass wir auch über die Zusammenstellung der Teile in Abb. 13b früher nicht sprechen konnten. Das Entscheidende ist aber: Auch nachdem uns Abb. 13b gezeigt wurde, können wir über diese Zusammenstellung nichts sagen. Wir haben keine Beschreibung der Formen. Und die bloße Namensgebung hilft ja auch nicht weiter, da wir zur Identifikation der beiden Formen wiederum ein Muster benötigen. Das Entscheidende an Abb. 13a ist, dass man es nicht als bloße Kombination von Strichen sieht, sondern als Bild eines Vorgangs, nämlich als Bild des Zusammensetzens eines Quadrats aus den sieben Teilen des Tangrams. Und daher ist Abb. 13a das Bild einer Beschreibung. Abb. 13b hingegen ist kein Bild eines Vorgangs – oder zumindest nicht das Bild eines Vorgangs, der selbst eine Beschreibung sein könnte. Werden im Tangram aber auch Begriffe gebildet ? Ja, z. B. der Begriff der Konstruktion eines Quadrats. Bevor man die Konstruktion des Quadrats im Tangram gefunden hatte, konnte man vermuten, dass die Konstruktion möglich ist. Diese Vermutung scheint sich bewahrheitet zu haben. Allerdings konnte man vorher nicht vollständig beschreiben, was man eigentlich suchte, da man früher ja kein Beispiel geben konnte, sondern das Gesuchte nur anhand von Analogien beschreiben konnte. Wie verhält es sich aber mit dem gedrehten Quadrat in Abb. 14? Ist das nun wiederum eine neue Lösung – oder handelt es sich um die gleiche Lösung wie in 13a?
Abb. 14
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Wer behauptet, es handle sich im Wesentlichen um die gleiche Lösung, wird wohl die Gemeinsamkeiten zwischen 13a und Abb. 14 hervorheben: Abb. 14 ist nur gedreht. – Und das scheint die richtige Antwort zu sein. Denn vor dem Hintergrund der Technik des Drehens von Figuren ist Abb. 14 lediglich eine Anwendung der Technik des Drehens auf 13a. – Gäbe es diese Technik nicht, wäre allerdings nicht mehr klar, inwiefern 13a und Abb. 14 im Grunde identisch sind. Analoges gilt für die Konstruktion eines Fünfecks. Bestimmte Regeln werden angewendet – z. B., dass nur Lineal und Zirkel verwendet werden dürfen. Geändert wird der Begriff des Fünfecks, insofern es am Ende des Beweises ein neues Kriterium dafür gibt, ob etwas ein Fünfeck ist – nämlich die Konstruktion. Gebildet wird der Begriff der Konstruktion eines Fünfecks. Denn dieser Begriff war, bevor man eine Konstruktionsmethode gefunden hatte, nicht leer, sondern unterbestimmt; schließlich konnte man ja gar nicht vollständig beschreiben, was man eigentlich suchte. In dem Maße, in dem bei der Beweisführung Begriffe angewendet werden (es sind nur Lineal und Zirkel zu verwenden, es soll ein Fünfeck entstehen, etc.) lässt sich die Konstruktion vorab beschreiben und der Begriff der Konstruktion eines Fünfecks (KF) ist insofern bestimmt. Gleichwohl ist dadurch der Begriff KF noch unterbestimmt, denn die genannten Regeln reichen ja nicht aus, um zu bestimmen, was unter KF zu verstehen ist. Wenn man KF aber vollständig beschrieben hat, hat man die Lösung gefunden. Und insofern ist der Begriff KF erst noch zu bilden. Aber kann man nicht sagen, dass die neue Lösung im alten Regelsystem angelegt gewesen sein musste? Nun, zumindest widerspricht die neue Lösung nicht den bereits etablierten Regeln. Aber dass die neue Konstruktion einen Witz und Sinn hat, ist den Regeln ja nicht anzusehen. Natürlich kann man sagen, der bewiesene Satz folge aus den Prämissen – wenn das nicht mehr heißen soll, als dass der bewiesene Satz in Einklang mit einem Set von Regeln steht. Doch das Entscheidende ist die begriffliche Verbindung zwischen zwei Systemen – und die ist neu. Auch die folgende Figur lässt sich aus den Einzelfiguren des Tangrams bilden.
Abb. 15
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
Es ist allerdings nicht so klar, was diese Figur zeigen kann. Das Interessante an der Konstruktion des Quadrats steht zum einen mit ihrer Unübersichtlichkeit in Verbindung – man sieht nicht unmittelbar, wie aus den sieben Teilen ein Quadrat zusammengesetzt sein könnte. Zum anderen ist es entscheidend, dass wir bereits über einen Begriff des Quadrats verfügen. Anders gesagt: Es lassen sich alle möglichen Formen aus den Teilen des Tangrams bilden – das heißt aber nicht, dass auch alle diese Formen für uns von Interesse sind. Abb. 15 könnte interessant werden, wenn man sie z. B. als zwei Tannen und eine nach rechts zeigende Figur auffasst. Und so lässt sich vielleicht eine Verbindung zwischen Abb. 15 und den Regeln des Tangrams herstellen. An Abb. 15 hat sich nun offensichtlich nichts geändert, lediglich unser Blick und vielleicht auch unser Interesse haben sich verschoben.
IV. Satz und Bild Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern es der Mathematik wesentlich ist, dass die von ihr verwendeten Zeichen Gestalten sind, bzw. eine Physiognomie haben. Wenn hier nun von »Gestalt« gesprochen und insofern auf die Anschauung rekurriert wird, werden sich Mathematiker vielleicht an längst überwunden geglaubte Zeiten erinnert fühlen. Die Entwicklungen der modernen Mathematik haben doch gezeigt, dass es selbst in der Geometrie keiner Anschauung bedarf. Meine Behauptung wird allerdings nicht sein, dass es der Anschauung irgendwelcher geometrischen Figuren (oder sonstiger ›mathematischer Gegenstände‹) bedarf. Der zentrale Punkt der folgenden Ausführungen ist vielmehr, dass jede mathematische Darstellung Gestaltcharakter haben muss. Betrachten wir zur Verdeutlichung ein einfaches Beispiel: Wie könnte man den Ausdruck »10 200 « erklären? Etwa als Abkürzung der Schreibweise: »10000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000«. Warum erschiene ein solcher Erklärungsversuch seltsam? Weil das abgekürzte Verfahren vorschreibt, was in der ungekürzten Schreibweise herauskommen soll 1 – die vermeintlich bloß gekürzte Schreibweise ist ein Maßstab, die ungekürzte aber Gemessenes. Zwar kann man beweisen, dass die lange Zahl gleich oder ungleich 10 200 ist, indem man die Nullen zählt, allerdings bedarf es zur Identifikation der langen Ziffernreihe der Anwendung einer Technik – nämlich der des Zählens. Während der Satz » 10 200 ist eine Eins mit 200 Nullen« das Zeichen 200 10 erklärt, ist der Satz »1000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000 ist eine Eins mit 200 Nullen« keine Zeichenerklärung. Vielmehr fällt das Zeichen »10000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 _____________ 1 BGM, 157.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00« unter den Begriff Eins mit 200 Nullen. »1000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000000« lässt sich nicht ohne weiteres von »10000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00« unterscheiden; »10 200 « und »10 201 « sind hingegen Gestalten: Man sieht unmittelbar den Unterschied der beiden Zeichen. Im folgenden werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern es der Mathematik wesentlich ist, das Zeichen »10 200 « zu verwenden und nicht etwa das Zeichen »100000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000«. Es ist nicht nur eine Frage der Praktikabilität, dass man in der Mathematik das übersichtliche statt des unübersichtlichen Zeichens verwendet; der Grund hierfür liegt in der mathematischen Begriffsbildung.
§ 1. Begriffsbildung vs. Gewissheit Betrachten wir zuerst wiederum das Tangram: Ein Quadrat lässt sich aus den sieben Teilen des Tangrams zusammensetzen, wie auch aus 81 Quadraten. Folglich lässt sich ein Quadrat aus 81 Tangram-Spielen gemäß Abb. 16 bilden.
Abb. 16
Ein Quadrat kann aus 7×81=567 Teilen zusammengesetzt sein. Aber wird das durch Abb. 16 bewiesen? Es scheint doch eher umgekehrt:
Satz und Bild
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Man kann versuchen zu beweisen, dass Abb. 16 aus 81 Tangram-Spielen besteht, indem man die Teile zählt. Abb. 16 fällt daher vielleicht unter den Begriff eines Quadrats, das aus 81 Tangram-Spielen besteht; die Abb. 16 ist aber nicht selbst der Beweis. Vergleichen wir Abb. 16 mit Abb. 2. Qua Beweis ist Abb. 2 kein Gegenstand, der unter eine Beschreibung fällt, sondern selbst eine Erklärung. Das Bild zeigt, wie ein Quadrat aus den Teilen des Tangrams besteht. Aber warum erklärt dann nicht auch Abb. 16, wie ein Quadrat aus 81 Tangram-Spielen bestehen kann? Eine erste Antwort könnte lauten, dass es nicht sicher ist, ob Abb. 16 tatsächlich aus 81 Tangram-Spielen besteht. Das ist richtig, doch kann der Hinweis auf die fehlende Gewissheit nicht entscheidend sein. Schließlich könnte man Abb. 16 eingehend untersuchen und definitiv feststellen, ob die Figur aus 81 TangramSpielen besteht. Doch dadurch würde Abb. 16 noch immer nicht zu einer Erklärung dessen, wie ein Quadrat aus 81 Tangram-Spielen besteht. Ein weiterer Erklärungsversuch zur Bestimmung des Unterschieds zwischen Abb. 2 und Abb. 16 könnte auf die Maßstab-Funktion von Abb. 2 verweisen. Doch auch diese Antwort führt nicht sehr weit, da Abb. 16 ebenfalls als Maßstab für andere Figuren dienen könnte: Z. B. könnte man Abb. 16 daraufhin untersuchen, ob sie tatsächlich aus 81 Tangram-Spielen besteht und das Bild dann als Maßstab für andere Figuren verwenden. Man könnte also mittels Abb. 16 beweisen, dass, wenn Abb. 16 aus 81 Tangram-Spielen besteht, dann auch Abb. 17:
Abb. 17
Hier ist es nun wichtig, den mathematischen Beweis vom Beweis mittels der Mathematik zu unterscheiden: Zwar kann man mittels Abb. 16 vielleicht beweisen (z. B., indem man die Figuren übereinander legt), dass Abb. 17 aus 81 Tangram-Spielen besteht. Doch bei einem mathematischen Beweis (im Unterschied zu einem Beweis mit Hilfe der Mathematik) geht es nicht darum, Maßstäbe anzulegen, sondern darum, Maßstäbe miteinander zu verbinden. Aber hat man durch den Vergleich von Abb. 16 und Abb. 17 nicht auch zwei Maßstäbe miteinander verbunden? Nein, denn
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
da man die Bilder nicht überblicken kann, muss eines der beiden Bilder immer Maßstab, das andere aber Gemessenes sein. Damit nicht das eine Bild zum Maßstab, das andere zum Gemessenen wird, müsste man sowohl beide Bilder als auch deren Abbildung aufeinander gleichermaßen überblicken können. Die Mathematik bildet Begriffe, indem sie das Ergebnis als dem Prozess wesentlich bestimmt. Sie sagt: Das muss herauskommen – sonst liegt ein Fehler vor. Doch dieser Schluss ist ja auch vor dem Hintergrund von Gewissheiten möglich. Allerdings legt der neue Begriff ja kein Ergebnis fest, sondern einen Übergang. Betrachten wir das eingangs angesprochene Bespiel etwas genauer. Wo liegt der Unterschied zwischen: 1. 10100×10100=10200 2. 10100×10100=1000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 0000000000000000000 3. 100000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000×10000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 0000000000=10000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000000
Die ›Rechnung‹ (3) hat gleichsam empirischen Charakter, da man zur Identifikation der Zeichen die Nullen zählen muss: Wenn die beiden Faktoren jeweils 100 Nullen haben, und wenn das Produkt 200 Nullen hat, dann ist die Gleichung richtig. Diese Schreibweise ist aber keine Multiplikation, sondern setzt die Technik des Multiplizierens (und die des Zählens) voraus. Nicht sehr viel anders verhält es sich in ›Rechnung‹ (2). Denn letztlich schreibt der Ausdruck ›10100×10100‹ vor, wie viele Nullen der Ziffer ›1‹ hinter dem Gleichheitszeichen folgen müssen. Die Technik des Multiplizierens ist dabei aber wiederum vorausgesetzt. In der Mathematik müssen die Zeichen selbst die Mathematik machen2 – doch genau das können die Zeichen in (2) und (3) nicht: In (2) stehen sich Maßstab und Gemessenes gegenüber und in (3) sind sogar beide Seiten Gemessenes. Um aus (2) und (3) einen mathematischen Satz zu machen, muss man sie in (1) übertragen. In (1) stehen sich allerdings nicht Maßstab und Gemessenes gegenüber, sondern zwei gleichberechtigte Maßstäbe. Verdeutlichen wir uns dies an einem einfachen _____________ 2 Vgl. Ms 108, 17.
Satz und Bild
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Beispiel: Durch Anlegen eines Metermaßes an einen Gegenstand kann man feststellen, wie lang dieser Gegenstand ist. Verbindet man das Metermaß hingegen mit einem Maßstab in Inch, dann misst man nicht, wie viele Inch ein Meter hat – man wechselt vielmehr von einer Maßeinheit zur anderen. Ähnlich verhält es sich in unserem Zahlenbeispiel: Während die Ausdrücke (2) und (3) gleichsam gemessen werden, verbindet der Ausdruck (1) zwei Maßeinheiten und damit dies möglich ist, müssen die verwendeten Zeichen übersichtlich sein. Insofern die Mathematik Begriffe definiert, bildet und ändert, bedarf es der Übersichtlichkeit. Dieser Punkt ist natürlich nicht auf die Mathematik beschränkt: Letztlich bedarf es bei jeder Begriffsbestimmung einer kriterienlosen Identifikation der verwendeten Zeichen.
§ 2. Der Beweis als Gestalt? Eine längere Passage aus Wittgensteins Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik soll uns die Rolle der Gestalt im mathematischen Beweis näher bringen: Wie, wenn ein Beweis so ungeheuer lang wäre, daß man ihn unmöglich übersehen könnte? Oder sehen wir einen andern Fall an: Man habe als Paradigma der Zahl, die wir 1000 nennen, eine lange Reihe von Strichen in einen harten Fels gegraben. Diese Reihe nennen wir die Urtausend und um zu erfahren, ob tausend Menschen auf einem Platz sind, ziehen wir Strichen oder spannen Schnüre (1–1 Zuordnung). Hier hat nun das Zahlzeichen für 1000 nicht die Identität einer Gestalt, sondern eines physikalischen Gegenstandes. Wir können uns ähnlich eine Ur-Hundert etc. denken und einen Beweis, daß 10×100=1000 ist, den wir nicht übersehen könnten. Die Ziffer für 1000 im 1+1+1+1… System kann nicht durch ihre Gestalt erkannt werden.
||||||||||||||||||||||||||| |||||||||||||||| Ist diese Figur ein Beweis für 27+16=43 weil man zu ›27‹ kommt, wenn man die Striche der linken Seite zählt, zu ›16‹ auf der rechten Seite, und zu ›43‹, wenn man die ganze Reihe zählt? Worin liegt hier das Seltsame – wenn man die Figur den Beweis dieses Satzes nennt? Doch in der Art, wie dieser Beweis zu reproduzieren oder wiederzuerkennen ist; darin, daß er keine charakteristische visuelle Gestalt hat. Wenn nun jener Beweis auch keine visuelle Gestalt hat, so kann ich ihn dennoch genau kopieren (reproduzieren) – ist die Figur also nicht doch ein Beweis? Ich könnte ihn etwa in ein Stahlstück einritzen und von Hand zu Hand geben lassen. Ich würde also Einem sagen: »Hier hast du den Beweis, daß
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
27+16=43 ist.« – Nun, kann man nicht doch sagen: er beweise den Satz mit Hilfe der Figur? Doch; aber die Figur ist nicht der Beweis.3
Wittgenstein unterscheidet hier einen Beweis mit Hilfe der Figur und einen Beweis als Figur. Inwiefern wird 27+16=43 mit Hilfe der Strichfigur bewiesen und inwiefern ist die Figur nicht der Beweis? Die Figur ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| dürfte für die meisten Menschen keine spezifische Gestalt haben – im Gegensatz etwa zur Figur |||-|||-|||. Wir könnten dieser Figur einen Namen geben, nennen wir sie ›Neun‹. Könnten wir der längeren Strichreihe nicht ebenfalls einen Namen geben – etwa ›Dreiundvierzig‹? Natürlich; gleichwohl gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Figur ›Neun‹ identifizieren wir spontan und kriterienlos und insbesondere müssen wir nicht zählen. Nehmen wir nun an, jemand könnte die ›Dreiundvierzig‹ ebenso spontan und sicher identifizieren wie wir die ›Neun‹. Falls wir nur 42 Striche zählen, beharrt er, wir müssten uns verzählt haben. Was aber meint er damit, dass wir uns verzählt haben müssen? Dieses ›müssen‹ verweist in seinem Fall auf eine begriffliche Verbindung zwischen der Anzahl der Striche und dem Bild ›Dreiundvierzig‹. Die Strichreihe ||||||||||||||||||||||||||| + |||||||||||||||| = ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| könnte für ihn ebenso ein Beweis für 27+16=43 sein, wie ||||||-||| für uns ein Beweis ist, dass 3×3=9. Wir können die Figur ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| als ›Dreiundvierzig‹ identifizieren, indem wir die Striche abzählen. Und nachdem wir (zur Sicherheit vielleicht mehrmals) die Striche gezählt haben, schließen wir, dass, wer nicht 43 zählt, sich verzählt haben muss. Doch dieses Muss ergibt sich aus einer Gewissheit; das Muss desjenigen, der die Figur als Gestalt sieht, ergibt sich aber aus einer Begriffsverbindung. Denn für den, der ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| als Gestalt sieht, gibt es hier keinen Unterschied zwischen Maßstab und Gemessenem: Der Begriff Dreiundvierzig (eine Figur mit dreiundvierzig Strichen) wird hier nicht angewendet, sondern steht sozusagen gleichberechtigt neben dem Bild |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||. Wir hingegen können nicht in dieser Weise eine Brücke zwischen 27+16=43 und ||||||||||||||||||||||||||| + |||||||||||||||| = ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| schlagen, wie derjenige, der die Figur als Gestalt sieht. Die Figur ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| ist ein Gegenstand, auf den wir den Ausdruck ›Dreiundvierzig‹ anwenden können; doch für denjenigen, der die Figur als Gestalt sieht, ist sie nicht etwas, was er identifizieren kann, sondern etwas, was er un_____________ 3 BGM, 150f.
Satz und Bild
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mittelbar und kriterienlos identifiziert. Er schlägt daher eine begriffliche Brücke zu dieser Figur. Die Figur ist für ihn ein Paradigma. Aber warum sollte man hier von einer begrifflichen Verbindung sprechen? Schließlich könnte man ja auch dem Zeichen »φ« den Namen ›Neun‹ geben, und dadurch würde ja auch keine begriffliche Brücke zu diesem Zeichen hergestellt. Man würde hier lediglich ein Zeichen gegen ein anderes ersetzen. Um hier klarer zu sehen, bedarf es eines kurzen Exkurses zu den Begriffen Gestalt und Physiognomie. Gestalt: Die Figur |||-|||-||| ist für die meisten von uns eine Gestalt, wohingegen z. B. ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| keine Gestalt ist. Daher können wir das erste Bild hinweisend definieren. Dem zweiten Bild können wir zwar auch einen Namen geben (z. B. ›Dreiundvierzig‹), doch lässt sich dieses Bild nicht hinweisend definieren. Man kann allenfalls definieren, dass eine Figur ›Dreiundvierzig‹ zu nennen ist, wenn sie aus dreiundvierzig senkrechten Strichen besteht. Die Strichreihe |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| fällt dann unter diesen Begriff. Während man im Fall der dreiundvierzig Striche die Fähigkeit hat, die Figur als ›Dreiundvierzig‹ zu identifizieren (nämlich indem man die Striche zählt), sieht man im Fall der neun senkrechten Striche spontan und unwillkürlich, dass dies ›Neun‹ ist. ›Gestalt‹ nenne ich nun nicht, was man durch die Anwendung einer Technik identifizieren kann, sondern das, was man spontan und kriterienlos identifiziert. Physiognomie: Eine Reihe von drei Strichen (z. B. |||) hat eine Gestalt im gerade genannten Sinne – gleichwohl sagt (mir zumindest) diese Figur nichts: Eine Gestalt ist also nicht unbedingt ein Bedeutungsträger. Ein deutsches Wort hingegen (z. B. Maus) hat nicht nur eine Gestalt, sondern auch eine Physiognomie, und ein anderes, in vielerlei Hinsicht ähnliches Wort (z. B. Mäus) hat eine ganz andere Physiognomie, obwohl es ebenfalls eine Gestalt ist. Nicht jede Gestalt hat also auch eine Physiognomie.4 Während sowohl das Zeichen ||| als auch das Wort ›Maus‹ Gestalten sind, ist nur das letztere Wort (für mich) ein Bedeutungsträger und hat in diesem Sinne eine Physiognomie. Wie genau muss man |||-|||-||| auffassen, damit das Bild eine begriffliche Brücke zum mathematischen Satz 3×3=9 herstellt? Es ist klar, dass das Bild dies nicht per se leistet, vielmehr bedarf es hier eines bestimmten Sehens des Bildes. In der Erklärung des Satzes 3×3=9 durch |||-|||-||| soll das Bild in bestimmter Weise aufgefasst werden – und zwar als dreimal drei Striche. Aufgrund dieser Deutung ist das Bild nicht nur eine Gestalt, sondern hat auch eine Physiognomie, und durch _____________ 4 Man denke auch hier an das Beispiel des Dirigenten-Hammers.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Mathematik
diese Physiognomie stellt es eine begriffliche Verbindung zum mathematischen Satz 3×3=9 her. |||-|||-||| ist das Bild einer Bewegung oder eines Vorgangs. Daher meint Wittgenstein: »Sieh, so geben 3 und 2 5. Merk dir diesen Vorgang. ›Du merkst dir dabei die Regeln auch gleich.‹« 5 Man merkt sich ein Bild, allerdings als Bild eines Vorgangs, und daher bestimmt das Bild |||-|||-||| den Sinn des mathematischen Satzes 3×3=9.6 Das gleiche gilt für den Fall der Exponential-Schreibweise: Könnte man, wenn 10200 eine Abkürzung wäre, 1000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000 nicht genauso gut mit dem Zeichen φ abkürzen? Aber was ist mit dem Zeichen φ anzufangen? Um den mathematischen Ausdruck ›10200‹ zu verstehen, genügt es ja nicht, dass das Zeichen eine Gestalt ist, es muss vielmehr auch eine Physiognomie haben, d. h., man muss das Zeichen, ähnlich wie den Kolben in Abb. 10, als Bild eines Vorgangs sehen.
§ 3. Zusammenfassung Wer nur weiß, dass es einen Beweis für einen mathematischen Satz gibt, ohne aber zu wissen, wie der Beweis lautet, dem mangelt es am Verständnis des mathematischen Satzes. Zu wissen, dass es einen Beweis gibt (ohne ihn aber zu kennen), ist vergleichbar mit dem Wissen, dass es eine Erklärung für ein bestimmtes Wort gibt (dass etwas ein Wort ist), ohne aber zu wissen, wie die Erklärung des Wortes lautet. Der mathematische Beweis hat daher eine erklärende Funktion. In den Naturwissenschaften ist das anders: Wer weiß, dass es einen Beweis für p gibt, der weiß, dass p wahr ist (selbst wenn er den Beweis nicht kennt). Nicht der Sinn des Satzes steht in Frage, sondern sein Wahrheitswert.7 Dass in der Mathematik jede Unklarheit eine Unklarheit des Sinns sein muss, _____________ 5 BGM, 307. 6 Damit ist nicht gesagt, dass es nicht noch eine ganze Reihe weiterer Erklärungen gibt. 7 Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Naturwissenschaftler mit dem Sinn ihrer Aussagen immer auf der sicheren Seite stehen. Wenn ein Psychologe behauptet, A sei intelligenter als B, so ist im Allgemeinen auch der Sinn seiner Behauptung unterbestimmt. Durch den vermeintlichen Intelligenztest legt der Forscher im Allgemeinen erst fest, was er unter Intelligenz verstehen will.
Satz und Bild
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liegt daran, dass sich hier zwischen Essenz und Existenz nicht unterscheiden lässt: Die Mathematik ist ein System begründungs-autonomer Regeln. Qua Praxis ist die Mathematik allerdings nicht sinn-autonom. Zwar lässt sich ein mathematischer Satz weder durch Zwecke noch durch Naturtatsachen begründen. Jedoch der Sinn des Satzes hängt von seiner funktionalen Einbettung ab. Ein wesentlicher Aspekt dieser Einbettung ist, dass wir vermittels der Mathematik beschreiben und vorhersagen: Wir schließen von einem empirischen Satz auf andere empirische Sätze. Der Sinn dieser Schlüsse hängt allerdings von der Natur der Dinge ab – daher rechnen wir mit Regentropfen und Seifenblasen nicht so, wie etwa mit Äpfeln und Menschen. Insofern der Sinn der Mathematik durch nicht-mathematische Tatsachen bestimmt wird, hängt auch der mathematische Beweis von nichtmathematischen Tatsachen ab: Die Mathematik bildet Begriffe, indem sie den Ausgang eines Prozesses als dem Prozess wesentlich erklärt. Damit dies möglich ist, muss das Bild dieses Prozesses aber einen Gestaltcharakter haben. Dadurch, dass man das Bild als Bild eines Prozesses sieht, hat die Gestalt eine Physiognomie. Dass aber genau dieser Begriff, dieses Bild, unser Interesse weckt, hat seine Gründe außerhalb der Mathematik.
III Zur Anwendung der Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Sprache
I. Regel und Witz der Sprache § 1. Einleitung Zwei Themen stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Erstens werde ich mich mit dem Begriff der Bedeutung befassen. Laut Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes im Wesentlichen durch den Gebrauch des Wortes bestimmt. Dieser Gebrauch hat allerdings zwei Seiten: Einerseits ist die richtige Verwendung eines Wortes an Regeln geknüpft. Andererseits hat die Verwendung aber auch einen Witz, der sich nicht wiederum in Regeln übersetzen lässt. Aufgrund des Witzes spielen im Hinblick auf die Bedeutung von Satz und Wort teleologische Aspekte eine Rolle. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werde ich zweitens Licht auf die Begriffe Wissen und Zweifel werfen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die von den Nachlassverwaltern Wittgensteins 1969 veröffentlichten Bemerkungen Über Gewißheit. Von wem und in welchem Maße Wittgenstein Anregungen zu diesen Bemerkungen erhalten hat, ist nicht ganz klar. Während die Herausgeber in ihrem Vorwort ein besonderes Interesse Wittgensteins an Moores A Defence of Common Sense 1 nahe legen, vermutet Malcolm2, dass Wittgenstein erst durch Diskussionen mit ihm, Malcolm, zur Beschäftigung mit dem Thema Gewissheit angeregt wurde.3 Zudem steht das Vorwort der Herausgeber in Widerspruch zu Malcolms Angaben bezüglich Wittgensteins Wertschätzung der Mooreschen Philosophie. Laut Malcolm galt Wittgensteins Wertschätzung wohl
_____________ 1 G. E. Moore: A Defence of Common Sense. In: Ders.: Philosophical Papers. London 1959, S. 32−59. 2 N. Malcolm: Moore and Wittgenstein on the Sense of »I know«. In: Ders.: Thought and Knowledge, London 1977, S. 170−198, hier S. 172 (Fußnote). Vgl. auch: M. Kober: Gewißheit als Norm: Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit. Berlin 1993, S. 15−25. 3 Rhees hingegen hebt hervor, dass Wittgenstein sich nicht erst ab 1949 für die Eigentümlichkeit der Mooreschen Sätze interessierte. R. Rhees: Wittgenstein’s On Certainty. Oxford 2003, S. 4f., auch S. 44.
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eher Moores Persönlichkeit als dessen philosophischen Qualitäten.4 Spekuliert wird über einen Einfluss J. H. Newmans Grammar of Assent.5 In Über Gewißheit findet sich allerdings nur ein einziger (zudem sehr vager) expliziter Bezug auf Newman. Dahingegen bezieht sich Wittgenstein in über vierzig Paragraphen unmittelbar auf Moore. Gleichwohl ist auch Moores Text insgesamt eher Anlass als Gegenstand der Wittgensteinschen Analysen. Moore glaubte, auf der Grundlage bestimmter ›Trivialitäten‹ dem »Skandal in der Philosophie«, wie er es in Kants Worten nannte, ein Ende zu bereiten, »das Dasein der Dinge außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.«6 Moore selbst versucht den vermeintlich fehlenden Beweis in seinem Aufsatz Proof of an External World.7 Bereits vierzehn Jahre früher veröffentlichte er seinen Aufsatz A Defence of Common Sense, in dem er gegen den Skeptiker darzulegen versucht, dass wir bestimmte Trivialitäten mit Gewissheit wissen. Einige Beispiele solcher Trivialitäten sind etwa folgender Art:8 (1) Wasser siedet bei 100ºC. (2) Die Erde ist rund. (3) Ein abgehackter Arm wächst nicht wieder nach. (4) Die Natur weist Gesetzmäßigkeiten auf. (5) Die Erde hat schon lange vor meiner Geburt existiert. (6) Jeder Mensch hat Eltern. (7) Katzen wachsen nicht auf Bäumen. (8) Jeder Mensch hat ein Gehirn. (9) Das ist ein Buch. (10) Ich
_____________ 4 Vgl. auch H-J. Glock: Knowledge, Certainty and Scepticism: In Moore’s Defence. In: D. Moyal-Sharrock: The third Wittgenstein: the post-investigation works. Burlington 2004, S. 63−78. S. 63ff. 5 Vgl. etwa: W. Kienzler: Wittgenstein and John Newman on Certainty. In: Grazer Philosophische Studien, 71 (2006), S. 117−138. FitzPatrick weist allerdings darauf hin, dass Wittgenstein laut Anscombe Newmans Grammar of Assent nie gelesen habe. Vgl.: P. J. FitzPatrick: Eine komische Bemerkung H. Newmans. In: E. u. W. Leinfeliner; H. Berghel; A. Hübner (Hg.): Wittgenstein und sein Einfluß auf die gegenwärtige Philosophie. Wien 1978, S. 42−49. 6 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. v. W. Weischedel, Bd. II, Darmstadt 1983, S. B XXXIX. 7 G. E. Moore: Proof of an External World. In: Ders.: Philosophical Papers, S. 127−150. 8 Die hier aufgelisteten ›Gewissheiten‹ stammen aus Wittgensteins Über Gewißheit. Moores Liste stimmt nur marginal mit der hier vorgestellten Liste überein.
Regel und Witz der Sprache
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lebe in Deutschland. (11) Mein Name ist T.P. Ertz. (12) Ich war noch nie in China (auf dem Mond).9 Wittgenstein ist weder mit dem Skeptiker noch mit Moores Widerlegungsversuchen des Skeptizismus einverstanden. Seine Argumentation richtet sich aber nicht darauf, oder zumindest nicht nur darauf, dem Skeptiker (und auch Moore) sprachliche Regelverstöße, das heißt, eine regelwidrige Verwendung der Worte ›Wissen‹ und ›Zweifel‹ nachzuweisen. Vielmehr verweist Wittgenstein, sowohl gegen den Skeptiker als auch gegen Moore, vor allem auf den Witz des Wissens und Zweifelns.10 In einem ersten Schritt werde ich versuchen zu zeigen, dass eine adäquate Bedeutungstheorie teleologisch sein muss. Der Ausgang sprachlicher Bedeutung liegt in dem, was Wittgenstein ›Sprachspiel‹ nennt. Sprachspiele sind aber nicht nur durch Regeln bestimmt, sondern haben auch einen Witz. In diesem Zusammenhang konzentriere ich mich vor allem auf das Behaupten. Die Behauptung ist gleichsam der Angelpunkt für die Themen Zweifel und Wissen, da das Wissen im Folgenden als Fähigkeit aufgefasst wird, wahre Behauptungen aufzustellen, während der begründete Zweifel als die Fähigkeit bestimmt wird, die Wahrheit von Behauptungen in Frage zu stellen.
§ 2. Die Sprache: eine Praxis? Eine Praxis ist im Wesentlichen durch ihre Regeln und ihren Witz bestimmt. Denken wir zur Erinnerung an das Schachspiel: Das Schachspiel wird einerseits durch seine Regeln konstituiert. Gleichwohl ist das Spiel durch diese Regeln unterbestimmt, da dasselbe Regelsystem, das nun ein Schachspiel konstituiert, derart in unser Leben eingebettet sein könnte, dass es kein Spiel mehr wäre, sondern ein Ritus oder ein Duell. _____________ 9 ÜG, (1) 293, (2) 291, (3) 274, (4) 315, (5) 84, (6) 211, (7) 282, (8) 4, (9) 17, (10) 70, (11) 594, (12) 333. Die Sätze wurden von mir teilweise umformuliert und inhaltlich angepasst. 10 Dass Zweifel und Wissen nicht in einem eigenen Kapitel behandelt, sondern im Rahmen der Sprache diskutiert werden, verlangt eine Erklärung. Denn wenn nun Themen der Erkenntnistheorie besprochen werden, könnte man fragen, warum nicht auch die Mathematik und die Moral in diesem Kapitel besprochen werden. Der Grund hierfür ist, dass Zweifel und Wissen hier unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt betrachtet werden – nämlich im Hinblick auf ihre Verbindung zum Sprechakt des Behauptens.
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Inwiefern lässt sich nun die Sprache als eine Praxis auffassen? Das Spiel ist funktional gegen den Ritus abgrenzt, die Mathematik gegen die bloße Ornamentik und die Moral gegen eine Mafia-Etikette.11 Aber wie lässt sich die Sprache funktional abgrenzen? Die Sprache scheint alle möglichen Funktionen haben zu können. Ich werde im Folgenden daher nicht von der Funktion der Sprache sprechen, sondern eher eine Reihe von funktionalen Bereichen hervorheben: z. B. orientieren, etwas veranlassen, trösten, unterrichten, etc. Vor diesem Hintergrund fasse ich nicht die Sprache als Praxis auf, sondern bestimmte sprachliche Handlungsmuster, wie z. B. Behaupten, Vermuten, Fragen, Bitten, Beschreiben, etc. – also in etwa das, was Wittgenstein »Sprachspiele«12 und Austin »Illokutionen«13 nannte. Konzentrieren werde ich mich nun exemplarisch auf das Behaupten,14 das sich funktional z. B. gegen das Vermuten abgrenzen lässt: Behauptungen sind unter anderem dazu da, Orientierung zu geben, während eine Vermutung eher Grund für weitere Nachforschung gibt. ›Orientierung‹ ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen, das heißt, es geht nicht nur um Verhaltensorientierung, sondern auch um Orientierung im Denken. Ein Beispiel kann der Konturierung dienen: Nehmen wir an, jemand fragt nach dem Weg zur Uferpromenade, woraufhin man (a) behauptet, er müsse sich immer nach Süden halten, oder (b) vermutet, er müsse in Richtung Süden gehen. Die Vermutung gibt dem Fragenden eher einen Grund, weitere Nachforschungen anzustellen, während die Behauptung ihm einen Grund liefert (oder liefern will), in die angegebene Richtung zu gehen, und falls sein Interesse ein bloß theoretisches ist, so ist die Behauptung ein Grund zu glauben, dass die Uferpromenade in Richtung Süden liegt. Die Funktion der Orientierung ist für die Behauptung von konstitutiver Bedeutung. Denn träfe man auf Menschen, die Sätze zwar in einem typischen Ton der Behauptung aussprächen, sich dann aber prinzipiell nicht an diesen Sätzen orientierten, wäre nicht klar, warum man ihre _____________ 11 Vgl. dazu Teil IV. 12 Vgl. PU, 7. 13 J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 2002. 14 Ich fasse das Behaupten, Vermuten, etc. nicht als unterschiedliche ›Spiele‹ auf, sondern betone eher die Analogie zur Unterscheidung von Schachspiel und Schachritus. Auch Wittgenstein will durch seine Verwendung des Ausdrucks »Sprachspiel« ja nicht suggerieren, alle Sprachverwendung sei ein Spiel. Zwar kann man auch das Behaupten wohl nicht als ein Sprachspiel auffassen, da Behauptungen sehr viele und recht unterschiedliche Funktionen haben. Hier geht es allerdings nur um eine grobe Abgrenzung zur Vermutung, wozu es, wie mir scheint, einer genaueren Differenzierung nicht bedarf.
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Sätze ›Behauptungen‹ nennen sollte. Der Behauptung kommt die Tauglichkeit zur Orientierung nicht so zu, wie einem Stein vielleicht die Tauglichkeit zukommt, Nägel einzuschlagen. Vielmehr ist die Tauglichkeit zur Orientierung ein internes Gütekriterium der Behauptung. Wie man im Schach nicht nur die Regeln, sondern auch den Witz des Spiels kennen muss, so muss man, um zu verstehen, was eine Behauptung ist, wissen, wozu sie dienen soll, was also ihre Funktion bzw. ihr Witz ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Orientierung die einzige Funktion der Behauptung ist (wie auch die Unterhaltung nicht die einzige Funktion des Spiels ist), es geht hier lediglich darum, die Behauptung funktional gegen andere Praxen – wenn auch nur sehr grob – abzugrenzen. Dadurch ergibt sich für die Behauptung eine ähnliche teleologische Struktur wie für das Spiel: Einerseits ist die Funktion der Unterhaltung konstitutiv für das Spiel, insofern es sich unter anderem durch diesen Aspekt vom Ritus und vom Duell abhebt. Gleichwohl kann eine Partie das Ziel der Unterhaltung verfehlen, ohne dadurch aufzuhören, ein Spiel zu sein – das Spiel ist dann eben langweilig, uninteressant und witzlos. Wer aber verstanden hat, was ein Spiel ist, weiß auch, wie es sein sollte. Ebenso verhält es sich mit der Behauptung: Behauptungen sollen unter anderem orientieren; dadurch unterscheiden sie sich von Vermutungen oder auch von Theater-Behauptungen.15 Gleichwohl kann eine konkrete Behauptung diese Funktion verfehlen: etwa weil man ihre Wahrheit bezweifelt, weil man demjenigen, der die Behauptung aufstellt, nicht traut, etc. Es mag also Gründe geben, sich nicht an der Behauptung zu orientieren. Aber gerade diese Gründe bestimmen die funktionale Einbettung der Behauptung und unterscheiden sie so von der Vermutung oder auch von der Theater-Behauptung. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ein Schauspieler behauptet, dass p. Felix glaubt ihm und orientiert sich an dieser Behauptung. Diese Orientierung kann z. B. darin bestehen, dass er bei nächster Gelegenheit, zur unfreiwilligen Belustigung anderer, dasselbe behauptet. Kann Felix den Schauspieler nun zur Rechenschaft ziehen und sagen: »Aber Sie haben doch behauptet…«? Offensichtlich nicht, es _____________ 15 Die Abgrenzung der Behauptung zur Theater-Behauptung liegt in einer anderen Dimension als die Abgrenzung zur Vermutung. Die Theater-Behauptung imitiert die Behauptung und ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung Spiel vs. Ernst zu verstehen. Genauere Differenzierungen müssen uns nun allerdings nicht kümmern, da es hier lediglich darum gehen soll darzustellen, dass die Praxis der Behauptung unter anderem durch ihre Funktion konstituiert wird. Um das zu zeigen, kann uns sowohl die Vermutung als auch die Theater-Behauptung dienen. Und zwar unabhängig davon, dass die Art der Abgrenzung in beiden Fällen sehr unterschiedlich ist.
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war eben nur eine Theater-Behauptung. Ähnliches gilt für die Abgrenzung der Behauptung zur Vermutung: Die Aussage »Du hattest doch behauptet…« mag unter geeigneten Umständen eine Kritik artikulieren, wo die Aussage »Du hattest doch vermutet…« als Kritik völlig ungeeignet wäre. Auch dies verweist auf die Orientierungsfunktion der Behauptung in Abgrenzung zur Vermutung.16 Später werde ich auf die Funktion und den Witz der Behauptung zurückkommen. Im Folgenden möchte ich vorerst darstellen, von welchen Regeln der Behauptung die Rede sein soll. Um hier klarer zu sehen, werde ich wiederum Analogien zwischen Sprache und Spiel hervorheben. a. Regeln sprachlicher Praxen Um den Praxischarakter der Sprache hervorzuheben, konzentriere ich mich auf Analogien zwischen Sprache und Schachspiel. Bleiben wir beim Beispiel der Behauptung: Inwiefern ist das Behaupten eine Praxis im oben genannten Sinne? Es wurden bisher zwar eine Funktion und Aspekte des Witzes der Behauptung benannt, aber noch keine Regeln. Und in gewisser Hinsicht gibt es für das Behaupten ja auch keine Regeln – und zwar in dem Sinne, in dem es auch für das Spiel keine Regeln gibt. Wer ein Spiel spielt, spielt Schach, Skat, Fang den Ball, Fußball, Solitär oder irgendein anderes Spiel. Nicht das Spiel ist eine regelgeleitete Praxis, sondern z. B. Schach, Skat, Fang den Ball, Fußball, Solitär, etc. Ähnliches gilt für die Behauptung: Wer etwas behauptet, behauptet, dass p. Und gerade so, wie nicht das Spiel, sondern das Schachspiel eine regelgeleitete Praxis ist, so ist nicht das Behaupten eine Praxis, sondern z. B. die Behauptung, dass Peters Auto rot ist. Wie aber lauten (in Analogie zu den Regeln des Schachs) die Regeln der Behauptung, dass Peters Auto rot ist?17 Wie es im Schach Regeln für die jeweiligen Schachfiguren gibt, gibt es beim Behaupten Regeln für die Verwendung der jeweiligen _____________ 16 Ganz ähnlich kritisiert man jemanden, der sich ein Spiel allzu sehr zu Herzen nimmt: »Es ist doch bloß ein Spiel«. 17 Im Vergleich zu den ›Regeln des Schachs‹ mag es gekünstelt erscheinen, von ›Regeln der Behauptung‹ zu sprechen. Dies dürfte daran liegen, dass wir Spiele im Gegensatz zur Sprache zumeist durch explizite Regeln lernen. Wenn wir uns Menschen vorstellen, die Schach nicht durch explizite Regelangaben lernen, wird die Frage nach den Regeln des Schachs bei ihnen wohl ebenso wenig spontane Antworten hervorbringen wie bei uns die Frage nach den Regeln der Behauptung, dass Peters Auto rot ist.
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Wörter: Dies ist rot; Rot ist eine Farbe; Rot ist heller als Schwarz; ein Auto ist ein motorisiertes Fortbewegungsmittel; etc.18 Wenn man die Regeln des Schachs ändert, spielt man unter Umständen immer noch ein Spiel – gerade so, wie man immer noch etwas behauptet, wenn man einige der genannten Regeln der Behauptung, dass Peters Auto rot ist, ändert. Werden diese Regeln allerdings wesentlich geändert, handelt es sich nicht mehr um die Behauptung, dass Peters Auto rot ist – gerade so, wie man kein Schachspiel mehr spielt, wenn man die Regeln des Schachs wesentlich verändert. Die Regeln des Schachs könnten so in unser Leben eingebettet sein, dass sie kein Spiel mehr konstituieren, sondern einen Ritus oder einen Kampf. Gilt Analoges im Fall der Behauptung, dass Peters Auto rot ist? Ich denke, ja. Denn die Äußerung des Satzes »Peters Auto ist rot« kann in Abhängigkeit vom Kontext eine Handlung innerhalb sehr unterschiedlicher Praxen sein: es könnte eine Vermutung oder auch eine TheaterBehauptung, d. h. eine Scheinbehauptung sein. Die Erklärung der Regeln der Wortverwendung wäre aber in diesen Fällen identisch. Nach der Bedeutung eines Wortes gefragt, kann man mit der Angabe von Verwendungsregeln antworten. Eine Erklärung des Wortes ›rot‹ könnte z. B. lauten: Dies ist rot, Rot ist heller als Schwarz, Rot ist eine Primärfarbe, etc. Diese Erklärungen allein können die Bedeutung des Wortes ›rot‹ aber nicht bestimmen, da die Erklärung »Dies ist rot« nur unter der Voraussetzung verschiedener Praxen (wie etwa dem Behaupten, dass Peters Auto rot ist) eine Erklärung unseres Begriffs rot ist.19 Dieser Punkt soll nun genauer untersucht werden. b. Die funktionale Einbettung sprachlicher Regeln Denken wir zur Verdeutlichung nochmals an das Schachspiel: Die ›Bedeutung‹ der jeweiligen Figur wird zum einen durch ihre Regeln bestimmt. Aber auch im Schachritus hieße eine Erklärung der Königsfigur: _____________ 18 Auf den möglichen Einwand, dass es neben diesen Regeln insbesondere Regeln bzgl. der Evidenzen gibt, welche die Behauptung z. B. von der Vermutung unterscheiden, werde ich zurückkommen. Aber unabhängig von diesem Punkt sollen nun die genannten Regeln im Mittelpunkt stehen, da gezeigt werden soll, dass nicht nur die Satzbedeutung, sondern auch die Wortbedeutung eine teleologische Struktur aufweist. 19 Vgl. BPP II, 658: »Die Farben könnten in einer andern Welt eine andere Rolle spielen als in der unsern.«
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»Das ist der König, er darf so und so ziehen«. Eine Regel des Schachspiels ist diese Erklärung allerdings nur aufgrund ihrer funktionalen Einbettung. Und zu dieser Einbettung gehört es z. B., dass im Rahmen dieser Praxis keine Menschen geopfert werden. Hat die Figur im Ritus aber eine andere ›Bedeutung‹ als im Spiel? Offenbar handelt es sich im einen Fall um eine Spielfigur, im anderen eben nicht. Wenn allerdings die Bedeutung eines Wortes (oder der Figur) durch seine Regeln bestimmt wird, scheint die Einbettung irrelevant, da die Erklärungen der Regeln im Spiel und im Ritus identisch sind. Andererseits scheint derjenige, der zwar die Regeln der Königsfigur im Schachspiel kennt, das Ganze aber für einen religiösen Ritus oder eine wirkliche Schlacht hält, etwas misszuverstehen. Wie verhält es sich in der Sprache? Bleiben wir bei der Behauptung, Peters Auto sei rot, und nehmen wir an, die Farbe von Kraftfahrzeugen würde sich ständig in unvorhersehbarer Weise ändern. Welchen Sinn hätte dann noch die Behauptung, dass Peters Auto rot ist? Eine Funktion der Behauptung ist die Orientierung: Aber welche Orientierung und welche Art von Grund könnte die ›Behauptung‹, Peters Auto sei rot, nun noch liefern? Diese ›Behauptung‹ wäre doch in ähnlicher Weise entstellt, wie die ›Addition‹ der Regentropfen oder aber das ›Wiegen‹ des seltsamen Käses. Doch selbst wenn man zugesteht, dass unter den beschriebenen Voraussetzungen keine Behauptung mehr über Peters Wagenfarbe möglich wäre, ist doch nicht klar, inwiefern das für die Bedeutung der Wörter relevant sein sollte. Die oben genannten Regeln zur Verwendung des Wortes ›rot‹ scheinen noch immer dieselben zu sein. Nämlich: Dies ist rot; Rot ist eine Farbe; Rot ist heller als Schwarz; etc. Daher mag es prima facie unplausibel erscheinen, von einer anderen Bedeutung zu sprechen. Aber dennoch: Was könnte es heißen, eine Behauptung über Peters Wagenfarbe zu machen, wenn sich die Farben in der beschriebenen Weise ständig änderten? Sollte jemand die Aussage »Peters Auto ist rot« äußern und hinzufügen: »Ich meine das als Behauptung«, so wäre vielleicht nicht klar, ob er weiß, was eine Behauptung ist. Man könnte aber auch denken, dass er nicht wisse, was ›rot‹ bedeutet – schließlich kann die Unklarheit des Sinns auf verschiedenen Ebenen liegen. Die Frage »Was bedeutet φ?«, wobei ›φ‹ ein beliebiges Wort ist, lässt sich durch eine Erklärung beantworten. Diese Erklärung kann unterschiedlicher Art sein: eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere, ein Hinweis auf einen Gegenstand, eine Umschreibung durch ähnliche Begriffe oder durch Gegenbegriffe, die Erklärung kann Situationen beschreiben, in denen das Wort verwendet wird oder aber sie liefert eine Definition. Bei jeder Worterklärung kann die Frage aufkommen,
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was die in der Erklärung verwendeten Begriffe bedeuten – und dies scheint das Tor zu einem infiniten Regress aufzustoßen. Denn wenn die erklärenden Begriffe ihrerseits erklärungsbedürftig sind, ist die Erklärung nur von geringem Nutzen. Mindestens zwei Dinge sollten hier allerdings berücksichtigt werden. Erstens gibt es, wie bereits gesagt, unterschiedliche Arten der Erklärung: Ein Wort kann durch andere Worte erklärt werden – es kann aber auch z. B. durch den Hinweis auf einen Gegenstand erklärt werden. Zweitens kann eine Erklärung selbst wiederum erklärungsbedürftig sein – sie muss es aber nicht. Die Frage ist daher, wann eine Erklärung selbst wieder erklärt werden muss. Das ist dann der Fall, wenn die Erklärung nicht verstanden wurde. Doch wann wurde sie nicht verstanden? Das entscheidende Kriterium des Verständnisses ist die richtige Anwendung. Bei der Anwendung gibt es aber mindestens zwei Arten von Fehlern. Ein Beispiel: Man lehrt ein Kind die Rechnung 2+2=4. Nun kann das Kind einerseits den Fehler begehen, 2+2=5 zu schreiben. Doch andererseits hat das Kind den Sinn der Addition auch dann nicht verstanden, wenn es z. B. Regentropfen addieren will. Oder sollte man etwa sagen, das Kind kenne zwar die Regel 2+2=5, nur habe es noch nicht verstanden, wie die Regel anzuwenden sei? Nun, das Kind hat doch offenbar noch nicht verstanden, was es heißt zu rechnen, und das heißt: Es hat den Sinn der Regel 2+2=4 noch nicht verstanden. Ebenso in der Sprache: Wie wäre es, wenn bestimmte Sprachspiele mit unseren Farbbegriffen nicht ›gespielt‹ würden – wenn es z. B. keine Farburteile, kein Bezeichnen, Identifizieren, Beschreiben und Berichten gäbe? Wäre die Erklärung »Dies ist rot« dann immer noch eine Erklärung eines Farbwortes? Wenn man sich von der Vorstellung löst, die Bedeutung des Wortes ›rot‹ werde durch einen Gegenstand (quasi ein Farbmuster) bestimmt, dann ist doch klar, dass die Anwendung der Erklärungen unterschiedlicher Art sein könnte. Die Bedeutung des Wortes ›rot‹ wird einerseits durch die Regeln seiner Verwendung bestimmt, andererseits aber auch durch die Sprachspiele, in denen das Wort verwendet wird. Diese Sprachspiele haben allerdings eine teleologische Struktur. Um die Bedeutung eines Wortes (einer Figur) zu kennen, muss man nicht nur etwas können (nämlich die Anwendung der Regeln), sondern man muss auch einiges kennen (nämlich den Witz der Regeln). Das heißt, die funktionale Einbettung des Regelsystems bestimmt nicht nur, um welche Praxis es sich handelt, sondern auch die Bedeutung der Regeln innerhalb der Praxis. Anders gesagt: Den Sinn der Regeln bestimmen heißt auch: ihren Witz bestimmen. Daher muss man zur Kenntnis der Bedeutung eines Wortes nicht nur wissen, wann das Wort richtig und falsch verwendet wird, sondern auch, wozu es verwendet wird. Die Bedeutung eines Wortes ist daher nur teleologisch zu verstehen. Heißt
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das nun, dass unsere Farbbegriffe ihre Bedeutung verlören, wenn sich die Farbe der Gegenstände ständig in unvorhersehbarer Weise änderte? Zumindest ist doch nicht mehr klar, wie man die Erklärungen »Dies ist rot; Rot ist heller als Schwarz…« anwenden sollte. Die Beziehung zwischen Bedeutung und funktionaler Einbettung soll im Folgenden näher geklärt werden.
§ 3. Funktionen der Sprache Ähnlich wie in der Mathematik und der Moral20 gibt es in der Sprache mindestens zwei Weisen, ihre funktionalen Strukturen zu missdeuten. Gerade so, wie der Utilitarismus die Moral funktionalistisch missdeutet, wird die Sprache funktionalistisch missdeutet, wenn man sie auf ihre Wirkungen reduziert: Wenn man jemandem sinnlose Wortfetzen entgegenruft und er einen daraufhin verwundert anstarrt, dann bedeuten diese Worte nicht, dass er verwundert dreinschauen soll – selbst wenn es genau das war, was man beabsichtigte.21 Hier trägt die Analogie von Sprache und Werkzeug: Man kann einen Nagel sowohl mit einem Stein als auch mit einem Hammer in die Wand schlagen. Doch nur der Hammer hat die Funktion, Nägel einzuschlagen. Dass man etwas zu einem bestimmten Zweck verwendet, bedeutet eben nicht, dass es diesen Zweck auch hat. Ebenso in der Sprache: Aufforderung, Behauptung, Vermutung etc. haben eine Funktion und werden nicht nur zu bestimmten Zwecken verwendet. Daher ist die Frage »Hat dieses Zeichen eine Bedeutung?« analog zur Frage »Hat dieser Gegenstand eine Funktion?«. Und nicht etwa analog zur Frage: »Kann man diesen Gegenstand zu diesem Zweck verwenden?«22 Aber wie weit reicht die Analogie zwischen Sprache und Werkzeug? Sollte der Hammer seine Funktion nicht erfüllen, weil etwa der Kopf nicht fest auf dem Stiel sitzt, dann ist der Hammer schlecht bzw. defekt. Gibt es auch eine ›schlechte‹ Aufforderung, Behauptung, oder Vermutung? Eine Aufforderung kann z. B. unangemessen oder unverschämt sein, eine Behauptung unbegründet und eine Vermutung vorschnell. Zwar kann man auch einer berechtigten Aufforderung aus guten Gründen entgegenhandeln. Allerdings zeigt auch dieser Fall, dass es _____________ 20 Vgl. dazu Teil IV. Letztlich geht es hier, wie schon im Kapitel zur Mathematik und später im Kapitel zur Moral, darum, Denkfiguren zwischen Autonomismus und Funktionalismus herauszustellen. 21 Vgl. PU, 498. 22 Vgl. ÜG, 351.
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einen funktionalen Bezug der Aufforderung gibt: Denn in jedem Fall gibt es mehr oder weniger gute Gründe, der Aufforderung zu folgen, sie zu ignorieren oder ihr entgegenzuhandeln: Die Aufforderung hat also einen unmittelbaren Bezug zu Gründen. Dieser funktionale Bezug ist durchaus keine Eigenheit der performativen Sprache, also z. B. der Aufforderung. Wie wir oben bereits gesehen haben, sagen auch wahre Behauptungen nicht einfach nur aus, was der Fall ist, sondern sind in ein Netz von Gründen eingebettet. Diese Einbettung bestimmt den Sinn des Behauptens und unterscheidet das Behaupten so von der Vermutung und der Theater-Behauptung. Damit man von einem defekten Werkzeug, etwa einem defekten Hammer, sprechen kann, muss das Werkzeug unabhängig von seiner faktischen Funktionsfähigkeit identifizierbar sein – beispielsweise durch seine typische Form. Zwar ist ein Hammer durch seine Funktion definiert, doch setzt die Funktion des Hammers die Möglichkeit einer Fehlfunktion voraus. Das heißt, obwohl ein Hammer durch seine Funktion definiert ist, muss er unabhängig von seiner Funktion identifizierbar sein. Ähnlich verhält es sich in der Sprache: Eine Behauptung muss unabhängig von ihrer Orientierungsfunktion als Behauptung (z. B. durch den Kontext oder auch durch den Ton der Aussage) identifizierbar sein – sie ist gleichsam sinnbildlich, bzw. symbolisch prägnant. Nur so kann eine Behauptung überhaupt ihre Funktion verfehlen. Doch trotz dieser Art der funktionalen Unabhängigkeit ist eine Behauptung nicht bloß durch ihre Form, also unabhängig von ihrer funktionalen Einbettung, definiert. Dies führt uns zur zweiten möglichen Fehldeutung der funktionalen Einbettung der Sprache. Man könnte diese Position ›autonomistisch‹ nennen: Die Bedeutung eines Ausdrucks wird hier gänzlich unabhängig von dessen Funktion bestimmt.23 Diese Deutung der Sprache schreibt einem Satz wie z. B. »Dies ist meine Hand« einen Sinn zu, unabhängig davon, unter welchen Umständen der Satz geäußert wurde. Natürlich ist »Dies ist meine Hand« ein sinnvoller Satz der deutschen Sprache – eben weil er sinnvoll verwendet werden könnte. Damit ist aber nicht gesagt, dass derjenige, der diesen Satz äußert, unter allen Umständen etwas Sinnvolles sagt; und zwar genauso wenig wie jemand, der Gegenstände auf eine funktionierende Waage legt, unter allen Umständen wiegt.
_____________ 23 Hierunter fallen alle Theorien, die sprachliche Bedeutung mit einem Gegenstand – sei dieser nun konkret oder abstrakt – oder auch mit einer Vorstellung oder Idee identifizieren.
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§ 4. Zwischen Funktionalismus und Autonomismus Die Kontextabhängigkeit der Bedeutung Im Folgenden werde ich darstellen, inwiefern man der funktionalen Einbettung der Sprache gerecht werden kann, ohne sie zu funktionalisieren, und wie man der relativen Unabhängigkeit der Sprache gerecht wird, ohne sie zu autonomisieren. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist folgende Bemerkung Wittgensteins: Ich weiß, daß hier ein kranker Mensch liegt? Unsinn! Ich sitze an seinem Bett, schaue aufmerksam in seine Züge. – So weiß ich also nicht, daß da ein Kranker liegt? – Es hat weder die Frage noch die Aussage Sinn. So wenig wie die: »Ich bin hier«, die ich doch jeden Moment gebrauchen könnte, wenn sich die passende Gelegenheit dazu ergäbe. – So ist also auch »2×2=4« Unsinn und kein wahrer arithmetischer Satz, außer bei bestimmten Gelegenheiten? »2×2=4« ist ein wahrer Satz der Arithmetik – nicht »bei bestimmten Gelegenheiten« noch »immer« – aber die Laut- oder Schriftzeichen »2×2=4« könnten im Chinesischen eine andere oder keine Bedeutung haben oder aufgelegter Unsinn sein, woraus man sieht: nur im Gebrauch hat der Satz Sinn. Und »Ich weiß, daß hier ein Kranker liegt«, in der unpassenden Situation gebraucht, erscheint nur darum nicht als Unsinn, vielmehr als Selbstverständlichkeit, weil man sich verhältnismäßig leicht eine für ihn passende Situation vorstellen kann und weil man meint, die Worte »Ich weiß, daß…« seien überall am Platz, wo es keinen Zweifel gibt (also auch dort, wo der Ausdruck des Zweifels unverständlich wäre).24
Wittgenstein behauptet also, dass Sätze wie z. B.: (KM) »Ich weiß, dass hier ein kranker Mensch liegt.«
nur in einem bestimmten Kontext Sinn haben.25 In welchem Sinne ist KM – verwendet unter den von Wittgenstein beschriebenen Umständen (:=KMS) – sinnlos?26
_____________ 24 ÜG, 10. Analog dazu: ÜG, 350−352. 25 Wittgenstein will diese Behauptung nicht so verstanden wissen, dass auch ein Satz wie »2×2=4« nur unter bestimmten Umständen Sinn hat. Ich denke nicht, dass es Wittgensteins Absicht ist, hier einen Unterschied zwischen mathematischen und empirischen Sätzen hervorzuheben. Soweit ich sehe, hätte er das, was er vom mathematischen Satz behauptet, in ähnlicher Weise auch vom empirischen Satz sagen können: KM ist ein sinnvoller Satz der deutschen Sprache. (Etwa im Gegensatz zu »Kranker hier Mensch dass weiß ein ich liegt.«) 26 Es ist hier nicht entscheidend, dass der Satz mit »Ich weiß« beginnt. »Dies ist ein kranker Mensch« wäre ein ebenso gutes Beispiel.
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a. Arten und Stufen von Verständnis und Sinn Im Folgenden werde ich verschiedene Arten des Verständnisses unterscheiden, um dann der Frage nachzugehen, inwiefern der Satz KMS sinnlos sein könnte. Wenn KMS Unsinn ist, kann man den Satz auch nicht verstehen. Betrachten wir daher einige Umstände, unter denen man Sätze nicht versteht.27 Ich verstehe nicht, was jemand sagt, … 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
weil er zu leise (zu undeutlich etc.) spricht. weil ich seine Sprache nicht spreche. weil er ›ungrammatisches Zeug‹ spricht. weil mir das Wort ›Kranker‹ unbekannt ist. weil ich die Zusammenhänge nicht kenne. Wen (was) meint er? weil ich nicht weiß, ob seine Aussage eine Frage, Feststellung, Vermutung, Erklärung, etc. ist. weil ich nicht verstehe, was er erreichen (bewirken) will.
Inwiefern versteht man den Sinn von KMS nicht? Die Fälle (1) und (2) wollen wir hier ausschließen. Und insofern ›ungrammatisch‹ heißt: ›gegen die Regeln der Syntax‹, können wir auch (3) ausschließen. Auch die Ebenen (4) und (5) bereiten einem kompetenten Sprecher in der beschriebenen Situation anscheinend keine Schwierigkeiten. Wie verhält es sich mit (6)? Wer KMS äußert, will wohl eine Feststellung oder Behauptung treffen; also auch hier anscheinend kein Problem. Und Ebene (7)? Die Absicht desjenigen, der unseren Beispielsatz äußert, kann je nach Situation vielfältig sein. Wittgenstein denkt sich hier wohl einen Philosophen am Bett des Kranken und dieser Philosoph könnte sich daran erinnern wollen, was er mit Bestimmtheit weiß, um so skeptische Zweifel aus dem Weg zu räumen. Auch auf dieser Ebene muss es keine Verständnisschwierigkeiten geben. Hat Wittgenstein also unrecht mit der Behauptung, KMS sei sinnlos? Ist die Aussage KMS nicht vielmehr eine offensichtliche Wahrheit, deren Artikulation zwar häufig unnötig sein mag, aber darum doch nicht sinnlos sein muss? Und im Fall des gerade ins Spiel gebrachten Philosophen ist die Aussage ja noch nicht einmal zwecklos oder unnötig, insofern sie ein Argument (oder zumindest ein Beispiel) gegen den Skeptizismus vorbringt oder wenigstens vorbringen will. Wie lässt sich Wittgensteins Position verstehen? Bemühen wir einen weiteren Vergleich. _____________ 27 Das Folgende ist angelehnt an W. Künne: Sinn(losigkeit) in ›Über Gewißheit‹. In: Teoria, 2 (1985), S. 113−133.
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b. Bedeutung und Anwendung KMS sieht aus wie ein sinnvoller Satz, obwohl er laut Wittgenstein keiner ist. Ist dieser Fall damit vergleichbar, dass etwas aussieht wie eine funktionierende Waage, obwohl es keine ist? Nein, denn mit KM kann man ja unter Umständen etwas Sinnvolles sagen, mit der defekten Waage kann man aber nicht richtig messen. Der ›Defekt‹ der Aussage muss (wenn es einen solchen geben sollte) woanders liegen. Man kann KMS eher mit einer funktionierenden Waage vergleichen, die dazu verwendet wird, Gegenstände zu ›wiegen‹, die ihr Gewicht in kurzen und unregelmäßigen Abständen ändern. Das heißt: die Waage ist durchaus in Ordnung, nur ist das gezeigte Verhalten kein Wiegen – obwohl mit einer intakten Waage hantiert wird. Es handelt sich hier also nicht deshalb um kein Wiegen, weil die Waage defekt ist, sondern weil die eigentümlichen Gegenstände nicht gewogen werden können. Zwar kann man die Gegenstände auf eine Waage legen und das jeweilige Gewicht ablesen. Allerdings ist dieses Wiegen witzlos, weil das Wiegen nicht nur darin besteht, Gegenstände auf eine Waage zu legen. Vielmehr ist das Wiegen qua Praxis durch die Einbettung in ein Netz von Schlüssen bestimmt: X ist zu schwer, Y wird diese Last nicht tragen, Z wird zu teuer sein, etc. All diese Schlüsse lässt das ›Wiegen‹ der seltsamen Gegenstände aber nicht zu. Die beschriebenen Gegenstände lassen sich nicht wiegen und zwar unabhängig davon, dass man mit einer intakten Waage arbeitet. Die Bedeutung von KM ist nun einerseits mit der Waage, andererseits mit dem Wiegen vergleichbar. Mit der Waage ist KM als wohlgeformter Satz insofern vergleichbar, als er unter Umständen als Behauptung, Vermutung, etc. verwendet werden könnte. Die Analogie zum Wiegen besteht darin, dass es sich eben nur unter diesen bestimmten Umständen tatsächlich um ein Behaupten, Vermuten, Mitteilen, etc. handelt. Wer eine funktionierende Waage verwendet, um unregelmäßig sich verändernde Gegenstände zu messen, wiegt nicht. Er verwendet eine Waage, ohne zu wiegen. Und wer KM – also einen grammatisch intakten Satz – in der beschriebenen Situation äußert, zeigt ein bestimmtes Verhalten – doch er behauptet nicht, stellt nicht fest, etc.28 _____________ 28 Künne, 1985, S. 11, meint hingegen: »Moore trifft mit seiner Äußerung des Satzes […] zweifellos eine Feststellung, und nichts spricht dafür, daß Wittgenstein Schwierigkeiten hat, diesen modalen Sinn der Äußerung zu erfassen.« Ob es richtig ist, dass es sich hier um eine Feststellung handelt, wird noch zu prüfen sein –
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Inwiefern ist KMS nun also sinnlos? Betrachten wir die oben angesprochene Verständnisebene (6): Man könnte denken, der Philosoph am Bett des Kranken mache mit seiner Äußerung eine wahre Behauptung. Zweifellos will er eine Behauptung machen, er will nicht vermuten, keine Frage stellen, er will den Satz auch nicht nur erwähnen, sondern tatsächlich etwas Wahres behaupten. Doch hier liegt die angesprochene Unklarheit des Sinns und diese Unklarheit breitet sich gleichsam auf andere Ebenen aus: Es ist nicht nur unklar, was die Äußerung des Satzes soll (ob es eine Behauptung, Feststellung, etc. ist), sondern auch, was hier überhaupt gesagt wird. Oder anders: Nicht nur die Pragmatik, sondern auch die Semantik des Satzes ist hier unklar. Betrachten wir dies etwas genauer. Jemand sagt irrelevant »Das ist ein Baum«. Er könnte den Satz sagen, weil er sich erinnert, ihn in einer ähnlichen Situation gehört zu haben; oder er wurde plötzlich von der Schönheit dieses Baumes getroffen, und der Satz war ein Ausruf; oder er sagte sich den Satz als grammatisches Beispiel vor. (Etc.) Ich frage ihn nun: »Wie hast du das gemeint?«, und er antwortet: »Es war eine Mitteilung, an dich gerichtet.« Stünde mir da nicht frei, anzunehmen, er wisse nicht, was er sage, wenn er verrückt genug ist, mir diese Mitteilung machen zu wollen?29
Die Unklarheit des Sinns ist gleichsam amorph. Sollte jemand eine Mitteilung in einem unverständlichen Zusammenhang machen, könnte es sein, dass er nicht weiß, was eine Mitteilung ist – man könnte aber auch folgern, dass er nicht weiß, wovon er spricht, dass er also nicht weiß, was ›kranker Mensch‹, ›Hand‹ oder ›Baum‹ heißt. Auch seine eventuellen Beteuerungen, dass er ganz genau wisse, was diese Worte bedeuten, können hier nicht weiterhelfen. Damit ist nicht gesagt, dass es überhaupt keine sinnvolle Auffassung des Satzes »Dies ist ein Baum« in der beschriebenen Situation geben könnte – jedoch als Mitteilung oder auch als Behauptung wäre die Äußerung unverständlich.30 Allerdings gibt es einen fließenden Übergang zwischen einer überflüssigen und einer absurden, d. h. unverständlichen Äußerung. _____________ sicher falsch ist hingegen Künnes Ansicht, dass Wittgenstein keine Schwierigkeiten mit dem Verständnis in diesem Sinne hatte. Vgl. z. B. ÜG, 460, 468. 29 ÜG, 468, (meine Hervorhebung). 30 Vgl. T. Morawetz: Wittgenstein and Knowledge: The Importance of On Certainty. Amherst 1978, S. 79: »Understanding what is claimed (or stated) is not independent of understanding why it is claimed and understanding what grounds can be given for it.«
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Ich gehe zum Arzt, zeige ihm meine Hand und sage »Das ist eine Hand, nicht…; ich habe sie mir verletzt etc. etc.« Mache ich da nur eine überflüssige Mitteilung? Könnte man z. B. nicht sagen: Angenommen die Worte »Das ist eine Hand« seien eine Mitteilung – wie konntest du dann darauf rechnen, daß er die Mitteilung versteht? Ja, wenn es einem Zweifel unterliegt, ›daß das eine Hand ist‹, warum unterliegt es nicht auch einem Zweifel, daß ich ein Mensch bin, der dem Arzt dies mitteilt? – Anderseits kann man sich aber – wenn auch sehr seltsame – Fälle vorstellen, wo so eine Erklärung nicht überflüssig ist, oder nur überflüssig, aber nicht absurd ist.31
Damit eine Äußerung überflüssig sein kann, muss sie bereits als Funktionsträger (d. h. als Ausdruck einer Praxis) aufgefasst werden: Schließlich ist nicht der Satz überflüssig, sondern z. B. die Mitteilung oder die Behauptung, der Schlachtruf, etc. Es mag allerdings Situationen geben, in denen der Kontext derart unpassend ist, dass eine Äußerung nicht mehr zu irgendeiner Praxis gehörig identifizierbar ist. Und in einem solchen Fall kann die Äußerung dann natürlich auch nicht unpassend sein. Die Äußerung ist dann also nicht in pragmatischer, sondern in semantischer Hinsicht unverständlich. Wenn Einer […], unter ganz heterogenen Umständen, mit der überzeugendsten Mimik ausriefe »Nieder mit ihm!«, so könnte man von diesen Worten (und ihrem Tone) sagen, sie seien eine Figur, die allerdings wohlbekannte Anwendungen habe, hier aber sei es nicht einmal klar, welche Sprache der Betreffende rede. […]32
Jemand, der damit einverstanden ist, dass der Umgang mit den seltsamen Gegenständen kein Wiegen ist, wird vielleicht dennoch in Frage stellen, dass sich die beschriebene Szene am Bett des Kranken tatsächlich analog zum Pseudo-Wiegen verhält. Die Aussage am Bett des Kranken mag überflüssig sein, aber darum ist sie noch lange nicht absurd. Und insofern könnte man daran festhalten, dass die Aussage »Hier liegt ein kranker Mensch« zwar unangemessen oder unnötig, aber dennoch wahr ist. Doch selbst wenn man die Äußerung als unnötige Behauptung auffasst, zeigt dies, dass man Derartiges in der beschriebenen Situation nicht behaupten sollte. Um hier klarer zu sehen, werde ich im Folgenden genauer auf die teleologische Struktur der Sprache und vor allem der Behauptung eingehen, um dann zu zeigen, dass ein adäquates Verständnis der Behauptung ein Wissen um das Telos der Behauptung voraussetzt.
_____________ 31 ÜG, 460. 32 ÜG, 350.
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§ 5. Teleologische Strukturen der Sprache Eingangs wurde erwähnt, dass bei einer Erklärung der Bedeutung von Worten und Sätzen teleologische Strukturen zu berücksichtigen seien. Welche Art von Teleologie ist hier gemeint? Das Schachspiel kann uns wieder zur Verdeutlichung dienen: Es geht nicht um irgendein sprachliches Pendant zum definierten Ziel des Schachspiels (also zum Mattsetzen). Vielmehr geht es um die Teleologie, die sich aus der Einbettung des Regelsystems ›Schach‹ in unser Leben ergibt, und die aus diesen Regeln ein Spiel und eben keinen Ritus macht. Warum aber sollte man hier von einer Teleologie sprechen? Schließlich ist es konstitutiv für das Schachspiel, den Verlierer nicht umzubringen. Es ist nicht so, dass man so nicht spielen sollte, sondern man kann so nicht spielen, weil es dann eben kein Spiel wäre. Ein weiteres Beispiel: Wenn man 25×25 Äpfel in einen Sack steckt und anschließend weniger als 625 zählt, hat man sich verzählt oder ein Apfel ist unbemerkt verschwunden oder jemand hat einen Apfel weggenommen, etc. Jedenfalls hält man am Satz 25×25=625 fest – zumindest solange man ihn auf Äpfel anwendet. Man rechnet aber nicht mit Regentropfen oder Seifenblasen. Warum nicht? Weil die gerade genannten Schlüsse bei der Anwendung der Regel 25×25=625 auf Regentropfen und Seifenblasen keinen Halt mehr finden. Es erscheint daher absurd, mit Regentropfen und Seifenblasen rechnen zu wollen und wer den Witz des Addierens verstanden hat, der rechnet eben nicht mit Regentropfen. Doch auch hier scheint wiederum keine Teleologie im Spiel zu sein, denn es ist nicht so, dass man mit Regentropfen nicht rechnen sollte, sondern man kann nicht mit ihnen rechnen. Wie verhält es sich nun mit der Behauptung, dass Peters Auto rot ist? Der Witz der Behauptung, dass Peters Auto rot ist, hängt unter anderem davon ab, dass Gegenstände nicht ständig ihre Farbe ändern. Das hängt damit zusammen, dass eine Behauptung einen Grund geben will, sich an ihr zu orientieren. Das hätte aber keinen Sinn, wenn die Farben sich ständig änderten. Die Praxis des Behauptens, dass Peters Auto rot ist, wäre dann ebenso witzlos wie das Addieren der Regentropfen. Das heißt: wären die Farben sehr leicht veränderlich, gäbe es nicht mehr die Praxis des Behauptens, dass Peters Auto rot ist. Wo bleibt nun die Teleologie? Es wurde oben bereits angesprochen, dass es einen fließenden Übergang zwischen einem witzlosen und absurden Addieren, Wiegen, Behaupten, etc. gibt. Auf die absurden Fälle reagiert man z. B. mit der Äußerung »Aber das ist doch kein Wiegen«. Man könnte die beschriebenen Fälle gleichsam als grammatische Witze auffassen, die auf den Witz der Grammatik verweisen: Ein Verhalten,
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
das normalerweise in bestimmte funktionale Zusammenhänge eingebettet ist, wird in einen fremden Kontext eingebettet und erscheint dadurch plötzlich absurd. Gerade die neue, seltsame Einbettung (man denke an den Dirigenten-Hammer) lässt die eigentliche Einbettung und teleologische Struktur der Praxis erkennen. Sie zeigt, dass eine Praxis eben nicht nur durch ein Verhalten, sondern auch durch ihre funktionale Einbettung bestimmt ist. Man kann eine Praxis einerseits unter dem Gesichtspunkt der Regel betrachten: Man wendet z. B. die Regel 25×25=625 auf Äpfel an, oder behauptet, Peters Auto sei rot. Auf dieser Grundlage zieht man Schlüsse (Es fehlt ein Apfel. Er hat sich verzählt. Dieses gelbe Auto gehört nicht Peter. Peter hat ein neues Auto. Etc.). Diese Schlüsse bestimmen aber wesentlich den Sinn der jeweiligen Regel und erst die Einbettung macht aus den Regeln eine Praxis. Diese Einbettung kann allerdings mehr oder weniger deformiert sein: Unter Umständen ist die Anwendung der Regel absurd oder lächerlich – wenn man z. B. Regentropfen addieren wollte. Die Absurdität zeigt, dass begriffliche Grenzen überschritten werden. (Sie signalisiert: das ist kein Addieren, Wiegen, Behaupten, etc.) Doch bis es zu diesem Bruch kommt, stehen uns eine ganze Reihe von Kompensationsbegriffen zur Verfügung: Man charakterisiert die Anwendung der Regel als langweilig, uninteressant, voreilig, witzlos, unbegründet, etc. Diese Begriffe vermitteln zwischen dem Sinn der Regel und ihrer faktischen Anwendung und deuten so auf die gesuchte teleologische Struktur der Praxis hin. Ein Beispiel: Die Behauptung, dass Peters Auto rot ist, ist unter Umständen voreilig, unangebracht oder unbegründet, wo die Vermutung, dass Peters Auto rot ist, es nicht wäre. Eben diese teleologische Struktur (dass nämlich eine Behauptung unter Umständen unangemessen ist, wo eine Vermutung angemessen und vernünftig wäre) bestimmt die Praxis des Behauptens und grenzt sie so gegen das Vermuten ab. Nur derjenige versteht, was eine Behauptung ist, der weiß, welche Gründe eine Behauptung verlangt und welche Gründe sie geben will, und vor diesem Hintergrund kann eine konkrete Behauptung eine Reihe von Defiziten aufweisen. Diese Defizite verweisen auf das Telos der Behauptung, also auf das, was eine Behauptung sein soll.
§ 6. Evidenz-Bezüge als Regeln? Man könnte gegen die bisherige Darstellung einwenden, dass es, neben den genannten Regeln für die Behauptung, dass Peters Auto rot ist, ganz offensichtlich auch Regeln für das Behaupten im Allgemeinen gibt. So kann man z. B. das Ergebnis der nächsten Lotterieauslosung nicht
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behaupten – man kann es bestenfalls erraten. Dass hier keine Behauptung möglich ist, liegt an den prinzipiell fehlenden Evidenzen für eine solche ›Behauptung‹. Insofern könnte man die Regel formulieren: Wer etwas behauptet, muss Evidenzen haben – oder zumindest muss es prinzipiell möglich sein, Evidenzen zu haben. Der Bezug der Behauptung auf Evidenzen mag sich durchaus als Regel formulieren lassen – und die Lotterieauslosung ist dafür ein Beispiel. Gleichwohl gibt es doch offensichtlich unbegründete Behauptungen. Das deutet erstens darauf hin, dass es hier fließende Übergänge zwischen einer witzlosen und einer absurden Behauptung gibt. Zweitens kennzeichnet der Ausdruck ›unbegründet‹ einen Mangel der Behauptung: Eine Behauptung sollte begründet sein. Das heißt, insofern eine Behauptung über ihre Evidenz-Bezüge definiert ist, ist diese Definition teleologisch zu verstehen. Aus diesem Grund rechne ich die Evidenz-Bezüge eher zum Witz der Behauptung. Dies wird deutlicher, wenn man das Behaupten nicht mit dem Raten, sondern mit dem Vermuten kontrastiert. Für eine Behauptung benötigt man im Allgemeinen bessere Evidenzen als für eine Vermutung. Jedoch wird dieser Sachverhalt nur durch den Witz der Behauptung verständlich. Nehmen wir an, jemand erhebt den Vorwurf: »Wie konntest du das nur behaupten? (Du hättest deine Aussage als Vermutung kennzeichnen müssen.)«. Dieser Vorwurf wird doch nur dadurch verständlich, dass die Behauptung der Orientierung dienen will, während die Vermutung eher Grund zu weiterer Nachforschung gibt. Denjenigen, der behaupten will, dass die Lottozahlen der nächsten Woche soundso lauten, kann man darauf hinweisen, dass man Derartiges nicht behaupten könne. Wer aber eine Behauptung macht, wo man eigentlich nur vermuten kann, den kann man zurechtweisen, dass man nur behaupten sollte, wo es hinreichende Evidenzen gibt. Im Folgenden soll nun die teleologische Struktur der Behauptung näher beleuchtet werden.
§ 7. Zum dreifachen Telos der Behauptung Häufig wird zwischen einer attributiven und einer prädikativen Verwendung des Wortes ›wahr‹ unterschieden.33 Sowohl attributiv als auch prä_____________ 33 Vgl. A.R. White: Truth. London 1970. G. Frege: Der Gedanke. In: Ders.: Logische Untersuchungen. Göttingen 1993, S. 30−53. W. Künne: Conceptions of Truth. Oxford 2005. Allerdings gibt es bei keinem dieser Autoren die Überlegung, dass die attributive Verwendung auf eine teleologische Struktur hinweist.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
dikativ verwendet man das Wort für Behauptungen:34 Man sagt sowohl »Das ist eine wahre Behauptung« als auch »Diese Behauptung ist wahr«. Nur in attributiver Weise spricht man auch von wahren Freunden, wahrer Freude, wahrer Liebe oder auch von wahrem Glück. Analoges gilt für die Verwendung des Wortes ›falsch‹. Der falsche Freund versucht, sich den Anschein des Freundes zu geben. Gleiches gilt (in gewisser Weise) für die falsche Behauptung.35 Eine Behauptung ist einerseits genau dann falsch, wenn sie behauptet, was nicht der Fall ist. In Analogie zum falschen Freund könnte man aber auch insofern von einer falschen Behauptung sprechen, als sie sozusagen mehr verspricht als sie hält. Allerdings verspricht eine Behauptung im Allgemeinen dann zu viel, wenn sie falsch ist. Ein falscher Freund ist überhaupt kein Freund. Eine falsche Behauptung ist aber immer noch eine Behauptung. Allerdings behauptet die falsche Behauptung etwas, was sie nicht behaupten sollte – nämlich das Falsche. Das heißt: die falsche Behauptung erreicht ihr Ziel zumindest insofern, als sie etwas als wahr darstellt. Auch die falsche Behauptung will glaubwürdig sein. Inwiefern aber soll eine Behauptung wahr sein? Man wird vielleicht denken, sie sollte wahr sein, wenn man Wissenschaft betreibt, oder aber, wenn man jemandem den Weg beschreibt, sie sollte demnach wahr sein, wenn man bestimmte Ziele verfolgt. Der Bezug zur Wahrheit ist der Behauptung allerdings nicht in dieser Weise äußerlich. Zwar kann die Behauptung wahr oder falsch sein, sie hat aber sozusagen ein Übergewicht hin zur Wahrheit: Man versteht nur, was es heißt, etwas zu behaupten, wenn man weiß, dass die Behauptung wahr sein soll – und zwar unabhängig von den Absichten des Behauptenden. Betrachten wir das etwas genauer: Peter fragt Felix nach dem Namen des Komponisten, dessen Komposition gerade im Radio gespielt wird. Felix behauptet, die Musik stamme von Mendelssohn Bartholdy. Nun könnte Felix dies wider besseres Wissen behaupten, um Peter aus irgendwelchen Gründen in die Irre zu führen. Diese Irrführung würde aber nicht funktionieren, wenn Felix statt der Behauptung eine Vermutung geäußert hätte. Daher artikuliert die Aussage »Aber du hast doch behauptet…« einen Vorwurf, wo die Aussage »Aber du hast doch vermutet…« kein Vorwurf wäre. _____________ 34 Natürlich nicht nur für Behauptungen. Ich möchte mich im Folgenden aber auf die Behauptung beschränken. 35 Die folgenden Ausführungen sind angelehnt an: Anselm von Canterbury: De Veritate: Über die Wahrheit. Lateinisch-deutsch, Hamburg 2001. Insbesondere S. 11−19.
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Für die Behauptung, dass p, ergibt sich dadurch ein dreifaches Telos. Erstens die Wahrheit von p. Zweitens die Glaubwürdigkeit von p. Drittens die theoretische und praktische Orientierung. Das erste Telos verfehlt die Behauptung, wenn sie falsch ist. Das zweite Telos verfehlt sie hingegen, wenn es Gründe gibt, die gegen die Wahrheit von p sprechen (wobei das erste Telos natürlich dennoch verwirklicht sein kann). Das zweite Ziel erreicht die Behauptung also eher durch das Fehlen von Zweifelsgründen. Wo es Zweifel gibt, sollte man eher vermuten als behaupten. Telos drei ist aus theoretischer Sicht erreicht, wenn die Tele eins und zwei erreicht wurden. Aus praktischer Sicht hat die Orientierung (und daher auch die Wahrheit) aber einen Witz, der nicht durch die Tele eins und zwei unmittelbar verwirklicht wird: Die Behauptung hat nicht nur Gründe, sondern ist auch ein Grund. Aus praktischer Sicht hat sie dieses Telos erreicht, wenn sie als Grund behandelt wird. Warum erfüllt aber gerade die Wahrheit die Funktion der Orientierung? Einerseits ist die Wahrheit selbst ein Kriterium der Orientierung – nämlich der theoretischen Orientierung. Ein Mensch ist aus theoretischer Sicht desorientiert, wenn er falsche Überzeugungen hat. Allerdings ist diese Desorientiertheit im Allgemeinen nicht folgenlos für sein Leben: Er verfolgt falsche Ziele mit den falschen Mitteln, schadet seiner Gesundheit, etc. Für ein rein kontemplatives Wesen wäre die Wahrheit gleichsam witzlos. Im Folgenden werden die Begriffe des Zweifelns und Wissens vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen betrachtet. Dabei werde ich versuchen zu zeigen, dass zum adäquaten Verständnis des Zweifelns und Wissens ein Verständnis des Behauptens vorausgesetzt ist.
II. Was heißt ›Zweifeln‹? Führt man sich einige dem Zweifeln verwandte Begriffe vor Augen, erkennt man leicht die Vielgestaltigkeit dieses Begriffs: Man kann zweifeln, stutzen, zögern, zaudern, Bedenken tragen, misstrauen, in Frage stellen, ungläubig oder unsicher sein, zwiegespalten oder auch unschlüssig sein und dergleichen mehr. a) Der Unschlüssige stellt nicht die Wahrheit eines Satzes in Frage, sondern ist unsicher bezüglich einer Entscheidung. Wobei er natürlich unschlüssig sein kann, weil er an der Wahrheit einer Aussage zweifelt. b) Zweifeln kann man jahrelang, das Stutzen hingegen ist auf Augenblicke beschränkt. Man stutzt spontan und unwillkürlich. c) Zögern kann auch ein Tier. Bedenken tragen kann allerdings nur, wer schon eine Sprache hat und diese Bedenken artikulieren kann. d) Das In-Frage-Stellen ist im Allgemeinen eine Reaktion auf eine (potentielle) Behauptung oder Vermutung: Man stellt daher nicht in Frage, was ohnehin niemand je behauptet hat bzw. je behaupten würde. Man kann über Jahre hinweg zweifeln, ohne den Zweifel jemals zu artikulieren. Wer aber seit Jahren etwas in Frage stellt, der hat seinen Zweifel immer wieder bei entsprechender Gelegenheit artikuliert. e) Das In-Frage-Stellen von p (nicht aber die Unsicherheit, ob p) ist eine Fähigkeit und kann daher gelingen oder auch misslingen.1 Und es gelingt dann, wenn die vorgebrachten Gründe gegen die Wahrheit von p gute Gründe sind. Es mag sich aber natürlich trotz guter Zweifelsgründe zeigen, dass p dennoch wahr ist. f) Wer unsicher ist, dass p, dem fehlen Evidenzen für p. Wer aber bezweifelt, dass p, hat Evidenzen gegen p: Wenn man im Nebel einen Schatten sieht und unsicher ist, ob es sich um einen Menschen oder einen Strauch handelt, so zweifelt man nicht, dass es ein Mensch ist. Sollte jemand behaupten, es handle sich um einen Menschen, stellt man durch die Artikulation der Unsicherheit unter Umständen die Angemessenheit der Behaup_____________ 1 Das In-Frage-Stellen ist nur als perlokutionärer, nicht als illokutionärer Akt eine Fähigkeit. Gemeint ist also nicht das Bezweifeln von p, sondern: p als zweifelhaft erweisen.
Was heißt ›Zweifeln‹?
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tung in Frage. Die Artikulation von Zweifeln stellt allerdings auch die Wahrheit der Behauptung in Frage – ohne das Gegenteil zu behaupten. g) Wer einen Zweifel beseitigt, muss nicht unbedingt die Unsicherheit beseitigen. Wer aber die Unsicherheit beseitigt, der beseitigt auch den Zweifel. Bleiben wir bei unserem Beispiel und nehmen wir an, Felix behauptet, es handle sich um einen Menschen und keinen Strauch. Peter bezweifelt die Behauptung, weil der Park, in den beide hineinschauen, bereits seit Stunden geschlossen hat. Dieser Zweifelsgrund könnte sich als nichtig erweisen, wenn die Öffnungszeiten geändert wurden. Dies würde den Zweifel untergraben, nicht aber die Unsicherheit. Die Evidenzen gegen p sind nichtig, es gibt aber keine neuen Evidenzen für p. Ich werde mich im Folgenden vornehmlich auf das Zweifeln im Sinne des In-Frage-Stellens konzentrieren. Dies stellt die Verbindung zur Behauptung und in späteren Kapiteln auch zum Wissen her. Dabei werde ich die These vertreten, dass der begründete Zweifel im Wesentlichen dazu befähigt, die Wahrheit von Aussagen in Frage zu stellen. Die Regeln des Zweifelns (z. B. des Zweifels, dass Peters Auto rot ist) werde ich nun nicht weiter beachten. Zumindest nicht, sofern sie in Analogie zu den Regeln der Behauptung aufgefasst werden können. Die Evidenz-Bezüge, die einem Zweifel zugrunde liegen, rechne ich, wie im Fall der Behauptung, eher zum Witz des Zweifels.
§ 1. Merkmale des Zweifels Im Folgenden sollen wesentliche Merkmale des Zweifels an einem konkreten Beispiel hervorgehoben werden. Angenommen, man schaut in eine Schublade, sieht einen Schlüssel und schließt die Schublade wieder. Fünf Minuten später schaut man erneut in die Schublade und der Schlüssel ist weg. Welche Schlussfolgerungen könnte man ziehen? Dass man sich vorhin geirrt hat und den Schlüssel nicht wirklich sah, dass jemand den Schlüssel weggenommen hat oder auch, dass sich Schlüssel manchmal in Luft auflösen. Welchen Schluss wird man ziehen? Das wird von den Umständen abhängen und je nach Situation wird man vielleicht jemanden verdächtigen, den Schlüssel weggenommen zu haben. Allen Unschuldsbeteuerungen des Verdächtigten begegnet man mit Misstrauen. Oder aber man zweifelt am eigenen Gedächtnis oder auch daran, gründlich genug gesucht zu haben. – Dieser Fall kann einiges über das Wesen und die Funktion des Zweifels lehren. Erstens: Der Zweifel hat Sinn vor dem Hintergrund von Sicherheiten. Ob man nun seinen Augen, seinem Gedächtnis oder seinem Nachbarn misstraut, in jedem Fall müssen bestimmte Dinge feststehen: Wenn
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
man die Glaubwürdigkeit des Nachbarn bezweifelt, dann deshalb, weil man sicher ist, dass man den Schlüssel gesehen hat, dass er nun nicht mehr da ist und dass Schlüssel nicht einfach verschwinden. »[D]er Zweifel beruht nur auf dem, was außer Zweifel ist.«2 Zweitens: Das Zweifeln ist keine Fähigkeit, die man anwenden kann, wann immer man will, sondern eher eine unwillkürliche Reaktion.3 Man kann jemanden nicht auffordern, an etwas zu zweifeln – ebenso wenig wie man dazu auffordern kann, sich zu ängstigen. Wenn man aber aus guten Gründen zweifelt (z. B. an der Ehrlichkeit des Nachbarn), dann hat man die Fähigkeit, die Wahrheit bestimmter Aussagen des Nachbarn begründet in Frage zu stellen. Drittens: Aussagen wie »Ich bin unsicher, ob…« oder »Ich bezweifle, dass…« sind Äußerungen und keine Beschreibungen des Zweifels – gerade so, wie die Aussage »Ich habe Angst« eine Äußerung der Angst ist. Die Aussage »Ich bezweifle, dass…« kann zwar eine Lüge sein, aber man kann sich nicht irren, dass man zweifelt.4 Dahingegen ist die Aussage »Es ist zweifelhaft, dass…« keine Äußerung. Ob es zweifelhaft ist, dass p, hängt davon ab, ob es Gründe gibt, die gegen die Wahrheit von p sprechen. Zweifeln ist eine Disposition, aber mit guten Gründen in Frage zu stellen eine Fähigkeit. Viertens: Es gibt weder eine Regel, noch lässt sich an der Erfahrung ablesen, an welchen Sätzen man festhalten und an welchen Sätzen man zweifeln sollte. Ob man nun bezweifelt, dass man den Schlüssel früher wirklich gesehen hat oder dass die Schublade keinen doppelten Boden hat oder dass einem niemand einen Streich spielt, in keinem Fall gibt es eine Regel, die bestimmt, woran man festhalten und was man bezweifeln sollte. Es mag Gründe dafür geben, dem Nachbarn oder auch dem eigenen Gedächtnis zu misstrauen, aber in jedem Fall müssen diese Gründe gewichtet werden. Auch die (Sinnes-)Erfahrung kann hier nicht weiterhelfen, da die Gewissheit eines Satzes erst festlegt, was man Er_____________ 2 ÜG, 519. 3 Damit ist nicht gesagt, dass der unwillkürliche Zweifel nicht in ein komplexes Netz von Schlussfolgerungen eingebettet ist. Etwa: Ich habe den Schlüssel vorhin gesehen, Schlüssel verschwinden nicht einfach, nun ist der Schlüssel weg, also hat Felix den Schlüssel weggenommen. Vgl. BPP II, 343: »Wie kommt es, daß der Zweifel nicht der Willkür untersteht? – Und wenn es so ist, – könnte nicht ein Kind durch seine merkwürdige Veranlagung an allem zweifeln? Man kann erst zweifeln, wenn man Gewisses gelernt hat; […] Dann ist es allerdings unwillkürlich.« 4 Ich verwende den Ausdruck »Äußerung« im Folgenden als Terminus und zwar als sprachliche Äußerung, die, wenngleich wahr oder falsch, kein Irrtum sein kann.
Was heißt ›Zweifeln‹?
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fahrung nennt: Wenn man sicher ist, dass man den Schlüssel früher tatsächlich gesehen hat, legt man sich auf eine Erfahrung fest – nämlich darauf, dass man den Schlüssel sah. Man will sagen »Alle meine Erfahrungen zeigen, daß es so ist«. Aber wie tun sie das? Denn jener Satz, auf den sie zeigen, gehört auch zu ihrer besonderen Interpretation. »Daß ich diesen Satz als sicher wahr betrachte, kennzeichnet auch meine Interpretation der Erfahrung.«5
Fünftens: Der Zweifel hat einen internen Handlungsbezug – der Sinn dieses Verhaltens ist aber von seiner funktionalen Einbettung abhängig. Elementare Formen zweifelnden Verhaltens sind das Zögern und das Meiden. Der Zweifel ist darüber hinaus aber auch in unser Schlussfolgern eingebettet und die Äußerung des Zweifels »Ich bezweifle, dass…« erhält ihren Sinn durch die Schlüsse, die aus diesem Zweifel gezogen werden. Daher meint Wittgenstein: Das Zweifeln hat gewisse charakteristische Äußerungen […]
Um dann aber zu präzisieren: […], aber sie sind für ihn nur unter gewissen Umständen charakteristisch. Wenn Einer sagte, er zweifle an der Existenz seiner Hände, sie immer wieder von allen Seiten betrachtete, sich zu überzeugen suchte, daß keine Spiegelung oder dergl. vorläge, so wären wir nicht sicher, ob wir das ein Zweifeln nennen sollten. Wir könnten seine Handlungsweise als eine der zweifelnden ähnliche beschreiben, aber sein Spiel wäre nicht das unsre.6
Bestimmte Verhaltensweisen sind nicht per se konstitutiv für das Zweifeln, sondern nur in Abhängigkeit vom Kontext: Genaueres Hinschauen kann eine Weise sein, sich zu vergewissern und einen Zweifel zu beseitigen. Wer sich aber z. B. der Existenz seiner beiden Hände dadurch versichern will, dass er sie anschaut, zeigt zwar ein Verhalten, das man unter anderen Umständen als Vergewisserung identifizieren könnte. Doch nun, das heißt unter diesen Umständen, ist nicht ohne weiteres klar, inwiefern man das Verhalten eine ›Vergewisserung‹ nennen sollte. Um beim Schlüssel-Beispiel zu bleiben: Man kann sich des Vorhandenseins der Schlüssel vergewissern, indem man in die Schublade schaut. Wie aber, wenn jemand die Schublade öffnet, hineinschaut, sie wieder schließt, zwei Minuten später die Schublade wieder öffnet, hineinschaut, sie schließt, etc. Warum sollte man das noch ›sich vergewissern‹ nennen? _____________ 5 ÜG, 145. 6 ÜG, 255.
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Im Folgenden werde ich versuchen, den Praxis-Charakter des Zweifelns genauer darzustellen. Dabei werden die hier angesprochenen Punkte ausführlicher diskutiert.
§ 2. Zweifeln: Disposition oder Fähigkeit? Zur Teleologie des Zweifels Man kann wählen, p in Frage zu stellen, wenn man Gründe hat, die gegen die Wahrheit von p sprechen. Allerdings kann man die Gründe, die einem zur Verfügung stehen, nicht wählen, da es nicht dem Willen untersteht, was einem sicher oder auch unsicher erscheint. Dem Zweifel als Fähigkeit (d. h., der Fähigkeit, eine Behauptung mit guten Gründen in Frage zu stellen) liegt der Zweifel als Disposition zugrunde. Dieser dispositionale Zweifel ist allerdings keine bloße Unsicherheit (d. h. ein Fehlen von Evidenzen); vielmehr zeigt sich der Zweifel darin, dass man Gründe gegen die Wahrheit einer Behauptung nennen kann. Es ist aber gerade das In-Frage-Stellen, das qua Fähigkeit ein Licht auf den Sinn des Zweifels wirft: Wer verstehen will, was es heißt zu zweifeln, muss erkennen, wozu der Zweifel befähigt. Wozu also befähigt er? In erster Linie dazu, die Wahrheit von Urteilen, Behauptungen, Vermutungen und dergleichen in Frage zu stellen – ohne jedoch ihr Gegenteil zu beweisen. Der begründete Zweifel an der Wahrheit von p zeigt sich nicht nur darin, dass man selbst an p zweifelt, sondern darin, dass man Gründe dafür nennen kann, warum p tatsächlich zweifelhaft ist. Dieses InFrage-Stellen ist allerdings eine Praxis. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Nehmen wir an, Felix hat Evidenzen dafür, dass Peters Auto nicht rot ist. Felix kann daher die Wahrheit der Behauptung, dass Peters Auto rot ist, in Frage stellen. Welche Funktion hat diese Infragestellung? In erster Linie schützt sie vor Irrtümern. Das In-Frage-Stellen hat allerdings ein dreifaches Telos, da die Teleologie des In-Frage-Stellens durch die der Behauptung mitbestimmt wird. Der Zweifel zielt erstens darauf, die Wahrheit einer Behauptung als zweifelhaft zu erweisen. Zweitens soll der Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Behauptung untergraben. Dabei wird der Sinn dieses Telos allerdings nur dadurch verständlich, dass die Behauptung selbst wahr sein soll. Der Zweifel ist, sozusagen, nicht destruktiv, sondern konstruktiv, insofern er neue Evidenzen für p verlangt. Die Infragestellung soll aber nicht nur zeigen, dass die Wahrheit einer Behauptung (ich beschränke mich hier wiederum auf die Behauptung) zweifelhaft ist, sondern stellt eben dadurch auch die Angemessenheit des Behauptens in Frage. Drittens hat der Zweifel eine Funktion, die sich nicht in seinem Beitrag zur Wahrheitsfindung erschöpft: Wie die
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Behauptung, dass Peters Auto rot ist, unter Umständen ein Grund ist, nach einem roten Auto zu suchen, so ist der Zweifel, dass Peters Auto rot ist, ein Grund, gegebenenfalls auch nach anderen Wagenfarben Ausschau zu halten: Der Zweifel hat eine praktische Bedeutung, insofern er nicht nur vor theoretischen, sondern auch vor praktischen Irrtümern schützt. In diesem Zusammenhang hat das In-Frage-Stellen genau da noch einen Witz, wo auch das Behaupten einen Witz hat: Würden sich die Farben von Autos ständig in unvorhersehbarer Weise ändern, hätte die Behauptung, dass Peters Auto rot ist, ihren Witz verloren. Allerdings wäre dann auch die Infragestellung, dass Peters Auto rot ist, witzlos: Wo sich nichts behaupten lässt, lässt sich auch nichts In-Frage-Stellen.7
§ 3. Evidentielle und nicht-evidentielle Unsicherheit Oben wurde bereits angesprochen, dass die Unsicherheit eher als Fehlen von Evidenzen zu verstehen ist, während der Zweifel durch ein Haben von Gegenevidenzen bzw. -gründen bestimmt ist. Sind die Gegengründe gute Gründe, hat man die Fähigkeit, die Wahrheit einer Behauptung p in Frage zu stellen.8 Primitive Formen der Unsicherheit finden wir auch beim Tier. Diese primitive Unsicherheit erscheint vielfach als Zögern oder Meiden und ist gleichsam ein animalischer Ausgangspunkt des Zweifels: Eine Maus, die sich auf der Flucht vor einer Katze in einem Loch versteckt, wird diesen Ort wohl nur sehr zögerlich verlassen. Man könnte sagen: Sie ist unsicher, dass ihr nichts geschieht. Dieses Verhalten allein ist allerdings kein Zweifel. Was diesem Verhalten fehlt, sind vor allem Gründe. Daher schreibt Wittgenstein: Wenn ich daran zweifle, daß dies ein Sessel ist, – was tue ich? – Ich besehe und befühle ihn von allen Seiten und dergleichen. Ist aber diese Handlungsweise immer der Ausdruck des Zweifels? Nein. Wenn ein Affe oder ein Kind dies täte, wäre es keiner. Zweifeln kann der, der schon einen ›Grund zum Zweifeln‹ kennt.9
_____________ 7 Es wird hier nicht behauptet, In-Frage-Stellen und Zweifeln seien identisch. Dies wäre ebenso falsch wie eine Identifikation von Vermuten und Mutmaßen. Jedoch wirft die Praxis des In-Frage-Stellens ein Licht auf den Sinn des Zweifels. 8 Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass das In-Frage-Stellen, insofern es als Fähigkeit aufgefasst wird, ein perlokutionärer und kein illokutionärer Akt ist. 9 BPP II, 344.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
Ich kann mir wohl vorstellen, daß ein bestimmtes primitives Benehmen sich später zum Zweifel auswächst. Es gibt z. B. ein primitives Untersuchen. (Ein Affe, der z. B. eine Zigarette zerpflückt. Einen intelligenten Hund sehen wir dergleichen nicht tun.) Das bloße Hin- und Herwenden und Beschauen eines Gegenstandes ist eine primitive Wurzel des Zweifels. Aber Zweifel ist erst da, wenn die typischen Antezedentien und Konsequenzen des Zweifels da sind.10 Wie äußert sich denn also der Zweifel? ich meine: im Sprachspiel, nicht einfach in gewissen Redensarten. Etwa im nähern Hinsehen, also in einer ziemlich komplizierten Tätigkeit. Aber diese Äußerung des Zweifels hat gar nicht immer Sinn, Zweck. Man vergißt eben, daß auch das Zweifeln zu einem Sprachspiel gehört.11
Erst die Einbettung in Bedingungen, Schlussfolgerungen und Konsequenzen macht aus einem Verhalten (zögern, meiden, etc.) ein Zweifeln. Der Zweifel hat Gründe und ist selbst wiederum ein Grund. Dabei ist der Zweifel eine bestimmte Form der Unsicherheit, nämlich die auf Gründe gestützte Unsicherheit, ob etwas der Fall ist. Während es Formen der Unsicherheit (z. B. zögern) auch bei Tieren (nicht aber bei Pflanzen) gibt, kann nur zweifeln, wer Gründe hat. Ein Zweifel ist daher nur vor dem Hintergrund von Wissen und Evidenzen denkbar: Damit man etwas bezweifeln kann, muss man über das, was man bezweifelt, bereits sehr vieles wissen. Und die Unsicherheit des Zweifels ist nur verständlich vor dem Hintergrund der relativen Sicherheit der Zweifelsgründe. Das zögerliche Verhalten der Maus kann (und wird vermutlich auch) funktional sein: Eine Maus, die sich Katzen gegenüber nicht zögerlich verhält, wird nicht lange leben. Allerdings muss die Maus von dieser Funktionalität nichts wissen. Dahingegen erfordert der sinnvolle Zweifel ein Wissen um den Witz des Zweifels. Man versteht nur, was es heißt zu zweifeln, wenn man weiß, dass man gute Gründe haben sollte. Die Relevanz der guten Gründe wird aber wiederum nur verständlich, wenn man weiß, wozu die guten Zweifelsgründe befähigen – nämlich die Wahrheit einer Behauptung in Frage zu stellen. Und dies ist wiederum verständlich vor dem Hintergrund, dass der Zweifel vor Irrtümern schützen soll. Folgende Einteilung soll verdeutlichen, wo der Zweifel im Rahmen der vorliegenden Arbeit verortet ist.
_____________ 10 BPP II, 345. 11 BBP II, 342.
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Was heißt ›Zweifeln‹? Unsicherheit
evidentiell
Gegengründe (Zweifeln)
schlechte Gründe (Zweifel als Disposition)
nicht-evidentiell (zögern, meiden)
konditionierte, verursachte Unsicherheit
fehlende Evidenzen (Unsicher sein)
natürliche Unsicherheit (Instinkt)
verhaltensorientiert (adverbial)
gute Gründe (Fähigkeit, Behauptungen in Frage zu stellen)
Teleologie der Behauptung bestimmt auch die Teleologie des Zweifels 1) Wahrheit 2) Glaubwürdigkeit 3) Orientierung a) theoretisch b) praktisch
begründungsorientiert (prädikativ)
Abb. 18
Nicht jede Unsicherheit ist begründet: Für das zögerliche Verhalten einer Maus gibt es vielleicht Gründe – aber die Maus hat keine Gründe. Gründe zu haben ist eng an die Fähigkeit geknüpft, diese Gründe auch artikulieren zu können. Tiere werden im Allgemeinen mit einem Repertoire an sicheren, aber auch zögerlichen Reaktionsweisen geboren. Dieses Repertoire kann natürlich durch die individuelle Lerngeschichte des Tieres modifiziert werden. Diese Unsicherheiten sind aber allesamt verhaltensorientiert: Wir beschreiben das Verhalten eines Tieres als unsicher und zögerlich. Man könnte diese Unsicherheit adverbial nennen, da sie die Art eines Verhaltens beschreibt. Evidentielle Unsicherheit schreibt man dahingegen dem zu, der auch Gründe hat. Diese Unsicherheit ist prädikativ. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen dem Vorliegen von Gegenevidenzen (man zweifelt, dass…) und dem Fehlen von Evidenzen (man ist unsicher, ob…). Diese Formen der Unsicherheit können unbegründet und insofern unvernünftig sein. Hat jemand gute Zweifelsgründe, kann er die Wahrheit einer Behauptung in Frage stellen: Der gut begründete Zweifel ist daher eine Fähigkeit. Glaubt jemand nur, gute Gründe zu haben, so bleibt der Zweifel lediglich als Disposition.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
Zwischen evidentieller und nicht-evidentieller Unsicherheit mag es fließende Übergänge geben. Der Zweifel liegt aber eindeutig auf evidentieller Seite. Später werde ich versuchen zu zeigen, dass das ein Grund ist, warum sich bestimmte Sätze prinzipiell nicht bezweifeln lassen.
§ 4. Der Zweifel ist nicht durch Regeln begrenzt Wer zweifelt, kann sich in seinem Zweifel nicht irren. Man kann falsch rechnen, aber nicht falsch zweifeln. Insofern könnte man denken, man könne prinzipiell an allem zweifeln, weil die Aussage »Ich bezweifle…« kein Irrtum sein kann. Doch obwohl man hier nicht irren kann, kann der Zweifel in Abhängigkeit vom Kontext aber unvernünftig, müßig oder auch als Ausdruck des Zweifels überhaupt unverständlich sein. Ein wesentliches Problem bei der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus liegt darin, dass der Bereich der Anwendung des Zweifels nicht durch Regeln begrenzt ist; es gibt keine Regeln, die einen Zweifel als unvernünftig kennzeichnen. Aber ist es keine Regel (so möchte man vielleicht sagen) dass es zum Zweifeln Gründe braucht? Man kann dies durchaus als Regel auffassen – und zwar in Analogie zur Regel des Behauptens, dass man nichts behaupten kann, was sich bestenfalls erraten lässt (etwa das Ergebnis der nächsten Lotterieauslosung). Doch gerade so, wie es unbegründete Behauptungen gibt (man behauptet etwas, obwohl die Evidenzen für eine Behauptung eigentlich nicht ausreichen), so gibt es auch unbegründete Zweifel: Würde jemand unter normalen Umständen sagen, er bezweifle, dass das, was er sieht, tatsächlich seine Hände sind, so wäre wohl nicht klar, inwiefern man seine Aussage überhaupt als Ausdruck eines Zweifels verstehen könnte. Gleichwohl gibt es hier Übergänge zum unbegründeten Zweifel: Insbesondere ist ein Zweifel dann unbegründet, wenn die Gründe des Zweifels schlecht sind. Nehmen wir an, jemand prüft an jeder Tür, ob sich kein Graben dahinter verbirgt. Ich selbst habe diese Möglichkeit bisher noch nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Könnte nicht der Tag kommen, an dem sich seine Vorsicht und seine Zweifel auszahlen und ich, im Gegensatz zu ihm, in ein Loch hinter der Tür stürze? Natürlich könnte das passieren. Aber zeigt dieser Fall, dass sein Zweifel letztlich doch angemessen war? Nein, denn wenn es keinen guten Grund zu zweifeln gab, dann war sein Zweifel unvernünftig. Auch der nachträgliche ›Erfolg‹ kann daran nichts ändern. – Bevor ich zur Frage nach der Rationalität und dem Witz des Zweifels komme, werde ich im Folgenden versuchen darzustellen, inwiefern Irrtum und Zweifel unter Umständen logisch ausgeschlossen sein können.
Was heißt ›Zweifeln‹?
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§ 5. Begriffliche Grenzen des Irrtums und Zweifels Wenn jemand behauptet, er könne sich nicht irren, klingt dies wie eine Anmaßung. Dabei kann es aber durchaus vorkommen, dass ein Irrtum logisch ausgeschlossen ist: Der Mensch kann sich unter gewissen Umständen nicht irren. (»Kann« ist hier logisch gebraucht, und der Satz sagt nicht, daß unter diesen Umständen der Mensch nichts Falsches sagen kann.) Wenn Moore das Gegenteil von jenen Sätzen aussagte, die er für gewiß erklärt, würden wir nicht nur nicht seiner Meinung sein, sondern ihn für geistesgestört halten.12
Wie verhält es sich aber mit dem Zweifel? Nehmen wir an, Felix hat einen neuen Schlüssel und legt ihn in die Schublade. Wird er einige Stunden später daran zweifeln, dass der Schlüssel sich noch an seinem Platz befindet? Im Allgemeinen nicht. Er zweifelt nicht – obwohl er vielleicht zweifeln könnte. Was heißt nun: »Er könnte zweifeln«? Da der Zweifel nicht dem Willen unterliegt und man nicht bezweifeln kann, was man bezweifeln will, kann mit diesem ›könnte‹ keine Fähigkeit gemeint sein. Dass man hier zweifeln könnte, heißt also nicht: Man könnte zweifeln, wenn man zweifeln wollte.13 Dass man hier zweifeln könnte, heißt vielmehr, dass es nicht logisch ausgeschlossen ist zu zweifeln, und das heißt: Die Aussage »Ich bezweifle, dass die Schlüssel noch in der Schublade liegen« ist nicht sinnlos. Doch wie könnte ein Zweifel sinnlos sein (sinnlos meint nun ja nicht: nutzlos oder müßig, sondern unverständlich)? Wie wäre es z. B. wenn ein unverletzter Mensch unter normalen Umständen bezweifeln wollte – sagt, er bezweifle –, dass er zwei Hände habe? Es gibt Fälle solcher Art, daß, wenn Einer dort Zeichen des Zweifels gibt, wo wir nicht zweifeln, wir seine Zeichen nicht mit Sicherheit als Zeichen des Zweifels verstehen können. D. h.: Damit wir seine Zeichen des Zweifels als solche verstehen, darf er sie nur in bestimmten Fällen geben und nicht in andern.14 Wenn ich also zweifle, oder unsicher bin darüber, daß das meine Hand ist (in welchem Sinn immer), warum dann nicht auch über die Bedeutung dieser Worte?15
_____________ 12 ÜG, 155. Vgl. auch ÜG, 71. 13 Damit ist nicht gesagt, dass man nicht irgendwie eine Unsicherheit in sich hervorbringen könnte. Etwa indem man sich in bestimmte Überlegungen gleichsam hineinsteigert, wie man sich auch in seine Angst hineinsteigern kann. 14 ÜG, 154. 15 ÜG, 456.
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Wenn jemand dort Zweifel (oder besser: ein zweifelndes Verhalten bzw. Unsicherheit) zeigt, wo man selbst mit völliger Sicherheit handelt, versteht man unter Umständen nicht, was er tut. Man weiß nicht, was es heißen soll, die Existenz der eigenen Hände zu bezweifeln, weil es keine Gründe für einen Zweifel gibt und weil unklar ist, wie eine Vergewisserung aussehen könnte. Die Beteuerungen des anderen, dass er wirklich an der Existenz seiner Hände zweifle und sich durch das Anschauen vergewissern müsse, sind unter normalen Umständen unverständlich: Was meint er mit ›zweifeln‹, was versteht er unter ›Hand‹? Er zeigt vielleicht ein für den Zweifel typisches Verhalten (er hebt seine Hand und schaut sie an), doch in diesem Kontext ist dieses Verhalten nicht als Zweifel und Vergewisserung identifizierbar – sein Tun ist unverständlich.16 Es ist zuweilen also schlicht deshalb logisch unmöglich, die Existenz der eigenen Hände zu bezweifeln, weil es nichts heißt, die Existenz der Hände zu bezweifeln. Damit ist nicht gesagt, dass es zwischen unverständlichem zweifelnden Verhalten und unvernünftigem Zweifeln klare Grenzen gibt. Es gibt Fälle, in denen der Zweifel unvernünftig ist, andre aber, in denen er logisch unmöglich scheint. Und zwischen ihnen scheint es keine klare Grenze zu geben.17
Im Folgenden werde ich versuchen, die Grenzen zwischen dem unverständlichen und dem unvernünftigen Zweifel etwas stärker zu konturieren, um dann zu zeigen, inwiefern das Fehlen von Zweifeln konstitutiv für unsere Sprachspiele ist.
§ 6. Der müßige Zweifel Warum ist es mir nicht möglich, daran zu zweifeln, daß ich nie auf dem Mond war? Und wie könnte ich versuchen, es zu tun? Vor allem schiene mir die Annahme, vielleicht sei ich doch dort gewesen, müßig. Nichts würde daraus folgen, dadurch erklärt werden. Sie hinge mit nichts in meinem Leben zusammen.18
Kann man unter normalen Umständen bezweifeln, dass man noch nie auf dem Mond war? Die Frage ist wiederum: Was heißt kann? Man zweifelt einfach nicht. Wie aber, wenn man jemanden träfe, der meint, _____________ 16 Man denke hier an die Analogie zum Wiegen der diskontinuierlich sich verändernden Gegenstände. Auch hier kann man ein Verhalten zeigen, das typischerweise zum Wiegen gehört – ohne aber tatsächlich zu wiegen. 17 ÜG, 454. 18 ÜG, 117.
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man könne doch nie wissen; er zumindest sei sich nicht so sicher, dass er noch nie dort war. Was folgt denn aus seiner Unsicherheit? Greift dieser angebliche Zweifel irgendwie in sein Schlussfolgern ein? Und wenn nicht, so kann man ihn doch getrost zweifeln lassen. Selbst wenn man hier von einem Zweifel sprechen wollte, wäre dieser Zweifel doch müßig, sozusagen ohne Reibung. Dieser müßige Zweifel steht gleichsam zwischen dem unverständlichen und dem unvernünftigen Zweifel: Unverständlich ist dieser Zweifel, weil nicht klar ist, welche Schlüsse aus ihm gezogen werden können. Man könnte sagen: Dieser Zweifel hat vielleicht Gründe (»Man kann ja nie wissen,…«), aber er ist doch kein Grund – das heißt, er spielt keine Rolle im Schließen. Unvernünftig erscheint der beschriebene Zweifel, weil die Urteilsfähigkeit des Zweifelnden durch seine Annahmen in Frage gestellt wird: Alles spricht dafür und nichts dagegen, dass er noch nie auf dem Mond war. Wer trotz aller Evidenzen an seinem Glauben festhält, erscheint suspekt, denn was könnte ein solcher Mensch nicht noch alles glauben? Aber vielleicht behauptet er seinen Zweifel auch nur in philosophischen Diskussionen und verhält sich ansonsten wie ein vernünftiger Mensch. Er könnte aus seinem Zweifel aber auch ernsthafte Schlüsse ziehen wollen – was schwer genug vorstellbar ist. Er folgert etwa: »1986 wurde unsere Region atomar verseucht, vielleicht war ich zu dieser Zeit auf dem Mond. Ich sollte mir daher nicht zu viele Sorgen um meine Gesundheit machen und kann auf einen Arztbesuch getrost verzichten.«19 Nun erscheint sein Zweifel nicht mehr müßig, sondern unvernünftig oder irrsinnig. Der Zweifel ist nun nicht mehr müßig, weil er in sein Leben und Schlussfolgern eingreift. Betrachten wir ein weiteres, in gewisser Weise noch müßigeres Beispiel: Im Fall des Mondaufenthalts sagten wir, es spreche alles dafür und nichts dagegen, dass er noch nie auf dem Mond war. Kann man aber auch sagen: Nichts spricht dagegen und alles dafür, daß der Tisch dort auch dann vorhanden ist, wenn niemand ihn sieht? Was spricht denn dafür? Wenn aber nun Einer es bezweifelte, wie würde sich sein Zweifel praktisch zeigen? Und könnten wir ihn nicht ruhig zweifeln lassen, da es ja gar keinen Unterschied macht?20
Dieser Zweifel erscheint nun leer. Schließlich ist nicht klar, was überhaupt dafür oder dagegen sprechen sollte, dass der Tisch noch da ist, wenn ihn niemand sieht, fühlt, etc. Im Beispiel des vermeintlichen _____________ 19 Dem Leser mag vielleicht ein etwas weniger absurdes Beispiel einfallen. 20 ÜG, 119f.
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Mondaufenthalts ist der Zweifel unvernünftig, weil die Annahme allen Evidenzen widerspricht. Da dieser Zweifel jedoch nur schwerlich in das Schließen eingreift, erscheint er recht müßig. Er stellt allenfalls die Urteilsfähigkeit desjenigen in Frage, der trotz aller Evidenzen an seinem Zweifel festhält. Im Beispiel des Tisches ist hingegen unklar, was überhaupt für oder gegen die jeweilige Annahme sprechen sollte. Wenn es aber kein Prinzip des Dafür- oder Dagegenhaltens gibt, ist nicht mehr klar, inwiefern man überhaupt noch von einem Zweifel sprechen kann. Wenn z. B. jemand sagt »Ich weiß nicht, ob da eine Hand ist«, so könnte man ihm sagen »Schau näher hin«. – Diese Möglichkeit des Sichüberzeugens gehört zum Sprachspiel. Ist einer seiner wesentlichen Züge.21
Aber gerade diese »Möglichkeit des Sichüberzeugens« fehlt hier. Es gibt kein System des Dafür- und Dagegenhaltens, in dem dieser Zweifel überhaupt wirksam sein könnte. Und selbst wenn wir diesen Aspekt ausblenden, fehlt diesem angeblichen Zweifel der Angriffspunkt im Leben: Nichts folgt daraus. Der müßige Zweifel verweist aber auf den Witz des Zweifels: Wie eine Behauptung Orientierungsgründe geben will, so liefert der Zweifel Gründe, etwas zu meiden oder sich zu vergewissern. Und eine wesentliche Funktion des Zweifels dürfte dabei sein, vor Fehlentscheidungen zu schützen. In diesem Sinne könnte man den Zweifel an der Existenz des Tisches, wenn ihn niemand sieht, als grammatischen Witz auffassen, der auf den Witz der Grammatik verweist: Der vermeintliche ›Zweifel‹ zeigt, dass das Zweifeln einen Witz hat, der nicht schon allein dadurch verwirklicht wird, dass man die Worte »Ich bezweifle, dass…« äußert.
§ 7. Zweifel und Rationalität – Zum Witz des Zweifels Unter Umständen ist es unvernünftig zu zweifeln – ebenso wie es unvernünftig sein kann, Angst zu haben. Anders im Fall des Schmerzes: Es gibt keine unvernünftigen Schmerzen, da Schmerzen zwar Ursachen haben, aber keine Gründe: Es gibt vielleicht Gründe für den Schmerz, aber man hat keine Gründe. Oben wurde bereits angedeutet, dass die Vernünftigkeit des Zweifels damit in Verbindung steht, dass der Zweifel eine Funktion hat. Nun könnte man fragen, warum es dann nicht auch einen unvernünftigen Schmerz geben sollte, schließlich erfüllt auch der Schmerz eine Funktion: Menschen, die keinen Hitzeschmerz empfin_____________ 21 ÜG, 3.
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den, laufen Gefahr, ihren Organismus ernsthaft zu schädigen, und Menschen, die an einer Übersensibilität ihrer Haut leiden, können unter Umständen einfachste Tätigkeiten nicht mehr ausführen. Doch trotz dieser Funktionalität gibt es keinen vernünftigen und unvernünftigen (körperlichen) Schmerz, d. h., diese Menschen zeigen keinen Mangel an Vernunft. Der Umgang mit den Schmerzen kann vernünftig oder unvernünftig sein. Anders gesagt: Der Schmerz selbst kann wiederum ein Grund sein und so sind z. B. Zahnschmerzen häufig ein guter Grund, den Zahnarzt aufzusuchen. Die Angst hingegen ist nicht nur ein Grund (vielleicht zur Flucht), sondern hat auch Gründe (z. B. ein aggressiver Hund). Der Hund ist nicht nur Auslöser der Angst, sondern auch der Grund, und daher kann, im Gegensatz zum Schmerz, nicht nur der Umgang mit der Angst unvernünftig sein, sondern auch die Angst selbst: Man kann sich z. B. in der Gefährlichkeit des Hundes irren, man kann von falschen Annahmen ausgehen, zudem kann man abwägen, ob man in Gefahr ist oder nicht. Wittgenstein bringt in Über Gewißheit den Begriff des Zweifels immer wieder mit dem Begriff der Rationalität in Verbindung: Es kann für mich, als vernünftigen Menschen, kein Zweifel darüber bestehen. – Das ist es eben. – Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.22
Inwiefern und warum ist es aber gerade ein Zeichen von Vernunft, unter bestimmten Umständen nicht zu zweifeln? Wenn Wittgenstein vom vernünftigen und unvernünftigen Zweifel spricht, denkt er, wie mir scheint, zuweilen an die evidentielle Unsicherheit und zuweilen eher an die nicht-evidentielle. Daher gibt es in Wittgensteins Bemerkungen bezüglich der Rationalität des Zweifels zwei Argumentationslinien. (1) Der Zweifel ist eine Praxis. Qua Praxis ist der Zweifel funktional in unser Leben eingebettet und diese Funktion kann man verkennen. Hier sind wiederum zwei Aspekte zu berücksichtigen: (1a) Man kann an den falschen Dingen zweifeln: Ich könnte beispielsweise bezweifeln (oder zumindest unsicher sein), dass die Bücher in der Bibliothek, bis auf die wenigen, die ich selbst verwende, wirkliche Bücher sind. Es ist nicht logisch auszuschließen, dass alle anderen Bücher Attrappen sind – gleichwohl gibt es für mich keinen Grund, Derartiges anzunehmen. Es ist hier zwar nicht logisch ausgeschlossen zu zweifeln und es ist auch nicht logisch ausgeschlossen, dass viele Bücher tatsächlich bloße Attrappen sind – gleichwohl gibt es keinen guten Grund für einen solchen Zweifel. _____________ 22 ÜG, 219f. Vgl. auch z. B.: 254, 323ff., 334, 416, 452f., 556f.
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Insofern wäre ein derartiger Zweifel unvernünftig. Es stellt sich aber die Frage, warum gerade dieser Zweifel unvernünftig sein sollte. (Ich werde gleich darauf zurückkommen.) Ein Zweifel kann allerdings auch insofern unvernünftig sein (1b), als man die falschen Schlüsse aus ihm zieht. Der Zweifel hat ja nicht nur Gründe, sondern ist auch ein Grund. Wer bezweifelt, dass p, und sich dennoch so verhält, als sei p sicher, handelt unvernünftig. (2) Eine zweite Argumentationslinie zur Rationalität des Zweifels richtet sich eher auf die nicht-evidentielle Unsicherheit: Das zögerliche und vermeidende Verhalten einer Maus mag durchaus adaptiv und funktional sein, die Maus muss von dieser Funktion allerdings nichts wissen. Wer aber als Mensch in bestimmten Dingen unsicher und zögerlich ist, wird manches Sprachspiel nicht lernen. Anders gesagt: Die Sprache, und insofern die Vernunft, setzt das Fehlen nicht-evidentieller Unsicherheit voraus. a. Die Rationalität evidentieller Unsicherheit In Abb. 18 wurde die nicht-evidentielle Unsicherheit von der evidentiellen unterschieden. Die evidentielle Unsicherheit wurde wiederum differenziert in Zweifeln und Unsicher-sein. Der Zweifel verlangt Gegenevidenzen, das Unsicher-Sein ist eher durch das Fehlen von Evidenzen gekennzeichnet. Warum wäre es für mich unvernünftig zu zweifeln (oder unsicher zu sein), dass der Boden, auf dem ich stehe, mich trägt? Es gibt keinen guten Grund zu zweifeln. Aber stimmt das? Warum sollte nicht folgende Erklärung einen guten Grund liefern: »Das Gebäude, in dem ich mich befinde, ist mittlerweile mindestens 50 Jahre alt, man kann nie wissen, welchen Beton man damals verwendet hat, etc.«? Wie erkennt man, ob das ein guter Grund ist, an der Tragfähigkeit des Hauses zu zweifeln? Im Allgemeinen bedarf es hier der Sachkenntnis: Man wird etwas über Einsturz-Statistiken wissen müssen oder auch über die Bausubstanz des Gebäudes und dergleichen mehr. Nun weiß ich allerdings nichts von alledem. Bedeutet das, dass meine Sicherheit, dass der Boden mich tragen wird, ebenso unbegründet ist, wie meine Unsicherheit es wäre? Ich bin mir sicher, dass ich über Hauseinstürze in der Zeitung gelesen hätte, und insofern habe ich gleichsam statistische Evidenzen. Aber wie wäre es, wenn ich diese Informationen nicht hätte? Auch als Kind dachte ich nie daran, dass das Haus, in dem ich lebte, einstürzen könnte. Und diese Gedankenlosigkeit hat sich bewährt, da das Haus tatsächlich nicht eingestürzt ist und die Sorge, dass es doch passieren
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könnte, meinen Schlaf nicht beschwerte. Aber macht dies meine Zweifellosigkeit vernünftig? Wittgenstein meint: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.«23 – Das ist, wie mir scheint, allerdings nur die halbe Wahrheit: Ein Kind wird im Allgemeinen nicht unsicher sein, dass das Haus, in dem es lebt, nicht einfach einstürzt – und natürlich hat das Kind keine Evidenzen für diese Sicherheit. Aber schließlich bewährt sich sein Glaube und die Erfahrung bettet diesen Glauben ein: Was ursprünglich ein unbegründeter Glaube (ein sicheres Verhalten) war, ist nun eingebettet in ein ganzes Nest von Überzeugungen. Verdeutlichen wir uns dies anhand eines weiteren Beispiels: Die Menschen haben seit den ältesten Zeiten Tiere getötet, ihr Fell, ihre Knochen etc. etc. zu gewissen Zwecken gebraucht; sie haben mit Bestimmtheit drauf gerechnet, in jedem ähnlichen Tier ähnliche Teile zu finden. Sie haben immer aus der Erfahrung gelernt, und aus ihren Handlungen kann man ersehen, daß sie Gewisses mit Bestimmtheit glauben, ob sie diesen Glauben aussprechen oder nicht. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß der Mensch so handeln solle, sondern nur, daß er so handelt.24 Das Eichhörnchen schließt nicht durch Induktion, daß es auch im nächsten Winter Vorräte brauchen wird. Und ebensowenig brauchen wir ein Gesetz der Induktion, um unsre Handlungen oder Vorhersagen zu rechtfertigen.25
Es erscheint mir nicht so klar, dass der Mensch nicht doch auch so handeln solle – wenngleich dieses Sollen noch näher zu spezifizieren ist. Das Eichhörnchen soll Vorräte für den Winter sammeln und wenn es nicht sammelt, hat es einen ›Defekt‹. Dieses Sollen verdankt sich aber nicht einer Orientierung an Gründen, sondern ergibt sich aus der Lebensform des Eichhörnchens: Eichhörnchen machen keinen Winterschlaf und benötigen daher auch in der kalten Jahreszeit Nahrung, die sie aus der Natur nicht mehr gewinnen können. In analoger Weise sollen Säuglinge einen Saugreflex haben. Doch selbst wenn Säugling und Eichhörnchen hier gleichsam Hand in Hand gehen, trennen sich deren Wege recht schnell: Das Verhalten des Kindes ist irgendwann an Gründen orientiert. Das ursprünglich nackte Verhalten wird in ein Nest von Gründen und Überzeugungen eingebettet und kann daher vernünftig oder unvernünftig sein. Natürlich rechnen nicht nur die Menschen seit den ältesten Zeiten darauf, in ähnlichen Tieren ähnliche Teile zu finden. Auch der jagende Löwe zeigt keine (nicht-evidentielle) Unsicherheit, dass die von ihm _____________ 23 ÜG, 166, (meine Hervorhebung). 24 ÜG, 284. 25 ÜG, 287.
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verfolgte Antilope mit Fleisch und nicht mit Stroh gefüllt ist. Sein Verhalten ist nicht begründet, aber dennoch sinnvoll, insofern der Löwe bei der Jagd zumindest in diesem Punkt wohl nie enttäuscht wird. Wenn aber der Mensch damit rechnet, in ähnlichen Tieren ähnliche Teile zu finden, hat dies im Allgemeinen einen anderen Stellenwert: Z. B. sagt uns das, was wir über die Funktionsweise bestimmter Organe wissen, dass es keine Antilope ohne Herz und Gehirn geben kann. Insofern wäre es unvernünftig, etwas anderes anzunehmen. Es gibt hier einen Übergang von der nicht-evidentiellen zur evidentiellen Sicherheit. Es geht nicht darum, die von Wittgenstein zu Recht angemahnte Grundlosigkeit unseres Glaubens nachträglich zu rationalisieren. Man könnte eher sagen: Die gleichsam animalische (nicht-evidentielle) Sicherheit ist weder vernünftig noch unvernünftig. Doch insofern sich ein Satz wie »Jede Antilope hat ein Hirn« sinnvoll prädizieren lässt, kann die Überzeugung besser oder schlechter begründet sein.26 b. Die Rationalität nicht-evidentieller Unsicherheit Die nicht-evidentielle Unsicherheit kann per definitionem weder vernünftig noch unvernünftig sein. Allerdings gibt es auch im Bereich natürlicher und konditionierter Unsicherheiten eine Art Sollen: Ein Eichhörnchen soll sammeln, ein Säugling soll saugen. – Und in diesem Sinne soll ein Kind z. B. auch imitieren: Ein Kind, das sich nicht (sprachlich) imitierend verhält, ist nicht unvernünftig. Weil aber die Sprache auf dem Fehlen nicht-evidentieller Unsicherheiten (im Sinne eines Zögerns und Meidens) aufbaut, kann es bei einem solchen Kind nicht zur Entwicklung von Sprache kommen. Oben wurde gezeigt, dass eine technische Fähigkeit, also auch die Sprache, Dispositionen voraussetzt. Diese Dispositionen wurden als nicht-willentliche, spontane Reaktionen beschrieben, und ein Kind, das bestimmte Dispositionen nicht erwirbt (es zögert und ist unsicher), wird die Sprache nicht erlernen. In diesem Sinne liegt die Sicherheit und Zweifellosigkeit am Grunde der Sprache.27 Ein Schüler und ein Lehrer. Der Schüler läßt sich nichts erklären, denn er unterbricht (den Lehrer) fortwährend mit Zweifeln, z. B. an der Existenz der
_____________ 26 Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. 27 Vgl. ÜG, 283: »Denn wie kann das Kind an dem gleich zweifeln, was man ihm beibringt? Das könnte nur bedeuten, daß es gewisse Sprachspiele nicht erlernen könnte.«
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Dinge, der Bedeutung der Wörter, etc. Der Lehrer sagt: »Unterbrich nicht mehr und tu, was ich dir sage; deine Zweifel haben jetzt noch gar keinen Sinn.« Oder denk dir, der Schüler bezweifelte die Geschichte (und alles, was mit ihr zusammenhängt), ja auch, ob die Erde vor 100 Jahren überhaupt existiert habe. Da ist es mir, als wäre dieser Zweifel hohl. Aber ist es dann nicht auch der Glaube an die Geschichte? Nein; dieser hängt mit so vielem zusammen.28
Drei Dinge sind hier wichtig: Erstens hat der Schüler (noch) nicht verstanden, was es heißt, begründet zu zweifeln. Zweitens wird er aufgrund seiner Zweifel (das heißt, aufgrund des renitenten Verhaltens) bestimmte Dinge nicht lernen. Drittens hängt der anfangs grundlose Glaube ›mit so vielem zusammen‹. Dies kann den Glauben zwar nicht begründen – es bestimmt aber dessen Sinn. Um den Sinn des Zweifels noch deutlicher zu kontrastieren, ist es hilfreich, den Zweifel mit dem Wissen zu vergleichen.
_____________ 28 ÜG, 310−312.
III. Was heißt ›Wissen‹? Nehmen wir an, eine Katze wartet vor einem Loch, weil sie dort eine Maus hat verschwinden sehen. Wir könnten sagen: Die Katze weiß, dass sich eine Maus im Loch befindet. Allerdings hat die Katze keine Gründe, sie kann ihre Überzeugung nicht rechtfertigen, sie wägt keine Evidenzen ab, sie zweifelt nicht und sie fällt auch kein Urteil. Warum sprechen wir dann überhaupt von einem Wissen? Schließlich schreiben wir einer Blume, selbst wenn sie ihre Bewegung am Lauf der Sonne orientiert, auch kein Wissen zu. Im Fall der Blume gibt es keine Anhaltspunkte, die auf mehr als ein Reiz-Reaktionsschema hindeuten. Dahingegen sprechen wir der Katze aufgrund ihrer Fähigkeit zur Ortsbewegung und der Komplexität ihrer Reaktion auf Umwelteinflüsse Wahrnehmung zu: Die Katze hat die Fähigkeit, ihr Verhalten an ihrem ›Wissen‹ zu orientieren. Der Begriff des Wissens dient im Fall der Katze zur Erklärung ihres Verhaltens: Warum wartet die Katze vor dem Loch? Weil sie weiß, wo sich eine Maus befindet – nämlich in diesem Loch. Diese Erklärung beschreibt das Verhalten der Katze als Aktualisierung einer Fähigkeit, sich Umweltbedingungen entsprechend zu verhalten. Die Katze kann sich aber nicht selbst erklären. Es gibt Gründe für das Verhalten der Katze, die Katze hat aber keine Gründe. Wie nun gezeigt werden soll, ist das ein Grund, im Fall der Katze nicht (oder allenfalls im übertragenen Sinne) von einem Wissen zu sprechen.
§ 1. Wissen: eine Fähigkeit? Dass Etwas-zu-wissen keine Tätigkeit ist (wie etwa das Lesen eines Textes), erkennt man leicht daran, dass man das Lesen unterbrechen kann, dass man langsam oder schnell lesen kann, dass man versuchen kann zu lesen.1 Dahingegen kann man sein Wissen nicht unterbrechen und man kann auch nicht schnell oder langsam wissen, wie man auch nicht versu_____________ 1 Vgl. A.R. White: The Nature of Knowledge. Tatowa 1982, S. 104f.
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chen kann zu wissen und schließlich hört man nicht auf zu wissen, während man anderen Tätigkeiten nachgeht oder gar schläft. Wenn das Wissen keine Tätigkeit ist, könnte es ja vielleicht ein (geistiger) Zustand sein. Doch das Wissen ist auch kein Bewusstseinszustand. Denn nehmen wir an, Felix weiß, dass Peter seit Jahren ein rotes Auto besitzt. Doch gerade heute Morgen hat Peter seinen alten Wagen verkauft und einen neuen, schwarzen Wagen erworben. Wenn Felix von diesem Kauf nichts mitbekommen hat, weiß er also nicht mehr, welche Farbe Peters Wagen hat – wenngleich er noch immer glaubt, es zu wissen. Sein Bewusstseinszustand hat sich nicht geändert, obwohl er bis vor wenigen Stunden noch etwas wusste, was er nun nicht mehr weiß. Es ist daher, wie Wittgenstein es formuliert, »immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß.«2 Aus diesem Grund kann das Wissen auch keine Disposition sein: Wenn Felix weiß, dass Peter ein rotes Auto besitzt, und ihn jemand nach der Farbe von Peters Wagen fragt, wird er wohl geneigt sein, »Rot« zu sagen. Doch auch wenn Peter mittlerweile den roten Wagen gegen einen schwarzen eingetauscht hat, wird dies an Felix‘ Disposition nichts ändern. Nicht das Wissen ist eine Disposition, sondern allenfalls der dem Wissen zugrunde liegende Glaube. Das Wissen ist eine Fähigkeit.3 Es stellt sich aber die Frage, wozu das Wissen befähigt. Und hier scheint es eine schier unendliche Vielfalt zu geben: Wer etwas über englische Sprachgeschichte weiß, kann offensichtlich andere Dinge als derjenige, der etwas von Volkswirtschaft, Jazz, oder vom Stricken versteht. Daher meint Kenny: [T]here is no simple way of specifying how knowledge gets expressed in behaviour, and indeed some pieces of knowledge may never affect behaviour at all. The most we can say is that to know is to have the ability to modify one‘s behaviour in indefinite ways relevant to the pursuit of one‘s goals.4
Hyman greift Kennys Definition auf und unterstreicht vor allem die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten des Wissens: Knowledge can be expressed in indefinitely many ways. For example, Tom‘s awareness of the fact that the rouble has collapsed can be expressed in his booking a holiday in russia, buying shares in Gazprom, or sending dollars to a friend in Moscow.5
_____________ 2 ÜG, 505. 3 Vgl. dazu White, 1982. 4 A. Kenny: The Metaphysics of Mind. Oxford 1989, S. 108f. 5 J. Hyman: How Knowledge Works. In: The Philosophical Quaterly. Vol. 49, No. 197 (1999), S. 433−451, hier S. 438.
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Hyman kritisiert, dass Kenny das Wissen erstens auf eine Fähigkeit zu tun beschränke und zweitens nicht der Frage nachgehe, was die verschiedenen Ausdrucksformen des Wissens verbindet. Hyman schlägt vor, Wissen zu definieren als »the ability to act, to refrain from acting, to believe, to desire or doubt for reasons that are facts«.6 Was die verschiedenen Ausdrucksformen des Wissens demnach verbindet, ist, dass sie in bestimmter Weise getan werden – nämlich begründet durch Tatsachen. Ich werde hier nicht näher auf Hymans Position eingehen, sondern lediglich einen Punkt aufgreifen, in dem Hyman und Kenny übereinstimmen – und in dem beide, wie mir scheint, irren. Das Wissen ist, entgegen der Annahme Kennys und Hymans, eine sehr spezifische Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit, begründet wahre Behauptungen aufzustellen.7 Prima facie erscheint diese Bestimmung allzu eng und man möchte ihr vielleicht das Motto »Non scholae, sed vitae discimus« entgegenhalten. Schließlich lernt man nicht nur, um bei entsprechenden Anlässen Behauptungen aufzustellen, sondern man lernt, um das Gelernte zu beherrschen. Insbesondere sehr einfache Formen praktischen Wissens, wo Mensch und Tier sozusagen noch Hand in Hand gehen, scheinen gegen die hier vorgestellte These zu sprechen: Wer den Weg aus einem Labyrinth kennt (was auch ein Tier kann), der kann nicht nur wahre Behauptungen über das Labyrinth aufstellen, sondern er kann auch den Weg nach draußen finden. Das scheint das Entscheidende zu sein – und nicht etwa die Fähigkeit, wahre Behauptungen bezüglich des Labyrinths aufstellen zu können. Warum also sollte man das Wissen als eine Fähigkeit auffassen, wahre Behauptungen aufstellen zu können? Schließlich weiß auch die Katze, wie sie ihren Weg aus dem Labyrinth findet, ohne jedoch irgendetwas behaupten zu können.8 Betrachten wir den Fall nun etwas genauer: Nehmen wir an, die arme Katze bricht sich im Labyrinth ihre Beine. Dann hat sie ihre Fähigkeit, das Labyrinth zu verlassen, verloren – weiß die Katze dann immer noch, wie sie das Labyrinth verlassen könnte? Nun, sie weiß es gerade noch so weit, wie sie noch immer die _____________ 6 Hyman, 1999, S. 451. 7 Dies ist eine leichte Abwandlung der These Whites. Er definiert Wissen als »the ability to produce the correct answer to a possible question, the solution of a possible problem.« Vgl. White, 1982, S. 119. 8 Es gibt natürlich Wissensgebiete, in denen Katzen nicht besonders glänzen: z. B. altgriechische Geschichte. Im Fall des Geschichtswissens wird man vielleicht eher zugestehen, dass Wissen etwas mit der Fähigkeit zu tun hat, wahre Behauptungen aufstellen zu können. Ich konzentriere mich hier aber nur auf elementare Formen praktischen Wissens, weil sie am stärksten gegen die hier vorgestellte Position zu sprechen scheinen.
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Fähigkeit hat: Das Wissen ist im Fall der Katze vollständig durch ihre Fähigkeit bestimmt. Nehmen wir nun an, dem unglücklichen Felix gehe es ähnlich; auch er bricht sich seine Beine. Unter diesen Umständen verliert auch er die Fähigkeit, das Labyrinth zu verlassen. Aber dadurch verliert er nicht sein Wissen. Denn sein Wissen zeigt sich nicht primär in seiner Fähigkeit, das Labyrinth zu verlassen, sondern in seiner Fähigkeit, urteilen zu können, welcher Weg der richtige ist. Felix verliert sein Wissen nicht, wenn seine Beine nicht mehr funktionieren; er verlöre sein Wissen, wenn sein Denken nicht mehr funktionierte. Daher ist es falsch zu glauben, das Wissen bezeichne eine Fähigkeit zu bestimmten Dingen, die über das Urteilen hinausgehen. Der Witz ist allerdings: Wenn Felix weiß, wie man den Weg aus dem Labyrinth findet, dann hat er im Allgemeinen auch die Fähigkeit, das Labyrinth zu verlassen: Wer etwas weiß, hat nicht nur die Fähigkeit, Wahres zu behaupten, sondern er hat zumeist auch andere Fähigkeiten – und in unserem Beispiel wäre dies die Fähigkeit, den Weg aus dem Labyrinth zu finden. Aber diese Fähigkeit ist weder hinreichend noch notwendig für das Wissen. Hyman hat insofern Recht, als jemand, der etwas weiß, sehr vieles kann. Nur taugt das nicht als Definition des Wissens. Es verweist vielmehr auf den Witz des Wissens. Eine Fähigkeit reicht häufig sehr viel weiter als das Wissen. Ein Beispiel: Peter weiß, wie eine Oboe klingt. Würde er taub, verlöre er die Fähigkeit, den Ton einer Oboe zu identifizieren. Verlöre er aber auch sein Wissen darüber, wie eine Oboe klingt? Nun, er könnte vermutlich noch einiges über den Klang der Oboe sagen und insofern (und nur insofern) wüsste er noch immer, wie eine Oboe klingt. Warum sollte denn die Fähigkeit zur Identifikation eines Oboentons in einem Wissen bestehen? Schließlich wird man auch Tiere dazu abrichten können, beim Hören eines Oboentons irgendetwas zu tun. Und insofern mag auch ein Tier die Fähigkeit haben, eine Oboe zu erkennen. Aber für diese Identifikation braucht das Tier kein Wissen – und ebenso wenig braucht es der Mensch: Nehmen wir an, ein Kind wird dazu abgerichtet, unter bestimmten Umständen die Worte ›rot‹ und ›grün‹ auszusprechen. Weiß das Kind dann, welche Farbe bestimmte Gegenstände haben? Das Kind weiß doch vorerst soviel und sowenig wie ein Tier, das man dazu abgerichtet hat, Farben zu unterscheiden: Es hat die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. »Das Kind, möchte ich sagen, lernt so und so reagieren; und wenn es das nun tut, so weiß es damit noch nichts. Das Wissen beginnt erst auf
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einer späteren Stufe.«9 Im Erlernen der Farbnamen weiß das Kind vorerst noch nichts – und insofern kann es auch nicht zweifeln – es kann allenfalls eine primitive Form der Unsicherheit zeigen: Es kann z. B. zögern. Und ebenso ist auch das sichere Reagieren des Kindes kein Wissen, es reagiert ohne Evidenzen im Allgemeinen spontan und sicher.
§ 2. »Ich weiß…« als Äußerung? Die Ausdrücke »Ich glaube…«, »Ich bin sicher…«, »Ich bezweifle…« äußern die eigene Sicherheit oder auch den Zweifel. Wer so spricht, kann lügen oder heucheln – er kann aber nicht irren. Angenommen, jemand fragt nach der Hauptstadt von Burkina Faso, worauf man antwortet: »Ich weiß, dass…«. Ist das nun ebenfalls eine Äußerung, in der man sich nicht irren kann? Offenbar nicht, denn wahr ist die Aussage nur dann, wenn man die Stadt nun auch wirklich nennen kann. Die Behauptung »Ich weiß…« kann also nicht nur gelogen und geheuchelt, sondern auch schlicht falsch sein. In diesem Sinne meint Wittgenstein: Der falsche Gebrauch, den Moore von dem Satz »Ich weiß…« macht, liegt darin, daß er ihn als eine Äußerung betrachtet, die so wenig anzuzweifeln ist wie etwa »Ich habe Schmerzen«. Und da aus »Ich weiß, daß es so ist« folgt »Es ist so«, so kann also auch dies nicht angezweifelt werden.10 Es wäre richtig zu sagen: »Ich glaube…« hat subjektive Wahrheit; aber »Ich weiß…« nicht. Oder auch: »Ich glaube…« ist eine Äußerung, nicht aber »Ich weiß…«.11
Es scheint aber seltsam, dass ein Philosoph wie Moore tatsächlich einen solchen Fehler gemacht haben sollte. Schließlich ist es doch allzu offensichtlich, dass die Aussage »Ich weiß…« falsch sein kann und eben keine Äußerung ist wie »Ich glaube…«. Im Folgenden werde ich versuchen darzustellen, inwiefern die Aussage »Ich weiß…« gleichsam zwischen Behauptung und Äußerung stehen kann – um dann aber zu zeigen, warum das ein Grund ist, hier nicht von Wissen zu sprechen.
_____________ 9 ÜG, 538. 10 ÜG, 178. 11 ÜG, 179f.
Was heißt ›Wissen‹?
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a. »Ich weiß…« und »Ich sehe…« Um zu verdeutlichen, dass die Aussage »Ich weiß…« zuweilen Merkmale einer Äußerung hat, werde ich im Folgenden Analogien zwischen den Aussagen »Ich weiß…« und »Ich sehe…« hervorheben. Wittgenstein selbst stellt diesen Vergleich an: »Ich weiß« hat eine primitive Bedeutung, ähnlich und verwandt der von »Ich sehe«. (»Wissen«, »videre«.) Und »Ich wußte, daß er im Zimmer war, aber er war nicht im Zimmer« ist ähnlich wie »Ich sah ihn im Zimmer, aber er war nicht da«.12
Ist die Aussage »Ich sehe…« eine Äußerung, in der man sich nicht irren kann? Offenbar nicht, da »Ich sehe ein φ« falsch ist, wenn sich zeigen sollte, dass das, was man sah, doch kein φ war. Dahingegen ist die Aussage »Es scheint ein φ zu sein « eine Äußerung. Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern es eine Verwendung von »Ich sehe…« gibt, die gleichsam zwischen Behauptung und Äußerung steht. Betrachten wir ein konkretes Beispiel: Peter behauptet: »Ich sehe dort drüben mein Auto«. Diese Behauptung ist falsch, wenn das, was er sieht, doch nicht sein Wagen sein sollte. Wie aber, wenn er unmittelbar vor seinem Auto steht und sagt: »Ich sehe ein Auto«. Könnte das ebenfalls ein Irrtum sein? Er könnte halluzinieren oder verrückt werden, aber ein Irrtum wäre das doch nicht. Die Aussage »Ich sehe ein Auto« steht im beschriebenen Fall gleichsam zwischen Äußerung und Behauptung. Mit der Äußerung hat sie gemeinsam, dass sie kein Irrtum sein kann. Mit der Behauptung aber, dass sie sich unter Umständen dennoch als falsch erweisen kann. Und zwar nicht nur, wenn Peter lügt, sondern auch, wenn gleichsam »Unerhörtes «13 geschähe: Das Auto löst sich in Luft auf, man halluziniert oder dergleichen. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Wissens: Es gibt eine Verwendung von »Ich weiß…«, die zwischen Behauptung und Äußerung steht – und Moores Äußerungen könnte man so deuten, dass er einige Beispiele einer solchen Verwendung nennt. Nun kann man aber immer noch in Frage stellen, ob Moore mit der Formulierung »Ich weiß…« den richtigen Ton getroffen hat. Denn wenn es richtig sein sollte, dass das Wissen primär die Fähigkeit ist, wahre Behauptungen aufzustellen, dann können Moores Äußerungen allenfalls in einem abgeleiteten Sinne als Wissen durchgehen. Sie sind keine paradigmatischen Fälle von Wissen (wie man sie prima facie vielleicht auffassen _____________ 12 ÜG, 90. 13 ÜG, 513.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
könnte), sondern haben höchstens eine gewisse Ähnlichkeit mit Wissensformulierungen. b. Die Kreuzung von Wissen und Gewissheit Der im ersten Teil (Kapitel II, § 3) besprochene Ultra-Mechanismus entstand durch die Kreuzung von kausaler und funktionaler Beschreibungsweise. Durch diese Kreuzung zeigt der Mechanismus einerseits ein konkretes Verhalten, andererseits tut er dies aber mit logischer Notwendigkeit. Eine ähnliche Kreuzung findet man im Fall des Sehens. Untersuchen wir folgende Aussagen: (a) »Ich sehe ein Auto«, (b) »Mir scheint das ein Auto zu sein«, (c) »Ich sehe meine Hand.« – (a) ist falsch, wenn ich mich darin irre, dass ich ein Auto sehe. Oder umgekehrt: Wenn ich ein Auto sehe, folgt daraus, dass es ein Auto ist. (b) hingegen kann kein Irrtum sein, da die Aussage eine Äußerung ist. Aus diesem Grund macht diese Aussage allerdings auch keine Behauptung darüber, ob das Gesehene tatsächlich ein Auto ist. Wie verhält es sich mit (c)? Eine (wie ich glaube unangemessene) Deutung von (c) könnte folgendermaßen lauten: Wenn ich meine Hand sehe, so folgt daraus, dass dies meine Hand ist. Da die Äußerung »Ich sehe meine Hand« unter bestimmten Umständen kein Irrtum sein kann, folgt aus der Äußerung »Dies ist meine Hand«, dass dies auch tatsächlich meine Hand ist. Dann scheint es, als könne die Äußerung eines Satzes eine Tatsache verbürgen. Die Aussage (c) wird also einerseits im Lichte einer Behauptung, andererseits im Lichte der Äußerung gedeutet. Dabei werden, wie auch im Fall des Ultra-Mechanismus, Beschreibungsweisen gekreuzt. Wie sollte man (c) stattdessen deuten? Wenn ich sage »Natürlich weiß ich, daß das ein Handtuch ist«, so mache ich eine Äußerung. Ich denke nicht an eine Verifikation. Es ist für mich eine unmittelbare Äußerung. […]14 Aber dieses unmittelbare Zugreifen entspricht doch einer Sicherheit, keinem Wissen. […]15 Vom Menschen, in Moores Sinne, zu sagen, er wisse etwas; was er sage sei also unbedingt die Wahrheit, scheint mir falsch. – Es ist die Wahrheit nur insofern, als es eine unwankende Grundlage seiner Sprachspiele ist.16 […] die vollkommene Sicherheit bezieht sich nur auf seine Einstellung.17
_____________ 14 ÜG, 510. 15 ÜG, 511. 16 ÜG, 403.
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Was heißt ›Wissen‹?
Wittgenstein greift hier die Position an, dass es sich im Fall der von Moore geäußerten Wissensansprüche tatsächlich um Wissen handelt. Wie im Fall der Unsicherheit, gibt es auch für den Fall der Sicherheit evidentielle und nicht-evidentielle Formen: Nicht jede Sicherheit beruht auf Evidenzen. In Analogie zur Einteilung der Unsicherheit lassen sich auch Arten der Sicherheit unterscheiden. Sicherheit
nicht-evidentiell (nicht zögerlich, spontan, etc.)
evidentiell
Wissen (Fähigkeit, begründet wahre Behauptungen zu artikulieren)
konditionierte, verursachte Sicherheit
Glauben (Disposition)
natürliche Sicherheit (Instinkt)
verhaltensorientiert (adverbial)
begründungsorientiert (prädikativ)
Abb. 19
Die Unterteilung der nicht-evidentiellen Sicherheiten in natürliche und konditionierte Sicherheiten soll lediglich darauf aufmerksam machen, dass nicht jedes Lernen Gründe und Evidenzen braucht. Entscheidend ist die prinzipielle Unterscheidung von evidentieller und nicht-evidentieller Sicherheit: nicht jede Sicherheit kann auch Gegenstand des Wissens sein. Anders gesagt: Es gibt Sicherheiten, die prinzipiell nicht als Wissen in Frage kommen, sondern bloß einen Verhaltensmodus (sicher, nicht zögerlich, spontan, etc.) beschreiben.
_____________ 17 ÜG, 404.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
§ 3. Wissen und Behaupten […] Ich sitze mit einem Freund im Gespräch. Plötzlich sage ich: »Ich habe schon die ganze Zeit gewußt, daß du der N.N. bist.« Ist dies wirklich nur eine überflüssige, wenn auch wahre, Bemerkung? Es kommt mir vor, als wären diese Worte ähnlich einem »Grüß Gott«, wenn man es mitten im Gespräch dem Andern sagte.18 Es scheint mir also, ich habe etwas schon die ganze Zeit gewußt, und doch habe es keinen Sinn, dies zu sagen, diese Wahrheit auszusprechen.19
Dieses Beispiel ist irritierend: Einerseits wird man sagen müssen, man wisse den Namen des Freundes – wie sollte man ihn auch nicht wissen. Andererseits kann man, so Wittgenstein, dieses Wissen nicht in sinnvoller Weise artikulieren. Die Aussage eines anderen über mich: »T-P. E. weiß, wie N. N. heißt«, wäre demnach sinnvoll und wahr, während meine eigene Aussage: »Ich weiß, dass du N.N. heißt«, keinen Sinn hat. Dieser Fall ist allerdings nicht mehr erstaunlich, wenn man daran denkt, dass man auch vom Schlafenden sagen kann, er wisse soundso, ohne dass er sein Wissen artikulieren kann. Denn selbst wenn er im Schlaf die Worte »Ich weiß…« ausspricht, ist dies ja keine Artikulation eines Wissensanspruchs. Nun ist das allerdings nicht die von Wittgenstein vorgestellte Situation. Dort ist es vielmehr der unmittelbare Kontext, der den Satz unverständlich erscheinen lässt: Unter anderen Umständen (etwa auf einem Maskenball) wäre die Aussage »Ich wusste schon die ganze Zeit…« durchaus verständlich. Wittgenstein meint, die Aussage »Ich habe schon die ganze Zeit gewusst, dass du der N. N. bist.« komme ihm vor, als würde jemand mitten im Gespräch »Grüß Gott« sagen. Dieses »Grüß Gott« erscheint tatsächlich unverständlich. Könnte man sich aber während eines Gesprächs nicht immer wieder an diese Grußformel erinnern wollen, indem man »Grüß Gott« sagt? Natürlich ist das denkbar und wenn sich der seltsame Kauz so erklärt, wird man ihm seine Eigenart vielleicht nachsehen. Und das heißt: Man wird sein »Grüß Gott« eben nicht als Gruß, sondern im Lichte seiner Erklärung auffassen. Man identifiziert die Grußformel, doch versucht nicht mehr, sie in der Funktion eines Grußes aufzufassen. Ähnlich verhält es sich mit der Aussage »Ich habe schon die ganze Zeit gewusst, dass du der N. N. bist«. Wollte jemand darauf bestehen, dass er diese Aussage in der oben beschriebenen Situation als Mitteilung oder Behauptung meint, wäre die Aussage unverständlich. Er könnte _____________ 18 ÜG, 464. 19 ÜG, 466.
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aber vielleicht erklären, dass er manchmal das Bedürfnis habe, sich Dinge zu vergegenwärtigen, derer er sich völlig sicher ist. Diese Erklärung lässt seine Aussage nun in einem anderen Licht erscheinen. Aber sie macht aus der Aussage »Ich wusste…« keine Behauptung eines Wissensanspruchs.
IV. Mooresche Sätze § 1. Mooresche Sätze zwischen evidentieller und nicht-evidentieller Sicherheit Von einer Katze sagt man unter Umständen, sie sei sicher, dass sich eine Maus im Loch befindet. Diese Sicherheit zeigt sich in ihrem Verhalten. Die Katze hat allerdings keine Gründe für ihr Verhalten und ihre Sicherheit ist insofern nicht-evidentiell. Die Aussage »Die Katze ist sicher…« artikuliert letztlich keine prädikative, sondern eine adverbiale Sicherheit: sie sagt nichts darüber aus, was die Katze für sicher hält, sondern nur, wie sich das Tier verhält – nämlich nicht zögerlich. Wer hingegen überzeugt ist, dass sich eine Maus im Loch befindet, kann erstens sagen, wovon er überzeugt ist, und zweitens ist die Frage sinnvoll, was ihn denn sicher mache. Die oben erwähnten Mooreschen Sätze lassen sich, wie nun gezeigt werden soll, nicht ohne weiteres in dieses Schema einordnen – sie stehen eher zwischen der evidentiellen und nicht-evidentiellen Sicherheit. Abb. 20 soll die Einordnung der Mooreschen Sätze verbildlichen. Sicherheit
nicht-evidentiell
evidentiell
Mooresche Sätze Wissen (Fähigkeit, begründet wahre Behauptungen zu artikulieren)
konditionierte, verursachte Sicherheit
Glauben (Disposition)
natürliche Sicherheit (Instinkt)
verhaltensorientiert (adverbial)
begründungsorientiert (prädikativ) allgemeingültige Mooresche Sätze. »Jeder Mensch hat ein Gehirn.«
kontextrelative Mooresche Sätze. »Dies ist meine Hand.«
Abb. 20
Mooresche Sätze
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Um die Einordnung der Mooreschen Sätze zu verdeutlichen, soll die Struktur dieser Sätze nun schärfer konturiert werden. Dabei werde ich eine Zweiteilung der Mooreschen Sätze vornehmen, wobei die einen eher zur prädikativen Sicherheit tendieren, die anderen hingegen eher zur adverbialen. Die Sätze, die Wittgenstein in Über Gewißheit als Mooresche Sätze vorstellt, sind recht uneinheitlich. Betrachten wir nochmals die eingangs erwähnten Beispiele: (1) Wasser siedet bei 100ºC. (2) Die Erde ist rund. (3) Ein abgehackter Arm wächst nicht wieder nach. (4) Die Natur weist Gesetzmäßigkeiten auf. (5) Die Erde hat schon lange vor meiner Geburt existiert. (6) Jeder Mensch hat Eltern. (7) Katzen wachsen nicht auf Bäumen. (8) Jeder Mensch hat ein Gehirn. (9) Dies ist ein Buch. (10) Ich lebe in Deutschland. (11) Mein Name ist T.-P. Ertz. (12) Ich war noch nie in China (auf dem Mond).1 Ich unterteile die Sätze in zwei Gruppen2 – in solche Sätze, die als Wahrheiten in ein Buch aufgenommen werden könnten (Sätze 1–8), und solche, bei denen das nicht möglich ist (Sätze 9–12). Anders gesagt: In Sätze, die unabhängig von der Sprechersituation wahr sind, und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Die erstgenannten Sätze (allgemeingültige Mooresche Sätze) stehen tendenziell zwischen Regel und Erfahrungssatz, die anderen (kontextrelative Mooresche Sätze) stehen eher zwischen Äußerung und Behauptung. Gemeinsam ist allen Sätzen, dass sie sich aufgrund ihrer Stellung zwischen evidentiellen und nicht-evidentiellen Sicherheiten nicht ohne weiteres bezweifeln lassen, da der Zweifel eine evidentielle Form der Unsicherheit ist.
§ 2. Zur Charakterisierung Moorescher Sätze Wittgenstein charakterisiert die Mooreschen Sätze als »Rotationsachsen« und »Angeln«, dem »Bezugssystem zugehörig« oder auch als »Boden unserer Überzeugungen«: _____________ 1 ÜG, (1) 293, (2) 291, (3) 274, (4) 315, (5) 84, (6) 211, (7) 282, (8) 4, (9) 17, (10) 70, (11) 594, (12) 333. Die Sätze wurden von mir teilweise umformuliert und teilweise inhaltlich angepasst. 2 Andere Einteilungen sind denkbar. Vgl. z. B. H-J. Glock: Wittgenstein-Lexikon. Darmstadt 2000, S. 145 und Moyal-Sharrock, 2004, S. 51f. Natürlich gibt es hier keine an sich richtige Einteilung. Für meine Zwecke erscheint mir die Zweiteilung sinnvoll und hinreichend.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.3 Es ist aber damit nicht so, daß wir eben nicht alles untersuchen können und uns daher notgedrungen mit der Annahme zufriedenstellen müssen. Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.4 Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserm Bezugssystem.5 Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.6
Wittgenstein erklärt die eigentümliche Rolle der Mooreschen Sätze unter anderem durch den Hinweis, dass nicht »alles, was die Form eines Erfahrungssatzes hat, ein Erfahrungssatz ist«7 und dass die Mooreschen Sätze vielleicht zwischen Regel und Erfahrungssatz stehen könnten.8 Im Folgenden werde ich Wittgensteins Charakterisierungen an einigen konkreten Beispielen prüfen und schärfer konturieren, um so die eigentümliche Rolle dieser Sätze klarer hervorzuheben. _____________ 3 ÜG, 152. 4 ÜG, 343. Vgl. auch ÜG, 341. 5 ÜG, 83. 6 ÜG, 248. 7 ÜG, 308. 8 ÜG, 309. Wittgenstein formuliert eher fragend: »Ist es, daß Regel und Erfahrungssatz ineinander übergehen?« Die Zwischenstellung wird allerdings sehr klar und überzeugend von A. Krebs hervorgehoben. (A. Krebs: Worauf man sich verlässt: Sprach- und Erkenntnisphilosophie in Ludwig Wittgensteins Über Gewißheit. Würzburg 2007. Dort insbesondere Kapitel II, 3). Moyal-Sharrock verkennt hingegen die eigentümliche Zwischenstellung vieler Moorescher Sätze und fasst sie als grammatische auf. Vgl. D. Moyal-Sharrock: On Certainty and the Grammaticalization of Experience. In: Dies.: The third Wittgenstein: the post-investigation works. Burlington 2004, S. 43−62: »In On Certainty, he [Wittgenstein] comes to see, that these ›general empirical propositions‹ are not empirical propositions at all, but rules of grammar.« S. 49. Ähnlich auch M. Kober: Gewißheit als Norm: Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit. Berlin 1993. Grayling erkennt zwar in gewisser Weise die Zwischenstellung an, gleichwohl hält er es für ein »muddling together contingent and empirical propositions with those he calls ›grammatical propositions‹. A.C. Grayling: Wittgenstein on Scepticism and Certainty. In: H-J. Glock: Wittgenstein: A Critical Reader. Oxford 2001, S. 305−321, S. 313. – Ein Versuch zu erklären, warum Wittgenstein in Über Gewißheit eine auffällig metaphorische Sprache wählt, findet sich bei A. Stroll: Wittgenstein’s Foundational Metaphors. In: D. Moyal-Sharrock, 2004, S. 13−24.
Mooresche Sätze
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a) Wasser kocht bei 100ºC. Im Fall des Satzes »Wasser kocht bei etwa 100ºC« ist relativ leicht einzusehen, inwiefern dieser Satz zwischen Regel und Erfahrungssatz steht. Schließlich ist z. B. folgender Schluss möglich: Die vorliegende Flüssigkeit kocht bei 50ºC, also ist es kein Wasser. Oder: Das Wasser kocht; das Thermometer zeigt 50ºC; also ist das Thermometer defekt. Den Schluss, dass normales Wasser unter normalen Umständen manchmal eben doch bei 50ºC kocht, wird man im Allgemeinen nicht akzeptieren. Wenn es jedoch öfter vorkäme, dass wir mit einem (gemäß anderer Messungen funktionierenden) Thermometer 50ºC mäßen, die Flüssigkeit nach einer Reihe anderer Kriterien eindeutig Wasser wäre, wir keine eigentümlichen Umwelteinflüsse identifizieren könnten, dann hielten wir vielleicht nicht mehr an dem Satz, dass Wasser bei 100ºC kocht, fest. Und dabei hätten wir keine Begriffsänderung vorgenommen, sondern eine Gewissheit aufgegeben. Die Gewissheit, dass Wasser bei 100ºC kocht, steht also insofern zwischen Regel und Erfahrungsurteil, als sie einerseits als Maßstab dient, sich aber andererseits dennoch als falsch erweisen kann. Aber inwiefern ist dieser Satz eine Rotationsachse oder Drehangel? Ist der Satz eine Achse, die man nachträglich gefunden hat? Oder eine Grundmauer, die, wie Wittgenstein es beschreibt, vom Haus getragen wird? Im Schließen steht der Satz »Wasser kocht bei 100ºC« zumeist unausgesprochen im Hintergrund: »Die Flüssigkeit verdampft bei 50ºC, also ist es kein Wasser.« Diesen Schluss könnte man rechtfertigen durch die Erklärung: »Wasser kocht bei 100ºC«. So aufgefasst artikuliert der Satz »Wasser kocht bei 100ºC« eine prädikative Sicherheit: Es ist sicher, dass…. Und die Sicherheit dieser Überzeugung könnte man erklären: […] Es ist das z. B. nicht ein Satz, den ich einmal gehört habe wie etwa den und jenen, die ich nennen könnte. Ich habe das Experiment selber in der Schule gemacht. Der Satz ist ein sehr elementarer unserer Lehrbücher, denen in solchen Dingen zu trauen ist, weil… – […]9
Allerdings wird in dieser (prädikativen) Artikulation die Rolle der Sicherheit, dass Wasser bei 100ºC kocht, in gewisser Weise verkannt. Denn seine eigentümliche Zweifellosigkeit erhält der Satz gerade dadurch, dass er im Allgemeinen unausgesprochen im Hintergrund bleibt und eben nicht artikuliert wird – wie etwa beim Schluss: Das Wasser kocht. Das Thermometer zeigt 50ºC. Also ist das Thermometer defekt. Insofern handelt es sich hier weniger um eine prädikative als um eine adverbiale Sicher_____________ 9 ÜG, 599: »* Randbemerkung: Kann es denn nicht auch geschehen, daß man heute einen Irrtum früherer Zeiten zu erkennen glaubt und später darauf kommt, daß die erste Ansicht richtig war? etc.«
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Sprache
heit: Man schließt ohne zu zögern, dass es sich um kein Wasser handelt, wenn die Flüssigkeit bei 50ºC kocht. Daraus, dass der Satz »Wasser kocht bei 100ºC« im Schließen häufig unartikuliert bleibt, folgt natürlich nicht, dass er nicht artikuliert werden könnte. Dennoch scheint gerade die prädizierte Sicherheit »Wasser kocht bei 100ºC« die eigentümliche Rolle dieses Satzes zu verdecken. Eine Analogie kann dies verdeutlichen: Wenn man das nicht-zögernde Verhalten einer Katze erklären soll, wird man vielleicht sagen: »Sie weiß (ist sicher), dass sich eine Maus im Loch befindet.« Damit würde man nicht erklären, wovon die Katze überzeugt ist, sondern nur beschreiben, wie sich das Tier verhält. Ähnlich im Fall des Schlusses, dass eine Flüssigkeit, die bei 50ºC kocht, kein Wasser sein kann: Sollte man Gründe für die Bestimmtheit und Sicherheit dieses Schlusses nennen, dann vielleicht den, dass Wasser eben bei 100ºC kocht. b) Ein abgehackter Arm wächst nicht nach. Der Satz »Ein abgehackter Arm wächst nicht nach« hat in vielerlei Hinsicht einen ähnlichen Status wie »Wasser kocht bei 100ºC«. Auch dieser Satz steht zwischen Erfahrungsurteil und Regel.10 Einerseits ist es ein bloßes Naturfaktum, dass abgetrennte Arme beim Menschen nicht nachwachsen. Andererseits spielt dieser Satz eine regelähnliche Rolle in unserem Schließen. Ein Beispiel: Felix hatte, als Peter ihn vor einigen Jahren sah, nur einen Arm, nun hat er wieder zwei. Wird Peter schließen, Felix‘ Arm sei nachgewachsen? Wohl kaum. Peter könnte schließen, dass er sich damals irrte, oder auch dass er sich nun täuscht, oder dass Felix eine Prothese trägt, oder auch dass der Arm transplantiert wurde, etc. Wie beim Satz »Wasser kocht bei 100ºC« ist auch hier nicht ohne weiteres klar, wie der Satz falsifiziert werden könnte. Selbst wenn man buchstäblich sähe, dass jemandem ein Arm nachwüchse, müsste man den eigenen Augen ja nicht trauen. (Schließlich überzeugt einen der Magier ja auch nicht davon, dass man Jungfrauen zersägen und anschließend wieder zusammensetzen kann.) Dennoch: Sollte ein Freund einen Arm verlieren und Jahre später wieder zwei Arme haben und sollte er versichern, sein Arm sei nachgewachsen (zudem zeigt er Bilder, die die unterschiedlichen Wachstumsstadien belegen), dann würde man ihm vielleicht glauben. Wie beim Kochverhalten des Wassers kann die Sicherheit, dass ein abgetrennter Arm nicht nachwächst, als Erklärung für eine adverbiale Sicherheit aufgefasst werden: Nehmen wir an, Felix hat sich seinen Arm eingeklemmt und es wird die Frage verhandelt, was nun zu tun sei. Es wird kaum jemand auf die Idee kommen, Felix‘ Arm einfach abzutren_____________ 10 Dies dürfte für Naturgesetze im Allgemeinen gelten.
Mooresche Sätze
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nen. Diese Variante wird vermutlich gar nicht erst bedacht. Man wird nicht sagen: »Wer weiß, Felix war schon immer ein seltsamer Kerl – vielleicht wächst ihm sein Arm wieder nach.« Die Aussage »Ein abgetrennter Arm wächst nicht wieder nach« macht nicht nur eine allgemeine Aussage, sondern die Sicherheit und Allgemeinheit liegen vor allem in der Sicherheit der Allgemeinheit eines fraglosen Verhaltens. c) Die Erde ist älter als 100 Jahre. Wie verhält es sich mit dem Satz »Die Erde ist älter als 100 Jahre«? Bei diesem Satz wird die Stellung als Rotationsachse und Angelpunkt vielleicht noch deutlicher als bei den beiden erstgenannten Sätzen. Denn wollte jemand diesen Satz bezweifeln (ich lasse es nun dahingestellt, ob es überhaupt einen Sinn haben könnte, dies zu tun), kämen sofort unzählige Fragen bezüglich der Biologie, Geschichtsschreibung, Physik, Geologie, Archäologie, etc. Alles Forschen in diesen Gebieten wäre unverständlich, wenn es zweifelhaft wäre, dass die Erde älter als 100 Jahre ist. Inwiefern steht dieser Satz nun aber zwischen Regel und Erfahrungssatz? Dass der Satz kein Erfahrungssatz ist, dürfte einleuchten. Aber ist der Satz nicht einfach eine sprachliche Regel? Wer meint, Wasser koche vielleicht bei 50ºC oder ein abgehackter Arm wachse wieder nach, den versteht man vielleicht noch. Sollte aber jemand behaupten, er sei nicht sicher, ob die Erde vor 100 Jahren schon existiert habe, wäre nicht mehr klar, ob er überhaupt weiß, wovon er spricht. Der Satz »Die Erde existiert seit über 100 Jahren« ist unter anderem wegen der enthaltenen quantitativen Bestimmung interessant. Vergleichen wir folgende Sätze: »Die Erde existiert seit 4 Milliarden Jahren«, »Die Erde existiert seit 6000 Jahren«, »Die Erde existiert seit 100 Jahren«, »Die Erde existiert seit 10 Minuten«. Welcher dieser Sätze ist nicht zu bezweifeln? Ist etwa der letzte Satz der gewisseste? Und ist dann der Satz »Die Erde existiert seit 100 Jahren« vielleicht nicht mehr ganz so gewiss? Ich selbst glaube nicht, dass die Erde erst seit 6000 Jahren existiert, weil alles, was ich über Physik, über die Entstehung von Gesteinsarten, Fossilien oder auch über frühe Kulturen, etc. weiß, diese Möglichkeit ausschließt. Wie verhält es sich mit dem Satz: »Die Erde existiert seit mindestens 4 Milliarden Jahren«? Irgendwo habe ich so etwas gelesen, ich weiß allerdings kaum, wie diese Zahl zustande gekommen ist. Von diesem Satz wird man sicherlich nicht sagen, er sei eine Rotationsachse, um die das Forschen kreist. Er ist vielmehr das Ergebnis der Forschung. Dass die Erde länger als 100 Jahre existiert, ist hingegen nicht das Ergebnis irgendeiner Forschung. Man kann die evidentielle Sicherheit (Überzeugung) haben, dass die Erde seit mindestens 4 Milliarden Jahren existiert. Doch dieser evidentiellen Überzeugung liegen nicht-evidentielle Sicherheiten zugrunde. Man
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könnte sagen: Während die Überzeugung, dass die Erde seit mindestens 4 Milliarden Jahren existiert, begründet ist, ist die Sicherheit, dass die Erde seit mindestens 100 Jahren existiert, eher verursacht. Das ganze Verhalten, Denken und Schließen der Menschen bezüglich der Vergangenheit lässt sich als vollkommen sicher beschreiben. d) Die Natur weist Gesetzmäßigkeiten auf. Wollte jemand bezweifeln, dass die Natur Gesetzmäßigkeiten aufweist, wäre in erster Linie wohl nicht klar, was genau er überhaupt bezweifeln wollte. Er könnte aber z. B. folgendermaßen argumentieren: Aus der Tatsache, dass in allen bisher geöffneten menschlichen Schädeln ein Gehirn war, folgt keinesfalls, dass jeder lebende Mensch ein Gehirn hat. Er könnte also die Legitimität des induktiven Schließens in Frage stellen wollen. Nun wird allerdings die Überzeugung, dass ein lebensfähiger Mensch eines Gehirns bedarf, durch alles gestützt, was wir über die Funktion eines Gehirns und des Organismus wissen. Es ist nicht ein Satz, an dem wir festhalten, »sondern ein Nest von Sätzen.«11 Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.)12 Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.13
Die Aussage »Jeder Mensch hat ein Gehirn« ist nicht gleichsam ein Axiom oder eine voreilige Verallgemeinerung einzelner Stichproben, sondern eingebettet in ein Nest von Überzeugungen – und in diesem Fall besteht das Nest aus Überzeugungen bezüglich der Funktionsweise von Hirn und Organismus. Ähnlich verhält es sich mit der Überzeugung, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird. Diese Überzeugung wird nicht nur dadurch gestützt, dass es bisher, soweit man weiß, noch nie vorgekommen ist, dass die Sonne einmal nicht aufgegangen ist, sondern auch durch alles, was man über die Art und Weise weiß, wie der Sonnenauf- und -untergang zustande kommt. Diese Erklärung ist allerdings in gewisser Weise allzu rationalistisch und sie kann allenfalls die prädikative Sicherheit dieser Sätze erklären: Schließlich sind wohl auch die Menschen, die nichts über den Aufbau unseres Sonnensystems wissen, im Allgemeinen davon überzeugt, dass die Sonne auch am kommenden Tag wieder aufgehen wird. Es gibt hier eine gleichsam natürliche oder verursachte Sicherheit. (Wie _____________ 11 ÜG, 225. 12 ÜG, 141. 13 ÜG, 142.
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auch ein Löwe kein Induktionsprinzip benötigt, um einer Antilope hinterherzujagen.) Ebenso wenig wie der Löwe sein Verhalten auf eine sehr gut bewährte Hypothese stützt (Alle Antilopen bestehen aus Fleisch), stützen wir unser Schließen gemäß des Induktionsprinzips auf irgendwelche Evidenzen. Die Sicherheit der allgemeingültigen Mooreschen Sätze lässt sich prädizieren. Man kann sagen: »Es ist sicher, dass….«; ihre Stellung zwischen Regel und Erfahrungssatz verdanken sie ihrer prädikativen Sicherheit. Allerdings steht letztlich jede Gewissheit zwischen Regel und Erfahrungssatz: Eine Gewissheit ist einerseits ein Maßstab, andererseits kann sie sich dennoch als falsch erweisen. Ich denke, dies ist ein wichtiges Ergebnis aus Wittgensteins Über Gewißheit, allerdings gilt dies, wie gesagt, für jede Gewissheit. Das Eigentümliche und Besondere an den Mooreschen Sätzen ist, dass ihre Sicherheit letztlich nicht (oder nicht nur) prädikativ, sondern adverbial ist. Dies wird im Fall der kontextrelativen Mooreschen Sätze noch deutlicher. Betrachten wir ein konkretes Beispiel. e) Dies ist ein Baum. In bestimmten Situationen hat der Satz »Dies ist ein Baum« den Status einer empirischen Behauptung: Wenn Peter und Felix vor einem strauchähnlichen Gewächs stehen und Peter erklärt: »Ich weiß, dass dies ein Baum ist«, oder: »Das ist ein Baum«, dann ist dieser Satz weder eine Rotationsachse, noch steht er zwischen Regel und Erfahrungssatz. Es ist schlicht eine Behauptung oder Feststellung. Wie aber, wenn Peter vor einer großen Eiche steht und sagt: »Das ist ein Baum«? Man könnte den Satz unter Umständen als Erklärung des Wortes ›Baum‹ oder auch als Ausdruck der Bewunderung auffassen. Allerdings sind diese Verwendungen weder Rotationsachsen noch stehen sie zwischen Regel und Erfahrungssatz. Die Erklärung gibt eine Regel an (nämlich ein paradigmatisches Beispiel eines Baumes), der Ausdruck der Bewunderung ist zwar weder Regel noch Erfahrungssatz – allerdings auch nichts dazwischen. Wenn man von dem Satz »Das ist ein Baum« sagen will, er stehe zwischen Regel und Erfahrungssatz, könnte dies bedeuten: Ein und derselbe Satz kann in Abhängigkeit vom Kontext entweder eine Regel oder aber ein Erfahrungssatz sein. Nur sollte man dann eher sagen, der Satz könne wechselnde Funktionen haben, und nicht, er stehe tatsächlich zwischen Regel und Erfahrungssatz, wie etwa der Satz »Wasser kocht bei 100ºC«. Man könnte den Fall aber auch so auffassen, dass der Satz »Dies ist ein Baum« tatsächlich eine ähnliche Zwischenstellung hat wie die bereits besprochenen Sätze: Ich schaue einen Gegenstand an und sage »Das ist ein Baum« oder »Ich weiß, daß das…« – Gehe ich nun in die Nähe und es stellt sich anders heraus, so
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kann ich sagen »Es war doch kein Baum«; oder ich sage »Es war ein Baum, ist es aber jetzt nicht mehr«. […]14
Man hält unter Umständen selbst dann an dem Satz »Dies ist ein Baum« fest, wenn die Evidenzen gegen ihn zu sprechen scheinen. Die Gewissheit steht dann gleichsam zwischen dem Erfahrungssatz »Dies ist ein Baum« und der sprachlichen Regel »Dies ist ein Baum«. Der Satz ist also ein fester Angelpunkt des Denkens – ohne aber eine Regel zu sein. Allerdings ist der Satz nicht unbedingt eine Rotationsachse, die man nachträglich finden könnte. Es ist eben eine Gewissheit oder Überzeugung – und letztlich stehen ja alle festen Überzeugungen zwischen Regel und Erfahrungssatz. Die Achse, die man hier nachträglich findet, ist nicht so sehr eine prädikative Sicherheit, also die feste Überzeugung, dass dies ein Baum ist, sondern eher eine adverbiale Sicherheit. Daher meint Wittgenstein: Mein Leben zeigt, daß ich weiß oder sicher bin, daß dort ein Sessel steht, eine Tür ist usf. Ich sage meinem Freunde z. B. »Nimm den Sessel dort«, »Mach die Tür zu«, etc., etc.15
Wir gehen mit den Dingen des täglichen Lebens (unter anderem mit Bäumen) in selbstverständlicher, nicht-zögerlicher Weise um und diese Art des Umgangs mit den Dingen lässt sich nachträglich beschreiben.
§ 3. Sinn und Funktion Moorescher Sätze Im Folgenden werde ich den Sinn und die Funktion der Mooreschen Sätze näher bestimmen. Hinsichtlich der allgemeingültigen Mooreschen Sätze möchte ich vor allem auf zwei Funktionen hinweisen: sie strukturieren unsere Erfahrung (a) und sie sind konstitutiv für den Sinn unserer Sprachspiele (b). Im Fall der kontextrelativen Mooreschen Sätze ergibt sich ein etwas anderes Bild, da diese Sätze ihren Status als Mooresche Sätze gerade durch ihre kontextuelle Fehlplatzierung erhalten. Der Satz »Dies ist ein Baum« kann ja je nach Situation durchaus eine empirische Behauptung sein. Sein eigentümliches Gesicht als Moorescher Satz zeigt er aber gerade dann, wenn er in Situationen verwendet wird, in denen er nicht in sinnvoller Weise behauptet werden kann. Man könnte die kontextrelativen Mooreschen Sätze daher als grammatische Witze auffassen (c). Ich werde allerdings noch eine weitere Deutung vorstel_____________ 14 ÜG, 503. 15 ÜG, 7, (meine Hervorhebung).
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len: Insbesondere die kontextrelativen Mooreschen Sätze sind zu verstehen als eine Beschreibung adverbialer Sicherheit (d). a. Allgemeingültige Mooresche Sätze und ihre Einbettung in ein Nest von Sätzen Keiner der erwähnten Mooreschen Sätze kann ohne weiteres durch ein Experiment falsifiziert werden. Dennoch artikulieren die Sätze keine Regeln: Sollten sich plötzlich alle Gegenstände, mit denen wir üblicherweise rechnen, wie Regentropfen verhalten, verlöre der mathematische Satz 2+2=4 seinen Witz – er würde aber nicht falsifiziert. Der Satz »Wasser kocht bei etwa 100ºC« kann sich hingegen als falsch erweisen, wenngleich die Falsifikation nicht ohne weiteres durch ein experimentum crucis geleistet werden kann. Falls man aber sicher ist, dass die Flüssigkeit, deren Temperatur man bestimmt, Wasser ist und dass das Thermometer nicht defekt ist, kann man unter Umständen feststellen, dass Wasser selbst unter Normalbedingungen bereits bei 50ºC kocht. Ähnlich verhält es sich mit »Jeder Mensch hat ein Gehirn«. Alles, was wir wissen, spricht dafür. Und wenn es Belege geben sollte, die darauf hindeuten, dass ein Mensch auch ohne Gehirn leben kann, so wird man diesen angeblichen Belegen wohl nicht glauben. Nach allem, was ich über das Gehirn und über den Menschen weiß, kann es einen Menschen ohne Gehirn nicht geben. Dabei wird meine ›Verallgemeinerung‹ durch eine ganze Reihe von Überzeugungen gestützt, und »[d]as, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen.«16 Wüsste man nichts über die Funktion des Gehirns, könnte man annehmen, ein Leben sei auch ohne dieses Organ möglich – wie man ja auch ohne Blinddarm leben kann. Der Satz »Jeder lebende Mensch hat ein Gehirn« hat nicht den Status eines einfachen Erfahrungsurteils, eben weil er zu einem ganzen Nest von Erfahrungsurteilen gehört. Worauf gründet sich der Glaube, daß alle Menschen Eltern haben? Auf Erfahrung. Und wie kann ich auf meine Erfahrung diesen sichern Glauben gründen? Nun, ich gründe ihn nicht nur darauf, daß ich die Eltern gewisser Menschen kannte, sondern auf alles, was ich über das Geschlechtsleben von Menschen und ihre Anatomie und Physiologie gelernt habe; auch darauf, was ich von Tieren gehört und gesehen habe. Aber ist das denn wirklich ein Beweis?17
_____________ 16 ÜG, 225. Vgl. auch: ÜG, 140−142. 17 ÜG, 240.
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Wittgensteins abschließende Frage ist wichtig. Beweisen all die stützenden Sätze etwa, dass jeder Mensch ein Gehirn und Eltern hat? Als Beweis sind diese Stützen vor allem deshalb untauglich, weil sie selbst nicht gewisser sind als die Überzeugung, dass jeder Mensch ein Gehirn hat, oder auch, dass jeder Mensch Eltern hat. Allerdings wäre die unbedingte prädikative Gewissheit ohne diese Stützen unverständlich. Wie genau ist aber die Beziehung zwischen Mooreschem Satz und dessen Stützen zu verstehen? Wenn ich ein Buch in eine Lade lege, so nehme ich nun an, es sei darin, es sei denn… »Die Erfahrung gibt mir immer recht. Es ist noch kein gut beglaubigter Fall vorgekommen, daß ein Buch (einfach) verschwunden wäre.« Es ist oft vorgekommen, daß sich ein Buch nie mehr gefunden hat, obwohl wir sicher zu wissen glaubten, wo es war. – Aber die Erfahrung lehrt doch wirklich, daß ein Buch, z. B., nicht verschwindet. (Z. B. nicht nach und nach verdunstet.) – Aber ist es diese Erfahrung mit Büchern etc., die uns annehmen läßt, das Buch sei nicht verschwunden? Nun, angenommen, wir fänden, daß unter bestimmten neuen Umständen Bücher verschwänden – würden wir nicht unsre Annahme ändern? Kann man die Wirkung der Erfahrung auf unser System von Annahmen leugnen?18
Ich denke, man kann diese Wirkung nicht leugnen. Die Frage ist nur, welche Wirkung die Erfahrung haben kann. Sollte man z. B. beobachten, dass ein Buch »verdunstet«, wird man die Gewissheit, dass sich Bücher nicht einfach auflösen, vielleicht fallen lassen. Wohlgemerkt: vielleicht ! Denn es zwingt einen ja nichts, hier von einer Beobachtung zu sprechen. Wenn man die Gewissheit aufgibt, dann weil man gewisser ist, dass sich das Buch vor den eigenen Augen aufgelöst hat, als dass so etwas unmöglich ist. Aber sind es tatsächlich solche Erfahrungen (oder das Ausbleiben solcher Erfahrungen), die einen versichern, dass Bücher nicht einfach verschwinden? Ich möchte eine negative Antwort versuchen: Solange die Gewissheit des Satzes »Bücher lösen sich nicht in Luft auf« nicht durch seltsame Ereignisse untergraben wird, steht der Satz gleichsam als Regel fest. In dieser Rolle ist der Satz begründungs-autonom und lediglich der Witz des Satzes wird durch die Bewährung bestimmt. Betrachten wir dies etwas genauer: Insofern der Satz nicht zu bezweifeln ist, kann er auch nicht begründet werden. Der Satz bewährt sich allerdings, insofern er nicht dauerhaft mit anderen festen Überzeugungen (z. B. mit Gedächtnissicherheiten) in Konflikt gerät. Doch sollte es zu einem solchen Konflikt kommen (ein Buch löst sich vor unseren Augen auf), kann der Satz seinen Status als unanfechtbare Gewissheit verlieren. _____________ 18 ÜG, 134.
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Aber genau diese Möglichkeit schließen wir nun aus. Gleichwohl kann die Überzeugung, dass Bücher nicht verdunsten, unter Umständen (anders als eine mathematische Regel) in Widerspruch zur Erfahrung treten. Ansonsten verhält sich dieser Satz aber eher wie eine begründungsautonome Regel. Ich will versuchen, diesen Punkt an einem anderen Beispiel noch etwas zu verdeutlichen. Unter gewöhnlichen Umständen überzeuge ich mich nicht durch den Augenschein, ob ich zwei Hände habe. Warum nicht? Hat Erfahrung es als unnötig erwiesen? […]19
Man möchte vielleicht sagen: Natürlich hat die Erfahrung es als unnötig erwiesen: Es kam bisher noch nie vor, dass ich etwas nicht greifen konnte, weil eine meiner Hände verschwunden war. Auch habe ich Derartiges noch nie von einem geistig gesunden Menschen gehört. Diese Erfahrungen können unsere Sicherheit nicht begründen – wohl aber kann die Erfahrung unserer Sicherheit einen Sinn verleihen. Es gibt im Moment schlechterdings nichts, was mich in meiner Überzeugung, dass ich zwei Hände habe, noch sicherer machen könnte. Ohne Gewissheitsgefälle gibt es aber auch keine Begründung.20 Gleichwohl hängt der ganze Witz meiner Überzeugung, zwei Hände zu haben, davon ab, dass bestimmte Dinge faktisch nicht geschehen und dass ich, z. B., nicht ins Leere greife. b. Sprachspielbezogene allgemeingültige Mooresche Sätze Ich kann mich nicht darin irren, daß 12×12=144 ist. Und man kann nun nicht mathematische Sicherheit der relativen Unsicherheit von Erfahrungssätzen entgegenstellen. Denn der mathematische Satz wurde durch eine Reihe von Handlungen erhalten, die sich in keiner Weise von Handlungen des übrigen Lebens unterscheiden und die gleichermaßen dem Vergessen, Übersehen, der Täuschung ausgesetzt sind.21 Wenn der Satz 12×12=144 vom Zweifel ausgenommen ist, dann müssen‘s auch nicht-mathematische Sätze sein.22
Vergleichen wir den mathematischen Satz mit dem Satz »Wasser kocht bei 100ºC«. Die Eigenschaft des Wassers, bei 100ºC zu kochen, ist kein Kriterium für Wasser. Dennoch schließen wir: Das Wasser kocht; das _____________ 19 ÜG, 133. 20 Vgl. ÜG, 1. 21 ÜG, 651. 22 ÜG, 653.
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Thermometer zeigt 50ºC. Also ist das Thermometer defekt. Dieser Schluss stützt sich aber nicht auf eine Begriffsbestimmung, sondern auf eine Gewissheit: Wer so schließt, für den ist es gewiss, dass Wasser nicht bei 50ºC kocht. Nehmen wir an, man könnte über das Kochverhalten von Wasser keine Vorhersage mehr machen. Experimente ergäben immer wieder unterschiedliche Ergebnisse. Dann wäre dies eben eine Eigenschaft des Wassers. Die Rolle als Maßstab kommt dem Satz »Wasser kocht bei 100ºC« gleichsam nebenbei zu. Vergleichen wir damit den Fall, dass man in Rechnungen keine Übereinstimmung mehr erzielen könnte. Wäre das dann eine Eigenschaft der Rechnung? Nein, es gäbe einfach kein Rechnen mehr. Der ganze Sinn des mathematischen Satzes besteht darin, ein Maßstab zu sein. Doch gerade diese Funktion verliert der Satz, wenn es keine Übereinstimmung mehr in den Ergebnissen geben sollte. Daher müssen auch nicht-mathematische Sätze vom Zweifel ausgenommen sein. Und ein solcher nicht-mathematischer Satz ist z. B., dass Menschen, wenn sie eine einfache Rechnung rechnen, das gleiche Ergebnis erhalten werden – und sollten ihre Ergebnisse abweichen, so werden sie im Allgemeinen einen Fehler finden und sich über das richtige Ergebnis verständigen können. Dem mathematischen Satz korrespondieren allerdings nicht nur Gewissheiten bezüglich des Verhaltens anderer Menschen, sondern auch Sätze über das Verhalten von Dingen. Dazu gehört z. B. die Gewissheit, dass sich die Gegenstände, mit denen wir rechnen, nicht einfach in Luft auflösen. Zwar können diese nicht-mathematischen Gewissheiten den mathematischen Satz nicht begründen, gleichwohl setzt die sinnvolle Anwendung des mathematischen Satzes diese Gewissheit voraus.23 Anders gesagt: Damit konstitutive Regeln einen praxis-spezifischen Sinn haben, müssen bestimmte Erfahrungsurteile vom Zweifel ausgenommen sein. Das gilt im Übrigen auch in der Moral:24 Die Moral lässt sich nicht funktional begründen. Gleichwohl ist die Moral nicht sinn-autonom. Dass die Orientierung an der Wahrhaftigkeit im Allgemeinen gute Konsequenzen hat, dient daher nicht der Begründung dieser Tugend. Allerdings gibt dies der Regel, nicht zu lügen, ihren Sinn: Sie macht aus der Orientierung an dieser Regel eine Tugend und keine Mafia-Etikette.
_____________ 23 ›Voraussetzen‹ meint hier nicht: ›als Prämisse voraussetzen‹. Vielmehr stehen diese Sicherheiten unausgesprochen im Hintergrund. 24 Vgl. Teil IV.
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c. Mooresche Sätze als Witze? In Teil I habe ich versucht zu zeigen, inwiefern der Sinn einer Aussage an Kontextbedingungen geknüpft ist. Vor allem für die kontextrelativen Mooreschen Sätze ergibt sich dadurch das Problem, dass ihr Sinn nicht klar bestimmt ist. Ein Satz wie »Dies ist ein Baum« kann unter Umständen durchaus als Behauptung dienen – nur ist er dann kein Moorescher Satz mehr. Die kontextuelle ›Fehlplatzierung‹ ist daher konstitutiv für die kontextrelativen Mooreschen Sätze. Etwas anders verhält es sich mit den allgemeingültigen Mooreschen Sätzen: Sie sind wahre Sätze.25 Aber: Je unverständlicher der Zweifel an diesen Sätzen wird, desto unklarer wird auch ihr Sinn. (Zur Erinnerung: Ist der Satz »Die Erde existiert seit mindestens zehn Minuten« eine unumstößliche Gewissheit oder barer Unsinn?) Wie lassen sich die kontextrelativen Mooreschen Sätze in sinnvoller Weise auffassen? Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen »Ich weiß, daß das ein Baum ist«, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: »Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.«26 Gewiß ist doch, daß die Mitteilung »Das ist ein Baum«, wenn niemand daran zweifeln könnte, eine Art Witz sein könnte und als solcher Sinn hätte.27
Es ist eine interessante Funktion der kontextrelativen Mooreschen Sätze, quasi als Witze auf den Witz der Sprache hinzudeuten. Denn man könnte die Aussage »Ich weiß, dass dies ein Baum ist« in Wittgensteins Beispiel in ähnlicher Weise als Witz auffassen wie etwa das Rechnen mit Regentropfen oder das Wiegen der seltsamen Gegenstände: Nehmen wir an, jemand käme auf die Idee, Regentropfen addieren zu wollen. Warum erschiene uns diese Anwendung der Addition absurd? Weil es erstens einen etablierten Gebrauch der Addition gibt, weil wir zweitens die Technik der Addition über ihre Form identifizieren und drittens, weil diese Form plötzlich in einen fremden Kontext gestellt wird. Die Einbettung des Kalküls in eine ungewohnte Umgebung zeigt plötzlich, dass das Rechnen nicht nur in einem Operieren mit Zeichen besteht, sondern auch eine außer-mathematische Anwendung hat. Oder im Fall des Wiegens: Das Wiegen besteht im Allgemeinen darin, Gegenstände auf _____________ 25 Damit soll nicht gesagt sein, dass die sinnvolle Behauptung dieser Sätze nicht auch an Kontextbedingungen geknüpft ist. Nur scheint der unmittelbare Kontext für diese Mooreschen Sätze keine konstitutive Rolle zu spielen. 26 ÜG, 467. 27 ÜG, 463.
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eine funktionierende Waage zu legen und den entsprechenden Wert abzulesen. Insofern ist von der Rolle, die das Wiegen in unserem Leben spielt, noch keine Rede. Doch wenn dieses Verhalten in einen fremden Kontext gestellt wird, erkennt man, dass das Wiegen eben nicht nur im gerade genannten Verhalten besteht. – Ähnlich verhält es sich mit den kontextrelativen Mooreschen Sätzen: Die Artikulation des Satzes »Ich weiß, dass dies ein Baum ist« oder auch »Dies ist ein Baum« ist unter bestimmten Umständen sinnvoll und hausbacken. Doch die Einbettung dieses Satzes in einen fremden Kontext lässt seine Pointe und damit seinen Sinn unklar erscheinen. Der Mooresche Satz – in dieser Weise aufgefasst – sagt nichts aus, sondern ist gleichsam ein grammatischer Witz, der auf den Witz der Grammatik deutet. Erinnern wir uns hier zur Verdeutlichung auch an das Beispiel des Dirigenten-Hammers: Sollten wir auf Menschen treffen, die mit einem Hammer dirigieren, wird uns dies vermutlich komisch erscheinen.28 Und zwar nicht etwa deshalb, weil sie einen Gegenstand bestimmter geometrischer Abmessungen zum Dirigieren verwenden, sondern weil sie etwas verwenden, das bei uns eine gänzlich andere Rolle spielt. Daher würden Menschen, bei denen der Hammer ein geweihter Gegenstand ist, den seltsamen Taktstock wohl nicht als komisch, sondern eher als taktlos empfinden. Diese Auffassung ist aber nur verständlich, wenn der Gegenstand gleichsam ein Bild seiner Anwendung ist; die Bedeutung des Gegenstands muss symbolisch prägnant sein. Ähnlich verhält es sich mit den kontextrelativen Mooreschen Sätzen: Aufgrund bestimmter Merkmale, z. B. aufgrund ihrer grammatischen Wohlgeformtheit, sind Sätze wie »Ich weiß, dass dies ein Baum ist« symbolisch prägnant. Doch wollte man diesen Satz als Ausdruck von Wissen oder auch als Behauptung auffassen, erschiene er plötzlich lächerlich. Der Satz »Ich weiß, dass dies ein Baum ist«, verwendet in obiger Situation, verdeutlicht, dass das Behaupten und das Artikulieren von Wissensansprüchen nicht einfach darin besteht, einen Satz zu formulieren. Wie das Wiegen eine Funktion hat, so auch das Behaupten, und eine wesentliche Funktion des Behauptens ist die Orientierung. Sie will ein Grund sein, das Behauptete für wahr zu halten. Die Aussage »Ich weiß, dass das ein Baum ist« kann diese Funktion im genannten Beispiel aber nicht erfüllen.29 Mooresche Sätze lassen sich inso_____________ 28 ÜG, 351. 29 Wittgenstein parodiert die vermeintlichen Wissensansprüche der Mooreschen Sätze auch an anderer Stelle: »›Weißt du, daß die Erde damals existiert hat?‹ – ›Freilich weiß ich’s. Ich habe es von jemandem, der sich genau auskennt.‹« ÜG, 187.
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fern nicht behaupten und sobald sich ein Satz wie »Dies ist ein Baum« sinnvoll behaupten lässt, ist er eben kein Moorescher Satz mehr. d. Kontextrelative Mooresche Sätze als versuchte Artikulation adverbialer Sicherheit Man kann die kontextrelativen Mooreschen Sätze allerdings auch als einen Versuch auffassen, etwas zu sagen, was sich so nicht sagen lässt. Ein Satz wie »Ich weiß, dass das ein Baum ist« vermittelt den Eindruck einer prädikativen Sicherheit. Ein Beispiel: Ich behaupte, dass der Schatten im Nebel ein Baum und kein Mensch ist. Die in dieser Behauptung artikulierte Sicherheit ist prädikativ: »Ich bin mir sicher, dass…«. Daher ist die Frage sinnvoll, was mich denn so sicher macht und welche Evidenzen ich für meine Sicherheit habe. Auch der Mooresche Satz »Ich weiß, dass das ein Baum ist« scheint prima facie eine Sicherheit zu prädizieren. – Jedoch wäre die Aussage als Behauptung unverständlich. Neben der Deutung des Satzes als Witz könnte man den Mooreschen Satz vielleicht so verständlich machen: Ein Kind lernt bestimmte Verhaltensweisen (z. B. »Baum« zu sagen, wenn man ihm einen Baum zeigt). Durch dieses Abrichten erwirbt das Kind aber noch kein Wissen. Die Sicherheit dieses Verhaltens ist nicht evidentiell – wie auch das sichere Verhalten eines Tieres keiner Evidenzen bedarf. Die sicheren Verhaltensweisen des Kindes (oder eines Tieres) sind nicht begründet, sie sind, sofern sie gelernt werden, allenfalls verursacht oder konditioniert. Man könnte die Mooreschen Sätze so auffassen, dass sie versuchen, diese nichtevidentielle Sicherheit zu artikulieren. Doch das können sie eben nicht. Es geht hier gar nicht um eine begründete Sicherheit, sondern um eine adverbiale, nicht-evidentielle Sicherheit. Insofern kann man diese Sicherheit nicht prädizieren, sondern höchstens beschreiben: Der Mooresche Satz »Ich weiß, dass dies ein Baum ist« sagt nicht aus, was sicher ist (nämlich, dass dies ein Baum ist), sondern bestimmt eher die Art und Weise, wie man den Baum identifiziert – nämlich völlig sicher und ohne das geringste Zögern, ähnlich wie man von einem Tier sagt, es sei sicher, dass…. Diese Sicherheit bezieht sich nicht auf irgendwelche Überzeugungen, die das Tier hat, sondern auf die Art und Weise, wie sich das Tier verhält. In dieser Weise aufgefasst versuchen die Mooreschen Sätze etwas auszusagen, was sich prinzipiell nicht aussagen lässt: nämlich eine Sicherheit, die keine Überzeugung ist, sondern ein Modus des Verhaltens. Die kontextrelativen Mooreschen Sätze greifen in gewisser Weise tiefer und unmittelbarer in die Rationalität ein, als dies die allgemeingül-
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tigen Mooreschen Sätze tun. Zwar sind die kontextrelativen Mooreschen Sätze nicht gewisser als die allgemeingültigen, doch wenn man bezüglich der kontextrelativen Mooreschen Sätze in die Irre geht, wird die eigene geistige Verfassung insgesamt fraglich. Wenn das Wasser auf der Flamme gefriert, werde ich freilich im höchsten Maße erstaunt sein, aber einen mir noch unbekannten Einfluß annehmen und etwa Physikern die Sache zur Beurteilung überlassen. – Was aber könnte mich daran zweifeln machen, daß dieser Mensch N.N. ist, den ich seit Jahren kenne? Hier schiene ein Zweifel alles nach sich zu ziehen und in ein Chaos zu stürzen.30
Diese Dinge zu bezweifeln wäre verrückt. Nun könnte man sagen, dass auch derjenige, der die oben genannten Sätze bezweifeln wollte, verrückt sei. Und in gewisser Weise stimmt das natürlich. Er könnte aber auch z. B. eine andere Physik haben. Im Fall der allgemeingültigen Mooreschen Sätze sind Zweifel häufig unvernünftig. Im Fall der kontextrelativen Sätze hingegen erscheint ein Zweifel sofort völlig unverständlich. Eine Erklärung dafür, warum die kontextrelativen Mooreschen Sätze tiefer in die Rationalität eingreifen, ist, dass die Sprache insgesamt auf sicheren (nicht-zögerlichen) Verhaltensweisen aufbaut, und wenn jemand zögert, wo uns das Zögern völlig unverständlich ist, dann stellt dies die geistige Verfassung des anderen insgesamt in Frage. Warum erscheint eine Aussage wie »Ich weiß, dass dies eine Hand ist« seltsam? Man kann, wie mir scheint, von Seiten des Zweifels Licht auf diese Fälle werfen: Man könnte sagen: »Ich kann nicht zweifeln, dass das meine Hand ist.« Und das heißt: Es gibt keine Gründe zu zweifeln. Die Aussage »Ich kann nicht zweifeln« könnte man nun wiederum als Ausdruck der Sicherheit verstehen. Doch diese Sicherheit erscheint nicht als begründete Sicherheit, sondern als primitive. Die Sicherheit ist gleichsam grundlos. – Wie auch die Sicherheit der Katze. Die Sicherheit zeigt sich im fehlenden Zögern. Und diese primitive Sicherheit wird durch den Ausdruck »Ich weiß…« falsch ausgedrückt.
_____________ 30 ÜG, 613.
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§ 4. Zusammenfassung Die Sprache erfüllt offensichtlich eine ganze Reihe von Funktionen. Doch wie lässt sich die Funktionalität der Sprache beschreiben, ohne sie zu funktionalisieren? »How can language be in any sense autonomous, and still succeed in performing the various jobs for which it was designed, like communicating thoughts or recording facts?«1 Die richtige Antwort scheint mir zu sein: die Sprache ist, wie auch die Mathematik, zwar begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom. Sie ist eine regelgeleitete Praxis und qua Praxis hat die Sprache nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz. Ein Beispiel aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen: Wenn ich sage, der Befehl »Bring mir Zucker!« und »Bring mir Milch!« hat Sinn, aber nicht die Kombination »Milch mir Zucker«, so heißt das nicht, daß das Aussprechen dieser Wortverbindung keine Wirkung hat. Und wenn sie nun die Wirkung hat, daß der Andre mich anstarrt und den Mund aufsperrt, so nenne ich sie nicht den Befehl, mich anzustarren etc., auch wenn ich gerade diese Wirkung hätte hervorbringen wollen.2
Die Bedeutung eines Ausdrucks lässt sich nicht durch seine Wirkungen erklären. Die Aussage »Bring mir Zucker!« sagt nicht, was passieren wird, sondern eher, was passieren soll. Dabei verdankt sich dieses ›Sollen‹ nicht den Intentionen des Befehlenden, sondern dem Sinn des Aufforderns. Natürlich kann man eine Aufforderung schlicht ignorieren, gleichwohl versteht man die Aufforderung nur, wenn man weiß, was sie von einem verlangt. Und das ist keine Eigenheit der performativen Sprache: Auch das Behaupten ist nur vor dem Hintergrund seiner praxis-spezifischen teleologischen Struktur verständlich: Es zielt auf Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Orientierung. Die Teleologie des Behauptens wirft aber zugleich ein Licht auf den Sinn des Wissens und Zweifelns, da der begründete Zweifel die Fähigkeit ist, die Wahrheit oder auch die Angemessenheit einer Behauptung in Frage zu stellen; Wissen aber ist die Fähigkeit, wahre Behauptungen aufzustellen. Vor diesem Hintergrund kann Moore das, was er behauptet zu wissen, nicht eigentlich wissen: Die Mooreschen Sätze lassen sich prinzipiell nicht behaupten. Das ist allerdings kein Wasser auf die Mühlen des Skeptikers, da man die Mooreschen Sätze auch nicht sinnvoll bezweifeln kann. Wissen und Zweifel sind evidentielle Sicherheiten bzw. _____________ 1 H. Schwyzer: Autonomy. In: H-J. Glock: Wittgenstein: A Critical Reader. Oxford 2001, S. 289−305, hier S. 289. 2 PU, 498.
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Unsicherheiten – die Mooreschen Sätze artikulieren dahingegen gar keine evidentielle Sicherheit. Dass Sätze wie »Ein abgehackter menschlicher Arm wächst nicht wieder nach« oder (je nach Kontext) »Das ist ein Baum« nicht bezweifelbar sind, liegt nicht in erster Linie daran, dass alle Evidenzen für deren Wahrheit sprechen, sondern die Sätze artikulieren primär gar keine prädikative (Un-)Sicherheit, sondern eine adverbiale: Es ist die Art des Verhaltens, die sicher oder unsicher ist. Diese Sicherheit lässt sich zwar beschreiben, aber nicht prädizieren. Man kann die Mooreschen Sätze zwar Gewissheiten nennen. Jedoch sind sie nicht evidentiell, sondern sie sind im Wesentlichen Verhaltenssicherheiten. Nun scheint es, als könne man da, wo man theoretisch etwas wissen kann, immer auch zweifeln. Und folgt daraus nicht, dass es kein sicheres Wissen geben kann? Nein, denn wo der Zweifel nicht logisch ausgeschlossen ist, kann er immer noch unvernünftig sein. Um aber zu wissen, wann der Zweifel unvernünftig ist, muss man den Witz des Zweifelns kennen und dieser tritt im In-Frage-Stellen und seiner Beziehung zum Behaupten am deutlichsten hervor. Insofern wirft die Teleologie des Behauptens auch ein Licht auf den Sinn des Zweifelns.
IV Zur Anwendung der Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Moral
I. Regel und Witz der Moral § 1. Einleitung Im Folgenden sollen die Beschreibungsformen Regel und Witz auf die Moral angewendet werden. Man könnte diese Anwendung auf unterschiedliche Weisen missverstehen; daher einige Hinweise. Der Anspruch in Teil IV ist (abgesehen davon, dass es sich um keine Wittgenstein-Exegese1 handelt) ein ähnlicher wie in den Teilen II und III. Es geht darum, die Praxis Moral aus einer ganz bestimmten Perspektive zu beschreiben, und die Beschreibungsformen Regel und Witz dienen lediglich dazu, einige Probleme bei der Beschreibung dieser Praxis deutlicher hervorzuheben. Dabei gehe ich davon aus, dass die Moral (unter anderem) ein System konstitutiver Regeln ist – allerdings kein System von Verhaltensregeln, sondern von Begründungsregeln. Da ich für diesen Punkt bloß skizzenhaft argumentieren werde, soll bereits an dieser Stelle einigen Assoziationen entgegengewirkt werden: Mit der Behauptung, die Moral sei ein Regelsystem bzw. eine Praxis, ist in keiner Weise impliziert (und es soll auch nicht suggeriert werden), dass die Moral willkürlich oder relativ ist: Die folgenden Überlegungen verhalten sich völlig neutral zur Frage, warum es im Allgemeinen falsch ist zu lügen, andere zu quälen, etc. Es mag sein, dass diese Regeln durch Werte gestützt werden, dass sie Gegenstände intuitiver Erkenntnis sind oder dass sie durch die Struktur der Vernunft vorgegeben werden. Wie Wittgenstein selbst sich zu dieser Frage verhält, kann hier ebenfalls offen bleiben. Wenn die Moral ein System konstitutiver Regeln2 ist, gilt für dieses System, was auch im Fall der Sprache und der Mathematik betont wurde: _____________ 1 In Wittgensteins Werk findet sich nur wenig zum Thema Ethik und was man findet ist nicht selten kryptisch. Im Gegensatz zu seiner Frühphilosophie ist es in Wittgensteins Spätphilosophie, soweit ich sehe, nicht angelegt, die Ethik systematisch auszuschließen. Wie dem auch sei, er hat es getan und ich werde an dieser Stelle nicht der Frage nachgehen, warum. 2 »Konstiutive Regel« meint hier vor allem, dass sich unmittelbar und allein anhand der Regel (und nicht etwa aufgrund der Konsequenzen) entscheiden lässt, ob eine Handlung richtig oder falsch ist. Dies gilt sowohl für (prima facie) Pflichten und Tugenden als auch für die Regeln des Regelutilitarimus.
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Zur Anwendung der Beschreibungsformen auf die Moral
Sie ist begründungs-autonom, nicht sinn-autonom. Nur durch ihre funktionale Einbettung konstituieren (noch näher zu bestimmende) Regeln unsere Moral. Gleichwohl lässt sich die Moral durch ihre Funktion nicht begründen. Sowohl teleologische als auch deontologische Moralphilosophien neigen, so meine These, zu einer einseitigen Bestimmung des Verhältnisses von Autonomie und funktionaler Einbettung. Grob gesprochen: Der Utilitarismus ignoriert die Begründungs-Autonomie der Moral, indem er sie funktionalisiert. Sogenannte deontologische Ethiken hingegen berücksichtigen zwar die funktionale Begründungs-Autonomie3 der Moral, sie unterschätzen jedoch die Bedeutung der funktionalen Einbettung. Es ist insbesondere die Tugendethik, so meine Argumentation, die sowohl der Autonomie als auch der Funktionalität der Moral gerecht werden kann.4 Eine eingehende Untersuchung deontologischer und teleologischer Moralphilosophien unter den Gesichtspunkten Regel und Witz würde sicherlich ein eigenes Buch verlangen. Insofern ist der Anspruch der folgenden Überlegungen bescheiden: Es geht nur darum, plausibel zu machen, inwiefern die Beschreibung der Moral unter den Gesichtspunkten Regel und Witz zu einem besseren Verständnis der normativen Struktur der Moral beitragen kann. Im Hinblick auf diese (noch genauer zu benennende) normative Struktur wird es mir in erster Linie darum gehen, den Regelutilitarismus von der Tugendethik abzugrenzen.
§ 2. Normative Strukturen der Moral In der Moralphilosophie werden häufig zwei Arten normativer Theorien unterschieden: teleologische und deontologische. Gemäß dieser Einteilung werden die Tugendethik und der Utilitarismus als teleologische Theorien charakterisiert, während z. B. die Kantische Ethik als deontologisch auf_____________ 3 Mit ›Autonomie‹ ist an dieser Stelle natürlich nicht die Autonomie im Sinne der Kantischen Selbstgesetzgebung gemeint. Und freilich will auch Kant eine Moralbegründung vorlegen, gleichwohl ist sein Begründungsversuch nicht funktional. 4 Insofern die Tugenden im Späteren unter anderem als Regelsysteme aufgefasst werden, mag es scheinen, als würde die Pointe des tugendethischen Ansatzes schon gleich zu Beginn der Untersuchung verschenkt: Der Tugendethik geht es ja gerade nicht darum, Regeln für das menschliche Handeln festzuschreiben, sondern um eine Bindung der moralischen Bewertung an den Charakter. – Ich möchte daher nochmals darauf hinweisen, dass es hier nicht um (»agent-neutrale«) Verhaltensregeln, sondern um Begründungsregeln geht.
Regel und Witz der Moral
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gefasst wird. Während die deontologische Ethik den Begriff des Sollens in den Mittelpunkt stellt, fragt die teleologische Ethik nach den höchsten oder letzten Zielen menschlichen Tuns.5 Dies als grobe Charakterisierung annehmend sieht eine deontologische Ethik die Norm des moralisch richtigen Handelns allein in der Regelbefolgung, während eine teleologische Ethik diese Norm außerhalb der bloßen Regelbefolgung verortet. Durch die Unterscheidung von deontologischer und teleologischer Ethik wird häufig die Kantische Ethik vom Utilitarismus und der Tugendethik abgegrenzt. Ob diese Abgrenzung sachlich angemessen ist, kann hier offen bleiben, da ich im Folgenden ein Unterscheidungskriterium verwenden möchte, das eher eine Gemeinsamkeit zwischen Aktutilitarismus und Kantischer Ethik hervorhebt und diese der Tugendethik und dem Regelutilitarismus entgegenstellt: Eine Gemeinsamkeit zwischen Kants Ethik und dem Aktutilitarismus liegt vor allem darin, dass beide Theorien von einer einfachen Norm ausgehen, während der Regelutilitarismus und die Tugendethik eine zweifache Norm annehmen: Im Aktutilitarismus ist die gute Handlung allein auf das Erzeugen günstiger Folgen bezogen; in der Kantischen Ethik ist das gute Handeln allein dadurch bestimmt, aus Achtung vor dem Sittengesetz motiviert zu sein. Im Regelutilitarismus und in der Tugendethik gibt es indes zwei Normen: Laut Regelutilitarismus ist eine Handlung moralisch gut, wenn sie im Einklang mit bestimmten Regeln steht. Diese Regeln sind aber ihrerseits wieder auf ein Telos ausgerichtet, nämlich auf günstige Folgen. Ähnlich verhält es sich in der Tugendethik:6 Gut ist das Handeln im Einklang mit den Tugenden. Die Tugenden sind aber ihrerseits auf das menschliche Gedeihen7 hin finalisiert. Laut Smart hat der Regelutilitarismus (und man könnte wohl ähnliches von der Tugendethik sagen) eine besondere Anziehungskraft, da diese Konzeption
_____________ 5 Vgl. z. B. F. Ricken: Allgemeine Ethik. Stuttgart 1983, S. 215. »Die deontologische Ethik stammt aus dem jüdisch-christlichen Raum. Der Dekalog schreibt vor, was wir tun sollen: dieses Sollen wird theologisch als Gebot Gottes interpretiert, und als solches bedarf es keiner weiteren Begründung. Der Ursprung der teleologischen Ethik ist bei den Griechen zu suchen. Sie fragen nach dem letzten Ziel des menschlichen Handelns oder dem höchsten Gut.« 6 Zumindest werde ich die Tugenden in diesem Sinne deuten – das soll nicht heißen, dass es keine anderen Deutungsmöglichkeiten gibt. 7 Wie das Gedeihen genauer zu bestimmen ist, kann hier offen bleiben.
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[…] appears to resolve the dispute in moral philosophy between intuitionists and utilitarians in a way which is very neat. The above philosophers 8 hold, or seem to hold, that moral rules are more than rules of thumb. In general the rightness of an action is not to be tested by evaluating its consequences but only by considering whether or not it falls under a certain rule. Broadly, then, actions are to be tested by rules and rules by consequences.9
Die Stärke des Regelutilitarismus liegt laut Smart darin, dass diese Moralkonzeption der tatsächlichen moralischen Praxis prima facie nähersteht als z. B. der Aktutilitarismus: Der Regelutilitarimus trage dem Befund Rechnung, dass die moralische Bewertung einer Handlung (zumindest in sehr vielen Fällen) unabhängig von ihren faktischen Konsequenzen zu sein scheint; zudem biete der Regelutilitarismus eine Erklärung dafür, warum man sich an bestimmten Normen orientieren soll. Smart selbst glaubt allerdings, dass eine solche Position nicht konsistent aufrechtzuerhalten ist. Ob das richtig ist, wird noch zu prüfen sein. Doch unabhängig von Smarts negativem Befund scheint mir die positive Implikation seiner Aussage richtig: Theorien, die beiden genannten Aspekten gerecht werden, können einen Erklärungsvorteil für sich in Anspruch nehmen gegenüber den Theorien, die die Moral vollständig funktionalisieren oder überhaupt keine funktionale Erklärung der Moral liefern können.
§ 3. Fehldeutungen normativer Strukturen der Moral Es sollen nun zwei Positionen vorgestellt werden, die auf eine zweifache Normierung verzichten. In diesem Zusammenhang werde ich den Utilitarismus als funktionalistische und die Kantische Ethik als autonomistische Theorie auffassen. ›Funktionalistisch‹ nenne ich eine Theorie, insofern sie die Moral vollständig funktionalisiert und somit die Begründungs-Autonomie der Moral verkennt; ›autonomistisch‹ hingegen bezeichne ich eine Theorie, wenn sie die funktionale Einbettung der Moral unberücksichtigt lässt. Wie verhält es sich im Regelutilitarismus und in der Tugendethik? Wenn es richtig sein sollte, dass Theorien, die von einer doppelten normativen Struktur ausgehen, einen Erklärungsvorteil haben, dann können _____________ 8 Smart bezieht sich hier auf Toulmins The place of reason in ethics, Nowell-Smiths Ethics, Austins Lectures on Jurisprudence und Urmsons Mill Interpretation. 9 J. J. C. Smart: Extreme and Restricted Utilitarianism. In: Ph. Foot (Hg.): Theories of Ethics. Oxford 1974, S. 171−183, S. 172.
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beide Theorien diesen Vorteil für sich geltend machen: Sowohl im Regelutilitarismus als auch in der Tugendethik gibt es einerseits einen Bewertungsmaßstab für die Handlung (nämlich eine Regel) und andererseits einen Maßstab für die Regel selbst (nämlich ihre Funktion). Allerdings hat der anvisierte Erklärungsvorteil einen Nachteil: Die vermeintliche normative Doppelstruktur steht unter dem Verdacht, inkonsistent zu sein.10 Ich möchte dieses Problem am Beispiel des Regelutilitarismus kurz skizzieren: Der Regelutilitarist behauptet, eine Handlung sei genau dann richtig, wenn sie gemäß bestimmter Regeln geschehe. Die Regeln selbst seien ihrerseits aber nur gerechtfertigt, wenn sie sich utilitaristisch begründen lassen. Es ist jedoch nicht klar, ob sich diese Unterscheidung aufrechterhalten lässt. Denn wenn sich die Regel utilitaristisch begründen lässt, scheint dies auch für das Handeln gelten zu müssen, das sich an dieser Regel orientiert. Und umgekehrt: Wenn das Kriterium des richtigen Handelns allein in der Regelkonformität liegt, lassen sich die Regeln nicht mehr utilitaristisch begründen. In beiden Fällen wäre die doppelte Norm (und somit der vermeintliche Erklärungsvorteil) nicht mehr als eine Inkonsistenz innerhalb der Theorie. Im ersten Fall wäre der Regelutilitarismus ein verkappter Aktutilitarismus, im zweiten Fall wäre er eine Art Regelrigorismus.11 Wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, lässt sich diese Doppelstruktur im Fall des Regelutilitarismus tatsächlich nicht aufrechterhalten. Inwiefern eine Tugendethik nicht vor dem gleichen Problem steht, soll dann anschließend untersucht werden.
§ 4. Funktionalistische Ethik Laut Utilitarismus sind die Konsequenzen einer Handlung ausschlaggebend für ihre moralische Bewertung. Zwar hat der Utilitarismus eine
_____________ 10 Für eine eingehende Diskussion dieses Punktes vgl. B. Hooker: Ideal Code, Real World: A Rule-consequentialist Theory of Moraliy. Oxford 2000, Kap. 4. 11 Ein einfaches (nicht-moralisches) Beispiel mag den Fall illustrieren. Angenommen, die Regel »Weiche Eier kocht man 3 Minuten« wäre eine Regel im Sinne der practice conception – weiche Eier zu kochen hieße dann, sie drei Minuten in heißes Wasser zu legen. Der Sinn dieser Regel liegt aber darin, dass ihre Befolgung im Allgemeinen richtige Ergebnisse (nämlich weiche Eier) zur Folge hat. Doch wenn unser eigentliches Interesse im Erlangen eines bestimmten Zieles liegt, warum sollte man dann auf die Praxis-Konzeption der Regeln zurückgreifen? Sobald man ein klares Ziel vor Augen hat, scheint es keine vernünftige Erklärung mehr dafür zu geben, warum die Regel etwas anderes als eine Faustregel sein sollte.
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Vielzahl von Spielarten hervorgebracht, jedoch gilt für jede Moralphilosophie, die sich utilitaristisch nennen will, dass die Konsequenzen entweder direkt oder indirekt als Maßstab der Bewertung des Handelns dienen.12 Welche Konsequenzen in diesem Zusammenhang als bedeutsam erachtet werden sollen, ist umstritten. Es werden hier lediglich der Aktutilitarismus und der Regelutilitarismus näher analysiert. Die genaue Qualifizierung des jeweiligen Gutes (Gemeinwohl, Präferenz, etc.) soll uns hier nicht weiter kümmern. Lediglich die Art, wie dieses Telos (was immer es sein mag) die Güte des Handelns bestimmen soll, ist hier von Interesse. Der Aktutilitarismus behauptet, eine Handlung sei genau dann richtig, wenn sie günstige Folgen zeitigt. Von dieser Position wird der Regelutilitarismus unterschieden: eine Regel wird durch utilitarische Abwägungen gerechtfertigt, während eine Handlung an der Konformität mit den utilitarisch legitimierten Regeln gemessen wird. Smart nennt diese Konzeption »restricted utilitarianism«.13 Für den von Smart so bezeichneten »extreme utilitarianism« sind Moralregeln bloße Faustregeln. Extreme Utilitaristen sind also sowohl Aktutilitaristen als auch jene Regelutilitaristen, die moralische Regeln als bloße Faustregeln auffassen. Smart hält den eingeschränkten Utilitarismus für nicht haltbar; vielmehr sei der Regelutilitarismus nicht mehr als eine Ausarbeitung des extremen Utilitarismus. Suppose that there is a rule R and that in 99 % of cases the best possible results are obtained by acting in accordance with R. Then clearly R is a useful rule of thumb; if we have not time or are not impartial enough to assess the consequences of an action it is an extremely good bet that the thing to do is to act in accordance with R. But is it not monstrous to suppose that if we have worked ot the consequences and if we have perfect faith in the impartiality of our calculations, and if we have perfect faith in the impartiality of our calculations, and if we know that in this instance to break R will have better results than to keep it, we should nevertheless obey the rule? Is it not to erect R into a sort of idol if we keep it when breaking it will prevent, say, some avoidable
_____________ 12 Die Orientierung an den Konsequenzen ist zumindest notwendig; ob auch hinreichend, ist umstritten. Vgl. D. McNaughton, P. Rawling: Agent-Relativity and the Doing-Happening Distinction. In: Philosophical Studies, 63 (1991), S. 67−85; F. Howard-Snyder: The Heart of Consequentialism. In: Philosophical Studies, 76 (1994), S. 107−29;. sowie P. Pettit: The Consequentialist Perspective. In: M. Baron, P. Pettit, M. Slote (Hg.): Three Methods of Ethics. Oxford 1997. 13 Smart, 1974, S. 172.
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misery? Is not this a form of superstitious rule-worship (easily explicable psychologically) and not the rational thought of a philosopher? 14
Ob Smarts Überlegung zutrifft, dass der eingeschränkte Utilitarismus »monstrous« ist, sei nun dahingestellt. Zustimmen kann man allerdings wohl darin, dass der eingeschränkte Utilitarismus (eventuell nicht lösbare) Probleme mit sich bringt: Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Regelutilitarismus Gefahr läuft, die anvisierten zwei Normen nicht konsistent zusammenführen zu können. Und wenn Smart Recht hat, ist der Regelutilitarismus entweder eine Variante des extremen Utilitarismus oder aber eine Art Regelfetischismus. In beiden Fällen gibt es aber nur noch eine einfache Norm. Hooker versucht den Einwand, dass ein vertretbarer Regelutilitarismus letztlich nichts anderes sei als ein elaborierter Aktutilitarismus, zu entkräften: To be sure, one motivation that rule-consequentialism would endorse is a motivation to prevent disaster. And this motivation should be stronger than other motivations. […] Act-consequentialism holds that we should break the promise whenever doing so will produce more good. So, when breaking a promise would produce only a little more good, act-consequentialism tells us to break it. The ›prevent disaster‹ rule does not have this implication. […] Thus, incorporating a ›prevent desaster‹ requirement into the ideal code is not a capitulation to act-consequentialism.15
Es erscheint mir eher unklar, was Hookers prevent-disaster-rule leisten kann und inwiefern dies letztlich nicht doch eine Kapitulation vor dem Aktutilitarismus ist: Dass eine Moraltheorie nicht verlangt, man müsse die Wahrheit auch dann sagen, wenn solch eine Handlung in einem Desaster endet, ist begrüßenswert. Gleichwohl scheint Smarts Punkt noch immer zu greifen – nur dass es nun zwei Fälle gibt, die an unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden: Im ›Desaster-Fall‹ wird die Regel wie eine Faustregel behandelt; im ›Little-More-Good-Fall‹ ist der Regelutilitarismus aber anscheinend gar kein Utilitarismus mehr, sondern, in Smarts Worten, »a sort of idol«. Selbst, wenn es übertrieben sein sollte, hier von einem »idol« zu sprechen, bleibt das systematische Problem bestehen: Warum sollte man auf das little more good zugunsten der Regelbefolgung verzichten, wenn der Wert der Regel doch durch ihre Utilität begründet wird? Was kann denn der Regelutilitarist einem Lügner entgegnen, wenn dieser seine Lüge durch den Hinweis auf ein little more good rechtfertigt? Wenn der Regelutilitarist darauf besteht, man dürfe nicht _____________ 14 Smart, 1974, S. 176f. 15 Hooker, 2000, S. 98f.
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um eines kleinen Gutes Willen lügen, dann erscheint es unklar, warum man eine solche Position noch utilitaristisch nennen sollte.
§ 5. Autonomistische Ethik Während der Utilitarismus positive Folgen als Telos der Moral angibt, hält eine autonomistische Ethik ein weiteres Telos für unnötig: Richtig ist eine Handlung genau dann, wenn sie durch die Befolgung einer bestimmten Regel vollzogen wird und zwar unabhängig von den jeweiligen Konsequenzen der Handlung. Der wesentliche Unterschied zum Regelutilitarismus besteht darin, dass die Regeln selbst aus ihren funktionalen Zusammenhängen herausgelöst werden. Insbesondere ist es nicht konstitutiv für die Moral, dass sie eine positive Funktion für das menschliche Wohl hat. Es mag zwar sein, dass die Orientierung an den Regeln der Moral dem Menschen zuträglich ist; doch wenn dem so sein sollte, ist dies dem bloßen Zufall oder aber Gottes Lenken zu verdanken. Es könnte jemanden geben, der vermutet, die Welt sei so eingerichtet, dass die Orientierung am Sittengesetz die Menschheit ins Unglück stürzt. Zumindest scheint die Annahme einer in dieser Weise tragischen Welt nicht in Widerspruch mit der Kantischen Konzeption der Moral zu stehen; und wer glaubt, die Moral sei zu überhaupt nichts nütze, muss gemäß dieser Konzeption nicht die Pointe und den Sinn der Moral missverstanden haben. Wenn der Regelutilitarismus der Spannung zwischen Funktion und Autonomie tatsächlich nicht standhalten kann und entweder eine Variante des extremen Utilitarismus (eine funktionalistische Ethik) oder überhaupt kein Utilitarismus mehr ist, sondern eine Art Regelrigorismus (eine autonomistische Ethik), dann erscheint es konsequent (zumindest, wenn man den Aktutilitarismus für falsch hält) anzunehmen, die Moral habe überhaupt keine weiteren Zwecke und lasse sich insofern auch nicht durch irgendwelche Konsequenzen rechtfertigen. Vielleicht schüttet man dabei aber das Kind mit dem Bade aus. Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass es durchaus möglich ist, eine doppelte normative Struktur konsistent aufrecht zu erhalten. Allerdings bedarf es dazu nicht nur eines Regelsystems, sondern einer Praxis.
§ 6. Normative Doppelstrukturen: Regelsystem vs. Praxis Das Problem des Regelutilitarismus liegt im Begriff der Regel. Denn keine Regel kann gleichsam Mittel und Zweck zugleich sein. Entweder ist
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sie eine Faustregel und somit funktional begründbar oder die Regel ist wirklich unabhängig von den Folgen. Dann stehen die Folgen jedoch in überhaupt keiner funktionalen Begründungs-Beziehung zur Regel.16 Erst eine Praxis, d. h. ein Regelsystem, das durch eine funktionale Einbettung seinen praxis-spezifischen Sinn und Witz erhält, kann eine teleologische Doppelstruktur tragen. Eine Praxis ist sogar durch ihre zweifache Norm definiert. Deutlicher wird dies wiederum am Beispiel des Schachs.17 Die Regel, mit einem Mittelbauern zu eröffnen, ist lediglich von strategischem Sinn und insofern ergebnisorientiert. Die Regel, dass man den König nur jeweils ein Feld bewegen darf, ist dagegen gänzlich ergebnisunabhängig. Von einem Schachspiel spricht man aber nur, wenn die konstitutiven Regeln in bestimmter Weise in unser Leben eingebettet sind. Durch diese Einbettung ist Schach ein Spiel und eben kein Duell und auch kein religiöser Ritus. Um der normativen Struktur der Moral gerecht zu werden, bedarf es in analoger Weise nicht nur nackter Regeln, sondern funktional eingebetteter Regeln, d. h. einer Praxis. Gerade das sind aber die Tugenden: Die Tugenden sind zwar einerseits durch Begründungsregeln charakterisiert, diese Begründungsregeln konstituieren aber nur durch ihre Funktion, nämlich ihre Ausrichtung auf das menschliche Gedeihen, eine Tugend. Der wesentliche Unterschied zwischen Tugendethik und Regelutilitarismus besteht darin, dass die Tugenden durch ihre Funktion nicht begründet werden, sondern ihren Sinn und Witz erhalten. Bevor ich darzustellen versuche, inwiefern die Tugenden tatsächlich Praxen sind, werde ich im Folgenden vorerst den Gegenstand moralischer Urteile präzisieren. – Dabei wird es mir nicht darum gehen, die tugendethische Perspektive gegen rivalisierende Positionen zu verteidigen; vielmehr soll hier nur eine Positionierung innerhalb des tugendethischen Paradigmas vollzogen werden.
_____________ 16 Ob es andere Begründungen geben kann (etwa im Sinne einer ›aristotelischen Notwendigkeit‹), bleibt hier offen. 17 Ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass der Vergleich zwischen Schach und Moral lediglich bestimmte strukturelle Ähnlichkeiten hervorhebt – keinesfalls ist damit impliziert, dass die moralischen Regeln ähnlich willkürlich sind wie etwa Spielregeln.
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§ 7. Zum Gegenstand moralischer Urteile Was wird in moralischen Urteilen bewertet? Man sagt etwa: »Was er tat, war schlecht«, und beurteilt damit das Verhalten einer Person. Allerdings stellt sich die Frage, in welchem Sinne sein Verhalten schlecht war. Sobald man einen dünnen Begriff wie etwa ›schlecht‹ spezifiziert, gibt es eine differenzierte Sprache, die nicht nur moralische Bewertungsdimensionen erfasst. ›Schlecht‹ kann heißen: nutzlos, ungesund, abträglich, zwecklos, unangenehm, unbarmherzig, etc. Die Bewertung ›unangenehm‹ könnte man mit von Wright18 hedonisch nennen, die Wertung ›ungesund‹ hingegen medizinisch und die Charakterisierung ›nutzlos‹ fällt unter eine technisch-utilitarische Bewertungsdimension.19 Gibt es auch eine eigens moralische Bewertungsdimension? Nun, zumindest aus tugendethischer Perspektive wäre dies die Beschreibung des Handelns als unbarmherzig. Dieser Begriff qualifiziert aber sowohl das Handeln als auch den Handelnden: Wer (regelmäßig) unbarmherzig handelt, ist ein unbarmherziger Mensch. Analoges gilt nicht für die anderen Bewertungsdimensionen. Denn wer etwas Ungesundes, Abträgliches, Nutzloses, Zweckloses oder Unangenehmes tut, ist darum kein ungesunder, nutzloser, zweckloser oder unangenehmer Mensch. Im Fall des moralischen Urteils trifft die Bewertung daher nicht nur das Handeln, sondern auch die handelnde Person. Warum ist das so? Was ist gemeint, wenn eine Handlung als ›moralisch gut‹ oder ›moralisch schlecht‹ bewertet wird?
_____________ 18 Vgl. G.H. von Wright: The Varieties of goodness. London 1963. 19 Es sollen hier keine klaren Kategorien suggeriert werden. Das Prädikat ›wohltuend‹ könnte man z. B. sowohl ›hedonisch‹ als auch ›medizinisch‹ auffassen.
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a. Gibt es moralisch schlechte Handlungen? Wenn man Beispiele moralisch schlechter Handlungen nennen soll, wird man vielleicht an Lüge, Diebstahl, Mord und Ähnliches denken. Allerdings sagt die Charakterisierung einer Handlung als Lüge oder Diebstahl aus tugendethischer Sicht per se noch nichts über die moralische Qualität des jeweiligen Verhaltens aus. Es mag durchaus Situationen geben, in denen es moralisch gefordert ist zu lügen – etwa um jemanden vor ungerechter Strafe zu schützen. Ähnliches lässt sich für den Fall des Stehlens denken. Dass dies bei der Beschreibung der Moral leicht übersehen wird, dürfte unter anderem daran liegen, dass man nur selten im Leben aus guten Gründen lügt. Und für ein moralisch gebotenes Stehlen wird es in einem halbwegs geordneten Gemeinwesen vermutlich noch seltener gute Gründe geben. Aber das ändert nichts daran, dass die Charakterisierung einer Handlung als Lüge oder Diebstahl die moralische Qualität dieser Handlungen nicht abschließend bestimmt. – Beim Mord verhält es sich anders, weil der Begriff des Mordes auf die Gründe und Motive der Tötung verweist. Als ›Mord‹ bezeichnet man eine Tötung nur, wenn sie aus schlechten Gründen bzw. aus schlechten Motiven geschieht. Aus tugendethischer Sicht entscheidend sind daher die Gründe und Motive einer Handlung und die Folgen nur, insofern sie für die Motive relevant sind. Wie bereits gesagt, wird dies deutlicher, wenn man von der unspezifischen Ausdrucksweise »Seine Tat war schlecht« zur spezifischen Ausdrucksweise übergeht und eine Antwort auf die Frage gibt, warum seine Tat schlecht war. Und eine mögliche Antwort wäre, dass seine Tat unbarmherzig war. Dabei charakterisieren die Tugenden allerdings nicht primär Handlungen, sondern das Handeln. b. Handlung vs. Handeln Wer einen anderen bestiehlt, betrügt, verletzt, tötet oder ihm die Unwahrheit sagt, hat im Allgemeinen schlechte Gründe – und insofern handelt er schlecht. Dass es für diese Handlungen im Allgemeinen keine guten Gründe gibt, ist eine empirische Tatsache, ohne die ein legitimes Rechtssystem nicht denkbar wäre. Betrachten wir z. B. den Schutz des Eigentums: Wie wäre es, wenn es häufiger vorkäme, dass man jemanden aus guten Gründen bestehlen müsste? Selbst wenn bei der Festsetzung des Strafmaßes die Motive des Delinquenten von Bedeutung sind, orientiert sich die Feststellung der Straftat am Verhalten. Ein Rechtssystem ist aber nur zu legitimieren, wenn es im Allgemeinen nicht mit der Moral
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konfligiert, wenn es also keine Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die im Allgemeinen moralisch geboten sind. Zwischen einer Handlung (z. B. der Lüge) und der Bewertung ›moralisch schlecht‹ gibt es daher begrifflich keine notwendige Verbindung. Andererseits ist diese Verbindung nicht bloß zufällig. Daher haben Gebote und Verbote (etwa im Sinne des Dekalogs) durchaus ihren guten Sinn. Wenngleich nicht den, dass sie die moralische Integrität derer garantieren, die sich an diesen Geboten orientieren – noch umgekehrt. Vielmehr verweisen sie darauf, wie sich der Tugendhafte im Allgemeinen verhalten würde. Wenn man jemandes Handlung als ›schlecht‹ charakterisiert, meint man zumeist, dass er schlecht gehandelt hat. Es ist aber nicht so, dass überall dort, wo jemand schlecht handelt, eine schlechte Handlung stattgefunden hat. Vielmehr haben die Begriffe Handlung und Handeln trotz oberflächlicher Gemeinsamkeiten eine gänzlich andere ›Grammatik‹.1 a) Die Zuschreibung einer guten bzw. schlechten Handlung ist, sofern damit nicht einfach gutes oder schlechtes Handeln gemeint ist, von der Absicht des Handelnden abhängig: Wer schlecht Geige spielt, kann die Kritik an seinem Spiel dadurch zurückweisen, dass er darauf besteht, schlecht spielen zu wollen. Beispielsweise könnte Peter, der schon seit Jahren Bachs Violinsonaten in der Fußgängerzone zum Besten gibt, die Kritik an seinem schlechten Spiel dadurch zurückweisen, dass er erklärt, schlecht spielen zu wollen, um den Besuchern der Stadt ihren Aufenthalt möglichst zu verleiden. Sein Tun lässt sich daher sub specie boni betrachten, insofern er dieses Ziel durch das schlechte Musizieren wohl erreichen wird. Wenn er dieses Ziel erreicht, heißt das aber nicht, dass er eigentlich gut spielt, sondern lediglich, dass sein schlechtes Spiel unter dem Gesichtspunkt des Guten betrachtet werden kann. Aber unabhängig davon, dass er schlecht spielt, handelt er schlecht, wenn er schlecht spielt, um eine Qual für die anderen zu sein. Die Kritik an dem Vorwurf, dass er schlecht handle, kann er allerdings nicht dadurch zurückweisen, dass er gar nicht gut handeln wolle. Denn eben darin, dass er das Falsche will, liegt ja sein Fehler. Zudem gibt es hier nicht nochmals einen übergeordneten Gesichtspunkt, unter dem man sein Handeln als gut bewerten könnte. Sein Handeln ist in einem absoluten Sinne schlecht. b) Handeln und Handlung haben zudem eine gänzlich andere Zeitstruktur: Wenn das Konzert unseres Violinisten von 14 bis 16 Uhr ge_____________ 1 Siehe dazu und zu den folgenden Ausführungen A.W. Müller: Handeln. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Bd. 57, Nr. 3 (2003), S. 327−394.
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dauert hat, hat er in dieser Zeit schlecht gespielt. Hat er aber auch zwei Stunden lang schlecht gehandelt? Wohl kaum. Vielmehr hat er bei Gelegenheit seines Auftritts schlecht gehandelt. Außerdem zeigt sich das gute oder schlechte Handeln häufig nicht in Handlungen. Faulheit z. B. besteht nicht etwa darin, dass jemand heute lange im Bett bleibt, sondern darin, dass er letzten Monat und letzte Woche und gestern und heute lange im Bett geblieben ist. Zudem handelt man häufig gut oder schlecht nicht durch die Dinge, die man tut, sondern durch die, die man unterlässt. c) Das Handeln lässt sich im Gegensatz zur Handlung nicht delegieren. Der Klempner kann seinen Kollegen bitten, einen Schaden zu reparieren; er kann seinen Kollegen aber nicht auffordern, für ihn zu handeln. Dem Handeln kann man gleichsam nicht entkommen: Selbst vom Schlafenden kann man unter Umständen sagen, er handle schlecht, wenn es seine Aufgabe ist, wach zu sein. Daher nimmt das Handeln eine Sonderstellung unter den Praxisformen ein: man kann nicht-spielen, nichtrechnen, nicht-sprechen – man kann aber nicht nicht-handeln. Das liegt vor allem daran, dass das Handeln nicht durch ein Tun bestimmt wird, sondern durch die Gründe, an denen jemand sein Denken, Fühlen, Wollen, Tun und Unterlassen orientiert. Wenn also nicht die Handlung der Gegenstand der moralischen Bewertung ist, sondern das Handeln, und wenn die Güte des Handelns wiederum durch die Güte der Gründe und Motive bestimmt wird, dann sollten moralische Regeln in erster Linie Begründungsregeln sein: Die Moral sollte sagen, was gute und schlechte Handlungsgründe sind.
§ 8. Ist die Moral eine Praxis? Fragen nach Handlungsgründen können unterschiedlich beantwortet werden. Man kann z. B. Handlungsziele benennen. (Er hat es getan, um B zu ärgern.) Man kann aber auch Ereignisse und Tatsachen anführen (Er hat es getan, weil B ihn schlug.) Und schließlich kann eine Erklärung auch Tugend- und Lasterbegriffe enthalten. (Er hat es aus Barmherzigkeit getan.) Hinsichtlich der Tugenden und Laster ist allerdings auffällig, dass es im Allgemeinen nicht heißt: Er hat es getan, um barmherzig zu sein, um tapfer zu sein, um wahrhaftig zu sein, um feige zu sein, um unbarmherzig zu sein, etc. Die Tugenden und Laster sind nicht selbst Beweggründe. Was heißt es aber, z. B. aus Barmherzigkeit zu handeln, wenn die Tugenden und Laster nicht selbst Gründe sind, sondern lediglich die Gründe moralisch qualifizieren?
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Betrachten wir die beiden erstgenannten Erklärungsmuster etwas genauer: Die Erklärung »Er tat dies, weil…« wird entweder durch die Angabe eines Zwecks, Ziels, Ereignisses oder einer Tatsache expliziert. Diese Gründe sind für sich betrachtet allerdings ethisch neutral. Wie aber kommen die ethischen Maßstäbe ins Spiel? Anscheinend dadurch, dass die genannten Gründe nicht an sich betrachtet werden, sondern in ihrer jeweiligen Umgebung: es ist unbarmherzig, ehrlich, mutig, feige, etc. in einer bestimmten Situation aus bestimmten Gründen zu handeln. Wer früh aufsteht, weil er viel zu erledigen hat, handelt gut – sofern er nicht früh aufsteht, um den lang geplanten Raubüberfall durchzuführen. Wer wahrheitsgemäß Auskunft gibt, weil er gefragt wurde, handelt gut – sofern er damit nicht seinen Freund verrät. Die Tugendbegriffe sind also einerseits auf Gründe bezogen, andererseits aber auch auf (bisher noch nicht näher spezifizierte) Umstände.2 Denken wir z. B. an die Wahrhaftigkeit: Die Wahrhaftigkeit zeigt sich ja nicht darin, in jeder Situation, d. h. auf jede Frage wahrheitsgemäß zu antworten. Vielmehr zeigt derjenige, der einen Freund an einen Mörder ausliefert, indem er letzterem wahrheitsgemäß bekennt, wo er den Freund versteckt hält, dass er die Tugend der Wahrhaftigkeit nicht innehat. Es lassen sich leicht alltäglichere Beispiele finden: Fragt jemand nach einer Meinung bezüglich seiner neuen Frisur, so wird man im Allgemeinen nicht antworten: »Im Leben habe ich nichts derart Scheußliches gesehen.« Wer so antwortet, der stellt damit, trotz der vielleicht wahrheitsgemäßen Aussage, nicht seine große Wahrhaftigkeit unter Beweis, sondern eher seinen Mangel an Höflichkeit.3
_____________ 2 Hursthouse benennt die Regeln der Tugendethik (»v-rules«) mit »Act honestly«, »Do not act uncharitably«, etc. (Vgl. R. Hursthouse: Normative Virtue Ethics. In: R. Crisp (Hg.): How Should One Live: Essays on the Virtues. Oxford 2003, S. 19−36, S. 25.) Als Anweisungen dürften diese Regeln kaum geeignet sein, da das diesen Regeln entsprechende richtige Handeln sehr situationsabhängig ist. Die von mir vorgestellte Position legt die Regeln in die Begründung – die Situationsabhängigkeit ergibt sich durch den Witz der Tugenden. Diese Unterscheidung macht deutlicher, wo den Tugenden allgemeine Prinzipien zugrunde liegen und inwiefern sie dennoch situationsabhängig sind. 3 B. Hooker: Rule-Consequentialism. In: Mind, Vol. 99, No. 393, S. 67−77, S. 73, hält das ›partial complicance‹ Problem für eines der ernsthaftesten Probleme des Regelutilitarismus: »What ist he partial compliance objection to rule-consequentialism? It is that following the moral code that would be optimal in a world in which everyone accepted it can be (in Brandt’s words) ›counterproductive or useless‹ in the real world where there is actually only partial social acceptance of that code.« (Vgl. auch: R. Brandt: Fairness to Indirect Optimific Theories in Ethics. In: Ethics. 1988, S. 341−360). Dieses Problem ergibt sich, soweit ich sehe,
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Bezüglich der moralischen Bewertung sprechen aus tugendethischer Sicht Tugendbegriffe das letzte Wort. Die Tugenden sind aber Praxen und sie sind daher in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit dem Käse-Wiegen, dem Schachspielen, dem Rechnen, etc.: Die Frage eines anderen ist im Allgemeinen ein Grund, wahrheitsgemäß zu antworten. Gleichwohl besteht die Wahrhaftigkeit nicht darin, auf beliebige Fragen nach bestem Wissen immer die Wahrheit zu sagen. Und zwar ebenso wenig wie das Wiegen darin besteht, ein Stück Käse auf eine Waage zu legen und den entsprechenden Wert abzulesen – komme was wolle. Denn wie das Wiegen nicht nur Regeln hat, so auch die Wahrhaftigkeit: Auch die Tugenden haben nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz. Damit soll nicht gesagt sein, dass es keine strukturellen Unterschiede zwischen der Moral und anderen Praxisformen gibt. Ein Unterschied macht sich z. B. daran bemerkbar, dass derjenige, der schlecht rechnet, ein schlechter Mathematiker ist, wer schlecht spielt, ist ein schlechter Spieler. Doch denjenigen, der schlecht handelt, nennt man einen schlechten Menschen. Es gibt aber noch einen weiteren wesentlichen Unterschied:4 Im Fall des Käse-Wiegens wurde darauf hingewiesen, dass der Witz des Wiegens unter anderem von Naturtatsachen abhängt – z. B. von der Tatsache, dass Käse nicht plötzlich sein Gewicht ändert oder dass sich die Zeiger der Waage nicht biegen. Ähnliches gilt für die Addition: Der Witz der Addition hängt unter anderem davon ab, dass sich die meisten Dinge nicht so verhalten wie Regentropfen oder Seifenblasen. Die Regeln des Käse-Wiegens und des Addierens sind also unter anderem in ein Netz allgemeiner Naturtatsachen eingebettet. Einerseits verhält es sich in der Moral ähnlich: Wären die Menschen bei jeder erfahrenen Hilfe derart in ihrer Ehre gekränkt, dass sie sich auf immer beschämt fühlten, so hätte die Begründungsregel der Hilfsbereitschaft vielleicht ihren Witz verloren. Oder nehmen wir an, jemand lebte in einer Unrechtsherrschaft. Die Wahrheit zu sagen könnte in einem solchen Regime verheerende Folgen für das eigene und das Leben anderer haben. Die Wahrhaftigkeit scheint hier ihren Witz (zumindest teilweise) verloren zu haben und zwar gerade so wie das Käse-Wiegen _____________ nur, wenn man die Moral in erster Linie als ein Regelsystem und nicht als Praxis auffasst. 4 Von Relativität und Willkürlichkeit der Moral gar nicht zu reden. Es erscheint doch zu offensichtlich, dass die Moral in diesen Punkten einen ganz anderen Stellenwert hat als z. B. Spiele.
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seinen Witz verlöre, wenn sich das Gewicht des Käses in kurzen Zeitintervallen änderte. Andererseits reichen diese Analogien nicht sehr weit: Denn mit dem Käse-Wiegen hätte es im beschriebenen Fall ein Ende. Das gleiche gilt jedoch nicht für die Wahrhaftigkeit. Auch darin, in bestimmten Situationen die Unwahrheit zu sagen, kann sich die Wahrhaftigkeit zeigen. Das Wiegen zeigt sich aber niemals im Ablesen falscher Werte. Anders gesagt: Im Fall der Moral wird der Witz der einen Tugend durch die jeweils anderen Tugenden mitbestimmt. Um hier etwas klarer zu sehen, soll im Folgenden dargestellt werden, inwiefern den jeweiligen Tugenden tatsächlich konstitutive Regeln zugrunde liegen und inwiefern diese Regeln durch ihre Einbettung in unser Leben ihren spezifischen Sinn erhalten. Abschließend werde ich versuchen darzustellen, inwiefern diese Einbettung ein Zusammenspiel der Tugenden verlangt. a. Gibt es konstitutive Regeln der Moral? Wenn bisher von Handlungsgründen gesprochen wurde, ist häufig der Ausdruck ›im Allgemeinen‹ verwendet worden: Beispielsweise ist die Frage eines anderen im Allgemeinen ein Grund, die Wahrheit zu sagen. Das klingt nach einer Faustregel und man könnte denken, dass man es in der Moral nicht mit konstitutiven, sondern nur mit regulativen Regeln zu tun hat. Wie also könnten (aus tugendethischer Sicht) konstitutive Regeln der Moral lauten?5 Ganz ähnlich wie es eine Regel des Käse-Wiegens ist, den Käse auf die Waage zu legen und den entsprechenden Wert abzulesen, so ist es eine Regel der Praxis der Wahrhaftigkeit, dass die Frage eines anderen ein Grund ist, nach bestem Wissen zu antworten. Im Fall der Neidlosigkeit ist es eine Regel, dass der Besitz, die Leistung oder der Vorsprung des anderen kein Grund zur Missgunst ist. Die Hilfsbereitschaft zeigt sich darin, dass die Notsituation des anderen bzw. seine Bitte um Hilfe ein Grund ist, ihm zu helfen; Sanftmut zeigt sich darin, dass erfahrener Schaden kein Grund zum Zorn ist. Jede dieser Tugenden hat aber nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz, insofern die Tugend ein Telos hat, das nicht allein schon dadurch realisiert wird, dass man sich an den genannten Regeln orientiert. Die einschränkende Charakterisierung ›im Allgemeinen‹ ergibt sich im Fall _____________ 5 Der emotionale Aspekt der Tugenden ist hier nicht berücksichtigt. Vgl. dazu: R. Hursthouse: On Virtue Ethics. Oxford 1999, Part II.
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der Tugend nicht dadurch, dass es sich um eine Faustregel handelt, sondern dadurch, dass die Tugend eine Praxis ist. Dass eine Tugend, wie etwa die Wahrhaftigkeit, nicht nur Regeln hat, sondern auch einen Witz, merkt man vor allem dann, wenn die Begründungsregel der Wahrhaftigkeit mit der Begründungsregel anderer Tugenden (etwa der Höflichkeit) in Spannung gerät. b. Begründung und funktionale Einbettung Nehmen wir an, es gäbe nur zwei Tugenden: Wahrhaftigkeit und Höflichkeit. Die Wahrhaftigkeit soll nun auf die Begründungsregel reduziert werden, dass die Anfrage eines anderen ein Grund ist, nach bestem Wissen zu antworten. Für die Höflichkeit gelte die Regel, dass der Umgang mit anderen Menschen ein Grund ist, diese freundlich zu behandeln. Qua Praxis ist die Begründungsregel der Wahrhaftigkeit aber derart in unser Leben eingebettet, dass sie ihren Witz verlieren könnte – dann nämlich, wenn auch Ansprüche der Höflichkeit ins Spiel kommen. Die Höflichkeit spielt allerdings nicht die gleiche Rolle wie die erwähnten Naturtatsachen im Fall des Käse-Wiegens, da die Höflichkeit selbst wiederum eine Praxis ist, die ihrerseits von der Wahrhaftigkeit abhängt. (Es ist z. B. kein Zeichen von Höflichkeit, dem anderen Komplimente vorzulügen.) Während die Naturtatsachen im Fall des Wiegens unabhängig von der Praxis des Wiegens sind, gibt es hier Wechselbeziehungen zwischen zwei Praxen. Wenn aber die Höflichkeit und die Wahrhaftigkeit logisch voneinander abhängig sind, stellt sich die Frage, inwiefern es in unserem Beispiel tatsächlich zwei Tugenden gibt und inwiefern eine der beiden Tugenden ihren Witz verlieren kann. Warum gibt es nicht nur eine einzige Tugend, die man vielleicht ›Wahrhöflichkeit‹ nennen könnte? Dass es nur eine einzige Tugend gibt, könnte man unter anderem deshalb denken, weil die moralische Qualifizierung »Er hat gut gehandelt« absolut verwendet wird. D. h., in der Welt der zwei Tugenden charakterisiert die Bewertung des Handelns als ›gut‹ keinen Aspekt des Handelns (etwa den Aspekt der Wahrhaftigkeit oder den Aspekt der Höflichkeit), sondern das Handeln insgesamt: Wer wahrhaftig ist, hat uneingeschränkt gut gehandelt – und nicht nur hinsichtlich einer Bewertungsdimension. Warum spricht man aber dennoch von zwei Tugenden? Dies liegt vor allem daran, dass sich für die angenommene Über-Tugend der ›Wahrhöflichkeit‹ keine eigene Begründungsregel bestimmen lässt, da die Wahrhöflichkeit nicht einfach aus den Begründungsregeln der Wahrhaftigkeit und denen der Höflichkeit zusammengesetzt sein kann. Die
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Begründungsregel der Wahrhöflichkeit kann also nicht lauten: Die Anfrage des anderen ist ein Grund, wahrheitsgemäß zu antworten, und der Umgang mit anderen Menschen ist ein Grund, diese freundlich zu behandeln. Vielmehr markiert die eine Tugend für die jeweils andere sozusagen den Ausnahmefall: Die Anfrage des anderen ist ein Grund, wahrheitsgemäß zu antworten, es sei denn, es gibt auch Ansprüche der Höflichkeit und vice versa. Daher kann man die Tugend der Wahrhaftigkeit in unserem Beispiel auf zweifache Weise verfehlen: Erstens dadurch, dass man die Anfrage des anderen nicht als Grund nimmt, wahrheitsgemäß zu antworten. Und zweitens dadurch, dass man die Ansprüche der Höflichkeit unberücksichtigt lässt. Auch hier trägt die Analogie zum Käse-Wiegen: Man kann das Telos des Wiegens dadurch verfehlen, dass man, erstens, falsche Werte abliest, und zweitens dadurch, dass man einen diskontinuierlich sich verändernden Käse auf die Waage legt. Und ebenso wie das Telos des Wiegens nicht allein durch die Befolgung der ›Wiegeregeln‹ erreicht wird, verwirklicht man das Telos der Wahrhaftigkeit nicht, wenn man sich nur an ihre Begründungsregeln hält. Der wesentliche strukturelle Unterschied zur Moral besteht darin, dass das Telos der Tugend selbst wiederum durch andere Tugenden mitbestimmt ist. Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen. Im Folgenden soll vorerst noch ein anderer Aspekt der funktionalen Einbettung der Moral betrachtet werden: Das moralisch schlechte Handeln ist häufig auch in anderen Bewertungsdimensionen schlecht. Insofern A nicht völlig verdorben ist, wird die Reue den eventuellen ›hedonischen‹ Gewinn seines schlechten Handelns mindern. Zudem werden durch moralisch schlechtes Verhalten andere häufig geschädigt, außerdem sind Laster der eigenen Gesundheit selten zuträglich, etc. Diese Folgen und Wirkungen sind zwar nicht dazu geeignet, die Moral zu begründen – gleichwohl bestimmen sie den Sinn der Moral und sind nicht bloß empirisch kontingente Fakten. Vielmehr identifiziert man ein Regelsystem nur als Moral, wenn es prinzipiell positive Wirkungen zeitigt – oder zumindest, wenn diese Wirkungen erwartet werden. Um diesen Punkt zu erläutern, werde ich im Folgenden zwei Fragen nachgehen: Inwiefern ist es dem Regelsystem der Moral (aus tugendethischer Sicht) wesentlich, positive Wirkungen zu zeitigen? Inwiefern erreicht nur die Moral als System von Begründungsregeln dieses Ziel?
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c. Inwiefern sind positive Wirkungen der Moral wesentlich? Wenn man die Rationalität der Moral erklären will, ist die Versuchung groß, sie an vorgefassten Konzeptionen praktischer Rationalität zu messen. Foot6 macht darauf aufmerksam, dass man umgekehrt vorgehen sollte: Jede vernünftige Theorie praktischer Rationalität muss sich am Maßstab der etablierten Praxis der Moral messen lassen. Foots Auffassung teilend werde ich im Folgenden gar nicht erst versuchen zu zeigen, dass die Orientierung an den Tugenden irgendwelchen Rationalitätsstandards genügt. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Tugenden selbst Rationalitätsstandards sind. Gleichwohl lässt sich die Rationalität der Tugenden genauer klären und diese Klärung mag dann der Neigung entgegenwirken, die Moral auf andere Formen der Rationalität reduzieren zu wollen. Dem Regelutilitarismus wurde oben vorgeworfen, der zweifachen Normativität der Moral nicht gerecht zu werden: Seine Regeln sind entweder bloße Faustregeln und insofern funktionalistisch oder aber sie haben überhaupt keinen logischen Bezug zur Funktion der Moral und sind insofern autonomistisch. Nun könnte man mutmaßen, dass die hier vorgestellte tugendethische Konzeption letztlich ebenfalls autonomistisch sei. Es mag zwar keine sehr gewagte Annahme sein, dass Menschen ohne Tugenden nicht mehr kooperieren könnten, dass Beziehungen unverlässlich würden, dass Notsituationen häufig fatal wären, dass man für die eigene Sicherheit großen Aufwand betreiben müsste und dergleichen mehr. Doch letztlich erscheinen diese Konsequenzen der Tugendlosigkeit bloß hypothetischer Art zu sein. Inwiefern hat die Moral in der hier vorgestellten Konzeption denn einen logischen Bezug auf Zwecke, ohne jedoch durch diese Zwecke begründet zu sein? Die Lösung in der Vermittlung zwischen funktionalistischer und autonomistischer Ethik scheint mir darin zu liegen, dass man gegen den Begründungs-Ehrgeiz funktionalistischer Konzeptionen darauf hinweisen muss, dass die Begründungsregeln der jeweiligen Tugend für den Tugendhaften Gewissheiten sind.7 Diese Begründungsregeln sind Ausgangspunkte seines praktischen Denkens und insofern keiner weiteren Begründung zugänglich. Gegen die autonomisti_____________ 6 Vgl. Ph. Foot: Rationality and Goodness. In: A. O’Hear (Hg.): Modern Moral Philosophy. Cambridge 2004, S. 1−13. 7 Diese Gewissheiten haben, insofern sie im Allgemeinen nicht artikuliert werden, den Status Moorescher Sätze und stehen gleichsam im Hintergrund des Schließens und Handelns.
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sche Konzeption spricht, dass die Funktionalität der Moral, d. h. ihr Beitrag zum Gedeihen, für den Tugendhaften ebenfalls eine Gewissheit ist. – Und diese Gewissheit gibt den jeweiligen Begründungsregeln ihren praxis-spezifischen Sinn, ihren Witz. Der Erwerb moralischer Überzeugungen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht nicht vom Erwerb anderer Gewissheiten, z. B. dass jeder Mensch ein Gehirn hat, dass die Erde schon lange existiert, dass Wasser bei 100ºC kocht, dass 2+2=4, etc. Gerade so, wie diese Sätze keine isolierten Gewissheiten sind, sondern gestützt werden durch eine Vielzahl anderer Überzeugungen, so wird auch die Gewissheit, dass man nicht lügen und töten soll, durch eine ganze Reihe anderer Überzeugungen gestützt. In Analogie zur Mathematik8 könnte man sagen: Wenn das Urteil ›Man soll nicht lügen‹ vom Zweifel ausgenommen ist, müssen es auch nicht-moralische Urteile sein. Betrachten wir die Analogie zur Mathematik etwas genauer: Der mathematische Satz 25×25=625 ist eine Regel und insofern keiner empirischen Begründung zugänglich. Der Sinn dieser Regel wird aber durch seine Anwendung bestimmt und die sinnvolle Anwendung hängt unter anderem von nicht-mathematischen Tatsachen ab. Nehmen wir an, jemand packt 25×25 Äpfel in eine Kiste. Der Schluss, man müsse sich verzählt haben oder jemand müsse einen Apfel weggenommen haben, wenn sich weniger als 625 Äpfel im Sack befinden, wäre nicht mehr verständlich, wenn man gleichzeitig der Überzeugung wäre, dass sich Äpfel manchmal einfach in Luft auflösen. Diese Überzeugung ist zwar nicht dazu geeignet, den mathematischen Satz zu begründen, gleichwohl bestimmt sie seinen Sinn. Auch moralische Überzeugungen (dass man nicht quält, lügt, etc.) werden von einem Kind vorerst blind übernommen. Sie sind insofern nicht Ergebnisse praktischen Denkens, sondern seine Ausgangspunkte. Kann der Erwachsene die Vernünftigkeit der Begründungsregeln später nicht dennoch zweckrational hinterfragen? Es ist zwar nicht plausibel, dass je ein Mensch die Begründungsregeln der Moral vor dem Hintergrund zweckrationaler Erwägungen erlernt hat. Doch das allein schließt nicht aus, dass es keine nachträgliche zweckrationale Begründung geben kann. Aber: Wer z. B. die Tugend der Wahrhaftigkeit besitzt, für den ist die genannte Begründungsregel derart gewiss, dass sie keiner weiteren Begründung mehr zugänglich ist. Ähnliches gilt für die Funktionalität der Tugenden. Denn wie sollte man die Funktionalität der Moral prüfen? Etwa durch empirische Stu_____________ 8 Vgl. ÜG, 653: »Wenn der Satz 12×12=144 vom Zweifel ausgenommen ist, dann müssen’s auch nicht-mathematische Sätze sein.«
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dien, indem man untersucht, wie sich das Vorhandensein bzw. Fehlen einer Tugend auf eine Gesellschaft auswirkt? Man könnte dies tun; wenn der Glaube an die Funktionalität der Moral jedoch eine Gewissheit ist, ist nicht klar, was diese Studien beweisen können. Man wird vielleicht sagen: Wenn die Studie zeigt, dass die Wahrhaftigkeit für den Menschen ein Übel ist, ist die Studie nichts wert. (Wie man ja auch einer Messung, dass Wasser bei 50ºC kocht, wohl nicht trauen würde.) Richtig ist allerdings: Wenn die Gewissheit, dass die Orientierung an den Regeln der Tugend gedeihlich ist, erschüttert wird, dann wird auch der Sinn der Tugend selbst erschüttert. Derjenige, der meint, man dürfe nicht lügen, obwohl er gleichzeitig der Meinung ist, diese Regel sei eine Pest für die Menschheit, hat insofern den Sinn der Moral nicht verstanden. Wie also kann die Tugend ihre normative Doppelstruktur tragen, ohne ins Funktionalistische oder aber ins Autonomistische umzuschlagen? Sie tut es dadurch, dass für den Tugendhaften die Orientierung an den Begründungsregeln der Tugend ebenso gewiss ist wie die Funktion dieser Regeln. Diese Funktion, d. h. ihr Beitrag zum menschlichen Gedeihen, macht aus den jeweiligen Regeln eine Tugend – die Funktion gibt den Tugenden ihren praxis-spezifischen Sinn und Witz. Nun könnte man dies für einen Taschenspielertrick halten: Erstens ist es kein Wunder, dass die Tugend gedeihlich ist, wenn sie als gedeihlich definiert wird. Und zweitens geht es hier anscheinend nicht um die faktische Gedeihlichkeit, sondern nur darum, dass man von der Gedeihlichkeit überzeugt ist. Könnte man nicht, wie etwa Nietzsche,9 der Überzeugung sein, dass ganz andere Tugenden als die etablierten dem Menschen zuträglich sind? Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass es natürlich kein Wunder ist, dass die Tugend gedeihlich ist: Es war aber gerade das Problem zu verstehen, wie die Begründungs-Autonomie und die Funktionalität der Tugend verbunden sind – und zwar jenseits einer autonomistischen oder funktionalistischen Deutung. _____________ 9 Vgl. F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. G. Colli, M. Montinari, Bd. 5, München 1999, S. 245−412, S. 253: »Man nahm den Werth dieser ›Werthe‹ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, ›den Guten‹ für höherwertig als ›den Bösen‹ anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre?«
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Zum zweiten Einwand: Die Moral ist letztlich an eine realistische Einschätzung der menschlichen Natur gebunden. Darauf ruht, soweit ich sehe, Foots Einwand gegen Nietzsches Versuch der »Umwertung aller Werte«. Sie schreibt: My point is that it is only for a different species that Nietzsche‘s most radical revaluation of values could be valid. It is not for us as we are, or are ever likely to be.10
Ist das nicht doch eine Hypothese – oder aber eine bloße Stipulation? Nun, vielleicht genauso wenig wie »Wasser kocht bei 100ºC« oder »Ein abgehackter Arm wächst nicht nach« bloße Annahmen sind – und natürlich sind es auch keine Setzungen. Man könnte sagen: Soweit wir wissen, spricht alles dafür. Warum ist z. B. die Regel »Man soll täglich 12 Stunden im Bett bleiben« nicht die Begründungsregel einer Tugend? Leistet ihre Befolgung etwa keinen Beitrag zum menschlichen Gedeihen? Eine Studie könnte zeigen, dass sich diese Regel äußerst günstig auf eine Gesellschaft auswirkt. (Weniger Stress, weniger Unfälle im Verkehr, etc.) Könnten die Forscher auf diese Weise beweisen, dass die genannte Regel die Begründungsregel einer Tugend ist? Nein, und zwar genauso wenig wie die Forscher durch Studien beweisen könnten, dass Wahrhaftigkeit keine Tugend ist. Die Regel könnte aber durchaus den Status einer Tugend erwerben – und zwar, wenn der Glaube an die Gedeihlichkeit dieser Regel zur Gewissheit wird, wenn sie einen ähnlichen Status erwirbt wie etwa die Überzeugung, dass abgetrennte Arme beim Menschen nicht nachwachsen. d. Inwiefern erreicht nur die Tugend das Telos der Moral? Selbst wenn der Utilitarismus unsere gängige Praxis der Moral nicht adäquat deutet, könnten die Revisionsvorschläge des Utilitarismus dennoch eine Verbesserung darstellen – zwar keine Verbesserung der Moral, aber vielleicht eine Verbesserung des menschlichen Lebens. Denn warum sollte man die Orientierung an bestimmten Begründungsregeln als Kriterium für gutes Handeln erachten, wenn der Sinn dieser Orientierung darin besteht, dem menschlichen Gedeihen zuträglich zu sein? Anders gefragt: Könnte man nicht ohne die Praxis der Moral auskommen und stattdessen auf utilitaristische Kriterien zurückgreifen? Welchen Sinn _____________ 10 Ph. Foot: Natural Goodness. Oxford 2001, S. 115.
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hat es, die Gründe und Motive einer Person zu bewerten? Reicht es zur Beschreibung der Pointe der Moral nicht aus, bestimmte Verhaltensweisen bzw. -regeln zu beschreiben? Man könnte sagen: Wir brauchen das Helfen; keine Hilfsbereitschaft. Warum die Leute einander helfen, ist völlig belanglos – Hauptsache, es wird getan! Die Pointe der Moral wäre dann vergleichbar mit der Pointe des positiven Rechts. Warum ist dies in der Moral nicht ebenso? Ich sehe hier vor allem drei Gründe. a) Moralische Urteile treffen nicht nur Aspekte des Menschen, sondern den Menschen als ganzen: wer schlecht rechnet, ist ein schlechter Mathematiker, wer schlecht handelt, ist ein schlechter Mensch. Dies deutet darauf hin, dass moralische Urteile gleichsam den Kern des Menschen treffen. Und dieser Kern ist eben die Orientierung an Gründen. Ein moralisches Urteil, selbst wenn es negativ ausfallen sollte, erkennt den anderen als Menschen an. Dahingegen streicht der Utilitarismus, insofern er nicht das Handeln, sondern Handlungen bewertet, den Menschen als Wesen, das sich an Gründen orientiert, aus der Rechnung. b) Nehmen wir an, jemand sage lediglich aus Angst vor Strafe die Wahrheit. Eine solche Person könnte ihre eigenen Ziele nicht verwirklichen – dies ist schlecht für diese Person, selbst wenn ihre Ziele noch so verwerflich sein sollten. Die Tugenden erfüllen daher eine integrative Funktion: Sie harmonisieren das Wollen des Einzelnen mit den Erfordernissen des menschlichen Lebens. c) Im Fall des Spiels habe ich versucht zu zeigen, inwiefern die Verwirklichung des Spielwitzes nicht nur eine Frage der Kompetenz, sondern auch des Charakters ist. Ähnlich verhält es sich im positiven Recht: Man kann häufig den Sinn von Gesetzen unterlaufen, ohne auch nur gegen ein einziges Gesetz zu verstoßen. Nun kann man allerdings den Witz des Spiels (oder eines Gesetzes) verstehen, ohne sich am Witz der Praxis wirklich zu orientieren. Könnte jemand nicht in analoger Weise vorgeben, den Witz der Moral verstanden zu haben? Ich denke nein, und das hängt damit zusammen, dass man um den Witz der Tugenden zu verstehen, tugendhaft sein muss. Denn der Witz der einen Tugend wird, wie wir im Folgenden sehen werden, durch die jeweils anderen Tugenden mitbestimmt.11 _____________ 11 Schaller sieht die Standard-Auffassung der Tugenden durch drei Charakterisika bestimmt: 1. »Moral rules require persons to perform or omit certain actions (acttypes), and these actions can be performed by persons who lack no less than by those who possess the various virtuous. […]«. 2. »The moral virtues are, fundamentally and essentially, dispositions to obey the moral rules, i.e. to perform certain actions; […]«. 3. »The virtues have only instrumental or derivative value.« (W.
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§ 9. Einheit der Tugenden? Oben habe ich dafür argumentiert, dass die Tugenden nicht logisch unabhängig voneinander sind, da der Witz der einen Tugend durch die jeweils anderen Tugenden mitbestimmt wird. Daraus ergibt sich, dass man, um eine Tugend zu besitzen, letztlich alle Tugenden haben muss. Dies widerspricht prima facie unserem Alltagsverständnis. Denn wer ungerecht ist, scheint dennoch mutig sein zu können; außerdem können moralische Forderungen anscheinend konfligieren. Dieser erste Eindruck täuscht aber vielleicht: Auf der Ebene von Handlungsforderungen sind echte Dilemmata möglich, d. h., »Du sollst nicht lügen« und »Du sollst nicht beleidigen« können sich unter Umständen unvereinbar widersprechen. Doch dadurch treten die Tugenden der Wahrhaftigkeit und der Höflichkeit in kein Spannungsverhältnis. Dies deutet bereits darauf hin, dass der Ungerechte nicht mutig sein kann: Qua Praxis kann die Tugend des Mutes ihren Witz verlieren – und sie verliert ihn eben dort, wo sich ein Laster durchsetzt: Der Mut endet, wo die Ungerechtigkeit anfängt. Betrachten wir etwas genauer, inwiefern sich die einzelnen Tugenden unterscheiden und inwiefern sie dennoch voneinander abhängig sind. Dass es faktisch Abhängigkeiten zwischen den Tugenden gibt, wird kaum jemand bestreiten: Beispielsweise erfordert die Gerechtigkeit häufig auch Mut. Hier soll es jedoch vor allem um die logischen Beziehungen der Tugenden untereinander gehen. Diese erkennt man dort am deutlichsten, wo sich Tugenden prima facie widersprechen. Eine Tugend ist einerseits durch ihre jeweilige Begründungsregel bestimmt. Andererseits hat die Tugend ein Telos, das nicht schon durch die bloße Befolgung ihrer Begründungsregel verwirklicht wird. Im Hinblick auf ihre Begründungsregeln sind die Tugenden unabhängig voneinander. Außerdem wird man jeder Tugend eine mehr oder weniger spezifisch eigene Funktion zuschreiben können: Eine Gesellschaft, in _____________ Schaller: Are Virtues No More than Dispositions to Obey Moral Rules?. In: J.P. Sterba: Ethics: The Big Questions. Oxford 1999, S. 297−304, S. 297). Unabhängig davon, ob diese Charakterisierung wirklich (noch) der »standard view« ist, kann sie zur Konturierung der hier vorgestellten Position dienen: 1. Moralische Regeln beziehen sich nicht in erster Linie auf Handlungen, sondern auf das Handeln. 2. Die Tugenden sind Dispositionen, bestimmten Regeln zu folgen – allerdings sind diese Regeln Begründungsregeln. 3. Die Tugenden können keinen rein instrumentellen Charakter haben, da sich das Telos einer Tugend nicht unabhängig von den jeweils anderen Tugenden beschreiben lässt. Diesen Punkt untersuche ich im folgenden Kapitel genauer.
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der vor allem die Hilfsbereitschaft fehlt, wird vor anderen Problemen stehen als eine Gesellschaft, in der es besonders an Wahrhaftigkeit mangelt. Vor diesem Hintergrund hat es durchaus Sinn von wichtigeren und weniger wichtigen Tugenden zu sprechen. Die Tugenden sind allerdings abhängig voneinander, insofern man z. B. von Wahrhaftigkeit nur spricht, wenn auch die anderen Tugenden ihr Recht erhalten.12 Diese Abhängigkeit der Tugenden ergibt sich einerseits durch ihr gemeinsames Telos: Eine Tugend, eine Disposition also, die ihrem Begriff nach dem guten Leben dient, ist als solche, ihrer Finalität halber, so beschaffen, daß sie sich nicht in Handlungen, Unterlassungen usw. verwirklicht, die anderen Tugenden widerstreiten. Denn eine so geartete Verwirklichung würde nicht nur anderen Tugenden widerstreiten, sondern zugleich ihrer eigenen Finalität, die ja keine andere als die der übrigen ist, – dem guten Leben.13
Allerdings kann die Ausrichtung auf ein gemeinsames Telos allein nicht hinreichend sein, um einen Widerstreit der Tugenden auszuschließen. Es mag z. B. auch zwei Medikamente geben, die sich trotz eines gemeinsamen Telos gegenseitig neutralisieren. Wären die Tugenden, wie etwa die Medikamente, bloße Mittel, könnten auch sie einander widersprechen. Wo also liegt der wesentliche Unterschied zwischen Medikament und Tugend? Während sich das Telos des Medikaments unabhängig vom Medikament beschreiben lässt, ist das Telos einer Tugend nicht unabhängig von den anderen Tugenden bestimmbar. Die Tugenden können nicht nur deshalb nicht in Widerspruch zueinander treten, weil sie dasselbe Telos haben, sondern weil das Telos der einen Tugend durch die jeweils anderen Tugenden mitbestimmt wird. Die Orientierung an der Begründungsregel einer Tugend kann ihren Witz verlieren – und zwar dann, wenn die Orientierung an dieser Regel offensichtlich schlechte Folgen zeitigt. Aber: Was schlechte Folgen sind, wird selbst wieder durch die anderen Tugenden mitbestimmt: Jemandem die Wahrheit zu sagen, mag z. B. verletzend sein. Daraus allein folgt aber nicht, dass die Begründungsregel der Wahrhaftigkeit schon an ihre Grenzen gestoßen ist. Entscheidend ist, ob die Inkaufnahme dieser Folgen unhöflich, ungerecht, unbarmherzig, rechthaberisch, etc. wäre. An-
_____________ 12 Vgl. dazu: A.W. Müller: Aristotle’s Conception of Ethical and Natural Virtue: How the Unity Thesis sheds light on the Doctrin of the Mean. In: J. Szaif, M. Lutz-Bachmann (Hg.): Was ist das Gute für den Menschen? Menschliche Natur und Güterlehre. Berlin 2004, S. 18−53. Hier insbesondere S. 44ff. 13 A.W. Müller: Einheit der Tugend oder Einheit der Tugenden? Eine aristotelische Alternative zu Nicolai Hartmanns Position. In: Theologie und Philosophie. Jg. 73, Nr. 2 (1998), S. 173−195. Hier S. 184.
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ders gesagt: Die Wahrhaftigkeit wird nicht unmittelbar durch negative Folgen begrenzt, sondern letztlich durch die anderen Tugenden. Daher muss man, um eine Tugend (in ihrer Vollendung) zu besitzen, alle Tugenden haben. Die Lehre von der Einheit der Tugenden mag unter anderem deshalb unrealistisch (oder frustrierend) erscheinen, weil diese Konzeption letztlich niemandem außer dem vollendet Tugendhaften auch nur eine einzige Tugend zugesteht. Aber so ist es natürlich nicht – schließlich kann man mehr oder weniger tugendhaft sein. Wem es vor allem an Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft mangelt, der wird diese Mängel zu einem gewissen Grad nacheinander beseitigen können, indem er zuerst seine Zuverlässigkeit stärkt und dann seine Hilfsbereitschaft. Aber: Er wird seine Zuverlässigkeit nicht vollenden können, ohne zugleich seine Hilfsbereitschaft zu vollenden. Nehmen wir ein Beispiel: Peter und Felix haben einem Freund versprochen, ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu treffen. Auf dem Weg zu diesem Freund stoßen sie auf einen gestürzten Radfahrer. Während Peter den Eindruck hat, dass sich der Radfahrer in keiner allzu großen Notlage befindet, es ohnehin viele andere Menschen in der Nähe gibt, die dem Gestürzten helfen können, und dass es wichtiger ist, möglichst schnell den Freund zu erreichen, hält Felix zwar viel von Zuverlässigkeit unter Freunden, allgemeine Hilfsbereitschaft kümmert ihn allerdings herzlich wenig. Peter und Felix verhalten sich identisch, insofern sie dem Radfahrer nicht helfen. Und beide handeln ihrem Freund gegenüber anscheinend zuverlässig. Gleichwohl hat Peter in seinem Verhalten nicht nur das Telos der Zuverlässigkeit, sondern auch das der Hilfsbereitschaft verwirklicht. Denn jede Tugend hat zwar ihre eigenen Begründungsregeln, doch der Witz der jeweiligen Tugend wird durch die anderen Tugenden mitbestimmt. Daher hat Peter, wenn er aus guten Gründen von seiner Hilfe absieht, keinen Mangel an Hilfsbereitschaft gezeigt. Vielmehr hat er auch das Telos der Hilfsbereitschaft verwirklicht, insofern er der Begründungsregel der Hilfsbereitschaft die richtigen Grenzen gesetzt hat. Felix hingegen hat letztlich noch nicht einmal das Telos der Zuverlässigkeit verwirklicht. Er orientiert sich zwar an der Begründungsregel der Zuverlässigkeit (insofern ist er kein unzuverlässiger Mensch), dennoch verkennt er ihren Witz – selbst wenn er sich in der konkreten Situation nicht anders verhält als Peter. Denn obwohl in diesem konkreten Fall die Hilfsbedürftigkeit des Gestürzten für keinen der beiden ein hinreichender Grund ist zu helfen, rückt Peters Berücksichtigung dieser Begründungsregel sowohl die Zuverlässigkeit als auch die Hilfsbereitschaft ins rechte Licht. Denn der Witz der Zuverlässigkeit zeigt sich
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gerade darin, dass ihre Begründungsregel sich in dieser Situation gegenüber der Regel der Hilfsbereitschaft durchsetzt. Insofern aber bei Felix die Begründungsregel der Hilfsbereitschaft ohnehin keine Rolle spielt, gibt es bei ihm auch kein Durchsetzen der einen Begründungsregel gegenüber der anderen. – Er lässt also nicht nur die Begründungsregel der Hilfsbereitschaft unberücksichtigt, sondern verkennt eben genau dadurch den Witz der Zuverlässigkeit. Einerseits wird also die Hilfsbereitschaft durch die Ansprüche der Zuverlässigkeit begrenzt. Andererseits handelt es sich nur dann um Hilfsbereitschaft, wenn sich kein Mangel an Zuverlässigkeit zeigt. Dann jedoch erscheint die Zuverlässigkeit konstitutiv für die Hilfsbereitschaft. Wie lassen sich diese beiden Aspekte, die ja in einer gewissen Spannung zueinander stehen, verbinden? Insofern die Zuverlässigkeit der Hilfsbereitschaft Grenzen setzt, tut sie dies im Hinblick auf die Anwendung ihrer Begründungsregeln. Qua Praxis ist die Hilfsbereitschaft aber durch ihre Begründungsregeln unterbestimmt; sie hat auch einen Witz. Um aber den Witz der Hilfsbereitschaft zu verwirklichen, bedarf es auch der Zuverlässigkeit. Oben wurde dargestellt, inwiefern der Tugend ihr Beitrag zum menschlichen Gedeihen wesentlich ist: Wenn es zweifelhaft wäre, dass z. B. die Hilfsbereitschaft dem menschlichen Gedeihen zuträglich ist, wäre nicht mehr klar, ob die Hilfsbereitschaft überhaupt eine Tugend ist. Ihr Witz macht aus den Begründungsregeln der Hilfsbereitschaft eine Tugend. – Diese Folgen sind sinn-konstitutiv. Nun kann man die Folgen des eigenen Handelns in konkreten Fällen allerdings bis zu einem gewissen Grad vorhersehen. Und sollten diese Folgen negativ eingeschätzt werden, wird es unter Umständen fraglich, ob die jeweilige Begründungsregel im konkreten Fall Anwendung finden sollte. D. h., die vorhersehbaren Folgen liefern unter Umständen einen Grund, sich nicht an der Regel zu orientieren. Die Abwägung der Folgen ist insofern begründungs-relevant. Hier bedarf es erstens der Klugheit, die Folgen abzuschätzen, und zweitens bedarf es der Tugenden. Oben wurde bereits angedeutet, dass es nicht nur die Tugenden der Wahrhaftigkeit und der Höflichkeit geben kann. Das ist natürlich schon allein deshalb richtig, weil das menschliche Leben weitaus mehr Tugenden erfordert. Weder die Wahrhaftigkeit noch die Höflichkeit (ebenso wenig wie die Zuverlässigkeit und die Hilfsbereitschaft) kann für sich allein betrachtet die Verwirklichung ihres Witzes garantieren. Zur Verwirklichung einer Tugend bedarf es des Wissens um ihren Witz – und das bedeutet, dass man letztlich alle Tugenden haben muss. In diesem Sinne ist das Wissen um den Witz einer Tugend nicht selbst eine Tu-
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gend, sondern Ausdruck dessen, dass eine Tugend durch die jeweils anderen Tugenden geformt wurde. Doch wie lässt sich entscheiden, ob in einer konkreten Situation eher die Begründungsregel der Hilfsbereitschaft oder die der Zuverlässigkeit ausschlaggebend sein sollte. Dies erfordert neben dem Besitz der Tugenden eine angemessene Bewertung der Situation. Es bedarf der Klugheit, eine Situation einzuschätzen, Konsequenzen abzuschätzen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Auch hier trägt die Analogie zum KäseWiegen: Wer weiß, was es heißt zu wiegen, kennt sowohl die Regeln als auch den Witz des Wiegens. Doch im konkreten Fall wird er auch wissen müssen, ob er es mit normalen Gegenständen zu tun hat oder mit solchen, die ständig ihr Gewicht ändern. – Und hier endet die Analogie zur Moral. Denn während man wissen kann, was es heißt zu wiegen, ohne von einem einzigen Gegenstand sagen zu können, ob er zum Wiegen tauglich ist, kann man die Tugenden nicht besitzen, ohne dass man konkrete Situationen richtig einschätzt. Dies ergibt sich dadurch, dass die Tugenden keine Fähigkeiten sind, sondern Dispositionen. Wenn die Tugenden der Klugheit bedürfen, bedarf dann die Klugheit auch der Tugenden? Suppose you aim at something nasty, and I, seeing that you do, advise you to go ahead. Surely my indifference to the nastiness of your goal implicates me in that nastiness – makes me, to that extent, a nasty person. I cannot see why the same should not be true of the qualities of our own character that advise and direct us. […] A rationality that is indifferent to the nastiness of our pleasures is to that extent a nasty form of rationality.14
Die Klugheit erhält ihr Licht von den anderen Tugenden – warum sonst sollte sie erstrebenswert sein? Zwar bestimmt die Klugheit z. B. geeignete Mittel zur Erreichung von Zwecken. Aber: Der Wert der Klugheit ist eben nicht unabhängig von den anderen Tugenden bestimmbar.
§ 10. Zusammenfassung Wenn man die Moral, wie hier vorgeschlagen, als ein System konstitutiver (Begründungs-)Regeln auffasst, steht man vor den gleichen Problemen wie bei der Beschreibung anderer Praxen: Es geht darum, sowohl der Autonomie als auch der Funktionalität einer Praxis gerecht zu werden. _____________ 14 W. Quinn: Rationality and the human good. In: Ders.: Morality and Action. Cambridge 1993, S. 210−227, S. 215f.
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Wie in der Mathematik und der Sprache liegt die Autonomie auf Seiten der Begründung, die Funktion hingegen bestimmt den Sinn der Praxis. Sowohl funktionalistische als auch autonomistische Moralphilosophien verstehen die Moral als ein System von Regeln. Allerdings kann kein System von Regeln sowohl der Begründungs-Autonomie als auch der funktionalen Einbettung gerecht werden. Erst eine Praxis (konstituiert durch Regel und Witz) kann dies leisten. Der regelutilitaristische Vermittlungsversuch zwischen Funktionalismus und Autonomismus scheitert, weil er sich einseitig auf Regeln konzentriert. Es sind gerade die Tugenden, die qua Praxis nicht nur Regeln haben, sondern auch einen Witz. Dadurch werden die Tugenden sowohl der Begründungs-Autonomie als auch der funktionalen Sinnbestimmung gerecht. Dabei zeigt sich, dass die Tugenden notwendig eine Einheit bilden: Die Lehre von der Einheit der Tugenden ist keine exzentrische oder überzogene Forderung an den moralisch Handelnden, sondern sie ist letztlich das Kernstück einer tugendethisch konzipierten Moral. Das Spannungsverhältnis zwischen Begründungs-Autonomie und funktionaler Einbettung wurde am Beispiel der Moral (vor dem Hintergrund der Überlegungen aus Teil III) weiter präzisiert: Zwischen der Orientierung an den Begründungsregeln der Moral und der Überzeugung, dass diese Orientierung dem menschlichen Gedeihen zuträglich ist, gibt es für den Tugendhaften kein Gewissheitsgefälle. Aus diesem Grund kann die Funktion der Moral (nämlich ihr Hinwirken auf das Gedeihen) die Moral nicht begründen. Gleichwohl bestimmt die Gewissheit der Gedeihlichkeit den Sinn der Moral. Wenn die Begründungsregeln der Moral unzweifelhaft sein sollen, müssen auch nicht-moralische Überzeugungen vom Zweifel ausgenommen sein – und obwohl diese Überzeugungen die Moral nicht begründen können, bestimmen sie ihren Sinn und Witz.
Fazit und Ausblick Die vorangehenden Kapitel verdeutlichen ein Versäumnis sowohl der Wittgenstein-Rezeption als auch der Diskussion um die Funktion praxiskonstitutiver Regeln: Beide Debatten übersehen, dass eine Praxis nicht nur Regeln hat, sondern auch einen Witz bzw. eine Pointe. Regeln zielen in ihrer Logik auf die Unterscheidung von richtig und falsch bzw. erlaubt und unerlaubt. Die Logik des Witzes, wenn man es so nennen will, liegt aber gleichsam quer zu den Regeln: Der Witz eines Regelsystems bestimmt, welche Regeln wesentlich oder unwesentlich sind. Die Wesentlichkeit einer Regel kann nicht wiederum durch Regeln bestimmt werden, da man bei diesen Regeln erneut fragen könnte, ob sie denn wesentlich seien. Obwohl eine Praxis nur in ihrer Begründungs-Autonomie verstanden werden kann, bestimmt daher erst der Witz den praxis-spezifischen Sinn eines Regelsystems und macht z. B. aus den Regeln des Schachs ein Spiel und eben keinen religiösen Ritus. Eine Praxis ist insofern zwar begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom. In der vorliegenden Arbeit wurde diese Unterscheidung an den Praxen a) Mathematik, b) Sprache und c) Moral konkretisiert. a) Erkennt man den mathematischen Satz als begründungs-autonome Regel, so wird deutlich, dass bei einem unbewiesenen mathematischen Satz nicht primär der Wahrheitswert des Satzes in Frage steht, sondern sein Sinn. Nur zu wissen, dass es einen Beweis für einen mathematischen Satz gibt, ist daher vergleichbar mit dem Wissen, dass es eine Erklärung eines bestimmten Wort gibt, ohne aber zu wissen, wie diese Erklärung lautet. Der mathematische Beweis hat insofern eine erklärende Funktion. Wer hingegen in der Naturwissenschaft weiß, dass es einen Beweis für p gibt, der weiß ipso facto, dass p wahr ist (selbst wenn er den Beweis nicht kennt). Nicht der Sinn des naturwissenschaftlichen Satzes steht in Frage, sondern sein Wahrheitswert. Die Mathematik wurde in Teil II als ein System begründungs-autonomer Regeln beschrieben. Allerdings hängt der Sinn dieser Regeln von deren funktionaler Einbettung ab. Ein wesentlicher Aspekt dieser Einbettung ist, dass wir vermittels der Mathematik beschreiben und vorhersagen: Man schließt von einem empirischen Satz auf andere empirische Sätze. Der Sinn dieser Schlüsse hängt jedoch von der Natur der Dinge ab, weshalb man mit Regentropfen und Seifenblasen nicht so rechnet
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wie etwa mit Äpfeln. Insofern der Sinn der Mathematik durch nichtmathematische Tatsachen bestimmt wird, hängt auch der mathematische Beweis von nicht-mathematischen Tatsachen ab: Die Mathematik bildet Begriffe, indem sie den Ausgang eines Prozesses als dem Prozess wesentlich erklärt. Dass aber der gebildete Begriff für uns von Interesse ist, hat seine Gründe außerhalb der Mathematik. b) Ähnlich verhält es sich in der Sprache (Teil III): Die Sprache ist, wie die Mathematik, begründungs-autonom, nicht aber sinn-autonom. Sie ist eine regelgeleitete Praxis und qua Praxis hat sie nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz. Als Beispiel einer sprachlichen Praxis wurde das Behaupten untersucht. Das Behaupten ist nur vor dem Hintergrund seiner praxis-spezifischen teleologischen Struktur zu verstehen: Es zielt auf Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Orientierung. Dabei wirft die Teleologie des Behauptens zugleich ein Licht auf den Sinn des Wissens und Zweifelns, da der begründete Zweifel die Fähigkeit ist, die Wahrheit oder die Angemessenheit einer Behauptung in Frage zu stellen; Wissen aber ist die Fähigkeit, wahre Behauptungen aufzustellen. Aus diesem Grund kann Moore das, was er glaubt zu wissen, nicht wissen: Mooresche Sätze lassen sich prinzipiell nicht sinnvoll behaupten. Wissen und Zweifel sind evidentielle Sicherheiten bzw. Unsicherheiten; die Mooreschen Sätze hingegen artikulieren keine evidentielle, d. h. prädikative Sicherheit, sondern eine adverbiale. Diese Art der nicht-evidentiellen Sicherheit lässt sich zwar beschreiben, nicht aber prädizieren. c) Wie in den Praxen Mathematik und Sprache muss in der Moral sowohl der Autonomie als auch der Funktionalität der Praxis Rechnung getragen werden. In Teil IV hat sich gezeigt, dass gerade die Tugenden qua Praxis nicht nur Regeln haben, sondern auch einen Witz. In diesem Zusammenhang erweist sich die Einheit der Tugenden als ein Kernstück der Moral: Vor dem Hintergrund der Einheit der Tugenden wird verständlich, inwiefern die Moral auf ein Telos ausgerichtet ist, ohne dass dieses Telos die Moral begründen könnte. Während die Moral im Utilitarismus ›funktionalisiert‹ wird, wird sie in der Kantischen Konzeption ›autonomisiert‹. Dadurch können beide Positionen der eigentümlichen teleologischen Doppelstruktur der Moral nicht gerecht werden. Die Auswahl der hier untersuchten Praxen sowie die inhaltlichen Schwerpunkte ergeben sich zum großen Teil aus der Fokussierung auf Wittgensteins Werk. Prinzipiell sind aber ähnliche Ausführungen zum Rechtssystem, zur Kompositionslehre, zur Erziehung und dergleichen mehr denkbar. Dabei erscheinen mir folgende Punkte als grundlegend: Erstens lässt sich eine Praxis nicht begründen, da die konstitutiven Regeln einer Praxis nur im Lichte ihrer Begründungs-Autonomie verständlich sind. Zweitens ist die Praxis durch ihre Regeln unterbestimmt und
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der Sinn einer Praxis wird durch Tatsachen und Gewissheiten festgelegt und gestützt, die jenseits der konstitutiven Regeln liegen. Diese Gewissheiten sind aber nicht primär prädikativ (d. h. aussagen-bezogen), sondern adverbial (d. h. verhaltens-bezogen) zu verstehen. Drittens weisen Praxen eine teleologische Struktur auf – selbst wenn die jeweiligen Tele die Praxis nicht begründen können.
Literaturverzeichnis Primärtexte BGM
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Folgende Titel wurden zitiert nach: Wittgenstein‘s Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Oxford 2000. Ms 106 – Band II Ms 108 – Band IV Ms 109 – Band V Ms 114 – Band X Ms 115 – Band XI Ms 122 – Band XVIII Ms 123 – Notizbuch Philosophische Bemerkungen Ms 127 – Taschenbuchnotiz F. Mathematik und Logik Ms 130 – Band Ms 137 – Band R Ms 138 – Band S Ms 142 – Band Philosophische Untersuchungen Ms 150 – Großes Notizbuch (Sog. C6) Ms 152 – Großes Notizbuch (Sog. C8) Ms 157b – Taschenbuchnotiz Ms 158 – Taschenbuchnotiz Ms 162b – Pocket notebook Ms 164 – Taschenbuchnotiz Ms 213 – Sog. Big Typescript
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Register Abrichtung 28−32, 36, 47f., 203 absurd, Absurdität 51f., 117, 153−157, 201 Aktutilitarismus 211−214 Analogie 52, 69, 112f., 125 - absurde 51 - einleuchtende 51 - falsche 89 - neue 122 - zw. Mathematik & Moral 228 - zw. Mathematik & Tangram 81, 113 - zw. Rechnung & Experiment 89 - zw. Satz & Waage 152 - zw. Sprache & Spiel 144 - zw. Sprache & Werkzeug 148 - zw. Wort & Spielfigur 39 Angst, unvernünftige 173 aspektblind 43 Aspektsehen (sehen als) 41−48 assimilieren 116f. Ausdrucksmittel 56, 85−87, 100−102, 123 Ausnahme 58, 109 außer-mathematische Anwendung 76, 102 Äußerung 25, 145, 162f., 183 Autonomie 53f., 71, 80, 210, 216, 236−239 autonomistisch 149, 212, 227 Bedeutungserleben 42−47 Begriffsänderung 106, 112, 114, 119, 122, 191 Begriffsanwendung 114, 121
Begriffsbildung 90, 101f., 106, 114−117, 129 Begriffsbrücke, -verbindung 101, 116, 133f. Begründung 7, 101, 199f., 227f., 237 Begründungs-Abhängigkeit 78, 101 begründungs-autonom 9, 53, 71, 77, 80, 90, 120, 198, 205, 210, 212, 229, 237−239 Behauptung 144, 146, 180, 183, 239 - Angemessenheit der 160, 239 - eines Wissensanspruchs 187 - Telos der 154−157, 205f., 239 - unbegründete 148, 157, 168 - vs. Äußerung 183 Beschreibung 12−14, 23−25, 40, 45, 48, 59−70, 75−77, 80−83, 89, 94f., 105, 118, 124, 130 - der Form 125 - Kreuzung der 17, 24f., 66, 88, 184 - Mittel der 83, 87 - vollständige 80−82, 86, 95f., 112−114, 125f. Beschreibungsform 23f., 75, 209 Beweis - mittels der Mathematik 130 - naturwissenschaftlicher 94, 103, 105 Bild 12, 42f., 52, 84f., 90, 102, 108, 115−118, 131−136 - der Anwendung 202 - des Vorgangs 125, 135
248 - einer Bewegung 117 brute fact 9, 66 Charakter 54, 57−60, 70f., 82 - des Beweises 120 - des Spiels 54, 57, 122 - des Wiegens 60 - des Zweifels 164 - guter 70 Definition 23, 67, 82, 84, 146 - des Mechanismus 65 - teleologische 157 deontologisch 211 Deuten, Deutung 14, 17, 46, 47, 48, 62 Dezisionismus 48 Disposition 21, 29−31, 41, 46, 162, 164, 167, 179, 233 Eigenleben 124f. Erfahrungssatz 84, 189−196 Erfahrungstatsache 8 ergebnis-offen 90 erklären, Erklärung 10−13, 19, 24f., 28f., 35, 46, 59, 63f., 78−80, 83, 87, 90, 95, 97, 104f., 110, 114−118, 128, 130, 135, 145−147, 151, 154f., 174, 176, 178, 186f., 191−195, 204f., 221f., 227, 238 Ernst 64, 143 Essenz 80f., 85, 94f., 108, 112, 114, 136 Euklid 99−102, 108, 112f., 120 Existenz 80f., 85, 94f., 103, 105, 108, 112, 114, 136, 163 Experiment 89f., 191, 197 Fähigkeit 25−30, 41−47, 69, 85−87, 134, 141, 160−169, 178−183, 205, 239 - Symptom der 27 - technische 27−31, 176 Falsifikation 94, 103f., 197 Falsifizierbarkeit 80
Register
Fehler 15, 31, 47, 77, 84, 93, 101, 119, 131, 147, 200 - in der Anwendung 20, 26 - in der Rechnung 33, 77 Fermat 95−97, 103 Foot 68 Fünfeck 82f., 120, 123, 126 Funktion 9, 24, 29, 47, 49, 65f., 71, 84, 92, 112, 130, 135, 142, 146, 149, 161, 174, 216, 237 - der Abrichtung 36 - der Behauptung 142, 144 - der Erklärung 13 - der Infragestellung 164 - der Mathematik 92 - der Moral 210, 213, 217, 227, 237 - der Regel 52, 238 - der Sprache 142, 205 - der Tugend 229, 233 - der Übereinstimmung 21 - der Vergewisserung 105 - der Wahrheit 159 - des Hammers 148f. - des Maßstabs 93 - des mathematischen Beweises 112, 238 - des Mechanismus 23f., 91, 118 - des Plattenspielers 23, 87f. - des Rechnens 8 - des Spiels 11, 47, 143 - des Tangrams 106 - des Zweifels 172f. - integrative 231 - Moorescher Sätze 195f., 201 funktionale Einbettung 9, 65f., 69, 71, 143, 147, 156, 210, 212, 217 funktionalistisch 212, 216, 237 Funktionsbestimmung 83, 91 Fußball 10f., 52, 57f., 62f., 144 Gedeihen 211, 217, 228−230, 235, 237
Register
Gemeinschaft 20f., 32f., 35 Gepflogenheit 35f. Geschicklichkeitsspiel 81f., 86, 114 Gesichtsausdruck 36, 38, 56f. Gestalt 56, 128, 132−136 Gewissheitsgefälle 199, 237 Glaube, unbegründeter 175 Glaubwürdigkeit 159, 162, 164, 205, 239 Grundlosigkeit 175f. Halbierung einer Strecke 111, 119f. Hammer, dirigieren 45, 117, 148f., 156, 202 Handeln vs. Handlung 219f. Handlungsgründe 221, 224 Hase-Enten-Kopf 41−44 Hebestock 49 Hilfsbereitschaft 223f., 231−236 Hintergrund 45, 117, 126, 233, 239 - begrifflicher 117 - der Behauptung 205 - der Mathematik 79 - des mathematischen Beweises 122 - des mathematischen Satzes 123 - des Spiels 44 - des Tangrams 111 - des Zweifels 166 - einer Analogie 52 - eines Aspekts 43 - unausgesprochener 191 - von Gewissheiten 131 - von Sicherheiten 161 Identifikation 33, 47, 57f., 125, 128, 131f., 181 imaginäres Schneiden 116f. Induktion 60, 175 Institution 5−9, 21, 35, 63 institutional fact 9 Intuitionismus 48 Irrtum 168f., 183, 184
249 Käse wiegen 37f., 49, 58−60, 66, 69, 79, 89, 146, 223−226, 236 Katze 67f., 165, 178, 180, 188, 192, 204 Klugheit 50, 235f. Kolben 118, 135 Kompensationsbegriffe 156 Konstruktion eines Quadrats 102, 104, 125 Konstruktionsproblem 83 Konstruktionstechnik 83 Kontext 37f., 45, 57, 63−65, 145, 149f., 154, 156, 163, 168, 170, 186, 195, 201, 206 Kripke 15−22, 48 kriterienlos 56, 117f., 125, 133f. Kriterium - der Gleichheit 101 - neues 101f., 119−121, 124, 126 Labyrinth 180f. lasterhafter Spieler 70 Lebensform 34 Lehre 107−113 Lesen 30 Lexikon 31, 87 Lösung 32−36, 81−87, 95−103, 113f., 120−126, 227 Maßstab 13, 21−24, 30−33, 70, 78, 80, 87, 90, 92, 101, 107, 128, 130−133, 191, 195, 200, 213, 227 - des Handelns 214 mathematische(r) - Allgemeinheit 98, 103 - Beweis 75, 94, 98, 103−110, 113f., 124, 130−136, 238f. - Satz 76−80, 84, 87, 92, 101, 103, 136, 200 - Vermutung 95, 97, 100, 103, 112 Mechanik der Figur 106
250 Mechanismus 13, 23−25, 35, 65f., 83f., 88, 91, 106f., 117f., 184 Meinen 16−19 Messfehler 76, 101 Messung 76, 101, 119, 229 Mooresche Sätze 188, 239 - allgemeingültige 189, 195f., 201, 204 - als adverbiale Sicherheit 203 - als Beschreibung adverbialer Sicherheit 197 - als prädikative Sicherheit 191, 194, 196 - als Witze 201 - kontextrelative 189, 195− 197, 201−204 moralisches Urteil 218, 231 Mord 219 Multiplikation 90, 131 Muster 14, 115, 125 Mut 232 natural goodness 68 Naturgesetzlichkeit 91 Naturtatsache 59−62, 69, 136, 223, 225 Naturwissenschaft 85, 89−91, 94, 103f., 109, 135, 238 nicht-sprachliches Handeln 114 Orientierung 142, 146, 157, 159, 202, 205, 227, 239 - am Sittengesetz 216 - an den Tugenden 229 - an der Moral 237 - an der Tugend 230, 233 - an der Wahrhaftigkeit 200 - an Gründen 175, 231 Paradigma 83, 132, 134 Physiognomie 54−58, 128, 134−136 Plattenspieler 24f., 29, 65, 88 Plonk 61, 114, 124 Pointe 50f., 121, 202, 238
Register
- der Moral 231 practice conception 5−9, 51 prädikativ 158, 167, 191, 240 Präsenzerlebnis 22 Praxis 5−10, 35, 37, 44, 48f., 52−54, 58f., 65f., 69, 71, 75, 79, 89, 91, 120, 136, 141−144, 146f., 154−156, 164, 173, 205, 212, 217, 224−227, 231−239 - der Moral 230 - des Wiegens 152 - Handlung innerhalb einer 5, 7f., 59, 69, 145 - Identität der 122 - okkulte 55 praxis-spezifischer Sinn 71, 80, 92, 200, 205, 217, 228, 238f. Primzahl 99−104, 108, 112f. Prozess 88, 131, 136, 239 Quaddition 15f. Quadrat 81, 96, 102, 104, 106, 111, 113, 120−130 Quod erat demonstrandum 112 rationalisieren 176 Rationalität des Zweifels 173, 174 Rationalitätsstandard 227 Rawls 5−10, 48, 51f. Reaktion, spontane 33f., 176 Rechenmaschine 105−107 Rechnung 6, 8, 49, 65f., 77−90, 101, 105−108, 131, 147, 200 rechtfertigen, Rechtfertigung 5−8, 15, 18, 49, 51, 65f., 71, 175, 178, 191, 216 Regel - konstitutive 11, 52−54, 65, 200, 224 - regulative 9 - unwesentliche, wesentliche 52−57, 238 Regelanwendung 12, 19, 22, 35, 40, 48, 124
Register
Regelausdruck 13−16, 19, 22, 26, 35, 40, 48 Regelfolgen 16−18, 35f., 48, 62, 121 Regelmäßigkeit 33, 60 Regelsystem 10, 71, 79, 126, 141, 209, 217, 226 Regelutilitarismus 211−217, 227 Regentropfen 66, 77−79, 89, 136, 146f., 155f., 197, 201, 223, 238 Ritus 10f., 45, 64, 71, 141−146, 155, 217, 238 Rotationsachse 189f., 195 Schach 10, 12, 35−39, 55, 95, 122, 143f., 155, 217 Searle 9−11, 52 Seelenapparat 25 Seifenblasen 66, 77−79, 136, 155, 223, 238 Sicherheit 60−62, 133, 166, 169f., 174, 176, 184f., 195, 199, 204 - adverbiale 188f., 192, 195f., 203, 206, 239 - evidentielle 176, 185, 188f., 193, 206 - konditionierte 185 - mathematische 199 - natürliche 185 - nicht-evidentielle 176, 185, 188f., 193, 203 - prädikative 188f., 194−196, 198, 203, 206, 239 - prädizierte 192 Sinn 34−38, 69, 71, 85, 89, 94f., 99−107, 113, 116f., 120, 123, 136, 149−151, 155, 161, 163, 166, 177, 183, 186, 193, 201f., 205, 217, 224, 228, 237−240 - bestimmt durch Technik 99 - der Addition 147 - der Aufforderung 205 - der Behauptung 146, 149
251 - der Beschreibung 105 - der Fabel 110 - der Konstruktion 126 - der Mathematik 92, 238 - der mathematischen Lehre 110 - der mathematischen Vermutung 96f. - der Moral 226, 237 - der Praxis 9 - der Rechnung 65 - der Regel 5, 7, 37, 147, 156, 200 - der Sicherheit 199 - der Tugend 229, 230 - des bewiesenen mathematischen Satzes 107 - des Geschicklichkeitsspiels 104 - des mathematischen Satzes 79, 80, 94, 96, 107, 112, 135, 200, 238 - des Multiplizierens 64 - des naturwissenschaftlichen Beweises 94 - des Regelsystems 10 - des Spiels 11, 44, 67, 70 - des Tangrams 104 - des unbewiesenen mathematischen Satzes 100, 101 - des Verhaltens 48 - des Wissens 205, 239 - des Zweifels 164, 206, 239 - Moorescher Sätze 196 - Unterbestimmtheit des 79, 89, 91, 96, 99, 101, 104, 112f., 126, 141, 235, 240 Sinn-Abhängigkeit 78, 101 sinn-autonom 9, 71, 77, 81, 90, 120, 136, 200, 205, 210, 238f. Sinnbestimmung 64, 89, 94, 104, 113, 237 sinnbildlich, Sinnbildlichkeit 31, 38, 55, 65, 149
252 Sinngebung 105, 112 Strafe 5−8 Strafstoßregel 53 Stützen Moorescher Sätze 198 summary view 5−8, 51, 214 symbolische Prägnanz 55, 149, 202 Tangram 81, 85, 97, 99−106, 113f., 120−125, 129f. Teleologie 155, 211 - des In-Frage-Stellens 164 teleologische Doppelstruktur 213, 217, 229, 239 teleologische Struktur 69, 71, 205, 239 Telos des Spiels 10f., 62, 114 Tiefe 34, 50f. Trapez 96 Tugendbegriff 221−223 Tugenden, Einheit der 232, 237, 239 Tugendethik 210−213, 217 Tugendlosigkeit 227 Übereinstimmung 15, 21f., 32−34, 58, 61, 64, 78, 88f., 120, 123, 200 - von Empirie & Mathematik 76 Übersicht 92, 107, 122 Ultra-Mechanismus 24f., 35, 47, 88, 184 unbewiesen 94, 95, 96, 99, 100, 101, 102, 104, 112, 238 unendlich 98, 99, 100 Unsicherheit 57, 160, 161, 164, 165, 166, 167, 170, 171, 182, 185 - adverbiale 167, 206 - evidentielle 167, 168, 173, 174, 189 - nicht-evidentielle 168, 173, 174, 175, 176 - prädikative 206 - relative 199
Register
- unbegründete 167, 174 Unsicher-Sein 174 unvernünftig 167, 170, 204 Utilitarismus 148, 210−216, 230f., 239 Verfeinerung 34 Vergewisserung 105, 163, 170 Verhalten, unvernünftiges 175 Verifikation 89, 94, 184 Vermutung 144, 152, 156 verstehen 14, 30, 48 verzählen 92 Vorhersage 24, 75−78, 83f., 90, 95, 109, 200 Vorstellen 41f. Waage 37f., 49, 58, 60, 69, 149, 152, 202, 223−226 Wahrhaftigkeit 200, 222−235 Wahrheit 95, 103, 105, 141, 143, 158−167, 182−186, 190, 205, 223f., 231, 233, 239 Wahrhöflichkeit 225 Wegweiser 13, 15, 19, 36 Wiegen 37f., 49, 59f., 69, 79, 89, 146, 152−156, 201, 223−226 Wirkung als Grund 6, 51 Wissen 85−87, 113, 135, 139, 141, 154, 158, 161, 166, 177−186, 202−206, 223−225, 239 - als Äußerung 182f. - als Fähigkeit 179−181 - des ABC 25 - um den Witz 66 - um den Witz der Tugend 235 Wissensanspruch 186f. Wissen-Wie 85−87 Witz 26, 49−59, 66, 69, 71, 75, 78, 88f., 120, 139, 141, 159, 197, 198, 201, 203, 205, 217, 228, 235−239 - als Telos 70
Register
- der Behauptung 144, 155, 157, 165 - der Grammatik 51, 155, 172, 202 - der Hilfsbereitschaft 223, 234f. - der Konstruktion 126 - der mathematischen Lösung 121 - der Moral 237−239 - der Praxis 58 - der Regel 147 - der Sprache 201 - der Tugend 224, 231−237 - der Vermutung 157 - der Zuverlässigkeit 234 - des Addierens 155 - des bewiesenen mathematischen Satzes 75 - des Bildes 85 - des Käsewiegens 58 - des neuen Kriteriums 119 - des Rechnens 9 - des Regelsystems 10 - des Spiels 54, 62−65, 70, 122, 143, 231 - des Wiegens 60, 223, 236 - des Wissens 141, 181 - des Zweifels 141, 161, 166, 168, 172, 206 - einer Praxis 58 - grammatischer 51, 172, 202
253 - Moorescher Sätze 199 - Orientierung am 69 - verlieren 37, 58f., 69, 89, 225, 232f. - zerstören 59 witzlos 60, 63, 69, 77, 79, 117, 143, 152, 155−159, 165 Wortgestalt 55 Zeitstruktur des Handelns 220 zögerlich 165−167, 174, 185, 188 Zögern 160, 163, 165, 203f. Zuverlässigkeit 16, 234−236 Zweck 5, 49, 54, 68f., 136, 148, 166, 216, 227, 236 - der Handlung 7 - der Institution 7 - der Rechnung 8f., 65 - der Sprache 6, 28 - der Strafe 5, 8 - des Kochens 6 - des Spiels 67 Zweifel 37, 80, 92, 139−141, 150f., 154, 159−174, 177, 189, 199−206, 228, 237 - begründeter 205, 239 - leerer 171 - müßiger 168−172 - unbegründeter 168 - unvernünftiger 168−174, 206 Zweifellosigkeit 175f., 191 Zwirf 114f., 124